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Full text of "Die Lehre von der Abstraktion bei Plato und Aristoteles"

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.ABHANDLUNGEN 
ZUR  PHILOSt^HIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 

HERAUSGEGEBEN  VON  BENNO  ERDHANN 


XL     40-^5     J:J 


/.i: 


INDIVIDUUM  UND  ALLGEMEINHEIT 
IN  PLATOS  POLITEIA 


VOM 


OEOBG  E.  BURCKHABDT 


HALLE  A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1918 


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'■■I 


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ABHANDLUNGEN 

ZUR 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

BENNO   ERDMANN 


TIEBZIttSTES  HEFT 

GEORG  E.  BURCKHARDT 

INDIVIDUUM  UND  ALLGEMEINHEIT  IN   PLATOS  POLITEIA 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1918 


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INDIVIDUUM  UND  ALLGEMEINHEIT 
IN  PLATOS  POLITEIA 


TOH 


OEOBO  E.  BURCEHABDT 


Irx  ßikxiov  axBnziov,  ov  y&g 
tuqI  xoi)  iniTvxovxoq  S  koyog, 
äXXa  tkqI  rof^  ovxiva  xQonov 
XQnliy-  Kp.352D. 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1913 


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Einleitung. 


¥än  Meisterwerk  ist  eine  Einheit,  es  sa^  immer  dasselbe, 
bleibt  und  ist  allen  gemeinsam,  den  vielen  wechselnden,  viel- 
fach gearteten  Menschen.  So  denkt  Plato.  Er  vergleicht  im 
Phaidros  (275  D  E)  das  Schriftwerk  mit  einem  Gemälde,  es  ist 
^e  ein  lebendiges  Wesen,  das  zq  denken  nnd  zn  reden  scheint, 
das  aber  vornehm  schweigt,  wenn  Du  mehr  zu  wissen  wünschest 
Was  einmal  geschrieben  ist,  wird  nach  allen  Richtungen  hin- 
ond  hergewälzt  von  denen,  die  Ohren  haben  za  hören,  und 
ebenso  von  denen,  welchen  es  garnicht  zukommt.  Man  ver- 
stöfst  gegen  die  ihm  eigene  Melodie  (jtXfjfifieXovfiBvog),  und 
der  Vater  des  Werkes  kann  seinem  Geschöpf  nicht  mehr  zu 
Bilfe  kommen. 

Plato  selbst  schweigt  zu  allen  Schriften,  die  von  irgend 
einer  These  gejagt,  eine  Widerlegung  oder  Bettung  bezwecken. 
VTas  läfst  sich  nicht  alles  aus  Plato  mit  Stellen  belegen?  Aber 
die  .Politeia'*  redet  auch  zu  uns,  wie  jedes  grofse  Kunstwerk, 
und  es  gibt  keine  bessere  Hilfe  zur  Vertiefung  in  dies  Meister- 
iprerk,  als  still  auf  den  Meister  selbst  zu  hören.  Dankbar  sind 
^r  allen,  die  uns  zum  Meister  selbst  hinftlhren,  von  der  Viel- 
geschäftigkeit und  hastenden  Eilfertigkeit  hinweg  zum  Eidos 
der  platonischen  Polis.  Dankbar  sind  wir  der  alten  »Wort- 
wägeknnst'',  die  uns  die  Wege  bahnt. 


PhilotophiaelM  Abluuidlu&gen.   XL. 

762706 


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Prolegomena  zum  Verständnis  von  Piatos 
Problem  und  Werk. 


Die  Eigenbewegnng  der  Oedanken  eines  Menseben,  dessen 
Bach  wir  lesen,  mttssen  wir  in  nns  nachbilden,  so  weit  ans 
dies  möglich  ist,  am  zam  „Verständnis''  za  gelangen.  Je 
reicher  nnser  eigenes  Gedankenleben  an  möglichen  Vorstellangen 
and  Kombinationen  ist,  am  so  näher  kommt  es  dem  Ver- 
ständnis des  Andern.  Ein  Werk  der  Historie  verstehen  wir 
am  so  besser,  je  mehr  wir  aafserdem  noch  Erinnernngs- 
Yorstellangen  ans  dem,  was  von  eigenem  Denken  schon 
historisch  geworden  ist,  in  Bereitschaft  haben,  and  je  mehr 
wir  mit  Vorstellangen  and  Begriffen  aas  der  Zeit  anseres 
Baches  erfüllt  sind.  (So  dürfen  wir  vielleicht  dann  von  einer 
angezwnngenen  Nachbildang  der  Gedankenbewegang  Piatos 
reden,  wenn  seine  Wortvorstellangen  and  Gedanken  anch  ins 
Unwillkürliche  des  Traumlebens  übergehen  können). 

In  Piatos  Dialogen  finden  wir  mehr  Bewegnng,  als  die 
abgerandeten  Bilder  ans  vermaten  lassen,  in  denen  er  meistens 
in  dem  grofsen  Mnseion  der  Wissenschaft  für  das  Pablikam 
aasgestellt  ist  Kicht  aar  Henri  Bergson  —  er  mafs  hier 
einmal  für  Plato  reden  —  sondern  anch  die  Philologen,  die 
mit  feinen,  behatsamen  Sinnen  an  das  geschichtliche  Leben 
herangehen,  stränben  sich  gegen  die  Vergewaltigang  der 
lebendigen  Bewegnng  darch  „den  Begriff ^^^ 

1)  Mit  Beziehung  auf  die  Politeia  k.  B.  P.  Wendland  in  den  PrenlB. 
Jahrbüchern  1909.  Für  Plato  überhaupt  tritt  dies  in  der  Art  der  Dar- 
stellung von  Th.  Gomperz  (Griech.  Denker  II)  heryor.  Als  Anwalt  des 
Erbes  der  Romantik  zeigt  sich  K.  Joel  im  Grunde  schon  in  der  Schrift 
„Zur  Erkenntnis  der  geistigen  Entwicklung  und  der  schriftsteU.  Motive 
Piatos.  Berün  1887'*. 


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Der   platomselie   Dialog  ist  nicht  nar  Form,  nieht  nor 
Bokratiache  Form  und  nicht  nnr  Nachwirken  der  dramatisohen 
SugendveTBucbe,    sondern   sie   bedentet   mehr,   kein   System, 
Bon&era  ein  Problem  (ein  jtQoßeßXijc&ai)  in  seiner  Bewegung. 
Einen  inneren  Dialog  der  Seele  mit  sich  selbst  nennt  Plato 
einmal  die  Gedankenbewegnng   (didvoio).^)    Wo  der  Dialog 
naeU&Tst,  da  berichtet  Plato,   gibt  praktische  Anordnungen 
oder  dichtet  kleine  nnd  grofse  Märchen.    So  erzählt  er  auch 
den  Mythos  von  der  göttlichen  Gestalt  unter  göttlichen  Ge- 
stalten« —  Gestaltung  des  Lebens,  das  uns  zu  überwältigen 
droht  durch  die  FttUe  dessen,  was  wir  mit  allen  Sinnen  zu 
fassen  versuchen,  und  nicht  Vergewaltigung  sieht  er  im  „Be- 
griff", wiewohl  er  das  begriffliehe  Begrenzen  ein  „Zerschneiden'' 
nennt  bis  zum  „Unzerschneidbaren*^^) 

Es  ist  vielleieht  mehr  Eros  zum  Begriff,  als  Ausruhen  im 
Begriff  bei  Plato.  „Von  den  Göttern  philosophiert  keiner,  und 
keiner  verlangt  weise  zu  werden,  denn  der  Gott  ist  es*'  (Symp. 
203  E).  Ausruhen  kann  er  nur,  wie  der  religiöse  Mensch,  in 
seinem  Gott  und  im  System  des  Mythos.  Denn  hier  ist  die 
vollkommene  Ordnung,  die  das  begriffliche  Denken  im  Leben 
des  äxeiQov  anzustreben  ewig  neu  sich  mttht  Auch  in  den 
zasammenfassenden  Darstellungen  der  Philosophiegeschichte 
kommt  ein  Bedttrfnis  nach  Gestaltung  des  axeigov  der  Ge- 
dankenwelt Piatos  zum  Ausdruck  nnd  endet  dann  vielfach  mit 
Ausruhen  im  Mythos  von  Piatos  System.  Leute,  die  „mit 
eigenen  frischen  Augen  sehen^S^)  sind  oft  sehr  überrascht,  wenn 
sie*  einmal  Plato  selbst  lesen.  —  Es  ist  ein  wunderbares 
reiehes  Leben,  das  sich  da  entfaltet.  Keine  „Staatslehre*^  finden 
wir  in  der  „Politeia";  sie  läfst  sich  zwar  daraus  gestalten. 
Eine  grofse  Frage  tönt  aus  dieser  Komposition  von  mehreren 
Sätzen  heraus:  wie  ist  überhaupt  xoXixüa  d.  i.  Bttrger-sein, 
yemttnftiges    Zusammenleben   der   Menschen   in    einer  Polis, 


>)  Soph.  263  £.  —  Die  dialogische  „£iiikleiduDg*<  in  ihren  Kom- 
plikationen, doch  im  Dienste  der  Feststellung  der  Chronologie  nnd  weniger 
ab  solche  betrachtet  bei  H.  Baeder,  Piatons  philos.  Entwicklung.  S.  44  ff. 
Leips^  1905. 

7  xifAveir  bis  zum  ixfn^ov  Phaidr.277B;  vorher  Phaid.  99  £. 

'j  \gh  Goethe  über  den  Zwischenkieferknochen.  Weim.  Ausgabe  II., 


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einer  Stadtgemeinde  mSglieh?  In  diesem  Apriorisrnns  der 
Fragestellung  zeigt  sich  der  Philosoph.  Die  Frage  der  reinen 
Yemnnft  soll  nun  aus  reiner  Vernunft  heraus  {xad-aga  xQlcig) 
beantwortet  werden.  In  gemeinsamer  Denkarbeit  soll  im  Laufe 
der  Unterhaltung  alles  ausgeschieden  werden,  was  nicht  dem 
reinen  Inbegriff  einer  Polis  entspricht,  und  eine  Stadtgemeinde- 
Verfassung  in  Gedanken  hergestellt  werden,  gegen  deren  Folge- 
richtigkeit kein  Mensch  etwas  einwenden  kann.  Die  Voraus- 
setzung mttfste  allerdings  sein,  dafs  logische  und  biogenetische 
Eonsequenzen  sieh  decken.  Aber  sie  decken  sich  nicht.  Das 
bringt  sich  Plato  selbst  einmal  zum  Bewufstsein,  wenn  einer 
der  Teilnehmer  am  Gespiüeh  einwirft:  Aber  Du  redest  ja,  als 
könntest  Du  die  Menschen  wie  ans  Wachs  bilden  1? 

Plato  verfolgt  oft  einseitig  einen  Oedanken  bis  zur  Ver- 
stiegenheit (aßvd-ov  g>XvaQl(xv)^  um  sich  dann  wieder  der  Re- 
lativitäten bewufst  zu  werden.  Die  Mafslosigkeit  der  logischen 
Phantasie  endet  eben  im  Geschwätz.  Nur  als  unterhaltendes 
Spiel  betrachtet  Plato  zuweilen  den  Dialog. 

„Was  ist  nicht  Spiel,  das  wir  auf  Erden  treiben, 
Und  schien  es  noch  so  grofs  und  tief  zu  sein  1^^ 

Solche  Stimmung  eines  modernen  Dichters  finden  wir  auch 
bei  Plato.  1)  Ernst  und  göttliche  Heiterkeit  fliefsen  ineinander. 
Der  Philosoph  wird  immer  wieder  zum  Dichter.  Poetische 
Phantasie  und  logische  Komposition  schaffen  zusammen  die 
„Idee^^  der  Polis,  die  xaXXbtoXig,  zum  Werke  eines  Künstlers. 
So  wie  der  Bildhauer,  der  in  einem  plastischen  Werke  einen 
Menschen  von  vollkommener  Schönheit  schafft,  nicht  zu  be- 
weisen braucht,  dafs  ein  solcher  Mensch  in  Wirklichkeit  ent- 
stehen könne,  rechtfertigt  Plato  die  Kühnheit  seines  Entwurfs.  2) 
Die  greifbare  Wirklichkeit  gibt  gleichsam  nur  ein  impressio- 
nistisches Bild,  in  dem  alle  Konturen  verschwimmen.  Sie  ist 
für  seinen  Blick  ein  a/ivögov,  ein  Verschwommenes  im  Vergleich 
zu  der  viel  schärfer  umgrenzten  Wirklichkeit  seiner  Phantasie, 
in  der  sich  die  Xöyoi,  die  bildsamer  sind,  als  Wachs  und  der- 
gleichen, zu  einem  harmonischen  Ganzen  zusammenfügen  lassen. 

^)  Arthur  Schnitzler  im  „Paracelsns",  vgl  Rp.  536  e.   ineXa^oiirjv  . .  • 

')  Rp.  472  D  ff.  naQaöeiy/jia  inoiov/isv  X6y<p  aya&iji  noXecDg. 


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^  Ideal\>ild.     aber   soll  zar    Umgestaltang   der   gegebenen 

Wittiickikeit    aaffordern.    Der  Ettnstler  will  das  innerlieh  «ge- 

Hibeu^  BWd  in  Tat  umsetzen,  nnd  der  Meister,  der  eine  Stadt- 

^m^VEide  nacli  seinem  Plane  gestaltet  oder  umgestaltet,  ist  in 

K«to«  Augen    nächst  dem  Gotte  der  gröfste  Künstler  {örjiii' 

oi>QYÖ^Y    Der  Philosoph  wird  zum  politischen  Beformator  und 

d\e  aWgemeinen  theoretischen  Probleme  sollen  praktisch  gelöst 

werden.    So  ist  die  „Ppliteia"  durchwoben  von  Plänen,  von 

^iUensvorstellungen,  die  auf  tatsächliche  Umgestaltung  einer 

Polis  gerichtet  sind.    Auch  als  Plato  erfährt,  wie  die  rohe 

Kraft  der  Wirklichkeit  seine  kühnsten  Hoffnungen,  deren  Er- 

ftiUang  er  fast  erlebt,  wieder  zu  nichte  macht,  bricht  aus  der 

Besignation  doch  immer  von  neuem  der  Glaube  an  eine  Neu- 

grttjidung  (a  priori)  sieghaft  hervor. 

Plato  verquickt  Probleme,  die  wir  zu  scheiden  gewöhnt 
sind.  Dadurch  wird  das  Verständnis  für  uns  erschwert  Der 
philosophische  Theoretiker  sowohl  wie  der  Psychologe,  der 
Künstler  so  gut  wie  der  Ethiker  und  Pädagoge,  der  Geschichts- 
philosoph sowohl  wie  der  praktische  Politiker,  alle  können 
von  ihrem  Blickpunkte  aus  die  „PoUteia**  betrachten,  ausbeuten 
und  angreifen.  Wenn  daher  jemand  von  irgend  einem  der 
besonderen  Pioblemgebiete  aus,  die  sich  seit  Plato  immer  mehr 
isoliert  haben,  an  die  „Politeia*^  herankam,  so  mufste  er 
irgendwo  Anstofs  nehmen.  Jetzt,  wo  allmählich  zwischen  den 
einzelnen  Problemgebieten  mehr  Fäden  hinüber  und  herüber 
gesponnen  werden,  kommen  wir  einer  richtigeren  Beurteilung 
näher. 

Piatos  „Politeia"  verlangt  zunächst  philosophische  Leser, 
d.  h.  solche,  die  willig  sind,  alle  tatsächlich  gegebenen  ge- 
sellschaftlichen Zustände  in  Frage  zu  stellen;  dann  tun  sich 
Fragen  auf,  die  immer  dieselben  sind,  solange  Menschen  zu- 
sammen leben.  Der  SokratesjUnger  fordert  sodann  Menschen, 
die  danach  streben,  selbst  besser  zu  werden  und  die  gegen- 
wärtige Lage  zu  bessern,  sich  selbst  und  die  Dinge  dem  Ideal, 
dem  Gott,  anzunähern.  Aber  das  Gespräch  am  Tage  der 
Bendisfeier  wünscht  auch  poetisch  gestimmte  Naturen,  die  alle 
Fackelritte  der  Phantasie  gerne  begleiten.  Um  endlich  in 
Einzelheiten  ein  richtiges  Urteil  zu  bilden,  bedürfen  wir  der 
hisioriscbeii  Vertiefung  nicht  nur  in  die  Eigenart  Piatos  und 


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Beines  Lebens,  sondern  anch  der  Vertiefung  in  die  Eigenart 
des  alten  Orieehentnms  gegenüber  modernen  Vorstellnngen, 
Begriffen  nnd  Gedanken. 

So  nnttbersetzbar  jede  fremde  Sprache  nnd  Piatos  Sprache 
im  Grande  ist,  so  nnttbertragbar  ist  anch  seine  ganze  Denk- 
weise. Wir  sehen  nnser  Denken  nicht  mehr  in  dem  Ma&e 
oder  durchweg,  wie  das  des  antiken  Menschen,  mit  An- 
schannngen  erfüllt;  denn  wir  stehen  nicht  mehr  in  der  Zeit 
der  „Entdeckung''  des  Begriffs,  wo  besonders  hervorgehoben 
werden  mafs,  dafs  der  Begriff  der  Schönheit  keine  Arme  nnd 
Fttfse  hat,  wo  zugleich  die  Göttervorstellungen  von  allem 
Anthropomorphen  sieh  mehr  nnd  mehr  loslösen  und  einen 
„reinen^  Gottesbegriff  anstreben,  i)  Die  Sprache  ist  ftir  den 
antiken  Philosophen  noch  nicht  in  dem  MaTse  wie  ftir  uns 
Symbol  geworden.  Plato  gehört  einer  Zeit  des  halbmythischen 
Denkens  an.  Teils  ist  er  sich  des  Mythos  bewufst  und  redet 
bewufst  symbolisch  (vgl.  öiä  cviißoXcov  diöacxaXla)^  teils  ge- 
staltet sich  der  Mythos  seines  Volkes  in  ihm  zu  geläuterten 
Vorstellungen,  über  deren  blofs  gedankliche  oder  dingliche 
Bealität  er  sich  weiter  garkeine  Bechenschaft  gibt  In  seiner 
dynamischen  Funktion,  könnte  man  sagen,  wirkt  der  Begriff 
bei  Plato  wie  ein  mythisches  Wesen,  in  seinem  statischen  Sein 
sucht  er  sich  von  allen  rämlichen  und  zeitiichen  Bestimmungen 
zu  lösen. 

Der  antike  Mensch  glaubt  stärker  als  wir  an  das  objektive 
Bestehen  der  Bilder  seiner  Phantesie,  wie  es  heute  noch 
Kinder  und  überhaupt  in  der  Selbstkritik  nicht  geschulte 
phantasievolle  Menschen  tun.  Den  Begriff  „Phantasie^  im 
Sinne  unserer  modernen  Psychologie  keunt  Plato  nicht. ^)  Er 
unterscheidet  zwar  Phantasia  d.  i.  fUr  ihn  „durch  Siunes- 
wahmehmung  gegebene  Vorstellung"  von  dem  Bei-sich-selbst- 
sein  der  Gedanken,')  doch  verschmilzt  ftir  ihn  das  innerlich 
gesehene  Bild  des  schönen  Tisches,  des  Idealtisches,  auf  den 
der  KuDSthandwerker  bei  der  Arbeit  blickt,  mit  dem  Begriff, 


^)  ^elov  slXixQiviQ  s  avzb  zo  xaXov,    Sympos.  2t  1. 
*)  Ansätze  finden  sich  etwa  bei  Sokrates  in  der  bekannten  Stelle 
von  der  künstlerischen  Kombination  in  den  Memorabilien  (III,  10). 
•)  Soph.  364  A 


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der  e\>eii  als  Begriff  kein  Erblicken  eines  irgendwie  ab- 
gegrenzten Tiscbes  enthält,  sondern  nnr  einige  nttohteme 
^esenfliebe  Merkmale,  i) 

Aucb  Plato  ist  in  seinem  Denken  noeb  ,,anf  dem  Wege 
der  Entkörpemng  der  Begriffe",  wie  Erwin  Bhode  einmal  von 
der  Psycbe  bei  Homer  sagt  3)  Den  Übergang  znr  völligen 
Körperlosigkeit  bildet  eine  ideale  Yerkörpernng,  wie  sie  be* 
sonders  im  ekstatischen  Erlebnis  geschant  wird.  Vom  Politikus, 
der  grofse  Tatsachen  richtig  stellt,  heifst  es  im  Henon,  ist 
niebt  am  wenigsten  das  ivd^ovaiä^siv  zu  fordern.  Die  ,9ldee^ 
der  Polis  ist  auch  eine  dvauvtfiiq,  eine  Erinnerung  an  das 
Sehanen  eines  seligen  Sehers. 

—  la  mente  nostra  peregrina 
Piü  della  came,  e  men  da  pensier  presa, 
Alle  sae  vision  quasi  6  diyina.^) 

Nirgends  auf  der  Erde  wird  wohl  diese  Polis  sein,  im  Himmel 
vielleicht  liegt  ihr  heiliges  Vorbild  fttr  den,  der  es  sehen  will, 
heilst  es  am  Schlufs  des  9.  Buches  der  „Politeia^ 

Ohne  christliche,  orientalische  und  griechische  Eigenart  zu 
verwischen,  läfst  sich  zur  Erläuterung  Piatos  Denkweise  mit 
der  der  israelitischen  und  urchristlichen  Propheten  vergleichen. 
In  der  Gottesvorstellung  stehen  hier  anthropomorphe  Phantasie- 
bilder unausgeglichen  neben  dem  reineren  pneumatischen  und 
ethischen  Gottesbegriff.  Hier  finden  wir  ebenfalls  das  Schauen 
einer  himmlischen  Welt,  Wesen  von  verklärter  Leiblichkeit 
und  die  Erwartung,  dafs  der  Messias-König  ersteht  und  die 
politische  Lage  von  Grund  aus  nach  Mafsgabe  einer  idealen 
Ordnung  der  Dinge  erneuert 


')  äSoq  yoLQ  nov  u  %v  ixaarov  Md-afASv  rld'ead'ai  ne^l  ixaaxa  zä 
TCoXka,  olq  xovxhv  ovoßa  innpigonBv  . . .  nQoq  z^v  löiav  ßXenwv  ovz<o 
notsi  o  fihv  zaq  xUvag,  6  6h  zdg  zQonil^ag.  Rp.  596 Äff.  vgl  Phaidr. 
247  D.  —  Es  ist  bisher  nicht  gelungen,  eine  reine  Scheidung  im  Gebrauche 
von  i6^  und  elöoq  bei  Pkto  zu  erweisen,  wiewohl  sich  ein  Bestreben 
in  seiner  Gedankenentwicklung  zeigt,  Wesensanschannng  und  reines  Ge- 
daakending  verschieden  zu  bezeichnen. 

*)  Psyche«  1907  I.  S.  47. 

')  Dante  Porg.  IX,  16ff.  —  %x(p(^v  &si(f  fiolga  Jon  533  E ff.,  vgl 
ferner  Xen.  99  D.  Phaidr.  242  C.  244  A.  249  B.  Symp.  179  a. 


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Weil  die  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Verhältnisse 
noch  so  jung  und  bildsam  waren, i)  konnte  man  solche  Er- 
wartungen hegen,  sowohl  das  Urchristentum  wie  Plato  in  seiner 
^Politeia''.  Die  grofse  Tatsache  des  Synoikismos,  die  Anfänge 
der  Verbürgerlichung,  wirken  noch  lebendig  in  den  Oedanken 
und  Problemen  der  doch  Im  Verhältnis  zu  uns  jungen  Kultur- 
menschen nach.  Uns  alten  Kulturmenschen,  die  wir  in  dem 
Polizei-  und  Militärstaat  geboren  und  grofs  geworden  sind, 
wird  es  schwer,  uns  ganz  in  eine  alte  griechische  Polis  hinein- 
zuversetzen. Man  hat  meist  zuviel  „Zwang"  und  Unterdrückung 
des  Individuums  im  platonischen  Staate  gesehen,  auch  von 
„greisenhafter  Erstarrung"  gesprochen.  Wie  würde  aber  erst 
ein  alter  Athener  über  den  preufsischen  Staat  und  die  Burean- 
kratie  im  modernen  Leben  überhaupt  urteilen!  Er  hätte  un- 
erträgliche Behinderung  seiner  freien  Beweglichkeit  {iXsvd^sQla) 
darin  gesehen,  worin  wir  heilsame  Ordnung  zu  erblicken  ge- 
wöhnt sind.  Dagegen  mufste  Anaxagoras  vor  dem  Urteil  der 
gefährlich  frommen  Stadt  Athen  fliehen,  man  scheute  sich  dort 
nicht,  den  greisen  Sokrates  umzubringen,  den  Protagoras  zn 
verbannen  und  seine  Schriften  zu  verbrennen,  weil  er  sagte, 
er  könne  das  Dasein  der  Götter  weder  behaupten  noch  be- 
streiten.') 

Die  Polis  ist  nicht  nur  BUrgerverband,  sondern  auch 
religiöser  Verl^and,  Kultgemeinschaft,  wie  Jellinek  in  seiner 
„Allgemeinen  Staatslehre^'  betont  hat')  Wir  finden  Plato, 
wenn  wir  einmal  von  dem  „Reaktionär'*  absehen,  auch  anf 
dem  Wege  zu  der  strafferen  Organisation  unseres  modernen 
Staates,  der  an  Stelle  einer  äuiserlich  betrachteten  Freiheit  der 
Freiheit  der  Überzeugung  des  Einzelnen  mehr  Baum  geben 
will.  Nur  fragt  der  moderne  Staat  den  Einzelnen  nicht,  wie 
die  platonische  Politeia:  Hast  Du  überhaupt  eine  Überzeugung? 
Die  jtBid^d,  das  Überzeugen  durch  Grttnde,  die  xaga^ivd-Ux, 
das  freundliche  Zureden  —  weniger  zwangvoll  als  unsere 
polizeiliche  Aufforderung  —  läfst  Plato  der  staatlichen  Gewalt 


^)  Vgl.  V.  Wilamowitz-MöUendorf,  Staat  und  Gesellschaft  der  Griechen 
(Kultur  d.  Gegenwart)  1910  S.  S. 

*)  Vgl  Diels,  Fragm.  H.  S.  525  ff. 

*)  Das  Re<;ht  des  modernen  Staates  I.  Berl.  1905.  S.  293  ff. 


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9 

Toransgelien.  Der  Zwang  ist  ibm  nnr  eine  Begleiterscheinnng 
des  Eee^ts;  das  Recht  erscheint  auch  ihm  als  „Zwangsversnoh 
zum  Ricbtigen^^  Krause  und  Trendeinbnrg  mit  ihrem  Be- 
Btreben,  das  Recht  zu  versittlichen,  in  gegenwärtiger  Zeit 
Jhering  und  Stammler,  der  schärfer  methodisch  unterscheidet, 
wandeln  in  Piatos  Spuren J) 

Die  praktische  und  dann  gedankliche  Isolierung  des 
Einzelnen  gegenüber  der  gesellschaftlichen  und  staatlichen 
Allgemeinheit,  wie  sie  sich  für  uns  seit  Mönehttim  und  „Auf- 
klärung" zur  Zeit  der  Renaissance  und  des  Humanismus  voll- 
zogen hat,  existiert  fttr  den  antiken  Menschen  und  fttr  Plato 
überhaupt  nicht,  höchstens  als  Sonderlingsschnurre  der  Eyniker. 
Der  Gemeinsinn  ist  in  der  sieh  selbst  verwaltenden  hellenischen 
Stadtgemeinde  viel  stärker  ausgeprägt,  als  es  überhaupt  in 
einem  modernen  Staate  möglich  ist  Das  Leben  des  Mannes 
spielte  sich  fast  ganz  in  der  Öffentlichkeit  ab,  auf  den  Strafsen, 
dem  Markte,  in  den  Gymnasien  usw.  Man  kann  fast  sagen, 
das  öffentliche  Leben  verschmolz  mit  dem  politischen  Leben.  <) 
Ein  Musiker  kann  nicht  seine  Weise  ändern,  ohne  dadurch  die 
„Weise",  den  vofiog,  der  Felis  zu  ändern.  In  fortwährendem 
Aastausch  waren  alle  Schichten  der  Bürgerschaft  miteinander 
verbunden,  und  „in  der  überwiegenden  Bedeutung  der  Staats- 
angehörigkeit liegt  ein  zu  echt  hellenisches  Prinzip,  als  dafs 
Piatos  Eonsequenzen  lediglich  der  philosophischen  Theorie  zur 
Last  gelegt  werden  dürften".  J^) 

1)  Cf.  R.  Stammler,  Die  Lehre  vom  richtigen  Recht  Berl.  1902. 
S.  27  ff.  606.  Hier  liefae  sich  auch  im  Hinblick  auf  Prohleme  der  Politeia 
der  Satz  anftthren:  ,£8  bt  ein  Widersprach  in  sich,  wenn  als  Prinzip  einer 
Zwaogsordnang,  wie  das  Recht  nach  seinem  selbstherrlichen  Kennzeichen 
genannt  werden  darf,  die  individaelle  Freiheit  der  RechtsuntersteUten  aus- 
genifen  wttrde*.  Tiieorie  der  Rechtswissenschaft.  Halle  1011.  S.  494f.  — 
Jhering  (Zweck  im  Recht  L  S.  570)  spricht  von  der  «sozialen  Unent- 
behrliebkeit  des  Zwangs*. 

>)  In  dem  latein.  Wort  res  publica  tritt  dies  noch  hervor.  Vgl.  auch 
Thakyd.  IL  37  dvenax^c^Q  Sh  tä  töia  itQoaofiiXovvx^q  xa  öijfxoaia  Sia 
Siog  fidXiara  ov  naQavofAOvfiBv  . . . 

«)  Ed.  Mejer,  Gesch.  des  Altertums  IV.  Berl.  1901.  S.  99.  K.  F.  Her- 
mann, Ges.  Abb.  nnd  Beiträge.  Göttingen  1849.  S.  152. 


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IL 


Die  zu  Grunde  gelegten  Begriffe  und  der 

Zusammenhang  von  Piatos  Problem  mit 

Problemen  der  Gegenwart. 


Plato  kennt  nieht  den  Begriff  „Individnom"  and  „mensch- 
liches Individaam^.  Bei  seiner  groisen  Ennst  Menschen  zu 
individualisieren  gibt  es  fttr  ihn  nicht  „die  Kategorie  der 
Individualität^^  Um  die  Eigenartigkeit  des  Sokrates  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  mufs  Alkibiades  ihn  im  Symposion  mit 
einem  Satyr  oder  Silen  vergleichen,  Gestalten  die  jedem  Eben- 
mafs  des  schönen  Typus  spotten.  Den  einzelnen  Menschen 
betrachtet  Plato  in  der  Regel  als  Typus,  als  Menschen  in  be- 
sonderen allgemein  gleichmäfsigen  Beziehungen. 

Das  griechische  Wort  ixacxog  drückt  die  Besonderheit 
(ixag)  aus,  aber  die  Besonderheit,  die  der  einzelne  Mensch  mit 
jedem  Einzelding  gemeinsam  hat  in  seiner  Beziehung  auf  ein 
Allgemeines.  Von  dem  unbeseelten  Körper  unterscheidet  sich 
dadurch  der  beseelte,  dafs  ihm  von  innen  her  aus  sich  selber 
die  Bewegung  kommt  (Phaidr.  245  E).  Unter  den  Lebewesen 
wird  dann  nicht  in  der  Weise,  wie  von  uns  Menschen  im  Zeit- 
alter der  Humanitätsidee  der  Mensch  als  solcher  hoch  über 
das  Tier  hinausgehoben, i)  sondern  der  Mensch  in  seiner  Be- 
ziehung zur  Polis,  der  Einzelne  als  Bürger;  und  über  dem 
einzelnen  Privatmanne,  dem  löicotfjg,  der  sich  nur  um  seinen 
Eigenbesitz  kümmert,  steht  der  Mann,  der  irgendwie  im  öffent- 


>)  avöQonoSa  sind  „MenschenftifBe'',  Ausdrücken  fUr  das  Vieh  analog 
gebUdet,  vgl  v.  WUamowitz,  a.a.O.  S.  86.  Ferner  Plato  Politic.  272 C. 
(Der  geseUige  Verkehr  von  Mensch  und  Tier.) 


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11 

Helieii  Lebea  eine  Stelloog  als  Beamter,  Politiker,  Sophist  oder 
Dichter  einnimmt.     Anch  der  Dichter  als  öffentlicher  Lehrer 
^d  dem  Privatmann   gegenübergestellt     (Der  Privatmann 
redet  in  Prosa.)  ^) 

Das  Wort  Idtog  würde  nach  Brngmanns  Etymologie  anch 
nrsprQnglich  die  Besonderheit  „abseits,  beiseite"  (im  Gegen- 
satze jedoch  nnnmehr  zn  d^iuog)  ansdrttcken,  der  Lant  Fiö 
das  Sondern,  Unterscheiden  im  sinnlichen  Wahrnehmen,  im 
Sehen  besonders  and  überhaupt^)  So  bezeichnet  Utog  zn- 
näehst  das  besondere,  eigCDtttmliche  Aassehen  eines  Dinges, 
das,  wodurch  jedes  Ding  seinen  Eigennamen  bekommt,  wie 
Plato  meint.  Denn  „der  Name  ist  eine  Nachahmung  der 
Sache''.  Er  sagt  dann  auch  von  jeder  avcla  und  Idia,  von 
jeder  Tüchtigkeit  und  jeder  Verrichtung  überhaupt,  daljB  sie 
ihrer  Eigentümlichkeit  gemäfs  {xaxa  x^v  ldiöxf[td)  ihren  eigenen 
Namen  erhalten  hat')  Der  einmal  in  Piatos  Schriften  auf- 
tauchende Begriff  der  löioxfig,  der  vielleicht  unserm  Begriff 
der  Individualität  am  nächsten  kommt,  aber  nicht  das  Moment 
der  Einzigartigkeit  enthält,  bleibt  bei  Plato  in  logisch -gram- 
matischer Isolierung;  bei  den  Stoikern  erst  tritt  er  in  Beziehung 
zum  eigenartigen  Menschen  ^diog  avd'Qtnxog).^)  In  der  An- 
wendung auf  das  menschliche  Leben  ist  bei  der  Wortbedeutung 
von  Uiog  der  wohlmögliche  Zusammenhang  mit  löia,  dem 
äniseren  und  inneren  Wesen  des  Menschen,  verblafst  gegenüber 
dem  Anwesen,  das  der  Mensch  durch  die  Sonder-Eigentums- 
Ordnung  besitzt  Das  löiop  tritt  in  engste  Beziehung  zum 
olx£Zop.  Das  Hauswesen,  die  Familie  ist  die  Eigen  weit  In 
der  Beschränkung  auf  diese  Welt  bleibt  der  Einzelne  ein  Be- 
schränkter {Idiantxög)  gegenüber  dem,  der  seine  Fähigkeiten 
im  öffentlichen  Leben  ausbildet  und  entfaltet.     So  tritt  die 


^)  Vgl.  die  Wendung  I6la  te  Xeyofierov  xal  vnh  noirixmv  Rp.  363  £., 
s.  auch  Aristoph.  Bozq.  1030.  1054  ff. 

*)  YgL  Fr.  Bechtel,  Bezeichnung  der  sinnlichen  Wahrnehmungen, 
Weim.  1879  und  Prellwitz,  Etymol.  Lexikon. 

»)  Vgl.  KratyL  430  x6  Svo/da  —  läfuifia  xov  ngayfiaroq)  —  Protag. 
394  Bf.  im  Anschlnls  an  Prodikos  (Diala  IL  S.  566);  Bp.  580  £.  Polit  305  D. 

*)  So  braucht  z.  B.  Plutarch  Xdtoq,  Gato  mal  25.  Vgl.  femer  H.  ▼.  Arnim, 
Alig.  Gesch.  der  Philosophie  in  Kultur  d.  Gegenw.  1 5.  S.  231.  Zu  Piatos 
Gebrauch  von  Uiog  Tgl-  Astins,  Lex.  Plat 


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12 

konstante  Beziehung  zur  Allgemeinheit  als  Felis  in  den  Wort- 
bildungen und  Bedeutungen  von  löiog  in  den  Vordergrund. 
Das  zeigt  sieh  in  den  immer  wiederkehrenden  Wendungen 
löla  xal  ÖTjfjioala  (xoivy),  löicitfjg  xal  jtoXiq.  Im  Zusammen- 
hang mit  den  Andern  merkt  einer  seine  eigenartige  Fähigkeit, 
die  ihn  von  den  andern  unterscheidet  (Polit.  272  C). 

Wenn  auch  nicht  in  unserem  Sinne  begrifflich  formuliert, 
so  ist  der  Sache  nach  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von 
Individuum  und  Allgemeinheit,  von  Einzelmensch  und  Staat 
bei  Plato  wie  überhaupt  in  der  Literatur  seiner  Zeit  in  leb- 
hafter Bewegung.  Plato  verankert  die  psychologische  und 
ethische  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Einzelmenschen  zur 
gesellschaftlich -staatlichen  Gesamtheit  in  den  Orttnden  der 
Logik  und  Metaphysik.*)  So  wurde  aus  dem  ursprunglichen 
Thema  „Der  Einzelne  und  die  Gesellschaft  in  Piatos  Staates 
das  die  Gefahr  in  sich  birgt,  moderne  soziologische  Gedanken 
in  die  Antike  hineinzutragen,  der  definitive  Titel  dieser  Arbeit 
Zur  Ermutigung  während  der  Arbeit  diente  mir,  dafs  ein 
Kenner  des  Altertums  wie  Eduard  Meyer  sagt:  wie  es  zu  be- 
werkstelligen sei,  dafs  individuelle  und  soziale  Moral  zusammen- 
fallen, das  sei  „das  grofse  Problem  mit  dem  Plato  ringt''. >) 
Auch  schon  K.  F.  Hermann  sieht  „die  eigentümliche  Idee  der 
platonischen  Republik'^  in  der  organischen  Verschmelzung  von 
Staatsprinzip  und  Moral  des  Einzelnen.')  Man  redet  jetzt 
vielfach  vom  „ Individualismus^'  im  Zeitalter  der  Sophisten  und 
des  Euripides.  R  Pöhlmann  spricht  gar  von  einer  „Koinzidenz 
von  Sozialismus  und  Individualismus  im  platonischen  Staats- 
ideal ".^)    Das  geht  allerdings  zu  glatt  ein,  wie  überhaupt  die 

1)  Auch  wir  stehen  noch  in  den  Anfängen,  wie  u.  a.  die  Schriften 
von  J.  M.  Baldwin  zeigen  s.  The  Individual  and  Society  Lond.  1911,  Social 
and  £thical  Interpretations  in  Mental  development  New  York  1897.  YgL 
auch  W.  Wandt,  Logik  3,  III.  Stuttg.  1908  S.  466  („eins  der  schwierigsten 
soziologischen  Probleme"). 

')  Geschichte  des  Altertums  5.  1902.  S.  363.  — -  Auch  in  den  Schriften 
von  Max  Wandt,  Gesch.  der  griech.  £thik  I,  1908  und  Griech.  Welt- 
anschauung 1910  wird  durch  die  Darstellung  der  sokratisch- platonischen 
Lehre  als  Überwindung  des  „Indi?idnalismuB''  das  Problem  angedeutet 

•)  A.  a.  0.  S.  132. 

')  Gesch.  der  sozialen  Frage  und  des  Sozialismus  in  der  antiken 
Welt'  1912  IL  S.  108ff.,  vgl.  S.  199.    Trotz  phUosophisch- kritischer  Be- 


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13 

yielen  —  inmen,  die  leieht  das  Problem  versehleieni,  das  wir 
iD  seiner  Bewegong  sehen  müssen,  nm  es  zu  verstehen. 
Pöhlmann  kommt  ja  anch  za  dem  Resnltat,  dafs  das  Znsammen- 
fallen von  Individnal-  nnd  Sozialprinzip,  „eine  leere  Abstraktion^^ 
ist,  eben  weil  er  von  der  leeren  Abstraktheit  modemer  Begriffe 
ans  Plato  nnbewnist  den  modernen  Lesern  mundgereeht  maeht 
Alle  stehen  ja  mitten  in  den  grofsen  Bewegungen,  die  dnreh 
die  Sehlagwörter  „Individnalismos'^  nnd  „Sozialismus^^  an- 
gedentet  werden;  sie  sollen  einen  Gegensatz  bedeuten,  der, 
wie  Theobald  Ziegler  sagt,  heute  alle  Lebensgebiete  durch- 
zieht 0 

Bei  Plato  finden  wir  weder  das,  was  wir  „Individualismus^^ 
noch  das,  was  wir  „Sozialismus'^  nennen.  Es  sind  das  kom- 
plizierte moderne  Begriffsgebilde  mit  vieldeutigem  Inhalt^); 
und  doch  steht  Plato  gegenwärtigen  Bewegungen  nahe  in  den 
allgemeinen  Tendenzen  und  Gedankenbewegungen,  die  in  diesen 
Begriffen  zum  Ausdruck  kommen.  Die  Frage:  wie  verhält 
sich  der  einzelne  Mensch  zur  Allgemeinheit,  ist  zugleich  eine 
ewig  menschliche  Frage.  Sie  verbindet  die  Dichter  der  alten 
Tragödie  mit  den  Dramen  Hebbels,  Ibsens  und  Hauptmanns. 
In  der  Form  einer  neuen  Wissenschaft  ersteht  das  Problem 
der  „Politeia'^  in  der  ttppig  emporschiefsenden  Literatur  der 
Soziologie.  Auf  ein  Wort  Carlyles,  dafs  es  ein  Privilegium 
der  Törichten  ist,  von  den  Weisen  regiert  zu  werden,  bezieht 
sich  0.  Amman  und  fordert  in  seiner  sozialaristokratischen 
Gesellschaftsordnung,  ohne  sich  der  vielfachen  Übereinstimmung 
mit  Gedanken  Piatos  bewufst  zu  sein,  „Geist,  Talent,  Bildung 
und  Charakter*^  in  ihre  unverjährbaren  Rechte  „wieder'^  ein- 
zusetzen.')   In  bewufster  Übereinstimmung  mit  Plato  schreibt 


anatandoog  soll  der  Wert  des  reichhaltigen  Pöhlmannschen  Werkes  als 
Geschichte  der  sozialen  Frage  von  volkswirtschaftlich -historischen  Ge- 
sichtspunkten aus  nicht  unterschätzt  sein. 

^)  Individualismus  nnd  Sozialismus.  Dresden  1901.  S.  23. 

*)  Vgl.  s.  B.  Dietzels  Art  „Individoalismns",  Handwörterbuch  der 
Staatswissenschaften  5.  Jena  1910  und  Eisler  im  Wörterbuch  der  philos. 
Begriffe. 

")  Die  Gesellschaftsordnung  und  ihre  natürlichen  Grundlagen.  Jena 
1896. 


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14 

ein  Karl  ron  Hantenffel  „Sozialarigtokratiscbe  Ideen  ^.^)  Das 
seien  nur  zwei  Beispiele  aas  der  vielfachen  Bewegung  and 
Literatur,  in  der  die  Herrschaft  der  „Intellektaellen"  im 
Interesse  der  Allgemeinheit  oder  im  Interesse  einer  Kaltar 
gefordert  und  begründet  wird.  Andererseits  wird  darch 
sozialistische  Schriften,  wie  z.  B.  die  „sozialbiologischen^  ron 
K  Goldscheid  mit  ihrem  programmatischen  Thema  „Höher- 
entwicklang  and  Menschenökonomie'^  die  Komplizierang  des 
Problems  seit  Plato  gekennzeichnet. 


')  Berlm  1S96. 


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ni. 


IndiTidnelles  und  AUgememes  in  Plato  selbst; 
das  Werden  der  „Politeia". 


Wie  verhält  sich  das  Einzelwesen  zu  der  andern  Welt? 
Dies  Problem  ist  für  Plato  wie  fUr  jedes  Lebendige  sehen  mit 
dem  Eintritt  ins  y^Dasein''  gegeben. 

Fttr  den,  der  einem  alten  aristokratisehen  Gesehleeht  ent- 
stammte nnd  im  BewnJstsein  des  d'elop  yivoq  anfwaehs,  aber 
in  einer  Demokratie  geboren  wurde,  war  diese  Frage  schon 
liinsiehtlich  ihrer  praktischen  Lösung  von  vornherein  sozusagen 
sehärfer  formuliert,  als  fUr  den  Sohn  eines  athenischen  Bnder- 
kneehts.  Fttr  diesen  genttgte  fast  die  Kraft  seiner  Arme  und 
seiner  Stimme,  um  diese  Frage  zu  lösen.  Und  doch  gilt  diese 
Stimme  in  der  Versammlung  des  iriiioQ,  in  der  Maehtoffenbarung 
dieser  gemeinsamen  Mensehenwelt,  ebensoviel,  wie  die  Stimme 
des  feinen  und  vornehmen  Mannes,  des  xaXoTcayad'Oq.  Du  bist 
Dieht  nur  ein  Sohn  des  Ariston,  Du  bist  auch  ein  Sohn  der 
Demokratie,  sagt  man  dem  staunenden  Knaben. 

Als  Kind  seiner  Zeit  wächst  Plato  schon  durch  die 
Sprachgemeinschaft  in  die  allgemeinen  Gedankenbewegnngen 
hinein.  Die  tausendfachen  Eindrücke  aus  dem  Oesamtleben 
einer  überreichen  Kultur  und  innerhalb  dieser  Kultur  wieder 
besondere  persönliche  Einflüsse  und  Erfahrungen,  fast  alle  nur 
mögliehen  politischen  Verfassnngsformen,  die  in  buntem  Wechsel 
vorüberziehen,  werden  von  einem  starken  Eigen-Leben  und 
-Denken  absorbiert  und  arbeiten  an  dem  Problem  der  Politeia. 
Der  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  vernünftigen  Verfassung 
und  Verwaltung  der  ätadtgemeinde  liegt  die  Frage  der  Wirklich- 
keit zu   Grunde:   worin   hat   die  Herrschaft  Einzelner  ihre 


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16 

Berechtigang?  ^Nichts  Gates  {aya^^ov)  ist  die  Herrschaft 
Vieler ^  lernte  der  Knabe  aas  den  „besseren^'  Kreisen  der 
athenischen  Gesellschaft  schon  bei  seinem  Masiklehrer;  and 
Homer  sagt,  Zeas  gibt  die  Berechtigang  Führer  za  sein  dem, 
den  die  Fürsten,  die  oqioxol,  als  d^Bloq  avijQ,  als  zam  König 
geeignet  betrachten.  Der  letzte  König  der  Athener  aber,  der 
dieses  Namens  würdig  erschien,  hat  sich  für  das  gemeinsame 
Wohl  geopfert  In  der  Herrschaft  der  vielen  agiavoi  sah  nan 
Selon  keine  wirklich  gate,  keine  Herrschaft  der  Besten;  denn 
sie  sachten  nar  ihren  Eigenbesitz  za  vermehren.  Liegt  denn 
im  blofsen  Mehrbesitzen  and  Mehrgeniefsen  eine  Berechtigang 
zar  Herrschaft?  Der  zam  Herrschen  wirklich  Fähige  ans 
jedem  Stande  sollte  die  Möglichkeit  haben,  in  einem  öffent- 
lichen Amt  seine  Fähigkeiten  za  entfalten.  Das  war  die 
Forderang  der  vollendeten  Demokratie. 

Der  körperlichen  Tüchtigkeit,  im  Wettkampf  der  Einzelnen 
stärker  (xgelvrcop)  za  sein,  ist  jetzt  die  musische  Bildung  zar 
Seite  getreten.  Die  Kanst  der  Rede,  in  der  sich  Klngheit  and 
Einsicht  offenbart,  war  schon  bei  Homer  als  viel  vermögende 
Kanst  in  hoher  Schätzang.  Jetzt  aber,  in  der  Demokratie,  wo 
das  Mittel  der  Herrschaft  im  Gewinnen  der  einzelnen  and 
vielen  Stimmen  liegt,  ist  die  bedentende  fesselnde  Rede,  welche 
die  Gedanken  der  Vielen  bestimmt,  mehr  wert,  als  körperliche 
Tüchtigkeit  and  Besitz.  Der  „göttliche  Mann'*  ist  nan  der, 
der  im  Besitze  dieser  Weisheit  ist  oder  sie  za  lehren  versteht 
and  damit  die  Wege  zar  Betätigang  and  Macht  im  Gemein- 
wesen eröffnet.  1) 

So  kommt  der  Sohn  aas  dem  aristokratischen  Hause  za 
Sokrates,  einem  treaen  Sohn  der  demokratischen  Verfassung, 
dem  Mann  aus  dem  Volke,  der  an  alle  in  gleicher  Weise 
heranging,   immer  an   das,  was  gang  and  gäbe  war,  seine 


*)  Niog  iy(6  noze  äv  TtolXolQ  6rf  ttxvxbv  fna^ov,  (pi^^riv,  «  d^ärrov 
ifiavrov  yBvolfJLfiv  xvQiog,  inl  xa  xoiva  xijq  nolewQ  ev^q  Uvai  . . . 
Plat  £p.  7,  324B.  Die  Echtheit  oder  doch  Brauchbarkeit  als  QaeUe  ist 
für  den  3.  7.  und  8.  Brief  durch  G.  Ritters  Untersuchungen  wieder  wahr- 
scheinlicher gemacht,  vgl.  auch  Ritter,  Piaton.  München  1910;  mehr  eine 
gute  Zusammenstellung  der  Tatsachen,  als  Piatons  Biographie.  Vgl. 
femer  Ritters  Inhaltsdarstellungen  su  Piaton.  Schriften  und  „Die  po- 
litischen Gnmdanschauungen  Piatos''  (Philologus  1909). 


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17 

Beden  anknüpfte  and  möglichst  viele  fähig  machen  wollte, 
sieh  im  öffentlichen  Leben  zu  betätigen  (rä  jioXitixä  jigdt- 
rsiv)A)  Hier  tnt  sich  nun  dem  Jttngliug  ein  neuer  Gegensatz 
zwischen  dem  Einzehien  nnd  der  grofsen  Menge  auf,  er  lernt 
ein  Herrschen  nnd  eine  Herrschaftsberechtigung  der  inneren 
Vornehmheit  (jityaXojtQijisia)  in  seinem  Heister  kennen,  nnd 
der  Begriff  der  Vortrefflichkeit,  der  xaXoxdyad-la,  bekommt  fUr 
ihn  einen  nenen  nnd  reicheren  Inhalt. 

Wie   der   berühmte  Protagoras  nnd   die   andern   grofsen 
Begründer  des  wissenschaftliehen  Zweifels  warf  dieser  sonder- 
bare Heilige,   der  sieh   allerdings   nicht  bezahlt  machte,  in 
seiner  eigenen  Weise  dieselben  Fragen  auf:  Was  ist  überhaupt 
gerecht,  was  nugerecht,  was  Polis,  was  Politikos,  was  ist  Herr- 
schaft   unter   Menschen    und   über   Menschen,   was  ist    eine 
Herrsehematur  nnd  ein   zum   Herrschen   geeigneter  Mann?^) 
Aber   Sokrates   bleibt  nicht   beim   theoretischen   Zweifel   mit 
seinen  Gründen  fttr  und  wider  (ölöcoi  loyoi)  stehen,  durch  die 
es  möglieh  ist,  das  Gerechte,  das  ist  aber  nach  griechischem 
Sprachgefühl  auch  das  fiichtige  und  Berechtigte,  zur  Sache 
des    Bedegewandteren    und   Stärkeren   zu    machen    uud    das 
Schlechte  je  nach  Belieben  des  Einzelnen  gut  erscheinen  zu 
lassen.    Sokrates  sieht  die  praktischen  Folgen  des  grundsätz- 
lichen Zweifels  im  Mifsbrauch  der  Bhetorik.    Er  liebt  die  be- 
stehenden Gesetze  als  den  Ausdruck  des  Allgemeinwillens,  des 
xoivov  T^q  x6X£(og,  die  Gesetze,  unter  denen  seine  Vaterstadt 
grofs  geworden  ist  und  lehnt  alle  gewaltsamen  NeueruDgen  ab ; 
nnd  doch  sieht  er  das  Grundübel  der  yielgepriesenen  „Freiheit 
und  Gleichheit",  der  iXevd-sQla  und  loopofda  der  Demokratie 
in    dem    avtoöxsöidQeiv   in    dem    oberflächlichen    politischen 
Dilettantentum. 3)    „Wer  seine  Sache  nicht  versteht,  ist  weder 
ein  Feldherr  noch  ein  Arzt,  auch  wenn  er  von  allen  Menschen 
dazu  gewählt  wird''.    (Xen.  Mem.  III,  1, 5.) 


»)  Vgl.  Xen.  Mem.  I,  6,15.  IV,  1,3;  6,16.  —  {Sia  rdiv  Soxovvtcjv 
xoiq  iv^Qionoiq  Syfiv  rovq  Xoyovq), 

*)  t2  d^i  dvd-Qdnwv,  zl  ä^ixog;  Xen.  Mem.  I,  1, 15. 

*)  VgL  Eriton  50  ff.  Xen.  Mem.  III,  5,21.  avro-axe(^^agc<v  eigtl.  so- 
viel  wie  ,8ich  selbst  leicht  und  schnell  ein  Flofs  bauen  und  sich  darauf 
dem  Meer  anTcrtnuenS 

PhUMoplüsoha  Abli«iidliuig«n.    XL.  2 


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18 

Da  kommt  Piatos  Bruder,  der  noeh  nieht  20  Jahre  alte 
Glaakon  and  will  schon  eine  einflarsreiche  Stellong  in  der 
Stadt  einnehmen  {xQOOTatsveiv  xfjq  x6XB(oq).  Sokrates  fragt, 
was  ftlr  Wohltaten  er  denn  der  Stadt  erweisen  will.  Olankon 
schweigt.  Er  hat  ttberhanpt  kein  Ziel  {6x0x60)  das  er  hören 
lassen  kann,  wohl  nnr  das,  einen  Namen  zu  bekommen  (111,6). 
Die  Einsicht  des  Nichtwissens  bei  jedem  Einzelnen  zu  wecken, 
durch  das  Suchen  nach  dem  richtigen  Begriff  einer  oqbxi^, 
einer  Tüchtigkeit,  eine  grolse  Zielvorstellung  zu  geben  und 
damit  Ziele  für  die  Entwicklung  der  eigenen  Fähigkeiten 
gegenüber  der  Ziellosigkeit  der  individuellen  Willkür,  das  ist 
das  Ziel  dieses  grofsen  Erziehers.  1)  Die,  welche  sich  selbst 
kennen,  kennen  auch  ihre  eigenen  Obliegenheiten  (IV,  2,26). 
Die  natürlichen  Anlagen  der  Einzelnen  sind,  trotzdem  sie  in 
den  gleichen  Sitten,  Gebräuchen,  Gewohnheiten  und  Gesetzen 
{vofioi,  idTJ)  aufwachsen,  nicht  gleich.  Das  von  Natur  vor* 
treffliche  Wesen  {dyad-ri  q>vcig)^  das  sich  in  schneller  Auf- 
fassung, gutem  Gedächtnis  und  guter  Verwendung  des  Gelernten 
im  öffentlichen  Leben  zeigt,  bedarf  am  meisten  der  Erziehung. 

Sokrates  fordert  zunächst  die  Arbeit  des  Einzelnen  an 
sich  selbst  Er  bekämpft  wie  Hesiod  sodann  alles  Drohnen- 
wesen ttberhanpt  (asQylf]),  Darin  zeigt  er  sich  als  wahrer 
Volks-  und  Menschenfreund  {ötifiotixog  und  g>iXdvd'Qmxog). 
Einfältig  sind  die  Reichen,  die  hochmtttig  meinen,  der  Bildung 
nicht  zu  bedürfen.  Sie  sind  ja  ohne  Bildung  nicht  imstande^ 
ntttzlich  und  schädlich  zu  unterscheiden  {diaYiyvciaxeir).^)  In 
der  Weisheit  aber  unterscheidet  sich  nicht  der  von  den  Übrigen, 
der  wie  Euthydem  recht  viel  „Schriftliches  zusammengelesen" 
hat  und  den  Vielen  zu  imponieren  versucht;  und  das  Prahlen, 
alles  „aus  sich  selbst^  zu  können  (ojco  ravTOfiätov)^  dient  nicht 
dazu,  ein  vortrefflicher  Mensch  zu  werden.  Wichtiger,  als 
Redegewandtheit  und  Geschäftigkeit  {XexTixij  und  xQaxTixrj) 
ist  das  Einpflanzen  der  öa)g>Qocvvf],  der  „Gesundsinnigkeif* 
(wie  Paulsen  in  seiner  Ethik  übersetzt),  der  voUkommnen 
Selbstbeherrschung.    Es  gibt  keinen,  der  zugleich  aog>6q  und 

>)  Es  darf  nicht  ttbersehen  werden,  da£i  das  fiberaas  wichtige  Moment 
der  Zielvorstellang  in  dem  Blöivai  liegt,  das  sur  aQBxri  erforderlich  ist, 
und  imaxrffiri  ist  auch  „eine  Sache  Verstehen^  —  Können. 

*)  Vgl.  Apol.  36  C.  Xen.  Mem.  I,  2, 56  ff.  IV,  1, 5.  U,  7. 


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19 

dxQori^g  wäre.  Die  c<oq>Q06vvfi  igt  aber  nicht  nnr  durch 
ftd^öiq  sondern  auch  darch  /leXitfi  and  aaxfjöig  zn  erwerben. 
Der  Umgang  mit  tttebtigen  Menseben  dient  znr  Übnng  in  der 
Tttebtigkeit  (^  tSp  xQV^'^^^  o/iiZla  —  äcxf/cig  rijg  aQBTtjg 
1,2, 19  ff.). 

Was  im  kleinen  Kreise  der  Frennde  nnd  des  Hanses  gilt, 
dafs  Zosammenstimmen  und  Zusammenwirken  notwendig  ist, 
dafür  ist  ancb  im  allgemeinen  Verbände  der  Polis  zn  sollen.  ^ 
Von  Natnr  sind  die  Menschen  einander  zugetan,  denn  sie  be- 
dürfen einander,  haben  Mitleid  und  nützen  sich  durch  Zu- 
sammenarbeiten {övps^slp).  Wo  es  sich  um  Zählbares,  Mefs- 
bares  nnd  Wägbares  handelt,  haben  sich  die  Menschen  anter 
einer  allgemeinen  Norm  geeinigt  Das  Auseinandergeraten 
{dta^QBCd-ai)^  wobei  die  Menschen  zornig  werden  und  in  Streit 
geraten,  beginnt  bei  den  Fragen  nach  gerecht  und  ungerecht, 
schön  nnd  häfslich,  gut  und  schlecht,  da  ist  die  richtige  Ent- 
scheidung so  schwer.^)  So  ist  anderseits  das  Leben  der 
Mensehen  ein  Kampf.  Dafs  der  Stärkere  über  den  Schwachem 
herrscht,  ist  eine  allgemeine  Erfahrungstatsache  (II,  1, 12). 

Ein  Held  und  ein  Herrscher  ist  aber  nur  der,  welcher 
sich  selbst  beherrscht,  einer,  der  das  richtige  Bild  (slöog)  hat 
und  zn  bestimmen  weiXs,  wodurch  das  einzelne  Tapfere,  Ge- 
rechte und  Heilige  tapfer,  gerecht  und  heilig  ist,  und  von 
dieser  Einsicht  aus  sieh  nnd  andere  beherrscht  (der  IfTcgarrig 
ist  aueh  aQXixog  II,  1).  Das  ist  die  wahre  Mannhaftigkeit 
{opiff^la)^  die  nicht  in  der  rohen  Überlegenheit  eines  Athleten- 
tums  sich  zeigt,  sondern  eine  Tapferkeit  der  Seele  ist  (xaQ- 
XBQla  Tfjg  tpvj^g),  Herrenmenschen  (ösivol)  sind  die,  die  auch 
standhalten  im  Kampf  gegen  die  Begierden.')  Das  ist  die 
wahre  Autarkie,  Selbständigkeit  und  iXev&cQla,  und  das  Be- 
herrsehtwerden  von   Begierden   die   schlimmste   Knechtschaft. 


>)  Den  Aristarchos  fordert  Sokrates  auf,  seine  Haasgenossen  ver- 
nfioftlg  %n  bescbiftigen  (II,  7).  Dieser  Kern  des  xenophont.  Berichtes 
wird  wohl  aoch  sokratisch  sein.  —  ^ . .  töSv  iSiotv  inifjiiXeia  nXij^si  fxo' 
YW  6ia^Q€i  xfjg  t<0v  xoivwv,  Aach  des  Protagoras  Mathema  ist  evßovXla 
vifdi  xSp  olxelanf  dann  ne^  xfjq  nokemg  and  nomv  avöQaq  dyad-ovg. 
(Prot  31SE— 919  A.) 

*)  Entyphr.  7  Bff.  Xen.  Mem.  II,  6, 21. 

*)Lache8l9lD.  192Bfr. 

2* 


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20 

Durcli  die  Freiheit  unterscheidet  sich  der  Mensch  vom  Tier 
und  dem  Ungebildeten,  der  Sklavenart  {dvdQaxoöciöf^g  ^ 
äfia&i^g).  Der  Tyrann,  der  in  seinem  Bedürfen  dem  ärmsten 
Schlucker  gleicht,  gehört  zum  Pöbel  (elg  öijfiov  ^tjCOftBv).  Der 
SelbstgenUgsame  ist  wirklich  reich ;  und  „ein  viel  gröfseres  6nt 
wirst  Du  Dir  erwirken,  wenn  Du  die  Seele  von  Torheit  befreit 
hast,  als  den  Leib  von  einer  Erankheit^^) 

So  entsteht  ein  neues  Bild  des  Schön-  und  -Outen.  Solche 
wirklich  „Gebildete^^  machen  nicht  nur  sich  selbst,  sondern 
auch  andere  Menschen  und  Stadtgemeinden  glücklich  (IV,  12). 
Die  Menschen  wollen  auch  von  denen  am  ersten  sich  über- 
reden lassen  und  denen  gehorchen  {jteld^eo&ai)^  die  sie  für  die 
besten  halten.  Warum  sollten  nicht  die  xaZoixaya&ol  zu 
ihrem  eigenen  und  der  Stadt  Nutzen  gemeinsam  die  Ämter 
verwalten  {zAv  noXirix&v  rificiv  xoiv<Dvovg  . .  .)?2) 

Ein  zum  Herrschen  Berufener  besitzt  die  Weisheit,  den 
richtigen  Mann  an  die  richtige  Stelle  zu  setzen,  jedem  zu 
geben,  was  ihm  zukommt  (ra  jcQoarjxovTa  =  ölxaiä)  und  jeden 
damit  zu  verpflichten,  das  Seine  zu  tun. 3)  Voraussetzung  für 
den  schönsten  Vorzug  und  die  gröfste  Kunst,  die  ßaoiJux^ 
rix^  ist  die  gründliche  Vorbildung  und  Sachkenntnis  des 
Staatsbeamten.  Er  bedarf  so  gut  wie  jeder  Bildhauer  und 
Steuermann,  ja  seiner  gröfseren  Aufgabe  entsprechend  in  noch 
viel  gröfserem  Mafse  der  Ausbildung  in  seiner  Kunst  und  der 
Erziehung  zur  Tüchtigkeit. 

Die  Erziehung,  deren  Fragen  damals  seit  dem  Auftreten 
der  Sophisten  vielleicht  nicht  minder  lebhaft  erörtert  wurden, 
als  heute,  stellte  sich  dem  jungen  Plato  als  die  grofse  Macht 
dar,  wodurch  die  Allgemeinheit  den  Einzelnen  leitet  und  be- 
herrscht Bei  jedem  Wort  und  Werk  prägen  Amme,  Mutter, 
Hauslerer,  Vater,  Lehrer  und  dann  die  Polis  es  ein:  Das  ist 


1)  Hipp.  min.  373  A. 

3)  Xen.  Mem.  II,  6,  24.  lU,  3,  9;  0,  3.  (Prinzip  der  ArbeitsteUung.) 
»)  Xen.  Mem.  III,  l,7ff.;  2.  3.  IV,  2,11.  IV,  7, 1.  Vgl.  Gorg.  507  B. 
Das  ra  havrov  ngazzeiv  der  „Politeia",  auf  das  man  besonders  den 
„Individualismus"  Piatos  gründet,  ist  schon  alte  Soionische  Weisheit  (vgl. 
Hirzel,  B.  Themis,  Dike  Lpz.  1907  S.  195ff.)  ja,  schon  Gmndsats  des 
Konfuzius  und  Tsz^-Tsz8.  Vgl.  Grube  in  Kultur  d.  Gegenwart  (AUg. 
Gesch.  d.  Philos.)  S.  85. 


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21 

gerecht,  das  tiDgereelit,  das  ta,  das  lafs!  Und  dnrch  die  Mnsik 
BQchea  sie  einen  schönen  Rbythmns  und  Harmonie  in  das 
ganze  Leben  zn  bringen,  i)  Zwar  ist  die  rein  vitale  Kraft,  die 
g>vcig,  ein  starkes  Ding  nnd  reifst  sieh  znm  Unheil  des  Ganzen 
los,  sobald  der  erzieherische  Einflafs  aufhört  Eine  grofse 
Anzahl  Menschen  ist  aneh  zn  stumpf  und  zu  träge  {ßXax6xB{foq\ 
um  sich  bilden  zn  lassen.  Sie  sind  der  Einsicht  nicht  zu- 
gänglich.    Solche  wandten  sich  von  Sokrates  ab.  2) 

Plato  aber  gab  sich  dem  Einflufs  dieses  Mannes  hin,  in 
dem  sich  die  reiche  Bildung  der  perikleischen  Zeit,  die  nal- 
ötvöig  Ton  ganz  Hellas,  mit  alter  solonischer  Weisheit  ver- 
band.^) Es  vollzog  sich  in  Plato  eine  Entscheidung,  wie  sie 
der  weise  Prodikos  in  den  „  Hören  ^^  von  Herakles  erzählte,  die 
grofse  Wandlung,  die  wir  aus  der  Leidenschaft  einer  gewissen 
Überzengnng  im  „Gorgias"  spttren.  Hier  wendet  er  sieh  von 
dem  breiten  bequemen  Wege,  durch  Köderung  und  Bezauberung 
der  Massen  die  eigne  Herrschaftsstellung  zu  begründen,  ab 
und  wendet  sich  dem  steilen  Weg  der  wirklichen  (nicht  „schein- 
baren") Tüchtigkeit  zu,  die  einen  wirklichen  Vorzug  vor  andern 
{aQBxij)  begründet. 4)  Diese  Tüchtigkeit  aber  hat  das  ar/aHv 
und  TcaXov  zum  Ziel,  ohne  heimlich  zu  erwägen,  ob  es  Lust 
oder  Sehmerz  mit  sich  bringt.  „Man  kann  wohl  das  An- 
genehme des  Guten  wegen  tun,  aber  man  mufs  nicht  das  Gute 
des  Angenehmen  wegen  erstreben."  Was  für  ein  gröfstes  Gut 
ftlr  die  Menschen  ist  Dein  Ziel?  An  die  Stelle  eines  all- 
gemeinen Grundsatzes  nnd  eines  allgemeinen  Zieles  {jtQoq  ro 
ßiXriCrov)  setzt  nun  der  Redner  das  individuelle  Belieben 
und  das  egoistische  Ziel  {ivexa  rov  lölov  rov  avrcjv  oXi- 
ffDifvi^sg  tov  xoivav).    Die  demokratische  „Freiheit"  ist  ihm 


>)  Prot  326  C  ff.  826  B. 

«)  Xen.  Mem.  I,  2,  24  ff.  IV,  2,  28  ff. 

*)  Aus  den  Fragmenten  der  7  Weisen  liefsen  sich  schon  Kemgedanken 
der  Politeia  herausheben,  vgl.  Diels  II  S.  518  ff. 

*)  Die  dgerij  eines  Jeden  (xal  axevovg  xal  awfiatoQ  xal  yn}xijQ  xal 
^a»ov  navrog)  entsteht  durch  tdSiif  oQd-oxrjq,  xix^>  xoafioq,  Gorg.  506  DE. 
Der  englische  Kommentator  der  „Politeia"  Adam  gibt  agszii  durch  „ez- 
cellence*'  wieder.  Dals  unser  Wort  „Tagend'*  irreführend  ist,  hat  auch 
H.  Wandt  in  seiner  Gesch.  d.  griech.  Ethik  wieder  hervorgehoben.  Homer 
wendet  a^er^  noch  auf  die  schlimmsten  der  Freier  an,  6  629. 


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22 

das  jedem  freiBtehende  Mittel  zam  Zweck.  Hast  Da  nur  die 
Gabe  darch  Beden  die  Masse  za  Überreden,  so  machst  Da 
Dir  jeden  einzelnen,  Arzt,  Tarnlehrer,  Geldmann  znm  Sklaven. 
Es  gilt  nnr  den  Schein  za  erwecken,  als  wisse  man  mehr  als 
die  Wissenden,  die  Sachkandigen.  Es  gehört  daza  ein  ge- 
wisses Aasprobiert- haben,  wie  man  sich  Gnnst  verschafft  and 
Lastgeftthl  bei  den  Zahörem  erweckt  Es  kommt  da  weniger 
aaf  Eanst,  als  aaf  eine  got  zielende  Seele  an,  die  die  Anlage 
hat,  recht  anverfroren  and  mit  der  Prätension  der  Überlegen- 
heit mit  den  Menschen  za  verkehren.  Das  Ziel  {atoxd^iO&ai) 
ist  das  ^dv,  das,  was  dem  Einzelnen  im  zoologischen  Sinne 
angenehm  ist;  das  mnfs  die  Menge  nar  heraashören. ^ 

So  ist  die  Rhetorik  für  die  Seele,  was  fttr  den  Leib  die 
Eochkanst  ist  Sokrates  nnd  Plato  sagen  nan:  Die  grofse 
Menge  {rovg  jiolXovg)  lasse  ich  beiseite;  denn  ich  mache  mir 
klar,  dafs  nar  ein  einzelner,  der,  mit  dem  ich  rede  {xQog  ov 
.  . .  o  Xoyog)^  seine  Stimme  abgibt;  mit  den  Vielen  anterrede 
ich  mich  nicht  So  tritt  der  Dialogos  mit  seinem  individaali* 
sierenden  Charakter  der  Massenvrirknng  darch  die  politische 
Bede  entgegen.  „Die  Liebe  zam  Demos  in  Deiner  Seele  wider- 
steht mir."  Es  sind  zwei  Bereitschaften  (jtaQacxsval)  in  der 
Seele,  eine  zar  Last  and  eine  zam  Besten,  das  sich  dnreh- 
kämpfen  mnfs.  Wo  ist  ein  Mensch,  Freier  oder  Sklave,  der 
schon  durch  Dich  besser  gemacht  ist?  Da  hast  kein  Werk 
aus  dem  kleinen  privaten  Kreise  {lÖKorevcov)  aufzuweisen  und 
versuchst,  im  grofsen  Kreise  der  Öffentlichkeit  {öfjtiocievwv) 
etwas  auszurichten?!^)  So  setzen  die  wahren  ^ii6ao9>oi  dem 
Einzelnen  das  allgemeine  Ziel,  besser,  tüchtiger  zu  werden, 
und  dadurch  ttben  sie  ihre  Herrschaft  aus,  dafs  sie  den  Einzelnen 
auf  dieses  Ziel  hinweisen  als  wahre  Führer  der  Seelen 
(y>vx(xy(x>Yol  und  xohzixol  Bvloyoi).  Dieser  Psychagogie 
gegenüber  ist  die  Demagogie  die  Ungerechtigkeit,  das  gröfste 
Übel  (469  D).  In  ihrer  Spekulation  auf  die  Masseninstinkte 
gibt  sie  dem  Einzelnen  nicht  sein  Beeht,  wie  Sokrates  selbst 
im  Feldherrnprozefs  erlebte.  Die  Bedefreiheit,  das  Beeht  des 
Einzelnen  dient  auch  zur  Unterdrückung  des  Einzelnen. 


1)  Vgl.  Gorg.  480  B  ff.  499  £.  500  A.  502  £.  452  D— 465  D. 
«)  Gorg.  474  A.  513  0  —  515  B. 


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23 

Die  6i7icuo<fvv^,  die  jedem  dae  Seine  gibt,  die  riehtige 
Oi^uag,  iBt  das  Ziel,  auf  das  der  Einselne  hinblieken  mxib 
(oxoxoQ  xQoq  ov  ßXixovxa  öbI  ^^v).  Ohne  Selbstbeschränkiuig 
irt  \mk  gemeineameB  Leben,  keine  Selbsterweiterong  in  der 
Liebe  m(^;lieh  {axoXaOTog  =  dxoOßfivog  =  xoivmvMiv  dövvaxog)^ 
wie  sebon  die  Weisen  sagen,  dals  ein  gemeinsames  Band 
(xo€vawla)y  Liebe,  Ordnung,  Hafs  nnd  Reehtliebkeit  Himmel 
und  Erde,  Götter  nnd  Menschen  zusammenhalte.  So  stellt 
sieh  das  Gesetz  der  richtigen  Znerteilnng  {öixaioovpfj),  das 
Kallikles  als  KonTention  der  Schwächeren  zur  Unterdrückung 
der  Yon  Natur  Stärkeren  bezeichnet,  als  eine  Ordnung  des 
ganzen  Kosmos  dar.^) 

Niebt  der,  welcher  mehr  zu  haben  sucht  als  die  Vielen 
und  Ton  ihnen  abhängig  ist  in  seinem  Bedürfen  {xXeov£XT€lp\ 
sondern  der  Stärkere,  der  zugleich  besser  ist,  in  sich  geordnet, 
Herr  seiner  selbst  nnd  seines  Begehrens,  der  unterscheiden 
kann  zwischen  guten,  förderlichen  nnd  minderwertigen,  schäd- 
Uehen  Freuden,  ist  der  wirklich  Stärkere  nnd  Herrschende. 
Ein  solcher  Selbstherrscher  {iY^gati^),  der  nicht  in  der  äufseren 
Habe  sondern  im  innem  Sein  seine  Kraft  hat,  ist  zur  Herr- 
schaft ttber  andere  berufen  und  berechtigt  Es  ist  dies  kein 
sehimmemdes  Paradoxon  (ovdhv  xoixlXov\  wie  das  Wort  vom 
Beeht  des  Stärkeren  nnd  vom  Zerbrecher  der  alten  Gesetzes- 
tafeln {dta^^f^aq  . . .  vofiovg  rovq  xagä  ^vaiv  catavtag)  sondern 
eine  lüte  von  den  meisten  Menschen  bisher  zugestandene 
Wahrheit,  ein  allgemeines  Werturteil  (würden  wir  sagen),  dafs 
Unrecht  tun  häblieher  ist  als  Unrecht  erfahren,  sich  selbst 
bezwingen  der  gröJste  Sieg.  Dadurch  erhebt  sieh  der  Mensch 
ttber  das  Tier  nnd  Sklavcnart.  Das  ist  eine  alte  und  doch 
wieder  neue  Weisheit  gegenttber  der  Scheinweisheit  der 
Sophisten.  Es  gilt  eine  neue  unwiderlegliche  Bestimmung 
(ogog)  zu  finden,  wer  ein  gerechter  Herrscher  zu  nennen  ist 
und  wer  ein  gerechter  Untertan,  d.  h.  einer,  der  richtigerweise 
ttber  sieh  herrsehen  läfst.')  Die  Art  der  Stadtgemeinde -Ver- 
fassung ist  die  Erzieherin  der  Menschen.  3) 


0  QiXg.  507  E  — 608  A.   483  Äff. 
^  Vgl  Goig.49lDf. 
»)  Menez.  238  C. 


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24 

So  tritt  P]ato  im  Dienste  des  neuen  Ethos  seiner  Dialoge 
wie  Isokrates  im  Dienste  seiner  gereinigten  Rhetorik  dem 
rhetorischen  Betriebe  seiner  Zeit  entgegen,  der  immer  mehr 
zum  blofsen  politischen  Machtfaktor  in  allen  Augenblicks- 
fällen  ausartete.  Es  ist  indes  nicht  richtig,  Plato  im  Gegen- 
satz zur  Sophistik  oder  zu  den  jungen  Sophisten  Überhaupt 
zu  sehen.  Er  hat  seine  bestimmten  Sympathien  und  Ab- 
neigungen, trotz  der  grofsen  Verallgemeinerung  später  im 
„Sophistes'^  Er  steht  mitten  in  der  allgemeinen  Bewegung. 
Die  Frage  nach  der  besten  Verfassung  bewegte  damals  jeder- 
mann, i)  Allgemein  im  Umlauf  waren  Entwürfe  von  Zukunfts- 
staaten. Vom  „Wolkenkukuksheim'^  und  den  „Ekklesiazusen^ 
versetzt  uns  niemand  besser  als  Aristophanes  ins  yrirkliche 
Athen.  Den  Zukunftsbildern  gegenüber,  die  zumeist  von  in- 
dividuellen Wttnschen  ausgemalt  sind  und  gemeinsam  egois- 
tischen Interessen  dienen,  tritt  bei  Piato  neben  dem  Utopischen 
stärker  die  Annäherung  an  das  hervor,  was  wir  normative 
Wissenschaft  nennen.  Nach  dem  Zusammenbruch  der  Demo- 
kratie nimmt  auch  Plato  teil  an  der  allgemeinen  „Mode^  wie 
Beloch  es  nennt,  ftlr  spartanische  Zucht  und  Sitte  sowie  fttr 
Alt-Athen  zu  schwärmen.  Darin  offenbart  sich  ein  „Retournons 
ä  la  nature^'  auch  in  dieser  „Aufklärungszeit*',  am  stärksten 
in  der  kynischen  Richtung.  Bei  aller  Abhängigkeit  von  der 
ganzen  Bewegung  finden  wir  bei  Plato  eigentümliche  An- 
eignungen und  eigentümliche  Oegensätze. 

Von  seinem  aristokratischen  Empfinden  aus  bekämpft  er 
das  geschäftsmäfsige  Betreiben  der  Philosophie,  ans  sittlichem 
Gefühl  heraus  den  Mifsbrauch  der  Rhetorik  zum  Menschen- 
fang und  egoistischen  Zwecken  überhaupt  und  von  seinem 
philosophischen  Gewissen  aus  die  im  Nominalismus  wurzelnde 
AUeswisserei  und  das  Universalkünstlertum,  wie  es  Gorgias 
und  Hippias  repräsentieren,  und  die  Auflösung  aller  Wert- 
begriffe und  ewigen  Ziele  in  flüchtige  Impressionen,  Meinungen 
und  Opportunitäten. 

Vom  trefflichen  (ßiXnaroQ)  Prodikos  konnte  Plato  z.  B. 
aber  auch  lernen,  dafs  dem  Weisen  mehr  zukommt,  als  dem 


0  Ein  anschauliches  Bild  gibt  z.  B.  Euripides  Hiket.  404  ff.    Vgl 
auch  schon  Herod.  III,  80  ff. 


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Ungebildeten,  dafs  zn  nnterscheideD  ist  zwischen  woblbegrttndeter 
Freade  und  sinnloser  Begierde  (x^gä  BvXoyoq  and  ^öovri 
aXoyoqy).  Sicherlich  sind  auch  die  „Umstürzenden  Reden"  nnd 
^Antilogikoi^^  des  Protagoras  nicht  sparlos  an  Plato  yorttber- 
gegangen.  Denn  Protagoras  legt  in  den  einzelnen  Menschen 
die  Bestimmung  and  Entscheidang  ttber  die  Tatsachen  {pQoi; 
nnd  TCQlciq  xQccfn&TfDv)  and  damit  die  Macht  des  Umgestaltens.^) 
In  dem  Plan  der  völligen  Umgestaltung  der  gegebenen  Lage 
geht  Plato  ttber  Sokrates  hinaas. 

In  den  Fragmenten  des  Sophisten  Antiphon  finden  wir 
manehe  Sätze,  die  anmittelbar  aaf  Gedanken  der  Politeia  hin- 
weisen. Durch  ihn  scheinen  neae  Aasdrttcke,  wie  öiad-tci(; 
(wohl  frtther  nur  bei  Medizinern),  ötavoia  nnd  diaxoöfifjöig 
für  das  psychische  Leben  in  Gebraach  gekommen  za  sein,  3) 
Tielleieht  anch  das  Wort  dxoipcivfjroq  .,anges6llig*\  Er  schreibt 
„über  die  Einigkeit''  {dfiovoia)  and  fordert  nicht  nar  vom  Haas 
and  der  Polis,  sondern  von  jedem  Einzelnen  Einstimmigkeit 
mit  sieh  selbst;  denn  der  Mensch  ist  im  Kampf  mit  sich  selbst, 
mala  die  Aagenblicksfreaden  einzäanen  and  sich  selbst  be- 
hemehen.  Das  Wichtigste  anter  Menschen  ist  Erziehnng.  Er 
bringt  das  Bild  vom  Samen  and  dem  Erdreich.  Die  Lebens- 
weise and  der  Charakter  des  Menschen  mufs  sich  notwendiger- 
weise nach  seinem  Umgang  entwickeln.  Nichts  Schlimmeres 
gibt  es  f&r  die  Menschen,  als  die  Anarchie,  daram  haben  sie 
von  vorneherein  die  Kinder  daran  gewöhnt,  ttber  sich  herrsehen 
za  lassen  and  das  Befohlene  za  tan,  am  das  grofse  Umwerfen 
(ßBxaßoXij)  za  verhüten. 

Die  aristokratischen  Tendenzen  wird  der  persönliche  Ein- 
floTs  des  älteren  Verwandten,  des  Sokratesschttlers  and  aristo- 
kratischen Sophisten  Kritias  in  Plato  erhalten  haben.  In 
diesem  „Laien  anter  den  Philosophen  and  Philosophen  anter 


0  DielsII.  S.  562  ff. 

•)  ibid.  S.  624  ff.  —  iv  ty  naiSeltf  chto  higag  ^ecoq  inl  r^v  ifielvw 
fiBzaßX^tiav.  Im  Hinblick  ahf  die  TtQayfjLara  and  die  Polis  sind  dem 
Menschen  nar  die  branchbaren  „FilLtioDen**  (<pawaalai)  einzuimpfen. 
Theaitl66Dff. 

*)  DielsII.  S.  587 ff.  Die  engl  Kommentatoren  der  Politeia  geben 
Sia^saig  mit  „frame  of  mind"  wieder,  das  wiederum  an  Diltheys  „Struktur 
der  Seele'*  erinnert. 


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den  Laien",  wie  es  hieb,  yerband  sieh  mit  masischer  Bildung 
ein  Herrscherwille,  der  rücksichtslos  seine  Pläne  Tcrfolgte,  das 
^(iosiöig  (ygl.  IrafiOTtjg  XQaxtixri\  das  der  reine  Philosoph  sicher 
bewanderte.  Kritias  verkttndet,  dalB  ein  tttchtiger  Charakter 
sicherer  ist,  als  ein  Gesetz;  „den  könnte  wohl  kein  Redner 
jemals  ins  Gegenteil  amkehren'*.  Gar  kein  Leben  erschien 
ihm  besser,  als  ein  schlechtes  („inferiores^'))  kümmerliches  Leben. 
„Mancherlei  Verlangen  (^goaxBii)  gibt  es  im  menschlichen  Leben, 
ich  möchte  nnr  den  Glanben  an  einen  wohlbegrttndeten  Rahm 
haben/'  i)    Die  Yolksherrschaft  schien  ihm  anerträglich. 

Seinen  and  zagleich  Piatos  Gedanken  sehr  nahe  steht  die 
psendo-xenophontische  Schrift  „Athener-Verfassnng^^)  All- 
gemein {Iv  xaciß  Ytj)  ist  „das  Beste''  gerade  entgegengesetzt  der 
Volksherrschaft,  heilst  es  hier;  denn  in  den  Besten  ist  Zaeht- 
losigkeit  and  Ungerechtigkeit  in  geringstem  Mafse,  am  meisten 
aber  gründlicher  Eifer  fttr  das  Tttchtige;  im  Volke  aber  am 
meisten  Torheit,  Bildungslosigkeit,  Unordnnng  and  Nichts- 
würdigkeit Jetzt  kann  jeder  beliebige  Nichtsnntz  {jtovfjQog) 
aaftreten  and  für  sich  and  seines  Gleichen  „das  Gnte'^  aas- 
findig machen.  Das  Gate  ist  dann  eben  das  Wohlwollen  dieses 
Nichtsnutzes,  der  für  den  Pöbel  spricht;  denn  das  nützt  diesem 
mehr,  als  der  wirkliche  Vorzag  and  die  Weisheit  des  Tüchtigen 
—  and  sein  Übelwollen  (xaxovoia).  Unter  solchen  Zaständen 
{öicuTi^ftara)  kann  eine  Polis  anmöglich  die  beste  sein.  Das 
Volk  will  sieh  nicht  nnterordnen,  aneh  wenn  die  Polis  gnt 
Tcrwaltet  ist,  sondern  nar  frei  sein  and  herrschen  (I,  5 — 8). 
Sie  glauben  gamicht,  dafs  der  Vorzag  der  Tüchtigkeit  ihnen 
znm  „Guten"  gewachsen  ist,  sondern  meinen,  zu  ihrem  Nach- 
teil. Einige  haben  anerkannt,  dals  es  im  Volke  Leute  gibt, 
die  von  Natur  nicht  znm  Pöbel  gehören.  Dem  Volke  selbst 
ist  ja  die  Demokratie  zu  yerzeihen ;  denn  jeder  kann  anf  ein 
gewisses  Mitverständnis  {cvyyvwiAti)  rechnen,  der  sich  selbst 
gut  behandelt  sehen  will  (II,  19  f.).  Was  die  Verhältnisse  in 
Athen  anbetrifft,  so  helfen  alle  kleinen  Mittel  und  Ausnahme- 
gesetzchen  nicht,  um  die  Lage  zu  bessern,  wenn  die  Deiiy>kratie 

')  Diels  U.  S.  607  ff. 

*)  Weun  Emil  HttUer  in  dem  Sokrates-Werk  des  InseWerUgs  Leipzig 
1911  U.  S.  399  wie  schon  Aug.  Boeokh  für  die  Autoischaft  des  Kritias 
eintritt,  so  beweist  das  jedenfalls  die  nahe  Verwandtschaft. 


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unangetastet  bleiben  soll  (III,  8  f.).  —  Diese  realpolitischen 
aiistokTatiBotien  Tendenzen  zeigen  sieh  nnn  bei  Plato  durch 
den  Umgang  mit  Sokrates  vertieft.  Dieser  sieht  in  der 
Demokratie  an  nnd  f&r  sich  die  Möglichkeit  gegeben,  dais  die 
Tachtigen  auch  zu  Beamtenstellen  kommen.  Denn  die  demo- 
kratische Verfassung  war  die  Bedingung,  dafs  sieh  der  Einzelne 
unabhängig  von  Geburt  und  Besitz  ttber  den  Demos  erhob. 
So  lange  Plato  noch  versuchte  sich  mit  der  bestehenden  Ver- 
fassnng  auszugleichen,  konnte  er  es  nur  im  Sinne  einer  geistes- 
aristokratischen Auffassung.  In  Selon  sah  er  das  Vorbild 
eines  Herrschers,  der  das  Heil  der  Felis  höher  schätzte,  als 
die  habgierige  Vermehrung  des  eigenen  Besitzes,  i)  In  Perikles 
sehien  —  abgesehen  von  seinem  Hifsbrauch  der  Rhetorik  — , 
eine  Herrschaft  des  Tüchtigsten  bei  demokratischer  Verfassung 
verwirklieht  Plato  lehnt  es  ab,  dafs  Geburt  und  Abstammung 
(ßelrlanf  xäl  ix  ßeXuovmv)  an  sich  schon  eine  Arete,  einen 
Vorsng  begründen.  „Für  einen  Mann,  der  etwas  zu  sein 
glaubt,  gibt  es  nichts  Schmählicheres,  als  sich  nicht  durch 
sich  selbst  für  geehrt  zu  halten,  sondern  durch  den  Ruhm  der 
Vorfahren."  Ein  Anderes  ist  edel  und  vortrefflich  {yerpalov 
nnd  ayaO-ov),  als  der  blofse  Selbsterhaltungstrieb,  nnd  der 
1  neb,  sein  Besitztum  zu  erhalten  und  zu  vermehren.  Reichtum 
ohne  männliche  Kraftbetätigung  bringt  keine  Schönheit,  ist 
keine  Selbstbereieherung.  Der  tüchtige  Mann  soll  sich  mit 
der  Verfassung  ausgleichen,  in  der  er  lebt,  läfst  Plato  den 
Sokrates  sagen,  nicht  als  Nachahmer,  sondern  urwüchsig,  selb- 
ständig, gleichgestellt  und  gemeinsam  mit  den  Bürgern  (at^ro- 
fivSq  ofioiog),  wenn  er  in  Liebe  zum  Volk  der  Athener  etwas 
Edles  wirken  will.  Trefflich  sind  die  Athener  durch  die  alt 
angestammte  Aristokratie,  sagt  die  Aspasia  im  Menezenos,  man 
nennt  sie  zwar  Demokratie,  sie  ist  aber  in  Wahrheit  eine 
Aristokratie  mit  Zustimmung  der  Menge.  Wenn  auch  das 
Volk  souverän  ist  {kyxQothg  r^q  xdXscDg)^  so  gibt  es  doch  die 
Amtsgewalt  denen,  die  ihm  als  die  Besten  erscheinen.  Die 
natürliche  gleiche  Abstammung  {laoyovla  xarä  g)vcip)  zwingt 
uns,  die  Gleichheit  vor  dem  Gesetz  zu  suchen  {laovofilav  xava 
pofiop)  nnd   unter  einander   nur  dem   zu  weichen,  den  der 


<)  Y^  Aristot.  k^.  noK.  6. 

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allgemeine  Ruf  der  Tüchtigkeit  and  Einsicht  anszeichnet^ 
So  mochten  sich  wohl  yornehmer  denkende  Naturen  mit  der 
Demokratie  abfinden.  Denn  nach  idealer  Anffassang  schien 
sie  die  Möglichkeit  einer  tatsächlichen  Aristokratie  in  sieh  za 
bergen.  Sokrates  und  Plato  lieben  ihre  Stadt  Athen  als  aller 
Bürger  gemeinsame  Matter  and  Erzieherin.  Sokrates  zeigt  dem 
Kriton,  dafs  der  Einzelne  schon  darch  seinen  blolsen  Auf- 
enthalt in  einem  Lande  der  Freizügigkeit  seine  tatsächliche 
Unterordnung  unter  die  Allgemeinheit  (xoivov  rtjq  xoXemq) 
bekundet  Du  willst  als  Einzelner  (ro  cor  ftigog)  die  gesamte 
Polis  vernichten?  fragen  die  Oesetze.  Was  sollte  daraus 
werden,  wenn  sie  von  jedem  Beliebigen  mit  seinen  Privat- 
interessen für  nngiltig  erklärt  werden  könnten  (vjro  löiorcip 
axvQoi)?  Und  doch  will  Sokrates,  wie  sein.  Sterben  beweist, 
lieber  dem  Gott  sich  unterordnen,  der  alles  weifs  (und  nicht, 
wie  die  Vielen  meinen,  das  eine  weifs,  das  andere  nicht),  und 
seinem  Daimonion  folgen;  er  will  lieber,  dafs  die  Mehrzahl 
der  Menschen  nicht  mit  ihm  übereinstimmt,  als  dafs  er  als 
einzelner  mit  sich  selbst  nicht  in  Einklang  ist  (aöv(iq>a)vov.)^) 

So  denkt  auch  Plato.  Vertieft  war  ferner  Wohl  diese  ge- 
läuterte aristokratische  Auffassung  des  Lebens  noch  durch 
seine  Beschäftigung  mit  Heraklit  Ihm  gilt  einer  mehr  als 
Tausende,  wenn  er  nur  der  Tüchtigste  ist  Er  verachtet  die 
Vielen,  die  keine  Einsicht  haben;  wie  die  Esel  wollen  sie 
lieber  Heu  als  Oold.  Sie  kennen  nicht  den  allen  gemeinsamen 
Logos  und  leben,  als  ob  sie  ihre  eigene  Einsicht  hätten.  Eine 
Weisheit  gibt  es  nur,  die  alles  durchwaltet,  sowohl  die  aas 
Gegensätzen  gemischte  Harmonie  des  Kosmos,  als  auch  die 
menschlichen  Gesetze.  Vielwisserei  ist  nicht  Denken  (vovg). 
Denken  aber  der  gröfste  Vorzug  (lAsylöxfi  dgez^).  Die  zur 
Einsicht  Erweckten  haben  eine  gemeinsame  Welt') 

In  der  Gemeinde  der  Pythagoreer  fand  Plato  nun  eine 
xoivmvia,  eine  aristokratische  Gemeinschaft  von  Denkenden, 
die  ihr  Leben  nach  ihrem  Denken  zu  gestalten  suchten,  tat- 
sächlich   organisiert      Hier    herrschte    der    Grundsatz    „den 

>)  Vgl.  Gorg.  512  D.  — 513  C.  Menex.  238  G— 239  A.  246  £—247  B. 
(Vgl  Thukyd.  II,  65). 

*)  Eriton  50  A  ff.  Gorg.  4S2  C. 
>)  Dielfl  1,59  ff. 


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Yieunden  ist  alles  gemeingam".  Dadurch,  dafs  die  Eigeotning- 
OTduung  in  diesem  Kreise  aufgehoben  war,  sah  er  das  Grand- 
Ubel  des  gemeinsamen  btirgerliehen  Lebens,  das  Mehr-haben- 
woUen  {jiXhovexTtlv)^  das  gerade  bei  den  Herrschenden  den 
Gemeinsinn  und  die  wirkliche  Sorge  für  das  allgemeine  Beste 
zerstört,  in  der  Wurzel  beseitigt.  Hier  sah  er  Philosophen,  die 
die  strenge  spartanische  Zucht  mit  reiner  Gedankenarbeit 
vereinigten,  die  sich  und  die  Ordnung  des  gemeinsamen  Lebens 
einer  -höheren  Ordnung  der  Dinge  unterwarfen  und  eine  nach- 
haltigere Reinigung  von  Begierden  und  Erdenschwere  als  die 
elensinischen  Mysterien  yerbttrgten. 

Bei  den  Pythagoreem  fand  Plato  auch  dfe  zwei  Momente 
einer  aristokratischen  Auffassung  des  Lebens  i):  die  Erhebung 
ttber  die  Menge  der  Vielen,  die  jeder  Lust  des  Augenblicks 
folgen,  nnd  die  Unterordnung  unter  ein  Bleibendes,  Allgemeines. 
Gegenüber  den  wechselnden  Nomoi  und  Verfassungen  der 
Athener  fand  er  in  den  allgemein  anwendbaren  Zahlbegriffen 
ebenso  wie  im  Sein  der  Eleaten  ein  bleibendes  Allgemeines, 
anf  das  die  zum  Schauen  des  wahren  Seins  Erweckten  hin- 
bliekten,  um  danach  das  ganze  menschliche  Leben  zu  gestalten. 
Der  ist  in  Wahrheit  ein  Philosophos,  der  aus  der  Gebnnden- 
beit  der  Welt  des  Scbeins,  der  Welt  der  Meinungen  befreit  ist 
nnd  im  Gedenken  der  ewigen  Wirklichkeit  des  Seins  sich  und 
andere  beherrscht  Ob  die  Herrschaft  durch  einen  Freund- 
Behaftsbund  von  Philosophen  oder  durch  einen  einzelnen 
Tüchtigsten  ausgeübt  wird,  bleibt  im  Grunde  gleich.  So  ver- 
schlingt sich  nach  den  Erlebnissen  in  Syrakus,  durch  die  die 
Möglichkeit  eines  Philosophen-Königs  zeitweise  näher  gerückt 
war,  der  monarchische  Gedanke  mit  dem  Gedanken  a&  einen 
ganzen  Herrscherstand.  Denn  es  ist  ja  immer  möglich,  dafs 
innerhalb  der  ägiotoi  ein  Einzelner  wieder  alle  an  Einsicht 
und  Tatkraft  überragt 

')  Vgl  Bp.  600  B  (Py thagoras  von  Plato  besonders  wegen  der  ttber- 
Merteo  oSog  ßlov  geliebt). 


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IV. 


Das  Verhältnis  von  Indiyidaum  and 
Allgemeinheit  in  Piatos  Denken  überhaupt 


Wie  verhält  sich  das  Einzelne  za  den  Ideen?  Diese 
Frage  ist  vielfach  erörtert.  Plato  gibt  nns  im  Eratylos  einen 
Wink,  wie  er  von  der  Sprache  ans,  die  seit  der  Sophistik  all- 
gemein als  Erkenntnisqnelle  benntzt  wurde,  den  Ideen  näher 
gekommen  ist^)  In  Wahrheit  würde  ja  einer  nicht  verständiger, 
also  anch  zam  Herrschen  mehr  berufen  sein,  als  der  andere, 
wenn  das,  was  jedem  Einzelnen  (so)  erscheint,  wahr  sein 
würde.  „Nun  aber  gilt  weder  fttr  alle  alles  (einzelne)  in 
gleicher  Weise  zugleich  und  immer,  noch  für  jeden  besonders 
und  privatim  {Idlg:)  jedes  Besondere;  daraus  folgt  offenbar, 
dafs  irgend  ein  festes  (ßißaiov)  Selbst -Wesen -haben  des 
Selbigen  in  bezug  auf  die  einzelnen  Dinge  ist."  Aus  einer  ge- 
wissen Allgemeinsamkeit  des  Wahmehmens,  Sprechens  und 
Urteilens  innerhalb  aller  individuellen  Verschiedenheiten  schliefst 
also  P^ato  auf  bleibende  Wesenheiten. 

Das  erste  Bewufstwerden  der  Macht  des  allgemeinbegriff- 
lichen Urteilens,  die  allgemeine  Anwendbarkeit  eines  gemein- 
samen Ausdrucks  fttr  viele  Einzeldinge  in  vielen  Einzelrelationen 
liefs  aus  den  logischen  Funktionen  auf  unsichtbare  Mächte 
schlief sen,  liefs  die  einzelnen  Begriffe  als  Eigenwesen,  typisch 
wie  die  Göttergestalten,  erscheinen,  doch  gereinigt  von  den 
Mängeln,  mit  denen  die  Vielen  behaftet  sind,  mit  denen  sie 
sich  ihre   Götter  behaftet  vorstellen.     Die   Einzelwesen   und 


0  KratyL386Dff.   Die  Sprache  nennt  er  ein  diSaoxaXixhv  igyavov 
xal  öiaxQixixbv  x^q  ovalag. 


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81 

EiQxelbezieliiingen    sehliefsen   sich  gleiehsam  zu   einer  Kalt- 

geimeinflcldaft    und   zu   Eulthandlangen   mit  ihrem   Ootte  za- 

aammen.    Ihm  folgen  sie,  er  ist  ihnen  gegenwärtig,  and  Ton 

\hm   bekommen    sie    etwas    mit  {xoivoovbIv,  xaQhlvai,  /isri- 

So  verschlingen  sich  in  der  „  Lehre '^  von  den  Ideen  Logos 
und  Mythos,  «'^ii^cs'^  luid  bildhaftes  Denken.  (Der  Mythos 
ist  nicht  nnr  rhetorisches  Mittel  zar  Belehrung  der  Schwachen 
im  Geist  and  nicht  immer  bewafstermafsen  Aasdrack  des  nnr 
Wahrscheinlichen,  daza  nimmt  Plato  den  Mythos  viel  za  ernst, 
so  wie  Jesns  seine  Parabeln.)^)  Was  wir  „Begriff'^  nennen, 
würde  bei  Plato  etwa  der  oQog  und  seine  Funktion  der 
oQiCfiiq  sein,  „Grenze"  und  „Begrenzung",  und  nur  der  Weg 
znr  „Idee",  der  mit  dem  der  religiösen  Erhebung  sich  ver- 
bindet.')  Das  ddoq  und  das  An-sich  (eigentlich  „Nach-Seins- 
MaCsgabe'')  ist  aber  auf  dem  Wege  zu  unserm  „Allgemein- 
bcgriflf"  und  „Inbegriff*'  und  die  avafiptjaig  auf  dem  Wege 
zum  a  priori.  4) 

Welches  sind  nun  die  Einzeldinge  oder  Einzelwesen,  die 
sieh  unter  einem  sldog  vereinigen?  Es  läfst  sich  vermuten, 
dafs  Plato  nur  von  allem  typisch  Individuellen  und  typisch 
individuellen  Beziehungen  Ideen  annimmt  Zur  Erläuterung 
könnten  etwa  die  Skulpturen  des  Parthenontempels  im  Ver- 
gleich mit  den  reiner  individualisierenden  plastischen  Werken 
Kodins  dienen. 

Bei  der  Begriffsstimmung  von  „Individuum",  dem  „Unteil- 
baren", mtllste  sich  wohl  ein  Mittelweg  finden  lassen  zwischen 
Yirehow  und  Sigwart,  die  Individuum  auf  den  lebenden 
Organismus  beschränkt  wissen  wollen,  und  Riekert,  der  diesen 
Begriff  bis  auf  ein  eigentümlich  gestaltetes  Stttck  Kohle  z.  B. 
ausdehnen  will.  Dem  eigentttmlichen  Ausdruck  genauer  ent- 
sprechend mOfste  „Individuum"  auf  den  Gegenstand  (ogyavov). 


*)  Ober  xoivwvilv  und  fiexix^iv  mit  Beziehung  auf  die  Gottheit  vgl. 
Phiddr.  246  DE.  253  A. 

*)  y.  Brochard  sagt:  ,Je  suis  port6  ä  croire  que  certains  mythes 
ezpriment  ]a  pensöe  la  plus  intime  de  Piaton."  fitudes,  Paris  1912  S.  48. 

')  Aristot.  Metaph.  1,  6  bat  durch  Gieichsetzung  von  oQiOfjioq  und 
iÜog  P]Mi<m  Unterscheidung  vielfach  fibersehen  lassen. 

*)  Vgl  A.  Biehl,  Plato  1905  S.  19. 


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32 

der  von  organischen  Wesen  hergestellt  ist,  erweitert  bzw.  be- 
schränkt werden,  insoweit  diesen  Gegenständen  das  Merkmal 
der  Unteilbarkeit  zukommt  i)  Solche  Gegenstände  sind  un- 
teilbar, sofern  sie  infolge  von  Teilung  ihren  Zweek  nicht  mehr 
erfüllen  können,  ihr  individuelles  jtQog  xi  durch  Teilung  zerstört 
ist.  Auch  in  den  Werken  der  Fertigkeiten  und  Kunst  gibt  es 
Individuen  von  der  primitivsten  Art  bis  zu  den  Individualitäten 
schönster  Vollendung.  — 

Der  Gedanke  an  irgend  eine  zweckvolle  Beziehung  scheint 
Plato  geleitet  zu  haben,  als  er  davor  zurückschreckte,  Dinge 
wie  Haaren,  Schmutz  und  dergl.  oder  vagen  Gerüchen  und  dem 
blofsen  Stoffe,  der  sich  noch  „unter  unseren  Händen  gestaltet^', 
eine  Idee  (lUoq)  zuzuerteilen.  Vom  Tisch  und  Liegepolster 
gibt  es  aber  eine  Idee;  Feuer  und  Wasser  sind  für  den  Griechen 
ganz  lebendige,  typisch  individuelle  Mächte,  er  sieht  sie  in 
lebensvollen  Beziehungen,  wie  den  Menschen  als  einen  ooiov 
und  ölxaiov.  Die  Ahnung  des  Begriffs  der  Gleichheit  und 
Schönheit  läfst  diese  Ideen  Mächte  werden,  durch  die  Steine 
und  Hölzer  sowie  die  mathematischen  Symbole  zweckent- 
sprechend angeglichen  werden,  das  einzelne  Schöne  zum  Vor- 
bild des  Schönen  hingeführt  wird.  Die  Ungleichheit  aber 
bringt  das  einzelne  Ungleiche  in  vorbildlich  richtiger  Weise 
auseinander. 

Wie  alle  „Individuen^^  die  gestaltet  sind  oder  sich  selbst 
und  die  Dinge  gestalten,  sieht  Plato  auch  die  Menschen  immer 
in  typisch  individuellen  Beziehungen  und  in  Beziehung  zum  Ur- 
bild, nach  dem  sie  gestaltet  sind  und  zum  Vorbild,  nach  dem 
sie  hingestaltet  werden  sollen.  In  der  Gemeinschaft  der 
Ideen  wie  in  der  der  Götter  besteht  nun  eine  „Hierarchie'^  bis 
hinauf  zur  Idee  des  „  Guten '\  dem  auch  die  Schönheit  und 
Zweckmäfsigkeit  einer  Vase  {dQsr^  öxevovg)  untergeordnet  ist, 
bis  hinauf  zum  Gott,  dem  Eingestaltigen.  So  besteht  auch 
unter  den  Menschen  eine  Gemeinschaft  von  untergeordneten 

>)  Nicht  VerBtUmmelung,  vgl.  die  Definition  des  Aristot.  Metaph. 
1024  a;  auch  nicht  Teilung  im  Sinne  von  Fortpflanzung.  —  VgLYtrchow, 
Atome  und  Individuen  (Vier  Reden  über  Leben  und  Kranksein,  Berlin 
1862).  Sigwart,  Logik  IL  267  und  680,  bei  der  Erörterung  des  teleolog. 
Gesichtspunktes  angedeutet,  „beim  Organismus  (oder  auch  bei  einer  Uhr)'*.  ~ 
Rickert,  Grenzen  238  ff.  258.  3U6.  318  f. 


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33 

und  übergeordneten  Wesen  und  Vorgängen.  Nach  dem  Vorbilde 
des  groben  Werkmeisters  {ötjfiiovQyog)  soll  eine  Polis  nach 
Högliehkeit  gestaltet,  von  ungeordnetem  Werden  zu  geordnetem 
Sein  geführt  werden. 

„Gut  sind  wir  wie  alles  andre  dadurch^  dafs  eine  Tüchtig- 
keit, ein  Vorzug  in  uns  entstanden  ist  (agst^g  xagaYSPoiiiin/gy^ 
Diese  Vortreffliehkeit  besteht  in  einer  richtigen  Ordnung.  Wenn 
nun  eine  Ordnung  {xoöiiog  rig)  in  einem  jeden  Besonderen 
wohnt,  die  eigne  eines  jeden  Besonderen,  dann  repräsentiert 
sie  ein  besonderes  Gutes  des  allgemeinen  Seins  (dyad-ov 
xoQix^i  txacxov  xAv  optcov).  Eine  geordnete  Seele  macht  den 
eigentümlichen  Vorzug  und  das  eigentümliche  Gute  des  Menschen 
aus.  Eine  solche  ywxfj  xoafila  ist  auch  nnr  fähig,  sich  zu  ge- 
sellen (xoipovbZp),  denn  sie  übt  die  gesundsinnige  Selbst- 
beschränkung und  würde  wohl  das  tun,  was  Göttern  und 
Menschen  zukommt  {ooia  und  ölxaia).  Das  richtige,  tüchtige 
Tun  ist  aber  zugleich  das  Glücklichsein,  i) 

Die  Seele  ist  das  vermittelnde  Wesen  im  Menschen,  das 
die  Gemeinschaft  mit  der  Ideen-Allgemeinheit  herstellt.  Sie 
vermag  es  durch  ihren  einsichtigen  Teil  (das  potjttxop).  Durch 
das  Einsichtige  ist  sie  dem  d-sZop,  dem  Schönen,  Weisen,  Guten 
verwandt;  und  in  der  Unterordnung  der  dem  sterblichen  Leibe 
verwandten  Seelenteile,  des  „Emotionalen^^  (könnten  wir  sagen), 
besteht  die  richtige  Ordnung  der  Seele.  Sie  ist  das  principium 
individuationis  (ro  stagexo/ispop  riitcop  %xacxop  rovx'  slpai 
Leg.  959  A)  und  zur  Herrschaft  über  das  leibliche  Leben  be- 
stimmt Dies  hindert  die  Seele  in  ihrem  Fluge  nach  oben 
hin,  wo  das  Göttergeschlecht  wohnt  und  hindert  sie  „rein  zu 
erkennend  Nur  wenn  die  Seele  bei  sich  selbst  ist,  kann  sie 
die  geschaute  vorbildliche  Ordnung  der  Dinge  in  reiner  Ge- 
dankenbewegung wiedererzeugen.  2) 

Dazu  bedarf  es  einer  völligen  Änderung  (alXayfj)  einer 
Befreiung  von  den  wilden  Trieben,  von  planlosem  Irren,  Ge- 
dankenlosigkeit und  Furcht,  es  bedarf  einer  völligen  Reinigung 


0  Gorg.  506D— 507E.  Vgl  das  Homerische  el  xata  xoofiop  and 
Menon  96  C  OQ^wq  xe  xal  6v;  das  griechische  ei  ngatrsiv, 

»)  flXiXQivsl  Tg  öiavola  XQfofievog,  Phidd.  66  A.  Vgl.  Soph.  259  E. 
Dnrch  die  <TVfinXoxij  der  Ideen  entsteht  fUr  ans  der  Xoyog, 

PUlofophJteh«  Abhandlung«!.    XL.  3 


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84 

von  niederen  Lügten.  Dadurch  unterscheidet  sich  der,  welcher 
nach  dem  Weisen  strebt  und  seinem  Gotte  folgt,  von  den 
Andern,  die  noch  im  Trug  der  Sinne  stehen  und  von  der 
jtapöfjfiog  Aphrodite  beherrscht  werden.  Über  ihr  erhebt  sich 
der  Eros  zum  Schönen  und  Outen.  Der  Eros  ist  auch  ein 
Mittelwesen  zwischen  Menschlichem  und  Göttlichem.  Er  führt 
die  Menschen  zusammen  (avpaytüYsig)^  macht  aus  zweien  eins, 
er  verbindet  alle  Menschen  in  dem  Streben  nach  einem  irgend- 
wie Guten,  nach  einem  Unsterblichen.  Über  denen,  die  nur 
auf  Fortpflanzung  und  berühmten  Namen  bedacht  sind,  er- 
heben sich  die,  deren  Seele  von  Eros  empfangen  hat,  um 
irgend  eine  wirkliche  Tüchtigkeit  (agerij)  zu  gebären.  Die 
gröfste  und  schönste  Tüchtigkeit  ist  die,  welche  auf  durch- 
greifende Ordnungen  von  Stadtgemeinden  gerichtet  ist,  ihr 
Name  ist  weise  Selbstbeherrschung  und  Gerechtigkeit,  i) 

Nun  zeigt  aber  die  Wirklichkeit,  dafs  nur  wenige  vom 
Gott  wirklich  ergriffen  sind,  in  sich  eine  Neuordnung  her- 
gestellt haben  {iyxQaretg  xal  xoöfiioi)  und  daher  zum  Ordnen 
der  Städte  berufen  sind.  Sie  stehen  einsam  unter  denen,  die 
das  Leibliche,  Geld  und  Ehre  lieben  und  mit  diesem  Streben 
das  wirkliche  Menschenleben  beherrschen.  Der  Philosoph  ist 
verachtet  im  Kreise  der  Realpolitiker.  Seine  göttliche  Be- 
geisterung ist  der  Menge  verborgen.  Er  ist  ein  Weltfremder. 
Er  spricht  eine  den  Menschen  unverständliche  Sprache,  heilBt 
es  im  Gorgias,  und  ist  überhaupt  ganz  unerfahren  in  allem, 
was  unter  den  Menschen  Brauch  ist.  Er  versteht  nicht  wie 
der  politische  Rhetor  im  Demos  zu  sprechen  und  dies  grofse 
und  starke  Vieh  seinen  Wünschen  gemäfs  zu  behandeln.  80 
wird  er  notwendig  von  den  Vielen  getadelt.  >)  Dem  vollkommen 
Ungerechten,  der  nur  den  Schein  der  Rechtlichkeit  zu  wahren 
versteht,  steht  die  Welt  offen,  er  wird  allgemein  geachtet  und 
gelangt  zur  Herrschaft,  der  vollkommen  Gerechte  aber,  der 
dazu  noch  den  Schein  der  Ungerechtigkeit  bei  der  Menge  er- 
weckt, aber  unwandelbar  bleibt  bis  in  den  Tod,  wird  gequält, 
gemartert  und  schliefslich  gekreuzigt  (Rp.  361f.). 


^)  tj  tcsqI  tag  xoiv  tioXbcdv  ze  xal  olxijaEQ>v  Siaxocfii^aeig^  Symp.  209  A. 
Zum  Vorhergehenden  Symp.  Phaid.  Ph&idr.  im  Zusammenhang. 
>)  Gorg.  484  C  ff.  500  G.  Rp.  498. 


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85 

So  reift  in  Plato  die  grofse  Verlegenheit,  die  axogta,  die 
Sokrates  in  seinen  Schillern  zu  weeken  snchte:  „Wo  siehst 
Du  da  noch  ein  Anfreehterhalten  für  philosophische  Art,  sodafs 
sie  in  ihrem  Bestreben  bleibt  nnd  zam  Ziel  kommt ?^'i)  Um 
ein  für  den  Philosophen  überhaupt  erträgliches  Verhältnis  zum 
wirkliehen  Leben  zu  gewinnen,  nm  Menschen  za  den  Ideen 
und  za  der  Befreiung  ans  dem  Höblendasein  za  führen,  gründet 
er  die  Stätte  gemeinsamer  Arbeit  im  Hain  des  Akademos.  Um 
die  wahre  Ordnung  der  Dinge,  die  er  geschaat'  hat,  ins 
wirkliche  Leben  zu  übertragen,  nnternimmt  er  die  Reisen  nach 
Syrakos,  und  nm  die  yielen  Fragen  ans  der  Welt  der  nn- 
glänhigen  Tatsachenmenschen  zu  beantworten,  entwirft  er  den 
Plan  einer  Nenordnung,  in  der  die  Einsicht  der  Wenigen 
herrschen  soll  an  Stelle  des  allgemeinen  Unverstands. 


»)  Rp.  494  A-  497  B. 


3* 


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Das  Verhältnis  Yon  IndiYidnum  und 
Allgemeinheit  in  der  „Politeia"  im  Zusammen- 
hang mit  den  übrigen  Schriften. 


1«  Das  IndiTidanm  und  die  aUgemeine  Naturbasis« 

Dafs  das  Viele  eins  nnd  das  Eine  vieles  ist,  das  ist 
wunderbar,  sagt  Plato  im  Philebos;  dafs  Eins  und  Vieles 
dasselbe  ist,  das  ist  ein  unsterblicher  und  nicht  alternder  Zu- 
stand des  Denkens  in  uns.  Schon  die  Alten,  die  tttchtiger 
waren  als  wir  und  näher  den  Göttern  wohnten,  haben  über- 
liefert, dais  Begrenztes  und  Grenzenloses  in  sich  zusammen- 
gewachsen sind;  und  in  jedem  Besondern  ist  wieder  eine 
unbegrenzte  Vielheit  (14jBr.).  So  ist  der  Mensch  ein  durch 
Geburt  und  Tod  umgrenztes  Selbiges  und  doch  ein  veränder- 
liches Vielfaches;  Jüngling,  Mann,  Greis,  traurig,  fröhlich, 
zornig;  grenzenlos  in  seinen  Trieben,  besonders  dem  stärksten 
Triebe,  sich  fortzupflanzen,  und  wieder  begrenzt  in  der  Fähig- 
keit sich  selbst  zu  beherrschen  (vgl.  Symp.  207  E). 

Durch  gesundes  Denken  {o<og>Qoavvf])  beherrscht  und  ge- 
staltet er  das  Grenzenlose,  das  ist  das  Ungestaltete,  Un- 
geordnete, so  wie  der  Gott  einst  aus  der  Unordnung,  deren 
Ursache  das  Körperhafte  {ömfiovosidig)  in  der  Mischung  der 
Welt  war,  den  Kosmos  gestaltete.  0  Wir  und  die  übrigen 
Lebewesen,  und  das,  woraus  sie  entstanden  sind,  Feuer  und 
Wasser  und  das  diesen  Verschwisterte  {d6sXg>a),  Alles,  wissen 
wir,  sind  Ausgeburten   des  Gottes,  jedes  in  seiner  Art  ge- 


»)  Polit.273B.  Tim.  30  A. 


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37 

M\i2fieTi.    Im  Hinblick  auf  den  Gott  sind  die  Menschen  wie 
üanonetteu  {ß-avfiara).^) 

^Sedea  Werden  wird  um  irgend  eines  Seins  willen  und 
das  ganze  Werden  nm  des  ganzen  Seins  willen"  (Phil.  54  C). 
Plato  nuterseheidet  in  der  Natur  dreierlei:  das  Werdende,  die 
qnycig  eines  Jeden;  das,  worin  etwas  wird,  den  allgemeinen 
Nährboden  f&r  jedes  lebende  Individuum  (auch  avayxi]^  Ein- 
engung, Einschränkung  durch  die  besonderen  Lebensverhält- 
nisse); und  das  Urbild,  nach  dem  es  geschaffen  ist,  und  dem 
es  wieder  ähnlich  zu  werden  strebt  {od'ev  aq>ofioiovfiBvov 
gfvetai  Tim.  50  G,  vgl.  Rp.  491  f).  Nach  irgend  einem  Bleibenden 
strebt  alles  Werdende  im  Wandel  des  t66s  und  rotJro  (der 
^Haeeeeitas").  Alle  Lebewesen  verbindet  ein  Empfinden,  ein 
Streben,  ein  Verlangen.  Es  wäre  nicht  leicht,  dem  andern 
Menschen  den  eignen  Zustand  (ro  savtov  ytad-jj/ia)  aufzuzeigen, 
wenn  bei  den  Menschen,  trotzdem  die  einen  dies,  die  andern 
jenes  erfahren,  nicht  dasselbe  „Pathos^^  (wir  würden  sagen,  nicht 
eine  gewisse  gleichartige,  allgemeine  psychophysische  Dis- 
position vorhanden  wäre),  sondern  jeder  von  uns  den  andern 
gegenüber  über  eine  ganz  private  Empfindungs-  und  Erfahrungs- 
basifl  verfügte  (Gorg.  481  Cff.).  Aufser  dem  Verlangen  nach 
Speise  und  Trank  verbindet  alle  Lebewesen  als  mächtigster 
Trieb  das  Liebesverlangen  (Leg.  782  E).  In  diesem  Trieb  nach 
Erhaltung  der  Art,  des  yivoq  liegt  ein  Verlangen  nach  Un- 
sterblichkeit, nach  bleibendem  Sein. 

In  jedem  Verlangen  liegt  ein  Mangel,  ein  Bedürfen  {ivöeia). 
Der  Mensch  ist  von  Natur  nicht  sich  selbst  genug  (a^raQxrjg). 
Das  Eine  verlangt  zwei  zu  werden.  Es  heifst  nun:  ursprüng- 
lich weideten  die  Götter  die  Menschen  wie  Hirten  ihre  Herden. 
Sie  lielsen  die  einen  hier,  die  andern  dort  sich  ansiedeln. 
Die  Menschen  lebten  anfangs  sporadisch  {öxoQadtjv)^  sagte 
man  auch,  und  zum  Schutze  gegen  die  wilden  Tiere  traten 
die  Hausgemeinden  zu  gröfseren  Vereinigungen  zusammen.  So 
vereinigten  sich  allmählich  viele  zu  gegenseitiger  Hilfe  und 
Unterstützung  in  einer  gemeinsamen  Ansiedlung  und  nannten 


1)  Vgl.  Soph.  266  B.;  Leg.  644  DE.  803  C.  Mythische  Ahnung  eines 
natnrvrissenscbAftlichen  Mechanismos,  hier  zugleich  Ausdrock  der  Re- 
sigiiation  gegenüber  der  rücksichtslosen  Mechanik  des  tatsächlichen  Lebens. 


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38 

das  Umhegte  „Polis^'.  Es  zeigte  sich,  dafs  der  Menseh  Vieler 
bedarf;  der  eine  nimmt  dieses,  der  andere  jenes  von  diesem 
oder  jenem  zu  dem  einen  oder  dem  andern  Zweck.  Unsre 
eigne  Notdurft  hat  die  Stadt  entstehen  lassen,  sie  schuf  die 
Gemeinsamkeit  der  Agora,  nnd  in  der  Mttnze  erfand  man  ein 
allgemeines  „Symbol"  des  Austansches  (aXXayi^  und  ^v/ißoXaiov). 
Das  wechselseitige  Mitteilen  erschien  den  einzelnen  besonders 
Haasenden  besser,  als  wenn  jeder  alles,  was  zu  seinen  Be- 
dürfnissen gehört,  allein  betriebe  nnd  herstellte.  Die  Arbeits- 
teilung stellte  sich  im  Zusammenleben  der  Menschen  als  das 
ZweckmäXsigste  heraus.  Denn  „nicht  ist  jeder  dem  andern 
von  Natur  gleich,  sondern  verschieden  seiner  Natur  nach,  der 
eine  zu  dieser,  der  andre  zu  jener  Tätigkeit  geeignet",  i) 
Jedem  ist  gleichsam  von  Natur  zugewiesen,  was  er  zu  tun  hat 
und  was  ihm  zukommt. 

Die  „Dike"  ist  es,  die  einem  jeden  das  Seine  bestimmt,  sie 
ist  das  gemeinsehaftsbildende  Prinzip,  das  schon  bei  zweien 
und  bei  jeder  Art  von  Gemeinschaft,  selbst  bei  der  Räuber- 
bande oder  sonst  einer  Horde  herrscht  Das  Gerechte,  das 
dlxaiop,  ist  das  Notwendigste  (dvayxaioTazov)  ftlr  das  Be- 
stehen irgend  eines  Gemeinwesens.  Denn  die  Rechtlichkeit 
(dixaioövprj)  stiftet  die  für  jedes  gemeinsame  Handeln  not- 
wendige Einigkeit  (öfiovoia).  Während  die  ädixta,  das  Über- 
greifen in  die  Obliegenheiten  des  Andern  Aufstand  im  Innern 
stiftet  und  gemeinsam  zu  handeln  yerhindert. 

Je  gröfser  nun  die  Stadt  wird,  und  je  mannigfachere 
Berufe  entstehen,  umsomehr  werden  Leute  da  sein  müssen, 
deren  Beruf  ist  darüber  zu  wachen,  dafs  jeder  das  Seine  tut 
und  das  Seine  erhält  Es  heifst :  Hephaistos  und  Athene  hatten 
einst  bei  der  Teilung  der  Erde  den  Landbezirk  von  Athen 
erhalten,  der  schon  von  Natur  durch  den  günstigen  Wechsel 
der  Jahreszeiten  geeignet  war,  tüchtige  und  weise  Menschen 
hervorzubringen.  Den  ureingeborenen  Männern  hatten  sie  den 
Sinn  für  ein  geordnetes  gemeinsames  Leben  eingepflanzt  Als 
die  Götter  den  Menschen  ferner  rückten,  erhielten  diese  die 
Tüchtigsten  unter  den  Bürgern  zu  „Wächtern^  Unter  diesen 
lebten  sie  einst  in  Liebe  und  Freundschaft  bis  „Mangel  am 


0  Rp.  370  B.  Zum  Vorhergehenden  vgl.  Bp.  969  B  ff. 

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39 

Notwendigsten''  eintrat    Dies  war  der  Fall,  als  sie  nicht  mehr 

tibeii   genügenden    Raum  verfttgten,  die  Nahrung   umstritten 

weiden  muGato,    Reichtum  und  Armut,  Neid,  Übergriffe  und 

Uuieeiit  bervorgerufen  wurde.    So  ist  das,  was  die  meisten 

Men&eVien   Frieden    nennen,   nur    ein   Name,  in  Wirklichkeit 

heTTsebt  Streit,   nicht  nur  der  Städte  untereinander,  sondern 

aucih  zwisclien  den  einzelnen  Dörfern,  Häusern,  Männern  und 

im  Manne  selbst   So  wählte  man  durch  Weisheit  ausgezeichnete 

Männer  zu  Führern,  die  den  Streit  sehlichten,  das  Sichtige 

und  das  Geltende  {ölxaia  und  voiii/io)  festsetzen  sollten,  i) 

Die  Sophisten  und  unzählige  andere  sagen  nun:  natur- 
gemäfs  erhebt  sich  der  Stärkere  über  die  Schwächeren  und 
macht  sie  sich  zu  Sklaven.  Was  ihm  zuträglich  ist,  seine  un- 
begrenzte Eraftentfaltung,  ist  auch  für  ihn  das  Richtige 
(öixcuop).  Um  sich  gegen  das  Mehr-haben-woUen  des  Stärkeren 
zn  schlitzen,  haben  sich  die  Unvermögenden  zusammengetan 
nnd,  da  der  Nachteil  des  Unrechtleidens  bei  weitem  gröfser 
erschien  als  der  Vorteil  des  Unrechttuns,  aus  Ntttzlichkeits- 
gründen  verabredet,  nicht  mehr  einander  zu  schädigen.  So 
schlössen  sie  Verträge  und  nannten  das  darin  Oebotene:  „  Ge- 
setzlieh "^  (allgemein  geltend)  und  „  gerecht '^  Das  sei  die  Ent- 
stehung und  das  Wesen  der  Gerechtigkeit  So  habe  man  einen 
Mittelweg  gefunden  zwischen  dem  höchsten  Gut,  ungestraft 
nach  freiem  Belieben  handeln  zu  können  und  dem  höchsten 
ITbel,  der  Unfähigkeit,  sich  fttr  erlittenes  Unrecht  rächen  zu 
können.  Falls  man  einmal  aus  dieser  allgemeinen  Überein- 
kunft, dem  i'o^o^  heraustreten  könnte  {k^ovola  hätte),  dann 
wttrde  das  Mehr- haben -wollen  Beweggrund  für  jede  Natur 
(jiäöa  q>vöiq)  sein,  der  Macht  als  einem  Gut  nachzujagen. 
Denn  nur  durch  das  Gesetz  wird  der  Stärkere  mit  Gewalt 
g^egen  seine  Natur  zur  Achtung  des  Gleichen  hingeftlhrt  (^tag- 
ajerai,  Rp.  358ff.).  Jetzt  ist  am  vorteilhaftesten,  die  Recht- 
liehkeit  nur  als  Vorhalle  und  Verhalten  nach  aufsen  hin  zu 
wahren  und  drinnen  den  Fuchs  zu  bergen.^)    Denn  die  Recht- 


>)  Vgl  Kritias  109  ff.  Tim.  24  C.  Log.  678  £.  Bp.d72B.  873  D.  Leg. 
678  Eff.  626. 

*)  Bas   ist    die   Advokaten-  und  Yolksrednerweislieit   {ao^Ux   ötj- 


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40 

liehkeit  ist  kein  6at,  das  dem  eiguen,  dem  Privat-Yorteil 
dient,  sondern  einem  fremden  (dXXoxQiov  dyad-ov).  Die  Ge- 
rechtigkeit ist  ja  eine  ganz  edle  Gutmütigkeit  {svTJd-eui)]  aber 
hervorragende  Leate  (ayad^ol  und  öhpoI)  sind  nur  die,  welche 
in  vollkommener  Weise  imstande  sind,  unrecht  zu  tun,  nämlich 
Städte  und  Völker  sieh  Untertan  zu  machen.  Da  tritt  das 
natürliche  Recht  des  Stärkeren  in  ein  helles  Licht 

Mit  dem  Naturrecht  dieser  sophistischen  Richtung  stimmt 
nun  Plato  darin  ttberein,  dafs  er  den  Nomos  der  demokratischen 
Gleichheit  nicht  in  der  Natur  begründet  sieht.  „Pflegt  nicht 
das  Volk  immer  irgend  einen  als  Führer  auszusondern  nnd 
sich  überzuordnen  {dta^BQovTcog  ngolcxacd-ai)  und  diesen  zu 
nähren  und  grofs  werden  zu  lassen?"  (Rp.  565G).  Irgend 
eine  Herrschaft  einzelner  überlegner  Menschen  über  viele  von 
Natur  untergeordnete  Individuen  und  Sklaven  {tfrooti  öovXoi) 
ist  ihm  eine  allgemeine  Erfahrungstatsache.^)  Denn  viele  sind 
nur  mittelmäfsig  {g>avXog)^  wenige  wirklich  tüchtig  {kmaixijg). 
Die  demokratische  „Freiheit"  und  „Gleichheit"  von  Natur 
führt  zu  einer  den  Tieren  zwar  natürlichen  Anarchie  {^Qltov 
k/Kpvofiivfjv  Rp.  562  D  ff.).  Diese  existiert  in  Wirklichkeit  unter 
den  sich  gesellenden  Menschen  nicht,  höchstens  unter  Kannibalen 
wie  den  Eyklopen.^)  Das  Herrschen  und  Sich- beherrschen- 
lassen ist  ebenfalls  Dike,  d.  h.  einem  jeden  zuerteili  Der 
Vertragstheorie  gegenüber  will  Plato  auf  das  Ursprüngliche 
des  Rechtlichkeitssinnes,  der  dixaioavvri  zurückgreifen.  Er 
will  die  Gerechtigkeit  im  Wesen  der  Dinge  und  im  Wesen  der 
menschlichen  Gemeinschaft  begründet  und  allgemein  anerkannt 
wissen.  Das  Stärkersein  unter  Menschen  (vom  bloJBen  Athleten- 
tum  abgesehen),  findet  er  bei  denen,  welchen  im  Schofse  der 
gemeinsamen  Mutter  Erde,  in  dem  alle  gebildet  wurden,  wie  der 

*)  Leg.  690 Bf.  tb  6h  fiiyiatov  d^lcDfia  .  .  .  ^nea&ai  fxhv  thv  dv- 
tmarrifxova  xeXsvov,  zov  6h  ipQovovvxa  rjyeiod^al  xs  xal  aQXtiv.  Doch  den 
starken  Gegensatz  gegen  die  schroffe  Gegenüberstellung  von  gjvaei  und 
v6fji(p  drückt  der  Satz  aus:  xai  zoi  rovtoys  . .  ovx  äv  noQcc  ipvaiv  ^ywys 
ipal^v  ylyveod^ai  xard  y>vatv  6h  tfjv  xov  vofxov  kxovrcDv  dgxh^  a*AJl'  ov 
ßlaiov  ne<pvxvlav.  Beim  vofAoq  wirken  der  Gott,  xvxn  {Sv/ji^o^d)  und 
menschliche  xixvv  zusammen,  vgl.  Leg.  709  A  f. 

')  Leg.  680  B.  Dies  Beispiel  der  Absonderlichkeit  ungeselligen  Lebens 
aus  Homer,  das  auch  Aristoteles  in  seiner  Politik  anführt,  war  sicherlich 
Gemeingut. 


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41 

Mythos  sagt,  Gold  von  dem  Gott  beigemischt  worden  ist   Aas 
dem  Wesen   des   Herrschers  will  er  das  Recht  zu  herrschen 
erweisen.    Das  Wesen  des  Herrschers  besteht  aber  nicht  im 
Mehr-haben-woUen,  dann  würde  sich  die  Herrschematur  nicht 
von  der  Eaafmannsnatnr  unterscheiden.     Herrschen  ist  viel- 
mehr eine   Kunst,   so  gut  wie   die  Berufskunst  des   Arztes, 
Steuermanns   oder  Hirten.    Jede  Kunst  hat  in  ihrem  Können 
eine    eigne    Macbtentfaltung,    begründet    eine    Überlegenheit 
(doet^  des   Einzelnen  ttber  die  Allgemeinheit  derer,  die  des 
Könnens   dieses  Einzelnen  bedürfen.    Wer  bei  seiner  eignen 
Kunst  nnr  das  Geldmachen  im  Auge  hat,  zum  Hauptzweck 
macht,  was   ein  allen  Künsten  gemeinsamer  Nebenerfolg  ist, 
der  ist  eben  seiner  Natur  nach  nicht  ein  Arzt,  Steuermann 
und  dergl ,  sondern  ein  Geschäftsmann.   Ein  guter  Hirte  denkt 
nicht  an  den  guten  Braten,  sondern  ist  darauf  bedacht,  wie  er 
das  einzelne  Tier  und  die  ganze  Herde  in  möglichst  gutem 
Znstand  erhält.    So  ist  es  auch  mit  dem  Wesen  des  Herrschers, 
sofern  er  richtig  beschaffen  ist    Durch  sein  gesundes  Denken 
beherrscht  er  den  begehrlichen  Teil  in  sich  selbst  uud  be- 
herrscht die  vielen  Begehrlichen,  während  der  Tyrann  von  der 
Furcht  vor   der  grofsen  Menge   der  Begehrlichen   beherrscht 
wird  und   ziellos  ist  in  seinem  grenzenlosen  Begehren.    Der 
Herrseher    hat   irgend   ein  Gutes  fttr  Alle  zum   Ziel.     Alle 
Mensehen    begehren  ein  Gutes   und  wollen  sich  beim  Guten 
nicht  wie  wohl  beim  Schönen  und  Gerechten  mit  dem  Schein 
begnügen.    Der  Rechtlichkeitssinn,  der  jeden  in  der  Polis  in 
die  ihm   von  Natur  eigne  Sphäre  weist  und  damit  das  Wohl- 
befinden des  Ganzen  verbürgt,  ist  eine  Form  des  Guten  (eldoq 
ä/aß-ov);  ein  Gutes  von  der  mühsamen  Art  {iitlnovov)  scheint 
den  Vielen  der  Rechtlichkeitssinn   zu  sein,   er  ist  aber  ein 
ursprüngliches  Gut,  so  gut  wie  das  Sehen,  Hören,  Denken  und 
Gesund-sein  durch  ihr  ursprüngliches  Wesen  und  nicht  erst 
durch   die  Meinung  und  Übereinkunft  der  Menge  Güter  sind 
{ajad-a  yovina,  Rp.  367  G). 

So  sucht  Plato  den  rofiog^  das  Allgemein-geltende  mit  den 
ursprünglichen  Wesen  der  Dinge,   der  qmci^  zu  verbiuden.^) 


^)  Plato  verbindet  vovq  und  vofjto^  o^d^oq^  Leg.  674  B.    r^(  ^pvoeoK; 
vonoq  „die  Weise''  der  Natur.  Tim.  SSE. 


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42 

Das  ursprüngliche  Wesen  des  rechtlich  geordneten  Zusammen- 
lebens der  Einzelnen  liegt  aber  fttr  ihn  in  einer  Urgescbiohte 
zugleich  und  in  der  wahren  Natur  der  Dinge,  der  Ideenwelt, 
vorgebildet 

2.  Das  Yerhaitnis  der  Analogie  zwisehen  Einzelmensch 

und  Polis. 

Von  der  richtigen  Beschaffenheit  des  einzelnen  Menschen, 
des  Herrschers,  des  Arztes  usw.  und  der  richtigen  Beschaffen- 
heit der  Menschengemeinschaft  geht  Plato  aus.  Die  Gerechtig- 
keit ist  zugleich  die  natürliche  Gesundheit  in  der  Struktur  des 
Einzelnen  wie  der  Polis.  Seit  Virchow  sind  wir  gewöhnt  in 
„gesund'^  einen  Normbegriff  zu  sehen,  und  die  moderne 
Psychiatrie  lehrt,  dafs  der  „normale"  Mensch  in  der  Wirklich- 
keit nicht  existiert.  Der  normale  Mensch  wird  so  für  die 
Heilkunde  zu  einem  Ziel,  dem  sie  den  wirklichen  Menschen 
anzunähern  strebt,  der  mehr  oder  weniger  weit  von  diesem 
Ziel  entfernt  ist. 

So  geht  auch  Plato  von  einem  Normalzustand  der  Polis 
und  des  einzelnen  Menschen  aus.  So  sehr  er  auch  an  die 
Verwirklichung  seiner  Entwürfe  glaubte,  so  hat  er  sich  doch 
niemals  Illusionen  hingegeben.  Schon  aus  dem  ganzen  Zu- 
sammenhang seiner  Anschauungen  vom  Leben  und  den  Ideen 
geht  hervor,  dafs  er  immer  nur  mit  einer  möglichst  grofsen 
Annäherung  an  das  Ideal  rechnete  (ra  lyyvxcxxa).  In  seiner 
Politeia  sah  er  ein  Paradeigma  der  richtigen  Beschaffenheit, 
von  dem  er  die  Einstimmigkeit  mit  sich  selbst  in  erster  Linie 
forderte  {ofioXoyovfievov  avro  avxA  Leg.  746  B).  Die  „Gesetze^^ 
sind  nicht  nur  als  Herabminderung  seiner  Forderungen  auf- 
zufassen im  Hinblick  auf  das,  was  vor  der  Hand  erreichbarer 
erschien,  sondern  auch  als  Ergänzungen  und  Erläuterungen 
zur  „Politeia**. 

Im  Anschlufs  an  das  schon  erwähnte  Beispiel  vom  Künstler 
(S.  4)  heifst  es:  es  kommt  nicht  darauf  an,  ob  diese  vorbild- 
liche Ordnung  des  staatlichen  Lebens  einmal  gewesen  ist  oder 
irgendwo  ist  oder  sein  wird;  aber,  ehe  nicht  durch  ein  glück- 
liches Geschick  die  wirklich  Einsichtigen,  die  nach  der  Weis- 
heit und  dem  allgemeinen  Besten  strebenden  Menschen  Könige 


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43 

^etden,  wird   es   nicht  besser,  gibt  es  keine  Erholung  von 

diem^eehBelfieber  der  Verfassungen;  nnd  der,  welcher  bestrebt 

\«ii  d\e  Teine  Idee  allein  zu  schauen  und  zum  Ziele  zu  haben 

(öxojcE(p)^  der  nmfafst  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft 

(Rp.  &72A.);  diese,  xä  fiiXXovxa,  ist  aber  zugleich  das,  was 

sein  soll. 

Soweit  es  sich  um  das  Idealbild  der  richtigen  BeschajQTen- 
heit  handelt,  wird  sich  ein  richtig  beschaffener  Mann  von  einer 
richtig  beschaffenen  Polis  gamicht  unterscheiden,  sondern  sie 
Tcrhalten  sich  wie  homologe  Stücke.  Was  bei  der  Polis  im 
Greisen,  zeigt  sich  beim  einzelnen  Menschen  im  Kleinen  und 
umgekehrt.  Die  Gleichheit  gewisser  typischer  Beziehungen, 
die  Gleichheit  eines  typischen  Ordnungsverhältnisses  ist  der 
Kern  des  platonischen  Vergleichs,  der  wenig  mit  der  Auf- 
fassang des  menschlichen  Ameisenhaufens  als  Organismus 
höherer  Ordnung  zu  tun  hat. 

Das  richtige  OrdnungSYcrhältnis  in  der  Polis  wird  als 
oQjri  und  rt'^o^  der  dixaiocivrj  vorangestellt  und  die  Verfassung 
der  Menschengemeinschaft  als  heuristisches  Prinzip  verwandt, 
am  die  normale  oder  von  der  Norm  abweichende  Verfassung 
{ava>iiaXla  avaQfioCxoq)  im  Einzelnen  zu  finden.^) 

In  allgemeinen  psychologischen  Erfahrungstatsachen  findet 
Plato  zudem  eine  Berechtigung  seines  Grundsatzes  [ptoXXii 
avayxri  oiioXoyilv)^  dafs  Gestaltungen,  Sitten  und  typische 
Cluuraktere  in  jedem  Einzelnen  dieselben  sind  wie  in  der 
Polis.  Denn  nicht  irgend  anderswoher  sind  sie  in  den  Einzelnen 
gelangt,  und  umgekehrt  entsteht  aus  der  seelischen  Beschaffen- 
heit der  Privatleute  heraus  in  den  Städten  ein  bestimmter 
Charakter  (Bp.  435  E).  Denn  nicht  aus  Eiche  oder  Fels  können 
bQrgerliche  Verhältnisse  entstanden  sein,  sondern  aus  den 
Sitten  nnd  Gewohnheiten,  die  sich  unter  den  Einzelnen  in  den 
Stildten  herausbildeten,  irgendwie  das  Übergewicht  bekamen 
und  das  Übrige  nach  sich  zogen  (Rp.  544  D).  Die  Art  und 
Weise  des  Ganzen,  das,  was  die  Vielen  dem  vioq  und  Neuling 
sagen,  gibt  dem  Einzelnen  dann  wieder  sein  Gepi^ge.  Das, 
was  diese  ganze  Bewegung  hervorruft,  ist  Nachahmung,  Ge- 


>)  Denn  die  n^  zeigen  sich  in  der  nokireia  ivagyiaztQov  als  im 
iSiok^^  Bp.  545  B. 


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44 

wöhnang,  AaflebauDg,  ÄDpassungJ)  Die  Tarde'schen  Gesetze') 
wird  jeder  anfmerksame  Leser  in  der  „Politeia",  besonders  in 
den  lebendigen  Beispielen  des  8.  nnd  9.  Baehes  finden.  Bei 
der  Frage  naeb  der  Erziebnng  und  Bildung  werden  wir  darauf 
zurückkommen,  wie  Plato  diese  Wecbselwirkungen  von  Einzel- 
menscb  und  Allgemeinbeit  auf  Grund  dieser  Tatsacben  ge- 
staltet seben  will. 

Die  ricbtige  Ordnung  in  einer  Polis  sowie  in  dem  einzelnen 
Menseben  siebt  nun  Plato  darin,  dafs  in  beiden  der  über- 
legsame  Teil,  das  Xoyiorixov,  über  den  anscbwellend- kriege - 
riscben  und  den  begobrlicb-aufnebmenden  Teil  berrsebt.  Den 
drei  Arten  der  Seele  im  Menseben  entsprecben  drei  Arten  von 
Menseben  in  der  Polis,  die  überlegsam-ratende,  die  kämpfend- 
scbtttzende  und  die  gescbäftlicb- kaufmännische  Art,  drei  ent- 
sprecbcnde  Bestrebungen,  die  auf  Weisbeit,  Sieg  oder  Gewinn 
gericbtct  sind  und  dem  entsprecbende  eigne  Freuden.  Es  gibt 
wie  beim  Einzelnen,  so  aucb  im  ganzen  menscblicben  Leben 
ein  oben,  mitten  und  unten.  Die  grofse  Masse  freut  sieb  wie 
das  Vieb  auf  der  Weide. ')  Der  ttberlegsame  einsicbtige  Teil 
mufs,  um  die  ricbtige  Ordnung  bersteilen  zu  können,  bei  der 
jeder  das  Seine  tut  und  erhält,  den  mutig-kriegeriscb-tätigen 
Teil  sieb  zum  Bundesgenossen  machen,  und  die  beiden  in 
richtiger  Harmonie  sollen  über  das  unersättliche,  ins  Vielfache 
und  Grenzenlose  schweifende  Begehren  gestellt  werden  (Rp. 
441 E  ff.).  Dadurch  ist  eine  Stadt  weise  und  auch  der  Privat- 
mann. Darin  besteht  der  Vorzug  {aQeti^),  die  Gesundheit, 
Schönheit,  das  richtige  und  glückliche  Verhältnis  der  Seele 
(evB^la  tpvx^g  Lys.  220  D).  Wie  es  in  der  einzelnen  Seele 
Geringeres  und  Höheres  gibt,  so  aucb  in  der  bürgerlichen 
Gesamtheit  Kinder,  Frauen,  Gesinde  und  die  grofse  Zahl  der 
Mittelmäfsigen  läfst  sich  meistens  durch  das  mannigfache 
zersplitternde  Begebren  beherrschen  (Rp.  431  A  ff.).    Wenn  nun 


^)  Vgl.  die  gro&e  Bedeutung  der  filfjifiaiq  in  der  „Politeia'*  über- 
haupt; Lg.  792  £  ifiipierat  näv  rjd^OQ  6id  ^^og\  Rp.  560BG:  ataaig  and 
dvTiazdaig'y  Parm.  128  A:  olxeiovodixi.  Beispiele  von  psychophysiologischer 
und  psychischer  Adaptation  werden  gegeben  bei  dem,  der  ans  der  Höhle 
ans  Tageslicht  tritt  und  von  dort  wieder  in  die  Höhle  aurttckkehrt. 

>)  G.  Tarde,  Les  bis  sociales.  Paris  1907. 

*)  Bp.44lA;  681  C— 586. 


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45 

Gi^sanABiiimglLeit  hergestellt  sein  soll,  roflssen  die  Begehrlichen 
mit  den  Verntinftigen  darin  ttbereinstimmeD,  dafs  die  Wenigen, 
denen  es  von  Katar  zukommt,  sich  mit  Philosophie  befassen, 
Yorangeben  nnd  herrschen  und  die,  denen  es  nicht  zakommt, 
sich  nicht  damit  befassen  nnd  folgen  (474  C).  Darin  besteht 
die  richtige  Ordnung  und  Einheitlichkeit  im  Einzelnen  und  in 
der  Polis,  daCs  das  vielgestaltige  Triebhafte  sich  willig  der 
Herrschaft  des  Einsichtigen  unterordnet.  Weise  ist  der  Mann, 
der  in  sich  eine  Kunde  davon  hat,  was  jedem  Einzelnen  be- 
sonders und  dem  Ganzen,  dem  Gemeinsamen  zuträglich  ist.^) 
Der  Kundige  mufs  bestimmen  können,  was  jeder  tun  soll,  um 
die  ihm  eigene  Aufgabe  zu  erfüllen  (plxeioxQayla  =  dixaioovvff), 
dafs  an  Stelle  der  Zerstückelung  die  richtige  Gliederung  des 
Ganzen  tritt  und  alle  wie  Glieder  eines  Leibes  Freude  und 
Leid  gemeinsam  empfinden. 

So  wird  eine  Verbindung  zwischen  Herrschereinheit  und 
Untertanenvielheit,  ein  Gleichgewicht  zwischen  vovq  und  ixt- 
&v/iia,  ein  Einklang  von  HerrseherglUck  und  Gesamtwohl  her- 
gestellt^) Das  wirkliche  Leben  zeigt  nun  grofse  und  mannig- 
fache Störungen  des  Gleichgewichts.  So  wie  der  Herrschaft 
des  Tüchtigsten  oder  der  Tüchtigsten,  (der  aQtcxoxQaxla)^  der 
Tortreffliche,  richtig  beschaffene  Mensch  entspricht,  so  den 
andern  typischen  Verfassungsformen,  den  Krankheitsformen  des 
büi^erlichen  Zusammenlebens,  auch  Typen  von  Menschen,  die 
vom  Ziel  abweichen.  Dazwischen  kennt  Plato  noch  mannig- 
fache Übergänge  {iiBxa^v  xovtaiv\  die  er  unmöglich  alle  durch- 
gehen könne  (548  D).  Es  gibt  bei  diesen  Bewegungen  im 
Leben  der  Polis  und  des  Einzelnen  auch  Zeiten  der  Frucht- 
barkeit und  Unfruchtbarkeit  (vgl.  tpoQa  und  ag>OQla  g)vxfjg 
Rp.  545Dff.).  Ein  Heraustreten  aus  der  normalen  Ordnung 
(öxacig)  entsteht,  wenn  z.  B.  minderwertige  Leute,  die  nur 
ihre  eigene  Ehre  oder  Eigentumserwerb  (löicoöaod^ai  im 
weitesten  Sinne  des  Worts)  zum  Ziel  haben,  ins  Herrscheramt 
eindringen  und  die  früher  von  ihnen  wie  Freunde  und  Er- 
nährer geschützten  Untertanen   unterjochen   (546 Äff.).     Ver- 


0Bp.442CD.  443  B. 

^  iv  , .  »  n^orixovaji  [noXixsUc]  avrog  xs  fiaXlov  av^r^ctxai  xal 
fuxa  xmr  iSiwv  xa  xoivct  awaeif  497  A. 


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46 

kehrang  der  richtigen  Ordnung  entsteht  durch  jedes  Bestreben, 
das  nicht  rein  und  lauter  auf  Tüchtigkeit,  auf  wirklichen 
Vorzug  gerichtet  ist  {elXixQiPtjg  yrgog  dQST^p)^  sondern  den 
kriegerischen  Teil  der  Seele  herrschen  läfst,  der  selbstgefällig, 
anmafsend  und  rücksichtslos  nach  Ehre  strebt,  oder  dem  be- 
gehrlichen Teil  die  Zügel  schiefsen  läfst  und  nach  Mehrhaben 
verlangt  (Rp.  545  D  —  549  B).  Wo  aber  die  Reichen  herrschen, 
da  haben  die  Armen  keinen  Anteil  an  der  Herrschaft;  wo  der 
Reichtum  und  die  Reichen  im  höchsten  Werte  und  in  Ehren 
stehen,  da  werden  der  wirkliche  Vorzug  und  die  wirklich 
Tüchtigen  umso  weniger  geehrt  sein.  Die  Geldmenge  ist  aber 
kein  Wertmafsstab  (oQog)  für  die  wirkliche  Befähigung  zum 
Herrschen.  Es  gehört  dazu  eine  besondere  Begabung  und 
Sachkenntnis.  Wenn  das  Reich-werden-woUen  zum  allgemeinen 
Ziel  in  einer  Polis  wird  —  und  einer  steckt  da  den  andern 
an  —  dann  zerfällt  schliefslich  der  Staat  in  zwei  Staaten,  den 
der  Reichen  und  den  der  Armen.  Neben  den  Bettlern  und 
Halunken  züchten  die  übermäfsig  Reichen  Nichtstuer  oder 
„Drohnen",  die  in  ihrer  Unerzogenheit  und  ihrem  Bildungsmangel 
weder  zu  Dienern  noch  zu  Regenten  taugen.  Auch  die  Über- 
völkerung bringt  Arme,  eine  Menge  von  untauglichen  Leuten 
und  für  die  Polis  unnützen  Menschenballast  mit  sich.  Alles 
Übermafs  ist  aber  wie  eine  Entzündung  oder  eine  Gesehwulst 
am  Staatskörper,  Übergriff  und  Zuchtlosigkeit  wie  eine  Eiter- 
beule (vytovXov)  am  Einzehien.  Alle  menschliche  Mittelmäfsig- 
keit  und  Schlechtigkeit  ist  Krankheit,  Makel  (alöxoq),  Schwäche. 
Der  Unverstand  (avoia),  die  mangelnde  Einsicht  in  die  wahre 
Ordnung  der  Dinge  ist  die  schlimmste  Krankheit  (jiBylcxfi 
voaog).  Der  gröfste  Unverstand  zeigt  sieh  in  der  demokratisehen 
Verfassung  und  im  demokratischen  Menschen.  Hier  woUen 
alle  Teile  in  gleicher  Weise  herrschen,  sodafis  es  schliefslich 
kein  Herrschen  mehr  gibt  in  dieser  bunten  zerfahrenen  Um- 
kehrung aller  Ordnung,  welche  die  Gleichheit  in  gleieher 
Weise  an  Gleiche  und  Ungleiche  austeilt  Bei  dieser  „Frei- 
heit^^,  wie  man  die  Anarchia  nennt,  glaubt  jeder  Eigensinnige, 
er  könne  tun,  was  er  will,  er  müsse  jedes  Verlangen,  das  gute 
wie  das  schlechte,  in  gleicher  Weise  ehren  und  nähren.  Nur 
keine  Ordnung  und  Beschränkung!  Dadurch  wird  aber  die 
Einheitlichkeit  und  Harmonie  der  Polis  vollends  zerstört    Statt 


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4t 

einer  wohlvervralteten    Stadtgemeinde   haben   wir  eine  Jahr- 
marktsbude    von     Verfassungen;    denn    jeder   Einzelne    will 
berrselien    mit    Beiner  Verfassung,  seinem  Einzelbegehren  and 
seinem    vermeintliclieii   Besser- wissen.     Es  ist  gleichsam   ein 
nervöser,   iLopfloser  Zustand,  diese  Verfassung  der  xoXvjtQay- 
HoCvvTj.       Die     Seele    wird    empfindlich    {djtaXog)    gegenttber 
allem,  was  nur  nach  Abhängigkeit  klingt,  aus  lauter  Angst,  es 
kannte   irgendjemand  irgendwie  Herr  sein  (563  D).  —  Diese 
Furclit  ist    ancli  berechtigt.    Denn  alles  Übermafs  pflegt  ins 
Gegenteil  nmznschlagen,  wie  bei  Witterungen,  Gewächsen  und 
im  leiblichen  Leben,  so  nicht  am  wenigsten  in  den  Verfassungen 
(563  E).    Der  Demos  erzeugt  den  Tyrannen  und  zieht  ihn  grofs; 
denn   er   bat  ja  in  dem  angenehmen  Zustande  der  „Freiheit" 
aneb  die  Freiheit  die  gröfste  Ungerechtigkeit  zu  begehen.   Nun 
beberrscbt  nnr  noch  der  grenzenlos  begehrliche  Teil  ihn  selbst 
nnd  die  Gesamtheit    Dadurch  ist  das  Ganze  und  der  einzelne 
Menscb  dieser  Verfassung  voll  Sklaverei  und  Unfreiheit   Nicht 
die  wirkliehe  Vortrefliichkeit,  die  ihn  von  der  Furcht  gestürzt 
zu  werden  befreien  würde,  sondern  ein  Zufall  {ovfig>oQa),  ein 
Hanfe  Verschworener   liefsen    den   Einzelnen    zum  Tyrannen 
^werden.  — 

Gegenttber  diesen  Verkehrungen  des  gesunden  Zustandes 
bilft  nnr  eine  Reinigung  durch  und  durch  (diaxad-alQsiv  und 
öiaxoöiietp).  Es  hilft  nichts,  hier  und  da  ein  Abhilfe -Gesetz 
zu  machen,  das  heifst  nur  an  der  Hydra  schneiden;  die  in  der 
ganzen  Ordnung  des  BUrgerlebens  liegenden  tieferen  Ursachen, 
der  bösen  Streiche  und  Unzuträglichkeiten  (xaxovQYf)fiaTa) 
mfissen  schwinden  (426  E),  nnd  in  jedem  Einzelnen  mufs  die 
richtige  Ordnung  hergestellt  werden. 

f,Freiwillig  ist  keiner  schlecht  (minderwertig,  untauglich), 
dnreh  irgendwie  eine  schlechte  Beschaffenheit  (igig)  nnd 
mangelnde  oder  falsche  Pflege  und  Erziehung  wird  jemand 
schlecht  Man  mufs  die  Erzeuger  und  Erzieher  immer  mehr 
beschuldigen  als  Geschöpf  und  Zögling.  Trotzdem  nun  mufs 
jeder  möglichst  eifrig  darauf  bedacht  sein,  durch  Erziehung 
nnd  Beschäftigung  mit  allem,  was  er  zu  lernen  hat,  die  Minder- 
wertigkeit zu  fliehen  und  das  Gegenteil  zu  fassen '^  (Tim.  86  B 
bis  87  B). 


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3.  Einordnung  und  Unterordnung  der  einzelnen  Vielen 
in  der  Polis  (Erziehung). 

Bei  ^Erziehung^  und  „Bildung^'  denkt  Plato  nicht  an 
n  Sehale '^.  Er  kennt  garnicht  das,  was  wir  die  Schule  nennen. 
(Sie  hat  zudem  meist  die  Poesie  und  einheitliche  Lebens- 
organisation des  einstigen  Klosters  verloren.)  Plato  denkt  bei 
Erziehung  und  Bildung  an  die  Eltern,  einen  Haussklaven,  an 
die  Verwandten  und  Freunde,  an  Privatlehrer  in  allen  damals 
möglichen  Künsten,  die  jeder  sich  nach  Belieben  wählt,  an 
das  ganze  öffentliche  Leben,  wie  es  sich  auf  dem  Markte,  be- 
sonders in  Volksversammlung  und  Theater  abspielt,  und  er 
denkt  an  heilige  Haine. 

Ungebildet  nennt  Plato  den,  der  nur  Schattenbilder  sieht 
und  Schatten  nachjagt,  gebildet  aber  den,  der  die  sonnenhelle 
Wirklichkeit  sieht  und  nach  dem  „Guten'*  (Echten)  strebt.  Zu 
dieser  Bildung  ist  aber  nicht  nur  eifriges  Lernen  und  Streben  die 
ganze  Lebenszeit  hindurch  erforderlich,  sondern  auch  eine  Art 
göttliche  Bestimmung  {avTog>vwc  d^da  fiolga  ayad-ol,  vgl  Men. 
99  E  dgeri]  —  d^ela  fiolga  jtaQaysvo/iivff}.  So  steht  bei  Plato 
das  Wohl -(glücklich  -vortrefflich) -geboren  immer  neben  dem 
Gut-erzogen.  Themistokles  wäre  ohne  die  grofse  Bildungsstätte 
Athen  nicht  Themistokles,  aber  der  Seriphier  wäre  auch  in 
Athen  nicht  Themistokles.  i)  Eins  kann  nicht  ohne  das  andre 
sein,  wenn  das  Leben  nicht  sein  Ziel  verfehlen  soll  (cbro- 
Tvyx^y^^'^  —  jtaQay>QOvetv  Soph.  228  C). 

Das  Sinnenleben  ist  gleich  mit  der  Geburt  bei  Menschen 
und  Tieren  vorhanden,  soweit  sich  Empfindungen  (ptad^ij/iata) 
durch  den  Leib  zur  Seele  hinerstrecken;  verntlnftige  Über- 
legungen aus  dem  Vergleichen  aber  {dvaXoylO(iaxa)  mit  der 
Bichtung  auf  wahren  Wert  und  Nutzen  {ovölav  xai  cigfiXeiap) 
werden  erst  mit  Mühe  nach  langer  Zeit  durch  viele  An- 
strengungen (TtgaYiiarä)  und  Erziehung  hinzuerworben  von 
solchen,  bei  denen  die  Einsicht  überhaupt  noch  hinzuentsteht 
(Theait.  186  C).  Zu  dem  eingepflanzten  Begehren  tritt  die 
hinzuerworbene  Meinung,  bald  einig,  bald  im  Streit  mit  dem 
Begehren;  richtig  ist  die  Meinung,  wenn  sie  nach  dem  Besten 
strebt  (Phaidr.  237  DE). 

^)  Rp.  329  £  vgl.  Herod.  8, 125. 


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Indem  einzelne  Vertraute  and  die  vielen  Andern  dem 
jungen,  nenen  Mensehen  Yorstellnngen  mitteilen,  die  irgendwie 
RieUnng  geben,  vollzieht  sieh  der  erziehende  EinfloTs  über- 
haupt, dnrch  den  der  Einzelne  irgendwie  in  das  gemeinsame 
Leben  sieh  einordnen  lernt  oder  eingeordnet  werden  mnfs.  — 
In  der  griechisehen  Medizin  erörterte  man,  wenn  man  von  der 
Vielgestaltigkeit  der  Seele  ausging,  die  Frage  naeh  ihrem 
ögäv  jtQog  xl  and  xa&eTp  vxo  rov,  man  könnte  fast  sagen 
nach  Beaktionsriehtangen  and  Empfindungsreizen.  Die  Rhetorik 
entwiekelte  im  Anschlafs  an  diese  hippokratisehen  Gedanken 
eine  Art  Meehanik  des  geistigen  Lebens.  Man  fragte:  Unter 
dem  Anreiz  {'öjio)  welcher  Worte  bzw.  Reden  mnfs  eine  Seele 
je  naeh  ihrer  Beschaffenheit  ans  bestimmten  Beweggründen 
notwendigerweise,  d.  h.  aas  der  Not  der  Lebensverhältnisse 
heraus,  sich  überreden  lassen  und  gehorchen  oder  es  nicht  tun? 
(Phaidr.  270  D  ff.).  —  Wenn  Plato  auch  in  der  Theorie  die 
Eängestaltigkeit  der  Seele  oder  doch  die  Einfachheit  der  Seele 
des  Weisen  behauptet,  so  steht  ihm  doch  bei  seiner  scharfen 
Beobaehtung  des  tatsächlichen  menschlichen  Lebens  das  Spiel 
der  Kräfte  lebendig  vor  Augen.  Er  hat  vor  allem  die  grofse 
Bedeutung  des  Nachahmungstriebes  erkannt  und  in  den  Vorder- 
grund gerückt  bei  seiner  Betrachtung  des  Einflusses,  den  die 
Allgemeinheit  auf  das  menschliche  Individuum  ausübt.  Man 
hat  sich  immer  darüber  beklagt,  me  wenig  Verständnis  Plato 
in  der  „Politeia''  der  Dichtkunst  entgegenbringt,  während  er 
sie  im  „Jon^  wie  den  Quell  aus  verborgener  Tiefe  gegenüber 
dem  blofsen  Machwerk  preist  Man  hat  aber  zu  wenig  be- 
aehtet,  dafs  in  der  „Politeia^^  nicht  ein  Eunsttheoretiker,  sondern 
ein  greiser  Erzieher  spricht,  der  zum  ersten  Male  erkennt, 
was  wir  noch  viel  zu  wenig  erkennen:  die  grofse  Bedeutung 
der  Nachahmung  im  guten  wie  im  schlechten  Sinne  (Rp. 
395  C  f.)  0  Man  bat  vor  allen  Dingen  bei  Piatos  Eifer,  die 
Dichtung  zu  reinigen,  verkannt,  dafs  in  der  modernen  Kultur 
dnreh  die  christliche  Vorstellung  von  Gott,  der  zum  ethisch 
vollkonunenen  Menschen   wird,   von   vorneherein   gegen    un- 


>)  &a  fit}  ix  xnq  fAifiricBwq  (des  Minderwertigen)  xov  elvai  ano- 
lavcwatv  . . .  al  fzifjuiaetg  ...  dg  Js^  xttL  <pfvoiv  xa&loraviai  xal  xarä 
aäfia  xtd  ^wvä^  xal  xaxä  zijv  öiavoiav, 

PbUoMphJtohe  Abbandlimgan.    XL.  4 


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50 

moralische  NachabmuDgBmöglicbkeiten  im  Stoffe  der  Ennst  ein 
starkes  Gegengewicht  dem  Kinde  nnd  dem  Menschen  bewnfist 
oder  anbewufst  gegeben  ist  Man  macht  keine  Einwendungen 
gegen  eine  Schalbibel,  das  heifst  „Reinigung^  der  alttestament- 
lichen  Poesie  ans  pädagogischen  Gründen ;  ja,  man  will  sogar 
das  alte  Testament  als  ein  in  ethischer  Beziehng  mannigfach 
anstöfsiges  Bach  ans  dem  Unterricht  entfernen.  Das  Ziel,  das 
Plato  im  Aage  hat,  ist  das,  was  wir  heate  den  Kampf  gegen 
den  Schnnd  and  Schmutz  in  Wort  and  Bild  and  die  Jagend- 
nnd  YolksbttchereibestrebaDgen  nsw.  nennen.  Er  denkt  an  den 
Einflafs  der  Kunst  besonders  nach  ihrer  rein  stofflichen  Seite 
für  innerlich  nicht  oder  noch  nicht  gefestigte  Menschen,  wie 
etwa  wir  nichts  dagegen  hätten,  wenn  unfeinen,  unreifen  oder 
ungebildeten  Menschen  die  Lektttre  von  Nietzsche  oder  Flaubert 
verboten  wttrde.  „Das  ist  die  schönste  Muse,  die  immer  die 
Besten  und  hinreichend  Erzogenen  ergötzt  und  besonders  einen, 
der  sich  durch  Tüchtigkeit  und  Bildung  unterscheidet  (öia" 
g>iQsiv  Leg.  658  E).^  Wenn  die  richtige  Verfassung  im  Einzelnen 
wie  im  Staate  erst  einmal  wirklich  hergestellt  ist,  dann  soll 
man  jeden  gewähren  lassen,  sagt  Plato;  und,  wenn  von  frühster 
Jugend  an  uns  das  richtige  Ziel  des  dlxavov  als  eines  d/a&ov 
und  §v(ig)FQop  eingepflanzt  würde,  dann  wäre  jeder  sein  eigener 
Wächter  (Rp.  421 C,  367  A). 

Aus  der  häafigen  Nachahmung  wird  die  Gewöhnung,  ein 
„  Gepräge  ^S  Die  Jngendeindrücke  aber  sind  besonders  schwer 
auszatilgen  nnd  nicht  ganz  umzustellen  {övöixvutra  xal  dfis-- 
räörara).  Darum  ist  vor  allen  Dingen  zu  bewerkstelligen,  daia 
das  Erste,  was  die  Kinder  hören,  aufs  Schönste  erdacht  nnd 
erdichtet  ist  und  den  Hörenden  eine  Richtung  zur  Tüchtigkeit 
gibt  (Rp.  378).  Wenn  sie  nur  schöne  Werke  sehen  und  hören, 
so  ist  es,  als  ob  sie  an  einem  gesunden  Orte  mit  gutem  Weide- 
kraut  (ßoravTi)  und  in  gesunder  Luft  (atga  —  „Atmosphäre^) 
wohnen  (4010).  Ebenso  wie  für  den  Samen,  so  ist  für  den 
einzelnen  Menschen  die  Umwelt,  in  der  er  aufwächst,  von  ent- 
scheidender Bedeutung  (491 D  ff).  Plato  en&ählt  vom  Sohne 
eines  Mannes,  der  still  seine  Pflicht  tut.  Der  Jüngling  kommt 
hinaus  ins  öffentliche  Leben,  da  hört  er  und  sieht  er  allerlei 
andres,  da  hört  er,  dafs  man  die  Leute,  die  ihre  eigne  Auf- 
gabe   und  Pflicht   erfüllen,  Dummköpfe  und  „unbedeutend^^ 


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51 

nennt-,  die  aber  in  Alles  ihre  Nase  stecken  nnd  „Alles  mit- 
maclien'^,  die  werden  geehrt  nnd  gelobt  Es  entsteht  ein  langer 
Kampf  in  seinem  Innern,  ein  „Umwerfen ^\  nnd  die  Akropolis 
seiner  Seele  wird  in  Besitz  genommen  dnreh  die  falschen  nnd 
prahlerischen  Reden  und  Meinungen,  die  bloise  Ehre,  Reich- 
tum, Nichtstun  oder  Vielerlei-kOnnen  als  Ziel  fttr  das  Leben 
preisen. 

Erziehung  ist  ein  „Hindurchftthren  durchs  Leben,  sodafs 
jeder  so  lebt,  dafs  sein  Leben  für  ihn  am  vollkommensten  die 
anfgewandten  Kosten  ersetzt^^^)  Arbeit  wird  von  jedem  gefordert 
Durch  zielvolle  Arbeit  und  Erziehung  hebt  sich  der  Mensch 
ans  dem  psychischen  Getriebe  heraus,  das  er  mit  den  Tieren 
genoeinsam  hat  Die  Erziehung  soll  nun  jedem  sein  Arbeits- 
ziel geben,  durch  das  er  in  den  gemeinsamen  Arbeitsaustausch 
der  Polis  in  richtiger  Weise  eingegliedert  ist  Die  Viel- 
geschäftigkeit  ist  die  grofse  Ungerechtigkeit,  der  Übergriff  aus 
der  eignen  von  Natur  gewiesenen  Sphäre  in  die  des  Andern. 
Nicht  durch  ein  möglichst  grofses  individuelles  Belieben,  auch 
im  Faulenzen,  Zechen  und  Schmausen^  sondern  dadurch,  dafs 
jeder  seine  richtige  Arbeitsform  und  darin  stolze  Haltung,  sein 
Oj^fia  haben  und  ihm  treu  bleiben  kann,  hat  der  Staat  seinen 
Bestand  und  sein  Glück.  Die  Erzieher  müssen  zusehen,  wie 
sie  den  Einzelnen  geben,  was  ihnen  zukommt  und  dadurch 
daa  Ganze  schön  gestalten  (420  D  ff.). 

Damit  jeder  sein  besonderes  Können  {ixtctruiTi)  entwickelt, 
mnfs  er  seine  Kunst  von  Jugend  an  betreiben  und  reichlich 
im  Hinblick  auf  ein  Ziel  ttben  (jiBUxri  Ixavri  374  CD).  Es  gibt 
zwar  Leute,  die  behaupten,  es  gäbe  in  der  Seele  garkein 
Können  {ixicti^iifj),  und  durch  Erziehung  wttrde  es  erst  dem 
Einzelnen  eingepflanzt,  wie  man  blinden  Augen  das  Sehvermögen 
einsetze.  Dem  gegenüber  ist  zu  behaupten,  dafs  jeder  Seele 
ii^nd  eine  Fähigkeit  (övvaficq)  innewohne,  und  dafs  das 
Organ,  mit  dem  ein  jeder  begreifen  lernt,  mit  der  ganzen  Seele 
aas  dem  vielen  Werden  herausgeführt  und  herumgedreht  werden 
mulji,  bis  der  Blick  auf  ein  Ziel,  ein  Sein,  ein  Gutes  gerichtet 
ist    Die  Erziehung  ist  also  ein  Umlenken  {xegiayaryii}  eines 


9  ßiov  6iaY(»Yii,   if  av  Siayofievog  ^xaatoq  fjfiwv  XvciuXsatcizriv 
fflwyr  5y'7Bp.a44E. 


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52 

Organs,  das  noch  nicht  auf  den  richtigen  Gegenstand  hin- 
gelenkt ist 

Darch  Gewöhnungen  and  Übnngen  {id^söi  xal  aaxi^Böip) 
werden  alle  sogenannten  Vortreffiichkeiten  {agsral)  erworben. 
Sache  der  Erzieher  ist  es  nnn,  die  Befähigung  eines  jeden  zu 
erkennen  (ßaaavl^Biv)^  ja  es  ist  Aufgabe  des  Staates,  die  Seelen 
auf  ihre  Standhaftigkeit  hin  überhaupt  zu  prüfen  (Leg.  650  B). 
Die  Kleinen  sollen  schon  bei  den  Spielen  geprüft  werden,  und 
in  den  Kinderspielen  soll  eine  schOne  Regelung  und  Zweck- 
mäfsigkeit  (sivoiila)  walten.  Man  soll  durch  Darbietung 
kleiner  Werkzeuge  bei  den  Tätigkeiten,  zu  denen  jeder  sich 
eignet,  Spiel  und  Berufsernst  verbinden  und  in  der  Seele  des 
spielenden  Kindes  einen  Eros  nach  yollkommener  Meisterschaft 
erwecken.  Gebildet  und  ungebildet  besteht  nicht  darin,  dafs 
man  Lehrjahre  oder  keine  Lehrjahre  in  einem  Kramladen, 
Bhedereibetrieben  und  dergL  durchgemacht  und  überhaupt 
blofs  vielerlei  gelernt  hat.  Zur  Bildung  gehört  Tüchtigkeit, 
Meister  sein  in  etwas  und  dadurch  ein  brauchbares  Glied  in 
der  Gemeinsamkeit  der  Bürger;  zur  Bildung  gehört  in  der 
richtigen  Weise  herrschen  und  über  sich  herrschen  lassen 
{jUBxa  ölxfjg)J)  Das  heifst:  in  seiner  Kunst  der  Überlegene 
sein  und  in  der  Kunst  des  andern  Sachverständigen  diesem  sich 
unterordnen.  Viele  und  mannigfache  Kunstzweige  {ixiönjfiai) 
gibt  es  in  der  Polis.  Unrichtig  ist  es,  wenn  einer  sieh  auf 
vielerlei  Beschäftigungen  wirft  und  sich  zersplittert  {xoXv- 
jtqayiiovtlv  =  döixla).  „Besser  ist  wohl  Weniges  gut  als 
Vieles  nicht  genügend  zu  vollenden  (Theaii  187  E).''  Alles 
wird  vollkommener,  schöner  und  leichter,  wenn  einer  nur  eine 
Kunst  betreibt,  nicht  als  xQOöxoiovfisvog,  als  einer,  der  sich 
herangemacht  hat  und  tut,  als  könnte  er  etwas,  sondern  seinem 
Wesen  gemäfs,  am  rechten  Fleck  {kv  xaigm)  und  frei  von  dem, 
das  andrer  Leute  Sache  ist  (Rp.  370  C). 

Der  Mensch,  der  einheitlich  ist  in  seiner  Berufstätigkeit, 
wird  auch,  was  seine  Seele  und  das  Seine  anbetrifft,  einheitlich, 
einer  aus  vielerlei  Trieben,  gesundsinnig*  und  harmonisch 
(443  D  ff.).  Die  Erzieher  sollen  die  Kinder  nicht  eher  frei, 
d.  h.  ins  öffentliche  Leben  lassen,  bis  in  ihnen  die  richtige 


>)  Rp.425A.  Ug.648Bff. 


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VerfasBang  tiergestellt  ist,  bis  die  Einsieht  über  die  andern 
Seelenteile  herrscht  Vorbildlich  erschien  aaf  der  Insel  Atlantis 
die  Erziehung  der  Menschen  dnrch  die  Götter,  die  dnrch  die 
Überredung  die  Seele  anfafsten  (jreiO-ol  tpvxfjg  ifpanxopLBVoi 
Kritias  109  C).  Vorbildlich  erschien  Plato  bei  der  schwierigen 
Aufgabe  die  Geister  zu  prüfen,  die  sokratische  Kunst  des 
Herausholens  {tix^ri  r^g  fiauvöea)g)  und  der  pädagogische 
Grundsatz:  Sage  niemals,  dafs  Du  nicht  imstande  bist;  wenn 
der  Gott  es  will  und  Da  mannhaft  bist,  wirst  Du  fähig  sein 
(ploq  TS  €Osi  Theaii  150  B  ff.).  —  Über  die  ganze  Art  des 
TJntorrichts  sagt  Plato:  nicht  anfgenötigt  soll  das  Lernen  den 
Kindern  werden;  der  Freie  soll  keinen  Lerngegenstand  wie  eine 
Sklayenarbeit  auf  sich  nehmen;  denn  ein  mit  Gewalt  auf- 
gezwungenes Lernen  haftet  nicht  in  der  Seele.  Lafs  die 
Kinder  spielend  lernen,  damit  Du  auch  besser  imstande  bist 
ZQ  sehen,  wozu  ein  jeder  von  Natur  geeignet  ist  (Rp.  536  DE). 
Wenn  die  berufenen  Erzieher  der  Stadtgemeinde  und  nicht  die 
Wünsche  der  Eltern  darüber  entscheiden,  welchen  Beruf  der 
junge  Mensch  ausüben  soll,  dann  kann  der  Sohn  des  Herrschers 
auch  seiner  Anlage  entsprechend  ein  Handwerker  werden  und 
der  Sohn  des  Handwerkers  zum  Wächteramt  emporsteigen,  i) 
Denn  nicht  das  Glttck  irgend  einer  Familie,  Gruppe  oder  Masse 
hat  der  richtig  beschaffene  und  gerechte  Staat  im  Auge,  nur 
das  Glttck  des  Ganzen  und  damit  das  des  Einzelnen,  soweit 
jeder  in  der  Erfüllung  seiner  Aufgabe  und  in  seinem  Vermögen, 
etwas  zur  Förderung  des  gemeinsamen  Lebens  mitzuteilen, 
sein  Glück  sieht  (Rp.  519E).  „Das  Beste  für  einen  jeden  ist 
sein  Eigenstes  {olxBioxaxov  586  D)." 

Dieser  Staat  wird  sich  nicht  in  Klassenkämpfen  verzehren, 
sondern  ein  edler  Wettstreit  zwischen  den  Tüchtigen  wird  an 
dessen  Stelle  treten.  Denn  jede  Kunst,  jede  Arbeit  um  der 
Saehe  willen  ist  neidlos  {g>cXov6ixslT(D  öh  ^filv  xäq  nqoq 
OQST^  dgpd-ovcog'  6  fihv  yctQ  toiovtog  toq  ytöXsig  avgei, 
aiiiiicifiBPog  fiiv  a&toq  Leg.  731  A).  Der  richtig  beschaffene 
Mann  will  niehts  vor  dem  voraus  haben,  der  seinerseits  richtig 


9  Bp.  41SAff'  Leg.  788  A  f.  sprloht  Plato  von  kleinen  privaten  £r- 
mbüngSBÜnden  in  Hans  und  Familie,  die  von  grofter  Bedeutung  fttr  den 
Stutmnd. 


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bescbaffen  ist,  sondern  nnr  vor  dem^  der  in  ein  fremdes  Gebiet 
ohne  Sachkenntnis  ttbergreifl. 

Mit  der  Bemfstttehtigkeit  sieht  Plato  die  sittliche  Tüchtig- 
keit verbunden  und  gewährleistet,  da  alle  Begierden,  die  über 
das  MafiB  hinanswollen,  dnrch  die  Einsicht  beherrscht  werden. 
Alle  Buchstaben -Gesetzlichkeit  erscheint  ihm  lächerlich,  das 
Gesetz  soll  in  den  eignen  Willen  aafgenommen  werden,  anf 
die  innere  Lauterkeit  des  Strebens  kommt  es  an  (Leg.  822  E  ff.). 
Bisher  hat  man  vernachlässigt,  Überredung  und  Gewalt  in  der 
richtigen  Weise  zu  mischen,  man  wandte  nur  die  blofse  Gewalt 
an  {ßla  axQaroq),  Die  Erziehung  ist  die  grofiBe  Vorrede  (xqo- 
olfiiop)  zu  den  Gesetzen,  die  befehlen  und  den  Zwang  im 
Gefolge  haben;  denn  sie  sind  der  Ausdruck  des^richtig  ver- 
standenen Gesamtwohles  gegenüber  allzu  grofser  Selbstliebe 
des  Einzelnen.  0  Man  soll  nicht  zulassen,  dafs  jeder  nur 
seinem  Belieben  nachgeht,  sondern  den  Einzelnen  beurteilen 
nach  der  Brauchbarkeit  für  die  Polis. 

Der  Hinblick  auf  das,  was  für  das  Ganze  förderlich  ist, 
der  öxoxog  des  ayad^ov,  schliefst  nun  nicht  nur  gegebenen 
Falls  eine  erzwungene  Unterordnung,  sondern  auch  die  Unter- 
drückung oder  Ausscheidung  Einzelner  in  sich.  Wenn  wir 
Plato  nicht  ganz  unhistorisch  beurteilen  wollen,  so  müssen  wir 
nie  vergessen,  da£s  die  Humanitätsidee,  die  uns  schon  zu  selbst- 
verständlich geworden  ist,  für  einen  autoohthonen  Griechen 
nicht  existierte.  Man  kannte  überhaupt  nicht  die  Ängstlichkeit 
um  ein  Menschenleben  als  solches,  die  heute  fast  zur  Reflex- 
bewegung geworden  ist.  Man  hat  sich  darüber  gevnindert, 
dafs  er  den  Eritias,  der  wie  ein  Renaissance -Mensch  ohne 
Bedenken  alle  hinderlichen  Menschen  aus  dem  Wege  schaffte, 
immer  in  Ehren  behalten  hat  Aber  Plato  selbst  sieht,  dafs 
zur  Verwirklichung  einer  gut  eingerichteten  und  verwalteten 
Polis  die  Entfernung  der  Untauglichen,  unheilbar  Kranken  and 
der  das  Ganze  schädigenden  Elemente  nötig  ist.  Er  kennt 
nicht  den  ökonomischen  Wert  des  Menschen.  Die  Voraus- 
setzung für  die  Erziehung  der  Bürger  zur  Tüchtigkeit  ist,  dafs 
eine  tüchtige  griechische  Rasse  gezüchtet  wird. 

Die  Sklavenfrage  ist  in  erster  Linie  für  ihn  eine  Rassen- 


>)  Vjl.  Lej.  722Bflf.  781  Eff.  Rp.  520  A. 

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frage  und  keine  Menschenfrage.  Gute  Sklaven,  das  heifst 
Barbaren,  kalt  der  Grieche,  der  sich  seiner  Überlegenheit 
bewnfst  ist,  wie  gute  Pferde  nnd  Nntztiere  ttberhanpt.  Aber 
der  Grieche  hatte  zu  einem  gaten  Sklaven  wohl  meist  ein 
vertranlicheres  Verhältnis,  als  hente  die  vornehme  Herrschaft 
zam  Dienstpersonal;  die  gesellschaftliche  Trennung  zwischen 
den  Sländen  ist  vielleicht  schärfer  und  empfindlicher  als  die 
politische  Trennung  zwischen  Bürgern  und  Sklaven  im  alten 
Hellas.  Man  denke  nur  an  das  freundschaftliche  Verhältnis 
zwischen  Odysseus  und  Eumaios,  der  selbst  Gutsbesitzer  ist. 
Ein  Sklave  verwaltete  das  grofse  Vermögen  des  Perikles,  und 
einem  Sklaven  vertrauten  die  vornehmen  Athener  ihre  Söhne 
zur  Erziehung  an.i)  Plato  will  den  Sklaven,  auf  den  er  ebenso 
herabsieht,  wie  wir  etwa  auf  einen  Herero  oder  Zulukaffer, 
freundlich  behandelt  wissen ;  in  der  groben  launisch-herrischen 
Behandlung  der  Dienenden  zeigt  sich  ihm  ein  ungebildetes 
Wesen  (Rp.  548  E.  Leg.  777  B  ff.).  Die  aber,  welche  die  Sklaven 
schlecht  behandeln,  die  schaffen  noch  mehr  Sklavenseelen. 
Schon  um  unseretwillen  sollen  wir  sie  gut  behandeln  und  uns 
mehr  hüten,  ihnen  Unrecht  zu  tun,  als  den  Gleichgestellten; 
denn  denen  Unrecht  zu  tun,  die  das  Recht  nicht  in  Anspruch 
nehmen  können,  ist  leicht 

So  wie  im  Privatleben  der  Sklave  nach  seiner  Tauglich- 
keit beurteilt  wird,  so  der  Bürger  auch  im  Leben  der  Polis. 
Plato  ist  davon  überzeugt,  dafs  die  vorwiegend  körperliche 
Arbeit  des  Handwerkers  und  die  Tätigkeit  des  Menschen,  der 
nur  auf  Erwerb  ausgeht,  gamicht  Mufse  und  Möglichkeit  zu 
feinerer  Bildung  und  dem  ganzen  Leben  ein  gröberes  Gepräge 
gibt  Er  verachtet  den  Handwerker  und  den  Krämer  nicht 
mehr,  als  der  Gebildete  unserer  Tage,  der  sich  tatsächlich  in 
der  Regel  völlig  von  den  unteren  Ständen  gesellschaftlich  ab- 
schliefst Es  ist  vor  allen  Dingen  nicht  genügend  beachtet, 
daifl  Plato  sehr  scharf  unterscheidet  zwischen  der  Kunst  im 
Handwerk,  Weisheit  und  Mafs  im  Erwerb  und  dem  Banausentum 
und  der  Krämerseele.  Er  spricht  im  Symposion  von  den  Er- 
ßnäerisehea  nnd  Dichtem  und  Künstlern  überhaupt  (dijfiiovQYol)^ 
deren  Seele   von  Eros   empfangen  hat;  darunter  versteht  er 


j)  YgL  auch  Ed.  Meyer,  Die  Sklaverei  im  Altertum.    Dresden  1899. 

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aach  z.  B.  den  Tischler,  der  in  seiner  Weise  dasselbe  tut  wie 
der  Gott  Dieser  grofse  Werkmeister  macht  alles,  was  eio 
jeder  der  Handwerker  tat  Für  den  tüchtigen  Handwerke: 
jeder  Art  gebraucht  Plato  dasselbe  Wort  „weise*^  wie  fttr  den 
Philosophen.  1)  Die  geringste  mechanische  Handarbeit  will  er 
in  seiner  Polis  der  Idee  des  Guten  untergeordnet  sehen.  Nicht 
ünerfahrenheit  und  Unwissenheit  ist  das  gröfste  Übel,  sondern 
ein  Yieles-probieren  ohne  leitenden  Gedanken  und  Vielwisserei 
ohne  Stil  {ayarffi,  Ausdruck  fttr  Stil  in  der  Rhetorik ;  Leg.  819  A). 
Warum  aber  glaubst  Du,  dafs  die  geringste  Arbeit  und  das 
Handwerk  Schande  bringen?  Warum  verachtest  Du  den  Hand- 
werker? sagt  Sokrates  ebenso  im  Gorgias.  Ist  es  nicht  darum, 
weil  ein  solcher  von  Natur  nur  in  schwacher  Form  die  Idee, 
das  Bild,  das  Ziel  des  Besten  bat,  sodafs  er  nicht  herrschen 
kann  über  die  Bestien  in  ihm,  sondern  ihnen  dienen  mufs? 
Damit  aber  auch  ein  solcher  von  dem  Gleichen  wie  der  Beste, 
von  dem  Guten,  beherrscht  wird,  darum  sagen  wir,  er  mufs 
sich  jenem  Besten  unterordnen,  der  das  Göttliche,  das  schöne 
Vorbild  fttr  alles  Streben  als  Beherrschendes  in  sich  trSgt 
Also  jeder  Beruf  soll  so  gehoben  werden,  'dafs  er,  wenn  auch 
in  noch  so  untergeordneter  Art  der  Arbeit,  sich  bestrebt,  ein 
Gutes  zu  schaffen.^) 

Auch  für  den  gewinnliebenden  und  kriegerischen  Teil  der 
Polis  gilt,  dafs  fttr  jeden  der  eigenste  Beruf  das  Beste  ist, 
wenn  die  Begierden  sich  der  Einsicht  {kjtiöxijfifi  und  loyog) 
unterordnen.  Im  Gelderwerb  kommt  es  auf  Ordnung  und  Zu- 
sammenstimmen mit  dem  Ganzen  an  {j^vvta^ig  und  ^viig>copla)^ 
sodafs  die  rechte  Mitte  zwischen  der  schädlichen  Disharmonie 
von  unersättlicher  Anhäufung  von  Schätzen  und  gieriger  Armut 


avaoi;.  Vgl  Symp.  203.  209  A£.  Bp.  596  C. 

*)  Bp.  500  C£f.  Piato  will  den  Beruf  ähnlich  aufgefafst  wissen,  wie 
ein  Plastiker  unserer  Zeit,  Auguste  Bodin  (in  seinen  GespriEchen,  ge- 
sammelt von  Gsell,  Leipzig  1912  S.  317).  „Es  wäre  aber  zu  wünschen, 
dalB  es  in  jedem  Beruf  Künstler  ^be:  Zimmerleute  . . .  Maurer . . .  Fuhr- 
männer . . .  Das  gäbe  eine  wunderbare  Gesellschaft  ...**—  Plato  nimmt 
mit  Hesiod  an  Igyov  ovSlv  elvai  oveiSo^  und  unterscheidet  zwischen 
Sklaven-Arbeit  (Fabrikware)  oxav  /jiij  fjiexd  xov  xaXov  ylyvexai  und  den 
xaXcSg  xal  (i^sXlfjtotq  notovfieva  Igya,    Charm.  169  Äff. 


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innegebalten  wird.  In  allem  Überschreiten  der  Grenze  liegt 
das  Übel  und  die  Ungerechtigkeit  (Rp.  586  D  ff.).  Die  Weisheit 
{öog>la),  die  sieh  auf  Geldangelegenheiten  nnd  die  Körperkraft 
erstreckt,  ist  nur  ohne  Vernunft  nnd  richtige  Weise  (ävsv  vov  xal 
ötxfig)  banansiseh,  nnfrei  nnd  nicht  wert,  Bildung  zn  heifsen. 
Vortrefflich  sind,  die  sich  beherrschen  können,  nntanglich, 
minderwertig,  die  es  nicht  können  (Leg.  644  A). 

Nur  im  Hinblick  anf  die  Unerzogenen  nnd  die  grof se  Masse 
derer,  die  sich  nicht  beherrschen  können,  will  Plato  Dichtem 
und  Schauspielern,  die  irgendwie  Mängel  und  verderbliche 
Leidenschaften  im  Menschen  darstellen,  freundlich  die  Stadt 
verbieten.  Es  ist  darin  etwas  von  dem  Eifer  für  eine  zum 
ersten  Male  in  ihrer  Bedeutung  für  das  staatliche  Leben  er- 
kannte alte  Wahrheit,  dafs  böse  Beispiele  gute  Sitten  verderben, 
etwas  von  dem  Eifer  des  Moses  fttr  den  einen  Gott  gegenüber 
den  Bildern  und  Gleichnissen  des  Volkes  und  etwas  von  dem 
Eifer  Tolstois  ,,gegen  die  moderne  Künste  V  Xoyog  rjfiäg  ggsi 
(Rp.  607  BC).  Von  Zwietracht  unter  Bürgern  und  unter  Göttern, 
von  Trunkenheit,  Verweichlichung,  Trägheit,  Lug  und  Trug  soll 
keiner  in  der  Polis  der  Möglichkeit  der  Nachahmung  wegen 
hören.  Vor  allem  sollen  die  Bürger  von  der  Gottheit  nur 
erfahren,  dafs  sie  gut  ist  und  nur  Ursache  von  Gutem,  und 
die  Dichter  sollen  nur  Vorbilder  von  Vortrefflichkeiten  geben. 
Das  ist  das  allgemeine  Gepräge  {rvjtog),  nach  dem  sich  der 
Dichter  als  Lehrer  der  Polis  richten  mufs.  Innerhalb  dieses 
Typos  mag  er  frei  gestalten.  i)  Plato  sah  den  Trieb  nach  Zer- 
splitterung des  eigenen  Wesens  im  Menschen  des  alten  Athen 
durch  die  Dichtungen  nur  bestärkt  Besserung  erwartet  er 
nur  von  Konzentration  des  Einzelnen  auf  seine  Berufsarbeit 
und  von  der  Erziehung  zur  Selbstbeherrschung,  soweit  es  noch 
mögUeh  ist. 

Einen  Mann,  der  in  den  besten  Jahren  infolge  seiner 
Zttgellosigkeit  kränkelt,  soll  man  auch  schon  der  Nachkommen 
wegen  nicht  hegen  und  pflegen,  auch  nicht,  wenn  er  reicher 
als  Midas  wäre,  da  es  weder  für  ihn  noch  fttr  die  Polis  einen 
nützlichen  Zweck  hat     Man  soll  den  Tod  derer,  die  ganz 

')  Bep.  398 ff  379 A.  —Adam  sagt  in  seinem  Kommentar:  hisideaot 
beaolj  Ig  snffieiently  eomprehensive  to  inclnde  moral  and  spiritoal  beauty 
«8  well  as  physical  L  S.  165. 


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58 

minderwertig  geraten  nnd  anheilbar  sind,  sogar  herbeiführen, 
da  es  für  sie  nnd  die  Allgemeinheit  das  Beste  ist  Warum 
sollte  eine  planmäfsige  Rassezueht,  wie  sie  bei  Pferden  nnd 
Hunden  geübt  wird,  nieht  auch  bei  Menschen  mOglich  sein,  um 
das  Unedle  ansznscheiden?  Der  Staat  aber  hat  es  allein  in 
den  Händen,  eine  edle  Rasse  heranzuziehen.  Hierin  findet 
Plato  eine  der  wichtigsten  Yoranssetzangen  für  die  Möglichkeit 
eines  gesunden,  gemeinsamen  Lebens  (Rp.  459).  (Wir  sehen, 
wie  in  der  Gegenwart  durch  ein  besonderes  Organ  für  Rassen- 
hygiene Piatos  Gedanke  wieder  aufgenommen  wird.)>)  Hier 
sieht  er  auch  ein  Mittel,  die  Auswahl  der  Besten,  der  Herrscher- 
natnren,  planvoll  von  vornherein  zu  gestalten. 

L  Überordnung  Einzelner  oder  des  Einen 
in  der  Felis  (das  Wäehteramt). 

In  seinem  pädagogischen  Roman  „Erziehung  des  Kyros^ 
nennt  Xenophon  drei  Bedingungen  für  die  Befähigung  zum 
Herrscher:  die  Abstammung,  die  natürliche  Anlage  und  die 
Erziehung  {yevEd,  gwöig,  otaiöüa  1,1,  6).  Diese  drei  Momente 
sollen  auch  die  Wächter  der  vorbildliehen  Stadtgemeinde,  die 
Plato  ins  Leben  rufen  will,  bei  der  Aussonderung  eines 
tüchtigen  Herrschergeschlechts  ins  Auge  fassen.  Die  edelsten 
Paare  sollen  ausgewählt  werden.  In  die  Zuchtrasse,  deren 
Fortpflanzung  genau  geregelt  ist,  sollen  jedoch  tüchtige  Spröfs- 
linge  aus  der  gesamten  Gemeinde  der  Bürger  aufgenommen, 
dagegen  mittelmäfsige  Erzeugnisse  des  Herrschergeschlechts 
der  übrigen  Bürgergemeinde  zugewiesen  werden.  In  der  Regel 
wird  ja  der  Sohn  edler  Eltern  Gold  in  sich  tragen  (vjro;^(>vaoc), 
wenn  aber  ein  Spröfsling  aus  dem  Wächterstande  geringes 
Metall  in  sich  trägt,  soll  man  nicht  das  Mitleid  walten  lassen, 
sondern  der  Natur  die  ihr  zukommende  Ehre  erweisen  und  das 
Kind  zu  den  Handwerkern  oder  Bauern  bringen;  und  wenn 
aus  diesen  irgendeins  stammt,  das  Gold  oder  Silber  in  sich 

0  Sommers  VererbungsforschuDg  und  die  Psychiatrie  hat  diese 
Frage  besonders  nahegelegt.  In  einer  eben  erschienenen  Schrift  von 
H.  Bayer,  Über  Vererbung  und  Rassenhygienie,  Jena  1912,  wird  die  Er- 
wartung aasgesprochen,  dafs  die  „Eugenie**  auch  einmal  staatlich  organi- 
siert werde  S.  50, 


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59 

hat)  BO  Boll  man  es  io  den  Kreis  der  Wächter  oder  ihrer 
Helfet  liinanfflibTeii  (Bp.  415  Äff.  432  C).  Es  gilt  nnn  in  jeder 
Weise  zn  forseben  nnd  zn  prüfen,  ob  einer  so  wohlgestaltet 
(j^GxqiKBv)  ist,  um  in  den  Kreis  der  Edlen  aufgenommen  zn 
werden  oder  wert  ist  nnd  sieh  bei  der  Erziehung  wert  zeigt, 
in  diesem  Kreise  zu  bleiben.  Plato  fordert  also,  modern 
gesprochen,  eine  staatlieh  organisierte  Begabnngsforschung,  da 
er  in  der  Bernfsverfehlnng  das  gröfste  Unheil,  dje  gröfste 
Ungerechtigkeit  (unrichtige  Beschaffenheit)  zugleich  im  Leben 
des  Einzelnen  und  des  Staates  sieht  (top  siigyvi]  XQoq  exacra 
xal  TOP  lifi  oQi^eadai  Rp.  455  C). 

Der  Auslese,  die  durch  die  Natur  nahegelegt  ist,  tritt 
nnn  die  Auslese  zur  Seite,  die  durch  die  Kunst  der  Erziehung 
ansgettbt  wird.  Lernen  vollzieht  sich,  so  lehrt  uns  schon  das 
Kind,  das  dem  Töpfer  bei  seiner  Arbeit  zuschaut,  durch  An- 
schauung und  Erfahrung  (ß-ia  und  ifdxsiQla  x&v  ytQOCfixovrcDv) 
dessen,  was  einem  jeden  „liegte  Nun  ist  der,  welcher  nach 
Einsicht  ins  Wesen  der  Dinge  strebt,  von  dem  nur  Schaulustigen 
nnd  Neugierigen  und  von  dem  technisch  und  praktisch  ver- 
anlagten Menschen  zu  unterscheiden,  der  an  dem  Vielerlei  der 
Vorstellungen  haften  bleibt  Er  begnügt  sich  mit  einer  richtigen 
Meinung,  die  lichter  ist  als  die  Unwissenheit,  aber  dunkler 
nnd  verworrener  als  die  klare  Erkenntnis.  Es  ist  bei  dem 
Lernen  wie  bei  dem  Geschmack  an  Speisen.  Die,  welche  die 
Natnr  nicht  antreibt  (ixiöjtsvasv)^  sollen  nur  Lesen  und 
Sehreiben  aufser  ihrer  praktischen  Fertigkeit  erlernen.  Es 
gibt  eine  Stufenfolge  in  den  Wissenschaften,  genauere  und 
nngenauere  Künste,  wie  es  eine  Rechenkunst  fttr  die  Vielen 
nnd  die  Gebildeten  gibt  Eine  Wissenschaft  ist  reiner  als  die 
andera  Wer  ohne  Qual  (svx^Qcog)  das  reine  Wissen  in  seinem 
ganzen  Umfange  kosten  will,  mit  Freuden  ans  Lernen  geht  und 
darin  unersättlieh  ist,  den  werden  wir  in  richtiger  Weise  zum 
Philosophen  bestimmen  (ßr  d/xg  iprjCofiBv)^  der  die  Wahrheit 
zn  schauen  und  alle  Dinge  nach  der  Idee  des  Guten  zu  ge- 
stalten strebt  Eine  kleine  Natur  (ciiixQa  q>voig)  kann  niemals 
etwas  Grolses  für  den  Privatmann  und  ^e  Polis  tun.  Wenn 
solche  Menschlein  {avd^Q<oxlcxoi\  Handwerker  und  Unberufene 
fiberbanpt  sich  an  die  Philosophie  machen,  so  gleichen  sie 
dem  fnschgebadeten  Schmiedeknecht  im  Bräutigamsstaat,  der 


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60 

die  Meisterstochter  freien  will.  (So  bekämpft  Plato  das  „Bildangs- 
Proletariat^*.)  Was  für  Gedanken  und  Meinungen  können  da 
nur  erzengt  werden!  i) 

Gute  Pflanzen  müssen  einen  besonders  guten  Boden  haben. 
Eine  vortreffliche  Natnranlage,  der  die  entsprechende  Erziehung 
fehlt,  pflegt  ins  Gegenteil  umzuschlagen.  So  wird  aus  der  könig- 
lichen Natur  der  gröfste  Verbrecher,  der  Tyrann,  der  nur  auf 
den  eigenen  Vorteil  bedacht  ist.  Je  gröfser  die  Arbeitsaufgabe 
der  Wächter  ist,  umsomehr  bedürfen  sie  der  sorgfältigsten 
Ausbildung,  frei  von  den  geringeren  technischen  Arbeiten  und 
frei  von  störenden  und  schädlichen  Einflüssen  (374  E).  So  soll 
für  die  angehenden  Herrscher  wie  einst  fttr  die  Spartiaten  eine 
Sondererziehung  und  eine  Erziehungsgemeinschaft  geschaffen 
werden.  In  dieser  soll  jede  Besonderung  ausgeschlossen  sein, 
die  auf  dem  blofsen  Mehrhaben  an  Besitz  beruht,  wozu  der 
Grieche  auch  Weib  und  Kind  rechnet  (lölmoiq  diaXvei).  Jede 
Besonderung  des  Einzelnen  soll  sich  nur  auf  seine  Tüchtigkeit 
als  auf  seinen  Eigenwert  gründen  {olxelä  riiifj).  Die  Wächter 
sollen  das  Gold  nur  in  ihrer  Seele  tragen,  (ein  &6tov  xaga 

Das  Ziel  der  Tüchtigen  ist  die  gesunde  Mischung  von 
Einsicht  und  Tatkraft.  Sie  wird  durch  gleichmäfsige  Ausbildung 
in  den  musischen  und  gymnastischen  Künsten  erreicht.  Denn 
musische  Ausbildung  allein  verweichlicht,  während  körperliche 
Übung  allein  verrohen  läfst  In  den  Darbietungen  der  Dichter- 
werke soll  alles  getilgt  werden,  was  zur  Nachahmung  von 
Zügellosigkeit,  Schlaffheit  und  zu  grofser  Eigenliebe  veranlassen, 
alles,  was  Furcht  erregen  und  wehleidig  stimmen  könnte.  Da- 
gegen sollen  Vorbilder  von  freien,  gesunddenkenden  und 
tapfern  Menschen  den  angehenden  Wächtern  und  Helfern  vor 
Augen  geführt  werden. 

Weib  und  Kind  sollen  nicht  mehr,  wie  in  der  Familien- 
Ordnung,  als  Eigentum  betrachtet  werden  von  denen,  deren 
ernste  Aufgabe  ist,  immer  nur  das  Wohl  des  Ganzen  und 
nicht  den  niederen  Seelenteilen  zuliebe  das  eigne  Wohl  und 
das  der  Familie  im  Auge  zu  haben.  An  Stelle  der  Familie 
will  Plato  aus  diesem  Grunde  eine  Art  Wahlverwandtschaft 

0  Vgl.  Rp.467A,  475Bff,  478C.  Leg.  810B.  Phileb.  56Cff.  Rp, 
495  Bff. 


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61 

unter  den  edelaten  und  tüchtigsten  Männer  nnd  Frauen  ein- 
treten lasBen,  die  Lust  und  Leid  eines  jeden  Einzelnen  als 
gemeinsam  fttblen.  Die  alten,  vertrauten  Namen  Vater,  Mutter, 
Brader,  Schwester  werden  nun  eine  neue,  eigene  Bedeutung 
bekommen.  ^) 

Die  Frauen,  die  auch  ihrer  Befähigung  entsprechend  aus- 
zusondern sind,  sollen  mit  den  Männern  in  Musik  und  Gymna- 
stik wetteifern.  Darin  stimmt  Plato  mit  Euripides  ttberein, 
wenn  Medea  das  stolze  Wort  spricht:  „In  vieler  Beziehung 
unterscheide  ich  mich  vorteilhaft  von  vielen  Männern '^  und 
der  Chor  der  Frauen  singt:  „Auch  fttr  uns  ist  die  Musel^^) 
So  sollen  die  Frauen  in  allen  Lemgegenständen  und  in  der 
Berufstätigkeit,  soweit  es  ihre  im  allgememen  schwächere  Natur 
znläljst,  den  Männern  zur  Seite  treten,  dem  Grundsatze  gemäfs, 
dafs  jeder  seiner  Anlage  entsprechend  nur  das  Seine  treiben 
soll  Zwar  gibt  Plato  zu,  dafs  die  Anlage  von  Mann  und  Weib 
verschieden  ist,  doch  warnt  er  vor  falschen  Verallgemeinerungen. 
Es  wäre  so,  als  wenn  man  sagen  wollte:  weil  ein  Kahlkopf 
and  ein  Langhaariger  verechieden  seien,  dürften  nur  Kahlköpfe 
z.  B.  Schuster  werden  (Rp.  453  £  ff.). 

Im  Hinblick  auf  die  blofse  Eigenliebe,  mit  der  die  Mutter 
ihr  Kind  liebt  und  beurteilt,  will  Plato  auch  der  Mutter  ihre 
eigentttmliche  Aufgabe  nehmen,  damit  nicht  kurzsichtige  Wünsche 
der  Eltern  zur  gröfsten  Ungerechtigkeit  gegen  das  Kind  ftlhren, 
indem  es  zu  einem  Beruf  bestimmt  wird,  der  ihm  und  dem 
Ganzen  nicht  zum  Heile  dient 

Der  Sinn  ftlr  das  allgemeine  Beste  mufs  vor  allem  in  denen 
grolsgezogen  werden,  die  fttr  das  allgemeine  Glück  und  nicht 
ftlr  das  Glück  irgendeines  Geschlechtes  oder  Standes  einst 
sorgen  sollen.  Der  Herrscher  ist  der,  in  welchem  der  Allgemein- 
sinn am  stärksten  ausgeprägt  ist  Wenn  die  Wächter  Eigentum 
besitzen,  werden  sie  Haus-  und  Landwirte,  anstatt  Wächter 
der  ganzen  Polis.  Sie  werden  feindliche  Despoten  der  übrigen 
Bürger  anstatt  ihre  verbündeten  Mitkämpfer.  Der  Kampf  um 
das  Eigentum  würde  sie  in  das  ganze  häusliche  Getriebe  des 

')  Ep.  463  G  ff.  Ähnlich  bezeichnet  Christas  die  als  seine  Verwandten, 
dk  den  WUlen  Gottes  tan. 

^  y.  579   noU.a  noXXotg  SiaipOQoq;  1085  fxovaa  xal  rjfuv^  vgl.  Rp. 
455  Bß. 


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62 

Haasens  und  Gehafstwcrdens  hineinreifseD,  so  dafs  sie  mehr 
Feinde  im  Innern  als  die  Feinde  von  anfsen  her  fttrohten 
mttTsten  (Rp.  415ff). 

Der  Kampf  im  Innern  soll  aaf  ein  anderes  Ziel  als  die 
Gegenstände  des  Begehrens  gerichtet  werden.  Der  alte 
hellenische  Agön  erscheint  in  neuer  Form.  Das  neue  Ziel  ist 
der  vollkommene  Mensch,  dem  wirklich  die  Herrschaft  gebührt 
oder  eine  Einheit  von  vollkommenen  Menschen.  Dieser  Einheit 
würden  die  vielen  Einzelnen  sieh  unterordnen,  meint  Plato, 
wie  der  Idee  des  Guten  die  andern  Ideen  und  einzelnen  Dinge. 
Im  vollkommenen  Menschen  sind  Leib  und  Seele  zur  schönen 
Harmonie,  zur  evsgla  ausgebildet;  milde  und  hochgemut  ist  er 
zugleich  seinem  Charakter  nach  (375  C). 

Das  läfst  die  „Asketik"  Piatos  in  einem  andern  Lichte 
erscheinen,  als  sie  durch  die  christliche  Tradition  überliefert 
ist.  Sie  hat  Plato  vielfach  zu  sehr  im  Sinne  ihrer  Abtötungs- 
lehre  betrachtet  Er  fordert  vielmehr,  der  wachsenden  Genufs- 
sucht  entgegen,  vernünftige  „Hygiene^^  und  Lebensweise  (d/afra). 
Ohne  gesundes  Denken  (ö(og>Qovstp)  ist  alle  Pflege  des  Leibes 
wertlos  (Lysis).  Er  berührt  sich  in  seinen  Forderungen  mehr 
mit  denen  einer  mafsvoUen  Sport-,  Antialkohol-  und  Pflanzenkost- 
bewegung der  Gegenwart  als  mit  den  opera  supererogationis.  ^) 
In  der  „Politeia^^  fordert  er  nur  Regelung  und  Mafshalten  im 
Liebesgenufs,  in  den  „Gesetzen*'  sogar  eine  Art  Junggesellen- 
steuer, den  Wein  verbietet  er  der  Jagend  bis  zum  18.  Lebens- 
jahre. 

Läuterung  des  sinnlichen  Lebens,  Erhebung  über  das  blofise 
Leibliche  fordert  Plato  von  den  Wächtern.  Eine  doppelte  „Be- 
kehrung'S  eine  fisraarQoq)r]  erleben  sie,  die  Hinwendung  zur 
Welt  der  Ideen  und  die  Hinwendung  wieder  zum  tatsächlichen, 
vielgeschäftigen  Leben,  um  es  nach  der  vorbildlichen  Ordnung 
der  Dinge  zu  gestalten;  in  Piatos  Bilde:  das  Hinausgehen  ans 
der  Höhle  ans  helle  Licht  der  Sonne,  und  die  Rückkehr  zu 
den  armen  Gefesselten  in  die  Höhle.  Eine  Allgemein -Wissen- 
schaft, der  alle  einzelnen  Wissenschaften  untergeordnet  sind. 


*)  Bp.  57IE  fiiJT€  ivSeia  fjiijte  nXtiafjiovy,  vgl.  auch  O.Apelt,  Der 
Wert  des  Lebens  nach  Piaton,  (Abhandl.  der  Friesschen  Schale  Gott  1907; 
auch  in  die  Plato -AuMtae  1912  aufgenommen).  Pater  betrachtet  das 
„poritanische  Element**  als  sokratisch. 


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63 

dient  als  Erweeker  der  Erkenntnis  {lYeQuxop  voi^aecog):  die 
Mathematik.  Die  Ansbildang  in  dieser  Kunst  und  in  der  Kunst 
des  ricktigen  Denkens  fbhrt  zam  Schauen  der  wahren,  mafs- 
gebenden  Ordnung  des  Seins  {öiaXsxrixfj . . .  Scxsq  d-Qiyxoq 
TolQ  na^fiaoiv  .  .  .  kxavm  534  £).  Die  mehr  als  laienhafte 
(2dia»rix€5^)  Beschäftigung  mit  der  Rechenkunst  {Xoyi6TiX7i\ 
die  nicht  nur  dem  egoistischen  Vorteil  dient,  läfst  den  eigen- 
tümlichen Blick  dafttr  gewinnen,  dasselbe  zugleich  als  Einheit 
und  unendliche  Vielheit  zu  sehen,  das  wesenhafte  Sein  von 
blolsen  Schattenbildern  zu  unterscheiden,  i)  Die  in  der  Polis 
zn  Ehren  gelangen  wollen,  müssen  in  der  Kunst  zu  sondern 
und  zu  besondern,  zu  einen  und  zn  vereinheitlichen  besonders 
tüchtig  sein. 

Nur  wenige  bleiben,  denen  der  Bestand  der  Erinnerung 
an  die  Vorzeit  der  Seele,  da  sie  ihrem  Gott  folgte,  genügend 
gegenwärtig  ist;  nur  wenige  sind  es,  denen  in  ihrem  Leben 
die  Fesseln  gelöst  wurden,  die  hinausgingen  und  die  einzelnen 
Dinge  in  scharfer  Klarheit  schauten  und  die  eine  Sonne,  die 
Idee  des  Guten,  von  der  alte  ihr  Licht  empfangen,  nach  der 
alle  einzelnen  Vorbilder  gestaltet  sind.  ^)  Der  von  Gott  wirklich 
erfbllte  Mensch,  der  seine  Gedanken  auf  das  Wesenhafte  richtet, 
hat  keine  Zeit,  sich  auf  die  Händel  der  Menschen  einzulassen, 
um  sich  mit  MiTsgunst  und  Feindseligkeit  zn  erfüllen.  Er  schaut 
nur  auf  die  ewige  Ordnung;  diese  sucht  er  nachzuahmen,  dem 
Gott  sich  möglichst  anzugleichen.  Im  Verkehr  mit  dem  Gött- 
lichen und  Schönen  wird  der  Philosoph  selbst  in  sich  schön, 
geordnet  und  göttlich  (500  CD.  5036.). 

Und  wieder  wenige  sind  es,  bei  denen  sich  diese  Liebe 
zur  Weisheit  und  Schönheit  mit  der  Kraft  zu  gestalten,  mit 
Herrschertttchtigkeit  verbindet  So  geht  die  Auswahl  innerhalb 
der  Wächtergemeinde  immer  weiter.  Weder  der  Ungebildete, 
der  nie  zum  Schauen  gelangt  ist,  noch  der,  welcher  ohne  be- 
stimmtes  Ziel  im  gemeinsamen  Bürgerleben  immer  auf  den 
seligen  Inseln  der  Bildung  bleiben  will,  ist  für  das  Herrscher- 
amt zu  gebrauchen.    Der  Philosoph  muls  gewaltsam  umgesiedelt 


*)  Ep.  521  E — 638.  —  x(5v  ayfny&v  äv  cfty  xal  fjtsraczQenuxwv  inl 
ttjv  xov  ovxog  &iav  17  neQl  xo  %v  /id&ijaiq.    525  A. 
>)  Vgl.  Phaidr.  250  A.  Bp.  505  A.  429  A. 


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64 

werden,  wenn  ihn  nicht  das  Mitleid  mit  den  Höhlenbewohnern 
schon  zur  Bttckkehr  treibt.  Das  blofse  Wohlbefinden  des 
einzelnen  Philosophen  ist  nicht  mafsgebend,  nach  dem  Grund- 
sätze, dafs  nicht  nur  für  das  Wohl  einer  Klasse  von  Menschen 
das  Gesetz  sorgen  soll.  Sie  sind  auch  nicht  von  selbst  ohne 
den  Einflafs  der  Bttrgerverfassnng  aufgewachsen  {avzofiavoi 
dxovörjg  rijg  xoXixBlaq)  und  schulden  der  Polis  Dank  für  ihre 
Erziehung.  Hinabsteigen  soll  der  Philosoph  zu  den  Gefesselten 
und  teilnehmen  an  ihren  Mühen  und  Ehren,  obwohl  er  yiel 
herrlichere  Ehren  kennt  Wenn  er  sich  an  Dunkel  und  Schatten- 
bilder dort  unten  gewöhnt  hat,  wird  er  tausendmal  besser  sehen 
als  die  Leute  dort,  und  alle  besonderen  Bilder  erkennen  und 
wissen,  woher  sie  sind  und  was  sie  bedeuten,  weil  er  das 
Wahre  im  Bereich  des  Schönen,  Bichtigen  und  Vortrefflichen 
gesehen  hat  Er  sieht  nun  die  Schattenbilder  mit  dem  Bewufst- 
sein,  dais  sie  nur  vorüberhuschende  Schatten  sind  und  führt 
keine  Schattenkämpfe  um  die  Herrschaft,  als  sei  sie  ein  grofses 
Gut  (519  B  ff.).  Pflicht  und  Schuldigkeit  des  Philosophen  ist  es 
nur,  seine  überlegene  Einsicht  zum  Besten  der  Allgemeinheit 
nutzbar  zu  machen.  Zu  einer  notwendigen  Sorge  und  Arbeit 
mnis  ihm  werden,  das,  was  er  dort  gesehen  hat,  in  der 
Menschen  Gepflogenheiten  und  Sitten  im  privaten  und  öffent- 
lichen Leben  hineinzupflanzen.  Er  soll  nicht  nur  sich  selbst 
gestalten  {jikarreiv  500  CD). 

Aus  den  Fähigen  und  Tüchtigen  sind  die  als  Herrscher 
auszusondern,  die  sich  als  die  wachsamsten  bewähren,  die  ihr 
ganzes  Leben  hindurch  am  meisten  mit  ganzem  Eifer  zu  tun 
scheinen,  was  sie  für  der  Polis  Bestes  halten.  In  allen  Alters- 
stufen sind  sie  zu  beobachten,  ob  sie  treu  an  diesem  Dogma 
„das  Beste  für  die  Polis^'  festhalten,  unbezaubert[durch  Einwände, 
Lust,  Schmerz  und  Furcht  (Bp.  412  Dff.).  So  soll  die  Ausbildung 
zum  Begentenamt  bis  zum  50.  Jahre  dauern,  damit  sie  an 
Erfahrung  in  keiner  Weise  hinter  den  übrigen  zurückstehen. 
Dann  erst  sind  sie  reif  zu  herrschen,  das  heifst  nach  dem 
Vorbild  der  vollkommenen  Ordnung  die  Stadt  und  die  Einzelnen 
in  ihrem  Privatleben  zu  schöner  Ordnung  zu  führen,  wenn  ihr 
eignes  Leben  gleichsam  zu  einem  vollendeten  Kunstwerk  ge- 
staltet ist  „Wie  ein  Bildhauer  hast  du  die  Herrscher  heraus- 
gearbeitet!'' ruft  Glaukon  aus  (Bp.  540  Äff.). 


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95 

AIb  Helfer  und  Heilande  werden  die  Vielen,  die  nur  dureh 
m  N^\ksveTftlbTer  irregeleitet  sind,  ihre  Herrscher  ansehen, 
^^"Uü  ^%Q)i^ltig  arbeitende  Werkmeister  {ArniiovQyol)  der  Frei- 
heif^  der  ganzen  Polis  werden  sie  sein.  Diese  aber  werden  in 
den  Beherrsehten  nieht  ihre  Sklaven,  sondern  ihre  Soldgeber 
nnd  Ernährer  sehen  (468  AB).  Die  Menge  bedarf  nur  der  freund- 
lichen Überredung  nnd  Aufklärung  darüber,  was  unter  dem 
wahrhaft  Einsichtigen,  dem  Philosophen  als  König  zu  verstehen 
ist,  nnd  die  Naturanlage  der  vielen  Einzelnen  mufs  richtig  ge- 
leitet nnd  ihnen  ihre  Beschäftigungsart  genau  bestimmt  werden 
(499  E).  Es  bleibt  nun  gleich,  ob  einer,  der  über  alle  anderen 
dareh  seine  königliche  Art  hervorragt,  die  Herrschaft  Übernimmt 
oder  eine  einheitliche  Gemeinde,  ein  övXXoyoq  von  Wächtern, 
die  dem  einen  Guten  sich  unterordnen  und  dies  eine  Ziel  haben: 
Die  vollkommene  Ordnung,  i) 

Die  königliche  Natur  weifs  jedem  das  Seine  zu  geben.  >) 
Sie  steht  über  dem  Gesetz,  denn  es  ist  nicht  würdig,  vortreff- 
lichen Männern  {ovx  a^tov  ....  avögaCi  xaXotg  xdyad'olg 
exixaxTBiv  425  D)  Vorschriften  zu  machen.  Sie  würden  sich 
ja  nicht  von  Blinden  unterscheiden,  wenn  sie  nicht  das  klare 
Vorbild  in  ihrer  Seele  hätten.  Wenn  sie  nicht  über  dem  Ge- 
setze stünden,  würden  sie  nicht  imstande  sein,  in  der  Erkenntnis 
des  Schönen,  Bichtigen  und  Guten  festzusetzen,  was  allgemein 
Geltang  hat  (yofuftä)  nnd  das  Gute  im  Bestehenden  zu  hüten 
und  anfreehtznerhalten  (484  BfF). 

Die  Gesetze  sind  gleichsam  Wegweiser,  welche  die  Führer 
den  Irrenden  geben.  Die  Sorge  für  Lebewesen,  heifst  es  in 
Piatos  Buch  vom  Könige,  dem  „Politikos",  bezieht  sich  beim 
HerrBcber  weniger  anf  die  Einzelzucht,  sondern  ist  eine  allgemeine 
Sorge  flir  die  Pflegebefohlenen  in  Herden.  Die  königliche  Kunst 
Ist  die  Kunst,  Gesetze  zu  geben.  Ein  Gesetz  ist  aber  ein 
ungebildetes  Ding;  denn  es  ist  unmöglich,  dafs  etwas  Einfaches, 
wie  eine  allgemeine  Vorschrift  sich  gut  und  glücklich  verhält 
SU  dem  niemals  Einfachen,  dem  einzelnen  Menschen,  allen  seinen 
individuell  verschiedenen  Lagen  entsprechend  (294  C).   So  kann 


>)  Des  iyad^v  fwlga  ist  das  rileov  und  Ixavov  fitiSevbg  nQoaöslo&ai 
FhSL20QfL 

>)  Sixaq  Sixd^stv  438  Eff. 
PMlofophiMha  AbbABdliiBgui.  XL.  5 


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66 

das  Gesetz  nnr  fttr  die  Mehrheit  und  fttr  die  meisten  Fälle  nnd 
gleichsam  nur  im  groben  {xaxvrigog)  fttr  die  Einzelnen  das 
Gesetz  geben.  Denn  wie  könnte  jemand  imstande  sein,  sein 
Leben  hindareh  sich  jedem  immer  vertranlich  znr  Seite  zu 
setzen,  um  ganz  genau  anordnen  zu  können,  was  ihm  gerade 
zukommt?  (Politik.  295  vgl.  Leg.  925  E).  Der  Zwang  aber, 
wenn  es  sieh  um  ein  Gerechteres,  Besseres  und  Schöneres 
handelt,  ist  ebensowenig  verwerflich,  wie  der  Zwang,  den  der 
Arzt  von  seiner  besseren  Einsicht  aus  auf  ein  krankes  Indivi- 
duum ausübt  (Politik.  296). 


Der  philosophischen  Theorie  gegenüber  erhebt  sich  der 
Mann  der  Praxis  mit  seiner  Erkenntnis,  dafs  die  sozialen  nnd 
politischen  Fragen  nur  von  Fall  zu  Fall  gelöst  werden.  Dem 
entgegnet  Plato:  „Die  Hypothesen  stelle  ich  nicht  als  Prinzipien 
auf,  sondern  in  Wirklichkeit  als  Hypothesen,  gleichsam  Stufen 
zum  Hinaufsteigen  uud  Antriebe,  damit  du  bis  zum  Voraus- 
setzungslosen gelangst,  zum  Grund,  Anfang  nnd  Ziel  aller  Dinge '^ 
(Rp.511B). 


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Inhalt. 


Seite 
Em\eitaiig 1 

L  Prolegomena  zum  Verständnis  von  Piatos  Problem  und  Werk   .      2 

II.  Die  zu  Grunde   gelegten  Begriffe  und  der  Zusammenhang  von 

PlatoB  Problem  mit  Problemen  der  Gegenwart 10 

IIL   Individuelles  und  Allgemeines  in  Plato  selbst;  das  Werden  der 

„Politeia" 15 

IV.   Das  Verfaültnis    Ton    Individuum   und  Allgemeinheit  in   Piatos 

Denken  überhaupt 30 

V.  Das  Verhältnis  7on  Individuum  und  Allgemeinheit  in  der  „Politeia*' 

im  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Schriften 36 

1.  Das  Individuum  und  die  allgemeine  Naturbasis     ...    36 

2.  Das  Verhältnis  der  Analogie  zwischen  Einzelmensch  und 

Polis 42 

3.  Ein-   und  Unterordnung   der  einzelnen  Vielen  in  der 

Polis  (Erziehung) 48 

4.  Überordnung  Einzelner  oder  des  Einen  in  der  Polis  (das 

Wächteramt) 58 


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Von  demselben  Verfasser  erschien: 

Die  Anfinge  einer  geschiehtlichen  Fondamenttening  der  Beligions- 
phllosophie.  Grundlegende  Yorantersachnng  zu  einer  Darstellnng 
von  Herders  historischer  Auffassang  der  Religion.  Rentber  &  Reichard, 
Berlin  1908. 


Dniok  Ton  Ehrhaidt  KtRM,  Halle  %,  8. 

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Vejiag  von  Hax  Niemeyer  in  Halle  a.  8. 

Abhandlungen 
zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte 

herausgegeben  von 
Benno  Erdmann. 

8. 

1.  Ri eh t e  r ,  Paul ,  David  Htune's  Kausalitätstheorie  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Begriindung  der  Theorie  der  Induktion.    1893.    &0  S.    Jk  1,20 

2.  Carls,  Wilh.,  Andreas  Bttdigers Moralphüosophie.  1894.  51 S.  Jk  1,20 

3.  Meyer,  Engen,  Humes  und  Berkeleys  Philosophie  der  Matiiematik 
▼ergleichena  und  kritisch  dargestellt    1894.    57  3.  Jk  1,60 

4.  James,  George  Francis,  Thomas  Hill  Green  und  der  Utilita- 
rismus.    1894.    87  S.  ^  1,~ 

5.  Kohn,  Harry  £.,  Zur  Theorie  der  Aufmerksamkeit    1895.    48  S 

Ji  1,20 

6.  Goldbeck,  Ernst,  Keplers  Lehre  von  der  Gravitation.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  mechanischen  Weltanschauung.  1896. 
52  S.  Jk  1,20 

7.  Brede,  Wilhelm,  Der  Unterschied  der  Lehren  Humes  im  Treatise 
und  im  Inquiry.    1896.    50  S.  Jk  1,20 

8.  Dodge,  Raymond,  Die  motorischen  Wortvorstellungen.  1896. 
78  S.  Jk  2,— 

9.  Mayer,  Eduard  von,  Schopenhauers  Aesthetik  und  Ihr  Verhältnis 
zu  den  ästhetischen  Lehren  Kants  und  Schellings.    1897.    VI,  82  S. 

.Ä2,— 

10.  Frey  tag,  Willy,  Die  Substanzenlehre  Lockes.    1899.    VI,  74  S. 

Jk  2, — 

11.  Marvin,  Walter  T.,  Die  Giltigkeit  unserer  Erkenntnis  der  objektiven 
Welt    1899.    VI,  96  S.  Jk  2,40 

12.  PoweH,  Eimer  E.,  Spinozas  Gottesbegriff.  1899.  IX,  113  S.   ^3,~ 

13.  Sasao,  Kumetaro,  Prolegomena  zur  Bestimmung  des  Gottes- 
begriffes bei  Kant    1900.    71  S.  Jkl,-^ 

14.  Spaulding,  Edward  Gleason,  Beitriige  zur  Kritik  des  psycho- 
physischen  Parallelismus  vom  Standpunkte  der  Energetik.  1900. 
Vn,  109  S.  Jk  3,— 

15.  Markus,  D.  F.,  Die  Assoziationstheorieen  im  XVIII.  Jahrhundert. 
1901.    IX,  72  S.  Jk  2,— 

16.  Wentscher,  Else,  Das  Eansalproblem  in  Lotzes  Philosophie. 
1903.    VII,  66  S.  Jk  2,— 

17.  Quast,  Otto,  Der  Begriff  des  Belief  bei  David  Hume.  190S.  VIII, 
125  S.  Jk  3,— 

18.  Conrat,  Friedrich,  Hermann  von  Helmholtz' psychologische  An- 
schauungen.   1904.    VI,  278  S.  Jk  6,— 


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Verlag  von  Max  Miem^yer  in  HaUe  •>  8, 

Abhandlungen  zur  Philosophie  und  Ihrer  Geechichte. 

19.  Becher,  Erich,  Der  Begriff  des  Attributes  bei  Spinoza  in  seiner 
Entwicklang  und  seinen  Beziehungen  zu  den  Begriffen  der  Substanz 
und  des  Modus.    1905.    81  S.  Jk  1,60 

20.  Herbertz,  Bichard,  Die  Lehre  Tom  Unbewussten  im  Sjrstem 
von  Lelbniz.    1905.    68  S.  Jk  %— 

21.  Post,  Karl,  Johannes  VliUers  philosophische  Anschauungen.  1905. 
147  S.  JL  4,- 

22.  Keussen,  Rudolf,  Bewusstsein  und  Erkenntnis  bei  Desoartes. 
1906.    IX,  95  S.  JL  2,40 

23.  Prümers,  Walther,  Spinozas  Beligionsbegriff.  1906.  73  S.  Jl  1,80 

24.  Hadlioh,  Hermann,  Hegels  Lehren  über  das  Yeihilltnls  voo 
Religion  und  Philosophie.    1906.    YIU,  82  S.  .^2,40 

25.  Becher,  Siegfried.  Erkenntnistheoretisehe  UntersuehuiifeB  zu 
Stuart  Mills  Theorie  der  Kausalität    1906.    149  S.  Jk  4,— 

26.  Wildschrev,  Joh.  Eduard  Th.,  Die  Gnmdlai^en  einer  voll- 
ständigen Syllogistik.    Mit  1  Tafel.    1907.    X,  160  S.  Jl4,— 

27.  Volait,  Georges,  Die  Stellung  des  Alexander  von  Aphrodisiss 
zur  Aristotelischen  Schlnsslehre.    1907.    103  S.  Jk  2,80 

28.  Thönes,  Adelheid,  Die  philosophischen  Lehren  in  Letbnizens 
Th6odlc6e.    1908.    79  S.  .^  2,— 

29.  Kurz,  August,  lieber  Christian  Gabriel  Fischers  vemfinftige  Ge- 
danken von  der  Natur.    1908.    YII,  65  S.  Jk  1,60 

30.  Koch,  Hans  Ludwig,  Materie  und  Organlsnias  bei  Leibnis. 
1908.    VIII,  59  S.  Jk  1,86 

31.  Arndt.  Ernst,  Das  Verhältnis  der  Verstandeserkenntnis  zur  sinn- 
lichen in  der  vorsokratischen  Philosophie.    1908.    67  S.         Jk  1,60 

32.  L  an  gel,  Hans,  Die  Entwicklung  des  Schulwesens  in  Prenssen 
unter  Franz  Albrecht  Schultz  (1733— 1763).    1909.  XI,  152  S.    JkA,— 

33.  An  er,  Karl,  Gottfried  Ploucquets  Leben  und  Lehren.  1909. 
68  S.  JklfiO 

34.  Crous,  Ernst,  Die  religionsphllosophischen  Lehren  Lockes  ud  ihre 
Stellung  zu  dem  Deismus  seiner  Zeit    1910.    VIII,  118  S.     ^3,*- 

35.  Lewin,  James,  Die  Lehre  von  den  Ideen  bei  Malebranohe.  1912. 
VIII,  165  S.  UI4,60 

36.  Horten,  Max,  Die  Metaphysik  des  Averroes  (1198t).  Naoh  dem 
Arabischen  tlbersetzt  und  erläutert.    1912.    XIV,  238  S.        Jl  7,— 

37.  Knüfer,  Carl,  Grundzflge  der  Geschichte  des  Begriffs  „Vorstellung*' 
von  Wolff  bis  Kant.  Ein  Beitrag  zur  Gesdiiohte  der  pmlosophisehen 
Terminologie.    1911.    V,  84  S.  Jl2,40 

38.  Horten,  Max,  Die  Philosophie  der  Erleuchtung  nach  Snhrawardi 
(1191t).    Uebersetzt  und  erläutert     1912.    XI,  83  S.  ^  8,— 

39.  Nenmann,  Peter,  Die  Psychologie  des  Nioolaus  Cnaanas  nach 
ihren  Beziehungen  zur  hellenistischen  und  schohirtiseheB  Philos(^hie. 

(Unter  der  Presse) 

40.  Burckhardt,  Georg  E.,  Individuum  und  Allgemeinheit  in  Piatos 
Politeia.     1913.    68  S.  ^1,80 


Druck  von  Ehrhardt  Karvas,  Hall«  a.  S. 


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^«ry 


UBHANDLÜNGEN 
ZUR  PHILOSOPHIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 

HERAUSGEGEBEN  VON  BENNO  EKDMANN 

YT.T  I   J' 


l   ■' 


DAS  DING  AN  SICH 

UND 

DIE  EMPIRISCHE  ANSCHAUUNG 
IN  KANTS  PHILOSOPHIE 


VON 


SIMON   BRYSZ 


HALLE  A.  S. 
VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1913 


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ABHANDLUNGEN 

ZÜE 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


BENNO   ERDMANN 


EINÜNDYIEBZIGSTES  HEFT 

SIMON  BRYSZ 

DAS  DING  AK  SICH 
UND  DIE  EMPIRISCHE  ANSCHAUUNG  IN  KANTS  PHILOSOPHIE 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1913 

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DAS  DING  AN  SICH 

UND 

DIE  EMPIRISCHE  ANSCHAUUNG 
IN  KANTS  PHILOSOPHIE 


TOK 


SIMON  BRYSZ 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1913 


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Inhalt 


8«lt6 

Gibt  es  nieh  Kant  einen  von  uns  onabhSngigen  Bealgnind  unserer 

Yontellungen? 1 

Kante  Beweise  ftlr  die  Existenz  der  Dinge  an  sich 11 

Wie  ist  das  Ding  an  sich  beschaffen? 35 

Wie  kommt  objektiv- gültige  Anschanung  zustande? 39 

Wie  ist  eine  notwendige  Übereinstimmnng  unserer  Verknttpfang  der 
Gegenstande  der  Erfahrung  mit  ihrer  tatsächlichen  Affinität  zu 

erklären? 59 

Wie  ist  das  Ergebnis  der  Deduktion  mit  der  Möglichkeit  empirischer 

Gesetze  in  Einklang  zu  bringen? 83 

a)  Die  Kausalität  durch  Freiheit  und  die  Affinität  der  Er- 
scheinungen   86 

b)  Die  prästabilierte  Harmonie  und  die  empirischen  Gesetze  98 
Anhsog.   Von  den  Wahmehmungs-  und  Erfahrungsurteilen  ....  106 


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Q\bt  es  nach  Kant  einen  Yon  nns  nnabhängigen 
Kealgnmd  unserer  Vorstellungen? 


Die  Frage,  ob  es  nach  Kant  einen  von  nns  nnabhängigen 
Realgrnnd  unserer  Vorstellungen  gibt,  gehört  bekanntlich  za 
den  strittigsten  Punkten  in  der  Deutung  seiner  Philosophie. 
Und  es  bedarf  geradezu  einer  Entschuldigung,  wenn  man  das 
alte  Gespenst  vom  Ding  an  sich,  um  das  von  so  vielen  berufenen 
und  unberufenen  Eantforschem  gekämpft  v^orden  ist,  wieder 
anferstehen  läfsi  Da  jedoch  die  Frage  der  empirischen  An- 
schauung eine  klare  Stellungnahme  zum  Ding  an  sich  erfordert, 
so  sei  es  mir  gestattet,  dieses  Problem  wenigstens  in  den  all- 
gemeinsten Zügen  zu  erörtern,  umsomehr,  als  einige  strittige 
Paukte  unter  Zuhilfenahme  der  von  Erdmann  herausgegebenen 
Reflexionen  Kants  und  der  Losen  Blätter  von  Beicke,  wie 
mir  scheint,  leicht  aufgeklärt  werden  können. 

Man  sollte  meinen,  daJb  die  häufig  wiederholten  klaren 
und  manchmal  gar  nicht  milszuverstehenden  Äufserungen  Kants 
über  die  Existenz  der  Dinge  an  sich,  ebenso  wie  die  geradezu 
affektvolle  Protestation  wider  die  Zumutung  eines  Berkeleyschen 
Idealismus  einem  derartigen  Streite  hätte  vorbeugen  mttssen. 
Es  ist  indessen  nicht  schwer  einzusehen,  dafs  mannigfache 
Gründe  diesen  Kampf  heraufbeschworen  haben.  —  Erstens 
sind  es  die  nicht  leicht  zu  lösenden  Widersprüche,  die  dem 
Kantischen  Kritizismus  aus  der  Annahme  an  sich  existierender 
Dinge  erstehen.  Zweitens  finden  sich  vielfache  Äufserungen 
in  der  Kritik,  die  das  Ding  an  sich  zu  negieren  scheinen. 
Drittens  ist  es  offenbar  unmöglich  —  trotz  scheinbarer  Ver- 
suche —  die  Existenz  dieser  Dinge  von  den  Voraussetzungen 
des  Kritizismus  aus  spekulativ  zu  beweisen.    Dazu  kommt  die 

PUloMphliolie  AblundlmigMi.  XLI.  1 


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Zweideutigkeit  des  Eantischen  Terminus  GegeDstand,  der  bald  als 
transscendeDtaler,  bald  als  empirischer  yerstanden  werden  kann. 
Zn  diesen  sozusagen  immanenten,  d.h.  im  System  selbst  liegenden 
Grttnden  —  die  zwar  zu  den  verschiedenen  Auffassungen  vom 
Ding  an  sich  nicht  ermächtigen,  wohl  aber  die  auseinander- 
gehenden Meinungen  erklären  —  gesellt  sich  eine  Reihe  subjek- 
tiver, vom  jeweiligen  Standpunkte  des  Interpreten  abhängender 
Grttnde.  Die  Vertreter  der  zeitgenössischen  Tradition,  ganz  blind 
für  das  eigentliche  Ziel  der  Kritik  und  für  die  ungeheure  Um- 
wälzung, die  Kants  Lehre  fUr  Metaphysik  und  Wissenschaft 
bedeutete,  fanden  in  der  Lehre  des  Philosophen,  die  sämtliche 
Metaphysiken  zeitgenössischer  Kapazitäten  als  eitles  Gerede 
brandmarkte,  nur  einen  verschärften  Berkeleyschen  Idealismus. 
Andererseits  aber  hatte  das  Bestreben,  das  Kantische  Ding  an 
sich  gänzlich  aus  dem  Bereich  des  Seienden  zu  eliminieren, 
tiefer  liegende  Gründe.  Wahrhaft  grolse  Geister  imposanten 
idealistischen  Gepräges  waren  auf  den  Königsberger  Meister 
gefolgt,  und  forschten,  nachdem  das  Ding  an  sich  von  Kant 
als  unbekannter  und  unerkennbarer  Grund  des  Seins  hingestellt 
worden  war,  was  dieses  Ding  doch  sein  möge.  Man  glaubte 
die  Kritik  in  vermeintlich  Kantischem  Sinne  weiterbilden  zn 
müssen.  Die  Kantischen  Dinge  an  sich  wurden  vorerst  uni- 
fiziert; man  liefs  sie  sich  immer  mehr  verflüchtigen,  um  sie 
endlich  im  »Ich",  im  , Identischen",  „Absoluten",  im  „Willen* 
oder  im  vUnbewufsten"  aufgehen  zu  lassen.  —  Die  Kantische 
nüchterne,  wenn  auch  nur  zum  Teil  durchgeführte  Negation 
der  dogmatischen  Metaphysik,  mufste  eine  glänzende  Eeaktion 
hervorrufen,  zumal  Kant  selbst  im  praktischen  Kritizismus 
Fingerzeige  für  eine  solche  gegeben  hatte.  Das  Ding  an  sich, 
für  Kant  das  transscendentale  Objekt,  die  andere  Seite  der 
Erscheinung,  die  uns  unbekannt  bleibt,  weil  wir  diese  und 
nicht  eine  andere  Sinnlichkeit  haben,  wurde  zum  Ausgangs- 
punkt neuer  metaphysischer  und  religiös-mystischer  Systeme. 

Wir  wollen  zunächst  feststellen,  dafs  Kant  die  Existenz 
der  Dinge  an  sich  ohne  weiteres  vorausgesetzt  hat  Es  ist 
überflüssig  und  zugleich  unnütz,  alle  die  Stellen,  aus  der 
Kritik  und  den  Prolegomenen,  die  unumwunden  und  unzwei- 
deutig die  Existenz  der  Dinge  an  sich  mit  voller  Schärte 
hervorheben,  anzuführen.    Die  Gegner  haben  sie  tausendmal 


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gebSrt  und  gelesen  und  werden  sich  aaeh  dann,  wenn  sie  diese 
Aaslassangen  znm  tausend  ersten  mal  hören,  Yon  ihrer  Inter- 
pretation nicht  abbringen  lassen.  Wichtig  dagegen  scheint  die 
Frage,  warum  Kant  eigentlich  so  sehr  an  der  Existenz  der 
Dinge  an  sich  liegt,  warum  er  sie  yoranssetzt  und  an  ihnen 
festhält,  auch  nachdem  sie  ihm  zum  Problem  geworden  sind, 
weshalb  er  den  Einwendungen  seiner  Freunde  und  Gegner 
durch  den  Hinweis  auf  den  Begriff  der  Vorstellung  ausweicht 

Was  das  erste  betrifiFt,  nämlich  die  Voraussetzung  der 
Dinge  an  sich  in  der  Ästhetik,  so  könnte  man  dies  in  dem 
realistischen  Zug  von  Kants  Denken,  das  jedem  schwärmerischen 
und  skeptischen  Idealismus  abgeneigt  war,  begründet  finden. 
Dafs  er  aber  an  dieser  Voraussetzung  festhält,  auch  nachdem 
ihm  Ton  Seiten  seiner  Kritiker  Yorgeworfen  worden  war,  dafs 
jene  Annahme  mit  dem  sonstigen  Ergebnis  seiner  Kritik  nicht 
in  Einklang  gebracht  werden  könne,  —  dafär  muls  ein  tiefer 
liegender  Grund  zu  finden  sein.  Und  in  der  Tat,  das  Fest- 
halten an  der  Existenz  an  sich  seiender  Dinge,  auch  nachdem 
die  Kritik  gezeigt  hat,  dafs  man  über  Transscendentes  nichts, 
aneh  nicht  das  Sein  aussagen  darf  (denn  sonst  mttfste  man 
den  kosmologischen  Gottesbeweis  ebenfalls  anerkennen),  dieses 
Festhalten  kann  nur  verstanden  werden,  wenn  die  Prämissen 
hierfttr  nicht  in  der  spekulativen,  sondern  in  der 
praktischen  Philosophie  gesucht  werden. 

Dafs  dies  der  Fall  ist,  ersehen  wir  aus  Folgendem.  In 
der  Vorrede  zur  2.  Auflage  sagt  Kant:  .Der  Idealismus  mag  in 
Ansehung  der  wesentlichen  Zwecke  der  Metaphysik  für  noch  so 
nnscbuldig  gehalten  werden  (was  er  in  der  Tat  nicht  ist),  so 
bleibt  es  immer  ein  Skandal  der  Philosophie  und  allgemeinen 
Mensehenvernunft,  das  Dasein  der  Dinge  aufser  uns  ....  blofs 
auf  Glauben  annehmen  zu  mtlssen.'  ^)  Als  Ergänzung  hierzu 
heilst  es  in  den  Losen  Blättern:  „Der  Idealismus,  der  die  Aufsen- 
welt  leugnet,  kann  ...  auch  wohl  ein  Hindernis  abgeben 
zu  dem,  was  den  Endzweck  der  Metaphysik  ausmacht, 
zu    dem    Übersinnlichen   fortzuschreiten,    wenn   alles 


')  Yorr.  2  zur  Kritik  d.  r.  V.  XL  Anm.  Ich  zitiere  im  allgemeinen 
Kants  Werke  nach  der  Akademieaasgabe.  Die  Kritik  d.  r.  V.  jedoch  nach 
der  Oi^nalpaginierong  der  2.  Auflage  (Ausgabe  £rdmann).  Bei  Zitaten 
UV  der  I.  Auflage  füge  ich  immer  A  hinan. 

1* 


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Sinnliche  blofs  in  uns  gesetzt  wird.<)  Diese  Äas- 
lassangen  dürften  für  alle  diejenigen,  die  das  Ding  an  sieh  za 
einem  leeren  Grenzbegriff,  zu  einer  Anfgabe,  zu  einem  ewigen 
Schein,  oder  wie  die  Ausdrucke  sonst  lauten,  degradieren 
wollen,  ein  Yorzügliches  Objekt  fttr  ihre  Interpretationskttnste 
bieten.  Denn  hier  wird  der  eigentliche  Orund  angegeben, 
warum  Kant  sich  mit  dem  Gedanken  nicht  yersOhnen  konnte, 
dafs  das  Subjekt  neben  der  Form  auch  die  Materie  der  Er- 
scheinungen aus  sich  heraus  produziere!  Damit  wäre  der  Weg 
zur  praktischen  Philosophie,  die  ihm  so  sehr  am  Herzen  lag, 
ein  fttr  alle  mal  yerschlossen  gewesen.  Auch  die  Behauptung, 
Kant  habe  sich  eigentlich  um  das  Ding  an  sieh  nicht  geküm- 
mert, ihm  wäre  es  nur  um  die  Wissenschaft  zu  tun,  hingegen 
das  Problem,  ob  den  Erscheinungen  etwas  zugrunde  liege  oder 
nicht,  läge  nicht  im  Bereiche  seines  Interesses,  wird  durch  diese 
Erklärungen  hinlänglich  widerlegt 

Es  wäre  jedoch  falsch  anzunehmen,  dafs  der  Existenz  der 
Dinge  an  sich  gleich  zu  Beginn  der  Darstellung  Kants  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  diese  praktische  Bedeutung  zu- 
geschrieben worden  sein  sollte.  Vielmehr  verhält  sich  die 
Sache  so.  Die  transscendentale  Ästhetik  hat,  yeranlafst  durch 
die  Antinomien, 2)  die  entstehen,  wenn  man  Raum  und  Zeit 


1)  Lose  Blätter  ans  Kants  Nachlafis,  mitgeteUt  yon  Rudolf  Beicke 
I,  102. 

')  Wenn  ich  nicht  irre,  war  Lotze  der  erste,  der  die  Bedeutnng  der 
Antinomien  flir  die  transscendentale  Ästhetik  gesehen  hat,  er  sagt:  «Die 
Beweggründe  zu  einer  solchen  Umgestaltung  der  gewöhnlichen  Ansicht 
lagen  fttr  Kant  nicht  in  der  Natur  des  Raumes  selbst,  sondern  in  den 
Widersprüchen,  in  welche  sein  yorausgesetztes  Verhalten  zu  dem  Wirk- 
lichen zu  führen  schien  . . .  Erst  die  Antinomien,  in  welche  wir  uns  yer- 
wickeln,  wenn  wir  mit  dieser  Voraussetzung  eines  wirklichen  Raumes 
unsere  Vorstellungen  vom  Ganzen  der  Welt  oder  von  ihren  letsten 
Bestandteilen  zu  vereinigen  suchen,  entschieden  bei  Kant  fttr  die  Annahme, 
die  Anschauung  des  Raumes  sei  nur  eine  subjektive  Form,  mit  welcher 
die  Natur  des  vorauszusetzenden  Realen  nichts  gemein  habe.^  Meta- 
physik, 2.  Aufl.  S.201f.  —  Unabhängig  hiervon  bemerkt  Riehl:  „Dia 
Antinomie  trieb  zur  Unterscheidung  der  phänomenalen  und  intelligiblen 
Welt;  um  aber  diese  Unterscheidung  zu  machen,  mufste  ihr  Jene  zwischen 
den  sinnlichen  Elementarbegriffen  und  den  Denkbegriffen  vorausgegangen 
■ein.  Also  war  es  ein  metaphysisches  Interesse,  welches  Kant  auf  die 
Bahn  der  kritischen  Phüosophie  brachte.**    Der  philosophische  Kritizismus 


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als  an  sieh  seiend  annimmt,  die  Dinge  in  Dinge  an  sieh  und 
Erscheinungen  geschieden.  Diese  Dinge  an  sieh  zu  bezweifeln 
ist  Kant  damals  nicht  einmal  ,in  den  Sinn  gekommen^,  denn 
sonst  hätte  die  Unterscheidung  ganz  anders  aasfallen  mttssen. 
Es  wären  dann  nicht  nar  Raum  und  Zeit  blofs  snbjektiY,  son- 
dern auch  der  gesamte  spezielle  Gehalt  der  Erscheinungen. 
Dieser  Gehalt  mülste  zwar  auch  dann  nicht  a  priori  sein,  denn 
alles  Apriorische  der  Anschauung  ist  subjektiv,  nicht  aber  ist 
auch  umgekehrt  alles  Subjektive  a  priori,  z.B.  Bewegung  und 
Veränderung.  Kant  hätte  aber  sagen  müssen,  Kaum  und  Zeit 
allein  sind  subjektiv  und  a  priori;  alles  andere  ist  zwar  nicht 
a  priori,  d.h.  es  ermöglicht  gar  keine  objektiv  gültigen  Er- 
kenntnisse, aber  ist  lediglich  meine  Vorstellung,  der  nichts 
anfser  mir  (transscendentaliter)  entspricht,  oder  aber  er  hätte 
diese  Frage  wenigstens  offenlassen  mttssen.  Kant  sagt  jedoch 
am  Schlüsse  der  Ästhetik:  „Was  es  fttr  eine  Bewandtnis  mit 
den  Gegenständen  au  sich  und  abgesondert  von  aller  dieser 
Receptivität  unserer  Sinnlichkeit  haben  möge,  bleibt  uns  gänz- 
lieb unbekannt  Wir  kennen  nichts  als  unsere  Art  sie  [offenbar 
doch  die  Gegenstände  an  sich]  wahrzunehmen,  die  uns  eigen- 
tttmlich  ist,  die  auch  nicht  notwendig  jedem  Wesen,  obzwar 
jedem  Menschen  zukommen  mufs.*  ^  Hier  wird  also  ausdrttck- 
lieh  gelehrt,  daTs  die  Dinge  an  sich  als  die  andere  Seite  der 
Erscheinungen  anzusehen  sind.  Erst  später,  als  infolge  der 
Kritik  seines  Werkes  das  Ding  an  sich   zum  Problem  sich 

I ,  S.  273.  Man  yergl.  auch  240  f.  und  2.  Aufl.  1, 343.  Diese  Vermutung 
BieUs  fiuid  dann  eine  glSnaende  Bestätigang  in  dem  von  Erdmann 
henosgegebenen  neuen  Material  aus  Kants  Naclilafis.  Man  vergleiche 
besonders  Beflexion  Nr.  4,  wie  auch  den  Brief  an  Garve  vom  21.  Sept. 
179S.  B.  Erdmann  hat  dann  in  einer  erschöpfenden  Abhandlung  auf  die 
ungemeine  entwicklnngsgeschichüiche  Bedeutung  der  Antinomien  fttr 
Kants  Kritizismus  hingewiesen.  Mit  Hilfe  des  von  ihm  entdeckten  neuen 
Beweismaterials  hat  er  überraschend  gezeigt,  dafs  die  Umw&lznng  im 
Kjuitischen  Denken  keinem  andern  Eiaflufa  (also  auch  nicht  dem  Hu m es) 
io  dem  Mafse  wie  den  Antinomien  zuzuschreiben  seL  Man  vergleiche: 
Die  Entwicklnngsperioden  von  Kants  theoretischer  Philosophie,  Vorbericht 
zum  2.  Bande  der  Reflexionen  Kants  S.  XXVI  ff.,  sowie  I^olegomena, 
Einleitung  S.  LXXXV. 

^)  Kr.  S.  69.  Beillufig  sei  bemerkt,  dals  diese  letzte  Behauptung 
Kants,  die  doch  im  Omnde  nur  ein  Analogieschludi  ist^  etwas  zu  apo- 
djktiseli  ausgedruckt  ist. 


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6 

allmählich  aasgebildet  hatte,  wurde  Kant  darauf  aufmerksam, 
dafs,  obwohl  spekulativ  kein  Beweis  fllr  diese  Existenz  zu 
führen  ist,  so  doch  an  diesen  einstmals  gar  nicht  beanstandeten 
Dingen  festgehalten  werden  mUsse,  wenn  die  Folgen  des  Frei- 
heitsbegriffes nicht  gefährdet  werden  sollten,  und  dafs  anderer- 
seits diese  praktische  Notwendigkeit  des  Begriffes  der  Freiheit 
den  einzigen  und  sichersten  Beweisgrund  für  die  Existenz  über- 
sinnlicher Dinge  abgibt.  So  lesen  wir  in  der  Einleitung  zur 
Kritik  der  praktischen  Vernunft:  «Dagegen  eröffnet  sich  nun 
eine  Yorher  kaum  zu  erwartende  und  sehr  befriedigende  Be- 
stätigung der  konsequenten  Denkungsart  der  spekulativen 
Kritik  darin,  dafs,  da  diese  die  Gegenstände  der  Erfahrung 
als  solche  und  darunter  selbst  unser  eigenes  Subjekt  nur  ftlr 
Erscheinungen  gelten  zu  lassen,  ihnen  aber  gleichwohl  Dinge 
an  sieh  selbst  zum  Grunde  zu  legen,  also  nicht  alles  Über- 
sinnliche für  Erdichtung  nnd  dessen  Begriff  für  leer 
zu  halten  einschärfte:  praktische  Vernunft  jetzt  für  sich  selbst, 
und  ohne  mit  der  spekulativen  Verabredung  getroffen  zu  haben, 
einem  übersinnlichen  Gegenstande  der  Kategorie  der  Kausalität, 
nämlich  der  Freiheit,  Realität  verschafft  ...  also  dasjenige, 
was  dort!)  blofs  gedacht  werden  konnte,  durch  ein  Faktum 
bestätigt.*  2) 

Nun  wird  aber  behauptet,  dafs  bereits  in  der  Analytik 
eine  Schwenkung  der  Ansicht  in  bezug  auf  die  Dinge  an  sich 
eingetreten  sei.  Zur  Bestätigung  dieser  Behauptung  wird  fol- 
gendes geltend  gemacht: 

1.  Das  Ergebnis  der  Analytik  ist,  dafs  die  Kategorien 
nur  auf  sinnliche  Gegenstände  angewandt  werden  dürfen.  Die 
konsequente  Durchführung  dieses  Gedankens  gestattet  aber 
nicht  einmal  die  Existenz  von  dem  Ding  an  sich  zu  prädizieren. 
—  Wollte  man  dagegen  einwenden,  dafs  die  Kategorien  nicht 
im  gleichen  Hafse  subjektiv  seien,  wie  Raum  und  Zeit,  dafs 
ihre  Unanwendbarkeit  auf  nichtsinnliche  Gegenstände  nur  da- 
von herrühre,  dafs  sie  die  Anschauungsformen  zu  Hilfe  nehmen 
müfsten,  was  aber  bei  der  Existenz  nicht  notwendig  sei;  —  so 

*)  Man  vgl.  Vorr.  2,  S.  XXVI,  Zeüe  12. 

>)  Kants  WW.  V,  5f.  Man  vgl.  auch  L.  Blätter  S.  217:  „Die  End- 
absicht  aller  Metaphysik  ist  von  der  Erkenntnis  des  Sinnlichen  zum 
Übersinnlichen  aufzusteigen.^ 


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zeigt  doch  der  folgende  Satz,  dafs  diese  Unterscheidang  nicht 
richtig  ist.  .Realität*  —  sagt  Kant  —  „kann  man  im  Gegen- 
ft&tiQ  m\t  der  "Negation  nur  alsdann  erklären,  wenn  man  sieh 
eme  Zeit  (als  den  Inbegriff  von  allem  Sein)  gedenkt,  die 
entweder  womit  erfbllt  oder  leer  ist'  ^  ^^^^  liSLun  also,  wird 
geltend  gemacht,  nicht  mehr  behaupten,  es  gibt  Dinge  an  sich, 
wenn  er  sicli  selbst  nicht  widersprechen  will. 

2.  Kant  selbst  läfst  die  Einteilung  in  Phänomena  und 
Nonmena  gar  nicht  zu  und  nennt  das  Noumenon  einen  «pro- 
blematischen Begriff'  oder  auch  „Grenzbegiiff*. 

3.  Selbst  wenn  man  dem  zweiten  Argument  ausweicht,  so 
heilst  es  doch  ausdrtlcklich,  dafs  „obgleich  unser  Denken  von 
der  Sinnlichkeit  abstrahieren  kann,  so  bleibt  doch  die  Frage, 
ob  es  alsdann  nicht  eine  blofse  Form  eines  Begriffes  sei  und 
ob  bei  dieser  Abtrennung  Oberall  ein  Objekt  übrig  bleibe.' 2) 

Was  nun  zunächst  das  zweite  Argument  betrifft,  so  ist 
klar,  dafs  mit  Noumenon  hier  nur  dasjenige  in  positiver 
Bedeutung  gemeint  ist, 3)  und  dieses  ist  tatsächlich  ein  proble- 
matischer Begriff,  weil  der  Verstand,  vor  dem  es  gehörte,  ein 
Verstand  mit  der  Fähigkeit  intellektuell  anzuschauen,  selbst 
ein  Problem  ist    Dies  geht  aus  dem  ganzen  Inhalte  des  hier- 
fttr    in  betracht  kommenden  Abschnitts  über  Phänomena  und 
Noamena,  besonders  aber  aus  folgender  Stelle  hervor:  „Das 
Objekt,  worauf  ich  die  Erscheinung  überhaupt  beziehe,  ist  der 
transscendentale  Gegenstand,  das  ist  der  gänzlich  unbestimmte 
Gedanke   von  Etwas   überhaupt     Dieser  kann  nicht  das 
Konmenon  heifsen:  denn  ich  weifs  von  ihm  nicht  was  er 
an    sich  selbst  sei  und  habe  gar  keinen  Begriff  von  ihm,  als 
bloCs  von  dem  Gegenstande  einer  sinnlichen  Anschauung  über- 
haupt''^)   Bekräftigt  wird  dies  durch  den  Umstand,  dafs  die 
2.  Anflage  und  die  Randbemerkungen  im  Handexemplar^)  einige 
Stellen,   die   zu  Hifsverständnissen   verleiten  könnten,   durch 
genauere  Bestimmung  des  Noumenon  den  Text  ergänzen  und 


0  Kr.  S.  300. 
<)Kr.  A252£. 

*)  Mm  vgl.  auch  Rieh!  &  a.  0.  I,  2.  AufL  §  579. 
*)  Kr.  A  258.    Man  vgl.  auch  die  Definition  des  Noamenon  Kr.  A 
248  und  307. 

*)  Man  7g].  B.  Erdmann,  Nachtriige  zu  Kants  Kritik  d.  r.  V, 


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8 

jede  Zweideutigkeit  entfernen.  So  wird  zu  dem  Satze:  „dals 
die  Grundsätze  des  Verstandes  nur  . . .  auf  Gegenstände  der 
Sinne,  niemals  aber  auf  Dinge  überhaupt  . . .  bezogen  werden 
können^  ^)  im  Handexemplar  die  wichtige  Einschränkung  hinza- 
gefttgt:  „wenn  sie  Erkenntnis  verschaffen  sollen '^ 2)  Femer 
ist  in  dem  Satze:  „die  Einteilung  der  Gegenstände  in  Phä- 
nomena  und  ]()oumena  und  der  Welt  in  eine  Sinnen-  und  Ver- 
standeswelt kann  daher  in  positiver  Bedeutung  gar  nicht 
zugelassen  werden ^3)  die  Einschränkung  „in  positiver  Be- 
deutung^ erst  in  der  2.  Auflage  hinzugekommen.  Endlich  ist 
der  Satz  „so  ist  denn  der  Begriff  reiner,  blofs  intelligibeler 
Gegenstände  leer^^)  durch  die  Bemerkung  im  Handexemplar 
„der  positive  Begriff*'^)  ergänzt  worden, 

Kant  will  also  sagen:  obwohl  die  transscendentale  Ästhetik 
den  Begriff  der  Erscheinung  dahin  eingeschränkt  hat,  da£s  die 
Lehre  von  der  Sinnlichkeit  zugleich  die  Lehre  von  wirkenden 
Dingen  an  sich  bedeutet,  so  darf  man  doch  daraus  nicht  folgern, 
dafs  diese  Dinge  durch  irgend  ein  Erkenntnisvermögen  näher 
bestimmt  werden  kOnnen.  Denn  dazu  wäre  eine  ttbersinnliche 
Anschauung  notwendig,  die  wir  jedoch  nicht  besitzen  und  von 
der  es  zweifelhaft  ist,  ob  sie  ttberhaupt  möglich  ist.  Ja  es  ist 
nicht  einmal  ausgemacht,  ob  derartige  Noumena,  die  durch 
eine  intellektuelle  Anschauung  erkennbar  würden,  ttberhaupt 
vorhanden  sind. 

Etwas  schwieriger  zu  beantworten  ist  der  dritte  Einwand. 
Denn  der  dort  angefahrte  Satz  pafst  nicht  minder  auf  das 
Noumenon  in  negativer  Bedeutung,  also  auf  die  von  Kant 
vorausgesetzten  Dinge  an  sich,  als  auf  das  Noumenon  im  posi- 
tiven Sinne.  Und  da  fragt  es  sich  mit  Becht,  wie  Kant  noch 
jetzt  an  dieser  Voraussetzung  festhalten  könne,  nachdem  er 
hier  zeigt,  dafs  es  immer  zweifelhaft  bleibt,  ob  dem  Begriffe 
ein  Objekt  entspricht,  da  die  logische  Möglichkeit  eines  solchen 
noch  nicht  die  reale  beweist?  —  So  sehr  aber  auch  dieser 
Gedankengang  vom  kritischen  Standpunkte  aus  berechtigt  sein 

0  Er.  SOS. 

>)  ErdmaDn  a.  a.  0.  S.  41. 

•)  Kr.  311. 

*)  Kr.  316. 

t)  £rdmaiin  a.  a.  0.  S.  44, 


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9 

mag,  80  unmöglich  ist  es  doeb,  dafs  Kant  mit  dem  erwähnten 
Satze  das  Ding  an  sieh  gemeint  haben  sollte.  Ans  dem  Zn- 
sammenhange, in  dem  er  den  erwäbnten  Satz  aasspricht  ist  zu 
ersehen,  dafs,  wenn  bier  überhaupt  von  einem  Objekt  die  Bede 
ist  —  was  eine  Bandbemerkung  im  Handexemplar  s^hr  zweifel- 
haft maeht^)  —  nur  das  Noumenon  in  positiver  Bedeutung 
gemeint  sein  kann.  Das  geht  sowohl  aus  dem  vorhergehenden, 
wie  aus  den  nachfolgenden  Sätzen  sehr  deutlich  hervor.  Aufser- 
dem  wäre  es  sonst  unmöglich,  dafs  gerade  hier  die  Existenz 
.der  Dinge  an  sich  mit  völliger  Bestimmtheit  betont  werden 
könnte.  So  lesen  wir:  ,den  Sinnenwesen  korrespondieren  zwar 
freilich  Yerstandeswesen,  auch  mag  es  Verstandeswesen  geben, 
auf  welche  unser  sinnliches  Anschauungsvermögen  gar  keine 
Beziehung  hat,  aber  unsere  Verstandesbegriffe  .  .  .  reichen 
nicht  .  .  .  auf  diese  hinaus ''.2)  Dieser  Satz  kann  nur  so  ver- 
standen werden:  den  Sinnen wesen  korrespondieren  Dinge  an 
sich,  die  unsere  Sinne  affizieren  es  mag  auch  Noumena  (in 
positiver  Bedeutung)  geben,  auf  die  unser  sinnliches  An- 
schauungsvermögen aber  gar  keine  Beziehung  hat,  weil  der- 
artige Noumena  unsere  Sinne  nicht  rtthren  usw.  Auch  ist  die 
Ableitung  der  Dinge  an  sich  von  dem  Begriff  der  Erscheinung 
—  diese  mag  nun  richtig  sein  oder  nicht  —  nirgends  mit 
solcher  Bestimmtheit  geftthrt,  wie  gerade  hier.')  Dafs  aber 
Kant  die  Konsequenz  seiner  Analytik  nicht  auch  auf  das 
Noumenon  im  negativen  Sinne  ausgedehnt  hat,  dafs  er  es  nicht 
gesehen  hat,  dafs  alles,  was  sich  von  der  Existenz  eines 
Noumenon  in  positiver  Bedeutung  sagen  läfst,  nicht  minder 
auf  das  Ding  an  sich  Anwendung  findet  —  und  damit  kommen 
wir  zum  ersten  Einwand  —  kann  nur  dadurch  erklärt  werden, 

*)  In  dem  Handexemplar  wird  die  fragliche  Stelle  folgendermafsen 
verbessert:  „Ob  es  alsdann  nicht  eine  blofse  Form  eines  Begriffes  sei 
oder  ob  bei  dieser  Abtrennung  überall  noch  eine  mögliche  An- 
sebanang  ttbrig  bleibe.**  Dazu  soU  folgende  Begründung  hinzukommen: 
nDenn  die  Möglichkeit  einer  intellektuellen  Anschauung  kann  niemand 
dartun,  nnd  es  könnte  also  leicht  möglich  sein,  dals  gar  keine  solche 
Erkenntnisart  stattfände,  in  Ansehung  deren  wir  etwas  als  Gegenstand 
hetnchten  würden.  Also  behauptet  der  positive  Begriff  eines  Noumenon 
etwäs^  dessen  Möglichkeit  er  nicht  beweisen  kann.*    Erdmann  a.  a.  0.  S.  44. 

«;  Kr.  308  f. 

V  Kr.  A  251t 


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10 

dals  diese  Existenz  ihm  gar  nieht  Problem  war.  Man  mnCs 
den  Satz :  „denn  die  [die  Dinge  an  sich  nämlich]  zu  bezweifeln 
ist  mir  niemals  in  den  Sinn  gekommen^  ^)  ganz  wörtlich  nehmen 
und  allein  dieser  Umstand  hat  es  möglich  gemacht,  dals  er 
in  dem  erwähnten  Abschnitt  —  1.  Auflage,  die  zweite  ist  viel 
Yorsichtiger  —  es  gar  nicht  merkt,  dafs  sich  ihm  unter  der 
Hand  die  Dinge  an  sich  immer  mehr  verflüchtigen.  In  der 
2.  Anflage,  wo  die  Existenz  dieser  Dinge  ihm  zum  Problem 
geworden  war,  hatte  er  für  sie  bereits  einen  Beweis  aus  der 
praktischen  Philosophie.  —  Ob  nun  Kant  das  Recht  hat  zu 
sagen:  die^Dinge  an  sich  sind,  trotzdem  er  behauptet,  dals  in 
der  Kategorie  der  Realität  bereits  ein  Zeitmoment  mitenthalten 
ist, 2)  scheint  mir  dahin  beantwortet  werden  zu  können,  dafs 
Kant  die  Kategorie  der  Realität  von  der  Existenz  unterscheidet 
Den  Ansatz  dafttr  erblicke  ich  in  dem  Satze:  .Die  Existenz 
ist  hier  noch  keine  Kategorie,  als  welche  nicht  auf  ein  un- 
bestimmt gegebenes  Objekt . . .  Beziehung  hat^  ^)  und  in  Wirk- 
lichkeit mufs  man  eine  zeitlose  Existenz  annehmen  dürfen, 
wenn  die  Zeit  nur  die  Form  unserer  Anschauung  ist.<) 

Der  Idealismus  Kants  ist  also  auch  in  der  Analytik  be- 
treffs der  Existenz  der  Dinge  an  sich  nicht  weiter  gegangen. 
Die  Analytik  hatte  nur  die  Aufgabe  die  positive  und  negative 
Grenze  unserer  Erkenntnis  festzustellen,  brauchte  aber  dabei 
die  Existenz  der  Dinge  nicht  anzutasten.  Daher  konnte  Kant 
an  Beck  schreiben,  dafs  er  seinen  , kritischen  Idealismus" 
besser  das  Prinzip  der  Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit 
nennen  könnte*,^)  denn  mit  der  konsequenten  Durchführung 
dieses  Prinzips  erschöpft  sich  in  der  Tat  der  ganze  kritische 
Idealismus. 


»)  Prolegomena  WW.  IV,  293. 

»)  Vgl.  Kr.  S.  800. 

»)  Kr.  422  Anm. 

*)  Zu  den  Yom  kritischen  Standpunkt  oicbt  beanstandeten,  weil  nur 
negativen  Sätzen  gebort  auch  das  Urteil:  Die  Dauer  der  Dinge  an  sich 
ist  keine  Zeit.    Man  sehe  Kr.  149. 

')  Brief  an  Beck  vom  4.  Dezember  1792.  Man  vgl.  ancb  Riehl  a.  a.  0. 1, 
2.  Aufl.  409. 


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Kants  Beweise  für  die  Existenz  der  Dinge 
an  sich. 


Es  fragt  sieh  nun,  ob  man  nicht  noch  weitergehen  and 
sogar  Beweise  Kants  fbr  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  an- 
führen könne?  Es  mufs  nnn  folgendes  gesagt  werden.  Obwohl 
Kant  niemals,  also  anch  nicht  in  der  2.  Auf  läge  die  Vorans- 
setzQDg  wirkender  Dinge  an  sich  aufgegeben  hat,  hat  er  doch 
nirgends  —  wenigstens  nicht  spekulativ  —  diese  Existenz 
beweisen  wollen.  Der  einzige,  wirklich  Yorhandene  Beweis  ist 
in  einer  Nebenbemerkung  enthalten,  die  sich  mehr  gegen  einen 
Idealisten,  als  gegen  den  dogmatischen  Rationalisten  richtet, 
nämlich  gegen  einen  Dogmatiker,  der  annimmt,  dafs  es  Koumena 
gibt,  die  der  pure  Verstand  erkennen  müfste.  Ich  meine  die  in 
der  1.  Auflage  yorhandene  Ableitung  des  Dinges  an  sich  aus 
dem  Begriffe  der  Erscheinung.  Kant  sagt  dort:  „es  folgt  auch 
natürlicherweise  aus  dem  Begriffe  einer  Erscheinung  Überhaupt, 
dab  ihr  etwas  entsprechen  müsse,  was  an  sich  nicht  Er- 
scheinung ist,  weil  Erscheinung  nichts  fUr  sich  selbst  und  aufser 
unserer  Vorstellungsart  sein  kann,  mithin,  wo  nicht  ein  be- 
ständiger Zirkel  herauskommen  soll,  das  Wort  Erscheinung 
schon  eine  Beziehung  auf  etwas  anzeigt,  dessen  unmittelbare 
Vorstellung  zwar  sinnlich  ist,  was  aber  an  sich  selbst  auch 
ohne  diese  Beschaffenheit  unserer  Sinnlichkeit  . . .  etwas  d.  i. 
ein  Yon  der  Sinnlichkeit  unabhängiger  Gegenstand  sein  mufs.^  ^) 
Diese  Deduktion  kann  man  nun  entweder  als  strikten,  mit 
dem  Resultat  der  Ästhetik  gegebenen  Beweis  betrachten,  oder 
aber  auch  als  einen  naiven  Beweis  ansehen,  der  aus  der  von 


^)  Kr.  A  251.    Von  der  ähnlichen  Bemerkung  in  der  2.  Vorr.  sehe 
ich  zonXchst  noch  ab. 


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12 

Kant  ohne  Bedenken  gemachten  Annahme  der  Dinge  an  sich 
herfiiefst.  Beides  ist,  wie  mir  seheint,  in  gewissem  Sinne  richtig. 
Ans  dem  Begriffe  der  Erscheinung,  i)  wie  ihn  Kant  in  der 
transscendentalen  Ästhetik  festgestellt  hat,  geht  wirklich  hervor, 
dafs  es  Dinge  an  sich  gibt  Alles  Besondere  in  der  An- 
sehanung  was  sich  nicht  auf  die  Anschaanngsformen  ziirttck- 
fllhren  läfst,  muljs  in  einem  von  nns  unabhängigen  Dinge  be- 
gründet sein.  Aach  die  Tatsache,  dafs  Kant  noch  im  Jahre  1792 
dem  Schnlzeschen  Einwarf  dasselbe  Argument  entgegenhalten 
konnte,^)  spricht  dafttr,  dafs  er  dies  als  Beweis  betrachtet 
Ebenso  spricht  hierfür  eine  Äufserung  Kants  in  den  Losen 
lilättern:  „Noumenon  bedeutet  eigentlich  allerwärts  einerlei, 
nämlich  das  transscendentale  Objekt  der  sinnlichen  Anschauung. 
Dieses  ist  aber  kein  reales  oder  gegebenes  Ding,  sondern  ein 
Begriff,  auf  den  in  Beziehung  Erscheinungen  Einheit  haben. 
Denn  dieser  mufs  doch  irgend  etwas  korrespondieren, 
ob  wir  gleich  nichts  anderes  als  die  Erscheinung  des- 
selben kennen.'' ') 

Andererseits  jedoch  mufs  dieser  Beweis  als  ungenügend 
angesehen  werden,  wenn  man  ihn  vom  Standpunkte  des  Gegners 
aus  betrachtet  Denn  es  müfsten  die  Prämissen  der  transsoen- 
dentalen  Ästhetik  zugegeben  werden,  und  das  braucht  der 
Gegner  eben  nicht  zu  tun,  wenn  er  Idealist  ist  Die  Lehre 
der  transscendentalen  Ästhetik  kann  nur  für  denjenigen  zwingend 
sein,  der  Kaum  und  Zeit  fUr  Sachen  an  sich  hält;  denn  dem 
kann  gezeigt  werden,  dafs  er  sich  mit  einer  derartigen  Ansicht 
in  unlösbare  Widersprüche  verwickelt    Wenn  jemand  hingegen 


1)  Kant  spricht  in  den  Prolegomens  WW.  IV,  877,  Zeile  29  von 
seinem  Begriffe  der  Erscheinungen,  indem  er  sich  auf  das  Besnltat  der 
transscendentalen  Ästhetik  bezieht. 

*)  Man  vgl.  den  oben  erwähnten  Brief  an  Beck. 

*)  Lose  Blätter  S.  162.  Dieser  Satz  ist  noch  in  anderer  Beaiehnng 
Yon  Wichtigkeit  Kant  nennt  hier  das  transscendentaie  Objekt  nur  einen 
Begriff  and  im  selben  Atemzug  lehrt  er,  dals  der  Erscheinung  etwas  kor- 
respondieren müsse.  Es  geht  daraus  hervor,  wie  verfehlt  es  ist,  aus  der 
Tatsache ,  dafs  Kant  das  Ding  an  sich  lediglich  als  Begriff  gelten  lassen 
will,  zu  folgern,  dafs  er  damit  zugleich  dieses  als  Realität  leugnet.  Mit 
unseren  Erkenntnismitteln,  meint  Kant,  können  wir  von  einem  Dinge  über- 
haupt nur  einen  Begriff  haben,  dieses  hürt  aber  deshalb  nicht  auf  als  Objekt 
zu  existieren. 


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13 

neben  Baum  nnd  Zeit  auch  den  gesamten  gpeziellen  Gehalt 
der  Anschannng  fttr  blofse  Vorstellung  hält,  welcher  nichts 
zu  Grunde  liegt,  der  kann  trotz  dieses  Idealismus  den  Schwierig- 
keiten der  beiden  ersten  Antinomien  aus  dem  Wege  gehen. 
Der  Idealist  könnte  behaupten,  a  priori  sei  zwar  nur  Raum 
und  Zeit,  er  leite  mit  Kant  aus  dieser  Beschaffenheit  der  An« 
sehauungsformen  die  Möglichkeit  der  Geometrie  als  Wissenschaft 
ab,  ja  er  könne  selbst  die  ganze  Erkenntnistheorie  Kants  an- 
erkennen und  brauche  doch  nicht  anzunehmen,  dafs  den  Er- 
scheinungen etwas  aufser  uns  zu  Grunde  liege,  sondern  es 
könnte  sein,  dafs  eine  Kraft  in  uns  dies  alles  produziere.  Denn 
die  Aposteriorität  der  Erscheinungen  schliefst  ihre  Subjektivität 
nicht  aus.  Das  Apriori  ist  kein  notwendiges  Merkmal  des 
Subjektiven.  —  Der  Begriff  Erscheinung  würde  aber  deshalb 
nicht  genügen,  um  ans  ihm  etwas  abzuleiten,  denn  Erscheinung 
wäre  dann  des  Letzte,  was  überhaupt  vorhanden  ist  und  müfste 
mithin  anders  heifsen.  Es  scheint  deshalb,  dafs  Kant  diesen 
Beweis  nur  führen  konnte,  so  lange  ihm  die  Existenz  der  Dinge 
an  sieh  noch  nicht  Problem  geworden  war.  Dann  müfste  man 
die  Äufserung  im  erwähnten  Briefe  an  Beck  dahin  deuten, 
dals  damit  nicht  Ding  an  sich,  sondern  Erscheinung  gemeint 
sei.  Dafür  spricht  auch  die  Tatsache,  dafs  Kant  in  der  2.  Auf- 
lage in  dem  Abschnitt  über  Phänomena  und  Noumene  dieses 
Argument  weggelassen  hat,  und  vor  allem,  dafs  er  es  bei  den 
späteren  Widerlegungen  gar  nicht  benutzt  Wie  dem  aber  sein 
mag,  aua  diesem  Beweise  geht  hervor,  dafs  Kant  die  Existenz 
der  Dinge  an  sich  gelehrt  hat  und  dafs  man  keineswegs  be- 
rechtigt ist,  diesen  Beweis  als  „Gerede^  hinzustellen. 

Aufser  dem  oben  erwähnten  Beweise  gibt  es  für  die 
Existenz  der  Dinge  an  sich  keinen  anderen  in  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  und  in  den  Prolegomena.  Es  gibt  entweder 
Widerlegungen  des  Idealismus,  die  sich  aber  nicht  auf  die 
Dinge  an  sich  beziehen,  oder  aber  es  gibt  Protestationen  und 
Versicherungen  Kants,  dafs  er  die  Dinge  an  sich  nicht  leugne, 
sondern  sie  annehme,  aber  keine  weiteren  Beweise.  Wir  wollen 
diese  Behauptung  dureh  eine  Übersicht  der  hierftür  in  betracht 
kommenden  Stellen  bestätigen. 

Im  vierten  Paralogismus  wird  bekanntlich  der  empirische, 
von  Kant  so  genannte  skeptische  Idealismus  Descartes'  widerlegt 


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14 

Deseartes  hatte  nach  Kants  DarstelluDg  gelehrt,  dalls  wir 
unmittelbar  nur  das  Ich  als  denkendes  Wesen  wahrnehmen 
können.  Die  äufseren  Dinge  können  wir  eigentlich  gar  nicht 
wahrnehmen,  sondern  müssen  ans  unserer  inneren  Wahrnehmung 
auf  ihr  Dasein  schliefsen.  Nun  ist  aber  der  Schlnfs  von  einer 
gegebenen  Wirkung  auf  eine  bestimmte  Ursache  jederzeit  un- 
sicher, demnach  bleibt  es  zumindest  nicht  ausgemacht,  ob  die 
äufseren  Wahrnehmungen  nicht  ein  blofses  Spiel  unseres  inneren 
Sinnes  seien.  Will  man  trotzdem  die  äufseren  Wahrnehmungen 
als  Wirkungen  wirklich  vorhandener  äufserer  Dinge  ansehen, 
so  mufs  man  wenigstens  eingestehen,  dafs  das  Dasein  der 
letzten  nur  geschlossen  und  nicht  so  unmittelbar  wahrgenommen 
werden  könne,  wie  der  Gegenstand  des  inneren  Sinnes:  das  Ich. 

Diesen  Bedenken  gegenüber  zeigt  Kant,  dafs  die  von  Des- 
eartes gemachte  Unterscheidung  von  inneren  und  äulBeren 
Wahrnehmungen  eine  falsche  ist.  Wer  nur  die  räumliche  — 
und  nicht  eine  transscendente  —  Aufsenwelt  wahrnehmen  will, 
braucht  ebensowenig  wie  bei  den  inneren  Wahrnehmungen  der 
Lust  oder  des  Schmerzes  aus  sich  herauszugehen,  denn  räum- 
lich ist  nicht  im  strikten  Sinne  aufser  uns.  Der  Baum  mit 
alledem,  was  ihn  ausfüllt,  ist  keine  Sache  an  sich,  sondern 
eine  Anschauungsform  in  uns,  die  abgetrennt  von  unserer 
Sinnlichkeit  nichts  ist.  Wenn  wir  demnach  äufsere  Dinge 
wahrnehmen,  so  sind  dies  tatsächlich  innere  Wahrnehmungen, 
nur  werden  sie  vermöge  der  Beschaffenheit  unserer  Anschauungs- 
form nach  aufsen  verlegt.  Beide  Arten  von  Wahrnehmungen: 
sowohl  d'ie  inneren,  die  nur  zeitlich  verlaufen,  als  auch  die- 
jenigen inneren,  die  in  einem  räumlichen  Nebeneinander  nach 
aufsen  verlegt  werden,  sind  also  blofs  Erscheinungen,  die  an 
sich,  losgelöst  von  unserer  Vorstellungsart,  gar  nicht  in  dieser 
Qualität  existieren.  So  unmittelbar  ich  auf  Grund  der  inneren 
Wahrnehmung  sage:  ich  bin,  eben  so  unmittelbar,  sage  ich  die 
äufseren  Vorstellungen,  d.  i.  die  Dinge  im  Baume  sind.  „Also 
existieren  ebensowohl  äufsere  Dinge,  als  ich  selbst  existiere, 
und  zwar  beide  auf  das  unmittelbare  Zeugnis  meines  Selbst- 
bewufstseins.*  0 


0  Kr.  A  370  f. 


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15 

Wenn  wir  änfsere  Gegenstände  für  Dinge  an  sieh  gelten 
lassen,  so  ist  sehlecbterdings  nnmöglieh  zu  begreifen,  wie  wir 
znr  Erkenntnis  ihrer  Wirklichkeit  aniser  nns  kommen  sollten, 
indem  wir  uns  blofs  auf  die  Vorstellnng  stützen,  die  in  ans 
ist  Wenn  z.  B.  der  Banm,  der  dranJben  steht,  selbst  ein  räum- 
liches von  mir  anabhängiges  Ding  wäre,  ich  aber  natargemäfs 
nar  eine  Vorstellung  des  Baumes  haben  kann,  so  mttfste  ich 
von  dieser  Vorstellung  auf  das  Dasein  des  Baumes,  als  auf  den 
Gregenstand  meiner  Vorstellung  schliefsen.  Sein  Dasein  wäre 
aber  dann  zweifelhaft.  Nun  sage  ich  aber,  nur  meine  Vorstel- 
lung des  räumlichen  Baumes,  die  Erscheinung,  ist  wirklich,  er 
selbst  existiert  als  solcher,  nämlich  als  räumliches  Ding,  nur 
in  meiner  Vorstellung.  So  ist  seine  Wirklichkeit  festgestellt, 
ohne  dafs  ich  irgend  einen  Schlufs  zu  machen  brauche,  denn 
er  ist  .lediglich  als  ein  Gedanke  in  nns,  wiewohl  dieser  Ge- 
danke durch  genannten  Sinn  es  als  aufser  uns  befindlieh  yor- 
stellt«.!) 

Dafs  diese  Vorstellung  des  Baumes  durch  einen  transscen- 
dentalen  Gegenstand  hervorgerufen  worden  ist,  ist  die  immer- 
währende Voraussetzung  Kants,  «von  ihm  aber  ist  auch  nicht 
die  Rede',2)  denn  seine  Wirklichkeit  zu  beweisen  ist  theoretisch 
unmöglich,  und  es  «kann  der  strengste  Idealist  nicht  verlangen, 
man  solle  beweisen,  dafs  unserer  Wahrnehmung  der  Gtogen- 
stand  aufser  uns  (in  strikter  Bedeutung)  entspreche,^')  ebenso 
wie  es  unmöglich  ist,  das  Dasein  der  empirischen  Dinge  zu 
beweisen,  wenn  man  sie  als  an  sich  seiend  ansieht.  <) 

Die  angefahrten  Stellen  beweisen  also  zur  Genüge^  dais 
hier  von  einem  Beweise  ftir  das  Dasein  der  Dinge  an  sich 
nieht  die  Rede  sein  kann.  Es  wird  vielmehr  ausdrücklich 
betont,  dafs  ein  solcher  unmöglich  ist  Noch  deutlicher  geht 
dies  aus  einer  hierher  gehörigen  Reflexion  hervor:  «Die  Frage 
ob  die  Körper  aufser  mir  etwas  wirkliches  sind,  wird  so  be- 
antwortet: Körper  sind  aufser  meiner  Sinnlichkeit  keine  Körper 
(Pbänomena)  und  also  sind  sie  nur  in  der  Vorstellungskraft 
empfindender   Wesen.     Ob    diesen   ihren  Erscheinungen 

>)  Kr.  A  385. 
*)  Ebenda  373. 
')  Ebenda  375  f. 
*)  Ebenda  372. 


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16 

etwas  aufser  mir  korrespoDdiert,  ist  eine  Frage  Ton 
der  Ursache  dieser  ErscheiDung  und  nicht  von  der 
Existenz  dessen,  was  erscheint,  selbst.'' i)  „Die  Wirk« 
lichkeit  der  Körper  ist  nicht  die  Wirklichkeit  der  Dinge,  son- 
dern der  Erscheinungen.* ')  Trotzdem  wird  die  hier  abgewiesene 
Frage  nach  der  Existenz  der  Ursache  der  Erscheinungen  in 
demselben  Znsammenhange  bejaht,  denn  in  der  nächsten  Re* 
flexion  heifst  es:  „Der  Idealist  behanptet,  die  Körper  seien 
nur  Schein:  der  Realist,  sie  sind  eine  Erscheinung,  dem  doch 
eine  besondere  Art  Substanzen  wirklich  korrespon- 
diert*') Unter  dieser  „besonderen  Art  von  Substanzen* 
können  nur  Dinge  an  sich  gemeint  sein,  weil  sie  der  Erschei- 
nung und  nicht  etwa  der  Vorstellung  entgegengestellt  werden. 
Daraus  geht  aber  hervor,  dafs,  obwohl  Kant  hier  schon  gesehen 
hat,  dafs  kein  Beweis  für  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  zn 
erbringen  ist,  diese  Existenz  ihm  trotzdem  noch  nicht  zum 
Problem  geworden  war,  denn  sonst  hätte  er  erklären  müssen,  mit 
welchem  Recht  er  an  dieser  Existenz,  trotz  ihrer  Unbeweisbar- 
keit,  festhält.  Dieser  Umstand  macht  es  verständlich,  dafs  die 
ersten  Leser  der  Erörterungen  im  vierten  Paralogismus  in  diesem 
die  Neubelebung  eines  Berkeleyschen  Idealismus  erblicken 
konnten;  hier  kommt  zwar  nichts  vor,  was  nicht  bereits  in  der 
transscendentalen  Ästhetik  in  bezng  auf  die  Realität  der  Er- 
scheinung gesagt  worden  ist,  jedoch  fehlt  die  Betonung  der 
Existenz  der  Dinge  an  sich,  weil  diese  hier  gar  nicht  in 
Frage  kam. 

In  den  Prolegomena  werden  wir  umsonst  einen  Beweis 
für  das  Dasein  der  Dinge  an  sich  suchen.  Hingegen  protestiert 
hier  Kant  mit  voller  Schärfe  wider  die  Zumutung  eines  em- 
pirischen Idealismus,  indem  er  immer  wieder  hervorhebt,  dafs 
ihn  von  allen  Idealisten  das  unterscheide,  dafs  er  den  Dingen 
an  sich  ihr  Dasein  läfst  und  nur  den  Erscheinungen  dieser 
Dinge  an  sich  ein  von  ihnen  unabhängiges  Sein  abspricht. 
Der  Idealismus,  gegen  den  hier  Front  gemacht  wird,  ist  nicht 
mehr  der  skeptische  des  Descartes,  sondern  der  dogmatische 


0  Reflexion  Nr.  1191. 
*)  Reflexion  Nr.  1193. 
*)  Daselbst. 


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17 

Berkeleys.  Dieser  .Idealisrnns  besteht  in  der  Behauptang,  dafs 
es  keine  anderen  als  denkende  Wesen  gebe,  die  übrigen  Dinge, 
die  wir  in  der  Anschauung  wahrznnehmen  glauben,  wären  nur 
Vorstellungen  in  den  denkenden  Wesen,  denen  in  der  Tat  kein 
aufserhalb  dieser  befindlicher  Gegenstand  korrespondiert  Ich 
dagegen  sage:  es  sind  uns  Dinge  als  aufser  uns  befindliche 
Gegenstände  unserer  Sinne  gegeben,  allein  von  dem,  was  sie 
an  sich  selbst  sein  mögen,  wissen  wir  nichts,  sondern  kennen 
nur  ihre  Erscheinungen,  d.i.  die  Vorstellungen,  die  sie  in  uns 
wirken,  indem  sie  unsere  Sinne  affizieren.  Demnach  gestehe 
ich  allerdings,  dafs  es  aufser  uns  Körper  gebe  d.i.  Dinge,  die 
obzwar  nach  dem,  was  sie  an  sich  selbst  sein  mögen,  uns 
gänzlich  unbekannt,  wir  durch  die  Vorstellungen  kennen,  welche 
ihr  Einflufs  auf  unsere  Sinnlichkeit  uns  verschafft,  und  denen 
wir  die  Benennung  eines  Körpers  geben,  welches  Wort  also 
blofs  die  Erscheinung  jenes  uns  unbekannten,  aber 
nichtsdestoweniger  wirklichen  Gegenstandes  bedeutet. 
Kann  man  dies  wohl  Idealismus  nennen? '^O 

Wir  sehen  also,  mit  welcher  Entschiedenheit  Kant  hier  die 
Existenz  der  Dinge  an  sich  behauptet.  Jedoch  gibt  er  auch 
hier  keinen  Beweis,  weil  dieser  noch  nicht  nötig  geworden  ist 
Das  Dasein  der  Dinge  an  sich  ist  hier  erst  zum  „spezifischen 
Merkmal^  des  Kantischen  Idealismus  geworden,  jedoch  zum 
Probleni  hat  es  sich  noch  nicht  ausgebildet  >)  Diese  Fortbildung 
erblicke  ich  nicht  in  der  berühmten  Widerlegung  des  Idealismus 
in  der  2.  Auflage,')  sondern  in  einer  Bemerkung  in  der  Vor- 
rede, die  wahrscheinlich  nach  Abschlufs  der  zweiten  Redaktion 
geschrieben  wurde. ^)    Da  heiüst  es:  „gleichwohl  wird,  welches 


>)  Prolegomena  WW.  IV,  288  f.  In  der  Tat,  es  ist  unverständlich, 
wie  diese  und  ähnliche  so  deutliche  Stellen  mifsverstanden  werden  können, 
80  dals  das  Ding  an  sich  aus  der  Kritik  eliminiert  wird.  Aber  nicht 
minder  erstaunlich  ist  es,  dals  manche  Ausleger  Kants,  die  das  Ding  an 
»ich  sonst  gelten  lassen,  hier  in  den  Proiegomena  alle  Äufserungen  über 
die  Wirklichkeit  auf  die  Erscheinung  und  nicht  auf  die  Dinge  an  sich 
beziehen  wollen,  allerdings,  wie  von  ihnen  selbst  zugestanden  wird,  nicht 
ohoe  „heroische**  Interpretationskünste.  So  Busse,  Zu  Kants  Lehre  vom 
Ding  an  sich.   Fichtes  Zeitschrift  Bd.  102  b. 

*)  Erdmann,  Kants  Kritizismus  S.  94. 

')  Man  vgl.  dagegen  Erdmann,  ebenda  201.  [ausgäbe  III,  558. 

*)  Man  vgl  Erdmann,  Einleitung  zur  Kritik  d.  r.  Y.  in  der  Akademie- 

PbaowphiMlie  Abhaadlnngtii.    XLl.  2 


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18 

wohl  gemerkt  werden  mnfs,  doeh  dabei  immer  Yorbehalteo,  dafs 
wir  eben  dieselben  Gegenstände  aueh  als  Dinge  an  sieh  selbst 
wenngleich  nicht  erkennen,  doch  wenigstens  mttssen  denken 
können.  Denn  sonst  wttrde  der  ungereimte  Satz  daraus  folgen, 
dafs  Erscheinung  ohne  etwas  wäre,  was  da  erscheint.^  ^)  Diese 
Äufserung  hat  viel  Ähnlichkeit  mit  der  oben  zitierten  Deduktion 
aus  dem  Begriffe  Erscheinung  in  der  1.  Auflage.  Sie  ist  in- 
dessen viel  vorsichtiger  gehalten.  Es  wird  nicht  mehr  gesagt, 
dafs  die  Lehre  von  der  Erscheinung  zugleich  die  Lehre  von 
Dingen  an  sich  bedeute;  dafs  den  Erscheinungen  etwas  korre- 
spondieren mttsse,  was  von  der  Sinnlichkeit  unabhängig  ist, 
sondern  nur,  dafs  wir  einen  solchen  Gegenstand  müssen  denken 
können.  Von  überaus  wichtiger  Bedeutung  ist  aber  die  An- 
merkung zu  obigem  Satze:  „Einen  Gegenstand  erkennen  dazu 
wird  erfordert,  dafs  ich  seine  Möglichkeit  . . .  beweisen  könne. 
Aber  denken  kann  ich,  was  ich  will,  wenn  ich  mich  nur  nicht 
selbst  widerspreche,  d.  i.  wenn  mein  Begriff  nur  ein  möglicher 
Gedanke  ist,  ob  ich  zwar  daftir  nicht  stehen  kann,  ob  im  In- 
begriffe aller  Möglichkeiten  diesem  auch  ein  Objekt  korre- 
spondiere oder  nicht.  Um  einem  solchen  Begriffe  aber  objektive 
Gültigkeit  (reale  Möglichkeit,  denn  die  erstere  war  blofs  die 
logische)  beizulegen,  dazu  wird  etwas  mehr  erfordert  Dieses 
Mehrere  aber  braucht  eben  nicht  in  theoretischen  Er- 
kenntnisquellen gesucht  zu  werden,  es  kann  auch  in 
praktischen  liegen.'^ 2)  Hier  sehen  wir  das  Problem  gänzlich 
entwickelt  Das  was  in  der  ersten  Auflage  nur  noch  vom 
Noumenon  in  positiver  Bedeutung  gesagt  werden  konnte,  nämlich 
dafs  die  logische  Möglichkeit  eines  Begriffes  noch  nicht  die 
reale  bedeutet,  das  wird  hier  direkt  auf  das  Ding  an  sich  aus- 
gedehnt; aber  es  wird  gleichzeitig  gezeigt,  mit  welchem  Recht 
man  an  diesen  Dingen  festhält,  ja  festhalten  muis.  Gleich 
eingangs  wird  in  dieser  Anmerkung  indirekt  gezeigt,  dafs  von 
einem  theoretischen  Beweise  für  die  Existenz  der  Dinge  an 
sich  nicht  die  Rede  sein  kann;  denn  das  wttrde  ein  Erkennen 
voraussetzen,  was  hier  ausgeschlossen  ist  Dann  wird  kon- 
statiert, dafs  wir  nur  einen  Begriff  von  ihnen  haben,  der  die 


»)  Vorrede  2,  XXVI. 
*)  Ebenda  Anm. 


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19 

reale  MOgliehkeit  nicht  einschliefst;  dafs  wir  aber  trotzdem 
TOD  ihnen  aussagen  dürfen,  dafs  sie  sind,  weil  ans  der  prak- 
tischen Vernunft  ein  Beweis  fttr  ihr  Dasein  zu  erbringen  ist 

Dieser  Hinweis  auf  das  Praktische,  das  beim  Ding  an  sich 
vertreten  soll,  was  in  der  Empirie  die  Anschauung  leistet  — 
denn  sie  ist  es,  die  einem  Begriffe  reale  Möglichkeit  verschafft 
—  ist  jetzt  notwendig  geworden.  Denn  das  Dasein  der  Dinge 
an  sich,  die  früher  harmlos  vorausgesetzt  wurden,  hat  sich  in- 
folge der  Kritik,  die  Kants  Werk  erfahren  hat,  zum  Problem 
ausgebildet.  Und  als  sich  herausstellte,  dafs  die  theoretischen 
Erkenntnismittel  nicht  ansreichen,  um  dieses  Dasein  zu  be- 
gründen, griff  Kant  zur  praktischen  Philosophie.  Da  zeigte 
sieh,  wie  notwendig  jene  Vorraussetzung  war,  obwohl  man 
diese  Folgen  damals  noch  nicht  übersehen  konnte.  Es  wurde 
nämlich  klar,  dafs  mit  dem  Fallen  der  Dinge  an  sich  der  Be- 
griff der  Freiheit  fallen  müfste.^) 

Von  hier  ans  läfst  sich,  wie  ich  glaube,  die  ganze  Schwierig- 
keit, die  die  Stellung  des  Dinges  an  sich  im  Kantischen  System 
bereitet,  auflösen.  Die  transscendentale  Ästhetik,  die  in  ihren 
HaaptzUgen  bereits  im  Jahre  1770  fertig  war,  hatte  die  Dinge 
an  sich  vorausgesetzt  Die  transscendentale  Analytik  zieht 
ihre  kritische  Konsequenz  so  weit,  dafs,  wo  Anschauung  fehlt, 
nicht  nur  keine  Erkenntnis  möglich  ist,  sondern,  dafs  man  von 
einem  derartigen  ttbersinnlichen  Dinge  nicht  einmal  aussagen 
darf,  dafs  es  ist  Sie  bezieht  dies  jedoch  nur  auf  Noumena  in 
positiver  Bedeutang,  weil  sie  vor  allem  gegen  dogmatische 
Rationalisten  zu  kämpfen  hat  Hierbei  übersieht  Kant  freilich, 
dafs  dasselbe,  was  sich  über  das  Noumenon  in  positiver  Be- 
deutung sagen  läfst,  nicht  minder  von  demjenigen  in  negativer 
Bedeutung  gilt,  und  übersieht  dies  deshalb,  weil  die  Dinge  an 
sieh  fttr  ihn  etwas  so  Selbstverständliches  waren,  dafs  an 
ihnen  zu  zweifeln  ihm  nicht  in  den  Sinn  gekommen  ist  Infolge 
der  Kritik  seitens  seiner  Gegner  wird  Kant  anf  das  Problem 
aufmerksam.  Jetzt  gibt  er  zu,  dafs  theoretisch  das  Ding  an 
sieh  nicht  zu  rechtfertigen  sei,  deutet  aber  an,  es  seien  prak- 
tische Gründe  vorhanden,  die  anznnehmen  zwingen,  dafs  dem 
Sinnlichen  ein  Übersinnliches  zugrunde  liege.  Die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  ftlhrt  dies  nachher  weiter  aus. 

")  Man  vgl.  S.  6  dieser  Schrift  ^^ 

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20 

E8  bleibt  noch  nachzuweisen,  dafs  die  Widerlegung  des 
Idealismus  in  der  2.  Auflage  nicht  die  Existenz  der  Dinge  an 
sich,  sondern  dafs  sie  genau  wie  diejenige  im  4.  Paralogismns 
die  Wirklichkeit  der  Erscheinung  beweisen  will.  Diese  Wider- 
legung gehört  bekanntlich  zu  den  umstrittensten  Stellen  in  der 
Kantischen  Kritik,  weil  sie  anscheinend  gerade  das  Gegenteil 
von  dem  behauptet,  was  die  1.  Auflage  in  dieser  Beziehung 
gelehrt  hat.  Die  ganze  Verwirrung  scheint  aber  durch  eine 
einzige  unglückliche  Wendung  in  diesem  Beweise  verursacht 
worden  zu  sein.  Und  als  ob  das  Schicksal  diese,  durch  Kants 
unvorsichtige  Ausdrucksweise  verschuldete  Verwirrung  wieder 
gut  machen  wollte,  besitzen  wir  jetzt  gerade  zu  dieser  Stelle 
die  reichsten  Kommentare,  wie  man  sie  sich  nicht  besser 
wünschen  kann,  in  den  Reickeschen  Losen  Blättern  und  zum 
Teil  in  den  Erdmannschen  Reflexionen.  Durch  das  Vorhanden- 
sein dieser  Ergänzungen  sehen  wir,  dafs  hier  in  der  Tat  nicht 
nur  keine  Abweichung  von  der  bisherigen  Lehre  vorhanden 
ist,  sondern  dafs  unser  Beweis  vielmehr  eine  Vertiefung  des- 
jenigen aus  dem  4.  Paralogismns  bedeutet. 

Es  soll  das  Dasein  der  Dinge  im  Räume  bewiesen  werden. 
Ist  denn  dies  nicht  bereits  bewiesen  ?  Warum  genügt  die  aus- 
führliche Widerlegung  des  Gartesianischen  Idealismus  der 
1.  Auflage  nicht  mehr;  warum  muls  sie  durch  eine  neue  die 
„einzig  mögliche'^  ersetzt  werden?  Einige  Aufzeichnungen  bei 
Reicke  geben  darüber  Aufschlufs.  Die  Widerlegung  des 
Idealismus,  die  Beweisart  der  Existenz  der  Dinge  .kann  nie- 
mals durch  innere  Wahrnehmung  ausgemacht  werden  und  den 
schärfsten  inneren  Sinn,  weil  man  das  unwillkürliche  Spiel  der 
Imagination  in  sich  nicht  vom  Sinn  unterscheiden  kann.^^ 
Ferner:  «Wir  kOnnen  den  Sinn  als  von  der  Einbildungskraft 
unterschiedenes  Vermögen  zwar  nicht  durch  Empfindung  alleiu, 
aber  durch  einen  sicheren  Schlufs  unterscheiden.^  2)  Welches 
nun  dieser  Schlufs  ist,  erfahren  wir  wiederum  aus  einer  Auf- 
zeichnung, die  gegen  Eberhard  gerichtet  ist:  „Von  E.'s  Beweis 
gegen  den  Idealismus.  Es  ist  aus  der  inneren  Wahrnehmung 
schlechterdings  nicht  möglich  zu  beweisen,  dafs  der  Grund  der 


')  Lose  Blätter  229. 
>)  Ebenda  210. 


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21 

Vorstelliing  nicht  in  mir  war,  aber  wenn  ich  eage,  gesetzt,  er 
sei  alle  Haie  in  mir,  so  wäre  gar  keine  Zeitbestimmang  meines 
Daseins  . .  /^)  so  ist  dies  ein  sicherer  Schlafs.^)  In  der  alten 
Widerlegung  wurde  das  unmittelbare  Bewufstsein  vom  Dasein 
äniserer  Dinge  vorausgesetzt  und  gesagt:  «Also  existieren 
ebensowohl  äufsere  Dinge,  als  ich  selbst  existiere,  und  zwar 
beide  auf  das  unmittelbare  Zeugnis  meines  Selbstbewnfstseins.^  ^) 
Jetzt  genügt  dieses  Zeugnis  nicbt;  denn  das  Selbstbewufstsein 
wird  eben  in  Frage  gestellt.  Es  mufs  also  zuerst  bewiesen 
werden,  dais  wir  ein  Bewufstsein  von  Dingen  und  nicht  von 
Phantasmagorien  haben,  dafs  das  Bewufstsein  mehr  ist,  als  ein 
blofses  Spiel  unserer  Imagination.  „Der  verlangte  Beweis  mufs 
also  dartun,  dafs  wir  von  äufseren  Dingen  auch  Erfahrung, 
und  nicht  blofs  Einbildung  haben.^^)  [„Erfahrung  ist  Er- 
kenntnis der  Gegenstände,  die  den  Sinnen  gegenwärtig  sind, 
Einbildung  ist  Anschauung  auch  ohne  Gegenwart  des  Gegen- 
standes, und  das  Objekt  heifst  alsdann  ein  Phantasma.^  ^)] 
Dies  wird  auch  geleistet.  Unser  eigenes  Dasein  ist  in  der  Zeit 
bestimmt  Jede  Zeitbestimmung  setzt  etwas  Beharrliches  voraus. 
Das  ist  ein  Grundsatz.  Nun  kann  aber  «das  Dasein  eines 
Dinges  in  der  Zeit  . . .  nicht  durch  das  Verhältnis  seiner  Vor- 
stellungen in  der  Einbildungskraft  zu  anderen  Vorstellungen 
derselben,  sondern  als  eine  Vorstellung  des  Sinnes,  zu  dem, 
was  an  den  Gegenständen  desselben  beharrlich  ist,  bestimmt 
werden"^),  weil  die  Vorstellungen  der  Einbildungskraft^  als  blofs 
zum  inneren  Sinne  gehörig,  nur  in  der  Zeit  verlaufen,  denn 


>)  Ebenda  232. 

*)  In  den  einleitenden  Worten  zu  seiner  Widerlegung  sagt  Kant: 
„Einen  mächtigen  Einwurf  aber  wider  diese  Regeln,  das  Dasein  mittelbar 
zn  beweisen,  macht  der  Idealismus.''  Kr.  274.  Nun  hat  man  den  Ausdruck 
, mittelbar"  als  einen  Druckfehler  anstatt  unmittelbar  hinstellen  wollen. 
Aber  abgesehen  davon,  dafs  sowohl  der  Zusammenhang,  wie  der  Beweis 
selbst  dies  verbieten,  geht  aus  den  hier  angeführten  Stellen  ganz  deutlich 
hervor,  was  Kant  wollte;  er  ist  nämlich  bestrebt,  durch  einen  richtigen 
Schlnis,  also  mittelbar  die  Unmittelbarkeit  der  äufseren  Wahrnehmung 
zn  beweisen. 

')  Kr.  A370f. 

«)  Kr.  276. 

')  Lose  Blätter  101. 

•)  Ebenda  202. 


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22 

„was  bloUse  Vorstellung  ist,  kann  ich  nicht  znm  Objekt  des 
äufseren  Sinnes  machen,  denn  dessen  Form  ist  der  Baam",^) 
also  bietet  die  Einbildnngskraft  nichts  Bleibendes,  welches  aber 
fttr  jede  Zeitbestimmung  nnentbehrlich  ist  „Im  Ranme  allein 
setzen  wir  das  Beharrliehe,  in  der  Zeit  allein  ist  unaufhörlicher 
Wechsel."  2)  „Dieses  Beharrliche  ...  d.  i.  der  Baum  kann 
also  nicht  wiederum  Vorstellung  der  blofsen  Einbildungskraft, 
sondern  mufs  Vorstellung  des  Sinnes  sein."  3)  Daher  beweist 
jede  Zeitbestimmung,  dafs  es  etwas  Beharrliches  im  Baume 
und  nicht  in  der  Einbildungskraft  gibt  Wir  haben  es  also  in 
bezug  auf  die  äufseren  Erscheinungen  mit  Erfahrung  und  nicht 
mit  Erdichtung,  mit  Sinn  und  nicht  mit  Einbildung  zu  tun. 

Nun  wird  selbst  von  den  Idealisten  behauptet,  dafs  das 
Bewufstsein  unserer  selbst  ein  unmittelbares  ist  Dieses  ist 
aber,  wie  zugegeben  werden  mufs,  ein  in  der  Zeit  bestimmtes. 
Diese  Zeitbestimmung  wiederum  ist,  wie  gezeigt  worden,  nur 
unter  der  Voraussetzung  eines  Beharrliehen  im  Baume  möglich. 
„Also  mufs  ich,  so  gut  wie  ich  mir  meines  Daseins  in  der  Zeit 
bewufst  bin,  auch  des  Daseins  äufserer  Dinge  obzwar  nur 
als  Erscheinungen,  doch  als  wirklicher  Dinge  bewulst 
werden.  Den  inneren  Sinn  kann  keiner  allein  haben  und  zwar 
zum  Behuf e  der  Erkenntnis  seines  inneren  Zustandes.*^) 

So  yerlanfen  in  den  Losen  Blättern  die  Gedankengänge 
Kants.  Dafs  aber  auch  dieser  Beweis,  ebenso  wie  der  in  der 
1.  Auflage,  nur  die  Bealität  der  Erscheinung,  nicht  diejenige 
der  Dinge  an  sich  beweisen  will,  geht  mit  aller  Deutlichkeit  be- 
sonders aus  folgender  Bemerkung  hervor,  die  hinter  einem  dieser 
—  hier  vielfach  wiederholten  —  Beweise  sich  befindet  »Wenn 
unsere  Erkenntnis  der  äufseren  Objekte  eine  Erkenntnis  der- 
selben und  des  Baumes  als  Dinge  an  sich  selbst  sein  mttfste, 
so  würden  wir  aus  unserer  Sinnesvorstellung  derselben  als 
aufser  uns,  niemals  ihre  Wirklichkeit  beweisen  können. 
Denn  uns  sind  nur  Vorstellungen  gegeben,  die  Ursache  derselben 
[d.  h.  die  Dinge  an  sieh]  kann  nun  entweder  in  uns  oder 
aufser  uns  sein,  worüber  der  Sinn  nicht  entscheidet    Sind 


^)  Ebenda  104. 
s)  Ebenda  212. 
>)  Ebenda  204. 
«)  Ebenda  189. 


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28 

aber  die  Yoratellangen  des  inneren  Sinnes,  sowohl  als  die  des 
äofseren  blofs  Vorstellnngen  der  Dinge  in  der  Erscheinung  und 
ist  [andererseits]  selbst  die  Bestimmung  unseres  Bewufstseins 
ftir  den  inneren  Sinn  nur  durch  Vorstellung  auÜBer  uns  im 
Räume  möglich'  i) ...  so  (müfste  man  etwa  die  hier  abbrechende 
Stelle  ergänzen)  schliefse  ich  nicht  von  der  Wirkung  auf  eine 
bestimmte  Ursache,  denn  nur  die  Wirklichkeit  der  Wirkung 
wird  konstatiert,  weil  ohne  dieselbe  die  Bestimmung  meines 
Daseins  unmöglich  wäre.  D.  h.  es  gibt  einen  äufseren  Sinn  und 
nicht  nur  Einbildung. 2)  Es  ist  nicht  einzusehen,  wie  es  möglich 
ist,  aus  obigen  Prämissen  das  Gegenteil  des  von  uns  ergänzten 
Schlusses  zu  folgern,  was  doch  offenbar  gemacht  werden  mufs, 
wenn  man  in  diesen  Erörterungen  einen  Beweis  fbr  das  Dasein 
der  Dinge  an  sich  erblicken  will.  Denn  es  ist  unverständlich, 
wie  aus  der  Tatsache,  dafs  wir  es  lediglich  mit  Erscheinungen 
zu  tun  haben,  eher  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  abgeleitet 
werden  könnte,  als  wenn  wir  diese  so  erkennen  würden,  wie 
sie  sind. 

Wir  sehen  also,  Kant  betont  auch  hier,  genau  wie  in  der 
1.  Auflage'),  dafs  er  das  Dasein  der  Dinge  an  sich  nicht  be- 
weisen wolle,  weil  dies  immer  ein  unsicherer  Schlufs  von  der 
Wirkung  auf  die  bestimmte  Ursache  sein  müfste.  Die  Möglich- 
keit der  Bestimmung  unseres  Daseins  in  der  Zeit  zwingt  uns 
zu  der  Annahme,  dafs  die  äufseren  Wahrnehmungen  von  einem 
äufseren  Sinne  und  nicht  von  der  Einbildungskraft  herrühren, 
weil  die  Einbildungskraft  das  zu  diesem  Zwecke  notwendige 
Beharrliche  nicht  liefern  kann.  Woher  aber  der  Sinn  diese 
Wahrnehmungen  habe,  das  bleibt  nach  wie  vor  unbestimmt 


>)  Ebenda  204. 

*)  Man  vgl.  die  ganz  ähnliche  Erörterung  in  der  Er.  A  372  und  in 
den  Prolegomena  §  49  Schlufs,  wo  Analoges  von  der  Erscheinung  be- 
hauptet wird:  Sind  „Erscheinungen  etwas  aufser  uns  Existierendes,  so 
können  alle  Kriterien  der  Erfahrung  auiser  unserer  Wahrnehmung  niemals 
die  Wirklichkeit  dieser  Gegenstände  aufser  uns  beweisen.*'  Wenn  dies 
von  den  Erscheinungen  gilt,  so  gilt  es  doch  mindestens  in  gleichem 
Mifse  von  den  Dingen  an  sich,  die  doch  strikte  aufser  uns  sind.  Wie 
kann  man  demnach  annehmen,  dafs  Kant  jemals  die  Wirklichkeit  der 
Dinge  an  sich  vermittelst  der  .Kriterien  der  Erfahrung*  habe  beweisen 
wollen? 

*)  Kr.  A  375  f. 


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24 

Die  speknlatiye  Vernniift  kann  darttber  nichts  aussagen;  naeh 
ihr  kann  diese  Ursache  ein  Ding  an  sich  aufser  nns  sein,  sie 
kann  aber  auch  eine  Kraft  in  nns  sein,  die  dies  Alles  ans  sich 
heraus  produziert,  i) 

Nach  dem  Vorausgeschickten  können  wir  zur  Wider- 
legung des  Idealismus  selbst  zurückkehren,  die  wir  jetzt 
in  anderem  Lichte  sehen  werden.  Das  richtige  Prinzip,  nämlich 
der  Ausgang  von  der  Zeitbestimmung  war  ja  bereits  entdeckt; 
jedoch  hatten  hier  die  Gedanken  noch  nicht  ihren  klarsten 
Ausdruck  gefunden.  Der  springende  Punkt,  die  Unterscheidung 
von  Sinn  und  Einbildung,  wiewohl  in  der  Einleitung  zum  Be- 
weise ausdrücklich  betont,  wurde  nachher  nicht  deutlich  genug 
hervorgehoben,  und  dieser  Mangel  an  Klarheit  wird  es  wohl 
gewesen  sein,  der  Kant  genötigt  hat,  diese  Widerlegung  in  den 
Losen  Blättern  immer  wieder  vorzunehmen.*^)  Dort  ist  zwar 
im  Prinzip  nichts  Neues  hinzugekommen,  die  Gedanken  sind 
jedoch  immer  präziser  geworden,  so  dafs  nicht  mehr  gezweifelt 
werden  kann,  dafs  lediglich  die  Realität  der  äufseren  Er- 
scheinung und  ihre  Verschiedenheit  von  den  Ausgeburten  der 
Phantasie  bewiesen  werden  sollte.  Damit  sind  aber  auch  alle 
Schwierigkeiten,  die  in  unserem  Beweise  vorkamen,  beseitigt 

Unser  Beweis  lautet:  „Das  blofse,  aber  empirisch  bestimmte 
Bewufstsein  meines  eigenen  Daseins  beweist  das  Dasein  der 
Gegenstände  im  Raum  aufser  mir.  —  Beweis:  Ich  bin  mir 
meines  Daseins  als  in  der  Zeit  bestimmt  bewufsi  Alle  Zeit- 
bestimmung setzt  etwas  Beharrliches  in  der  Wahrnehmung 
voraus.  3)  Dieses  Beharrliche  aber  kann  nicht  eine  Anschauung 
in  mir  sein.  Denn  alle  Bestimmungsgründe  meines  Daseins, 
die  in  mir  angetroffen  werden  können,  sind  Vorstellungen,  und 
bedürfen    als    solche   selbst   ein   von    ihnen    unterschiedenes 


1)  Man  vgl.  oben  S.  22  Zeile  2  von  unten. 

«)  Man  sehe  L.Bl.  08—104  (speziell  101  f.),  189  f.,  200—205,  209—216, 
260—263.  Dafs  alle  diese  Erörterungen  nach  dem  Erscheinen  der  zweiten 
Auflage  der  Kritik,  also  nach  dem  Jahre  1787  aufgezeichnet  worden  sind, 
unterliegt  —  dem  Inhalte  nach  zu  urteilen  —  keinem  Zweifel.  Bei  einer 
dieser  Aufzeichnungen  (S.  200—205)  ist  dies  bezeugt:  sie  befindet  sich 
auf  einem  Briefe,  der  mit  dem  Datum:  «Königsberg  13.  Octobr.  1788*^ 
versehen  ist. 

»)  Kr.  275. 


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25 

Bebanliehes,  worauf  in  Beziehung  der  Wechsel  derselben  mithin 
mein  Dasein  in  der  Zeit,  darin  sie  wechseln,  bestimmt  werden 
könne.1)  Also  ist  die  Wahrnehmung  dieses  Beharrlichen  nur  durch 
ein  Ding  anfser  mir  und  nicht  dnrcb  die  blofse  Vorstellung 
eines  Dinges  anfser  mir  möglich.  Folglich  ist  die  Bestimmung 
meines  Daseins  in  der  Zeit  nur  durch  die  Existenz  wirklicher 
Dinge,  die  ich  aufser  mir  wahrnehme,  möglich.^ 2)  Dieser 
Beweis  enthält  nun  unleugbar  eine  zwiefache  Schwierigkeit. 
Es  soll  das  Dasein  der  Dinge  im  Räume  bewiesen  werden,  also 
der  Erscheinungen.  Nachher  wird  aber  gesagt,  dafs  das 
Beharrliche  nicht  durch  die  blofse  Vorstellung  (also  Erscheinung) 
eines  Dinges  möglich  wird,  sondern  durch  ein  Ding  aufser  uns, 
worunter  allem  Anscheine  nach  das  Ding  an  sich  gemeint  ist 
Dann  wird  aber  erstens  etwas  anderes  bewiesen,  als  soeben 
als  Absicht  hingestellt  war.  Und  was  wichtiger  ist,  Kant  zieht 
einen  Schlufs  von  der  Wirkung  auf  die  bestimmte  Ursache. 
Das  Beharrliche  kann  doch  wohl  auch  blofs  eine  beharrliche 
Vorstellung  sein,  deren  Grund  unbestimmt  bleibt  Nimmt  man 
dagegen  an,  was  viel  einfacher  ist,  dafs  unter  „Ding"  hier  nur 
die  Erscheinung  gemeint  sei,  so  steht  dieser  Satz  im  Widerspruch 
mit  der  so  oft  eingeschärften  Lehre  der  transscendentalen 
Ästhetik,  dafs  der  räumlichen  Aufsenwelt  keine  vom  Subjekte 
unabhängige  Existenz  zukomme,  was  doch  —  wie  es  scheint  — 
hier  gerade  behauptet  wird.  —  Es  ist  ersichtlich,  dafs,  welche 
Interpretation  man  auch  fllr  die  richtige  hält,  eine  Schwierigkeit 
zu  Tage  tritt,  die  nicht  leicht  wegdisputiert  werden  kann. 

Man  sah  sich  daher  gezwungen,  durch  verschiedene  Inter- 
pretationskünste diese  Schwierigkeit  zu  beseitigen.  Was  man 
aber  auch  unter  «Ding  aufser  mir"*  verstand  und  wie  man 
auch  dem  Widerspruche  auszuweichen  suchte  —  Kant  zog 
dabei  immer  den  kürzeren:  Verstand  man  unter  „Ding*'  das 
transscendentale  Objekt,  so  mufste  man  Kant  vorwerfen,  er 
begehe  einen  Fehlschufs,  nämlich  von  der  Wirkung  auf  die 
Ursache.  Denn  der  Grund  der  beharrlichen  Erscheinung  kann 
ebensowohl  im  transscendentalen  Subjekt,  als  anderswo  liegen.^} 


«)  Vorr.  2,  XXXIX  Ann. 

«)  Kr,  275. 

')  Erdmann,  Kaats  KritizismuB  203. 


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26 

Bezog  man  hingegen  „Ding''  auf  die  Erseheinnng,  so  war  es 
womöglich  noch  schlimmer.  Denn  man  glaubte  konstatieren 
zu  mttBsen,  dafs  der  Urheber  der  Unterscheidung  von  Ding  an 
sich  und  Erscheinung  selbst  diese  beiden  Begriffe  in  unheil- 
vollster Weise  verwirrt  habe.  Andere  wiederum  kamen  zu  der 
Überzeugung,  dafs  Kant  von  seiner  ursprünglichen  Lehre  der 
transscendentalen  Ästhetik  abgehe  und  jetzt  —  oder  vielleicht 
auch  schon  frUher  —  eine  doppelte  Affektion  lehre,  nämlich  die 
Affektion  durch  das  Ding  an  sich  und  die  Affektion  durch  die 
Erscheinung.  Das  Ding  an  sich  affiziere  das  transscendentale 
Subjekt,  dieses  mache  aus  dem  intelligiblen  Grund  eine 
empirische  Erscheinung,  diese  Erscheinung  stehe  also  dem 
empirischen  Subjekt  selbständig  gegenttber  und  rufe  in  ihm 
Vorstellungen  hervor.  Diese  Lehre  von  der  doppelten  Affektion 
—  wird  ferner  behauptet  —  stehe  zwar  nicht  im  äufseren 
Widerspruch  mit  dem  Kantischen  System,  zerstöre  es  aber  von 
innen  heraus,  i) 

Die  unheilvolle  Verwirrung,  die  durch  diese  Skizze  der 
Kontroverse  noch  lange  nicht  erschöpft  ist,  wurde,  wie  gesagt, 
durch  den  Satz  hervorgerufen:  „Also  ist  die  Wahrnehmung 
dieses  Beharrlichen  nur  durch  ein  Ding  aufser  mir,  und  nicht 
durch  die  blofse  Vorstellung  eines  Dinges  aufser  mir  möglich.* 
Auf  das  richtige  Verständnis  dieses  Satzes  kommt  also  alles 
an.  Nun  wissen  wir  aus  dem  Vorhergehenden,  dafs  Kant  hier 
gegen  denjenigen  Idealismus  ankämpft,  der,  wenn  er  nicht 
geradezu  die  Aufsenwelt  als  das  Produkt  unserer  Einbildungs- 
kraft ansieht,  so  doch  diese  Frage  mit  einem  «Non  liquet' 
abfertigt  Der  ganze  Beweis  wird  daher  darauf  beruhen 
müssen,  dafs  der  Sinn  durch  irgend  ein  Kriterium  von  der  Ein- 
bildungskraft unterschieden  wird,  oder  genauer,  er  wird  in  dem 
Nachweise  liegen,  dafs  es  aufser  der  Einbildungskraft  einen 
Sinn  geben  mttsse.  Dies  geschieht  aber,  wenn  man  feststellt, 
dafs  zur  Zeitbestimmung  etwas  Räumliches,  aufser  mir  befind- 
liches notwendig  ist.  Denn  wir  haben  zwar  eine  Vorstellung 
„Ich",  wir  haben  auch  Vorstellungen  der  Einbildungskraft;  aber 

M  Man  vgl.  Vaihinger,  Zu  Kants  Widerlegang  des  Idealismas.  Strafs- 
burger  Abhandlangen  1884.  —  Busse,  a.  a.  0.  —  Falkenberg,  Geschichte 
der  neueren  Philosophie.  6.  Aufl.  317  ff.  Man  vgl.  aaüserdem  Vaihinger, 
Commentar  II,  52  Anm. 


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27 

diese  kennen  das  gesochte  Beharrliche  nicht  sein,  weil  sie  nur 
YorsteUangen  sind  und  als  solche  nnr  in  der  Zeit  verlaufen 
and  nicht  beharren,  während  wir  weiterdenken.  ^Denn  das 
Ich  ist  zwar  in  allen  Gedanken ;  es  ist  aber  mit  dieser  Vor- 
Btellung  nicht  die  mindeste  Anschanung  verbunden,  die  es  von 
anderen  Gegenständen  der  Ansehanang  nnterschiede.  Man  kann 
also  zwar  wahrnehmen,  dafs  diese  Vorstellnng  bei  allem  Denken 
immer  wiederum  vorkommt,  nicht  aber,  dafs  es  eine  stehende 
und  bleibende  Anschanung  sei,  worin  die  Gedanken  (als  wandel- 
bar) wechselten. '^  1)  Es  beharrt  also  nur  das  räumliche  Ding. 
Also  ist  dieses  Beharrliche  als  räumliches  Ding  nicht  die 
blofse  Vorstellung  oder  der  blofse  Gedanke,  nicht  lediglich 
das  Produkt  unserer  phantasierenden  oder  sogar  produktiven 
Einbildungskraß,  sondern  eine  Erscheinung,  die  unabhängig 
von  unseren  Gedanken  existiert  und  als  änfseres  Ding  im 
Sinne  beharrt,  während  wir  weiterdenken  und  unsere  Gedanken, 
die  blolsen  Vorstellungen,  wechseln.  Trotzdem  kommt  diesen 
Erscheinungen  kein  absolutes  Sein  zu.  Sie  existieren  zwar 
unabhängig  von  ihrem  Gedachtwerden,  unabhängig  von  unserer 
Einbildungskraft,  nicht  aber  unabhängig  von  unserem  Sinn. 
,Uie  Frage,  ob  es  aufser  mir  etwas  Wirkliches  gibt,  wird  [nach 
wie  vor]  so  beantwortet:  Körper  sind  auJser  meiner  Sinnlich- 
keit keine  Körper,  und  also  sind  sie  nur  in  der  Vorstellungs- 
kraft empfindender  Wesen.  Ob  diesen  Erscheinungen  etwas 
aulser  uns  korrespondiere,  ist  eine  Frage  nach  der  Ursache 
und  nicht  von  der  Existenz  dessen,  was  erscheint  selbst'^) 

Die  Richtigkeit  dieser  Unterscheidung  der  ^.blofsen  Vor- 
stellung' als  Gedankending  von  der  Erscheinung,  die  als  aufser 
ans  existierendes  Ding  vom  rationalen  Teil  unseres  Subjektes 
unabhängig  ist,  beweist  folgende  Entgegenstellung:  „Was  ich 
mir  als  räumlich  vorstelle,  kann  nicht  zur  Vorstellung  des 
inneren  Sinnes  gezählt  werden,  denn  diese  seine  Form  ist  die 
Zeit,  die  nur  eine  Dimension  hat  Ebenso  was  blofse  Vor- 
stellung ist,  kann  ich  nicht  zum  Objekt  des  äufseren  Sinnes 
machen,  denn  dessen  Form  ist  der  Raum.'^s)    Die  blofse  Vor- 


»)  Kr.  A  350. 

*)  Reflexion  Nr.  1191. 

*)  Lose  Btttter  104. 


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stelloDg  steht  also  hier  im  direkten  Gegensatz  zur  änrseren 
Erscheinung.  Noch  deutlicher  geht  dies  hervor,  wenn  man  den 
Sinn  des  Ausdruckes  „das  Beharrliehe*  genau  feststellt  In 
unserer  Widerlegung  heifst  es:  „Dieses  Beharrliche  .  .  .  kann 
nicht  eine  Anschauung  in  mir  sein,  denn  alle  Bestimmungs* 
grttude  meines  Daseius,  die  in  mir  angetroffen  werden  können, 
siud  Vorstellungen."  1)  Man  vergleiche  nun  hiermit  ähnliche 
Erörterungen  ans  den  Losen  Blättern  und  den  Reflexionen: 
„Dieses  I Beharrliehe]  mufs  aufser  uns  als  Gegenstand  des 
äußeren  Sinnes  angeschaut  werden." 2)  «Dieses  Beharr- 
liche ...  d.i.  der  Raum  kann  nicht  wiederum  Vorstellung 
der  blofsen  Einbildungskraft,  sondern  mufs  Vor- 
stellung des  Sinnes  sein.* 3)  Endlich  sagt  Kant  in  den 
Reflexionen:  «...  Allein  wir  können  unsere  eigene  Existenz 
nur  erfahren,  sofern  wir  sie  in  der  Zeit  bestimmen,  wozu  das 
Beharrliche  gehört,  (da  wirkliche)  Vorstellung  in  uns  keinen 
Gegenstand  hat.  Auf  der  blossen  Einbildung  eines  Be- 
harrlichen aufser  uns  kann  sich  diese  Vorstellung  [Ich]  auch 
nicht  gründen.  .  .  .  Unsere  Vorstellung,  sofern  sie  zum  Be- 
wufstsein  unser  selbst  gehört,  hat  keinen  dergleichen  Gegen- 
stand." *) 

Wir  sehen  also,  was  wir,  hier  wenigstens,  unter  dem  Ans- 
drnck  „blofse'^  oder  „wirkliche  Vorstellung^*  zu  verstehen  haben. 
Allerdings  kommt  dieser  Ausdruck  auch  als  Bezeichnung  itir  die 
Erscheinung  vor,  um  ihre  relative  Existenz  darzutun,  so  wird 
z.  B.  der  Raum  „blofse  Vorstellung^^  genannt,^)  ebenso  nennt 
Kant  wiederholt  die  Erscheinungen  „bloUse  Vorstellungen^^«) 
Dafs  aber  in  unserem  Falle  mit  diesem  Ausdrucke  nur  eine 
von  allem  Sinnlichen  freie  Handlung  unseres  Denkens  oder 
unserer  Einbildungskraft  gemeint  sein  kann,  geht  mit  aller 
Deutlichkeit  aus  dem  Angefllhrten  hervor.  Diese  Feststellung 
der  Bedeutung  des  Terminus  ,^blofse  Vorstellung"  in  unserer 
Widerlegung  ist  von  nicht  geringer  Wichtigkeit     Denn  fttrs 


0  Vorr.  2,  XXXIX  Anm. 

'^)  Lose  Blätter  212. 

*)  Ebendft  101. 

«)  Reflexion  Nr.  1195. 

»)  Kr.  A  374. 

•)  Kr.  164. 


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29 

erste  geht  aus  dieser  Feststellaog  hervor,  daüs  in  der  Wider- 
legnog  nicht  Ding  an  sich  nnd  Erscheinung,  sondern  Erscheinung 
nnd  Vorstellung  (im  engeren  Sinne)  einander  gegenübergestellt 
werden;  yom  Ding  an  sich  ist  hier  also  nicht  die  Bede.  Damit 
fallen  aber  zwei  schwerwiegende  Vorwürfe  gegen  Kant  weg. 
Erstens  begeht  er  keinen  Fehlschlufs  von  der  Wirkung  auf  die 
bestimmte  Ursache.  Zweitens  kann  man  nicht  einwerfen,  dafs 
zur  Zeitbestimmung  die  Vorstellung  eines  Beharrlichen 
genttgen  wttrde;  denn  das  eben  ist  Kants  Meinung;  >)  er  bekämpft 
nur  die  Ansieht,  dafs  eine  beharrliche  Vorstellung  der  Einbildung 
ausreichen  wttrde,  denn  eine  solche  ist  nach  ihm  unmöglich. 
Außerdem  geht  aber  ans  unserer  Feststellung  hervor,  dafs  Kant 
mit  dieser  Widerlegung  nichts  von  seiner  bisherigen  Lehre  auf- 
zugeben, oder  auch  nur  zu  modifizieren  braucht  Im  4.  Paralo- 
gismus  betont  er  die  relative  Existenz  der  Erscheinung  gegenüber 
dem  common  sense,  der  die  Erscheinungen  für  Sachen  an  sich 
nunmt,  sowie  gegen  den  psychologischen  Idealismus,  der  dasselbe 
tut,  um  die  Anfsenwelt  nachher  zu  bezweifeln.  In  unserer  Wider- 
legung legt  er  dagegen  Gewicht  darauf,  dafs  den  Erscheinungen 
des  änfseren  Smnes  im  Gegensatz  zu  den  Vorstellungen  der 
Einbildungskraft  ein  Sein  unabhängig  von  unserem  blofsen 
Denken  zukommt^)  Mit  anderen  Worten:  einmal  steht  die 
Erscheinung  im  Gegensatze  zu  an  sich  existierenden  Dingen, 
und  dann  ist  sie  nur  in  uns,  weil  selbst  der  Baum  nur  eine 
Vorstellung  in  uns  ist;  das  andere  Mal  steht  die  Erscheinung 
im  Verhältnis  zu  der  blofsen  Einbildung,  und  dann  kommt  ihr 
ein  von  der  Einbildungskraft  unabhängiges  Dasein  zu;  sie  ist 
dann  aufser  mir,  aufser  meinen  spezifisch  innerlichen  Vor- 
stellungsfähigkeiten —  sie  ist  in  dem  Sinne.  Wenn  ich  mir 
also  einen  Pegasus  vorstelle  oder  an  Plato  denke,  so  kommt 
diesen  Vorstellungen  kein  Sein  aufser  mir  (aufser  der  Ein- 
bildungskraft) zu;  sehe  ich  hingegen  einen  Baum  vor  mir 
stehen,  so  korrespondiert  meinem  Gedanken  vom  Baume  eine 
wirkliehe  sinnliche  Erscheinung,  obwohl  diese  als  Erscheinung 
nur  in  mir  ist,  denn  selbst  der  äufsere  Sinn  ist  in  mir.  Aller- 
dings wird  die  Erscheinung  dem  rezeptiven  Sinne  durch  ein 


^)  Man  vgl.  Vorr.  2,  Anm.  S.XLI. 
*)  L.B1.  204  f. 


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so 

Ding  an  sieb  geliefert,  das  ihn  affiziert  Ob  dieses  aber  in 
nns  (in  unserem  transscendentalen  Subjekt)  oder  anfser  uns 
sei,  wird  hier  nicht  entschieden,  denn  der  Sinn  sagt  darüber 
nichts  aus.i) 

Auf  Grund  des  herangezogenen  Materials  scheint  uns  also 
folgendes  festzustehen: 

1.  Die  in  der  2.  Auflage  gegebene  Widerlegung  des  Idealis- 
mus will  ebenso  wie  diejenige  im  4.  Paralogismus  der  1.  Auflage 
nur  das  Dasein  der  Erscheinungen  beweisen. 

2.  Dieser  Beweis  bedeutet  eine  notwendige  Vertiefung  der 
entsprechenden  Erörterungen  in  der  1.  Auflage,  da  dort  das 
unmittelbare  Bewufstsein  von  Dingen  vorausgesetzt  und  sein 
Zeugnis  in  Anspruch  genommen  worden  ist;  hier  hingegen  wird 
dieses  unmittelbare  Bewufstsein  durch  einen  giltigen  SchluIjB 
—  also  mittelbar  —  bemesen. 

8.  Kant  begeht  in  dieser  Widerlegung  weder  einen  Fehl- 
schlufs,  noch  gibt  er  von  seiner  bisherigen  Lehre  etwas  auf. 

Dies  alles  entspricht  der  Tatsache,  dafs  hier  der  Idealis- 
mus bekämpft  wird,  der  es  fUr  möglich  hält,  dafs  die  Auijien- 
welt  lediglich  eine  Ausgeburt  unserer  Phantasie  sei.  Dem- 
gemäfs  mufste  in  der  Widerlegung  vor  allem  auf  die  notwendige 
Unterscheidung  von  Sinn  und  Einbildung  oder  Einbildungskraft 
Gewicht  gelegt  werden.  Es  liegt  also  gar  kein  Anlals  zu  der 
Behauptung  vor,  dafs  Kant  Ding  an  sich  und  Erscheinung  ver- 
wirre oder  dafs  er  eine  doppelte  Affektion  lehre.  Denn,  wie 
gesagt,  Überall  da,  wo  er  der  Erscheinung  selbständiges  Sein 
zuspricht,  ist  dies  relativ  zur  Einbildung  oder  Einbildungskraft 
gemeint;  wo  ihr  hingegen  absolutes  Sein  abgesprochen  wird, 
geschieht  dies  im  Verhältnis  zum  Sinne. 


^)  Lose  El.  S.204.  Man  vergleiche  noch  besonders  den  Aufsatz:  Wider- 
legung des  problematischen  Idealismus,  der  fUr  Kiese  wetter  bestimmt  war  und 
aus  dem  ganz  klar  hervorgeht,  dafs  von  einem  Beweise  fUr  die  Existenz 
der  Dinge  an  sich  in  diesem  Zusammenhang  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Der  Schlufs  der  genannten  Widerlegung,  die  mit  derjenigen  in  der  Kritik 
im  allgemeinen  Ubereiustimmt,  wenn  sie  auch  viel  klarer  und  deutlicher 
ausgeflihrt  ist,  lautet  wie  folgt:  „£s  hat  also  der  äufsere  Sinn  Realität, 
weil  ohne  ihn  der  innere  Sinn  nicht  möglich  ist.**  WW.  Ed.  Hartenstein 
IV,  503. 


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Nun  werden  wir  auch  folgenden  Satz  beflser  verstehen. 
Im  vierten  ParalogismuB  heifst  es:  „Alle  änfsere  WahrnebmuDg 
also  beweist  unmittelbar  etwas  Wirkliches  im  Banme  oder  ist 
vielmehr  das  Wirkliche  selbst,  nnd  insofern  ist  also  der  em- 
pirische Idealismns  aafser  Zweifel,  d.i.  es  korrespondiert 
unseren  änliseren  Ansehanangen  etwas  Wirkliches  im  Banme.^  0 
Dieser  Satz  wird  von  den  Erfindern  der  Theorie  der  doppelten 
Affektion  bei  Kant  zum  Beweise  angefahrt,  dafs  bereits  in  der 
ersten  Anflage  eine  Verwirrung  in  beztig  anf  das  affizierende 
Ding  stattfindet  Denn  in  unserem  zitat  wird  im  Nachsatze  der 
räumlichen  Erscheinung  eine  selbständige  Existenz  zugeschrieben, 
während  dieses  im  ersten  Teil  des  Satzes  noch  nicht  behauptet 
wurde. 2)  In  der  Tat  ist  der  Satz  so  ausgedrückt,  dafs  sein 
erster  Teil  im  scheinbaren  Gegensatze  zu  der  Erläuterung  steht. 
Die  äufsere  Wahrnehmung  ist  zunächst  das  Wirkliche  selbst; 
gleich  darauf  wird  aber  gesagt,  dafs  unseren  Anschauungen 
etwas  Wirkliches  im  Baume  korrespondiert  Gewifs  kann 
es  gerechtfertigt  sein,  im  Eantischen  System  lauter  Widersprüche 
aufzudecken;  man  sollte  jedoch  davor  zurückschrecken,  in  einem 
und  demselben  Satze  Kant  eines  Widerspruches  zu  zeihen. 
Zudem  kommt  in  Betracht,  dafs  unmittelbar  nach  den  zitierten 
Worten  der  Satz  folgt:  „Freilich  ist  der  Baum  selbst,  mit  allen 
seinen  Erscheinungen,  als  Vorstellungen,  nur  in  mir*  ^)  und  etwas 
weiter:  «Das  Beale  äufserer  Erscheinungen  ist  also  wirklich  nur 
in  der  Wahrnehmung  und  kann  auf  keine  andere  Weise  wirk- 
lich sein."») 

Ich  finde,  dafs  der  angegriffene  Satz  gerade  sehr  lehrreich 
und  ein  Beleg  daftlr  ist,  was  Kant  meint,  wenn  er  sagt,  dafs 
der  Anschauung  etwas  Wirkliches  korrespondiert  Nämlich: 
obwohl  man  im  Gegensatze  zu  den  Vorstellungen  der  Ein- 
bildungskraft von  den  Anschauungen  der  Wirklichkeit  sagen 
mufs,  dafs  ihnen  etwas  im  Baume  (im  Sinne)  korrespondiert, 
so  bekommen  doch  diese  korrespondierenden  Erscheinungen 
kebe  selbständige  Existenz,  sondern  sie  sind  mit  den  äufseren 
Wahrnehmungen  identisch,  weil  der  Baum  selbst  in  uns  ist 
Das  Wirkliche  im  Baume   korrespondiert   den  Vorstellungen, 

0  Kr.  A  375. 

^  Yaihinger  a.  a.  0. 

»)  Kr.  A  376. 


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82 

den  Gedanken,  die  in  uns  infolge  der  von  den  Sianen  ge- 
lieferten Anschaanngen  entstehen.  Dem  Gedanken  Baum 
korrespondiert,  wie  erwähnt,  die  sinnliche  Wahrnehmung  Banm, 
die  für  uns  das  Letzte  ist  und  den  Gegenstand  repräsentiert 
Der  Vorstellung  „Pegasus'^  oder  der  soeben  geplatzten  Seifen- 
blase korrespondiert  kein  wirklicher  Gegenstand  —  dem 
Pegasus  nicht,  weil  er  nur  eingebildet  ist,  der  geplatzten 
Seifenblase  nicht,  weil  sie  als  Gegenstand  der  Sinne  nicht 
mehr  gegenwärtig  ist. 

Nur  einen  solchen  —  historisch  vielleicht  gar  nicht  vor- 
handenen, von  Kant  aber  dem  Descartes  unterschobenen  — 
Idealismus,  denjenigen  nämlich,  der  die  Unterscheidung  von 
Sinn  und  Einbildung  nicht  anerkennt,  oder  als  ununterscheidbar 
hinstellt,  wollte  Kant  an  den  genannten  Stellen  bekämpfen.  >) 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Stellung  zum  Berkeleyschen 
Idealismus.  Hier  hätte  die  Widerlegung  ganz  anders  geführt 
werden  müssen.  Kant  trennt  deshalb  wiederholt  sehr  deutlich 
den  Idealismus  des  Descartes  von  dem  Berkeleys.  Bei  der 
Widerlegung  des  letzten  konnte  es  sich  nicht  mehr  um  die 
Feststellung  der  Existenz  der  Erscheinung  handeln;  denn 
diese    hat   Berkeley   in  Wirklichkeit   gar   nicht   geleugnet  2) 

^)  Hit  unserer  Auffassung  der  Wideriegang  stimmt  auch  die  lange 
Anmerkung  in  der  2.  Vorrede  und  besonders  die  Anmerkung  2  zur 
Widerlegung  in  der  Kritik  selbst  überein  (Kr.  277  f.).  Jedoch  können  wir 
dies  hier  nicht  weiter  ausführen,  weil  es  uns  zu  weit  führen  würde.  Und 
nochmals  sei  es  hervorgehoben,  bei  dieser  Widerlegung  brauchte  das  Ding 
an  sich  gar  nicht  berührt  zu  werden,  denn  dies  wäre  die  Frage  nach  der 
Ursache  der  Erscheinung,  nicht  aber  nach  ihrer  Existenz  selbst. 

*)  Berkeley  war  ebenso  wie  Kant  empirischer  Realist,  nur  war  er 
dabei  nicht  transscendentaler  sondern  transscendenter  Idealist.  Man  Tgl. 
besonders  Berkeley,  Über  die  Prinzipien  der  menschlichen  Erkenntnis. 
(Deutsch  von  Ueberweg.)  Sekt.  XXXV  f.  „Ich  bestreite  nicht  die  Existenz 
irgend  eines  Dinges,  das  wir  durch  Sinneswahmehmung  oder  durch 
Reflexion  auf  unser  Inneres  zu  erkennen  vermögen.  DaCs  die  Dinge, 
die  ich  mit  meinen  Augen  sehe  und  mit  meinen  Händen  betaste,  exi- 
stieren, wirklich  existieren,  bezweifle  ich  nicht  im  mindesten.  Das 
einzige,  dessen  Existenz  wir  in  Abrede  stellen,  ist  das,  was  die  Philo- 
sophen Materie  oder  körperliche  Substanz  nennen  .  .  .  Wenn  jemand 
glaubt,  dies  tue  der  Existenz  oder  Realität  der  Dinge  Eintrag,  so  ist  er 
weit  davon  entfernt,  das  zu  verstehen,  was  bisher . . .  auseinandergesetzt 
worden  ist."    Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dafs  Kant  zu  den  von  Berkeley 


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33 

Wenn  demnach  Berkeley  widerlegt  werden  sollte,  so  mnfsten 
ganz  andere  Momente  in  Betracht  gezogen  werden.  Erstens 
mnlste  der  vermeintliche  Gmnd,  der  nach  Kants  Meinung 
diesen  Idealismus  hervorgerufen  hat,  beseitigt  werden,  und 
zweitens  mulste  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  betont  werden. 
Das  erste  konnte  Kant  leicht  gelingen.  Indem  er  glaubte, 
Berkeleys  Idealismus  sei  lediglich  durch  die  Widerspruche,  die 
ihm  der  Baumbegriff  verursacht  habe,  hervorgerufen  worden,^) 
brauchte  er  nur  auf  die  transscendentale  Ästhetik  oder  auf 
die  Auflösung  der  ersten  beiden  Antinomien  hinzuweisen. 
Nach  Kants  Andeutungen  im  4.  Paralogismus  ist  dies  allein 
auch  das  Prinzip,  das  Berkeleys  Idealismus  widerlegen  soll. 2) 
Im  Anhang  zu  den  Prolegomena  wird  noch  besonders  diese 
Widerlegung  als  Abwehr  gegen  die  Göttinger  Rezension 
ausgeführt.  Dieses  ist  aber  nur  der  erkenntnis- theoretische, 
nicht  der  metaphysische  Unterschied  der  beiden  Lehren.  Der 
vermeintliche  Grund  dieses  Idealismus  ist  zwar  mit  der 
Kantischen  Lehre  von  Raum  und  Zeit  gehoben.  Der  Idealismus 
selbst  brauchte  aber  trotzdem  nicht  aufgegeben  zu  werden. 
Zwar  haben  Raum  und  Zeit  neben  ihrer  Subjektivilät  noch 
das  Merkmal  des  Apriori.    Deshalb  braucht  aber  nicht  das, 


hier  getadelten  Lesern  gehört  hat:  seine  Widerlegung  Berkeleys  wtirde 
sonst  vielleicht  ganz  anders  ausgefallen  sein.  Er  würde  dann  nicht  nur 
betont  haben,  dais  er  den  Dingen  an  sich  ihr  Sein  lasse,  sondern  auch, 
mit  welchem  Recht  und  aus  welchem  Grunde  er  an  dieser  ihrer  Existena 
festhalte. 

^)  Tatsächlich  verhält  sich  die  Sache  umgekehrt.  Nicht  der  populäre 
Ranmbegriff  hat  den  Idealismus  Berkeleys  hervorgerufen;  vielmehr  hat  die 
Unvereinbarkeit  dieses  Begriffes  mit  dem  um  1709  bereits  feststehenden 
Idealismus  Berkeleys  den  „Versuch  einer  neuen  Theorie  des  Sehens** 
zur  Folge  gehabt  Dies  geht  aus  folgender  Bemerkung  Berkeleys  in  den 
Prinzipien  Sekt  XLIII  ganz  klar  hervor:  «Denn  wenn  wir  in  Wahrheit 
einen  auiser  uns  liegenden  Baum  und  wirklich  in  ihm  existierende  Körper, 
die  einen  in  grölserer  Nähe,  die  anderen  in  weiterer  Entfernung  von  uns 
wahrnehmen  können,  so  scheint  dies  einigermalsen  dem  oben  Gesagten, 
dab  sie  nirgendwo  außerhalb  des  Geistes  existieren,  zu  widerstreiten. 
Die  Erwägung  dieser  Schwierigkeit  war  das,  was  meinen  Versuch  einer 
neuen  Theorie  des  Sehens  veranlarste.** 

')  Man  darf  also  nicht  behaupten,  dafs  er  seine  Ankündigung,  diesen 
Idealismus  zu  wideriegen,  nirgends  ansgefllhrt  habe  (Vaihinger  a.  a.  0.)» 
denn  dies  geschieht  nach  Kants  Bewufstsein  in  der  Antinomienlehre. 

Philosopbiiclie  Abb«ndlangen.    XLI.  3 


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'84 

was  diese  Formen  fliUt,  von  einem  Dinge  an  sieh  herznrtlhren, 
sondern  aneh  weiterhin  könnte  Gott  dafttr  in  Anspmeh  ge- 
nommen werden,  ohne  dals  dieses  Material  der  empirischen 
Anschauung  seinen  aposteriorischen  Charakter  verlieren  würde. 
Die  Dinge  an  sich  würden  auch  jetzt  noch  in  Frage  stehen, 
wenn  auch  das  esse^percipi  durch  ein  esse  -  intelligi  ersetzt 
werden  müTste,  falls  man  das  Resultat  der  Analytik  auch  noeh 
in  bezng  auf  die  Erscheinungen  anerkennen  wollte.  Zur  ersten, 
negativen  Widerlegung,  nämlich  zu  der  Beseitigung  des  Grandes 
des  Berkeleyseben  Idealismus,  hätte  noeh  eine  zweite,  positive, 
hinzukommen  müssen,  die  das  Sein  der  Dinge  an  sich  dartun 
müTste. 

Eine  Betonung  der  Dinge  an  sich  ist  nun,  wie  wir  wissen, 
in  den  Prolegomena  in  dem  bekannten  Protest  vorhanden. 
Dieser  kann  aber  nicht  gut  Widerlegung  genannt  werden. 
Kant  sträubt  sieh  hier  gegen  den  Berkeleyschen  Idealismus, 
indem  er  zeigt,  dafs  ihn  von  Berkeley  die  Annahme  wirkender 
Dinge  an  sieh  unterscheide.  Es  fehlt  jedoch  jede  Spur  von 
einem  Beweise  für  ihre  Existenz,  weil  diese  noch  damals  für 
ihn  so  selbstverständlich  war,  da£s  sie  nicht  bewiesen  zu 
werden  brauehte.^)  Der  Beweis  konnte  aber  auch  spekulativ 
von  Kants  Voraussetzungen  aus  gar  nicht  geführt  werden  ohne 
dafs  man  einen  Fehlschlufs  begehen  würde,  und  insofern  ist 
Kant  tatsächlich  in  der  theoretischen  Philosophie  dem  Berkeley 
die  Antwort  schuldig  geblieben. 

^)  Interessant  ist  die  hier  vorkommende  Variante  der  Deduktion  ans 
der  Erscheinang,  die  zeigt,  wie  wenig  Kant  damals  einen  strikten  Beweis 
zu  geben  Bedürfnis  hatte.  Proleg.  §  32  heifst  es:  „In  der  Tat,  wenn  wir 
die  Gegenstände  der  Sinne,  wie  billig,  als  blolse  Erscheinungen  ansehen, 
so  gestehen  wir  hierdurch  doch  zugleich,  daüs  ihnen  ein  Ding  an  sich 
selbst  zum  Grunde  liege  . . .  Der  Verstand  also  eben  dadurch,  dals  er 
Erscheinungen  annimmt,  gesteht  anch  das  Dasein  von  Dingen  an  sich 
selbst  zu,  und  sofern  können  wir  sagen,  daü^  die  Vorstellung  solcher 
Wesen,  die  den  Erscheinungen  zum  Grunde  liegen,  mithin  blolser  Ver- 
standeswesen nicht  allein  zulässig,  sondern  auch  unyermeidlich  sei.  Unsere 
kritische  Deduktion  schliefst  dergleichen  Dinge  (noumena)  anch  keines- 
wegs aus  . . .' 


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Wid  ist  das  Ding  an  sich  beschaffen? 


Für  denjenigen,  der  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  nur 
einigermaljsen  kennt,  mufs  es  absurd  erseheinen,  eine  derartige 
Frage  auch  nar  za  stellen.  Der  Grundgedanke  der  Kritik 
ist  der,  dals  alles,  was  wir  bei  der  jetzigen  Beschaffenheit 
unseres  Erkenntnisvermögens  erkennen  können,  lediglieh  die 
Erscheinung  eines  unbekannten  und  unerkennbaren  Etwas  ist. 
Ist  es  demnach  nicht  eine  Verkennung  der  Kantischen  Lehre, 
wenn  man  nach  der  Beschaffenheit  dieses  Etwas  fragt?  Sagt 
doch  Kant  ausdrücklich:  „Man  kann  zwar  auf  die  Frage,  was 
ein  transscendentaler  Gegenstand  für  eine  Beschaffenheit  habe, 
keine  Antwort  geben,  nämlich  was  er  sei,  aber  wohl,  dafs 
die  Frage  selbst  niehts  sei'',  weil  „eine  Frage  nach  der 
Beschaffenheit  desjenigen  Etwas,  was  durch  kein  bestimmtes 
Prädikat  gedaeht  werden  kann  . . .  gänzlich  nichtig  und  leer 
sei*.^)  Und  an  einer  andern  Stelle:  „Was  Dinge  an  sich  sein 
mOgen,  weils  ich  nicht  und  brauche  es  nicht  zu  wissen'^. 

Und  doch  gibt  es  viele  Anhaltspunkte,  welche  die  obige 
Fragestellung    rechtfertigen.     Wir    wissen,    dafs    die   trans- 
scendentale  Ästhetik  eine  Vielheit  wirkender  Dinge  an  sich 
▼oranssetzt  und  dafs  die  transscendentale  Analytik  diese  Vor- 
aussetzung aufrechthält,  auch  nachdem  diese  Dinge  zum  Problem 
geworden  sind.    Welche  Konsequenzen  in  bezug  auf  die  Be- 
schaffenheit der  Dinge  an  sich  aus  dieser  Voraussetzung  zu 
ziehen   sind,  werden  wir  im   Verlauf  unserer   Untersuchung 
Uber  den  Anteil  des  Dinges  an  sich  an  der  empirischen  An- 
schauung des  näheren  auszuführen  haben.    Hier  wollen  wir 
uns  mit  der  Andeutung  begnOgen,  dafs  der  kritische  Haupt- 
gedanke, dab  wir  Uber  die  Beschaffenheit  Übersinnlicher  Dinge 
niehts  aussagen  dürfen,  Kant  nicht  gestört  hat,  die  Dinge  an 
sieh  naeh  der  Art  der  Leibniz'schen  Monaden  zu  denken. 


»)  Kr.  507  Anm. 

3* 


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36 

Diese  PriyatmeinaDg  Kants  über  die  Dinge  an  sich  auch 
im  kritischen  Hauptwerke  entdeckt  zu  haben,  ist  das  Verdienst 
B.  Erdmanns.  1)  Später  haben  seine  Schüler  O.BiedeP)  und 
Eumetaro  Sasao')  dies  ausführlich  zu  begründen  gesachi 
Seither  findet  dieser  Gedanke  immer  gröfsere  Anerkennung 
und  hat  sich  fttr  die  richtige  Einschätzung  der  Stellung  des 
Dinges  an  sich  im  Kantischen  System  als  sehr  fruchtbar 
erwiesen.  —  Dieser  Auffassung  zufolge  kommen  den  Dingen 
an  sich  neben  den  negativen  aach  positive  Bestimmungen  zu. 
Negativ  läfst  sieh  zunächst  sagen,  dafs  sie  räum-  und  zeitlos 
sind.  Aus  diesen  Bestimmungen  folgt  weiter  analytisch^)  die 
Beharrlichkeit  (zeitloses  Sein)  und  Einfachheit  (weil  alles  Zu- 
sammengesetzte sinnlich  ist).  Aber  neben  diesen  Eigenschaften 
kommen  ihnen  alle  positiven  Prädikate  zu,  die  Gott  als  un- 
endlichem Wesen  zukommen,  wenn  auch  nur  in  geringerem 
Mafse.^)  Sie  wirken  aufeinander  durch  eine  gesetzmäfsige 
Wechselwirkung,  <^)  die  Gott  zur  Ursache  hat 

Wer  diesen  monadologischen  Charakter  der  Dinge  an  sich 
nicht  zugeben  will,  mnis  sich  mit  der  dann  überaus  schwierigen 
Stelle  in  den  Bemerkungen  zu  L.  M.  Jakobs  Prüfung  der 
Mendelssohnschen  Morgenstunden  auf  irgend  eine  Weise 
auseinander  setzen.  In  diesen  «Bemerkungen*'')  zeigt  Kant, 
welcher  Mittel  sich  Mendelssohn  bedient,  um  die  schwierigen 
Probleme  der  Philosophie  zu  lösen.  Er  habe  zu  diesem  Behufe 
zwei  Maximen  von  denen  die  eine  darauf  hinauslaufe  «die 
Nachforschung  der  reinen  Vernunft  ...  zu  hemmen  und  dem 
Frager  kurz  und  gut  den  Mund  zu  stopfen.  In  den  Morgen- 
stunden S.  116  heilst  es:  ,Wenn  ich  euch  sage,  was  ein  Ding 
wirkt  oder  leidet,  so  fragt  nicht  weiter  was  es  ist?  Wenn  ich 
euch  sage,  was  ihr  euch  von  einem  Dinge  fttr  einen  Begriff 


')  Man  vgl.  Kants  Eritizisrnns  74  f. 

')  Die  monadologischen  Bestimmungen  der  Dinge  an  sich  1888. 

*)  Prolegomena  zur  Bestimmung  des  Gottesbegriffes  bei  Kant  Ab- 
handlungen zur  PhiloB.  und  ihrer  Gesch.,  herausg.  von  B.  Erdmann,  1900. 

*)  Denn  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  ist  selbstverständliche  yo^ 
aussetzung. 

•)  Man  sehe  weiter  unten. 

•)  Sasao  a.  a.  0.  29. 

')  WW.  Ed.  Hartenstein  IV,  465. 


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37 

zn  maeben  habt,  so  bat  die  fernere  Frage:  was  dieses  Ding 
an  sieb  selbst  sei?  weiter  keinen  Verstand* 

Nnn  polemisiert  Kant  gegen  diese  Maximen  nnd  meint: 
Jreilicb,  wenn  wir  Wirkungen  eines  Dinges  kennen,  die  in  der 
Tat  Eigensebaften  eines  Dinges  an  sieb  selbst  sein  können,  so 
dürfen  wir  niebt  ferner  fragen,  was  das  Ding  noeb  anlser  diesen 
Eigenschaften  an  sieb  sei,  denn  es  ist  alsdann  gerade  das,  was 
darch  jene  Eigensebaften  gegeben  ist*  Nnn  wissen  wir  aber, 
dafs  uns  gar  keine  Eigenschaften  der  Dinge  an  sieb  selbst 
gegeben  werden,  «dafs  wir  von  der  körperlichen  Natnr  nichts 
anderes  erkennen  als  den  Raum, . . .  dafs  das  Ding  im  Ranme 
.  .  .  keine  andere  Wirkung  als  Bewegung .  .  .  folglich  keine 
andere  leidende  Eigenschaft,  als  bewegende  Kraft  oder  Be- 
weglichkeit zn  erkennen  gibt,  so  mag  nun  Mendelssohn  . . . 
doch  sagen  ...  ob,  da  ich  nichts  als  Beziehungen  von  Etwas 
kenne  auf  etwas  Anderes  . . .  ohne  dafs  mir  irgend  ein  Inneres 
gegeben  ist  oder  gegeben  werden  kann,  ob  ich  da  sagen  könne, 
ieh  habe  einen  Begriff  vom  Di\ige  an  sich  nnd  ob  nicht  die 
Frage  ganz  rechtmäfsig  sei:  was  denn  das  Ding,  das 
in  allen  diesen  Verbältnissen  das  Subjekt  ist,  an  sich  selbst 
sei?*  Nun  könnte  man  zur  Not,  um  mit  der  oben  zitierten 
Abweisung  der  Frage  nach  der  Beschaffenheit  der  Dinge  an  sich 
nicht  in  Widerspruch  zu  geraten,  diese  Stelle  so  auffassen:  Kant 
bekämpfe  hier  seinen  dogmatischen  Gegner  von  dessen  eigenem 
Standpunkte  ans.  Dieser  behaupte,  vom  Ding  an  sich  einen 
Begriff  zu  haben;  dies  .jedoch  werde  durch  den  Hinweis  auf  die 
Metaphysischen  Anfangsgründe  nsw.^  widerlegt.  Wenn 
der  Gegner  aber  trotzdem  behauptet,  einen  solchen  Begriff  zu 
baben,  so  mttfste  er  weiter  fragen,  was  dieses  Ding  eigentlich  sei. 

Kant  aber  —  und  das  widerspricht  dieser  Auffassung  —  er- 
kennt es  gerade  an,  dafs  vom  Standpunkt  des  Gegners  aus,  der 
da  meint,  die  Eigenschaften  der  Dinge  selbst  (und  nicht  blof  s  ihre 
Ersebeinnngen)  zu  erkennen,  die  weitere  Frage  keinen  Sinn  hat; 
ndenn  das  Ding  an  sich  ist  dann  gerade  das,  was  durch  jene 
Eigenschaften  gegeben  ist*  Was  bekämpft  wird,  ist  eben  dieser 
Standpunkt  selbst,  und  vor  allem  die  Maxime,  «dem  Frager  den 
Mund  zu  stopfen*.   Der  richtige  Sinn  unserer  Stelle  geht  noeb 


')  Ebenda  467,  ZeUe  12. 


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38 

besonders  aas  der  Konklasion  am  Sehlasse  dieser  «BemerkaDgen* 
hervor:  «Also  kann  naeh  allen  Kenntnissen,  die  wir  immer  nar 
dareh  Erfahrung  von  Saehen  haben  mögen,  die  Frage:  was 
denn  ihre  Objekte  als  Dinge  an  sich  selbst  sein  mögen? 
ganz  and  gar  nicht  für  sinnleer  gehalten  werden/ 

Daraufhin  gibt  Kant  die  Eigenschaften  der  Dinge  an  sieh 
an:  „Nan  wird  man  fordern,  ich  solle  doch  dergleichen  Eigen- 
schaften nnd  wirkliche  Krttfte  angeben  ...  ich  antworte  blofs: 
dieses  ist  schon  längst,  and  zwar  von  each  selbst  geschehen. 
Besinnt  each  nur,  wie  Ihr  den  Begriff  von  Gott  als  höchster 
Intelligenz  zustande  bringt  Ihr  denkt  euch  in  ihm  lauter 
wahre  Realität  d.  i.  etwas  was  nicht  blols  .  .  .  den  Negationen 
entgegengesetzt  wird,  sondern  auch  und  yomehmlich  den 
Realitäten  in  der  Erscheinung  ...  Nun  vermindert  alle  diese 
Realitäten  (Verstand,  Wille,  Seligkeit,  Macht  usw.)  dem  Grade 
nach,  so  bleiben  sie  doch  der  Art  (Qualität)  naeh  immer  die- 
selben, so  habt  ihr  Eigenschaften  der  Dinge  an  sich  selbst,  die 
ihr  auch  auf  andere  Dinge  aufser  Gott  anwenden  könnt  Keine 
anderen  könnt  ihr  euch  denken  und  alles  übrige  ist  nur 
Realität  in  der  Erscheinung  .  .  .  wodurch  ihr  niemals  ein  Ding 
denkt,  wie  es  an  sich  selbst  ist'' 

Dieses  Rezept  zur  Erlangung  der  Eigenschaften  der  Dinge 
an  sich  muls  einen  jeden,  der  mit  dem  Kritizismus  vertraut 
ist,  völlig  dogmatisch  anmuten.  Uns  bereitet  jedoch  diese  Stelle 
keine  grölseren  Schwierigkeiten,  als  die  Behauptung,  dals  Dinge 
an  sich  sind.  Beides,  sowohl  die  Setzung  der  Dinge  an  sich, 
wie  das  Forschen  nach  ihren  Eigenschaften,  ist  vom  Standpunkt 
des  konsequenten  Kritizismus  unzulässig.  Setzt  man  [aber  die 
intelligible  Welt  voraus  und  findet  nachher,  dafs  die  praktisehe 
Philosophie  diese  Voraussetzung  notwendig  macht  nnd  zur 
Wahrheit  stempelt,  so  ist  man  auch  berechtigt,  nach  der 
Beschaffenheit  dieser  Dinge  zu  fragen.  Allerdings  mufs  zu- 
gegeben werden,  dals  man  dann  nur  auf  Vermutungen  angewiesen 
ist,  weil  spekulativ  hierüber  nichts  ausgesagt  werden  darf,  und 
die  strenge  kritische  Philosophie  kann  solche  Vermutungen  nicht 
als  Erkenntnis  ansehen.  —  Somit  haben  wir  die  Stellung  und 
Bedeutung  des  Dinges  an  sich  im  Kantischeo  System  skizziert 
und  können  nunmehr  zur  Frage  der  Anschauung  übergehen. 


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Wie  kommt  objectiv-gültige  Anschauung 
zustande? 


Eb  braucht  kaam  bemerkt  zu  werden,  dafs  fttr  Kant  die 
psychologische  Seite  der  AnBchanang  nicht  in  Betracht  kommen 
dfljf.  Ihm  kommt  cb  immer  darauf  an,  erkenntnistheoretisch 
zn  untersuchen,  welcher  Grad  von  Gültigkeit  der  jeweiligen 
Anschauung  zuzuschreiben  ist.  Wir  werden  mit  Kant  deshalb 
nicht  fragen  dttrfen,  ;,wie  in  einem  denkenden  Subjekt 
ttberhanpt  änfsere  Anschauung,  nämlich  die  des  Baumes 
(eine  Erfüllung  desselben,  Gestalt  und  Bewegung)  möglich 
sei?*  Denn  abgesehen  davon,  dals  diese  Fragestellung  eine 
psjchologisch-genetische  wäre,  so  ist  es  doch  nach  Kant  «auf 
diese  Frage  keinem  Menschen  möglich,  eine  Antwort  zu  finden 
nnd  man  kann  diese  Lücke  unseres  Wissens  niemals  aus- 
fUlen.*  1)  Wir  setzen  also  diese  Fähigkeit  anzuschauen  voraus 
und  fragen  nach  der  Gültigkeit  erstens  der  reinen,  zweitens  der 
empirischen  Anschauung. 

Die  erste  dieser  Fragen  bietet  indessen  keine  besondere 
Schwierigkeit  Wir  brauchen  nur  die  allgemein  bekannte  Lehre 
der  transscendentalen  Ästhetik  in  kurzen  Worten  wiederzu- 
geben. Der  Baum  und  die  Zeit  sind  keine  den  Dingen  selbst 
inhärierenden  Eigenschaften.  Räumlich  and  zeitlich  sind  die 
Erfahrungsobjekte  deshalb,  weil  wir  so  beschaffen  sind,  dafs 
wir  die  an  sich  räum-  und  zeitlosen  Dinge  nur  so  und  nicht 
anders  wahrnehmen  können.  Daraus  ergibt  sich  die  Gültigkeit 
dieser  Anschauungsweise,  denn  alles  Äufsere  mufs  lilumlich  und 
zeitlich,  alles  Innere  zeitlich  sein.    Die  Übereinstimmung  der 


')  Kr.  A  393. 


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40 

AnschaanDg  mit  dem  Angeschaateii  ist  aber  dadurch  gegeben, 
daffl  wir  es  lediglieh  mit  unseren  Erscheinungen  zu  tun  haben 
und  nicht  zu  fragen  brauchen,  ob  sie  den  Dingen  selbst  adäquat 
sind;  diese  letzteren  gehen  uns  nichts  an.  Wir  fragen  nach  der 
Übereinstimmung  unserer  Begriffe  von  der  Erscheinung  mit 
ihr  selbst,  nicht  mit  dem  transscendentalen  Objekt,  das  sie 
hervorruft.  Wir  bekommen  so  zwar  nur  eine  «empirische 
Wahrheit*;  aber  die  formalen  Bedingungen  dieser  Wahrheit 
beruhen  auf  einem  sicheren  Prinzip,  nämlich  der  apriorischen 
Subjektivilät  der  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit  Aus 
dieser  Subjektivität  läfst  sich  nun  ferner  die  Apodiktizität  der- 
jenigen Wissenschaften  erklären,  die  ihre  Elemente  in  diesen 
Formen  konstruieren  (Geometrie  durch  die  Apriorität  des  Raumes, 
Arithmetik  durch  diejenige  der  Zeit).i) 

Es  mufs  jedoch  hervorgehoben  werden  —  was  oft  über- 
sehen worden  ist  —  dafs  Raum  und  Zeit  allein  noch  nicht 
imstande  sind,  fertige  Anschauungen  hervorzubringen.  Gleich 
am  Anfang  der  transscendentalen  Ästhetik  deutet  Kant  an, 
dafs  Raum  und  Zeit  lediglich  das  sind,  „worin  sich  die 
Empfindungen  allein  ordnen  und  in  gewisse  Formen  gestellt 
werden  können''.^)  Der  Raum  ist  „die  Vorstellung  einer 
blofsen  Möglichkeit  des  Beisammenseins ^.3)  Diese  Ein- 
schränkung der  Bedeutung  der  Anschauungsformen  für  die 
Anschauung,  die  naturgemäfs  in  der  transscendentalen  Ästhetik 
nur  angedeutet  werden  konnte,  wird  nachher  in  beiden  De- 
duktionen weiter  ausgeflihrt:  „Weil  daher  jede  Erscheinung 
ein  Mannigfaltiges  enthält,  mithin  verschiedene  Wahrnehmungen 
im  Gemttte  an  sich  zerstreut  und  einzeln  angetroffen  werden, 
so  ist  eine  Verbindung  derselben  nötig,  welche  sie  in  dem 
Sinne  selbst  nicht  haben  können.^  ^)  Ja  der  Raum  und  die 
Zeit,  die  nicht  nur  Formen  der  Anschauung,  sondern  selbst 


^)  Ob  wirklich  durch  die  blofse  Tatsache,  dafs  der  allgemeine  Raum 
und  die  allgememe  Zeit  in  dem  Sinne  a  priori  sind,  dals  ohne  sie  gar 
keine  Anschauung  möglich  wäre,  auch  diejenige  Apriorität,  durch  welche 
sie  apodiktisch  gültige  Sätze  möglich  machen,  gesichert  sei,  soll  als  sa 
unserer  Frage  nicht  gehörig,  nicht  untersucht  werden. 

«)  Kr.  34. 

»)  Kr.  A  874. 

0  Kr.  A  120. 


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41 

Anscbaanngen  sind^)  (der  erste  mofs  in  der  Geometrie  als 
Gegenstand  yorgestellt  werden),  wären  unmöglich  ohne  eine 
synthetisehe  Apprehension.^)  Dieser  Gedanke  ist  der  Grand- 
stein der  Deduktion  nnd  Kant  konnte  mit  Seeht  anf  ihn  stolz 
sein,  indem  er  darauf  hinwies,  dafs  es  keinem  Philosophen 
eingefallen  sei,  die  Einbildungskraft  als  notwendiges  Ingredienz 
der  Wahrnehmung  zu  betrachten,  „weil  man  glaubte,  die 
Sinne  lieferten  uns  nicht  allein  Eindrucke,  sondern  setzten 
solche  auch  sogar  zusammen^.') 

Schwieriger  gestaltet  sich  die  Frage  nach  der  empirischen 
Anschauung,  wenn  wir  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen 
irgendwie  ableiten  wollen.  Die  Frage  würde  dann  lauten: 
Wie  ist  die  Anschauung  des  Mannigfaltigen  möglich?  An- 
schauung überhaupt  ist  durch  die  Aprioriiät  von  Baum  und 
Zeit  ermöglicht  worden.  Ist  aber  die  bunte,  nnermefsliche 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  in  ihren  Qualitäten  und 
Formen  ebenfalls  subjektiven  Ursprungs?  Dies  wird  von 
Kant  verneint:  Das  Mannigfaltige  der  Anschauungen  wird 
aposteriori  gegeben,  im  Gegensatz  zu  Raum  und  Zeit,  die 
apriori  gegeben  werden.  Wie  ist  aber  diese  Anschauung 
möglich?  Der  Baum,  der  hier  hauptsächlich  in  Betracht  käme, 
ermöglicht  uns  nur  eine  räumliche  Anschauung  überhaupt, 
anders  ausgedrückt,  durch  ihn  sehen  wir  die  äufseren  Dinge 
räumlich.  Vermögen  wir  aber  durch  ihn  die  unendliche 
Mannigfaltigkeit  der  räumlichen  Gestalten  —  um  von  den 
qualitativen  Formen  gar  nicht  zu  reden  —  irgendwie  zu  be- 
greifen? Kant  erwidert  darauf:  „die  nnermefsliche  Mannig- 
faltigkeit  der  Erscheinungen^    kann    nicht    „aus   der  reinen 


0  Man  vgl  Kr.  136  Anm.  und  161  Anm. 

*)  Mut  vgl.  Kr.  A  100. 

*)  Kr.  A  120.  Man  denke  hier  an  die  GondiUac'sche  Fiktion.  Daia 
Hobbes  mit  seiner  Behauptung,  dals  zur  Wahrnehmung  Gedächtnis  gehört, 
dieser  Entdeckung  Kants  keineswegs  vorgegriffen  hat  (man  vgl.  dagegen 
Biehl,  KritiziBmuB  I,  2.  Aufl.,  508  Anm.),  geht  daraus  hervor,  dafs  Kant 
hier  von  der  produktiven  Einbildungskraft  redet,  Hobbes  aber  nur  die 
reproduktive  des  Gedächtnisses  gekannt  hat.  Niemand  vor  Kant  hat  es 
gesehen,  dals  die  Sinne  nichts  (auch  nicht  die  sinnlichen  Elemente)  ver- 
binden, und  darin  besteht  die  bedeutsame  Entdeckung  Kants.  Man  vgl. 
auch  Kr.  152,  wo  der  Unterschied  zwischen  der  produktiven  und  der 
reproduktiven  Einbildungskraft  ganz  scharf  hervorgehoben  ist. 


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42 

Form  der  siDnlichen  ADSchaoang  hinlänglich  begriffen  werden'; 
68  mttssen  blofs  „die  Eraoheinangen,  nnerachtet  der  Ver- 
schiedenheit ihrer  empirischen  Form,  dennoch  jederzeit  den 
Bedingungen  der  reinen  Form  der  Sinnlichkeit  gemäfs  sein.'^  0 

Diese  Lücke  in  der  Lehre  von  der  empirischen  Anschaniing, 
die  Kant  durch  die  Unmöglichkeit  ihrer  AnsfÜlIang  rechtfertigt, 
ist  vielfach  angegriffen  worden,  jedoch  nicht  immer  und  vor 
allem  nicht  in  allen  Punkten  mit  Recht  Wir  wollen  an  dem 
Beispiele  der  Kritik  Schopenhauers  untersuchen,  in  weleher 
Form  dieser  Vorwurf  berechtigt  ist 

In  seiner  Kritik  der  Kantischen  Lehre  sagt  Schopenhauer: 
„Nachdem  er  [Kant]  Raum  und  Zeit  isoliert  abgehandelt, 
dann  diese  ganze  Raum  und  Zeit  füllende  Welt  der  An- 
schauung, in  der  wir  leben  und  sind,  abgefertigt  hat  mit  den 
nichtssagenden  Worten:  der  empirische  Inhalt  der  Anschauung 
wird  uns  gegeben  —  gelangt  er  sofort  mit  einem  Sprunge 
zur  logischen  Grundlage  seiner  Philosophie,  zur  Tafel  der 
Urteile.^  2)  „Nicht  blofs  wie  die  reine  und  nur  formale  An- 
schauung a  priori,  sondern  auch  wie  ihr  Gehalt,  die  empirische 
Anschauung  ins  Bewufstsein  kommt,  hätte  nun  untersuobt 
werden  müssen."*) 

Es  ist  nun  zu  überlegen,  ob  Kant  mit  der  Erklärung,  das 
Empirische  der  Anschauung  werde  uns  aposteriori  gegebeo, 
nicht  bereits  angedeutet  hat,  dafs  bei  dieser  Aposteriorität  des 
Empirischen  die  Erörterung  der  Art  seines  Entstehens  im 
Bewufstsein  nicht  in  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hinein- 
gehört. Kants  Aufgabe  ist  die  kritische  Grenzbestimmung 
unserer  Erkenntnis,  die  Beantwortung  der  Frage,  wie  syn- 
thetische Urteile  a  priori  möglich  sind;  zu  diesem  Zwecke 
mufste  er  zeigen,  dafs  der  Verstand  kein  Vermögen  der  An- 
schauung ist  Sein  Geschäft  ist  lediglich  die  Synthesis,  die 
Verbindung  des  Mannigfaltigen.  Wie  aber  dieses  Mannigfaltige 
selbst  ins  Bewufstsein  kommt,  das  lag  gar  nicht  im  Bereich 
seines  wissenschaftlichen  Interesses.  Ganz  anders  verhält  es 
sich  bei  Schopenhauer.    Ihm  ist  es  nicht  um  die  erkenntnis- 


1)  Kr.  A  127. 

3)  Schopenhauer,  WW.  Ed.  Griesebach  I,  549. 

*)  Ebenda  551 


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&eoTetäache  Frage  der  Gültigkeit  unserer  Erkenntnis,  sondern 
um  dM  metaphysische  Frage  nach  dem  Sein  nnd  dem  Wesen 
deT  knfoenwelt  za  ton.  Und  da  sein  Idealismus  erforderlich 
maehte,  dafs  alles  womöglich  auf  die  Spontaneität  unseres 
Verstandes  zurückgeführt  werden  könne,  so  maiste  dem  Ver- 
stände auch  das  Vermögen  anzuschauen  zugeschrieben  werden, 
um  das  gegebene  ungeordnete  Material  so  einfach  wie  möglich 
darzustellen.  Wir  werden  deshalb  sowohl  den  Einwurf  wie 
seine  Stichhaltigkeit  der  Eantischen  Lehre  gegenüber  nur  dann 
richtig  einschätzen  können,  wenn  wir  Schopenhauers  eigene 
Theorie  der  empirischen  Anschauung,  wie  er  sie  im  Satze 
vom  Grunde  §  21  auseinandersetzt,  mit  einigen  Worten  charak- 
terisieren. 

Bedingt  durch  den  idealistischen  Zug  der  Schopenhauerschen 
Metaphysik,  ist  diese  Lehre  eine  Theorie  der  Intellektualität  der 
empirischen  Anschauung.  Die  Sinnesempfindung  als  solche  ist 
ein  ärmliches  Ding,  ein  lokales,  spezifisches  subjektives  Gefühl, 
welches  nichts  von  Anschauung  enthalten  kann.  Diese  Emp- 
findung, wenn  sie  auch  später  durch  einen  besonderen  Akt  des 
Verstandes  als  von  anisen  herrührend  angesehen  wird,  unter- 
scheidet sich  in  nichts  von  den  inneren  Empfindungen  unseres 
Leibes.  Erst  wenn  der  Verstand  in  Tätigkeit  gerät  und  sein 
Gesetz  der  Kausalität  in  Anwendung  bringt,  geht  eine  mächtige 
Verwandlung  vor  sich:  aus  den  ärmlichen  subjektiven  Emp- 
findungen wird  objektive  Anschauung  der  herrlichen  Aufsen- 
weit  —  So  gefafst,  ist  diese  Lehre  nur  eine  Modifikation  der 
Kantischen  Theorie  der  Anschauung.  Auch  bei  Kant  ist  die 
Anschauung  intellektuell,  jedoch  in  ganz  anderer  Weise.  Es 
wurde  schon  oben  hervorgehoben,  dafs  auch  für  Kant  Baum 
und  Zeit  allein  nicht  genügen,  um  Anschauung  hervorzubringen. 
Sie  sind  das,  was  macht,  dafs  das  Mannigfaltige  in  gewissen 
Verhältnissen  geordnet  werden  kann.  Zur  Hervorbringung 
einer  Anschauung  bedarf  es  der  Spontaneität  unseres  Ver- 
standes. Der  Hauptunterschied  besteht  jedoch  in  folgenden 
zwei  Momenten.  Für  Kant  sind  es  die  Kategorien,  die  das 
Maunig&ltige  verbinden,  und  erst  durch  sie  kann  selbst  der 
Baum  als  solcher  zur  Vorstellung  werden.  Schopenhauer 
dag^en  behauptet,  Baum  und  Zeit  seien  Continua,  also  ur- 
sprünglich gar  nicht  getrennt    Da  sie  Formen  der  Anschauung 


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sind,  wird  alles,  was  m  ihnen  erscheint,  schon  von  Anfang  an 
als  Continaum  auftreten  nnd  bedarf  keiner  Verbindong  seitens 
des  Verstandes.  Der  weitaus  wichtigere  Unterschied  ist  jedoch 
der:  bei  Kant  wird  das  Mannigfaltige,  der  stoffliche  Gehalt 
der  Anschauung,  von  einem  Ding  aufser  uns  gegeben,  der 
Verstand  kann  nur  die  Form  schaffen  und  schaut  selbst  nichts 
an.  Dagegen  mnfs  Schopenhauer  gemäfs  seinem  Prinzip:  „kein 
Objekt  ohne  Subjekt''  alles  auf  innere  Empfindung  zurtick- 
ftthren.  Die  Materialität  der  Erscheinungen  beruht  also  lediglich 
auf  der  Kategorie  der  Kausalität  (der  einzigen,  die  Schopenhauer 
gelten  läfst),  da  das  Wesen  der  Materie  im  Wirken  besteht,  sie 
also  durch  und  durch  Kausalität  ist.  Auch  alle  empirischen 
Eigenschaften  der  Dinge  laufen  auf  diese  Wirksamkeit  zurück 
und  sind  nur  nähere  Bestimmungen  der  Kausalität  Auf 
dieser  erkenntnistheoretischen  Grundlage  baut  Schopenhauer  im 
einzelnen  seine  Theorie  der  empirischen  Anschauung  auf  und 
zeigte  wie  der  Verstand  ans  dem  rohen  Stoff  der  Empfindungen 
mit  Hilfe  der  apriorischen  Formen:  Baum,  Zeit  und  Kausalität, 
die  unerschöpflich  reiche,  vielgestaltete  anschauliche  Welt  zu- 
stande bringt 

Der  objektiven  Anschauung  dienen  eigentlich  nur  zwei 
Sinne:  das  Getast  und  das  Gesicht;  die  anderen  Sinne  bleiben 
subjektiv.  Drücke  ich  mit  der  Hand  gegen  den  Tisch,  so  liegt 
in  dieser  Empfindung  noch  nicht  die  Vorstellung  des  Zusammen- 
hanges der  Teile  dieser  Masse.  Erst  wenn  mein  Verstand  von 
der  Empfindung  zur  Ursache  übergeht,  konstruiert  er  sich  einen 
Körper,  der  die  Eigenschaft  der  Solidität,  Undurchdringlichkeit 
und  Stärke  hat  Beim  Gesicht  ist  die  Tätigkeit  des  Verstandes 
indem  er  die  Empfindung  in  Anschauung  umwandelt,  eine  viel 
mannigfaltigere.  Der  rohe  Stoff  dieses  Sinnes  ist  eine  Empfindung 
auf  der  Betina,  welche  gleich  ist  dem  Anblick  einer  Palette  mit 
vielerlei  bunten  Farben,  Klecksen,  die  bei  der  Einwirkung  des 
Verstandes  sich  zu  einem  reichen  Bilde  umwandeln.  Das  erste, 
was  der  Verstand  tut  ist,  dafs  er  das  Bild  umkehrt.  Sodann 
macht  er  das  zwiefach  Empfundene  (durch  jedes  Auge  besonders 
Gesehene)  zu  einem  einfachen  Bild.  Drittens  konstruiert  er 
aus  den  blofsen  Flächen  dreidimensionale  Körper.  Viertens 
erkennt  er  die  Entfernung  der  Objekte  vom  Auge.  Dies  alles 
geschieht  nicht  durch  physiologische  Ursachen,   sondern  auf 


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Tem  intoUektaellem  Wege  und  ist  das  Werk  des  Verstandes, 
deT  yermittelst  der  Kansalität  die  Empfindang  aaf  ihre  Ur- 
sachen bezieht  und  anf  diese  Weise  die  Anschanung  zustande 
bringt 

Es  ist  unleugbar,  daij9  diese  Theorie  der  empirischen  An- 
schauung tatsächlich  eine  notwendige  Ergänzung  der  Kantischen 
Lehre  von  der  Anschauung  bedeutet.  Ob  jedoch  der  von 
Schopenhauer  eingeschlagene  Weg  der  richtige  ist,  ist  eine 
andere  Frage.  Kant  hatte  behauptet,  Baum,  Zeit  und  Kate- 
gorien sind  ftlr  die  Erscheinungen  ordnende  Prinzipien.  Wie 
der  zu  ordnende  Stoff  vor  dem  Eingreifen  der  apriorischen 
Formen  beschaffen  sein  müsse,  hat  Kant  nicht  erörtert.  Das 
darzutun  hat  Schopenhauer  unternommen.  Nachdem  Kant  diese 
Frage  offen  gelassen  hatte,  konnte  man  entweder  annehmen,  dafs 
dag  Material  bereits  vom  Ding  an  sich  in  einer  gewissen,  wenn 
auch  nur  intelligiblen,  Affinität  geliefert  wird.  Die  Formen,  die 
uns  zngebote  stehen,  haben  dann  diese  Ordnung  nur  in  eine 
empirische  umzuwandeln.  Oder  aber  es  lag  nicht  fem  —  und 
die  Kantische  Erkenntnistheorie  drängte  es  oft  geradezu  aut 
—  anzunehmen,  dalB  der  Stoff  in  TÖllig  chaotischem  Zustande 
uns  gegeben  werde,  und  dalj»  die  Ordnung  das  ursprüngliche 
Werk  Ton  Baum,  Zeit  und  Kategorien  sei.  Diese  Formen  müssen 
somit  schöpferische  Prinzipien  sein,  d.  h.  sie  schaffen  überhaupt 
erst  Verhältnisse  unter  den  Erscheinungen  und  geben  ihnen 
Leben.  Mit  anderen  Worten  die  Frage  ist:  handelt  es  sich 
bei  dem  Ordnen  der  Erscheinungen  nur  um  eine  Übertragung 
einer  Ordnung  in  die  andere,  gleich  der  Aufgabe  eines  Bild- 
hauers, der  ein  Gemälde  in  eine  Marmor-Statue  umzuwandeln 
hat,  oder  hat  es  dieser  Bildhauer  nur  mit  einem  Marmorblock 
ohne  jede  Form  zu  tun,  den  er  schöpferisch  gestalten  mnfs?  — 
DaÜB  diese  Frage  vom  strengsten  kritischen  Standpunkte  aus 
berechtigt  ist,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Denn  bei  ihrer  Be- 
antwortung braucht  man  nicht  an  das  Ding  an  sich  heran* 
zutreten,  um  über  seine  Eigenschaften  etwas  auszusagen,  sondern 
mulB  nur  die  Funktionen  der  apriorischen  Formen  genau 
bestimmen,  um  zu  wissen,  was  nach  Abzug  der  Wirkung  dieser 
Formen  noch  übrig  bleibt,  d.  h.  wie  dann  der  ungeordnete  Stoff 
beschaffen  sein  müsse.  Wir  haben  es  also  hier  unstreitig  mit 
einer  Lücke  zu  tun  und  müssen  untersuchen,  erstens:  warum  sie 


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Kant  offen  gelassen  hat,  zweitens:  welche  Folgen  darans  fllr 
das  System  selbst  entstehen. 

So  wttnsohenswert  aber  und  notwendig  eine  dentliche 
Aufserung  Kants  über  die  Beschaffenheit  des  Stoffes  vor  dem 
Eingreifen  der  apriorischen  Formen  gewesen  wäre,  so  klar 
ist  es  doch  andererseits,  dafs  eine  solche  Theorie,  wie  sie 
Schopenhauer  aufstellt,  yon  Kant  nicht  gelehrt  werden  konnte. 
Denn  was  zunächst  den  Grundgedanken  betrifft,  so  konnte 
Kant  bei  dem  realistischen  Charakter  seiner  Denkweise  unmög- 
lich die  Materialität  der  Erscheinungen  auf  ein  lediglich  sub- 
jektives Prinzip  zurückführen.  Zweitens  scheint,  wie  erwähnt, 
eine  Erörterung  der  besonderen  Funktionen  unseres  Intellekts 
beim  Gestalten  der  Mannigfaltigkeit  überhaupt  nicht  im  Bereich 
seines  wissenschaftlichen  Interesses  gelegen  zu  haben.  Endlieh 
war  die  Ausgestaltung,  welche  die  Theorie  bei  Schopenhauer 
erfahren  hatte,  eine  physiologisch -psychologische  und  gehörte 
deshalb  nicht  in  eine  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Die  Methode 
der  Kritik  ist  eine  transscendentale,  wo  jede  psychologische 
Untersuchung  vermieden  werden  sollte,  weil  eine  solche  nach 
Kants  Auffassung  zu  keiner  objektiven  Gültigkeit  führen  kann. 
Er  selbst  beanspruchte  für  diejenigen  Teile  der  transscenden- 
talen  Deduktion  (I.Auflage),  die  die  „subjektiven"  oder  «psycho- 
logischen*  Momente  enthalten,  keine  Allgemeingültigkeii^)  Wäre 
es  möglich,  eine  transscendentale  Deduktion  der  einzelnen  Ge- 
staltungen der  Materie  und  ihrer  qualitativen  Verschiedenheit 
zu  geben,  d.  h.  wäre  unsere  Sinnlichkeit  so  beschaffen,  dals, 
wenn  wir  uns  alle  Inhalte  wegdächten,  dann  nicht  nur  Raum 
und  Zeit,  sondern  alle  die  unendlich  vielen  einzelnen  Formen 
und  Qualitäten  übrig  blieben,  so  würden  vnr  schlielsen,  dafs 
ebenso  wie  Raum  und  Zeit,  so  auch  diese  Formen  a  priori 
uns  gegeben  seien,  und  könnten  dann  wohl  erklären,  wie  diese 
Mannigfaltigkeit  zustande  kommt.  Wenn  dem  aber  nicht  so 
ist,  so  hat  Kant  zunächst  Recht,  wenn  er  lehrt,  dafs  die  empirisch 
und  formal  bestimmte  Mannigfaltigkeit  im  Gegensatz  zu  Raum 
und  Zeit  von  aufsen  gegeben  werden  mufs.  Freilich  nicht  in 
dem  Sinne  gegeben,  dafs  wir  sie  nur  rezeptiv  zu  empfinden 
hätten.     Kein  Gegebenwerden  ohne  tätige  Wirkung  unserer 


1)  Man  sehe  Vorr.  1,  III.    Man  vgl.  auch  RieLl  a.  a.  0.  503  f. 


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Spontaneitili  Gegeben  ist  der  Stoff,  der  nur  diese  bestimmten 
nnd  keine  anderen  Formen  annebmen  kann;  aber  wir  yerarbeiten 
nur  das  Mannigfaltige,  wir  produzieren  es  nicht. 

Eine  transscendentale  Deduktion  der  mannigfaltigen  Formen 
der  empirischen  Anschannng  zn  geben,  ist  somit  durch  die  Natur 
dieser  Formen  ausgeschlossen;  die  Kritik  hat  deshalb  diese 
Ltteke  offen  gelassen;  denn  sie  hat  es  nur  „mit  der  Erkenntnis- 
art von  Oegenständen  zu  tun,  sofern  diese  a  priori  möglich  sein 
soll*'.  Es  braucht  aber  kaum  bemerkt  zu  werden,  dafs  Natur- 
philosophie und  Psychologie  (fbr  die  objektive  und  subjektive 
Seite  des  Prozesses)  die  hier  offen  gelassene  Ltteke  ausfüllen 
können,  ohne  dals  sie  mit  der  Kantisehen  Lehre  in  Konflikt 
zu  geraten  brauchen.  Man  kann  die  Scheidung  von  Ding  an 
sich  und  Erscheinung  aufrecht  erhalten  und  z.  B.  mit  Hilfe 
einer  mechanischen  Naturauffassung  und  etwa  eines  Ent- 
wieklungsprinzips  den  objektiven  Bestand  der  mannigfachen 
Qualitäten  und  der  entstandenen  Formen  zu  erklären  suchen; 
während  Psychologie  und  Physiologie  —  wiederum  in  Über- 
einstimmung mit  den  Kautischen  Voraussetzungen  —  zu  be- 
schreiben hätten,  wie  die  Anschauung  dieser  Mannigfaltigkeit 
subjektiv  zustande  kommt  ^) 

Wir  werden  also  nicht,  wie  Schopenhauer  es  tut,  Kant  zum 
Vorwurf  machen,  dafs  er  keine  vollständige  Theorie  der  empi- 
risehen  Anschauung  gegeben  hat,  denn  „Kant  wollte  nur  eine 
Kritik  des  reinen,  nicht  eine  Theorie  des  empirischen  Verstandes 
geben^.2)  Es  ist  vielmehr  die  Frage,  ob  bei  dieser  Beschaffen- 
heit der  empirischen  Formen  f&r  das  System  selbst  nicht  eine 
Schwierigkeit  entsteht 

In  der  Vorrede  zur  2.  Auflage  und  öfters,  besonders  aber 
in  der  zweiten  Deduktion  sagt  Kant:  „Nun  sind  nur  zwei  Wege, 
auf  welchen  eine  notwendige  Übereinstimmung  der  Er- 
fahrung mit  den  Begriffen  von  ihren  Gegenständen  gedacht 
werden  kann:  entweder  die  Erfahrung  macht  die  Begriffe, 
oder  die  Begriffe  machen  die  Erfahrung  möglich."')  (Unter 
B^riff  versteht  hier  Kant  sowohl  die  Formen  der  Anschauung 


>)  Man  vergleiche  Prolegomena  §  21  a,  Anfang. 
*)  Biehl  a.a.O.  446. 
»)  Kr.  166. 


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wie  die  Kategorien).  Nun  sieht  sich  Kant  gezwnngen,  den 
zweiten  Weg  einzuschlagen,  den  er  ein  System  der  Epigenesis 
der  reinen  Vernunft  nennt  In  der  transscendentalen  Ästhetik 
hatte  er  gezeigt,  dafs  Raum  und  Zeit  Formen  a  priori  unserer 
Sinnlichkeit  sind.  Sie  machen  die  Anschauung  überhaupt  erst 
möglich,  daher  auch  die  Übereinstimmung  der  räumlichen  Gegen- 
stände mit  der  angeschauten  Form,  weil  diese  gar  nicht  einmal 
räumlich  sind,  wenn  sie  nicht  angeschaut  werden.  Die  Mathema- 
tik, die  in  der  Geometrie  räumliche  Gröfsen,  und  in  der  Arith- 
metik zeitliche  Aufeinanderfolge  behandelt,  kann  sich  daher 
ihre  Objekte  konstruieren  und  wird  von  ihnen  objektiy  gültige 
Erkenntnis  haben.  Sie  ¥nrd  dadurch  nicht  erst  begründet;  denn 
„es  geht  die  Geometrie  ihren  sicheren  Schritt  ohne  dafs  sie 
sich  von  der  Philosophie  einen  Beglaubigungsschein  erbitten 
darf.^^)  Es  ist  aber  klar  (oder  soll  wenigstens  klar  sein),  wo 
die  Mathematik  ihre  objektive  Gültigkeit  her  hat:  sie  kann  sieh 
nämlich  ihre  Begriffe  sowohl  der  Quantität,  wie  der  Qualität 
nach  (im  engeren  Sinne  —  der  geometrischen  Figuren)  kon- 
struieren. Können  aber  auch  die  mannigfachen  Formen  der 
empirischen  Anschauung  aus  reinen  Anschauungsformen  begriffen 
werden?  Wir  haben  gesehen,  dafs  Kant  diese  Frage  verneint 
Wie  kommt  also  —  um  mit  Schopenhauer  zu  reden,  der  dieses 
Problem  gesehen,  wenn  er  es  auch  nicht  in  seiner  Tragweite 
ausgeführt  hat  —  wie  kommt  die  empirische  Anschauung  ins 
Bewufstsein;  wie  entsteht  die  Erkenntnis  dieser  ganzen,  für  ans 
so  realen  Welt?  Die  Leistung  der  transscendentalen  Ästhetik 
in  bezug  auf  die  besonderen  Formen  der  Erscheinungen  besteht 
nur  darin,  dafs  wir  von  ihnen  a  priori  sagen  können:  jede  Er- 
scheinung wird  notwendig  räumlich  oder  zeitlich  bestimmt  sein. 
Wie  wir  aber  von  der  Räumlichkeit  überhaupt  zu  dem  einfach- 
sten räumlichen  Bilde  gelangen,  darüber  gibt  sie  uns  gar  keinen 
Aufschlufs.  Wären  die  mannigfachen  Formen  von  uns  aus  zu 
erklären,  so  könnten  wir  sagen,  dafs  unsere  Anschauung  sie 
möglich  macht,  ja  wir  hätten  dann  von  ihnen  eine  apodiktische 
Erkenntnis,  weil  die  Begriffe  —  hier  die  Anschauungen  —  die 


1)  Rr.  120.  Man  vgl.  auch  Prolegomena  §  40  Anfang:  „Beine  Mathe- 
matik und  reine  Naturwissenschaft  hätten  zum  Behuf  ihrer  eigenen 
Sicherheit  und  Gewifsheit  keiner  derartigen  Deduktion  bedurft . ,  .*^ 


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Gegensiände  möglich  machen  würden.  Dann  mUfsten  sie  sich 
allerJUngs  von  den  Dingen  so  wenig  wegdenken  lassen,  wie 
ihre  allgemeinsten  Formen,  Raum  and  Zeit.  Nun  ist  aber  das 
Mannigfaltige  der  äulseren  Anschaanng  a  posteriori  gegeben. 
Die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen  mttfste  also  anf  die  yer- 
sebiedenartige  Einwirkung  der  Substrate,  der  Dinge  an  sieb, 
zarttckgefübrt  werden,  wenn  anders  wir  die  Erscheinungen  nicht 
geradezu  erzeugen.  Wie  kann  daher  Kant  dann  noch  sagen, 
dafs  sieb  „der  Gegenstand  (als  Objekt  der  Sinne)  nach  der 
Beschaffenheit  unseres  Anschauungsyermögens^'  i)  richten  müsse. 
Ist  nicht  vielmehr  abzuwarten,  in  welcher  Weise  das  von  uns 
Töllig  unabhängige  Ding  an  sich  uns  af&zieren  wird? 

Indessen  läfst  sich  auch  diese  Schwierigkeit  bis  auf  einen 
Rest   lösen.     Mit  der  Konstatierung  der  Unmöglichkeit,  die 
mannigfaltigen  Formen  aus  der  reinen  Form  abzuleiten,  wird 
die  Lehre  Kants  von  der  „Revolution  der  Denkart''  nicht  wider- 
legt, sondern  nur  in  ihrer  Tragweite  eingeschränkt.    Und  das 
Yeranlafst  uns,  den  wahren  Sinn  der  Grundlage  seiner  Er- 
kenntnistheorie genauer  zu  bestimmen.    Allgemein  wurde  und 
wird  vielfach  noch  heute  Kants  Lehre  dabin  verstanden,  dafs 
nach  ihr  ein  Wissen  tiberbaupt  nur  dann  möglich  ist,  wenn 
sieh  die  Gegenstände  nach  den  Begriffen  richten ;  man  glaubte, 
daXs  nur  dieser  eine  Weg  zur  Erkenntnis  fUhre.^)   In  Wahrheit 
gibt  es  aber  fbr  Kant  zwei  Wege:  sowohl  wenn  die  Begriffe 
die  Gegenstände,  als  wenn  die  Gegenstände  die  Begriffe  möglich 
machen,  ist  Erkenntnis  vorhanden.    Beides  ist  möglich,  und 
beides  ist  der  Fall.    Nur  ist  die  erste  eine  Erkenntnis  a  priori 
und  deshalb  objektiv  gültig.    Die  andere  ist  von  der  Erfahrung 
abgeleitet  und  zufällig.    Die  Notwendigkeit,  die  die  Verstandes- 
begriffe  bei  sich  führen,  und  die  besondere,  einzigartige  Be- 
schaffenheit der  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit,  zwangen 
Kant  zu  der  Annahme,  dafs  sie  a  priori,  von  aller  Erfahrung 
unabhängige  Formen  seien,  und  dafs  ihre  Übereinstimmung  mit 
der  Erfahrung  daher  rühre,  dafs  diese  Begriffe  die  Erfahrung 


«)  Vorr.  2,  XVH. 

*)  Diese  Mibdeutang,  deren  Qrand  viel  tiefer  liegen  mag  als  in 
einer  oberSächliolien  Interpretation,  war  einer  der  bedeutendsten  Faktoren 
rar  Ausbildung  des  naehkantischen  Idealismus. 

FUlotophitehe  Abhandlungen.    XLl.  4 


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allererst  möglich  machen.  Aber  neben  diesen  Prinzipien,  die 
Erfahrnng  Überhaupt  ermöglichen,  gibt  es  eine  nnendliche  Fttlle 
Yon  Begriffen  und  Ansehanangen,  nämlich  der  Einzeldinge,  die 
von  der  Erfahrung  abstrahiert  sind  und  deshalb  mit  ihr  über- 
einstimmen, weil  die  Gegenstände  diese  Begriffe  möglich  machen. 
In  der  Vorrede  zur  2.  Auflage  werden  gerade  die  Wissen- 
schaften, die  sich  auf  empirische  Prinzipien  gründen,  unter 
anderen  die  chemischen  Experimente  Stahls  als  diejenigen 
bezeichnet,  die  den  Heersweg  der  Wissenschaften  getroffen 
haben.  Die  Tatsache,  da£s  man  bei  diesen  Fragen  auf  die 
Belehrung  der  Natur  angewiesen  ist,  hindert  nicht,  die  An- 
wendung der  —  wenn  auch  nur  empirischen  —  Prinzipien 
derart  anzustellen,  das  man  an  die  Natur  herangeht  «nicht  in 
der  Qualität  eines  Schtllers,  der  sich  alles  vorsagen  läfst,  was 
der  Lehrer  ¥nll,  sondern  eines  bestallten  Richters,  der  die  Zeugen 
nötigt,  auf  die  Fragen  zu  antworten,  die  er  ihnen  vorlegt'') 
Dafs  unsere  Auffassung  richtig  ist,  geht  ganz  deutlich  aus 
dem  bekannten  Briefe  an  Herz  hervor:  „Auf  welchem  Grunde 
beruht  die  Beziehung  desjenigen,  was  man  in  uns  Vorstellung 
nennt,  auf  den  Gegenstand  ?))  Enthält  die  Vorstellung  nur  die 
Art,  wie  das  Subjekt  von  dem  Gegenstände  affiziert  wird,  so 
ists  leicht  einzusehen,  wie  er  diesem  als  eine  Wirkung  seiner 
Ursache  gemäfs  sei  und  wie  diese  Bestimmung  unseres  Gemüts 
etwas  vorstellen,  d.  i.  einen  Gegenstand  haben  könne.  Die 
passiven  oder  sinnlichen  Vorstellungen  haben  also  eine  be- 
greifliche Beziehung  auf  Gegenstände  . . .  Ebenso  wenn  das, 
was  in  uns  Vorstellung  heilst,  in  Ansehung  des  Objekts  aktiv 
wäre,  d.  i.  wenn  dadurch  selbst  der  Gegenstand  hervorgebracht 
würde  ...  so  würde  auch  die  Konformität  desselben  mit  den 
Objekten  verstanden  werden  können.    Es  ist  daher  die  Mög- 


»)  Vorr.  J,  XUf. 

*)  Diese  Frage  ist  etwas  rnKsverständlieh  aoBgedrückt  und  ist  nicht 
identisch  mit  der  Frage  nach  der  „Beziehung  auf  den  Gegenstand*  in 
der  Analytik,  die  erläutert  wird  durch  folgenden  Satz:  „wie  kommen  wir 
dazu,  dafs  wir . . .  Vorstellungen  ein  Objekt  setzen,  oder  über  ihre  sab> 
jektive  Realität  . . .  ihnen  noch  . . .  eine  objektive  beilegen"  (Er.  242). 
Hier  handelt  es  sich  hauptsächlich  um  die  Übereinstimmung  der 
Erkenntnis  mit  ihrem  Gegenstande,  die  Beziehungsfrage  ist  zwar  darin 
mit  enthalten,  sie  ist  jedoch  Nebensache. 


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Uchkeit  sowohl  des  intellectng  arehetypi ...  als  des  intellec- 
tas  eetypi,  der  die  data  seiner  logischen  Behandlung 
ans  der  sinnliehen  Ansehannng  der  Saehen  schöpft  zum 
wenigsten  verständlich.'' i)  Hier  wird  also  ganz  deatlich  ge- 
sagt, dals  Erkenntnis  zustande  kommen  kann,  auch  wenn  die 
Dinge  die  Begriffe  möglich  machen.  Man  kann  daher  sagen,  dafs 
mit  Ausnahme  der  Verstandesbegriffe  (samt  den  sogenannten 
Prädikabilien,  die  von  ihnen  abgeleitet  werden  können)  und  der 
Formen  unserer  Sinnlichkeit,  die  keine  empirische  Ableitung  ver* 
tragen,  alle  unsere  Begriffe  von  der  Erfahrung  geschöpft  sind. 

Der  Grund  der  Mitsdeutung,  als  ob  Kant  nur  den  einen  Weg, 
auf  dem  die  Begriffe  die  Gegenstände  ermöglichen,  als  den  allein 
zur  Erkenntnis  führenden  anerkannt  hätte,  liegt  auf  der  Hand. 
Überall  da,  wo  Kant  von  seiner  „Kopemikanischen  Revolution 
der  Denkart''  spricht,  speziell  in  der  Vorrede  zur  2.  Auflage,  2) 
kommt  nur  dieser  eine  Weg  zum  Ausdruck.  Kant  handelt  immer 
nur  von  seinen  apriorischen  Verstandesbegriffen,  weil  ihm  das 
andere  kein  Problem  ist.  „Die  Möglichkeit  synthetischer  Sätze 
a  posteriori,  d.  i.  solcher,  welche  aus  der  Erfahrung  geschöpft 
werden  —  bedarf  keiner  besonderen  Erklärung;  denn  Er- 
fahrung ist  selbst  nichts  anderes,  als  eine  kontinuierliche  Zu- 
Bammensetzung  .  . .  der  Wahrnehmungen^.^)  Hingegen  mufste 
er  den  skeptischen  Bedenken  Humes  gegenüber  immer  von 
neuem  betonen,  dafs  die  Verstandesbegriffe,  speziell  die  Kate- 
gorie der  Kausalität  nicht  von  der  Erfahrung  abstrahiert  werden 
können.  Man  beachtete  deshalb  nicht,  dafs  Kant  an  vielen 
Stellen  die  Tragweite  der  Kategorien  nach  beiden  Seiten  hin 
eingesekrtnkt  hat  So  wie  sie  einerseits  nur  zu  empirischem, 
nicht  aber  zu  transsoendentalem  Gebrauch  tauglich  sind,  so 
eraiOgliehen  sie  andererseits  nur  Erfahrung  ttberhaupt,  Gesetz- 
mäbigkeit  ttberhaupt  und  Dinge  Überhaupt  In  allen  besonderen 
Fällen  ist  es  der  Gegenstand,  der  den  Begriff  möglich  macht, 
80  dafs  dieser  sieh  nach  jenem  richtet 

Hierfür  läfst  sich  eine  ganze  Beihe  von  Belegen  anführen. 
So  sagt  Kant,  dafs  empirische  Begriffe  sich  auf  empirische 


1)  Brief  an  Hers  vom  21.  Februar  1772. 
•)  Voir.2,  XVIff. 
*)  Prolegomena. 


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AnsebannDgen  gründen;  ferner:  wir  können  „unseren  Begriff, 
den  wir  nns  yon  einem  Objekt  der  Ansebanung  maeben,  dnreb 
neue  Prädikate,  die  die  Ansebannng  selbst  darbietet,  in  der 
Erfabrnng  synthetiscb  erweitern.^  Dieses  Urteil  ist  .aber  nnr 
a  posteriori  und  empiriscb  gewifs^.^)  „Dafs  ieb  ttber  einen 
gegebenen  Begriff  meine  Erkenntnis  erweitem  könne,  lehrt 
mieb  die  tägliebe  Vermehmng  meiner  Kenntnisse  dnreb  die  sieb 
immer  vergrölsernde  Erfabrnng/^)  „Die  Natnrersebeinnngen' 
sind  Gegenstände,  „die  uns  unabhängig  von  unseren  Be- 
griffen gegeben  werden,  zn  denen  also  der  Seblttssel  niebt  in 
uns  und  unserem  reinen  Denken,  sondern  anlser  uns  liegt*  ^) 
Femer  spriebt  Kant  von  einer  Deduktion,  welebe  die  Art  an- 
zeigt, wie  Begriffe  dnreb  Erfabrnng  und  Beflexion  ttber  dieselbe 
erworben  werden,  und  bebt  rttbmlieb  bervor,  dafs  Locke  ein 
solcbes  Nacbspttren  der  ersten  Bestrebungen  unserer  Erkenninis- 
kraft,  um  von  einzelnen  Wabmebmungen  zu  allgemeinen  Be- 
griffen zu  steigen,  in  die  Wege  geleitet  bai^) 

Noeb  deutUeber  als  aus  allen  diesen  Stellen,  gebt  die 
Einteilung  der  Begriffe  naob  ibrem  Ursprang  aus  folgenden 
Beflexionen  bervor:  »Alle  Begriffe  sind  entweder  Urbilder, 
welebe  Gründe  von  den  Bestimmungen,  die  den  Objekten  zu- 
kommen und  wodureb  das  Objekt  unter  allen  möglieben  be- 
stimmt wird,  oder  es  sind  Nacbbilder,  welche  Folgen  von 
den  Bestimmungen  der  Dinge  sind^.&)  ,Wir  haben  zweierlei 
Arten  von  Begriffen :  solche,  die  durch  die  Gegenwart  der  Sache 
in  uns  entstehen  können,  oder  diejenigen,  wodurch  der  Verstand 
das  Verhältnis  dieser  Begriffe  zu  den  Gesetzen  seines  eigenen 
Denkens  sieh  vorstellt  Zu  den  letzteren  gehört  der  Begriff 
des  Grundes,  der  Möglichkeit,  des  Daseins.  Daher  die  Grand- 
sätze ttber  jene  objektiv,  die  ttber  diese  subjektiv  sind.'«) 
.Einige  Begriffe  sind  von  der  Empfindung  abstrahiert;  andere 
blols  von  dem  Gesetze  des  Verstandes,  die  abstrahierten  Be- 
griffe zu  vergleichen,  zu  verbinden   oder  zu  trennen.     Der 


0  Daselbst 

»)  WW.  Ed.  Hartenstein  IV,  57. 

>)  Kr.  508. 

*)  Kr.  118  f. 

^)  Beflexion  Nr.  066. 

•)  Ebenda  Nr.  536. 


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letzteren  Uraprang  liegt  im  Verstände,  der  ersteren  in  dem  Sinne. 
Alle  Begriffe  solcher  Art  heifsen  reine  Verstandesbegriffe.^  i) 

Wir  sehen  also,  wie  wir  die  «Kopemikanische  Drehang^  zu 
verstehen  haben.  Indessen  ist  noch  fraglich,  ob  die  Syste- 
matisiemng,  die  wir  soeben  vorgenommen  haben  nnd  die  hin- 
sichtlieh der  Begriflfe  —  nach  alledem,  was  wir  angeführt 
haben  —  über  allen  Zweifel  erhaben  ist,  auch  fttr  unser 
spezielles  Problem  vom  Ursprang  der  besonderen  Anschannngs- 
formen  von  Bedeutung  sei.  Hinsichtlich  der  Empfindung  können 
wir  mit  Bestimmtheit  sagen,  wo  sie  hingehört:  ,die  Qualität 
der  Empfindung  ist  jederzeit  blofs  empirisch  und  kann  a  priori 
gar  nicht  vorgestellt  werden  (z.B.  Farben,  Geschmack  usw.)."  2) 
Wenn  wir  aber  an  die  Kritik  mit  folgender  Frage  herantreten: 
sind  die  besonderen  Formen  der  anschaulichen  Welt  als  Folgen 
der  Differenziertheit  der  Dinge  an  sich  oder  als  selbständige 
Modifikationen  des  Baumes  anzusehen?  so  bekommen  wir  keine 
genflgend  klare  Antwort  Die  von  uns  zu  Anfang  angeftlhrte 
Einschränkung:  «die  unermefsliche  Mannigfaltigkeit  der  Erschei- 
nungen**  kann  nicht  «aus  der  reinen  Form  der  sinnlichen  An- 
Bchaaung  hinlänglich  begriffen  werden ',  gibt  uns  keinen  genauen 
Aufsehlufs  darüber,  was  unter  dem  Ausdruck  «Mannigfaltigkeit' 
gemeint  sei:  versteht  Kant  darunter  nur  die  Empfindung,  oder 
auch  die  räumlichen  Gestalten?  Dafs  wir  trotz  der  Wahr- 
scheinlichkeit der  letzten  Deutung  Anlafs  haben,  daran  zu 
zweifeln,  wird  sich  bald  zeigen.  Der  obige  Satz  enthält  aulser- 
dem  eine  Einschränkung,  die  im  Worte  «hinlänglich*  zum  Aus- 
druck kommt.  Sie  läfst  vermuten,  dafs  Kant  selbst  unsere  Frage 
nicht  scharf  genug  ins  Auge  gefafst  und  nicht  genau  bestimmt 
habe,  was  dem  Dinge  an  sich  und  was  der  reinen  Form  als 
modifizierender  Tätigkeit  zuzuschreiben  sei. 

Zu  diesen  Vermutungen  gibt  folgende  Aulserung  Kants 
Anlals:  „Es  sind  nur  zwei  Fälle  möglich'^  —  heifst  es  — 
„unter  denen  synthetische  Vorstellungen  und  ihre  Gegenstände 
zusammentreffen,  sich  aufeinander  notwendigerweise  beziehen 
und  gleichsam  einander  begegnen  können.  Entweder,  wenn 
der  Gegenstand  die  Vorstellung  oder  diese  den  Gegenstand 


>)  Ebenda  Nr.  513. 
«)  Kr.  217. 


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allein  möglich  maebt.  Ist  das  Erstere,  so  ist  diese  Beziehung 
nur  empirisch,  und  die  Vorstellung  ist  niemals  a  priori  möglich. 
Und  dies  ist  der  Fall  mit  Erscheinungen  in  Ansehung  dessen, 
was  an  ihnen  zur  Empfindung  gehxirt.^^)  Bier  tritt  die 
Systematisierung  der  Erfahrungselemente  nach  ihrem  Ursprünge 
klar  zu  Tage.  Es  wird  ausdrücklich  betont,  daüs  in  Ansehung 
der  Empfindung  der  Gegenstand  die  Vorstellung  möglich 
macht  Wir  wissen  aber,  wie  eng  der  Begriff  der  Empfindung 
bei  Kant  gefafst  ist;  dazu  gehört  wohl  alles,  was  Locke 
sekundäre  Qualitäten  genannt  hat.  Ob  aber  unter  diesen 
Begriff  auch  die  räumlichen  Modifikationen  der  empirischen 
Anschauung  mitzuzählen  sind,  daftir  läfst  sich  in  der  ganzen 
Kritik  kein  Beleg  finden.  Vielmehr  ist  das  Gegenteil  der  Fall. 
Die  Gestalt  wird  als  etwas  Apriorisches  der  aposteriorischen 
Empfindung  entgegengestellt:  „Wenn  ich  von  der  Vorstellung 
eines  Körpers  das  . . .  was  davon  zur  Empfindung  gehört,  als 
Undurchdringlichkeit,  Härte,  Farbe  usw.  absondere,  so  bleibt 
mir  aus  dieser  empirischen  Anschauung  noch  etwas  ttbrig, 
nämlich  Ausdehnung  und  Gestalt.  Diese  gehören  zur  reinen 
Anschauung,  die  a  priori  auch  ohne  wirklichen  Gegenstand 
...  als  eine  blofse  Form  der  Sinnlichkeit  im  Gemlite  statt- 
findet."^) Ist  aber  diese  genetische  Definition  der  Gestalt 
richtig,  so  taucht  die  Schwierigkeit  von  neuem  auf.  Denn 
wenn  die  Gestalten  reine  Anschauungen  sind,  so  mttTste  gezeigt 
werden,  wie  sie  vom  Räume,  als  allgemeinster  Form  der 
äufseren  Sinnlichkeit,  abgeleitet  werden  können.  Zeigt  sich 
aber,  dafs  dies  unmöglich  ist,  so  ist  dies  nicht  eine  Lücke, 
sondern  ein  Beweis  fttr  die  Aposteriorität  der  räumlichen 
Mannigfaltigkeit,  denn  der  Beweis  für  die  Apriorität  der  Formen, 
der  Sinnlichkeit  wurde  und  konnte  nur  flir  Baum  und  Zeit 
geliefert  werden,  nicht  aber  für  die  unerschöpfliche  Mannig- 
faltigkeit ihrer  figürlichen  Entfaltung.  Es  scheint  jedoch,  dafs 
Kants  schwankende  Stellung  zur  Bestimmung  des  Ursprungs 
der  Gestalt  darauf  zurückzuführen  ist,  dafs  ihm  die  geo- 
metrischen Konstruktionen  vorgeschwebt  haben,  diese  sind 
wirklich  a  priori;  nicht  aber  konnte  er  dies  von  der  Gestalt 


»)  Kr.  124  f. 
»)  Kr.  85. 


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der  konkreten  Dinge  behaupten.  Wir  haben  allen  Grand, 
nach  der  Art,  wie  sich  Kant  die  Dinge  an  sich  gedacht  haben 
mnla,  anzunehmen,  dafs  er  die  Mannigfaltigkeit  der  räumliehen 
Gestalten  der  empirischen  Anschauung,  in  derselben  Weise 
wie  dasjenige,  was  er  zur  Empfindung  zählt,  den  bestimmenden 
Gründen  an  den  Dingen  an  sich  zugeschrieben  haben  mufs 
und  nicht  etwa  der  schöpferischen  Tätigkeit  der  apriorischen 
Formen  der  Sinnlichkeit,  i) 

Die  weitere  Frage,  ob  Kant  mit  diesem  Zugeständnis  dem 
Resultat  der  transscendentalen  Ästhetik  Abbruch  tut,  scheint 
mir,  sofern  es  nur  die  Gestalt  der  Erscheinung  betrifft,  yer- 
neinend  beantwortet  werden  zu  können.  Wir  können  zwar 
die  besonderen  Figuren  der  Erscheinungen  nicht  nach  unserem 
Gefallen  gestalten,  wir  müssen  vielmehr  abwarten,  in  welcher 
Wdse  das  yon  uns  yölUg  unabhängige  Ding  an  sich  uns  affi- 
zieren  und  die  determinierte  Figur  uns  darbieten  wird;  wir 
können  aber  trotzdem  von  dieser  Erscheinung  ,  vieles  a  priori 
aussagen*',  weil  die  allgemeine  Form,  nämlich  der  Raum,  in  dem 
allein  sie  erseheinen  kann,  eine  apriorische  subjektive  Form  ist, 
somit  auch  fbr  die  besondere  Erscheinung  seine  Eigenschaften 
bewahrt^  sie  gleichsam  in  seine  Form  hineinzwingt  und  ihr 
dieselbe  aufdrängt  Infolgedessen  wird  jede  Erscheinung  trotz 
der  Besonderheit  ihrer  Gestalt  dieser  allgemeinen  Form  des 
Baumes  entsprechen  müssen.  Sie  wird  dreidimensional  sein  und 
alle  Axiome  der  Geometrie,  die  vom  Baume  überhaupt  gelten, 
werden  sieh  auch  an  ihr  bewahrheiten;  und  wenn  sie  derart 
gestaltet  ist,  dafs  ihre  Figur  sich  auf  eine  mathematische  Formel 
bringen  UUst,  so  werden  alle  die  Begeln  von  ihr  ausgesagt 
werden  können,  die  von  einer  entsprechend  konstruierten  Figur 
der  Geometrie  gelten.  Denn  es  ist  ein  und  derselbe  Raum,  mit 
dem  wir  in  der  Geometrie  operieren,  und  in  den  sich  die  Er- 
seheinungen  kleiden  müssen;  beide  Male  ist  er  nur  die  Form 
der  äulseren  Sinnlichkeit 

Granz  anders  steht  es  mit  der  Frage  nach  dem  Ursprung 
der  Bewegung.  Die  Beantwortung  dieser  Frage  kann  für  die 
Erkenntnistheorie  Kants  nicht  gleichgültig  sein.    Die  Bewegung 


1)  Man  vgl  Reflexion  Nr.  658.   „Die  Figur  ist  QualltSt,  darin  lassen 
flfeh  Boeh  Bäume  untenehelden." 


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der  Erschemangen  läfst  sich  ebenfalls  nicht  aus  der  Form  des 
Baumes  ableiten,  sondern  mufs  auf  bestimmende  Gründe  in  den 
Dingen  an  sieh  selbst  zurückgeführt  werden,  und  zwar  so,  dals 
für  jede  Bewegung  ein  besonders  bestimmter  „Znstand*  —  ich 
mufs  mich  in  Ermangelung  eines  entsprechenderen,  dieses  phäno- 
menomorphen  Ausdruckes  bedienen  —  im  Dinge  an  sich  voraus- 
zusetzen sein  wird.  Abgesehen  davon,  dafs  dies  bei  der  Zeit- 
losigkeit  und  ünveränderlichkeit  der  Dinge  an  sich  nicht  gut 
denkbar  ist  (was  aber  schliefslich  auf  die  Beschränktheit  und 
Einseitigkeit  unseres  Erkenntnisvermögens  zurückgeführt  werden 
könnte),  so  taucht  doch  die  Frage  auf,  wie  kommt  es,  daTs 
die  Verhältnisse,  die  durch  diese  determinierte  Bewegung  anter 
den  Erscheinungen  geschaffen  werden,  mit  unserer  Erkenntnis 
dieser  Verhältnisse  übereinstimmen?  Hiermit  jedoch  kommen 
wir  auf  das  Problem  der  empirischen  Gesetze,  das  erst  bei  der 
Untersuchung  der  Tragweite  der  Apriorität  der  Kategorien  er- 
örtert werden  kann. 

Wir  wollten  also  folgendes  feststellen: 

1.  Der  Mangel  einer  Deduktion  des  Inhaltes  der  Anschauung 
in  Kants  kritischem  Werke  ist  nicht,  wie  Schopenhauer  meint, 
eine  Folge  der  vermeintlichen  Verwirrung  von  Anscha^png  nnd 
Denken.  Vielmehr  hat  die  Beschaffenheit  dieses  Inhaltes  es 
nicht  gestattet,  eine  derartige  Deduktion  in  eine  Kritik  der 
reinen  Vernunft  aufzunehmen.  Dafs  es  aber  trotzdem  wünschens- 
wert wäre,  dafs  Kant  sich  deutlicher  über  den  Charakter  des 
ungeordneten  Materials  ausgesprochen  hätte,  unterliegt  keinem 
Zweifel. 

2.  Die  Tatsache  der  Aposteriorität  des  Mannigfaltigen,  der 
empirischen  Anschauung,  dem  die  Gestalt  einzuordnen  ist, 
schränkt  die  Tragweite  der  „Kopernikanischen  Drehung*  zwar 
auf  ihr  richtiges  Mafs  ein,  widerlegt  sie  aber  nicht 

8.  Das  Besultat  der  transscendentalen  Ästhetik  wird  durch 
die  festgestellte  Beschaffenheit  des  Mannigfaltigen,  sofern  Emp- 
findung und  Gestalt  in  Betracht  kommen,  nicht  beeinträchtigt 
Hingegen  bietet  der  Begriff  der  Bewegung  Schwierigkeiten,  die 
aber  die  Ästhetik  nicht  antasten,  denn  sie  gehören  zum  Problem 
der  Möglichkeit  empirischer  Gesetze. 

Es  sei  noch  hervorgehoben,  dafs  ähnlich  wie  Schopenhauer 
auch  Lotze  eine  Ableitung  der  Mannigfaltigkeit  vermlCst    Er 


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sieht  aber  daraas  die  entgegengesetzte  Konseqaenz.  Er  meint: 
J)k  Unznläogliehkeit  dieser  Ansicht  lag  darin,  dafs  sie  dem 
Geiste  zwar  die  Anschannng  des  Baumes  als  angeborenen 
Besitz  zuschrieb,  aber  nicht  versuchte,  die  Benutzung  dieses 
Besitzes  zu  erklären.  Wir  haben  nicht  nur  eine  Anschauung 
des  leeren  Baumes,  sondern  eine  räumliche  Anschauung  der 
inhalt?ollen  Welt,  und  es  war  nachzuweisen,  wie  in  jener  leeren 
Form,  die  wir  dem  Wirklichen  der  Erfahrung  entgegenbringen, 
dieses  Wirkliche  seine  bestimmten  Plätze  ein-  und  seine  be- 
stimmten Gestalten  annimmt  Die  Lösung  dieser  Aufgabe  war 
unmöglich  ohne  die  Voraussetzung,  dafs  zwischen  den  Dingen 
selbst  mannigfache  Beziehungen  bestehen,  deren  eigentümliche 
Unterschiede  nnd  Bedeutungen  durch  entsprechende  .Formen 
räomlicher  Beziehungen  sich  abbilden  oder  in  die  Sprache  des 
Ranmes  übersetzen  lassen/*^)  Noch  deutlicher  heifst  es  an  anderer 
Stelle:  „Es  ist  ganz  unzulässig,  so  wie  namentlich  die  populären 
Darstellungen  aus  seiner  [Kants]  Schule  förmlich  in  diesen  Ge- 
danken schwelgten,  die  Dinge  an  sich  als  völlig  fremdartig  den 
Formen  zu  fassen,  in  denen  sie  uns  doch  erscheinen  sollen ;  fttr 
die  bestimmten  Orte,  Gestalten  und  Bewegungen,  welche  wir  die 
Erscheinungen  im  Räume  einnehmen,  behaupten  oder  ausführen 
sehen,  ohne  sie  nach  unserem  Gefallen  ändern  zu  können,  muls 
es  Bestimmongsgründe  in  dem  Reiche  der  Dinge  an  sich  geben."  >) 
Ebenso  erblicken  Laas  und  Bergmann  in  diesem  Umstände 
eine  Schwierigkeit  für  die  Erkenntnistheorie  Kants.  Bergmann 
meint:  „Man  kann  nur  annehmen,  dafs  die  bestimmte  räumliche 
nnd  zeitliche  Verbindung,  in  welcher  der  Verstand  die  Im- 
pressionen vorfindet  ihm  keine  Wahl  lasse,  in  welcher  Ordnung 
er  sie  zusammenfassen  wolle,  damit  sie  der  Forderung  durch- 
gängiger Regelung  entsprechen."')  Ähnlich  schon  vorher 
Laas:  „Wie  grofs  in  Wirklichkeit  Raum-  und  Zeitlängen,  wie 
intensiv  Qualitäten  angesetzt  werden  müssen,  das  ist  doch 
wohl  auch  eine  Frage,  welche  Objektivität  und  gesetzlich 
geordnete  Erfahrung  angeht,  eben  so  angeht,  wie  die,  welches 


0  Lotze,  Mikrokosmos,  2.  Anf  1.  496. 
*)  Derselbe,  Metaphysik,  2.  Aufl.  201 


■)  Bergmann,  Sein  und  Erkennen  Ol.    Man  Tgl.  auch  Geschichte 
der  Philos.  II,  63. 


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58 

die  objektive  Abfolge  der  Ersoheinangen  sei.  Dieselbe  mrd 
in  der  Theorie  der  Bedingnngen  der  Erfahrung  nirgends  erörtert 
Mag  sein,  dafs  diese  Bedingungen,  kantiseh  geredet,  a  posteriori 
sind  und  das  Materiale  betreffen:  aber  so  ist  ja  wohl  aach 
sofort  deatlioh,  dafs  ohne  MitberUeksichtignng  dieser  Seite  der 
Erfahrung  diese  nicht  aufzubauen  war.  Hätte  Kant  auf  sie 
eingehender  Acht  gehabt,  so  wäre  es  ihm  yielleicht  doch 
rationeller  erschienen,  aus  den  Materialien  die  Formen  zu 
deduzieren."  1)  Aber  die  angeftihrten  Denker  verquicken  das 
Problem  der  Mannigfaltigkeit  mit  der  Frage  der  Synthesis 
dieser  Mannigfaltigkeit,  Fragen,  die  wie  wir  gesehen  haben, 
getrennt  behandelt  werden  mttssen. 


0  Lau,  Idealismus  und  PoBitivismus  HI,  483. 


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Wie  ist  eine  notwendige  Übereinstimmung 

unserer  Verknüpfung  der  Gegenstände  der 

Erfahrung  mit  ihrer  tatsächlichen  Affinität 

zu  erklären? 


Diese  Frage  ist  die  positive  Seite  des  Problems  der  trans- 
scendentaleD  Dedaktioa  der  reinen  Yerstandesbegriffe.  Ihre 
Beantwortung  ist  nicht  so  einfach,  wie  diejenige  der  Ästhetik 
hinaichtlich  der  Übereinstimmung  der  Form  der  Anschanang 
mit  der  Erscheinung.  Dort  genttgte  die  Entdeckung,  dafs  der 
Baum  eine  subjektive  Anschauung  ist.  Der  Raum  ist  aber  so 
allgemein  und  dabei  so  einfach,  dafs  alle  äufseren  Erscheinungen 
trotz  ihrer  Mannigfaltigkeit  in  ihm  aufgenommen  werden  können. 
Anders  steht  es  mit  dem  Verhältnis  der  Erscheinungen  unter- 
emander.  Die  Arten  der  Verknttpfung  des  Mannigfaltigen  sind 
sehr  Ycrsehieden.  Die  Erscheinungen  können  zueinander  im 
Verhältnis  yon  Substanz  und  Akzidenz,  vcfH  Ursache  und  Wir- 
kung, Yon  Gemeinschaft  oder  Wechselwirkung  stehen.  Es 
mufste  daher  ein  apriorisches  Prinzip  gefunden  werden,  das 
nicht  nur  alle  möglichen  Verknttpfungsarten  umfafst,  sondern 
es  mnisten  noch  ttberdies  alle  mannigfachen  Arten  der  Synthesis 
aus  ihm  abgeleitet  werden  können,  was  beim  Baume  hinsicht- 
lieh der  räumlichen  Mannigfaltigkeit  unmöglich  war. 

Dieses  Prinzip  entdeckt  Kant  in  unserem  ursprünglichen 
Selbstbewurstsein  und  nennt  es  „die  transscendentale  Einheit 
der  Apperzeption^.  Wie  die  Bäumlichkeit  und  Zeitlichkeit  der 
Erscheinungen  erst  durch  die  Anschauungsweise  unserer  Sinn- 
lichkeit zustande  kommt,  weil  die  Dinge,  die  uns  erscheinen, 
an  sich   weder   räumlich    noch   zeitlich   sind,   so   wird   die 


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60 

Verknüpfnng  der  Erscheinungen,  ja  sogar  der  einzelnen  Ein- 
drücke nicht  bereits  durch  die  Sinne  vollzogen,  sondern  ist 
das  Produkt  des  spontanen  Verstandes.  Denn  jede  Synthesis 
setzt  Spontaneität  voraus;  die  Sinnlichkeit  ist  aber  nur  rezeptiv. 
Es  ist  demnach  klar,  woher  die  Übereinstimmung  des  ver- 
bundenen Materials  mit  der  von  uns  vollzogenen  Verknüpfung 
herrührt.  Bekämen  wir  die  Dinge  bereits  in  fertigen,  geord- 
neten Verhältnissen  und  müfsten  wir  diese  Ordnung  von  der 
Natur  ablesen,  so  wäre  die  Möglichkeit  synthetischer  Urteile 
a  priori  gar  nicht  einzusehen.  Denn  die  Erfahrung  lehrt  uns 
nur,  dafs  etwas  geschieht,  oder  dafs  etwas  zu  einem  anderen 
in  einem  gevnssen  Verhältnis  steht;  sie  zeigt  aber  nicht  die 
Notwendigkeit  jenes  Geschehens  oder  dieses  Verhältnisses. 
Wird  aber  die  Zusammensetznng  erst  von  uns  aus  geschaffen, 
ist  die  Ordnung  der  Erscheinungen  das  Produkt  des  spontanen 
Verstandes,  so  kann  man  sagen,  dafs  wir  der  Natur  Gesetze 
vorschreiben  und  sie  infolgedessen  auch  a  priori  erkennen 
können.  Denn  unser  Verstand  steht  dann  zur  allgemeinen 
Gesetzmäfsigkeit  der  Natur  in  einem  ähnlichen  Verhältnis,  wie 
ein  intellectus  archetypus  zur  geschaffenen  Welt 

Kants  Theorie  ging  davon  ans,  dafs  der  Sinn  nichts  ver- 
bindet, und  dafs  keine  AUgemeingttltigkeit  möglich  ist,  wenn 
die  Verbindung  durch  Erfahrung  gegeben  wird.  Es  mufs  also 
dargetan  werden,  dafs  die  transscendentale  Apperzeption  diese 
ursprüngliche  Synthesis  bewirken  kann.  Kants  Beweis  ist 
folgender:  das  ,Ich  denke^  mufs  alle  meine  Vorstellungen  be- 
gleiten können.  Denn  sonst  wären  meine  Vorstellungen  nicht 
mein.  „Dieser  ...  Salz  ist  ...  analytisch  ...  denn  er  sagt 
nichts  weiter,  als  dafs  alle  meine  Vorstellungen  in  irgend  einer 
gegebenen  Anschauung  unter  der  Bedingung  stehen  müssen, 
unter  der  ich  sie  allein  als  meine  Vorstellungen  zu  dem  iden- 
tischen Selbst  rechnen  und  also  ...  durch  den  allgemeinen 
Ausdruck  ,Ich  denke'  zusammenfassen  kann.''  Mit  diesem 
Urteil  ,Ich  denke'  bin  ich  mir  aber  nicht  nur  bewnfst,  dafs 
ich  alle  Vorstellungen,  so  mannigfach  sie  auch  sein  mögen, 
zu  einem  Ganzen  zusammengefafst  habe,  sondern  ich  bin  mir 
aufserdem  noch  meines  identischen  loh  bewn&t    Daraus  läGst 


>)  Er.  188. 


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61 

sieh  zweierlei  folgeni.  ErsfeDS  beweist  die  Tatsache  der  Ver- 
binduog  manoigfaeher  VorstellaDgen  zu  einem  Ganzen,  dafs 
die  transseendentale  Apperzeption  ein  Vermögen  der  Synthesis 
ist  Zweitens,  da  diese  Vorstellungen  nirgendwo  anders  als 
in  nnserem  Bewofstsein  diese  Einheit  bilden,  ist  überdies  be- 
wiesen, dals  die  transseendentale  Apperzeption  eine  ursprüng- 
liche Synthese  schaffen  kann,  die  sie  als  apriorische  nicht 
Ton  aulsen  her  empfängt,  i) 

Dies  genügt  aber  noch  nicht  znr  Konstmktion  einer  apriori- 
schen Erkenntnis.  Wir  ersehen  zwar  daraas,  dars  die  trans- 
seendentale Apperzeption  der  „höchste  Punkt  ist,  an  dem  man 
allen  Verstandesgebrauch  ....  und  ....  die  Transscendental- 
Philosophie  heften  mufs*^;^)  allein  wir  haben  dadurch  erst  die 
Möglichkeit  der  „metaphysischen  Verbindung  im  Erkenntnis- 
Tcrmögen  a  priori'^')  erklärt,  nicht  aber  auch  „der  physischen 
der  Erscheinungen  untereinander**,')  die  sich  zunächst  auf  eine 
allgemeine  Synthesis  nicht  zurückführen  läfsi  Wir  müssen  also 
untersuchen: 

1.  In  welchem  Verhältnis  steht  die  allgemeine  meta- 
physische Synthesis  zur  physischen? 

2.  Wie  sind  die  besonderen  Arten  der  Verknüpfuog  der 
Erscheinungen:  nach  den  Verhältnissen  von  Substanz,  Kausalität, 
Gemeinschaft  usw.  aus  dem  obersten  Prinzip  der  Syuthesis  ab- 
zuleiten ? 

Hinsichtlich  des  ersten  haben  wir  Kants  Antwort  bereits 
augedentet  Für  das  Verhältnis  der  metaphysischen  Synthesis 
zur  empirischen  Verwandtschaft  der  Erscheinungen  kommen 
drei  Möglichkeiten  in  Betracht:  Entweder  sind  sie  einander 
ähnlieh  oder  sie  stehen  zueinander  im  Verhältnis  von  Grund 
und  Folge.  Wenn  letztes  der  Fall  ist,  so  kann  wiederum 
entweder  die  Affinität  der  Erscheinungen  der  Grund  ihrer 
metaphysischen  Verknüpfung  sein,  oder  aber  umgekehrt  die 
metaphysische  Synthesis  ist  der  Grund  und  die  empirische 
Verwandtsehafl  deren  Folge. 

<)  Man  vgl.  L.  Blätter  20:  „das  Gemfit  ist  sich  selbst  das  Urbild 
▼OB  einer  Synthesis  dnreh  das  ursprüngliche,  nicht  abgeleitete  Denken**, 
uAd  S.  19:  „das  Ich  ist  das  Original  aller  Objekte**. 

«)  Kr.  134. 

<)  Man  vgl.  Er.  201  Anm. 


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62 

Die  Ähnlichkeit  oder  Gleichheit  der  Verbindung  mit  der 
Qualität  des  Verbundenen,  ohne  dafs  sie  irgendwie  voneinander 
abhängig  sein  sollten,  kann  keine  synthetischen  Urteile  a  priori 
ermöglichen,  wenn  man  nicht  eine  prästabilierte  Harmonie  oder 
ein  Präformationssystem  der  reinen  Vernunft  annimmt;  diese 
aber  sind  nach  Kant  aus  bekannten  Gründen  abzuweisen. 
Ebensowenig  kann  man  mit  der  zweiten  Möglichkeit  aus- 
kommen. Wäre  die  metaphysische  Verbindung  nur  eine  Folge 
der  den  Erscheinungen  immanenten  Affinität,  so  wäre  alle 
Erkenntnis  dieser  metaphysischen  Verbindung  der  Erscheinungen 
untereinander  von  der  Erfahrung  abgeleitet,  die  Gesetzmäfsig- 
keit  der  Natur  wäre  dann  nur  eine  zufällige,  könnte  also 
a  priori  gar  nicht  dargetan  werden.  Es  ist  demnach  klar, 
dafs  fttr  Kant  nur  die  dritte  Möglichkeit  in  Betracht  kommen 
kann.  ^)  Nur  wenn  die  metaphysische  Verknüpfung  der  Grund 
der  physischen  ist,  nur  wenn  das  allgemeine  Verhältnis  der 
Erscheinungen  untereinander  kein  anderes  sein  kann  als  die 
Ordnung,  in  der  sie  unser  oberes  Erkenntnisvermögen  zu- 
einander stellt,  ist  die  Möglichkeit  apriorischer  Erkenntnisse 
zu  erklären. 

Diese  Ansicht  hat  —  so  lange  sie  nur  von  der  allgemeinsten 
Form  der  Synthesis  handelt  —  nichts  Befremdliches  an  sich. 
Dafs  die  Erscheinungen  dem  allgemeinen  Gesetze  des  Ver- 
standes gemäfs  sein,  dafs  sie  einer  begrifflichen  Auffassung 
fähig  sein  müssen,  leuchtet  ein,  wenn  man  bedenkt,  dafs  sie 
fttr  uns  anderenfalls  nichts  wären.  „Daher  wird  alles,  was 
uns  ...  durch  Sinne  nur  bekannt  werden  kann,  unter  der 
allgemeinen  Bedingung  eines  Begriffes  stehen,  d.i.  der  Regel 
gemäfs  sein,  wodurch  es  möglich  ist,  von  Dingen  Begriffe  zu 
bekommen  und  alles  mit  den  Begriffen  der  Dinge  zu  ver- 
knüpfen.'* 2)  Die  Schwierigkeit  beginnt  erst,  wenn  man  aus 
der  Einheit  der  Apperzeption  die  verschiedenen  Kategorien 
ableiten  will.  Die  Natur  ist  nicht  ein  Aggregat  von  Er- 
scheinungen, die  in  einem  generellen  Verhältnis  der  Synthesis 

>)  Man  vgl.  L.B1.  190  ZeUe  7  oder  S.72  dieser  Schrift. 

>)  Reflexton  Nr.  947.  Man  vgl.  auch  Reflexion  Nr.  955,  wo  es  heilst: 
.Weil  wir  ohne  Begriff  niclits  denlcen  Icönnen,  so  mufs  ein  jeder  Qegen- 
stand,  den  wir  denicen  sollen,  ein  Verhältnis  der  £mpfindang  zum  Begriff 
überhaupt  haben.** 


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63 

zneinandeT  gteben;  die  wirkliche  Affinität  der  uns  gegebenen 
Gegenstände  läfst  sich  durch  das  blofse  Zusammensein  in 
einem  Bewnfstsein  keineswegs  erklären.  Es  mnfs  also  nicht 
bloCs  gezeigt  werden,  dafs  die  Erscheinungen  schon  so  ins 
Bewurstsein  kommen  müssen,  dafs  sie  in  ihm  yereinigt  werden 
können,  sondern  auch  wie  sie  durch  diese  Vereinigung  in  einem 
transscendentalen  Bewuistsein  ihre  notwendige  Affinität  unter- 
einander erhalten,  die  sich  in  den  mannigfachen  Verhältnissen 
(Kategorien)  äufsert  Wir  können  also  unsere  zweite  Frage 
auch  so  ausdrucken:  Wie  können  Kategorien  als  Gesetzmäfsig- 
keit  schaffende  Prinzipien  aus  der  transscendentalen  Einheit 
der  Apperzeption  abgeleitet  werden? 

So  paradox  und  gewagt  auch  dies  klingen  mag,  so  mufs 
doch  behauptet  werden,  dafs  die  transscendentale  Deduktion 
der  Kategorien  streng  genommen  nur  als  eine  Deduktion  der 
transscendentalen  Einheit  der  Apperzeption  als  obersten  Prinzips 
alles  Verstandesgebrauchs  angesehen  werden  darf.  Hingegen 
wird  man  in  ihr  umsonst  eine  Ittckenlose  Ableitung  der  Ver- 
standesbegriffe, wie  dies  der  Titel  yerheifst,  suchen,  denn  diese 
wird  von  Kant  —  hier  wenigstens  —  nicht  geleistet  Bewiesen 
wird  das  Merkmal  der  Apriorität  von  allen  denjenigen  trans- 
seendentalen  Funktionen,  die  die  allgemeinsten  Synthesen  be- 
wirken. Die  Apriorität  der  Verknüpfung  der  Erscheinungen 
durch  die  Kategorien  wird  jedoch  nur  behauptet,  aber  nicht 
bewiesen.  Der  Übergang  von  den  allgemeinsten  zu  den  kate- 
gorialen  Formen  der  Verknüpfung  kommt  unvermittelt,  und  ihre 
apriorische  Bedeutung  wird  nur  als  Faktum  hingestellt,  i) 

Wir  ersehen  dies  am  besten,  wenn  wir  an  Hand  des  von 
Kant  angegebenen  kurzen  Begriffs  der  Deduktion  seinen  Be- 
weisgang verfolgen:  „Sie  [die  Deduktion]  ist  die  Darstellung 


^  Mau  vgl.  besonders  RIehl  a.  a.  0.  516  f.  Es  sei  noch  bemerkt, 
dab  es  der  folgenden  Aosftlhniiig  vollkommen  fern  liegt,  eine  Kritik  der 
Kategorienlehre  sein  zu  wollen.  Da  jedoch  im  Folgenden  gezeigt  werden 
wird,  dab  Kant  die  transscendentale  Affinit&t  der  Erscheinungen  als 
den  zureichenden  Grund  ihrer  empirischen  Verwandtschaft  annimmt,  so 
ersebeint  es  notwendig,  darauf  hinzuweisen,  dals  Kant  für  diese  seine 
Behauptung  keinen  befriedigenden  Beweis  geliefert  hat,  damit  nicht  aus 
dem  Mangel  des  Beweises  auf  das  Nichtvorhandoiisein  der  zu  beweisenden 
Behaoptong  geschlossen  werde. 


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64 

der  reinen  Verstandesbegriffe  ...  als  Prinzipien  der  Möglichkeit 
der  Erfabmng,  dieser  aber  als  Bestimmnng  der  Erseheinnngen 
in  Ranm  nnd  Zeit  überhaupt,  —  endlich  dieser  ans  dem  Prinzip 
der  ursprünglichen  synthetischen  Einheit  der  Apperzeption 
als  der  Form  des  Verstandes  in  Beziehung  auf  Baum  nnd 
Zeit  als  ursprüngliche  Formen  der  Sinnlichkeit^ 

Die  Sinne  verbinden  nichts,  sie  liefern  isolierte  Eindrücke. 
Wenn  wir  das  Vermögen,  das  die  Synopsis  der  Eindrücke  zu 
„ganzen"^)  Vorstellungen  ermöglicht,  Apprebension  nennen, 
60  ist  zunächst  nicht  klar,  ob  diese  Apprebension  bei  voller 
Wahrung  ihrer  Spontaneität  als  Verbindungsfnnktion  eine 
empirisch  bedingte  oder  eine  rein  transscendentale  ist  Eine 
empirisch  bedingte  Apprebension  könnte  nur  dann  eine  Ver- 
bindung hervorbringen,  wenn  die  Anleitung  dazu  von  der 
Erscheinung,  genauer  von  dem  affizierenden  Dinge,  also  a 
posteriori  ausginge.  Solch  eine  Apprebension  könnte  uns  zu 
unserem  Zwecke  nichts  nützen,  weil  sie  keine  Erkenntnisse 
a  priori  ermöglicht  Die  Synthesis  der  Apprebension  mufs 
deshalb  eine  transscendentale,  d.  i.  eine  solche  Funktion 
sein,  die  notwendige  und  allgemeingültige  Erkenntnisse  er- 
möglicht Diese  ihre  Transscendentalität  kann  aber  leicht 
bewiesen  werden.  Baum  und  Zeit  sind  Anschauungsformen 
unserer  Sinnlichkeit,  sie  sind  nicht  von  der  Erfahrung  her- 
genommen, sondern  a  priori  gegeben.  Da  sie  aber  ein  Er- 
zeugnis der  Bezeptivität  sind,  so  können  sie  zunächst  nur  die 
Möglichkeit  des  Neben-  und  Nacheinanders  darstellen.  Baum 
und  Zeit  sind  aber  mehr  als  dies,  sie  sind  nicht  nur  An- 
schauungsformen, sondern  selbst  Anschauungen,  ganze  Vor- 
stellungen. Solche  können  sie  aber  nur  werden  durch  das 
Hinzutreten  einer  spontanen  Funktion  zu  dem  gegebenen 
apriorischen  Mannigfaltigen,  die  diese  Synthesis  a  priori 
bewirkt,  weil  auch  das  a  priori  gegebene  Mannigfaltige  der 
Anschauungsformen  keine  Verbindung  enthält  —  also  haben 
wir  eine  transscendentale  Synthesis  der  Apprebension,  die 
auf  aposteriorische  Gründe  nicht  angewiesen  ist 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Einbildungskraft,  obwohl  ihr 
Geschäft  ein  viel  komplizierteres  ist   Hat  es  die  Apprebension 


0  Kr.  A  102  ZeUe  9. 


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65 

mit  einfachen  Elementen  zn  tnn,  die  sie  —  soweit  es  anf  sie 
als  rein  synthetisehes  Vermögen  ankommt  —  zu  einem  oder 
vielen  Ganzen  zn  verbinden  hat,  so  mnis  eine  Einbildungs- 
kraft, wenn  sie  transscendental  sein  soll,  sehr  versehiedenartig 
mit  den  Erseheinnngen  yerfahren.  Die  empirische,  immer  nur 
reprodnktive  Einbildungskraft  assoziiert  nicht  nach  Belieben 
die  Vorstellnngen  miteinander,  sondern  nach  bestimmten  empi* 
risehen  Regeln.  Dementsprechend  wird  die  transscendentale 
oder,  wie  sie  von  Kant  anch  genannt  wird,  produktive  Ein- 
bildungskraft als  der  apriorische  Grund  dieser  empirischen 
Regeln,  d.h.  der  notwendigen,  wenn  auch  besonderen  Ver- 
wandtschaft der  Erscheinungen  angesehen  werden  mttssen. 
Könnte  nun  eine  derartige  TransscendentaUtät  von  der  Ein- 
bildungskraft nachgewiesen  werden,  so  wäre  dadurch  mit 
einem  Schlage  die  positive  Seite  des  Problems  der  trans- 
seendentalen  Analytik  gelöst  Es  wäre  damit  sowohl  die 
notwendige  Gtosetzmäfsigkeit  und  Verwandtschaft  der  Er« 
scheinungen  erklärt,  wie  die  apriorische  Beziehung  der  Kate- 
gorien auf  diese  Erscheinungen  bewiesen. 

Indessen  gelingt  es  Kant  nicht,  diese  Fähigkeit  der 
produktiven  Einbildungskraft  zu  deduzieren,  obwohl  er  es  von 
ihr  behauptet,  indem  er  sagt,  dafs  die  empirische  Affinität 
blob  die  Folge  der  transscendentalen  ist^)  Der  Beweis  fttr 
die  TransscendentaUtät  der  produktiven  Einbildungskraft  wird 
ähnlieh  wie  derjenige  fttr  die  Apprehension  geftthrt  Von 
dieser  wurde  gezeigt,  dafs  selbst  Raum  und  Zeit  als  Vor- 
stellnngen unmöglich  sein  wttrden,  wenn  nicht  die  Apprehension 
als  transscendentale  Funktion  die  Verknüpfung  ursprünglich 
zustande  gebracht  hätte.  Kann  aber  ebenso  gezeigt  werden, 
dab  zur  Ausfllhrung  dieser  ursprünglichen  Synthesis  nicht 
minder  Einbildungskraft  notwendig  ist,  so  scheint  damit  zugleich 
ihre  TransscendentaUtät  bewiesen  zn  sein.  Dafs  dies  tat- 
sächlich der  Fall  ist,  kann  leicht  gezeigt  werden:  Wttrde  ich 
beim  Ziehen  einer  Linie  in  den  Gedanken  die  ersten  Teile 
derselben  „aus  den  Gedanken  verlieren  und  sie  nicht  re- 
produzieren, indem  ich  zu  den  folgenden  fortgehe,  so  würde 
niemals  eine  ganze  Vorstellung,  ...  ja  gar  nicht  einmal  die 


<)  Man  vgl  Kr.  A  114  und  123. 

PhlloMphliohe  Abhandlvngen.    XLI. 


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66 

reinsten  und  ersten  Grandvorstellongen  von  Ranm  und  Zeit 
entspringen  können.  Die  Sjnthesis  der  Apprehension  ist  also 
mit  der  Syntbesis  der  Reproduktion  unzertrennlieh  verbunden. 
Und  da  jene  den  transsoendentalen  Grund  der  Möglichkeit  aller 
Erkenntnisse  überhaupt . . .  ausmaeht,  so  gehört  die  reproduktive 
Synthesis  der  Einbildungskraft  zu  den  transscendentalen 
Handlungen  des  Gemttts  . .  .^  0 

Prüft  man  aber  diese  Argumentation,  so  ist  deutlieh  zu 
ersehen,  daüs  mit  dieser  Erörterung  nur  bewiesen  ist,  daTs  zur 
Wahrnehmung  Gedächtnis  notwendig  ist;  ans  dieser  Tatsache, 
die  nieht  erst  durch  eine  Deduktion  bewiesen  zu  werden 
brauchte,  folgt  aber  nichts  fttr  die  Erklärung  der  Möglichkeit 
apriorischer  Erkenntnisse.  Sehen  wir  jedoch  von  einem  Beweise 
ab  und  untersuchen  nur,  was  Kant  hierüber  lehrt,  so  zeigt 
sich,  dals  er  der  transscendentalen  Einbildungskraft  eine  viel 
ursprünglichere  Tätigkeit  zuschreibt,  als  dies  aus  dem  Beweise 
ftlr  ihre  Transscendentalität  zulässig  ist  Damit  kehren  wir 
zur  Frage  der  Kategorien  zurück. 

Wie  sich  Kant  den  Übergang  von  der  transscendentalen 
Apperzeption  zur  Affinität  der  Erscheinungen  denkt,  zeigt  eine 
lehrreiche  Stelle  aus  den  Losen  Blättern:  „Alles  Verhältnis 
der  Vorstellungen  durch  Begriffe  hat  eine  dreifache  Dimension: 
1.  das  Verhältnis  einer  Vorstellung  zum  Bewufstsein,  2.  einer 
anderen  Vorstellung  zum  Bewufstsein,  3.  beider  Vorstellungen 
zusammen  in  einem  Bewufstsein.  Dadurch  wird  allererst  die 
Verknüpfung  der  Vorstellungen  untereinander  möglieh  (eon- 
nexa  uni  tertio  sunt  connexa  inter  se).''^)  Dieser  letate 
Satz  drückt  mit  axiomatischer  Kürze  die  Lehre  der  Deduktion 
aus.  Die  transscendentale  Apperzeption  ist  nicht  nur  das 
Vermögen,  mannigfache  Vorstellungen  in  einem  Bewnffitsein 
zu  vereinigen  —  das  kann  auch  die  empirische  — ;  sie  ist 
nicht  nur  das  Gefäfs,  das  alle  Vorstellungen  in  sich  aufnehmen 
kann,  um  sie  zu  einem  zusammenhanglosen  Aggregat  zu  ver- 
binden. Sie  ist  vielmehr  das  Prinzip  der  Affinität  und  Asso- 
ziabilität  der  Erscheinungen,  die  durch  die  AufDahme  in  dieses 
ursprüngliche  Selbstbewufstsein    dergestalt   geordnet  werden, 


')  Kr.  A  102. 

')  Lose  Blätter  98. 


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67 

diifg  sie  in  mannigfachen  notwendigen  Verhältnigsen  zn  stehen 
kommen,  in  Verhältnissen  von  Substanz  und  Akzidenz,  von 
Ursaehe  nnd  Wirkung  usf. 

Die  Auseinandersetzung  dieses  Gedankens  wird  in  der 
Deduktion  durch  folgende  Betrachtung  eingeleitet:  „Wttrde 
der  Zinnober  bald  rot,  bald  schwarz,  bald  leicht,  bald  schw^ 
sein,  ein  Mensch  bald  in  diese,  bald  in  jene  tierische  Gestalt 
verändert  werden,  ana  längsten  Tage  bald  das  Land  mit 
Früchten,  bald  mit  Schnee  und  Eis  bedeckt  sein,  so  könnte 
meine  empirische  Einbildungskraft  nicht  einmal  Gelegenheit 
bekommen,  bei  der  Vorstellung  der  roten  Farbe  den  schweren 
Zmnober  in  die  Gedanken  zn  bekommen;  oder^  würde  ein 
gewisses  Wort  bald  diesem,  bald  jenem  Dinge  beigelegt . . ., 
ohne  dalB  hierin  eine  gewisse  Regel,  der  die  Erscheinungen 
schon  von  selbst  unterworfen  sind,  herrsohte,  so  konnte  keine 
empirische  Synthesis  stattfinden.  <)  Es  mufs  also  etwas  sein, 
was  selbst  diese  Reproduktion  der  Erscheinungen  mOglich 
macht,  dadurch  dafs  es  der  Grund  a  priori  einer  notwendigen 
synthetischen  Einheit  derselben  ist  Hierauf  aber  kommt 
man  bald,  wenn  man  sich  besinnt,  dafs  Erscheinungen 
nicht  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  das  blofse  Spiel 
nnserer  Vorstellungen  sind,  die  am  Ende  auf  Bestimmungen 
des  innerea  Sinnes  auslaufen.^ ') 

So  bald  indessen,  wie  Kant  dies  annimmt,  kommt  man 
nicht  darauf,  was  dieser  Grund  a  priori  einer  notwendigen 
synthetisclien  Einheit  sein  möchte,  um  so  weniger,  als  die 
Funktion  der  transscendentalen  Einbildungskraft  noch  nicht 
anseinandergesetzt  worden  ist  Dennoch  lälst  die  Betonung 
der  Snbjektiyiat  der  Erscheinungen  durch  die  Wendung,  dals 
rie  das  blofse  Spiel  der  Vorstellungen  sind,  keinen  Zweifel 
darüber,  dafis  von  einer  von  unserem  Verstände  unabhängigen 
Äffinittt  in  den  Erscheinungen  nicht  die  Rede  sein  kann. 
»Dingen  an  sich'  selbst  würde  ihre  GesetzmäTsigkeit  notwendig, 


>)  Man  beachte  die  HeterogenitiKt  dieser  Beispiele. 

>)  Kant  beginnt  hier  eine  neoe  Zeile,  daher  kommt  es,  dafs  in  den 
Haodbfiehem  nnd  anch  sonst  diese  Stelle  nur  bis  zn  dem  Worte  „statt- 
finden" zitiert  wird.  Wird  aber  der  folgende  Satz  nicht  mit  angeführt,  so 
besagt  diese  Stelle  genau  das  Gegenteil  von  dem,  was  Kant  wirklich  meint. 

»)  Kr.  A  JOD  f. 

5* 


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68 

aneh  aober  einem  Yerstande,  der  sie  erkennt,  zukommen. 
Allein  Erseheinongen  sind  nur  Yorstellangen  von  Dingen,  die 
naeh  dem,  was  sie  an  sieh  sein  mögen,  unerkannt  da  sind.  Als 
blolse  Vorstellungen  aber  stehen  sie  unter  gar  keinem  Gesetze 
der  Verknüpfung,  als  demjenigen,  welebes  das  verknüpfende 
Vermögen  vorsehreibt.^  i) 

Wir  sehen  somit,  wie  sieh  Kant  die  notwendige  Ver- 
wandtschaft der  Erscheinungen  erklärt  Auf  die  Frage,  warum 
der  Zinnober  nicht  bald  rot,  bald  schwarz  erscheint,  würden 
wir  antworten,  dafs  das  Ding,  das  die  Wahrnehmung  Zinnober 
in  uns  hervorruft,  unsere  Sinne  auf  eine  bestimmte  Weise 
af&ziere  und  dafs  diese  Affektion  eine  konstante  sei.  Kant 
kann  sieh  mit  einer  derartigen  Antwort  nicht  zufriedengeben. 
Erstens  darf  er  über  die  Beschaffenheit  der  Dinge  an  sieh 
nichts  aussagen,  was  doch  hier  offenbar  geschehen  würde. 
Viel  wichtiger  ist  aber  zweitens  der  Umstand,  dab  die  Eonstanz, 
von  der  hier  die  Rede  ist,  nur  durch  Erfahrung  und  nicht 
a  priori  festgestellt  werden  kann.  Die  Wissenschaft  muls 
jedoch  auf  einen  apriorischen  Beweis  der  Gesetzmäßigkeit  der 
Erscheinungen  und  des  Geschehens  bestehen,  wenn  sie  nicht 
der  Gefahr  ausgesetzt  sein  will,  dafs  die  Erfahrung  von  morgen 
ihren  heutigen  Sätzen  und  Gesetzen  zuwiderhandeln  werde. 

Die  Afßnität  der  Erscheinungen  muls  daher  auf  einem 
apriorischen  Prinzip  beruhen.  Der  Zinnober  behält  seine 
Eigenschaften,  weil  er  immer  in  dasselbe  Bewufstsein  auf- 
genommen wird,  das  ihm  diese  Regel  und  Ordnung  g^btl 
Das  Seltsame  dieser  Behauptung  sucht  Kant  dadurch  abzu- 
schwächen, dafs  er  erinnert,  der  Zinnober  sei  eigentlich  kein 
Ding,  sondern  nur  die  Erscheinung  eines  Dinges.  Dinge 
können  wir  nicht  gestalten;  dagegen  müssen  Vorstellungen 
diejenige  Form  annehmen,  die  ihnen  der  spontane  Verstand 
gibt,  weil  sie  als  solche  nirgendwo  anders  als  im  Bewufstsein 
existieren.  Man  mufs  jedoch  gestehen,  dafs  das  Befremdende 
dieser  Lehre  durch  eine  solche  Überlegung  nicht  ganz  be- 
seitigt wird. 

Dies  ist  der  Grund,  warum  realistisch  denkende  Geister 
sieh  niemals  mit  diesem  Paukte  der  Kantischen  Lehre  aus- 


»)  Kr.  164. 


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69 

söhnen  konnten,  oder  aber  glanbten,  diese  Lehre  im  realistisehen 
Sinne  anffassen  zu  müssen.  Dieser  AnfTassung  gegenüber 
erscheint  es  notwendig,  die  Bedeutung  der  transscendentalen 
Affinität  ansfbhrlieher  zn  erörtern.  Die  hierhergehörigen  Ans- 
fdhningen  sind  so  klar  und  unzweideutig,  dafs  wir  sie  nur 
anzufllhren  brauehen,  um  ihren  Sinn  richtig  zu  verstehen,  aber 
für  unseren  Zweck  auch  wörtlich  anführen  müssen. 

„Das  Erste,  was  uns  gegeben  wird,  ist  Erscheinung . .  • 
Weil  aber  jede  Erscheinung  ein  Mannigfaltiges  enthält,  mithin 
verschiedene  Wahrnehmungen  im  Gemüte  an  sich  zerstreut  und 
einzeln  angetroffen  werden,  so  ist  eine  Verbindung  derselben 
nötig,  welche  sie  in  dem  Sinne  selbst  nicht  haben  können. 
Es  ist  also  in  uns  ein  tätiges  Vermögen  der  Synthesis  dieses 
Mannigfaltigen,  welches  wir  Einbildungskraft  nennen  . . .  Die 
Einbildungskraft  soll  nämlich  das  Mannigfaltige  der  Anschauung 
in  ein  Bild  bringen;  yorher  mufs  sie  also  die  Eindrücke  in 
ihre  Tätigkeit  aufnehmen  ...  Es  ist  aber  klar,  dafs  selbst  diese 
Apprehension  des  ilannigfaltigen  allein  noch  kein  Bild  und 
keinen  Zusammenhang  der  Eindrücke  hervorbringen  würde, 
wenn  nicht  ein  subjektiver  Grund  da  wäre,  eine  Wahrnehmung, 
von  welcher  das  Gemüt  zu  einer  andern  übergegangen,  zu  den 
nachfolgenden  herüberzurufen  und  so  ganze  Reihen  derselben 
darzustellen,  d.  i.  ein  reproduktives  Vermögen  der  Einbildungs- 
kraft) welches  denn  auch  nur  empirisch  ist  Weil  aber,  wenn 
Vorstellungen,  so  wie  sie  zusammengeraten,  einander  ohne  Unter* 
schied  reproduzierten,  wiederum  kein  bestimmter  Zusammenhang 
derselben,  sondern  blofs  regellose  Haufen  derselben,  mithin  gar 
keine  Erkenntnis  entspringen  würde;  so  mufs  die  Reproduktion 
derselben  eine  Begel  haben,  nach  welcher  eine  Vorstellung  viel- 
mehr mit  dieser  als  mit  einer  anderen  in  der  Einbildungskraft 
in  Verbindung  tritt  Diesen  subjektiven  und  empirischen 
Grand  der  Beproduktion  nach  Begeln  nennt  man  die  Asso- 
ziation der  Vorstellungen.  —  Würde  nun  aber  diese  Einheit  der 
Assoziation  nicht  auch  einen  objektiven  Grund  haben,  so  dafs 
es  unmöglich  1)  wäre,  dafs  Erscheinungen  von  der  Einbildungs- 
kraft anders  apprehendiert  würden,  als  unter  der  Bedingung 
einer   möglichen    synthetischen  Einheit   dieser  Apprehension, 


<)  Verständlicher  and  deutlicher  wäre  hier  .möglich'  statt  «unmöglich*. 

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70 

so  wtlrde  es  aach  etwas  ganz  Zufälliges  sein,  dafs  sieh 
Erseheinungen  in  einem  Zasammenhang  der  mensehlichen 
Erkenntnisse  sehiekten.  Denn,  ob  wir  gleieh  das  Vermögen 
hätten,  Wahrnehmungen  zn  assoziieren,  so  bliebe  es  doch  an 
sieh  ganz  unbestimmt  and  zatällig,  ob  sie  aneh  assoziabel 
wären;  and  in  dem  Falle,  dafs  sie  es  nicht  wären,  so  wtlrde 
eine  Menge  Wahmehmangen  und  auch  wohl  eine  ganze  Sinn- 
lichkeit möglich  sein,  in  welcher  viel  empirisches  Bewalstsein 
in  meinem  Oemttt  anzutreffen  wäre,  aber  getrennt,  und  ohne 
dafs  es  zu  einem  Bewufstsein  meiner  selbst  gehörte,  welches 
aber  unmöglich  ist  Denn  nur  dadurch,  dafs  ich  alle  Wahr- 
nehmungen zu  einem  Bewufstsein  . . .  zähle,  kann  ich  bei  allen 
Wahrnehmungen  sagen,  dafs  ich  mir  ihrer  bewufst  sei  Es 
mufs  also  ein  objektiver,  d.  i.  vor  allen  empirischen  Gesetzen 
der  Einbildungskraft  a  priori  einzusehender  Grund  sein,  woranf 
die  Möglichkeit,  ja  sogar  die  Notwendigkeit  eines  durch  alle 
Erscheinungen  sich  erstreckenden  Gesetzes  beruht,  sie  nämlich 
durchgängig  als  solche  Data  der  Sinne  anzusehen,  welche  an 
sich  assoziabel  und  allgemeinen  Regeln  einer  durchgängigen 
Verknüpfung  in  der  Reproduktion  unterworfen  sind.  Diesen 
objektiven  Grund  der  Assoziation  der  Erscheinungen  nenne 
ich  die  Affinität  derselben.  Diesen  können  wir  aber  nirgends 
anders  als  in  dem  Grundsatze  von  der  Einheit  der  Apperzeption 
in  Ansehung  aller  Erkenntoisse,  die  mir  angehören  sollen,  an- 
treffen. Nach  diesem  müssen  durchaus  alle  Erscheinungen 
so  ins  Gemttt  kommen^)  oder  apprehendiert  werden,  dafs  sie 
zur  Einheit  der  Apperzeption  zusammenstimmen,  welches  ohne 
synthetische  Einheit  in  ihrer  Verknüpfung,  die  mithin  auch 
objektiv  notwendig  ist,  unmöglich  sein  würde  . . .  Die  Affinität 
aller  Erscheinungen  (nahe  oder  entfernte)  ist  eine  notwendige 
Folge  einer  Sjnthesis  in  der  Einbildungskraft,  die 
a  priori  auf  Regeln  gegründet  ist  ...  Es  ist  daher  zwar 
befremdlich,  allein  aus  dem  Bisherigen  doch  einleuchtend, 
dafs  nur  vermittelst  dieser  transscendentalen  Funktion  der 
Einbildungskraft  sogar  die  Affinität  der  Erscheinungen  . . . 
die  Reproduktion  nach  Gesetzen  . . .  möglich  werde;  weil  ohne 


0  Wohlgemerkt,  es  helfet  nicht:  sie  mttssen  derart  sein,  sondern 
„sie  müssen  so  ins  Gemttt  kommen^. 


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71 

«\^  gar  keine   Begriffe  von  Oegenständen  in  eine  Erfahning 
inftammenfliefsen  wttrden.'^O 

Dies  ist  deutlich  genüg,  jedooh  als  ob  Kant  jeder  Mils- 
ieatung  vorbeugen  wollte,  resümiert  er  seine  Lehre  in  folgenden 
Worten:  ,,Die  Ordnung  and  BegelmäJsigkeit  also  an  den  Er- 
seheinnngen,  die  wir  Katar  nennen,  bringen  wir  selbst  hinein, 
und  würden  sie  aueh  nicht  darin  finden  können,  hätten  wir 
sie  nicht  oder  die  Katar  anseres  Gemttts  arsprttnglich 
hineingelegt  Denn  diese  Katareinheit  soll  eine  notwendige, 
d.  i.  a  priori  gewisse  Einheit  der  Verknüpf ang  sein.  Wie 
sollten  wir  aber  wohl  a  priori  eine  synthetische  Einheit  aaf 
die  Bahn  bringen  können,  wären  nicht  in  den  nrsprünglichen 
Erkenntnisqnellen  nnseres  Gemttts  subjektive  Gründe  solcher 
Einheit  a  priori  enthalten,  and  wären  diese  sabjektiyen  Be- 
dingungen nicht  zugleich  objektiv  gültig,  indem  sie  die  Gründe 
der  Möglichkeit  sind,  überhaupt  ein  Objekt  in  der  Erfahrung 
zn  erkennen?^'') 

Will  man  dem  gegenttber  behaupten,  dals  nach  Kant  die 
Dinge  an  sich  uns  die  Erscheinungen  bereits  in  einer  intelli- 
giblen  Ordnung  geben,  der  Verstand  aber  nur  die  Aufgabe 
habe,  diese  intelligible  Ordnung  in  eine  empirische  umzusetzen, 
so  mnfs  gesagt  werden,  daJüs  Kant  hier  eine  äufserst  milsver- 
ständliehe  Sprache  führe  und  da£s  die  Verhütung  einer  so  groben 
Mifsdeutung  —  wie  sie  die  vorstehende  Interpretation  abgeben 
würde  —  lediglich  dem  Umstände  zu  verdanken  sei,  dafs  man 
sieh  mit  dem  Standpunkt,  der  aus  der  naiven  Lektüre  obiger 
Erörterungen  zu  gewinnen  ist,  nicht  so  leicht  versöhnen  könne. 
Dann  hätten  wir  es  nur  diesem  Zufall  zu  danken,  dab  der 
richtige  Sinn  der  Kantischen  Lehre  ans  erschlossen  worden  sei. 
Aber  selbst  wenn  der  angegebene  Wortlaut  der  Deduktion 
noch  irgend  welche  Zweideutigkeit  zulielse,  so  mülste  folgende 
Stelle  aus  den  Losen  Blättern  jeden  Zweifel  über  die  Bichtig- 
keit  unserer  Auffassung  zerstreuen.    „Die  Zusammensetzung^ 
—  heiist  es  dort  —  .ist  in  der  Vorstellung  des  Zusammen- 
gesetzten immer  bloft^unser  eigenes  Werk.    Wie  können  wir 
non  sagen,  dafs  das  Objekt  damit  übereinstimme?    Diese  Über- 


')Kr.  AllOff. 
9  Kr.  A  126. 


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72 

einstimmQDg  kaDn  doch  nicht  darin  bestehen,  dafs  die  Qualität 
der  Zusammensetzung  dem  Zusammengesetzten  ähnlich,  sondern 
dafs  eines  von  beiden  des  anderen  Grund  oder  Folge  ist  (das 
letztere  ist  es,  wenn  das  Objekt  blofs  Erscheinung 
ist).''0  Diese  Aufzeichnung  spricht  für  sich  selbst  Bliebe  es 
bis  jetzt  noch  unausgemacht,  ob  die  Affinität,  die  allererst  durch 
die  transscendentale  Einbildungskraft  möglich  wird,  bereits  durch 
die  Dinge  gegeben  werde  oder  nicht,  so  geht  aus  dem  An- 
geführten mit  aller  Bestimmtheit  hervor,  dafs  der  Verstand  ur- 
sprünglich die  Verwandtschaft  schafft  und  daCs  die  empirische 
Affinität  in  ihrer  ganzen  Qualität  nur  eine  Folge  der  trans- 
scendental  geschaffenen  ist 

Der  Sinn  dieser  Kantischen  Lehre  von  der  transscenden- 
talen  Schöpfung  der  Verwandtschaft  unter  den  Erscheinungen 
liegt  nicht  auf  der  Oberfläche  und  sie  ist  in  der  Tat  nicht  so 
befremdend,  wie  sie  zu  sein  scheint  Es  liegt  Kant  natürlich 
fem  zu  behaupten,  dafs  es  nur  der  Aufnahme  mannigfacher 
Vorstellungen  ins  Bewnistsein  bedürfe,  um  aus  ihnen  einen 
physischen  Konnex  zu  schaffen.  Man  könnte  ihm  entgegen- 
halten, dals  eine  unzusammenhängende  Bede  dadurch,  dafs  sie 
in  einem  Bewufstsein  vereinigt  wird,  noch  keinen  Zusammen- 
hang und  Sinn  bekomme.  Kants  Lehre  ist  jedoch  eine  viel 
tiefere.  Die  Sinne  verbinden  nichts;  sie  können  nur  unznsammen- 
hängende,  isolierte  Elemente  liefern.  Trotzdem  haben  wir  es 
niemals  mit  diesem  rohen  Material,  sondern  stets  mit  fertigen, 
ganzen  Vorstellungen  zu  tun,  die  überdies  noch  im  Konnex  mit- 
einander stehen.  Zwischen  der  passiven  Sinnlichkeit  einerseits 
und  dem,  im  gewissen  Sinne,  nur  rezeptivem  empirischen  Be- 
wufstsein andererseits  mnfs  daher  ein  Vermögen  tätig  sein,  das 
aus  den  mannigfachen  Empfindungen,  die  uns  dasjenige  Etwas 
bietet,  das  für  uns  z.  B.  ein  Apfel  werden  soll,  zum  Objekt 
Apfel  gestaltet  Wie  dies  zustande  kommt,  wissen  wir  nicht 
und  können  es  auch  niemals  beobachten.  Nun  zeigt  das  trans- 
scendentale Bewuistsein,  dafs  in  dem  Satze:  „Ich  denke^  sich 
offenbart,  anscheinend  ein  derartiges  Vermögen.  Dieses  trans- 
scendentale Selbstbewufstsein  mufs  es  also  sein,  das  die  Objekte 
gestaltet    Muis  aber  ftlr  das  Znstandekommen  eines  Objektes 


^)  Lose  Blätter  190. 


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73 

ein  derartiges  VermSgen  in  Anspruch  genommen  werden,  so  liegt 
nichts  im  Wege,  demselben  Vermögen  die  Schöpfung  der  Affi- 
nität zuzuschreiben,  welche  Tätigkeiten  beide  Male  unbewnist 
vor  sich  gehen  können.  Das  transscendentale  und  nicht  em-  . 
pirische  Selbstbewufstsein  ist  es  also,  das  die  Affinität  schafft 
Deshalb  kann  in  unserem  Beispiel  eine  unzusammenhängende 
Rede,  die  als  solche  sozusagen  das  transscendentale  Be- 
wofstsein  durchgegangen  ist,  nicht  wieder  zusammenhängend 
werden,  weil  sie  ins  empirische  aufgenommen  wird. 

Wir  wollen  die  Frage  der  Affinität  noch  von  einer  anderen 
Seite  ins  Auge  fassen.  Gesetzt  die  Erscheinungen  hätten  eine 
Tirtuell  bestimmte  Ordnung,  die  dem  Konnex  ihrer  Substrate, 
der  Dinge  an  sieh,  entspricht.  Die  Sinne,  die  die  Sprache  der 
Verbindung  nicht  verstehen,  liefern  uns  das  Material  der  An- 
schauung unyerbnnden.  Der  apriorische  Verstand  —  abgesehen 
davon,  dafs  er  nicht  anschaut  —  darf  bei  seiner  verknüpfenden 
Tätigkeit  von  der  Erfahrung  nichts  ablesen;  denn  dann  wäre 
die  Verknüpfung  a  posteriori.  Trotzdem  soll  aber  die  Ver- 
bindung, die  er  yoUzieht,  mit  der  tatsächlichen  Affinität  der 
Erscheinungen  notwendig  ttbereinstimmen.  Ich  frage,  wie  will 
man  hier  ohne  eine  piästabilierte  Harmonie  oder  etwas  ähn- 
liches auskommen?  Ferner,  wenn  die  Verknüpfung  von  einem 
von  uns  unabhängigen  Dinge  herrühren  soll,  wie  ist  die  Gesetz- 
mälsigkeit  der  Erfahrung  yerbürgt?  Müssen  wir  dann  nicht 
viehnehr  dem  Dinge  an  sich  vertrauen,  dafs  es  uns  keine 
Überraschungen  bereiten  werde;  dafs  z.  B.  die  Sonne,  die  bisher 
das  Wachs  erweicht  und  den  Ton  gehärtet  hat,  morgen  nicht 
umgekehrt  wirken  werde,  oder  dafs  der  fallende  Stein,  der 
bisher  den  Fallgesetzen  folgte,  morgen  es  nicht  mehr  tun,  oder 
gar  naeh  oben  fallen  werde?  Dieser  Schwierigkeit  kann  man 
nicht  dadurch  aus  dem  Wege  gehen,  dafs  man  behauptet,  falls 
unsere  Natur  einer  derartigen  Ungesetzmäfsigkeit  unterworfen 
sein  sollte,  würde  sie  nicht  erfahrbar  sein.  Denn  nehmen  wir 
folgenden  Fall:  Wir  sehen  eines  Tages  glühende  Kohlen  in  eine 
helle  Flüssigkeit  fallen  und  sich  daselbst  zu  leuchtenden  Flammen 
entzünden,  werden  wir  dieses  Phänomen  nicht  wahrnehmen 
können?  Wie  nun  aber,  wenn  in  unserem  Gefäls  nicht  flüssige 
Lnfk,  sondern  H^O  wäre  und  die  glühende  Kohle  trotzdem  auf- 
loderte (denn  wenn  es  nur  vom  Ding  an  sich  abhängen  sollte, 


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74 

80  iBt  Dieht  einzusehen,  waram  dies  nieht  möglieh  sein  könnte)  ? 
Warum  sollten  wir  diesen  Vorgang  in  unser  Bewulstsein  nieht 
ebensogut  aufnehmen  können?  Man  wird  vielleieht  entgegen- 
halten, dafs,  wenn  dereinst  etwas  derartiges  eintreten  sollte, 
wir  gleich  nach  der  Ursache  eines  derartigen  Verhaltens  fragen 
würden;  aber  dieses  Fragen  nach  der  Ursache:  worauf  beroht 
es  denn?  Die  Oesetzmäfsigkeit  der  Erfahrung  ist  ja  erst  voraos- 
gesetzt,  nicht  bewiesen,  denn  wir  haben  soeben  gesehen,  dafs 
die  Erfahrbarkeit  der  Natur  mit  der  Lückenhaftigkeit  des 
Eausalprinzips  gar  nicht  aufgehoben  wird.  Freilieh,  befände 
sich  unsere  Natur  in  völlig  chaotischem  Zustande,  so  ginge 
uns  die  Möglichkeit  sie  zu  begreifen  verloren.  Wie  aber,  wenn 
die  Erfahrung,  ähnlich  wie  eine  Reihe  von  Sprachformen,  im 
ganzen  regelmälsig  wäre,  in  einigen  Fällen  aber  Ausnahmen 
von  der  aligemeinen  Gesetzlichkeit  aufwiese?  Könnte  in  solchem 
Falle  die  Naturforsehung  nicht  ebenso  vonstatten  gehen,  wie 
die  Sprachforschimg  möglieh  ist,  trotzdem  sie  es  mannigfaeh 
mit  Ausnahmen  und  Unregelmäisigkeiten  zu  tun  hat?^)  Die 
Möglichkeit  der  Erfahrung  kann  also  in  diesem  Sinne  von  der 
Gültigkeit  des  Kausalsatzes  nicht  abhängen.  Nur  wenn  die 
Deduktion  so  aufgefafst  mrd,  dafs  die  transscendentale  Apper« 
zeption  es  bewirkt,  dals  die  Erscheinungen  durch  das  Medium 
der  transscendentalen  Synthesis  ihre  notwendige  Affinität  be- 
kommen, ist  die  Gesetzmäfsigkeit  der  Natur  a  priori  gesichert 
Sollen  hingegen  die  Erscheinungen  schon  von  den  Dingen  an 
sich  in  irgend  einer  Weise  bestimmt  sein,  so  wäre  die  Gesetz- 
mäfsigkeit des  Naturgeschehens  nur  ein  Postulat,  und  es  ist 
nicht  einzusehen,  warum  die  von  uns  gänzlich  unabhängigen 
Dinge  an  sich  eines  Tages  nicht  anders  zu  wirken  beginnen 
sollten,  als  sie  dies  bis  heute  getan  haben.  Zwar  mOftten  sie 
auch  dann  so  erscheinen,  dals  sie  zu  unserem  identischen  Be- 
wufstsein  gehören  könnten,  weil  sie  widrigenfalls  fttr  uns  nichts 
wären;  sie  brauchten  jedoch  nicht  mit  unseren  bisherigen  Natur- 
gesetzen übereinzustimmen. 

Bevor  wir  weitergehen,  ist  es  notwendig,  noch  «ine  Stelle 
zu  betrachten,  die  scheinbar  als  entscheidendes  Moment  gegen 


^)  Man  vgl.  dagegen  Erdmaan,  Über  Inhalt  und  Geltung  des  Kausal- 
satses,  27  iL 


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76 

unsere  Aaffassang  der  DednktioD  sprieht  Bei  der  Betonang  der 
Notwendigkeit  einer  Deduktion  der  Kategorien  hebt  Kant  hervor, 
dafs  diese  Deduktion  mit  schwierigeren  Problemen,  als  diejenige 
Ton  Raum  und  Zeit,  verbunden  ist  «Denn''  —  meint  er  —  ,es 
könnten  wohl  allenfalls  Erscheinungen  so  beschaffen  sein,  dafs 
der  Verstand  sie  den  Bedingungen  seiner  Einheit  gar  nicht 
gemäfs  fände  und  alles  so  in  Verwirrung  läge,  dafs  z.  B.  in  der 
Reihenfolge  der  Erscheinungen  sich  nichts  darböte,  was  eine 
B^el  der  Synthesis  an  die  Hand  gäbe  und  also  dem  Begriffe 
der  Ursaehe  und  Wirkung  entspräche,  so  dafs  dieser  Begriff 
abo  ganz  leer,  nichtig  und  ohne  Bedeutung  wäre/^  ^^^ 
dieser  Stelle  scheint  mit  Bestimmtheit  hervorzugehen,  erstens, 
dafs  Erscheinungen  einer  vom  Verstände  unabhängigen  Ordnung 
unterliegen  können,  zweitens,  dafs  sie  trotz  des  Vorhandenseins 
eines  Verstandes  mit  apriorischen  Kategorien  ihre  jetztige  Ord- 
nung gar  nicht  haben  mttssen.  Wie  kann  man  demnach  die 
Lehre  Kants,  dafs  die  Kategorien  es  sind,  die  die  Ordnung 
unter  den  Erscheinungen  schaffen,  so  auffassen,  als  ob  diese 
Erscheinungen  in  völlig  ungeordnetem  Zustande  unserem  Ver- 
stände gegeben  wttrden,  wenn  die  eben  angeführte  Stelle  den 
Erscheinungen  eine  gewisse  Autonomie  zugesteht?  Die  rea- 
listische Auffassung  der  Deduktion  seheint  demnach  die  einzig 
berechtigte  zu  sein? 

Es  ist  jedoch  klar,  dals  wenn  man  obige  Stelle  als  definitive 
Ansicht  Kants  aufihfst,  sie  nicht  nur  mit  einer  subjektivistischen 
Interpretation,  sondern  mit  dem  Grundgedanken  der  Deduktion 
selbst  in  Widerspruch  steht  Man  vergleiche  damit  einen  an- 
deren, auf  diesen  Punkt  bezüglichen  Gedankengang  in  der 
Deduktion:  , Würde  ...  die  Einheit  der  Assoziation  nicht  auch 
einen  objektiven  Grund  haben  ...,  so  würde  es  auch  etwas 
ganz  Zufälliges  sein,  dafs  sich  Erscheinungen  in  einem  Zu- 
sammenhang der  menschlichen  Erkenntnisse  schickten.  Denn 
ob  wir  gleich  das  Vermögen  hätten,  Wahrnehmungen  zu  asso- 
ziieren, so  bliebe  es  doch  an  sich  ganz  unbestimmt  und  zu- 
fällig, dad  sie  auch  assoziabel  wären;  und  in  dem  Falle  dafs 
sie  es  nicht  wären,  so  würde  eine  Menge  Wahrnehmungen  und 
auch  wohl  eine  ganze  Sinnlichkeit  möglich  sein,  in  welcher 


')  Kr.  129. 

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76 

viel  empirischeB  Bewnfstsein  in  meinem  Gemüt  anzntreffen 
wäre,  aber  getrennt,  nnd  ohne  dals  es  zn  einem  Bewobtsein 
meiner  selbst  gehörte,  welches  aber  unmöglich  ist*0 
Diese  beiden  Stellen  verhalten  sich  zueinander  wie  ja  und 
nein.  Und  man  lese  noch  folgendes:  «Dingen  an  sich  selbst 
würde  ihre  Gesetzmäfsigkeit  notwendig  auch  aufiier  einem 
Verstände,  der  sie  erkennt,  zukommen.  Allein  Erscheinungen 
sind  nur  Vorstellungen  von  Dingen  ...  als  blofse  Vorstellungen 
aber  stehen  sie  unter  gar  keinem  Gesetze  der  Verknüpfung, 
als  demjenigen,  welches  das  verknüpfende  Vermögen  vor- 
schreibt.* 2)  Der  scheinbare  Widerspruch,  der  zwischen  diesen 
Auslassungen  und  der  eingangs  zitierten  herrscht,  verschwindet 
aber  sofort,  wenn  man  die  letzte  als  dasjenige  betrachtet, 
was  sie  wirklich  ist,  nämlich  als  transscendentale  Frage. ^) 
Kant  stellt  sich  hier  auf  den  Standpunkt  des  common  sense, 
der  sich  die  Erscheinungen  —  die  für  ihn  eigentlich  mit  den 
Dingen  identisch  sind  —  als  einer  ihnen  schon  von  selbst 
immanenten  Ordnung  unterworfen  denkt  Dann  fragte  es 
sich  mit  Recht,  wenn  diese  von  dem  Verstände  unabhängige 
Ordnung  mit  ihm  gar  nicht  übereinstimmte,  wo  käme  dann 
die  apriorische  Gesetzmäfsigkeit  her?  Von  der  Erfahrung 
darf  sie  nicht  abgeleitet  werden,  ein  anderes  Prinzip  gibt  es 
zunächst  auch  nicht  Dieses  Problem  fordert  also  zu  einer 
Deduktion  auf,  deren  Ergebnis  bei  Kant  folgendes  ist:  es  gibt 
nicht  zwei  Ordnungen,  eine  der  Erscheinungen,  die  andere 
des  Verstandes,  die  dann  miteinander  übereinstimmen  können 
oder  nicht,  sondern  es  gibt  nur  eine  Ordnung,  und  zwar  die 
des  Verstandes,  der  die  Erscheinungen  unterworfen  sind  nnd 
deshalb  stimmen  die  Verhältnisse  derselben  mit  den  Begeln  des 
Verstandes  überein. 


»)  Kr.  A  121. 

*)  Kr.  164.  Man  sehe  auch  Reflexion  Nr.  960:  „Alle  Objekte,  die 
wir  denken  sollen,  müssen  in  Ansehung  aller  logischen  Funktionen  des 
Verstandes  bestimmt  sein,  dadurch  können  wir  allein  denken  . .  .*  Man 
vgl.  auch  L.  Bl.  20  und  284:  „Der  Satz,  da(s  sich  alles  in  der  Natur 
mttsse  a  priori  erkennen  und  bestimmen  lassen:  worauf  grttodet  er  sich? 
ohne  Zweifel  auf  die  Einheit  der  Erkenntniskraft,  wodurch  allein  die 
Erscheinungen  Verhältnisse  und  Verbindung  bekommen  kOnnen. 

*)  Cohen,  Kants  Theorie  der  Erfahrung,  1871,  177.*. 


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77 

Die  oben  zitierte  Stelle,  die  wir  mit  Cohen  als  transscen- 
dentale  Frage  bezeiehnet  haben,  wird  dnroh  folgenden  Satz  ein* 
geleitet:  „Denn  dafs  Oegensttnde  der  sinnlichen  Ansohaunng 
den  im  Gemüt  a  priori  liegenden  formalen  Bedingungen  der 
Sinnlichkeit  gemäfii  sein  mttssen,  ist  daraus  klar,  weil  sie 
sonst  nicht  Gegenstände  fttr  uns  sein  würden;  dafs  sie  aber  auch 
ttberdem  den  Bedingungen,  deren  der  Verstand  zur  synthetischen 
Einheit  bedarf^  gemäfs  sein  müssen,  davon  ist  die  Schlulsfolge 
nicht  so  leieht  einzusehen.^  0  ^^"^  wissen  wir  aber,  dafs  es 
Kants  Aufgabe  eben  war,  diese  schwierige  Schlnfsfolge  zu 
ziehen,  denn   die  Deduktion  kommt  zu  folgendem  Besultat: 

vAlle  Erscheinungen  liegen  als  mögliche  Erfahrungen 

ebenso  a  priori  im  Verstände  und  erhalten  ihre  formale 
Mögfichkeit  von  ihm,  wie  sie  als  blolse  Anschauungen  in  der 
Sinnlichkeit  liegen/')  So  wenig  also  die  Erscheinungen 
hinsichtlich  der  äufseren  Form  eine  andere  Ordnung  haben 
können,  als  diejenige,  in  welche  Raum  und  Zeit  sie  hinein- 
zwingen, so  wenig  kOnnen  sie  hinsichtlich  ihrer  Verknüpfung 
in  einer  anderen  Ordnung  stehen  als  der,  die  ihnen  der  spon- 
tane Verstand  rorschreibt.  Denn  „wir  haben  nicht  Verstand, 
weil  es  eine  Natur  gibt,^')  sondern  wir  haben  eine  Natur, 
weil  wir  einen  Gesetzmälsigkeit  schaffenden  Verstand  haben, 
„Zu  sagen,  wir  kOnnen  a  priori  die  Beschaffenheit  der  Dinge 
bestimmen  und  zugleich,  diese  Dinge  haben  solche  Beschaffen- 
heit, unabhängig  ron  unserem  Vermögen  sie  zu 
bestimmen,  ist  ein  Widerspruch,  denn  wo  nehmen  wir  alsdann 
nnsere  [notwendige]  Erkenntnis  her?' «) 

Wir  haben  oben  henrorgehoben,  daJTs  der  Übergang  von  der 
transscendentalen  Einheit  der  Apperzeption  zu  den  Kategorien 
nicht  dureh  eine  lückenlose  Deduktion  geschehen  ist  Diesen 
Mangel  hat  Kant  bereits  bei  der  Niederschrift  der  Vorrede  zur 
ersten  Auflage  gefühlt^)  Er  sucht  daselbst  den  Wert  der 
subjektiven  Deduktion  etwas  herabzusetzen.  Aber  abgesehen 
davon,  dafs   eine  strikte  Scheidung  der  Deduktion  in  eine 

>)  Kr.  lia. 

«)  Kr.  A  127. 

*)  Eaflexion  Nr.  991. 

*)  Daselbst 

•)  Vorr.  XVn. 


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78 

subjektive  nnd  objektive  im  Werke  selbst  nielit  ganz  deotlieh 
zu  Tage  tritt/)  so  ist  dooh  klar,  dafs,  wenn  man  die  trans- 
Bcendental-psyebologisehen  Erörterungen,  die  die  Bedingungen 
der  Möglichkeit  des  objektiv  gültigen  Denkens  darstellen,  aus 
der  Deduktion  entfernt,  der  dann  zurückbleibende  objektive 
Teil  nicht  genügen  würde,  nm  die  Gültigkeit  der  Kategorien 
zu  erklären.  Übrigens  ist  im  §  26  der  2.  Auflage  die  sub- 
jektive Deduktion  wieder  aufgenommen  worden;  nur  werden 
jetzt  die  Namen  für  die  subjektiven  Vermögen  etwas  spftrlieher 
gebraucht  und  die  Erörterung  ist  eine  viel  gedrängtere.  Aach 
Ulrich  gegenüber  3)  hat  Kant  bekanntlich  zugegeben,  dals  die 
positive  Seite  des  Problems  der  Analytik  nicht  vollständig  in 
der  1.  Auflage  gelöst  worden  sei.  Das  neue  Prinzip,  das 
er  in  der  nächsten  Bearbeitung  anzuwenden  verspricht  und 
in  der  Deduktion  der  2.  Auflage  §§  19  und  20  tatsächlich 
anwendet,  hilft  jedoch  nicht  viel.  Denn  der  Schlafs  aus  der 
Definition  eines  Urteils  als  «einer  Handlung,  durch  die  gegebene 
Vorstellungen  zuerst  Erkenntnisse  eines  Objekts  werden*,^)  ist 
nicht  ganz  zwingend,  weil  die  Definition  selbst  nicht  stichhaltig 
zu  sein  scheint^)  Aber  für  Kant  war  die  Gesetzmäfsigkeit 
der  Natur  und  das  Vorhandensein  einer  Erkenntnis  a  priori 
eine  über  alle  Zweifel  erhabene  Tatsache.  Er  sah  deshalb 
seine  Lösung  des  Problems  selbst  dann  für  die  einzig  mögliehe 
an,  wenn  sie  auch  nicht  in  allen  Punkten  befriedigend  sein 
sollte.  In  diesem  Sinne  sagt  er:  „Gesetzt,  die  Art  wie  Er- 
fahrung dadurch  [durch  Kategorien  nämlich]  allererst  möglieh 
werde,  könnte  niemals  hinreichend  erklärt  werden,  so  bleibt 
doch  unwidersprechlich  gewüs,  dafs  sie  blofs  durch  jene  Be- 
griffe möglich  isf^^) 

Sieht  man  jedoch  von  einem  streng  deduktiven  Beweise 
für  die  apriorische  Gültigkeit  der  Kategorien  ab,  so  lassen  sieh 
mehrere  Beweise  Kants  anführen,  die  als  nicht  direkte  an- 
gesehen werden  müssen.  Erstens  die  Konsequenz  aus  dem 
Resultat  der  transscendentalen  Ästhetik.   Nach  diesem  Resultat 


0  Vgl.  Erdmann,  Kants  Kritistsmns  24. 

>)  In  der  Vorr.  zu  den  Met.  Anfgr.  d.  Natw.  WW.  IV,474fif.  Arno. 

*)  Ebenda  475  Anm. 

«)  Man  ygl.  auch  Erdmann,  Logik,  2.  Auf  L  I,  291  ff. 

»)  WW.  IV,  476  Anm. 


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• 

sind  die  Dinge,  mit  denen  wir  es  zn  fan  haben,  lediglich 
Eracbeinnngen,  die  als  solche  nnr  in  nns  existieren  nnd  die  wir 
infolgedessen  auch  formen  können.  „Reine  Verstandesbegriffe 
sind  . . .  nur  darum  a  priori  möglich,  ja  gar  in  Beziehung  aut 
Erfahrung  notwendig,  weil  unsere  Erkenntnis  mit  nichts  als 
Erscheinungen  zu  tun  hat,  deren  Möglichkeit  in  uns  selbst 
liegt,  deren  Verknüpfung  und  Einheit  . . .  blofs  in  uns  an- 
getroffen wird  . . .  Und  aus  diesem  Grunde,  dem  einzig  möglichen 
unter  allen,  ist  denn  auch  unsere  Deduktion  der  Kategorien 
gef&hrt  worden/^  9  ^^^  ^^^^  diesen  Grund  als  zureichenden 
und  nicht,  wie  es  uns  seheinen  wttrde,  als  blofs  die  Deduktion 
ermöglichenden  ansieht,  geht  aus  folgender  Erörterung  mit 
aller  wünschenswerten  Deutiichkeit  hervor.  „Dagegen  wenn 
wir  es  ttberall  nur  mit  Erscheinungen  zu  tun  haben,  so  ist  es 
nicht  allein  möglich,  sondern  auch  notwendig,  dafs  gewisse 
Begriffe  a  priori  vor  der  empirischen  Erkenntnis  der  Gegen- 
stände vorhergehen.  Denn  als  Erscheinungen  machen  sie  einen 
Gegenstand  aus,  der  blofs  in  uns  ist  . .  .^^) 

Der  zweite  Beweis  ist  ein  direkt  apagogischer.    Er  geht 

davon  aus,  dafs  es  Urteile  a  priori  gibt  und  zeigt,  dafs,  wenn 

man    die  gegebene  (Kantische)  Lösung  nicht  anerkennt,   die 

Mögliehkeit  dieser  synthetischen  Urteile  a  priori  nicht  einzusehen 

ist,  da  die  Wege,  die  die  anderen  Philosophen  vorgeschlagen 

haben   (intellectus   archetypus,  prästabilierte  Harmonie,  Prä- 

formationssystem),  aus  mannigfachen  Grttnden  abzuweisen  sind. 

In  diesem  Sinne  einer  indirekten  Beweisführung  ist  die  Problem- 

stellnng  in  dem  bekannten  Briefe  an  Herz  vom  Jahre  72  und 

ebenso  auch  folgende  Stelle  aus  der  Vorrede  zur  2.  Auflage 

zu  verstehen.    „Bisher  nahm  man  an*^  --  heifst  es  da  —  „alle 

unsere  Erkenntnis  müsse  sich  nach  den  Gegensttnden  richten; 

aber  alle  Versuche,  über  sie   a  priori  etwas  durch  Begriffe 

auszumachen,  . . .  gingen  unter  dieser  Voraussetzung  zu  nichte. 

Man  versuche  es  daher  einmal,  ob  wir  nicht  . . .  damit  besser 

fortkommen,  dafs  wir  annehmen,  die  Gegenstände  müssen  sich 

nach  unserer  Erkenntnis  richten,  welches  so  schon  besser  mit 

der  verlangten  Möglichkeit  einer  Erkenntnis  derselben 


>)  Kr.  A  130. 
*)  Kr.  A  129. 


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«0 

• 

a  priori  znaammenstimmi^O  Ahnlich  die  bereits  angeftthrte 
Stelle:  „Die  Ordnniig  and  Regelmäfsigkeit  an  den  Erscheinungen 
...  bringen  wir  selbst  hinein  ...  Denn  diese Natareinheit  soll 
eine  notwendige  d.i.  a  priori  gewisse  sein.  Wie  sollten 
wir  aber  wohl  eine  synthetische  Einheit  anf  die  Bahn  bringen 
können,  wären  nicht  in  den  ursprünglichen  Erkenntnisqnellen 
unseres  Gemüts  subjektive  Gründe  solcher  Einheit  a  priori  ent- 
halten und  wären  diese  subjektiven  BediDgungen  nicht  objektiv 
gültig."^) 

Diese  hier  vorausgesetzte  Gesetzmäfsigkeit  der  Ersebei- 
nungen  und  die  Erkenntnis  von  ihr  ist,  wie  gesagt,  fttr  Kants 
Bewufstsein  eine  Tatsache,  an  der  nicht  gezweifelt  werden 
kann.  Dieser  Umstand  erklärt  es,  wie  Kant  aus  dem  Begriffe 
der  Erfahrung  einen  apriorischen  Beweis  für  das  Vorhandensein 
reiner  Grundsätze  führen  konnte.  Am  Anfang  der  Einleitung 
(2.  Auf  läge)  sagt  Kant:  „Auch  könnte  man,  ohne  ...  Beispiele 
zum  Beweise  der  Wirklichkeit  reiner  Grundsätze  a  priori  in 
unserer  Erkenntnis  zu.  bedürfen,  dieser  ihre  Uneutbehrlichkeit 
zur  Möglichkeit  der  Erfahrung  selbst,  mithin  a  priori  dartnn. 
Denn  wo  wollte  selbst  Erfahrung  ihre  Gewifsheit  hernehmen, 
wenn  alle  Regeln,  nach  denen  sie  fortgeht,  immer  wieder 
empirisch,  mithin  zufällig  wären;  daher  man  diese  schwerlich 
für  erste  Grundsätze  gelten  lassen  kann.  Allein  hier  können  wir 
uns  damit  begnügen,  den  reinen  Gebrauch  unseres  Erkenntnis- 
vermögens als  Tatsache  dargelegt  zu  haben.'^^) 

Will  man  aber  diesen  apriorischen  Beweis  nicht  gelten 
lassen,  weil  man,  wie  Ulrich,^)  einen  Begriff  der  Erfahrong, 
wie  er  hier  vorausgesetzt  wird,  bezweifelt,  so  würde  unser 
Beweis  folgendermalsen  lauten:  Es  ist  Tatsache,  dafis  vriv 
synthetische  Urteile  a  priori  besitzen.  Diese  Tatsache  lälst 
sich  nur  entweder  durch  die  Annahme  eines  Präformations- 
systems  usw.  oder  einer  Epigenesis  erklären.  Nun  ist  das 
Präformationssystem  usw.  ausgeschlossen.  Also  Epigenesis. 
Aber  wie  leicht  zu  ersehen  ist,  kann  dieser  Beweis  nur  einen 


*)  Vorr.  2,  XVI. 

*)  Kr.  A  125. 

»)  Kr.  6. 

«)  Man  vgl.  Brief  ao  Kant  vom  21.  April  1785. 


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81 

Bationalisieii,  nieht  aber  einen  Empiriker  oder  gar  Skeptiker 
ttberzengen,  weil  diese  den  Obersatz  nieht  wollen  gelten  lassen, 
indem  sie  behaupten,  dals  unser  ganzes  Wissen  von  der  Natur 
sieh  auf  Induktion  gründe,  ohne  dafs  wir  jemals  reine  Grund- 
sätze anzuwenden  imstande  wären,  weil  wir  solche  nicht  be- 
Bitzen.  Die  Apodiktizität  der  mathematischen  Axiome  könnte 
ihnen  nieht  entgegengehalten  werden.  Denn  wenn  sie  sich  selbst 
mit  der  Lehre  der  transscendentalen  Ästhetik  einverstanden 
erklären  mtifsten,  wttrde  daraus  fttr  sie  noch  nicht  die  Möglich- 
keit synthetischer  Urteile  a  priori  auf  dem  Gebiete  der  Natur- 
wiBsenschaft  hervorgehen.  Diesen  Beweis  kann  man  also  nur 
als  Nebenbeweis  betrachten.  Hingegen  mttlste  die  Deduktion, 
wollte  sie  nicbt  auf  einem  unsicheren  Erfahrungssatz  gegründet 
sein,  wodurch  sie  ihren  transscendentalen  Charakter  einbüfsen 
wttrde,  mit  Hilfe  der  synthetischen  Methode  geführt  werden. 
Und  tatsächlich  ist  selbst  die  zweite  Bearbeitung  der  Kritik 
naeh  Kants  Bewufstsein  so  geführt  worden,  wenn  auch  die 
ans  pädagogischen  Gründen  analytisch  ausgearbeiteten  Pro- 
legomena  sie  ein  wenig  mit  ihrer  Methode  affiziert  haben. 

Der  indirekte  Beweis,  der  für  den  transscendentalen  Idea- 
lismus aus  den  Antinomien  fliefst  und  auf  den  Kant  das  gröfste 
Gewicht  legt,  kommt  für  unsere  gegenwärtige  Frage  nicht  in 
Betracht  Die  Antinomien  beweisen  indirekt  nur,  dafs  die 
Scheidung  von  Ding  an  sieh  und  Erscheinung  richtig  ist  Hin- 
gegen beweist  die  von  Kant  gegebene  Auflösung  des  Wider- 
streites unserer  Vernunft  mit  sich  selbst  gar  nichts  für  die  eine 
oder  andere  Art  der  Entstehung  unserer  Erfahrungserkenntnis.  0 

Wir  glauben  somit  zu  folgendem  Ergebnis  gekommen 
zu  sein: 

1.  Naeh  der  Kantischen  Deduktion  der  reinen  Yerstandes- 
begriflfe  ist  die  Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori  nur 
daun  einznseben,  wenn  die  Ordnung  und  Regelmälsigkeit  der 
Erscheinungen  vollständig  und  ausschliefslich  vom  Ver- 
stände herrührt;  demgemäfs  kann  von  einer  den  Erscheinungen 
schon  von  selbst  inhärierenden,  von  unserem  Verstände  jedoch 
unabhängigen  Ordnung  nicht  die  Rede  sein.    Daher  sind  auch 

')  Welche  Schlflsse  aus  der  Auflösung  der  dritten  Antinomie  fUr 
oiuer  spexielles  Problem  der  empirischen  Gesetze  zu  ziehen  sind,  werden 
wir  noch  zu  untersuchen  haben. 

Piüloiophiioh«  AbbaadloDgen.    XLI.  0 


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82 

die  im  §  13  der  Kritik  enthaltenen  Erörternngen,  die  das 
Gegenteil  zu  besagen  scheinen,  sind  als  transscendentale  Frage 
aufzufassen. 

2.  Es  ist  Kant  nioht  gelungen,  die  einzelnen  Kategorien 
durch  eine  lückenlose  Deduktion  ans  der  transseendentalen 
Einheit  der  Apperzeption  abzuleiten. 

Nachdem  wir  so  die  allgemeinen  Prinzipien  der  Kantisehen 
Erkenntnislehre  besprochen  haben,  können  wir  zu  unserem 
eigentlichen  Problem,  zur  Frage  der  empirischen  Gesetze  fiber- 
gehen. 


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Wie  ist  das  Ergebnis  der  Deduktion  mit  der 

Möglichkeit  empirischer  Gesetze  in  Einklang 

zn  bringen? 


Kaam  sind  wir  zum  Schlnfs  der  Deduktion  gelangt,  and 
fMshon  erhebt  sich  eine  Schwierigkeit,  an  der  das  ganze  Gebände 
der  Kantisehen  Erkenntnistheorie  zn  zerschellen  droht  Es  ist 
dies  das  nämliche  Problem,  das  nns  schon  bei  der  Anseinander- 
setzong  tiber  die  transscendentale  Ästhetik  beschäftigt  hat, 
jedoch  mit  einer  kleinen  Modifikation.  Dort  interessierte- uns 
hauptsächlich  die  Frage,  ob  und  wie  die  bunte  Mannigfaltig- 
keit der  empirischen  Formen  aus  der  reinen  Form  der  An- 
schauung abgeleitet  werden  kOnne.  Hier  hingegen  ist  die  Frage 
der  Ableitung  gegenstandslos,  denn  das  blofse  Vorhandensein 
emer  empirischen  Gesetzmäisigkeit  bereitet  die  hier  in  Betracht 
kommenden  Schwierigkeiten.  Am  Schluls  beider  Deduktionen 
sagt  Kant:  ,Auf  mehrere  Gesetze  ...  als  die,  auf  denen  eine 
Natur  ttberhaupt  als  Oesetzmäfsigkeit  der  Erscheinungen  in 
Baum  und  Zeit  beruht,  reicht  auch  das  reine  VerstandesyermOgen 
nicht  zu,  durch  blolse  Kategorien  den  Erscheinungen  a  priori 
Gesetze  vorzuschreiben.  Besondere  Gesetze,  weil  sie  empirisch 
bestimmte  Erscheinungen  betreffen,  können  davon  nicht  voll- 
ständig abgeleitet  werden,  ob  sie  gleich  alle  insgesamt  unter 
jenen  stehen.  Es  mufs  Erfahrung  dazu  kommen,  um  die  letzteren 
ttberhaupt  kennen  zu  lernen.*  0  Und  ebenso  in  der  1.  Auflage: 
Es  «können  empirische  Gesetze  . . .  ihren  Ursprung  keines- 
wegs vom  reinen  Verstände  herleiten,  so  wenig  als  die  un- 
ermefsliche  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ans  der  reinen 


0  Kr.  165. 

6» 


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84 

Form  der  sinnlichen  AnBchannng  hinlänglich  begriffen  werden 
kann/'  i)  Die  apriorische  Erkenntnis  von  der  Natnr  in  formalem 
Sinn  beschränkt  sich  also  nur  auf  die  Gültigkeit  der  Kategorien. 
Diese  Gültigkeit  genügt  zwar  vollständig,  nm  auf  ihr  eine  Natur- 
wissenschaft aufzabaaen;  wie  ist  jedoch  das  Vorhandensein 
und  die  Möglichkeit  empirischer  Gesetze  mit  der  sonstigen 
Lehre  Kants  in  Einklang  zu  bringen?  Die  Voranssetznng  für 
die  Gültigkeit  der  Kategorien  war,  dafs  die  Erscheinungen  die 
Ordnung  annehmen  müssen,  die  ihnen  der  Verstand  vorschreibt^) 
Gibt  es  aber  in  der  Erfahrung  Verhältnisse,  die  ihren  Ursprung 
von  dem  Verstände  nicht  herleiten  können,  sondern  aus  der 
Erfahrung  geschöpft  werden  müssen,  so  ist  damit  zugleich 
zugegeben,  dafs  die  Erscheinungen  eine  ihnen  eigentümliche 
Qesetzmäfsigkeit  haben.  Und  es  entsteht  jetzt  die  Frage: 
worauf  beruht  die  notwendige  Übereinstimmung  dieser  apo-> 
steriorischen,  besonderen,  von  den  jeweiligen  empirischen  Be- 
stimmungen abhängenden  Gesetzmäfsigkeit  der  Erscheinungen 
mit  der  apriorischen,  allgemeinen  von  uns  aus  geschaffenen? 
War  ja  doch  der  Ausgangspunkt  der  Deduktion  der  Gedanke, 
dafs  die  Verbindung  von  uns  geschaffen  wird.  Dies  konnte 
nicht  so  gemeint  sein,  dafs  wir  die  Erscheinungen  so  verbinden 
müssen,  wie  ihre  empirischen  Bestimmungen  gebieten,  weil 
dann  alle  Erkenntnis  a  posteriori  sein  müfste.  Die  Spontaneität 
des  Verstandes  mufs  daher  unbedingt  ursprünglich  sein.  Wird 
aber  jetzt  wiederum  den  Erscheinungen  eine  Art  Autonomie 
zugestanden,  so  ist  damit  das  Prinzip  der  Deduktion  yemichtet 
Denn  dafs  die  Erscheinungen  in  einer  begriffliehen  Form  ins 
Bewufstsein  kommen  müssen,  hat  noch  gar  keine  Bedeutung  für 
die  Art  ihrer  Affinität  —  Dafs  die  mannigfachen  sinnlichen 
Formen,  so  verschieden  sie  auch  sein  mögen,  mit  der  Form 
des  Raumes  übereinstimmen  müssen,  ist  klar,  weil  sie  sonst 


»)  Kr.  A  127. 

*)  Besonders  klar  drückt  Kaut  dies  fai  folgender  Stelle  aas:  ,Wie 
können  wir  uns  die  PoBition  d^r  PostuUte  der  Syntbesis  a  priori  vor- 
stellen.  Es  sind  die  drei  Funktionen  der  Apprehension,  welche  bei  dem 
Denken  unseres  Znstandes  überhaupt  angetroffen  werden  und  worunter 
alle  Erscheinung  deswegen  passen  mufs,  weil  in  ihr  keine  Synthesis 
an  sich  selbst  liegt,  wenn  das  Gemfit  solche  nicht  hinznfttgt  oder  aus 
den  Datis  derselben  macht."    L.  El.  20. 


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85 

überhaupt  nicht  erscheinen  könnten,  da  die  AnBchauungs- 
forin  nur  subjektiv  ist.  Hingegen  brauchen  die  besonderen 
empirischen  Verhältnisse  mit  den  allgemeinen  Gesetzen  des 
Verstandes  nicht  tlbereinznstimmen,  weil  sie  trotzdem  gedacht 
werden  könnten.  Ich  kann  z.  B.  in  einer  Zanberbade  eine 
ganze  Reihe  von  Zauberkttnsten  apprehendieren,  ohne  dafs 
dadurch  die  Einheit  meines  Selbstbewnfstseins  im  mindesten 
gestört  wtirde.  Wenn  ferner  nach  Kants  Lehre  die  Erscheinungen 
hinsichtlich  ihrer  Qualität,  die  er  Empfindung  nennt,  durch  die 
Objekte  bestimmt  werden,  so  wird  dadurch  die  Apriorität  der 
Kategorien  auch  noch  nicht  angetastet.  Sowie  aber  die  Mög- 
lichkeit irgendeiner  Verbindung  durch  andere  als  apriorische 
Prinzipien  zugestanden  wird,  so  ist  die  Ottltigkeit  der  Kategorien 
nicht  mehr  einzusehen.  Denn  die  besonderen  Gesetze  stehen 
mit  den  apriorischen  in  einer  Reihe  und  unterscheiden  sich 
voneinander  nur  hinsichtlich  ihrer  Allgemeinheit  oder  Besonder- 
heit; demnach  wird  jede  Abweichung  eines  besonderen  Gesetzes 
Ton  der  allgemeinen  Regel  —  und  wenn  es  nur  von  empirischen 
Bestimmungen  abhängen  soll,  so  ist  eine  Abweichung  nicht 
ausgeschlossen  —  diese  Regel  in  ihrer  Allgemeinheit  beein- 
trächtigen. Endlich,  wenn  alle  Verknüpfung  durch  den  Ver- 
stand vollzogen  wird,  wie  kommt  es,  dafs  wir  zwei  Arten  von 
Erkenntnissen  haben,  eine  empirische  und  eine  reine,  warum 
verbindet  ein  und  derselbe  Verstand  das  eine  Mal  allgemein- 
gttltig,  das  andere  Mal  aber  nicht?  Die  Einteilung  in  Wahr- 
nehmungs-  and  Erfahrungsurteilei)  kann  hier  keine  Auskunft 
geben,  denn  man  nehme  z.  B.  das  Gravitationsgesetz,  das  zu 
den  empirischen  Gesetzen  gezählt  werden  mufs,  weil  es  a  priori 
aas  dem  Verstände  nicht  abzuleiten  ist,  nnd  das  wohl  niemand 
ein  Wahmehmungsurteil  nennen  wird.  Die  Tatsache  empirischer 
Gesetze  kann  also  nur  auf  die  Verhältnisse,  die  die  Substrate 
der  Erscheinungen,  die  Dinge  an  sich  bewirken,  zurtlckgeführt 
werden.  Wie  kann  demnach  Kant  die  Phänomenalität  der 
Erseheinnngen  als  den  zureichenden  Grund  seiner  Deduktion 
ansehen?  Wenn  wir  es  mit  Dingen  zu  tun  haben,  die  einer 
anderen  Ordnung  als  der,  die  ihnen  der  spontane  Verstand  vor- 
sehreibt, gehorchen,  und  wenn  trotzdem  eine  notwendige  Uber- 


^)  Über  Wahmehmnogs-  und  Erfahningsurteile  vgl.  man  des  Anhang. 

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86 

einstiminnDg  dieser  Ordnung  mit  der  allgemeinen  apriorischen 
vorhanden  sein  soll,  so  mnis  ein  neues  Prinzip  gefunden  werden, 
denn  das  alte  reicht  nicht  mehr  ans.  Es  ist  anfserdem  nicht 
einzusehen,  inwiefern  wir  es  dadurch  leichter  haben  sollten, 
dafs  unsere  Erscheinungen  mit  ihren  Substraten  gar  keine 
Ähnlichkeit  haben.  Soll  die  Tatsache,  dafs  die  Kategorien 
von  der  Erfahrung  nicht  abgeleitet  sind,  schon  zur  Konstruktion 
einer  Wissenschaft  genügen,  selbst  wenn  die  Erscheinungen, 
mit  denen  es  diese  Wissenschaft  zu  tun  hat,  ihren  eigenen 
besonderen  empirischen  Bestimmungen  unterworfen  sind,  so 
könnten  die  letzteren  getreue  Abbilder  ihrer  Substrate  sein,  und 
es  müfste  trotzdem  eine  apriorische  Erkenntnis  von  ihnen  möglich 
sein.  Denn  ihren  Charakter  als  Vorstellungen  würden  sie  auch 
dann  bewahren.  Wir  stehen  also  vor  folgender  Alternative: 
entweder  müssen  die  Erscheinungen  so  beschaffen  sein,  dafs 
die  Kräfte  unseres  Gemüts  in  jeder  Hinsicht,  also  auch 
hinsichtlich  derjenigen  Bestimmungen,  die  wir  aus  der  Natur 
unseres  Verstandes  abzuleiten  nicht  imstande  sind,  sie  formen  und 
ordnen  können:  dann  hätte  die  Betonung  der  Phänomenalität 
der  Erscheinungen  ihren  Sinn;  —  oder  aber,  soll  den  Er- 
scheinungen eine  ihnen  zugrunde  liegende,  von  dem  Verstände 
nicbt  geschaffene  Ordnung  zugestanden  werden,  so  mufs  ein 
neues  Prinzip  gefunden  werden,  um  die  Übereinstimmung  dieser 
empirischen  Ordnung  mit  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Ver- 
standes erklärlich  zu  machen. 

Bevor  wir  dieses  neue  Prinzip  in  Betracht  ziehen,  wollen 
wir  noch  untersuchen,  ob  vielleicht  Kants  Lehre  von  der 
doppelten  Kausalität  uns  irgendwelche  Aufklärung  über  unser 
Problem  zu  geben  vermag. 


Die  EausaUtät  dnrch  Freiheit  und  die  AfOnität 
der  Erscheinimgen. 

Die  dritte  Antinomie  behandelt  bekanntlich  den  Widerstreit 
der  Vernunft  hinsichtlich  der  Ableitung  der  Weltbegebenheiten 
aus  ihren  Ursachen.  Das  Gesetz  der  Kausalität  besagt,  dafs 
alles,  was  geschieht,  etwas  voraussetzt,  wonach  es  nach  einer 
Kegel  folgt.  Auf  diesem  Gesetz  baut  sich  die  dritte  Antinomie 
auf.   Sie  wird  dadurch  gegeben,  dafs  nach  einer  ersten  Ursache 


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87 

gefr^  wird.  Die  Thesis  behauptet:  eg  mnb  neben  der 
Kausalität  nach  Gesetzen  der  Natnr  noch  eine  Kausalität 
durch  Freiheit  angenommen  werden.  Wir  haben  z.  B.  die 
Reihe  von  Erscheinungen  a,  b,  c  ...,  die  eine  Kausakeihe 
bildet,  indem  a  die  Ursache  von  b,  b  die  von  c  usw.  vorstellt. 
Wenn  wir  von  a  aus  einen  Begressus  unternehmen  wollen,  so 
würden  wir  eine  ganze  Unendlichkeit  von  Ursachen  und  deren 
Vorursachen  durchlaufen,  ohne  jemals  zu  einer  bestimmten 
Ursache  zu  gelangen.  ,Nun  besteht  aber  eben  darin  das  Gesetz 
der  Natur,  dafs  ohne  hinreichend  a  priori  bestimmte  Ursache 
nichts  geschehe.*'  i)  Also  widerspricht  der  Grundsatz  der 
Kausalität  sich  selbst  Es  mufs  daher  eine  Kausalität  an- 
genommen werden,  bei  der  die  Ursache  nicht  wiederum  durch 
eine  andere  hervorgebracht  zu  werden  braucht,  nämlich  eine 
Kausalität  durch  Freiheit  >) 

Die  Antithesis  dagegen  behauptet:  es  gibt  keine  andere 
Kausalität   als  die   der  Naturnotwendigkeit.     Denn  mit  dem 


0  Kr.  474. 

')  Der  Beweis  der  Thesis  scheint  mir  nicht  ganz  zwingend  zu  sein. 
Er  basiert  auf  der  eben  zitierten  Fassung  der  Definition  des  Kausalsatzes, 
wonach  jede  Ursache  eine  a  priori  bestimmte  sein  müsse.  Da  wir  es 
aber  (beim  Regressus)  immer  nur  mit  subalternen  und  nicht  a  priori  be- 
stimmten Ursachen  zu  tun  haben,  so  widerspricht  der  Grundsatz  sich 
selbst  Nun  ist  es  wohl  richtig,  dals  fttr  uns^  für  unser  Erkennen  hier, 
wie  in  vielen  anderen  Fällen  die  Ursache  unbestimmt  bleibt.  Eine  der- 
irtige  Bestimmbarkeit  ist  aber  auch  gar  nicht  notwendig.  Der  Grundsatz 
verlangt  nur,  dafs  die  Ursache  hinsichtlich  ihrer  Wirkung  die  be- 
stimmte sei,  dafs  nSmlich  jede  Wirkung  ihre  bestimmte  Ursache  haben 
soll.  Dies  ist  aber  bei  jedem  Geschehen  erfüllt  —  Den  richtigen  Grund 
oder  vielmehr  den  psychologischen  Zwang  zur  Annahme  einer  Kausalität 
dnrch  Freibeit  hat  Kant  in  der  Begründung  der  Thesis  der  vierten  Anti- 
nomie angegeben.  Dort  sagt  er:  „Nun  setzt  ein  jedes  Bedingte,  was  ge- 
geben ist  . . .  eine  vollständige  Reihe  von  Bedingungen  ...  voraus.** 
Hier  beruft  sich  Kant  einfach  auf  das  Bedürfnis  der  Vernunft,  eine 
Totalitilt  zu  haben,  mithin  nach  einer  ersten  Ursache,  nach  dem  Un- 
bedingten zu  fragen,  indem  sie  den  festen  Punkt  sucht,  an  dem  sie  Halt 
machen  kOnnte.  Es  kommt  aber  darauf  gar  nicht  an,  ob  Thesis  und 
Antithesis  auch  wirklich  bewiesen  werden  kOnnen,  viehnehr  darauf,  dafs 
sowohl  die  These  wie  die  Antithese  unserer  Vernunft  keine  Befriedigung 
an  versebaffen  vermag.  Kants  scholastische  Schulung  hat  es  mit  sich 
gebracht,  dafs  er  für  die  Antinomien  Beweise  gesucht  hat  und  dafs  er 
sieh  für  ihre  Richtigkeit  sogar  verbürgt  hat 


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88 

Moment,  wo  man  eine  erste  Ursacbe  setzt,  hat  man  das  Kausal- 
gesetz darchbrochen  nnd  man  hat  kein  allgemeingültiges  Prinzip 
mehr  zur  durchgängigen  Erklärung  des  Natui^eschehens. 

Kant  lOst  diese  Antinomie  auf,  indem  er  zeigt,  dafs  sowohl 
Thesis  wie  Antithesis  Recht  behalten,  wenn  beide  von  den 
richtigen  Standpunkten  aus  gedacht  sind.  Die  Ästhetik  hat 
gezeigt,  dafs  die  Gegenstände  der  Erfahrung  nur  Erscheinungen 
sind,  die  an  sich  in  ihrer  räumlich-zeitlichen  Bestimmtheit  gar 
nicht  existieren.  Sie  sind  blofse  Vorstellungen  von  Dingen  an 
sich,  von  denen  die  sinnlichen  Formen  gar  nicht  prädiziert 
werden  kOnnen.  Wird  diese  dort  festgelegte  Unterscheidung 
von  Ding  an  sich  und  Erscheinung  eingehalten,  so  ist  die 
Möglichkeit  vorhanden,  die  Antinomie  zu  beseitigen. 

Die  Antithesis,  die  unter  keinen  Umständen  eine  Unter- 
brechung in  der  Eausalreihe  zuläfst,  ist  giltig,  solange  von 
Erscheinungen  gehandelt  wird.  Der  Regressus  kann  uns  aber 
zu  keiner  zeitlich  ersten  Ursache  ftthren,  weil  die  Zeit  die 
Form  unserer  Anschauung  ist  Daher  wird,  so  oft  etwas  er- 
scheint, es  in  der  Zeit  auftreten,  ohne  dafs  jemals  «ein  erster 
Anfang  gegeben  werden  konnte.  Die  Erscheinungen  sind  je- 
doch nur  die  eine  Seite  des  Seins.  Ihnen  liegen  Dinge  an 
sich  zugrunde.  Von  diesen  dürfen  wir  zwar  nichts  erkennen; 
es  liegt  jedoch  nichts  im  Wege,  auch  von  ihnen  sich  eine  Art 
Kausalität  zu  denken.  Von  vornherein  ist  klar,  dafs  diese 
Kausalität  von  allem  Empirischen  frei  sein  wird,  denn  mit 
der  Zeitlichkeit  ist  zugleich  jede  Veränderung,  jedes  Geschehen 
von  den  Dingen  an  sich  ausgeschlossen.  Man  wird  sich  daher 
von  ihnen  eine  Kausalität  durch  Freiheit  zu  denken  haben. 
Durch  die  Annahme  einer  derartigen  Kausalität  würden  aber 
mit  einem  Schlage  zwei  Probleme  gelOst  werden.  Erstens  würde 
dadurch  die  kosmologische  Freiheit  ermöglicht  werden,  d.  i. 
das  Vermögen  der  Dinge  an  sich  einen  Zustand  von  selbst 
anzufangen.  Würde  aber  diese  Art  von  Freiheit  zugelassen,  so 
bedürfte  es  nur  noch  eines  weiteren  Schrittes,  um  „mitten  im 
Laufe  der  Welt  verschiedene  Reihen  der  Kausalität  nach 
von  selbst  anfangen  zu  lassen  und  den  Substanzen  derselben 
ein  Vermögen  beizulegen  aus  Freiheit  zu  handeln'',  i)    Dadurch 


>)  Kr.  478. 


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89 

würde  auch  das  weitaus  wichtigere  Problem  der  praktischen 
Freiheit  (Unabhängigkeit  von  der  Nötigung  dnreh  Antriebe  der 
Sinnlichkeit)  lOsbar.  Da  nun  die  empirische  und  intelligible 
Kausalität  ihre  yerschiedenen  Gebiete  haben,  so  stören  sie 
einander  nicht,  und  sowohl  Thesis  wie  Antithesis  bleiben  zu 
Recht  bestehen,  wenn  die  erste  sich  auf  Dinge  an  sich,  die 
andere  auf  Erscheinungen  bezieht 

Diese  Auflösung  unserer  Antinomie  fordert  zum  Nach- 
denken au£  Es  ist  zunächst  unverständlich,  warum  Kant 
diese  Antinomie  nicht  in  der  gleichen  Weise  aufgelöst  hat,  wie 
die  beiden  mathematischen.  Jener  Widerstreit  wurde  gehoben, 
indem  gezeigt  wurde,  dafs  jede  Frage  nach  der  Endlichkeit 
oder  Unendlichkeit  der  Welt  als  Ganzes  mttüsig  ist,  da  Raum 
and  Zeit  lediglich  subjektive  Formen  unserer  Sinnlichkeit  sind. 
Es  hat  deshalb  keinen  Sinn  zn  fragen,  ob  etwas,  was  uns 
niemals  in  seiner  Totalität  als  Erscheinung  gegeben  werden 
kann,  endlich  oder  unendlich  sei,  da  es  als  Nicht- Erscheinung 
nicht  einmal  räumlich  oder  zeitlich  ist^) 

Ganz  analog  hätte  die  Frage  nach  der  Kausalität  des- 
jenigen, was  dem  Geschehen  zugrunde  liegt,  beantwortet  werden 
können.  Wenn  die  mathematischen  Antinomien  durch  die  Be- 
rnfang auf  den  transscendentalen  Idealismus  aufgelöst  werden' 
konaten,  so  hätten  beide  dynamischen  2)  durch  den  Hinweis 
auf  das  Besoltat  der  Analytik  beseitigt  werden  können.  Hat 
nämlich  die  Ästhetik  gezeigt,  dafs  Raum  und  Zeit  keine  Eigen- 
schaften der  Dinge  selbst  sind,  ^  so  war  es  der  Grundgedanke 

^)  Dasselbe  gilt  hinsichtlieh  der  Einfachheit  oder  Zosammengesetzt- 
heit  der  Snbstansen. 

')  Es  sei  bemerkt,  dala  ftlr  den  Common  sense  die  dritte  Antinomie 
—  soweit  nur  die  kosmologische  Seite  in  Betracht  kommt  —  mit  der 
▼ierten  zusammenfällt  Hat  er  einmal  mit  der  Thesis  der  vierten  Anti- 
nomie ein  notwendiges  Wesen  gesetzt,  so  kann  dies  von  ihm  zugleich 
^  die  seitlich  und  kausal  erste  Ursache  des  Geschehens  angesehen 
werden.  Man  hat  dann  einen  ersten  Beweger  und  kann  die  Welt  ihren 
eigenen  Lanf  nehmen  lassen.  Nach  Kant  sind  aber  die  Gegenstände  der 
Erfahmng  blolse  Vorstellungen,  als  solche  kennen  sie  nicht  aufeinander 
wie  Dinge  wirken.  Eine  Erscheinung  kann  keine  andere  Erscheinung 
her?orbringen.  Neben  dem  ersten  Beweger  mnüiten  daher  wirkende  Dinge 
>n  sieh  als  Ursachen  der  Erscheinungen  und  mit  ihnen  eine  besondere 
Art  von  EausalitSt  angenommen  werden,  fiills  man  nicht  zu  Berkeley 
zorfiekkehren  wollte. 


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90 

der  kritischen  Grenzbestimmang  unserer  Erkenntnis  in  der 
Analytik,  dafs  Kategorien  von  keinem  anderen  als  empirischen 
Gebrauch  sein  dUrfen.0  Wie  kann  demnach  nach  der  Kausalität 
des  Unbedingten  gefragt  werden  —  denn  nur  darum  ist  es  in 
den  dynamischen  Antinomien  zu  tun  —  wenn  Ursachsein  nur 
bei  Erscheinungen  stattfindet,  die  ganze  Frage  also  müfsig  ist? 
Eine  derartige  Lösung  unseres  Problems  hätte  den  Vorzug* 
gehabt,  dafs  sie  erstens  zu  keiner  problematischen  Annahme 
—  wie  Kant  dies  selbst  hervorhebt  —  einer  intelligiblen 
Kausalität  Zuflucht  zu  nehmen  brauchte.  Andererseits  würde 
aus  der  so  aufgefafsten  dynamischen  Antinomie  ein  indirekter 
Beweis   fttr  die   kritische   Tendenz   der  Analytik  herfliefsen, 


>)  Um  die  scheinbare  Inkonsequenz  Kants  zu  rechtfertigen,  dafii  er 
trotz  dem  eigenen  Verbote,  von  Kategorien  einen  transacendentalen  Ge- 
brauch zu  machen,  selbst  die  Kategorien  der  Substanz,  Realität  und 
Kausalität  auf  die  Dinge  an  sich  anwendet,  —  hat  man  versucht,  den 
Kategorien  im  Gegensatz  zu  Raum  und  Zeit  einen  mehr  objektiven  Wert 
einzuräumen.  Tatsächlich  stehen  die  Kategorien  hinsichtlich  ihrer  Sub- 
jektivität nicht  in  derselben  Reihe  wie  Raum  und  Zeit  Zwar  wird  auch 
von  ihnen  gesagt,  dafs  sie  .blofs  subjektive  Formen  der  Verstandes- 
einheit*'  (Kr.  343)  sind,  wie  Raum  und  Zeit  nur  als  subjektive  Formen 
der  Sinnlichkeit  angesehen  werden  mllssen:  aber  die  Subjektivität  der 
Verstandesbegriffe  und  mit  ihr  ihre  Unanwendbarkeit  auf  intelligible 
Gegenstände  rührt  nur  daher,  dafs  Kategorien  ohne  sinnliche  Schemata 
keine  andere  als  logische  Bedeutung  haben.  Man  hat  deshalb  untersucht, 
ob  vielleicht  doch  einige  Kategorien  die  sinnliche  Anschauung  entbehren 
können,  wodurch  die  von  Kant  angeblich  vollzogene  Anwendung  auf 
Dinge  an  sich  gerechtfertigt  sein  könnte.  —  Alle  diese  Versuche  scheitern 
jedoch  an  der  Tatsache,  dafs  Kant  selbst  wiederholt  betont,  dafo  keine 
von  den  Kategorien  hierbei  eine  Ausnahme  erleidet,  und  dals  er  gerade 
die  hier  in  Frage  kommenden  Verstandesbegriffe  herausgreift,  um  an  ihnen 
zu  exemplifizieren,  dafs  sie  ohne  Anschauung  gar  keine  Bedeutung  haben 
(man  vgl.  z.  B.  Kr.  291  ff.).  Kant  begeht  aber  auch  gar  nicht  die  ihm  zur 
Last  gelegte  Inkonsequenz.  Solange  er  spekulativ  über  die  Dinge  an 
sich  denkt,  denkt  er  sie  durch  gar  keine  Kategorie,  wenigstens  ist  er 
sich  ihres  Gebrauches  nicht  bewufst.  So  heifst  es  Kr.  844:  „Der  Verstand 
denkt  sich  einen  Gegenstand  an  sich  selbst,  aber  nur  als  transscendentales 
Objekt,  das  die  Ursache  der  Erscheinung  ...  ist,  und  weder  als  Gröfse 
noch  als  Realität  noch  als  Substanz  usw.  gedacht  werden  kann  (weil 
diese  Begriffe  immer  sinnliche  Formen  erfordern  . .  .).^  Hier  wird  also 
für  Kants  Bewufstsein  nur  von  der  Kausalität  Gebrauch  gemacht  Damit 
er  aber  dies  tun  darf,  hat  er  eine  neue  Art  von  Kausalität  eingeführt,  wie 
dies  gleich  des  nähren  erörtert  werden  soll. 


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91 

äbniieh  wie  die  mathematischen  Antinomien  eine  mittelbare 
Bestätigung  der  Lehre  der  transseendentalen  Ästhetik  ab- 
gegeben haben. 

Es  mttssen  daher  wichtige  Gründe  vorhanden  gewesen 
sein,  die  Kant  veranlafst  haben,  die  vorliegende  anerwartete 
Aaflösang  an  Stelle  der  vom  kritischen  Standpunkt  allein  be- 
rechtigten vorzanehmen.  Solche  Gründe  lassen  sich  in  der 
Tat  finden.  Aach  hier  war  es  das  praktische  Interesse,  das 
das  theoretische  überwogt)  Mit  dem  Problem  der  kosrao- 
logischen  Kausalität  war  ftlr  Kants  Bewafstsein  dasjenige  der 
praktischen  Freiheit  unzertrennlich  verbunden.  Die  psycho- 
logische Seite  unseres  Problems  ist  es  ja  gerade,  die  von  jeher 
der  Philosophie  die  gröfsten  Schwierigkeiten  bereitet  hat  Die 
praktische  Freiheit  war  jedoch  ohne  die  Annahme  einer  in- 
telligiblen  Kausalität  gar  nicht  zu  retten.  >) 

Aber  das  kosmologische  Problem  selbst  hat  fttr  Kant  eine 
besondere  Bedeutung  gewonnen.  Die  dritte  Antinomie  durfte 
nicht  anders  gelöst  werden,  sollte  der  transscendentale  Idealismus 
in  seinem  ganzen  Umfang  aufrecht  erhalten  bleiben.  Die  Vor- 
anssetzung  einer  intelligiblen  Welt  als  Ursache  der  phänomenalen 
—  die,  wie  wir  gesehen  haben,  Kant  niemals  verlassen  hatte  — 
hat  es  erforderlich  gemacht,  die  Art  ihrer  Einwirkung  auf  das 
wahrnehmende  Subjekt  in  irgend  einer  Weise  zu  erklären. 
Die  gewöhnliche;  empirische  Kausalität  mufste  sich  zu  dieser 
Erklärung   untauglich  erweisen.     Kategorien   dürfen  nur  auf 


')  Schon  Garve  hat  dies  gefühlt,  wenn  er  in  seiner  RezeDsion  des 
Eantischen  Werkes  über  die  dritte  Antinomie  urteilt:  „Es  ist  unmöglich, 
die  Vereinigung,  die  Herr  Kant  stiften  will,  deutlich  mit  kurzen  Worten 
▼orznstellen,  unmöglich,  glaube  ich,  sie  deutlich  einzusehen.  Aber  das  ist 
deutlich,  daib  der  Verfasser  gewisse  Sätze  fUr  höher  und  heiliger 
bftlt  als  sein  System  und  dafs  er  bei  gewissen  Entscheidungen  mehr 
Rücksicht  auf  die  Folgen  nahm,  die  er  durchaus  stehen  lassen  wollte,  als 
auf  die  Prinzipien,  die  er  festgesetzt  hatte.**  Zitiert  bei  Erdmann,  Kants 
Kridzismas  S.  100  aus  der  „Allgemeinen  Bibliothek*,  Anhang  zu  Bd. 37— 52, 
Bd.  11,838  ff. 

*)  Die  Yerquickung  beider  Probleme  bei  Kant  hat  es  bedingt,  dafs 
ihm  während  der  ^nzen  Auflösung  der  dritten  Antinomie  das  frei 
handelnde  Subjekt  vorgeschwebt  und  zum  Schema  gedient  hat,  und  zwar 
nicht  nur  da,  wo  er  die  willkürliche  Handlung  des  Menschen  direkt  als 
Beispiel  anwendet.    Man  vergleiche  z.  B.  Kr.  572  f. 


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92  I 

Erscbeinangen  angewandt  werden,  weil  das  Zeitmoment,  das  | 
in  jedem  empirisehen  GeBchehen  enthalten  ist,  bei  einem  in-  i 
telligiblen  Gegenstande  wegfallen  mnfs.  Mit  der  Setznng  der  i 
Dinge  an  sich  war  also  zngleicn  stillschweigend  eine  intelligible  I 
Kausalität  angenommen,  die  jetzt  gleichzeitig  znr  Lösang  des  | 
Problems  der  praktischen  Freiheit  gedient  hat 

Um  nnn  zn  unserer  besonderen  Frage,  des  Verhältnisses 
der  empirischen  Affinität  der  Erscheinungen  zu  der  Kausalität 
durch  Freiheit  zu  gelangen,  ist  es  notwendig,  einen  Punkt  zu 
besprechen,  der,  soweit  ich  sehe,  von  der  Interpretation  niemals 
mit  genügender  Deutlichkeit  herrorgehoben  worden  ist  Die 
gröfste  Schwierigkeit  in  der  Lehre  von  der  doppelten  Kausalität 
hat  von  jeher  der  Umstand  bereitet,  dafs  man  sich  nicht  vor- 
stellen konnte,  wie  es  möglich  sei,  ein  und  dasselbe  Geschehen 
einerseits  als  frei,  andererseits  als  dem  Naturgesetze  gehorchend 
anzusehen.  Man  verstand  Kants  Lehre  so,  als  ob  nach  ihm 
unter  den  Dingen  an  sich  selbst  Freiheit  herrsche;  dasselbe 
Verhältnis  aber  ins  Empirische  übersetzt,  durch  die  empirische 
Kausalität  ausgedrückt  werde.  Indessen  trifft  diese  Auffassung 
nur  die  Lehre  von  der  praktischen  Freiheit:  die  kosmologische 
Kausalität  mufs  anders  aufgefalst  werden.  Der  richtige  Sinn 
dieser'  letzten  Kausalität  kann  nur  verstanden  werden,  wenn 
man  sich  streng  an  der  Definition  der  Freiheit  hält  Freiheit 
im  kosmologischen  Sinne  bedeutet  das  Vermögen,  einen  Znstand 
von  selbst  anzufangen.  Daraus  geht  aber  hervor,  dafs  diese 
Ereiheit  nicht  die  Kausalität  der  Dinge  an  sich  unter- 
einander, sondern  ihre  Kausalität  im  Verhältais  zum  affizierten 
Subjekt  bedeutet  Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  eine 
Anmerkung  Kants  in  den  Prolegomena:  „Die  Idee  der  Freiheit 
findet  lediglich  in  dem  Verhältnis  des  Intellektuellen,  als 
Ursache,  zur  Erscheinung  als  Wirkung  statt  Daher  können 
wir  der  Materie  in  Ansehung  ihrer  unaufhörlichen  Handlung 
. . .  nicht  Freiheit  beilegen,  obschon  diese  Handlung  aus  innerem 
Prinzip  geschieht  Ebensowenig  können  wir  fttr  reine  Ver- 
standeswesen, z.  B.  Gott,  sofern  seine  Handlung  immanent  ist, 
einen  Begriff  von  Freiheit  angemessen  finden.  Denn  seine 
Handlung,  obzwar  unabhängig  von  äufseren  bestimmenden  Ur- 
sachen, ist  dennoch  in  seiner  ewigen  Vernunft,  mithin  in  der 
göttlichen  Natur,  bestimmt    Nur  wenn  durch  eine  Handlung 


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93 

etwas  anfangen  soll,  mithin  die  Wirkung  in  der  Zeitreihe, 
folglicli  der  Sinnenwelt  anzatreffen  sein  soll  (z.  B.  Anfang  der 
Welt),  da  erhebt  sieh  die  Frage,  ob  die  Kausalität  der  Ursache 
selbst  aneh  anfangen  müsse,  oder  ob  die  Ursache  eine  Wirkung 
anheben  könne,  ohne  dafs  ihre  Kausalität  selbst  anfängt  . . . 
Hieraus  wird  der  Leser  ersehen,  dafs,  da  ich  Freiheit  als  das 
Verminen  eine  Begebenheit  von  selbst  anzufangen  erklärte, 
ich  genau  den  Begriff  traf,  der  das  Problem  der  Metaphysik 
isf  0  ^^B  dieser  Darlegung  erhellt,  wie  wir  uns  die  Auf- 
lösung des  kosmologischen  Problems  zu  denken  haben.  Die 
Welt  labt  sich  vom  Standpunkt  der  Erfahrung  aus  nur  als 
eine  empirische  Kausalreihe  auffassen.  Jedes  Geschehen  mufs 
in  ihr  eine  empirische  Ursache  haben,  die  wieder  zur  Ursache 
wird  f&r  eine  kttnftige  Wirkung.  Der  Begressus  ftlhrt  zu 
immer  entfernteren  Ursachen  zurttck;  aber  wie  weit  wir  auch 
diese  verfolgen  mögen,  immer  werden  wir  auf  empirische  Ur- 
saehen  geführt,  ohne  irgendwann  eine  solche  anzutreffen,  die 
von  selbst  zu  wirken  angefangen  hätte.  Nun  hat  aber  die 
Kritik  gezeigt,  dafs  die  ganze  Erfahrungswelt  an  sich  in 
dieser  ihrer  Beschaffenheit  und  Gestalt  gar  nicht  existiert. 
Sie  ist  nur  die  Vorstellung,  das  empirische  Abbild  eines  für 
unsere  Erkenntnis  unzugänglichen  Beiches  von  intoUigiblen 
Gegenständen,  die  weder  entstehen  noch  vergehen. 

Der  raum-zeitliehen  empirischen  Kausalreihe  steht  also 
ein  X  gegenüber.  Beide  stehen  wiederum  zueinander  in  einem 
kausalen  Verhältnis,  in  welchem  das  x  die  Ursache,  die 
empirische  Welt  die  Wirkung  ist  Eigentlich  ist  das  x  mit 
der  empirischen  Welt  identisch.  Denn  nur  fttr  das  wahr- 
nehmende Subjekt  spaltet  es  sieh  in  eine  phänomenale  und 
unerkennbare  Welt,  indem  es  diesem  affizierten  Subjekt  in  der 
Gestalt  der  Erfahrung  erscheint  Dies  alles  war,  mehr  oder 
weniger  deutlich,  bereits  in  der  transscendentalen  Ästhetik 
vorgetragen.  Werden  aber  diese  Prämissen  angenommen,  so 
brauchen  wir,  ^um  zur  intelligiblen  Kausalität  zu  gelangen, 
gar  keine  neue  Annahme  zu  machen,  sondern  können  auf  rein 
analytischem  Wege  das  Verhältnis  der  Dinge  an  sich  zur  Er- 
scheinung bestimmen. 


*)  rrolegomena  §  53 

/Google 


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94 

Dieses  Verhältnis,  haben  wir  gesagt,  ist  kansal:  das  x  ist 
die  Ursache  der  Empirie.  Diese  Kausalität  ist  jedoch  keine 
empirische,  denn  die  Ursache  ist  nicht  in  der  Zeit  Dadnreh 
zeigt  sie  aber  die  Fähigkeit,  einen  Zustand  von  selbst  anzu- 
fangen, ohne  selbst  eine  andere  Ursache  zu  ihrer  eigenen  Ent- 
stehung zu  bedürfen,  weil  sie  ja  als  zeitlos  gar  nicht  entsteht 
Also  ist  die  Kausalität,  die  das  Verhältnis  des  Dinges  an  sieh 
zur  Erscheinung  ausdrückt,  eine  Kausalität  durch  Freiheit  0 

Wenn  wir  also  die  Kausalreihe  . . .  Un  Un+i  Un+s  ...  be- 
trachten, so  ist  es  nur  Schein,  wenn  wir  glauben,  Un+i  sei  die 
Wirkung  von  Un,  denn  sowohl  Un  wie  Un+i  sind  keine  Dinge, 
sondern  blofse  Vorstellungen  von  Dingen,  als  solche  können 
sie  aber  einander  gar  nicht  herrorbringen.  Vielmehr  ist  die 
ganze  Kette  der  Erscheinungen  mit  samt  ihrer  gesetzmälsigen 
Verknüpfung  nur  eine  unmittelbare  Wirkung  eines  —  oder 
mehrerer  —  ihnen  zugrunde  liegenden  x.  Die  ganze  Empirie 
ist  der  unmittelbare  Ausdruck  der  intelligiblen  Welt  Wenn 
wir  demnach  einen  Begressus  zur  ersten  Ursache  unternehmen 
wollten,  so  würden  wir  umsonst  die  Reihe  von  Un  bis  zu  Ub— <» 
durchzulaufen  suchen  —  wir  würden  immer  nur  subalterne 
Ursachen  bekommen.  Hingegen  genügt  der  Bückgang  zur 
wirklichen  Ursache   der  Erscheinung  —  zum  Ding  an  sich. 


0  Es  sei  mir  gestattet,  trotz  der  Unanscbaulichkett  des  zu  be- 
handelnden Gegenstandes,  folgendes  Schema  anfzustellen: 

.   .   .      X-^ ►X'^ ►!-• ^X-i ►X 

i       i        l        i       l 

...      Un  — ►    Un+l— ►Un+S— *^Un+8"-*Un+4«  •   . 

Wir  nehmen  der  Einfachheit  halber  an,  dafs  es  mehrere  Dinge  an  sich 
gibt,  und  zwar,  dafs  jeder  Erscheinung  ein  besonderer  tranascendentaler 
Gegenstand  substituiert.  Die  Dinge  an  sich  seien  durch  die  xx  symbolisiert. 
Ihr  empirisches  Equivalent  ist  die  Reihe  der  Erscheinungen  Un,  Uo+i  usw. 
Nun  findet  nach  Kants  ausdrücklicher  Lehre  die  Idee  der  Freiheit  ledig- 
lich statt  „in  dem  Verhältnis  des  Intellektuellen,  als  Ursache,  zur  Er- 
scheinung als  Wirkung*'.  Die  intelligible  Kausalität  kann  also  nur  durch 
den  von  uns  gezeichneten  vertikalen  Pfeil  symbolisiert  werden.  Daraus 
ist  aber  zugleich  ersichtlich,  dafs  die  intelligible  Kausalität  allein  noch  gar 
nicht  über  den  Charakter  und  die  Gesetzmäfsigkeit  der  Erscheinungen 
untereinander  entscheidet.  Die  von  Kant  gelehrte  Freiheit  Undert  also 
nicht,  daijs  das  durch  Freiheit  entstandene  Geschehen  in  der  Empirie 
als  dem  Kausalgesetze  gehorchend  angesehen  wird. 


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95 

Wir  haben  dann  keinen  weiten  Weg  znrttekzalegen,  wenn  wir 
ans  aach  gestehen  müssen,  dafs  wir  einen  Spmng  in  die 
Transseendenz  nnternommen  haben.  —  Das  ist  die  durehans 
begreifliehe  nnd  —  solange  nnr  als  problematisehe  Ansieht 
Torgetragen  —  vom  kritisehen  Standpunkt  zulässige  Lösnng 
des  Problems  der  kosmologisehen  Freiheit.  Sie  ftthrt,  wie  ge- 
sagt, nichts  Nenes  ein,  sie  ist  nnr  eine  Konsequenz  der  bereits 
in  der  Ästhetik  vollzogenen  Scheidung  der  Gegenstände  in 
Phänomena  nnd  Noumena. 

Ganz  anders  verhält  sich  die  Sache,  wenn  man  diese 
Losung  auf  das  Problem  der  praktischen  oder  psychologischen 
Freiheit  überträgt  Dann  erheben  sich  Schwierigkeiten,  die 
den  scharfsinnigsten  Erklärungsversuchen  Trotz  bieten.  Die 
Lebre  von  der  praktischen  Freiheit  hat  denn  auch  von  Anfang 
aui)  den  eigentlichen  Stein  des  Anstofses  in  der  Antinomien- 
lebre  gebildet  Zwar  klingt  es  sehr  plausibel,  wenn  Kant  sagt, 
dafs,  wenn  man  einmal  ein  Vermögen  angenommen  habe,  das 
imstande  ist,  eine  Reihe  von  selbst  anzufangen,  dann  nichts 
im  Wege  stehe,  auch  „mitten  im  Laufe  der  Welt  verschiedene 
Beihen  der  Kausalität  nach  von  selbst  anfangen  zu  lassen, 
und  den  Substanzen  derselben  ein  Vermögen  beizulegen,  ans 
Freiheit  zu  handeln*«  Will  man  aber  die  Konsequenz  dieser 
weiteren  Annahme  mit  in  Kauf  nehmen,  so  scheint  es,  dafs 
die  Naturnotwendigkeit  überhaupt  geopfert  werden  müsse.^) 

Solange  nur  gesagt  wird,  die  ganze  empirische  Kausal- 
kette sei  der  phänomenale  Ausdruck  einer  intelligiblen  Kausalität, 
so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden.  Sollen  aber  in  dieser  Kette 
selbst  hie  nnd  da  frei  handelnde  Subjekte  eingeschaltet  werden, 
80  ist  es  unbegreiflich,  wie  das  Naturgesetz  in  seiner  Integrität 
gewahrt  bleiben  kann.  Wenn  die  praktische  Freiheit  nur  darin 
bestehen  soll,  dafs  unter  den  sonstigen  Dingen  an  sich  unsere 
Vernunft  ebenfalls  als  Noumenon  von  selbst  zu  handeln  anfängt, 
80  ist  nicht  einzusehen,  warum  die  Handlungen  der  Vernunft 
gegenüber   der  Naturnotwendigkeit   eine    besondere  Wertung 

*)  Man  vgl.  oben  S.  91  Anm.  1. 

*)  IXiese  Schwierigkeit  scheint  Er  dm  an  n  anzudeuten,  wenn  er  sagt, 
er  wolle  nicht  untersuchen,  „ob  nicht  die  praktische  Freiheit  mit  dem 
kosmologisehen  Begriff  derselben  ebenso  unverträglich  sei,  wie  das 
theoretische  mit  dem  praktischen  A- priori^;  a.  a.  0.  159. 


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96 

erhalten  sollten,  da  doch  alles,  was  geschieht,  eigentlich  nur 
der  Aasdmek  frei  handelnder  Dinge  an  sieh  ist  Femer  ist 
das  Sollen  im  Gegensatz  zu  dem,  was  bereits  geschehen  ist, 
unverständlich,  denn  es  ist  nach  Kants  ausdrttcklicher  Lehre 
nicht  möglich,  dafs  die  Sinnlichkeit  aaf  eine  Vernunft,  die 
Noumenon  ist,  irgend  eine  Wirkung  ansttben  könnte,  um  deren 
Handlung  unfrei  zu  machen.  Endlich  scheinen  die  Beweise, 
die  Kant  für  diesen  Punkt  anführt,  nicht  zwingend  zu  sein. 
Wenn  unsere  abfällige  Beurteilung  einer  bösen  Tat  als  Beweis 
für  die  Möglichkeit  freier  Handlungen  angeführt,  indem  be- 
hauptet wird:  ,wenn  wir  sagen,  dafs  unerachtet  seines  ganzen 
bis  dahin  geführten  Lebenswandels  der  Täter  die  Lttge  doch 
hätte  unterlassen  können,  so  bedeutet  dies  nur,  dafs  . . .  die 
Vernunft  in  ihrer  Kausalität  keinen  Bedingungen  der  Erscheinung 
. . .  unterworfen  ist*",!)  —  so  kann  demgegenüber  geltend  ge* 
macht  werden,  dafs  aus  eben  dieser  Zurechnung  mit  nicht 
geringer  Evidenz  hervorgeht,  dafs  unsere  Beurteilung  mensch- 
licher Hanndlungen  falsch  ist.  Übrigens,  was  bedeuten  eigent- 
lich die  hier  oft  angeführten  „Bedingungen  der  Erscheinung*, 
sind  sie  etwas  anderes  als  der  phänomenale  Ausdruck  einer 
intelligiblen  Gesetzmäfsigkeit?  Wir  brauchen  jedoch  die 
Schwierigkeiten,  die  der  Begriff  der  praktischen  Freiheit  mit 
sich  führt,  nicht  weiter  auszuführen.  Für  unseren  Zweck 
müssen  wir  vielmehr  den  Sinn  der  kosmologisehen  Kausalität 
näher  ins  Auge  fassen. 

Zu  diesem  Zwecke  wollen  wir  unser  obiges  Schema  noch 
einmal  anführen: 


x^ 

^X< 

-♦X-« 

■►X 

i 

i 

i 

i 

Hn 

— > 

Un+1- 

->Un+«- 

■*Un+8 

Wir  haben  gesagt,  dafs  die  Kausalität  durch  Freiheit  nur 
das  Verhältnis  des  Intelligiblen  zur  Reihe  der  Erscheinungen 
ausdrücken  kann.  Dieses  Verhältnis  wurde  durch  die  vertikalen 
Pfeile  angedeutet  Hingegen  haben  wir  zwei  andere  Verhält- 
nisse anfser  Betracht  gelassen:  das  Verhältnis  der  Erscheinungen 
untereinander  und  dasjenige  der  Uinge  selbst  zueinander.  Die 
kosmologische  Freiheit   als  solche  kann   auf  die  Art   dieser 

*)  Kr.  584. 

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97 

Verhältnisse  keinen  EinfloTs  üben.  Nnn  wissen  wir  —  a  priori 
oder  dnreh  Erfahrung,  bleibt  sieh  hier  gleich  — ,  dals  nnter 
den  Erseheinnngen  eine  kansale  Naturnotwendigkeit  herrseht 
(sie  wird  in  unserem  Schema  durch  die  unteren  horizontalen, 
nach  rechts  gerichteten  Pfeile  ausgedrückt).  Was  Air  Verhält- 
nisse unter  den  Dingen  an  sieh  herrsehen,  können  wir  nicht 
wissen.  Das  eine  wissen  wir  jedoch,  dab  Gesetzmäfsigkeit 
kein  aussehlieislich  empirischer  Begriff  ist  Man  lese  noch 
emmal:  „Ebensowenig  können  wir  fttr  reine  Verstandeswesen, 
z,  B.  Gott,  sofern  seine  Handlung  immanent  ist,  einen  Begriff 
von  Freiheit  angemessen  finden.  Denn  seine  Handlung,  obzwar 
unabhängig  von  äulseren  bestimmenden  Ursachen,  ist  dennoch 
...  in  der  gStttliehen  Natur  bestimmt^  0  ^^  Verhältnis  der 
Noumena  ist  also  eine  bestimmte  Gesetzmäfsigkeit  (in  unserem 
Schema  dureh  die  Doppelpfeile  symbolisiert).  Nunmehr  handelt 
es  sich  um  die  Bestimmung  des  Verhältnisses,  welches  zwischen 
der  intelligiblen  Gesetzmäfsigkeit  und  der  Kausalität  der  Er- 
scheinungen herrscht.  Bewirkt  die  intelligible  Kausalität  nur, 
dafs  Erscheinungen  sind,  während  die  notwendigen  Gesetze 
anter  ihnen  von  dem  spontanen  Verstand  geschaffen  werden; 
—  oder  igt  sowohl  die  Existenz,  wie  die  Ursächlichkeit  der 
Erscheinungen  ausschliefslioh  durch  ihre  Substrate  und  die 
nnter  ihnen  selbst  herrschende  Gesetzmäfsigkeit  bedingt? 
Fttr  beide  Teile  der  Altemattve  lassen  sich  in  der  Kritik 
positive  Antworten  finden.  Die  Deduktion  hat  gelehrt,  dafs 
wir  der  Natnr  Gesetze  Yorschreiben.  Hier  wiederum  fragt 
Kant,  ob  es  denn  nicht  möglich  sei,  „dafs,  obgleich  zu  jeder 
Wirkung  in  der  Erscheinung  eine  Verknüpfung  mit  ihrer  Ur- 
sache nach  Gesetzen  der  empirischen  Kausalität  erfordert  wird, 
dennoch  diese  empirische  Kausalität  selbst  .  .  .  eine 
Wirkung  einer  nicht  empirischen,  sondern  intelligiblen 
Kausalität  sein  könne^.^)  Und  an  einer  anderen  Stelle  heilBt 
es  noeh  bestimmter:  „. .  •  ein  anderer  intelligibler  Charakter 
wttrde  einen  anderen  empirischen  gegeben  haben.*  3)  Wie 
sind  diese  beiden  entgegengesetzten  Ansichten  zu  yereinigen? 

>)  Man  Tgl.  aolserdem  Er.  164:   ,  Dingen  an  sich  selbst  würde  ihre 
Geaetsmälsigkeit  notwendig  . . .  zukommen.^ 
•)  Kr.  572. 
»)  Kr.  584. 

PliiloiophifclM  Abhandlimgeii.  XLI.  7 


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98 

Aach  das  Problem  der  empirischen  Gesetze  fällt  noch  ins 
Gewicht  Wäre  die  Gesetzmäfsigkeit  der  Erscheinnngen  das 
Werk  des  spontanen  Verstandes,  dann  mttfste  sie  sich  ins- 
gesamt a  priori  ans  dem  Verstände  ableiten  lassen.  Dies  trifft 
jedoch  fttr  die  empirischen  Gesetze  nicht  zn.  Um  sie  zu  er- 
klären, bleibt  also  nichts  anderes  übrig,  als  anf  die  Dinge  an 
sieh  zu  rekurrieren.  Ist  es  aber  einleuchtend,  dals  die  mindeste 
Abweichung  eines  empirischen  Gesetzes  von  demjenigen  des 
reinen  Verstandes,  dieses  Verstandesgesetz  yemichten  würde, 
so  taucht  die  Frage  von  neuem  auf:  auf  welchem  Prinzip  be- 
ruht die  Übereinstimmung  der  empirischen,  vom  Verstände 
völlig  unabhängigen  Gesetzmäfsigkeit  der  Erscheinungen  mit 
den  reinen  Gesetzen,  die  der  Verstand  diesen  Erscheinungen 
vorschreibt?  Soll  aber  die  gesamte  Naturnotwendigkeit  nur 
der  phänomenale  Ausdruck  der  intelligiblen  Gesetzmäfsigkeit 
sein,  so  ist  es  unbegreiflich,  wie  noch  von  einem  der  Natnr 
Gesetze  vorschreibenden  Verstände  die  Rede  sein  kann.  —  Wir 
sehen  also,  die  Auflösung  der  dritten  Antinomie  vermag  den 
Widerspruch,  der  im  Kantischen  System  entsteht,  wenn  em- 
pirische Gesetze  zugegeben  werden,  nicht  zu  lösen.  Vielmehr 
wird  dieser  Widerspruch  durch  die  genaue  Feststellung  des 
Sinnes  der  intelligiblen  Kausalität  noch  verschärft.  Nunmehr 
wollen  wir  zusehen,  welchen  Ausweg  Kant  findet,  als  ihm 
dieses  Problem  durch  die  Kritik  vor  Augen  geführt  wird, 
und  ob  die  Einführung  des  neuen  Prinzips,  von  dem  gleich 
gehandelt  werden  soll,  die  Schwierigkeit  zn  beseitigen  vermag. 

Die  prästabilierte  Harmonie  und  die  empirischen  Gesetze. 

Das  Problem  der  empirischen  Gesetze  hat  Kant  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  selbst  noch  nicht  beunmhigt 
Dort  heifst  es  noch:  „.  .  .  alle  empirischen  Gesetze  sind 
nur  besondere  Bestimmungen  der  reinen  Gesetze  des  Ver- 
standes, unter  welchen  und  nach  deren  Norm  jene  aller- 
erst möglich  sind  und  die  Erscheinungen  eine  gesetzliche 
Form  annehmen  . .  .*  0  ^^^  entsprechende  Stelle  in  der  2.  Auf- 
lage ist  schon  etwas  schüchterner  gehalten.     In  den  Losen 


0  Kr.  A  128. 

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99 

Blättern  findet  sich  zwar  eine  Aufzeichnung,  die  anscheinend 
nach  dem  Jahre  87  niedergeschrieben  worden  ist  and  die  zeigt, 
dals  das  Problem  der  empirischen  Gesetze  Kant  zu  bennmhigen 
beginnt  So  sehreibt  er  dort:  ,Es  mttssen  zweierlei  Prinzipien 
der  Einheit  a  priori  sein,  Einheit  der  Intellektion  ^  der  Er- 
seheinnngen  a  priori,  sofern  wir  dnrch  sie  bestimmt  werden, 
und  Einheit  der  Spontaneität  des  Verstandes,  sofern  die  Er- 
scheinungen dnreh  ihn  bestimmt  werden."  2)  Aber  auch  hier 
findet  sich  noch  kein  Wort  darüber,  wie  diese  beiden  Prinzipien 
in  eine  Einheit  der  Erfahmngen  zosammenstimmen  müssen.') 
Jedoch  schon  zwei  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  2.  Auflage 
der  Kritik  sieht  sich  Kant  infolge  der  Einwände  Maimons 
gezwungen,  ein  neues  Prinzip  in  seine  Erkenntnistheorie  ein- 
zofllhren.  Es  ist  dies  das  Prinzip  einer  transscendentalen 
prästabilierten  Harmonie  zwischen  der  Sinnlichkeit  und 
dem  Verstände,  die  yielleieht  Gott  beim  Schöpfungsakt  in  unser 
Erkenntnisvermögen  gelegt  hat  Ein  alter  Gedanke  Kants,  der 
ihn  in  der  Periode  des  strengsten  Kritizismus  nicht  verlassen 
hatte,  und  der  als  private  Meinung  neben  dem  kritischen 
Ignoramos  einherging. ^)  Jetzt  wird  dieser  Gedanke  genau 
präzisiert,  and  es  wird  der  Versuch  gemacht,  diese  transscen- 
dentale  prästabilierte  Harmonie  mit  dem  Ergebnis  der  Analytik 
in  Einklang  zu  bringen. 

In  einem  Briefe  an  Herz,  der  fttr  Maimon  bestimmt  war, 
heilst  es:  .Nun  fragt  Hr.  Maimon:  Wie  erkläre  ich  mir  die 
Möglichkeit  der  Zusammenstimmung  der  Anschauung  a  priori 
zu  meinen  Begriffen  a  priori,  wenn  jede  ihren  spezifischen  ver- 
sebiedenen  Ursprung  hat,  da  dieselbe  zwar  als  Faktum  gegeben, 
aber  ihre  Bechtmäfsigkeit  oder  die  Notwendigkeit  der  Über- 
einstimmung zweener  so  heterogener  Vorstellungsarten  nicht 

^)  Intellektion  s  „Einstimmung  der  Erscheinungen  untereinander**, 
L.  6L  S7. 

>)  Ebenda  111. 

■)  Der  Versuch  einer  ErklSrung,  die  Kant  an  einem  anderen  Orte 
gibt,  Ist  lediglich  eine  Konstatiemng  der  Tatsache.  «Die  intellektuellen 
Funkttouen  machen  den  An&ng  bei  der  Apprehension,  allein  die  Spezi- 
fikation gibt  uns  die  Regel  der  Anwendung  dieses  Begriffs,  daher  können 
bestimmte  Regeln  der  Synthesis  nur  durch  Erfahrung  gegeben  werden, 
die  allgemeine  Norm  derselben  aber  a  priori.**    L.  Bl.  39. 

*)  Man  vgl.  Kumetaro  Sasao  a.  a.  0.  29. 

7* 


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100 

begreiflich  gemacht  werden  kann;  und  umgekehrt,  wie  kann 
ich  durch  meinen  Verstandesbegriff  z.  B.  der  Ursaehe,  dessen 
Möglichkeit  an  sich  doch  nur  problematisch  ist,  der  Natar, 
d.  i.  den  Objekten  selbst,  das  Gesetz  vorschreiben;  zuletzt  gar, 
wie  kann  ich  selbst  von  diesen  Funktionen  des  Verstandes, 
deren  Dasein  in  demselben  auch  blofs  ein  Faktum  ist,  die 
Notwendigkeit  beweisen,  die  doch  vorausgesetzt  werden  mntsj 
wenn  man  ihnen  Dinge,  wie  sie  uns  immer  vorkommen 
mögen,  unterwerfen  will*  i)  Kant  erwidert  darauf,  indem  er  das 
Resultat  seiner  Analytik  rekapituliert,  wobei  er  kein  Jota  von 
seiner  Lehre  aufgibt,  er  bemerkt  jedoch  am  Schluis:  ,Wie 
aber  eine  solche  sinnliche  Anschauung  (als  Raum  und  Zeit) 
so  von  unserer  Sinnlichkeit  oder  solchen  Funktionen  des  Ver- 
standes, als  deren  die  Logik  aus  ihm  entwickelt,  selbst  möglich 
sei,  oder  wie  es  zugehe,  dafs  eine  Form  mit  der  anderen 
zu  einem  möglichen  Erkenntnis  zusammenstimme,  das  ist  uns 
schlechterdings  unmöglich  weiter  zu  erklären  ...  Es  ist  miislich, 
den  Gedanken,  der  einem  tiefdenkenden  Manne  obgeschwebt 
haben  mag  und  den  er  sich  selbst  nicht  recht  klar  machen 
konnte,  zu  erraten;  gleichwohl  überrede  ich  mir  sehr,  dafs 
Leibniz  mit  seiner  vorherbestimmten  Harmonie  . . .  nicht  die 
Harmonie  zweier  verschiedener  Wesen,  nämlich  Sinnen-  und 
Verstandeswesen,  sondern  zweier  Vermögen  eben  desselben 
Wesens,  in  welchem  Sinnlichkeit  und  Verstand  zu  einem  Er- 
fahrnngserkenntnisse  zusammenstimmen,  vor  Augen  gehabt  habe, 
von  deren  Ursprung,  wenn  wir  ja  darttber  urteilen  wollten, 
obzwar  eine  solche  Nachforschung  gänzlich  über  die  mensch- 
liche Vernunft  hinausliegt,  wir  weiter  keinen  Grund  ala  den 
göttlichen  Urheber  von  uns  angeben  können.* 

Man  sieht  deutlich,  dafs  die  von  Kant  hier  interpretierte 
prästabilierte  Harmonie,  die  sich  infolge  dieser  Interpretation 
in  eine  transscendentale  verwandelt,  Kants  eigene  Ansicht  ist 
Noch  deutlicher  ist  Kant  am  Schlüsse  der  Streitschrift  gegen 
Eberhard,  wo  besonders  das  Problem  der  empirischen  (besetze 
ganz  deutlich  hervorgehoben  wird.  Kant  sagt  daselbst:  ^Eb 
läfst  sich  die  Gemeinschaft  zwischen  Verstand  und  Sinnlich- 
keit in  demselben  Subjekt  nach  gewissen  Gesetzen  a  priori 


1)  Brief  an  Herz  vom  26.  Mai  1789. 

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101 

wohl  denken  and  doch  zugleich  die  notwendige  natürliche 
Abhängigkeit  der  letzteren  von  änfseren  Dingen,  ohne  diese 
dem  Idealismns  preiszugeben.  —  Von  dieser  Harmonie  zwischen 
dem  Verstände  and  der  Sinnlichkeit,  sofern  sie  Erkenntnisse 
von  allgemeinen  Naturgesetzen  a  priori  möglich  macht,  hat 
die  Kritik  genügende  Gründe  angegeben,  dafs  ohne  diese  keine 
Erfahrung  möglich  ist,  mithin  die  Gegenstände  .  • .  von  uns  in 
die  Einheit  des  Bewufstseins  gar  nicht  aufgenommen  werden 
und  in  die  Erfahrung  hineinkommen,  mithin  für  uns  nichts 
sein  würden.  Wir  konnten  aber  doch  keinen  Grund  angeben, 
warum  wir  gerade  eine  solche  Art  der  Sinnlichkeit  und  eine 
solche  Natur  des  Verstandes  haben,  durch  deren  Verbindung 
Erfahrung  möglieh  wird;  noch  mehr,  warum  sie  als  sonst  völlig 
heterogene  Erkenntnisquellen  zu  der  Möglichkeit  eines  Er« 
fahrungserkennlnisses  überhaupt,  hauptsächlich  aber  zu  der 
Möglichkeit  einer  Erfahrung  von  der  Natur  unter  ihren  mannig- 
fachen besonderen  und  blofs  empirischen  Gesetzen,  von 
denen  uns  der  Verstand  a  priori  nichts  lehrt,  doch  so  gut  immer 
zQsammenstimmen,  als  wenn  die  Natur  für  unsere  Fassungs- 
kraft absichtlich  eingerichtet  wäre;  dieses  konnten  wir  nicht 
(und  das  kann  auch  niemand)  weiter  erklären.  Leibniz  nannte 
den  Grund  davon  . . .  eine  vorherbestimmte  Harmonie,  wodurch 
er  augenscheinlich  jene  Übereinstimmung  nicht  erklärt  hatte, 
auch  nicht  erklären  wollte,  sondern  nur  anzeigte,  dafs  wir  da- 
doreh  eine  gewisse  Zweekmäfsigkeit  in  der  Anordnung  der 
obersten  Ursache  unserer  selbst  sowohl,  als  aller  Dinge  aufser 
uis  zu  denken  hätten  und  diese  zwar  schon  als  in  die  Schöpfung 
gelegt  (vorherbestimmt),  aber  nicht  Vorherbestimmung  aufser- 
einander  befindlicher  Dinge,  sondern  nur  der  Gemütskräfte  in 
ims,  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  nach  jeder  ihrer  eigen- 
tamlichen  Beschaffenheit  füreinander,  so  wie  die  Kritik  lehrt,  dafs 
sie  zum  Erkenntnisse  der  Dinge  a  priori  stehen  müssen/ 1) 

Diese  transscendentale  prästabilierte  Harmonie  ist  aller- 
dings eine  dogmatische  Hypothese,  die  Kant  auch  deshalb 
mit  einer  gewissen  Reserve  erwähnt  Sie  steht  jedoch  nicht  — 
wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte  —  mit  dem 
Besultat  der  Analytik  im  Widersprueh.    Sowohl  hier,  wie  in 


')  Über  eine  Entdeckung  usw.  gegen  Ende, 

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102 

dem  erwähnten  Briefe  an  Herz  wird  aasdrttcklieh  hervorgehoben, 
dafs  hier  nieht  die  Rede  ist  von  einer  ,  Vorherbestimmang  aofser- 
einander  befindlieher  Dinge,  sondern  der  Gemtttskräfte  in  ims*, 
nieht  von  einer  «Harmonie  zweier  verschiedener  Wesen,  nämlich 
Sinnen-  and  Verstandeswesen,  sondern  zweier  Vermögen  eben 
desselben  Wesens,  in  welchem  Sinnlichkeit  and  Verstand  za 
einem  Erfahrangserkenntnisse  zusammenstimmen*.  In  dieser 
Fassang  ist  aber  die  Harmonie  nar  eine  weitere  Konsequenz 
der  Analytik.  Diese  hat  gezeigt,  dafs  wir  deshalb  von  der 
Natar  eine  Erkenntnis  a  priori  besitzen,  weil  die  Erscheinongen, 
wenn  sie  überhaupt  gedacht  werden  sollen,  den  allgemeinen 
Gesetzen  des  Verstandes  gemäfs  sein  mttssen.  Die  Tatsache  der 
Erfahrung,  die  wissenschaftliche  Erfahrbarkeit  der  Natur,  beweist 
also  die  Konformität  der  Erscheinungen  mit  unserem  Erkenntnis- 
vermögen. Nunmehr  fragt  es  sich,  wie  ist  diese,  auf  transscenden- 
talem  Wege  bewiesene  Übereinstimmung  zu  erklären?  Wohl 
nicht  anders,  als  durch  die  Annahme  einer  vorherbestimmteD 
Harmonie  zwischen  dem  Verstände  und  der  Sinnlichkeit 

Es  wäre  jedoch  Übereilt,  anzunehmen,  dafs  durch  die 
Betonung  dieser  Harmonie  die  Schwierigkeit,  die  das  Vor- 
handensein empirischer  Gesetze  der  Kantischen  Erkenntnislelire 
bereitet,  tatsächlich  beseitigt  worden  sei.  Denn  Kant  bringt 
hier  zwei  Fragen  zusammen,  die  miteinander  nichts  zu  tun 
haben.  Es  ist  für  die  Erkenntnistheorie  von  gar  keiner  Be- 
deutung, «warum  wir  gerade  eine  solche  Art  der  Sinnlichkeit 
und  eine  solche  Natur  des  Verstandes  haben*^,  so  wenig  wie 
es  uns  interessieren  kann,  warum  wir  gerade  zwölf  Kategorien 
haben,  oder  warum  der  intelligible  Charakter  gerade  diesen 
empirischen  gebe.  Derartige  Fragen  wurden  auch  schon  in  der 
Kritik  und  in  den  Prolegomena  gestreift.  Nicht  minder  belanglos 
ist  es,  nach  dem  letzten  Grund  der  Übereinstimmung  des  Ver- 
standes mit  der  Sinnlichkeit  zu  fragen,  wenn  die  Erkenntnis- 
lehre nur  gezeigt  hat,  dafs  sie  miteinander  übereinstimmen 
mttssen.  Von  gröfster  Bedeutung  ist  jedoch  die  Frage  von 
dem  Verhältnis  der  empirischen  zur  reinen  Erkenntnis.  Hier 
darf  Kant  sich  nicht  auf  die  Beschränktheit  unserer  Einsicht 
berufen.  Denn  wird  dieses  Verhältnis  nicht  genau  bestimmt 
und  wird  nicht  gezeigt,  wie  empirische  Gesetze  neben  den 
reinen   möglich  sind,  so   ist  die  Deduktion   selbst  nicht  zu 


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103 

begreifen.     Zar  ErUärang  der  Möglichkeit  «einer  Erfabrang 
Ton  der  Katar  unter  ibren  mannigfachen  besonderen  and  blols 
empirisehen  Gesetzen,  von  denen  ans  der  Verstand  a  priori 
nichts  lehrt*,  genttgt  es  aber  nicht  eine  Harmonie  zwischen 
den  Erkenntniskräfken  unseres  Gemüts  anzunehmen.   Es  mttfste 
vielmehr  gezeigt  werden,  wie  es  zugehe,  dafs  «alle  empirischen 
Gesetze*  trotz  ihrer  Aposteriorität  ,nur  Bestimmungen  der  reinen 
Gesetze  des  Verstandes*  sein  müssen.    Am  leichtesten  könnte 
diese  Frage   dadurch  gelöst  werden,  wenn  man  eine  Vorher- 
bestimmung der  Dinge  aufsereinander  annehmen  würde.  Diesen 
Aasweg  muüste  Kant  jedoch  mit  aller  Entschiedenheit  zurück- 
weisen.   Denn  die  Annahme  einer  derartigen  Harmonie  würde 
die  Bückkehr  zam  dogmatischen  Bationalismus  bedeuten.  Aber 
aneh  die  kritische  Lösung  unseres  Problems  kann  nicht  ganz 
befriedigen.   Die  strickte  Durchführung  des  «Kopemikanischen 
Gedankens*,  dals  die  Dinge  sich  nach  den  Begriffen  richten 
mttssen,    hätte  zu  dem  Ergebnis  führen   müssen,   daCs  jede 
Bewegung,  Lage  oder  jedes  besondere  Verhältnis  unter  den  Er- 
scheinungen darch  den  spontanen  Verstand  geschaffen  werden. 
Denn  das  Erfahrangsmaterial  müfste   uns  völlig  ungeordnet 
gegeben  werden,  damit  es  sich  den  apriorischen  Formen  füge. 
Dann  dürfte  es  aber  gar  keine  empirische  Gesetzmäfsigkeit, 
sondern  nur  reine  Erkenntnisse  geben.    Oder  aber  es  müfste 
der  aposteriorische  Charakter  der  besonderen  Gestaltungen  der 
Materie  und  ihrer  empirischen  Verhältnisse  auf  die  Unbewulst- 
heit  der  entsprechenden  Funktionen  der  Kräfte  unseres  GemUts 
snrüekgefllhrt  werden,  was  jedoch  zu  gewagt  gewesen  wäre. 
Denn  erstens  war  für  eine  derartige  Annahme  kein  Beweis  zu 
erbringen;  zweitens  wäre  nicht  einzusehen,  warum  man  bei 
der  Schöpfung   der  besonderen  Formen  stehen  bleiben,  und 
nicht  aach   die  Hervorbringung  der  Materie   dem  unbewufst 
schaffenden  Verstände  zuschreiben  solle.     Dies  wäre  jedoch 
weder  mit  dem  Bealismus  Kants,  noch  mit  seinen  praktischen 
Intentionen  zu  versöhnen  gewesen.     Kant  hat  deshalb  auch 
die  Konsequenz  seiner  Lehre  von  der  «Bevolntion  der  Denk- 
art* niemals  so  weit  ausgeftlhrt    Das  Problem  der  empirischen 
Gesetze  blieb  deshalb  ungelöst   Denn  so  wenig  wie  der  Über- 
gang von   der  transscendentalen  Einheit  der  Apperzeption  zu 
den  einzelnen  Kategorien   durch   eine  lückenlose   Deduktion 


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104 

geschehen  ist,  so  wenig  ist  es  Kant  gelungen,  die  empirisehen 
Gesetze  aas  diesen  Kategorien  abzuleiten  and  mit  ihrer  Apriorität 
in  Einklang  za  bringen.  Kant  ist  sieb  dieser  Lücke  and  dieses 
Widerspruchs  in  seinem  System  niemals  ganz  klar  bewolst 
geworden.  Trotzdem  war  das  eigentliche  and  wichtigste  Ziel 
seiner  Untersuchungen  erreicht  Aus  seinen  unumstöfslichen 
Prämissen  folgt  mit  völliger  Sicherheit,  „dafs  aller  Gebrauch 
der  reinen  Vernunfk  niemals  worauf  anders,  als  auf  Gegenstände 
der  Erfährung  gehen  kOnne,  und,  weil  in  Grundsätzen  a  priori 
nichts  Empirisches  die  Bedingung  sein  kann,  sie  nichts  weiter 
als  Prinzipien  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  ttberhanpt 
sein  können.  Dieses  allein  ist  das  wahre  und  hinlängliche 
Fundament  der  Grenzbestimmung  der  reinen  Vernunft,  aber  nicht 
die  Aufgabe:  wie  nun  Erfahrung  vermittelst  jener  Kategorien 
und  nur  allein  durch  diese  möglich  sei  . . .  und  gesetzt,  die 
Art  wie  Erfahrung  dadurch  allererst  möglich  werde,  könnte 
niemals  hinreichend  erklärt  werden,  so  bleibt  es  doch  un wider- 
sprechlich  gewifs,  dafs  sie  blols  durch  jene  Begriffe  möglich, 
und  jene  Begriffe  umgekehrt  auch  in  keiner  anderen  Beziehung, 
als  auf  Gegenstände  der  Erfahrung  einer  Bedeutung  und  irgend- 
eines Gebrauchs  fähig  sind.*i) 

Von  hieraus  läfst  sich  nunmehr  auch  die  Bolle  des  Dinges 
an  sich  beim  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung 
genauer  bestimmen.  .Was  den  Veränderungen  in  den  intellec- 
tualibus  respondiere,  wissen  wir*^  zwar  nach  wie  vor  „nichts ') 
noch  weniger,  was  den  Qualitäten,  Formen,  Bewegungen  und 
Gestalten,  oder  sogar  einzelnen  Individuen  in  den  Substraten 
entspricht.  Ist  aber  die  Mannigfaltigkeit  der  empirisehen 
Anschauung  und  ihrer  besonderen  Verhältnisse  nicht  das  Werk 
des  spontanen  Verstandes,  so  müssen  wir  auf  die  Dinge  an 
sich  zurückgehen  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Qualitäten,  der 
Formen  und  des  Geschehens  auf  die  mannigfache,  differenzierte 
Wirkung   dieser  Dinge  zurückfahren,  s)     Trotzdem  bleibt  es 


»)  Met.  Anfgr.  der  Natw.,  Vorr.  WW.  IV,  476  Anm. 

*)  Reflexion  Nr.  1164. 

*)  Das  schemt  auch  eine  Aufzeichnung  bei  Beicke  anzudeuten:  JAe 
blofse  Apprehension",  heifst  es  dort,  „erklärt  schon,  dals  hinter  der 
Erscheinung  eine  Substanz,  Ursache  oder  Zusammensetzung  sein 
müsse  ..."    L.  Bl  89. 


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105 

iweifelliaft,  ob  das  Ding  an  sich  .in  ans  oder  auch  aofser 
uns  anzutreffen  sei'',^  ja  man  darf  nicht  einmal  mit  Bestimmt- 
heit sagen,  dafs  es  mehrere  Dinge  an  sich  gibt^)  oder  endlich, 
dals  sie  verschieden  sind.  Denn  wir  haben  in  .unserer  absolut 
spontanen  Vernunft,  im  freien  Willen  ein  Analogen  dafür,  wie 
aus  einem  allem  Anscheine  nach  einfachen  Vermögen  die  mannig- 
fachsten Wünsche  entstehen  können,  weil  der  Wille  in  dieser 
Beziehung  tatsächlich  unendlich  ist 


>)  Man  TgL  Kr.  344. 

*)  Man  Tgl.  L.  Bl.  209.  „Dafs  die  Idealität  des  Raumes  und  der 
Zeit  . . .  nicht  den  realen  Idealism  enthalte,  der  vorgibt,  dafs  der  Wahr- 
nehmung ...  gar  kein  Gegenstand  ...  gegeben  sei,  sondern  dafs  diesem 
Gegenstande  oder  diesen  äufseren  Gegenstiinden  (welches 
nnausgemacht  bleibt)  nur  nicht  dieselbe  Form  des  Raumes  an  sich 
zukomme  . . ."  Und  an  einer  anderen  Stelle  sagt  Kant:  „Viele  Leser  der 
Kritik  stehen  noch  immer  in  dem  Wahne,  dais  wenn  ich  sage,  dem  Zu- 
sammengesetzten im  Raum  liege  das  intelligible  Einfache  zum  Grunde, 
als  ob  ich  sagen  wollte:  so  viele  Punkte,  so  viele  Monaden.^    Ebenda  230. 


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Anhang. 


Von  den  Wahmehmungs-  und  Erfahrnngsurteilen. 

Die  Lehre  von  den  Wahraehmnngs-  und  Erfahrangsurteilen 
gehört  bekanntlich  za  denjenigen,  die  von  jeher  der  Inter- 
pretation die  gröfsten  Schwierigkeiten  bereitet  haben.  Ich 
glaube  jedoch,  dafs  ein  erheblicher  Teil  dieser  Schwierigkeiten 
beseitigt  wird,  wenn  man  nur  genan  feststellt,  was  Kant  eigent- 
lich mit  dieser  seiner  Einteilung  bezwecken  wollte. 

Ein  Wahrnehmangsarteil  ist  eine  Synthesis  von  Wahr- 
nehmungen in  einem  Subjekt  Wenn  ich  z.  B.  das  Urteil  fälle: 
,der  Zucker  ist  sttfsS  so  geschieht  dies  auf  Grund  der  Emp- 
findungen, die  der  Zucker  in  mir  hervorrufL  Was  ich  mit 
einem  derartigen  Urteil  zunächst  aussagen  will,  ist  nicht  die 
Qualitätsbezeichnung  des  Zuckers,  sondern  die  Konstatiernng 
der  Empfindung,  die  beim  Genüsse  des  Zuckers  in  meinem 
Subjekt  auftritt.  Zwar  ist  das  erwähnte  Urteil  der  Form  nach 
objektiv,  jedoch  dem  Inhalte  nach  ist  es  nicht  minder  subjektiv, 
als  das  Urteil:  ,es  friert  mich^  Derartige  Urteile  haben  deshalb 
nur  Gültigkeit  für  mich  und  meinen  gegenwärtigen  Zustand; 
ob  ein  anderer  Mensch  und  ob  ich  selbst  morgen  beim  Genüsse 
des  Zuckers  dieselben  Empfindungen  haben  werde,  kann  ich 
nicht  vorausbestimmen.  Anders  verhält  es  sich  beim  Urteil: 
,die  Luft  ist  elastisch^  Auch  dieses  Urteil  ist  zunächst  nur  ein 
Wahrnehmungsurteil,  es  kann  aber  unter  gewissen  Umständen 
ein  Erfahrungsurteil  werden,  d.i.  ein  Urteil,  das  vom  Objekt, 
hier  von  der  Luft  gilt;  denn  was  Erfahrung  unter  gewissen 
Umständen  mich  lehrt,  muüs  sie  mich  immer  und  auch  jeder- 
mann lehren.  Wie  kommt  es  aber,  dafs  ein  und  dasselbe 
Urteil  das  eine  Mal  nur  subjektive  und  momentane,  das  andere 
Mal  allgemeine  Gültigkeit  besitzt?   Kants  Antwort  lautet:  Eine 


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107 

Wahrnehmung  wird  in  eine  Erfahrnng  verwandelt,  wepn  ein 
Verstandesbegriff  znm  Wahmehmangsnrteil  hinzutritt  Znr  Er- 
läuterung gibt  Kant  folgendes  Beispiel  »Wenn  die  Sonne 
den  Stein  bescbeint,  so  ?nrd  er  warm.  Dieses  Urteil  ist  ein 
blofses  Wahrnehmungsurteil  und  enthält  keine  Notwendigkeit, 
ieh  mag  dieses  noch  so  oft  und  andere  auoh  noch  so  oft 
wahrgenommen  haben;  die  Wahrnehmungen  finden  sich  nur 
gewöhnlich  so  verbnuden.  Sage  ich  aber:  die  Sonne  erwärmt 
den  Stdn,  so  kommt  ttber  die  Wahrnehmung  noch  der  Ver- 
standesbegriff, der  Ursache  hinzu,  der  mit  dem  Begriff  des 
Sonnenscheins  den  der  Wärme  notwendig  yerknttpft,  und  das 
synthetische  Urteil  wird  notwendig  allgemeingliltlg,  folglich 
objektiy  und  aus  einer  Wahrnehmung  in  eine  Erfahrung  ver- 
wandelt'' 0 

Diese  Einteilung  der  Urteile  und  ihre  Wertschätzung  fllr 
die  Wahrheit  scheint  nun  folgende  Schwierigkeiten  zu  enthalten: 

1.  geht  aus  dem  Wortlaut  Kants  hervor,  dafs  die  Um- 
wandlung des  Wahrnehmnngs-  in  ein  Erfahrnngsurteil,  mithin 
die  Subjektivität  einer  Aussage  in  eine  notwendige  Wahrheit, 
lediglich  von  unserem  Willen  abhängt,  denn  er  sagt:  «Will 
ieh,  es  soll  Erfahrungsurteil  heifsen,  so  verlange  ich*\  usw. 
nleh  will  also,  dafs  ich  jederzeit  und  auch  jedermann  die- 
selbe Wahrnehmung  unter  denselben  Umständen  notwendig 
Tcrbinden  mttsse.*^) 

2.  gibt  Kant  hier  eine  Anweisung,  wie  man  aus  subjek- 
tiven notwendige  und  allgemeingültige  Urteile  schafft,  und 
zwar  durch  die  Anwendung  des  Verstandesbegriffes,  in  unserem 
Falle  der  Kategorie  der  Ursache.  Aber  wie  oft  sehen  wir, 
dafs  Urteile,  die  einen  Verstandesbegriff  enthalten,  falsch  sind. 
Die  Geschichte  der  Wissenschaften  kann  eine  Unmenge  der- 
artiger falschen  Urteile  aufweisen. 

3.  Das  Charakteristische  der  Erfahrungsurteile  ist  die  Be- 
2iehung  aufs  Objekt,  diese  Urteile  sind  allgemeingültig.  Nun 
sind  >/,o  unserer  Urteile  objektiv,  d.  h.  sie  beziehen  ihre 
Prädikate  auf  einen  Gegenstand,  aber  wie  selten  sind  sie  not- 
wendige Urteile? 


>)  Prolegomena  §  20  Anm. 
*)  £benda  §  19. 


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4.  Wie  kann  selbst  das  Urteil  in  nnserem  Beispiel:  ,die 
Sonne  erwärmt  den  Stein ^  als  notwendig  angesehen  werden? 
Lehrt  doch  Kant  aasdrtteklich,  dafs  in  jeder  Erkenntnis  nnr 
soviel  Wissenschaft  enthalten  ist,  als  Mathematik  in  ihr  Ver- 
wendung findet? 

Indessen  lassen  sich  alle  diese  Schwierigkeiten  beseitigen, 
sobald  man  auf  das  wahre  Ziel  der  Kantischen  Einteilung  der 
Urteile  seinen  Blick  richtet  Dann  zeigt  sich,  dafs  Kant  hier 
keineswegs  eine  Theorie  der  Urteilsgeltang,  der  Wahrheits-  and 
Gewifsheitskriterien  aufzastellen  beabsichtigt,  sondern  lediglieh 
eine  Deduktion  der  Kategorien  geben  will,  die  in  eine  meta* 
physische  nnd  eine  transscendentale  zerfällt  Nnr  täaseht  die 
synthetische  Methode,  die  er  in  den  §§  18  und  19  and  znm  Teil 
§  20  anwendet,  über  das  eigentliche  Vorhaben  Kants  hinweg. 
Das  Ziel  ist,  wie  gesagt,  eine  Deduktion  der  Kategorien;  die 
metaphysische  Deduktion  hat  den  apriorischen  Charakter  der 
Verstandesbegriffe  nachzuweisen.  Wenn  gezeigt  werden  kann, 
dafs  in  einigen  unserer  Urteile  Begriffe  enthalten  sind,  die  ans 
der  Erfahrung  nicht  abgeleitet  werden  können,  so  ist  dadareh 
bewiesen,  dafs  sie  ihren  Ursprung  im  Verstände  haben.  Diese 
metaphysische  Deduktion  gipfelt  in  dem  Satze:  ,Es  geht  ein 
ganz  anderes  Urtel  voraus,  ehe  aus  Wahrnehmung  Erfahrang 
werden  kann."  i)  Neben  dieser  metaphysischen  Deduktion  ver- 
sucht Kant  die  Bechtmäfsigkeit  der  Kategorien  zu  be- 
weisen, indem  er  zeigt,  daljs  die  Kategorien  es  sind,  die 
allererst  unseren  Wahrnehmungen  die  Beziehung  aufs  Objekt 
verschaffen. 

In  der  Analytik  der  Grundsätze,  in  der  Kritik  heifst  es: 
,Zu  aller  Erfahrung  und  deren  Möglichkeit  gehört  Verstand, 
und  das  erste,  was  er  dazu  tut,  ist  . . .,  dafs  er  die  Vorstellnng 
eines  Gegenstandes  überhaupt  möglich  macht**)  Denn  es 
fragt  sich:  „Wie  kommen  wir  nun  dazu,  dafs  wir  den  Vor- 
stellungen ein  Objekt  setzen,  oder  ttber  ihre  subjektive  Realität 
als  Modifikationen  ihnen  noch,  ich  weils  nicht  was  für  eine 
objektive  beilegen?"')    Nun  sucht  Kant  zu  zeigen,  dab  die 


^)  Prolegomena  §  20. 
*)  Kr.  244. 
•)  Kr.  242. 


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Kategorien  unsere  Anscbannngen  objektivieren.  So  ist  der 
Begriff  der  GrOfse  dasjenige,  wodareh  ^die  Vorstellung  eines 
Objekts  zuerst  möglich  wird.^^)  Ein  zweites  Objektivienings- 
mittel  ist  die  Kategorie  der  Kansalität  „Wenn  wir  antersachen, 
was  denn  die  Beziehung  auf  einen  Gegenstand  unseren 
VorsteUungen  für  eine  neue  Beschaffenheit  gebe  und  welches 
die  Dignität  sei,  die  sie  dadurch  erhalten,  so  finden  wir,  dafs 
sie  niehts  weiter  tue,  als  die  Verbindung  der  Vorstellungen 
auf  eine  gewisse  Art  notwendig  zu  machen  und  sie  einer  Regel 
[gemeint  ist  hier  die  Kausalität]  zu  unterwerfen."')  Nicht 
minder  ist  die  Kategorie  der  Gemeinschaft  ein  Objektiviernngs- 
mitteL  Von  ihr  sagt  Kant:  Es  „wird  ein  Verstandesbegriff 
TOD  der  wechselseitigen  Folge  der  Bestimmungen  dieser  anlser- 
einander  zugleich  existierenden  Dinge  erfordert,  um  zu  sagen, 
daüs  die  wechselseitige  Folge  der  Wahrnehmungen  im  Objekte 
gegründet  sei,  und  das  Zugleichsein  dadurch  als  objektiv  vor- 
zostellen^s) 

Nichts  anderes  meint  Kant  hier  in  den  Prolegomena,  wenn 
er  sagt:  „Zergliedert  man  alle  seine  synthetischen  Urteile, 
sofern  sie  objektiv  gelten,  so  findet  man,  dafs  sie  niemals  aus 
blo&en  Anschauungen  bestehen,  die  blofs  . . .  durch  Vergleichung 
in  ein  Urteil  verknüpft  worden,  sondern  dafs  sie  unmöglich  sein 
wflrden,  wäre  nicht  über  die  von  der  Anschauung  abgezogenen 
Begriffe  noch  ein  reiner  Verstandesbegriff  hinzugekommen,  unter 
dem  jene  Begriffe  subsumiert  und  so  allererst  in  einem  objektiv 
gültigen  Urteile  verknüpft  worden."*) 

Will  man  daher  den  §§18—20  keine  anderen  Absichten 
zumuten,  als  diese  Feststellung  der  Apriorität  der  Kategorien 
und  ihrer  Bechtmälingkeit  und  sucht  man  in  ihnen  nicht  eine 
Theorie  der  Urteilsgeltnng  und  der  Wahrheitskriterien,  so 
ver8ch?rinden  alle  Schwierigkeiten,  die  uns  oben  zugestofsen 
sind.  Die  Voraussetzung  fttr  obige  Schwierigkeiten  war  die 
Auffassung,  dab  ein  Erfahrungsurteil  eo  ipso  ein  objektiv 
gültiges  Urteil  ist    Kant  sagt  jedoch  nnr,  „Urteile,  sofern  sie 


«)  Kr.  208. 
«)  Kr.  242. 
■)  Kr.  267. 
*)  Prolegomena  §  20. 


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tio 

objektive  Gültigkeit  haben,  sind  ErfabrangsiiTteile^;  dieser  Satz 
ist  aber  nieht  umkehrbar.  „Objektive  Gültigkeit  and  notwendige 
AUgemeingttltigkeit  sind  Wechselbegriffe. '^  Das  Erfabrongs- 
nrteil  ist  aber  zanäehst  nur  objektiv,  nicht  immer  aber  objektiv- 
gttltig.  Das  was  das  Erfahrnngsnrteil  vom  Wahmehmnngsnrteil 
unterscheidet,  ist  die  Beziehung  aufs  Objekt;  diese  Beziehung 
beweist,  dafs  dem  Urteil  ein  Verstandesbegriff  vorangegangen 
ist,  und  ist  die  conditio  sine  qua  non  fbr  eine  Aussage,  die 
allgemeingültig  werden  will;  sie  ist  aber  noch  nieht  der  za- 
reichende Grund,  der  sie  zur  Wahrheit  stempelt  Immer  wenn 
wir  ein  objektiv  gültiges  Erfahrungsurteil  zergliedern,  finden 
wir  den  Yerstandesbegriff  darin  enthalten,  nicht  aber  genügt 
schon  der  Hinzutritt  des  Verstandesbegriffs,  das  nunmehr  ob- 
jektiv gewordene  Urteil  (Erfahrungsurteil)  objektiv- gültig  zn 
machen.  Wie  gesagt,  die  synthetische  Art,  die  Kant  bei  dieser 
Deduktion  anwendet,  die  in  keiner  Weise  etwas  Neues  zn 
dem  hinzufügt,  was  nicht  bereits  in  der  Kritik  gesagt  worden 
wäre,  täuschte  über  sein  Vorhaben.  Man  glaubte  hier  nun 
einmal  das  Rezept  gefunden  zu  haben,  wie  man  aus  den 
Wahrnehmungen  Wissenschaft  konstruiere,  was  sehr  schön  zum 
Text  der  zweiten  Hauptfrage  der  Prolegomena  pafste.  Daher 
die  Schwierigkeiten,  die  aber  insgesamt  verschwinden,  sobald 
man  einsieht,  dafs  Kant  nirgends  gesagt  hat,  dafs  ein  Er- 
fahrungsurteil durch  diesen  seinen  Charakter  objektiv-gültig 
sei.  Dies  wird  übrigens  dureh  eine  spätere  Erörterung  in  der 
2.  Auflage  der  Kritik  ausdrücklich  betont  Kant  führt  da  das 
Erfahrungsurteil  an:  „der  Körper  ist  schwer^'  im  Gegensatz 
zur  subjektiven  Aussage:  „wenn  ich  einen  Körper  trage,  so 
fühle  ich  den  Druck  der  Schwere^  und  bemerkt,  dafs  das 
genannte  Erfahrungsurteil  zufällig  sei,  dafs  die  Vorstellungen 
Körper  und  Schwere  in  der  empirischen  Anschauung  nicht  not- 
wendig zueinander  gehören,  sondern  sie  werden  verbunden 
„nach  Prinzipien  der  objektiven  Bestimmung  aller  Vorstellungen, 
sofern  daraus  Erkenntnis  werden  kann.'^^) 

Ob  der  Gedanke,  der  der  Einteilung  der  Urteile  in  Wahr- 
nehmungs-  und  Erfahrungsnrteile  zugrunde  liegt,  richtig  ist; 
ob  ein  Wahrnehmungsurteil,  wie  es  in  der  Kantischen  Fassung 


»)  Kr.  §  19. 


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111 

dasteht,  ttberhanpt  möglich  ist,  da  doch  jedes  Urteil  bereits 
Verbindung  darch  Kategorien  voranssetzt;  ob  endlich  die  Be- 
ilehnng  anfs  Objekt  erst  vermittelst  apriorischer  Kategorien 
möglich  wird,  ist  eine  andere  Frage.  Das  letzte  ist  jedoch 
keine  Spezialität  der  Prolegomena,  sondern  eine  Ansicht  Kants, 
die  er  in  der  Kritik  sehr  energisch  vertreten  mafiite,  da  sie 
ihm  zum  Haaptbeweise  für  die  Apriorität  der  Grundsätze  ge- 
dient hat 


Dmckfehleryerbessemng. 

S.  IJ,  Z.  8  ist  zu  lesen:  weniger  statt:  mehr. 

S.  IS»  Z.  17  Y.  u.  ist  zu  lesen:  Noamena  statt:  Noumene. 

S.  18,  Z.  16  ist  zu  lesen:  mir  statt:  mich. 

S.  31,  Z.  10  ist  zu  lesen:  Zitat  statt:  zitat. 

S.  82,  Z.  2  ist  ySind'  zu  streichen. 

S.  92,  Z.  14  V.  u.  ist  zu  lesen:  Freiheit  statt:  Ereiheit. 

S.  93,  Z.  8  V.  u.  ist  zu  lesen:  eine  unerkennbare  statt:  unerkennbare. 

S.  106,  Z.  4  ist  zu  lesen:  Schwierigkeit  statt:  Schwiorigkeit 


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Drnck  von  Ehrhardt  KarraSi  Halle  a.  S. 


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Verlag  von  Max  Niemeyer  in  Halle  a.  8. 

Bergmann y  Hugo,  Das  philosophische  Werk  Bernard  Bolzanos.  Mit 
Benutzung  ungedruckter  Quellen  kritisch  untersucht  Nebst  einem 
Anhange:  Bolzanos  Beiträge  zur  philosophischen  Grundlegung 
der  Mathematik.     1909.     8.    XIV,  230  S.  Jk  7,— 

—  Untersuchungen    znm    Problem    der   Evidenz    der   inneren   Wahr- 

nehmung.    1908.     8.     Vm,  96  S.  Jk  2,80 

Dubs,  Arthur,  Das  Wesen  des  Begriffs  und  des  Begreifens.  Ein  Bei- 
trag zur  Orientierung  in  der  wissenschaftlichen  Weltanschauung. 

1911.  gr.  8.     vm,  157  u.  207  S.  .     Ji  10,- 
Erdmann,  Benno,  Historische  Untersuchungen  über  Kants  Prolegomena. 

1904.     8.     V,  144  S.  Jk  3,60 

—  Logik.     Bd.  I:   Logische   Elementarlehre.     2.  völlig  umgearbeitete 

Auflage.     1907.     gr.  8.     XVI,  814  S.  geh.  Jk  18  — 

in  Leinen  gebd.  Jk  19, — ;    in  Halbfranz  gebd.  Jk  20, — 

Freytag,   W.,    Ueber    den    Begriff    der    Philosophie.      Eine    kritische 

Untersuchung.     1904.     8.     47  S.  ^  1,— 

—  Die  Entwicklung  der  griechischen  Erkenntnistheorie  bis  Aristoteles. 

In  ihren  Grundzügen  dargestellt.    1905.    8.    IV,  126  S.     Jk  3,— 

—  Die  Erkenntnis  der  Aussenwelt.    Eine  logisch-erkenntnistheoretische 

Untersuchung.     1904.     8.     146  8.  ^4,— 

—  Der  Realismus  und  das  Transzendenzproblem.    Versuch  einer  Grund- 

legung der  Logik.     1902.     8.     IV,  164  S.  jM>.  4,— 

Goedeckemeyer,  Albert,  Die  Gliederung  der  aristotelischen  Philosophie. 

1912.  8.     VI,  144  S.  Jk.  4,— 
Linke,    Paul,    Die    phänomenale   Sphäre    und   das   reale   Bewnsstsein. 

Eine  Studie   zur  phänomenologischen  Betrachtungsweise.     1912. 

8.     IV,  50  S.  Jk  2,— 

Losskij,  Nikolaj,  Die  Grundlegung  des  Intuitivismus.  Eine  pro- 
pädeutische Erkenntnistheorie.    Uebersetzt  von  Johann  Strauch. 

1908.     8.     IV,  350  S.  Jk  8,— 

Mill,  John  Stuart,  Eine  Prüfung  der  Philosophie  Sir  William  Hamiltons. 

Deutsch   von   Hilmar  Wilmanns.     1908.     gr.  8.     XU,  709  S. 

geh.  ^Ä  18,—;  gebd.  Jk  20,— 
Schapp,    Wilhelm,    Beiträge   zur   Phänomenologie   der   WahmehmUDg. 

1910.     8.     V,  157  S.  Jß4,— 

Scheler,   IM.,   Zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefflhle 

und  von  Liebe  und  Hass.     1913.     8.     V,  154  S.  ^S  3,60 

V.  Sydow,  E.,  Kritischer  Kant-Kommentar.     Zusammengestellt  aus  den 

Kritiken  Fichtes,    Schellings,   Hegels   und   mit  einer  Einleitung 

versehen.     1913.     8.     VII,  91  S.  Jk  2,40 

UtitZ,  Emil,  Die  Funktionsfreuden  im  aesthetischen  Verhalten.     1911. 

8.     vm,  152  S.  Ji  4,— 

Druck  von  Ehrhardt  Karra>,  Halle  a.  S. 


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jABHANDLUNGEN 
Z\3R  PHILOSOPHIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 

HERAUSGEGEBEN  VON  BENNO  EBDHANN 

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DIE  LEHRE  VON 

DER   EMPIRISCHEN    ANSCHAUUNG 

BEI  SCHOPENHAUER 

UND  IHRE  HISTORISCHEN  VORAUSSETZUNGEN 


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VON 


JOHANN  BAPTIST   RIEFFERT 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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1 


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ABHANDLUNGEN 

ZUR 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


BENNO   ERDMANN 


ZWEIUNDTIERZIGSTES  HEFT 

JOHANN  BAPTIST  RIEFFERT 

DIE  LEHBE 

VON  DEB  EMPIRISCHEN  ANSCHAUUNG  BEI   SCHOPENHAUEB 

UND    IHBE  HI8TOBI8GHEN   VOBAUSSETZUNGEN 


HALLE  A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 

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DIE  LEHRE  VON 
DER     EMPIRISCHEN   ANSCHAUUNG 
BEI  SCHOPENHAUER 

UND    IHRE  HISTORISCHEN  VORAUSSETZUNGEN 


TON 


JOHANN  BAPTIST  RIEFFERT 


HALLE  A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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Dem  Andenken  meines  Vaters  und  ersten  Lehrers 

Konstantin  Rieffert 

weiland  !Lehrer  an  der  Volksschule  an  St  Martin  zn  Cöln 


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InhaltsYerzeichms. 


Selta 

Vorwort IX 

I.  Teil    DantelluDg  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirlichen 
Anschaaang. 

Hethodolagiflche  Vorbemerkangen 1 

Inhaltliche  Vorbemerkungen 5 

Das  Zustandekommen  der  empiriachen  Anschauung    ....  9 

Physioloe^sche  Erörterungen 21 

Die  blolsen  Empfindungen 25 

Die  formalen  Bestandteile  der  empirischen  Anschauung.  Materie. 

Körper.    Naturkraft.    Naturgesetz 41 

Sehlnb 57 

IL  TeiL    Die  historischen  Voraussetzungen  der  Lehre  Schopenhauers 
von  der  empirischen  Anschauung. 

Skizze  der  Entwicklung  der  Lehre  von  der  empirischen  An- 
schauung bei  Schopenhauer 58 

Über   die    allgemeinen    historischen    Grundlagen    der  Lehre 

Schopenhauers 70 

Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen 
Anschauung  zur  Lehre  Kants. 

Ln  allgemeinen 78 

Gegenstand  der  empirischen  Anschauung  und  Zustande- 
kommen derselben 82 

Kausalität 111 

Materie 129 

Zusammenfassung 143 

Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen 
Anschauung  zur  Lehre  von 

Gottlob  Ernst  Schulze 145 

Johann  Gottlieb  Fichte 162 

Thomas  Reid 190 


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VIII 

B«ite 

Die  historisohen  Grundlagen  der  speziellen  Aasgestaltung  der 
Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung 

Im  allgemeinen 196 

Die  physiologischen  Annahmen 203 

Anmerkung  zu  £.  Chr.  Fr.  Krause 218 

Die  speziellen  psychologischen  Annahmen 220 

Anmerkung  zu  Berkeley 231 

Zusammenfassung 234 

Anhang.    Das  Verhältnis  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empi- 
rischen Anschauung  zur  Lehre  von  v.  Helmholtz. 236 


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Vorwort, 


Die  Schopenhanerzitate  in  der  naehstehenden  Abhandlung 
sind  entnommen  teils  der  Aasgabe  von  Eduard  Grisebach, 
Arthur  Schopenhauers  sämtliche  Werke  in  sechs  Bänden,  und 
Arthur  Schopenhauers  handschriftlicher  Nachlafs.  Verlag  von 
Philipp  Reklam,  Leipzig,  jene  zitiert  mit  römischen  Ziffern, 
I— VI,  dieser  mit  arabischen,  1 — 4,  teils  der  Ausgabe  von 
Paul  Deussen,  Arthur  Schopenhauers  sämtliche  Werke,  neunter 
Band:  Philosophische  Vorlesungen.  Erste  Hälfte.  Theorie  des 
Erkeunens,  teils  den  Originalausgaben  der  ersten  Auflagen  der 
Werke  Schopenhauers  und  der  zweiten  Auflage  der  Welt  als 
Wille  und  Vorstellung,  und  teils  den  auf  der  Königlichen 
Bibliothek  in  Berlin  verwahrten  Manuskripten,  Manuskript- 
bttehem  und  Eollegienheften  Schopenhauers  über  die  Vor- 
lesuDgen  G.  E.  Schulzes  über  Metaphysik  (die  über  Psychologie 
enthält  nichts  für  diese  Arbeit  Bemerkenswertes)  und  J.  G.  Fichtes 
fiber  die  Tatsachen  des  BewuTstseins  und  die  Wissenschaftslehre. 

Es  dürfte,  sobald  die  von  Deussen  besorgte  Gesamtausgabe 
vollendet  sein  wird,  zweckmäfsig  sein,  diese  vollständige  und 
in  den  bisher  erschienenen  Bänden  einwandfreie  Ausgabe  der 
Sehopeuhauerforschnng  allgemein  zugrunde  zu  legen. 

Die  im  folgenden  in  den  Zitaten  vorkommenden  runden 
Klammem  Q  bedeuten  entweder  im  Text  vorhandene  Klammern 
oder  sehliefsen  aus  dem  unmittelbaren  Zusammenhange  der 
zitierten  Stelle  genommene  Ergänzungen  ein;  die  eckigen 
Klammem  []  dagegen  enthalten  Bemerkungen  vom  Verfasser 
dieser  Schrift. 

In  den  Zitaten  sind  nur  kleine  und  unwesentliche 
Änderungen,   wie   z.  B.  Umstellung  des   Prädikates    ans   der 


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Stellung  eines  Neben-  in  die  eines  Hauptsatzes  u.  ähnl.,  wo  es 
geboten  war,  zugelassen  worden. 

Der  erste  Teil  nachstehender  Abhandlung  hat  im  Winter- 
Semester  1909/10  der  philosophischen  Fakultät  der  Rheinischen 
Friedrich  Wilhelms-Universität  zu  Bonn  als  Dissertation  vor- 
gelegen. Die  ganze  Arbeit  erscheint  nicht,  wie  angekündigt, 
als  XXXY.,  sondern  als  XLILHeft  der  Abhandlungen  zur  Philo- 
sophie und  ihrer  Geschichte,  herausgegeben  von  Benno  Erdmann. 

Die  Ausführungen  des  ersten  Teils  über  Kausalität  und 
Materie  erhalten  in  dem  zweiten  Teile  eine  Ergänzung  in  dem 
Abschnitt  über  Kant. 

Die  Behandlung  der  Lehre  Fichtes  mufste  bei  dem  Mangel 
an  geeigneten  Vorarbeiten  etwas  eingehender  gestaltet  werden, 
als  es  für  den  Zweck  vorliegender  Untersuchung  unmittelbar 
erforderlich  war. 

Wie  zu  dem  ersten  Teil  vorliegender  Untersuchung,  so 
verdanke  ich  auch  die  Anregung  zu  dem  zweiten  Teile  Herrn 
Geheimrat  Prof.  Dr.  Benno  Erdmann,  dessen  Vorlesungen  über 
die  Geschichte  der  Philosophie  und  Seminarübungen  über  Kant 
und  Schopenhauer  ich  sowohl  die  Hauptgesichtspunkte  als  auch 
viele  spezielle  Gedanken  dieser  Arbeit  entnommen  habe.  Es 
ist  schlechterdings  unmöglich,  sie  alle  im  einzelnen  zu  kenn- 
zeichnen. 

Die  Anregung  zur  Prüfung  des  Verhältnisses  Schopenhauers 
zu  K.  Gh.  Fr.  Krause  und  den  Hinweis  auf  eine  Beziehung  der 
psychologischen  Voraussetzungen  Fichtes  zu  Resultaten  der 
experimentellen  Psychologie  danke  ich  Herrn  Prof.  Dr.  Oswald 
Külpe. 


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L  TeU. 

I.  Methodologische  Vorbemerkungen. 

Der  erste  Teil  der  yorliegenden  Schrift  ist  ein  Versnob, 
die  in  den  Schriften  Sehopenhaners  mannigfaltig  yerstrente 
Lehre  von  der  empirischen  Anschannng  in  ihrem  inneren  Zu- 
sammenhang zur  Darstellung  zu  bringen.  Ein  solcher  Versuch 
bringt  es  mit  sich,  dafs  mit  ihm  in  die  Darstellung  ein  Moment 
eindringt,  das  Schopenhauer  nicht  in  dem  Mafse  eigentümlich 
ist,  wie  es  hier  zur  Geltung  kommt,  nämlich  das  Bestreben, 
diese  Lehre  von  einem  einheitlichen  Gesichtspunkte  aus  zu 
erfassen.  Dieser  wird,  der  Natur  des  darzustellenden  Inhalts 
entsprechend,  der  psychologische  sein.  Wie  weit  sich  dies 
durchftthren  lälst,  wird  im  Laufe  der  Darstellung  deutlich 
werden.  Der  Versuch  stellt  sich  somit  zugleich  als  eine  Prüfung 
des  psychologischen  Zusammenhangs  der  Lehre  Schopenhauers 
Ton  der  empirischen  Anschauung  dar.  In  welchem  Sinne  hier 
psychologisch  genommen  ist,  wird  weiter  unten  erörtert  werden. 
Die  Kritik  soll  sich  nicht  darttber  hinaus  auf  den  Inhalt  der 
psychologischen  Voraussetzungen  Schopenhauers  erstrecken. 

Im  Zusammenhange  mit  den  psychologischen  sind  die  in 
Betracht  kommenden  physiologischen  Beziehungen  zu  erörtern. 
Es  wird  sich  als  zweckmäfsig  erweisen,  bei  der  Erörterung 
der  formalen  Bestandteile  der  empirischen  Auschauung  auch 
deren  logische  Beziehungen  zu  einander  eingehend  darzustellen. 
Die  Empfindung  nach  der  subjektiven,  die  Materie  nach  der 
objektiven  Seite  hin,  bedttrfen  einiger  ergänzender  Bemerkungen 
Über  ihre  metaphysischen  Beziehungen.  Soweit  für  das  Ver- 
Btändnis  dieser  Lehre  Schopenhauers  erforderlich,  sollen  ver- 
wandte Momente  der  Lehre  Kants  schon   hier  hinzugezogen 

Philocophische  Abhandlonsen.    XXXV.  1 


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werden;  die  historischen  Voraussetzungen  der  Lehre  Schopen- 
hauers von  der  empirischen  Anschauung  werden  im  zweiten 
Teile  der  vorliegenden  Schrift  besonders  behandelt  werden. 

Die  Bezeichnung  psychologisch  soll  fllr  den  erwähnten 
Zweck  nicht  in  dem  engeren  Sinne,  der  dem  Terminus  „Psycho- 
logie^ bei  Schopenhauer  entspricht,  sondern  in  einem  weiteren, 
und  zwar  dem  landläufigen  Sinne,  genommen  werden.  Die 
Philosophie  zerfällt  nach  Schopenhauer  in  die  Lehre  vom 
Erkenntnisvermögen  und  die  Philosophie  im  engeren  Sinne 
oder  Metaphysik.  Erstere  teilt  er  ein  in  „die  Betrachtung  der 
primären  oder  anschaulichen  Vorstellungen ",9  welchen  Teil  er 
Dianoiologie  nennt,  und  in  „die  Betrachtung  der  sekundären, 
d.  i.  abstrakten  Vorstellungen,  nebst  der  Qesetzmäfsigkeit  ihrer 
Handhabung,  als  Logik  oder  Vernunftlehre'^l)  Der  allgemeine 
Teil  der  Metaphysik  „weist  das  Ding  an  sich,  das  innere  und 
letzte  Wesen  der  Erscheinungen  in  unserem  Willen  naeh^.^) 
Es  genügt  ftkr  den  vorliegenden  Zweck  festzuhalten,  dafs  die 
Djanoiologie  einen  Teil  dessen  ausmacht,  was  man  landläufig 
als  Psychologie  bezeichnet,  und  dafs  auch  der  allgemeine  Teil 
der  Metaphysik  in  das  Gebiet  der  Psychologie  in  diesem  Sinne 
ttbergreift,  nämlich  insofern  er  sich  auf  der  inneren  Erfahrung 
aufbaut.  Es  möge  dieses  Moment  ftkr  den  Zweck  der  vor- 
liegenden Schrift  als  ein  metaphysisch -psychologisches  be- 
zeichnet werden.  Dieses  macht  mit  dem  dianoiologisehen  oder 
erkenntnispsychologischen  das  Gebiet  aus,  das  unserer  psycho- 
logischen Betrachtung  unterliegt.  Das  Wort  Psychologie  wird 
von  Schopenhauer  in  einem  engeren  Sinne  genommen:  „Die 
blolse  empirische  Psychologie  [ein  rationale  kommt  fllr  Schopen- 
hauer nicht  in  Betracht]  ist  die  aus  der  Beobachtung  geschöpfte 
Kenntnis  der  moralischen  und  intellektuellen  Äufserungen  und 
Eigentümlichkeiten  des  Menschengeschlechts,  wie  auch  der 
Verschiedenheit  der  Individualitäten  in  dieser  Hinsicht.^)  Die 
Psychologie  ist  in  diesem  Sinne  für  Schopenhauer  eine  Einzel- 
wissenschaft.  Die  Scheidung  ist  dadurch  gegeben,  dals  die 
Philosophie  auf  das  Allgemeine  gerichtet  ist,  die  Wissenschaften 
aber  auf  das  Einzelne  gehen. 

>)V,25.  «)V,26.  ■)V,27. 

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Was  Schopenhauer  zu  dieser  engeren  Fassang  veranlafst, 
ist  in  folgendem  ausgesprochen :  ^Dle  an  das  Innere  des  Menschen 
geknttpfte  Betrachtang  durchzieht  und  erfüllt  die  ganze  Meta- 
physik, in  allen  ihren  Teilen,  kann  also  nicht  wieder  gesondert 
auftreten,  als  Psychologie^'.*)  Die  Berechtigung  für  unseren 
Zweck  „psychologisch^*  in  dem  dargelegten  weiteren  Sinne  zu 
nehmen,  liegt  darin,  dals  bei  Schopenhauer  die  Metaphysik 
auf  die  an  das  Innere  des  Menschen  geknüpfte  Betrachtung 
geht.  Die  letzte  angefahrte  Bemerkung  kann  keinen  Grund 
dafür  abgeben,  die  psychologische  Betrachtung  nicht  zu  einer 
von  der  metaphysischen  gesonderten  Darstellung  zu  bringen, 
sondern  nur  dafür,  die  in  Betracht  kommenden  metaphysischen 
Berührungspunkte  nicht  auüser  acht  zu  lassen. 

Die  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  hat  von 
Schopenhauer  keine  zusammenfassende  Darstellung  erfahren, 
sondern  ist  in  seinen  Werken  verstreut.  Ein  Versuch,  das  Ver- 
streute nachträglich  zu  sammeln,  steht  vor  der  Frage  nach 
einem  Einteilungsgrund  fttr  die  Ordnung  des  gegebenen  Materials. 
Deutlich  ausgesprochen  ist  ein  solcher  von  Schopenhauer  nicht, 
aber  es  zeigt  sich,  dafs  leitende  Gesichtspunkte  vorhanden 
sind.  Auf  diese  führt  die  Definition  der  empirischen  An- 
schauung im  Satz  vom  Grunde:  „Die  empirische  Anschauung 
nmfafst  die  erste  (der  vier  Klassen)  der  möglichen  Gegenstände 
unseres  Vorstellungsvermögens,  die  der  anschaulichen,  voll- 
ständigen, empirischen  Vorstellungen.  Sie  sind  anschauliche 
im  Gegensatz  der  blofs  gedachten,  also  der  abstrakten  Begriffe; 
vollständige,  sofern  sie,  nach  Kants  Unterscheidung  nicht  blofs 
das  Formale,  sondern  auch  das  Materiale  der  Erscheinungen 
enthalten;  empirische,  teils  sofern  sie  nicht  aus  blofser  Ge- 
dankenverknüpfung hervorgehn,  sondern  in  einer  Anregung  der 
Empfindung  unseres  sensitiven  Leibes  ihren  Ursprung  haben, 
auf  welchen  sie,  zur  Beglaubigung  ihrer  Realität,  stets  zurück- 
weisen.''>)  Zu  diesen  Bestimmungen,  von  denen  die  beiden 
eisten  auf  den  Bestand,  die  dritte  auf  den  Ursprung  der 
empirischen  Anschauung  gehen,  tritt  noch  die  erkenntnis- 
theoretische,  dafs  jene  Vorstellungen  empirische  auch  deshalb 
sind,  „weil  sie  gemäfs  den  Gesetzen  des  Raumes,  der  Zeit  und 

0V,27.  «)m,41. 

1* 

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der  Kausalität  im  Verein,  zu  demjenigen  end-  und  anfangslosen 
Komplex  verknüpft  sind,  der  unsere  empirische  Realität  aus- 
macht ^^0  1°  dieser  Definition  ist  das  Znstandekommen  der 
empirischen  Anschauung  nicht  berücksichtigt.  Hierüber  gibt 
Schopenhauer  in  Kürze  folgende  Darstellung:  „Der  Verstand 
schaflft  mittelst  der  ihm  eigentümlichen  Form  der  Kausalität 
und  der  dieser  untergelegten  reinen  Sinnlichkeit,  also  Zeit 
und  Raum,  aus  dem  rohen  Stoff  einiger  Empfindungen  in  den 
Sinnesorganen  diese  objektive  Aufsenwelt  allererst".*)  Wir  ge- 
winnen somit  als  leitende  Gesichtspunkte  für  die  Auffassung 
des  inneren  Zusammenhangs  der  Lehre  Schopenhauers  von 
der  empirischen  Anschauung:  Bestand,  Verlauf  und  Ursprung 
der  geistigen  Vorgänge,  die  nach  Schopenhauer  die  empirische 
Anschauung  ausmachen,  damit  also  diejenigen  Gesichtspunkte, 
die  überhaupt  für  die  Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft 
methodologisch  mafsgebend  sind.  Diese  Gesichtspunkte  sind 
von  Schopenhauer  nicht  als  solche  ausgesprochen  und  werden, 
wie  wir  sehen  werden,  von  ihm  auch  nicht  streng  beibehalten. 
Sie  erweisen  sich  aber  als  zweckmäfsig  für  eine  Prüfung  des 
psychologischen  Zusammenhangs  seiner  Lehre  von  der  empi- 
rischen Anschauung. 

Einer  ungezwungenen  Darstellung  dieser  Lehre  ist  es 
dienlich,  diese  methodologischen  Gesichtspunkte  nicht  auch  der 
Einteilung  der  äufseren  Darstellung  zu  Grunde  zu  legen, 
sondern  zweckmäfsiger,  gewisse  sachlich  bedeutsame  Momente, 
die  jenen  nicht  ganz  entsprechen,  gesondert  zur  Darstellung 
zu  bringen  und  dabei  die  erwähnten  methodologischen  Gesichts- 
punkte zur  Geltung  kommen  zu  lassen.  Demzufolge  sollen 
nach  einigen  allgemeinen  Vorbemerkungen  dargestellt  werden: 

L  Das  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung,  be- 
handelt bis  zu  dem  Punkte,  wo  die  Empfindungen  zu  räumlich 
und  zeitlich  geordneten  objektiven  Vorstellungen  werden. 

IL  Die  physiologischen  Bedingungen. 

IIL  Soweit  sie  nicht  schon  im  Vorhergehenden  zur  Sprache 
gebracht  worden  sind,  die  blofsen  Empfindungen,  losgelöst  von 
den  raumzeitlichen  und  kausalen  Beziehungen,  und  zwar  nach 
Ursprung  und  Bestand. 


«)  1X1,41.  »)  in,64,  65. 

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IV.  Die  formalen  Bestandteile  der  empirischen  Anschauung, 
gleichfalls  nach  Ursprang  and  Bestand^  wobei  aoch  ihre  logischen 
Beziehungen  zu  einander  zur  Sprache  kommen  werden. 


n.  Inhaltliche  Yorbemerkimgeii. 

Wie  jedes  Moment  der  Lehre  Schopenhauers  nur  aus  dem 
Zusammenhange  des  ganzen  Systems  heraus  zu  verstehen  ist,  so 
auch  seine  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung.  Zum  Yer- 
Btiindnis  dieser  im  besonderen  bedarf  es  einer  Kenntnis  der 
allgemeinen  psychologischen  Voraussetzungen  Schopenhauers, 
und  da  diese  zum  Teil  in  engstem  Zusammenhange  stehen 
mit  seinen  metaphysischen  Annahmen,  auch  der  Grundzttge 
dieser.  Von  ersteren  sei  das  dem  Verständnis  dieser  Schrift 
unmittelbar  Dienende  im  folgenden  zusammengestellt. 

Die  ihm  von  Kant  überlieferte  Dreiteilung  des  geistigen 
Geschehens  in  Vorstellen,  Ftthlen  und  Wollen  hält  Schopenhauer 
nicht  fest,  sondern  unterscheidet  nach  altem  Muster  ein  Vor- 
stellen and  ein  Wollen,  wobei  er  die  mannigfaltigen  Gefühle 
der  Lust  and  Unlust,  die  körperlichen  angenehmen  oder  schmerz- 
heben  Gefühle  oder  Empfindungen  einbegriffen,  zu  dem  Gebiet 
des  Willens  rechnet.  Diese  Zweiteilung  ist  mit  der  Scheidung 
der  Welt  als  Vorstellung  von  der  Welt  als  Willen  gegeben. 
Letztere  Scheidung  aber  ist  eine  metaphysische.  Wir  haben 
zu  untersuchen,  inwiefern  jene  als  eine  psychologische  ge- 
nommen werden  kann.  Dies  geschieht  zweckmäfsig  im  An- 
sehluls  an  eine  Erörterung  des  Begriffs  BewuXstsein.  Das 
Bewulstsein  ist  von  dem  Willen  so  geschieden,  dafs  „diese 
Duplieität  anseres  Wesens  nicht  in  einer  für  sich  bestehenden 
Einheit  ruht:  sonst  würden  wir  uns  unserer  selbst  an  uns  selbst 
und  unabhängig  von  den  Objekten  des  Erkenneus  und  Wollens 
bewofst  werden  können:  dies  können  wir  aber  schlechterdings 
nicht" ;i)  denn  „der  Wille  an  sich  selbst  ist  bewuf stlos." 2)  aber: 

»)  I,  363.  «)  II,  324. 


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6 

„auch  das  Selbstbewnfstsein  enthält  ein  Erkennendes  and  ein 
Erkanntes/'  ^)  denn  „das  Bewnfstsein  hat  zwei  Seiten :  teils  ist 
es  Bewnfstsein  vom  eigenen  Selbst,  welches  [Selbst]  der  Wille 
ist,  teils  Bewnfstsein  von  anderen  Dingen,  und  als  solches  zu- 
nächst anschauende  Erkenntnis  der  Änfsenwelt,  Anffassnng  der 
Objekte."  2)  „Das  Bewnfstsein  besteht  im  Erkennen." »)  „Unser 
erkennendes  Bewnfstsein  zerfUUt  in  Snbjekt  nnd  Objekt"^) 
„Bewnfstsein  ohne  Gegenstand  ist  kein  Bewnfstsein."  ^)  Daher 
ist  die  Zweiteilung  in  Bewnfstsein  nnd  Willen  offenbar  keine 
psychologische,  sondern  eine  metaphysische.  Sie  ist  gefolgert 
ans  der  Annahme,  dafs  der  Wille  das  Ding  an  sieh  sei.  Sie 
gestattet  daher  anch  keinen  Gattungsbegriff  im  psychologischen 
Sinne.  Schopenhauer  nennt  das  Verhältnis  vielmehr  die  „Dupli- 
zität unseres  Wesens".  In  metaphysischer  Hinsicht  sei  noch 
erwähnt,  dafs  der  Wille  auch  das  dem  Intellekt  zu  gründe 
liegende  Ding  an  sich  ist.  In  diesem  Sinne  heifst  es:  Der 
Wille  tritt  im  Menschen  „als  ein  bewufster  Wille"  auf.«) 
Das  Erkennen  ist  ein  „Erkennenwollen." ^)  Insofern,  d.  L 
in  metaphysischer  Hinsicht,  ist  die  Hypothese  Schopenhauers 
über  den  Bestand  des  Geistigen  als  eine  monistische,  nnd 
zwar  voluntaristische  zu  bezeichnen.  Für  unseren  Zweck  sei 
aber  festgehalten,  dafs  der  Wille  auch  im  Selbstbewnfstsein 
gegeben  ist,  als  ein  Vorgestelltes.  Er  ist  insofern  etwas  „a 
posteriori,  nämlich  durch  Erfahrung,  hier  durch  innere'',^) 
also  ein  psychologisch  Gegebenes.  Dennoch  würde  man  gegen 
den  Sinn  der  Lehre  Schopenhauers  verstofsen,  wenn  man  zu 
dem  im  Selbstbewnfstsein  gegebenen  Willen  und  dem  Erkennen 
einen  psychologischen  Gattungsbegriff  konstruieren  wollt«. 
Der  Wille  ist  vielmehr  dem  Selbstbewnfstsein  auch  als  Ding 
an  sich  auf  irgend  eine  Weise  als  gegeben  zu  denken:^) 
„Unser  Wollen  ist  das  Einzige  uns  unmittelbar  Bekannte  und 
nicht,  wie  alles  Übrige,  blofs  in  der  Vorstellung  Gegebene."  ^^) 
Auf  die  Frage,  wie  es  zu  denken  sei,  dafs  der  Wille  der  an 
sich  bewufstlos  ist,  eine  Tatsache  des  Bewufstseins,  dafs  also 

0  II,  233.  0  II,  »31.  »)  II,  233.  *)  HI,  39. 

=)  II,  24.  •)  II,  293.  ')  II,  303.  •)  lU,  161. 

^)  Vgl.  die  entgegen  gesetzte  Ansicht  in  der  Schrift  von  Hichelis: 
„Schopenhauers  Stellung  zum  psychophysisohen  Paralleliamus.'  Dlss. 
Königsberg  i.  Pr.  1903.  ")  II,  227. 


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^das  Ding  an  sich  .  .  .  sich  selbst  seiner  bewufst^  werde,  i) 
einzugeben,  würde  den  Rahmen  dieser  Arbeit  überschreiteD. 
Um  einer  ErOrternog  des  Problems  ans  dem  Wege  geheo  zu 
kennen,  sei  die  Bezeichnung  des  WoUeos  als  eines  Metaphysisch- 
psychologisehen  gestattet. 

Von  den  allgemeinen  psychologischen  Voraussetzungen 
Schopenhauers  möge  noch  folgendes  erwähnt  werden: 

Das  ,,Organ^  des  Selbstbewufstseins  ist  der  innere  Sinn, 
welche  Bezeichnung  in  den  späteren  Schriften  eine  engere 
Bedeutung  hat  als  im  Satz  vom  Grunde.  Hier  wird  die 
Unterscheidung  des  inneren  und  äufseren  Sinnes  noch  in  An- 
lehnung an  Kant  gebraucht,  entsprechend  der  Bestimmung  bei 
diesem,  dafs  der  innere  Sinn  „das  Anschauen  unserer  selbst 
und  unseres  inneren  Zustandes  sei  und  alle  Vorstellungen,  sie 
mögen  nun  äulsere  Dinge  zum  Oegenstande  haben  oder  nicht, 
doch  an  sich  selbst  als  Bestimmungen  des  Gemütes  zum 
inneren  Zustande  gehören.^  2)  Iiq  ßatz  vom  Grunde  ist  dem- 
entsprechend der  äulsere  Sinn  „wieder  Objekt  des  inneren, 
und  werden  die  Wahrnehmungen  jenes  von  diesem  wieder 
wahrgenommen.^')  Dagegen  erfahren  wir  in  Welt  als  Wille 
und  Vorstellung,  Band  II  [in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung, 
Band  I,  ist  von  dieser  Unterscheidung  ganz  abgesehen]  „dafs 
der  alleinige  Gegenstand  des  inneren  Sinnes  der  eigene  Wille 
des  Erkennenden''  sei.^)  Im  Sinne  dieser  Wendung  des  Ge- 
dankens steht  die  Einschränkung  des  inneren  Sinnes,  „der 
mehr  im  bildlichen  als  im  eigentlichen  Verstände  zu  nehmen 
ist:  denn  das  Selbstbewufstsein  ist  unmittelbar.''^)  Die  Form 
des  inneren  Sinns  in  Jener  wie  in  dieser  Fassung  ist  die  Zeit; 
daher  können  die  Aufserungen  des  Willens  nur  sukzessiv 
erkannt  werden.  „Die  Form  (des  inneren  Sinnes)  ist  die  Zeit, 
mittelst  welcher  dem  ursprünglich  und  an  sich  selbst  erkenntnis- 
losen individuellen  Willen  die  Selbsterkenntnis  möglich  wird. 
In  ihr  nämlich  erscheint  sein  an  sich  einfaches  und  iden- 
tisches Wesen  auseinandergezogen  zu  einem  Lebenslauf.''^) 

Der  äulsere  Sinn  ist  „lediglich  die  Empfänglichkeit  fttr 
äulsere  Eindrücke.''^) 

»)  ü,  227. 

*)  Kant,  nKritikderreinen Vernunft".  Originalau8g.der2.Aufl.S.49,50. 

»)  m,  43.  *)  n,  47.  »)  111,  390.  •)  U,  47.  ')  II,  38. 

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8 

Schopenhauer  spricht  auch  von  einer  „äafseren  Selbst- 
erkenntnis.'^  ^)  Diese  Bezeichnung  ist  zwar  nur  im  uneigentlichen 
Sinne  zu  nehmen;  denn  „Erkenntniskräfte  sind  uns  nicht 
dadurch  bekannt,  dafs  das  Erkennen  Objekt  ftlr  uns  geworden 
ist,  sonst  würden  über  selbige  nicht  so  viele  widersprechende 
Urteile  vorhanden  sein;  vielmehr  sind  sie  erschlossen,  oder 
richtiger:  sie  sind  allgemeine  Ausdrücke  für  die  aufgestellten 
Klassen  der  Vorstellungen,  die  man  zu  jeder  Zeit,  eben  in 
jenen  Erkenntniskräften,  mehr  oder  weniger  bestimmt  unter- 
schied."*) 

Das  Bewulstsein  anderer  Dinge  bezeichnet  Schopenhauer 
gelegentlich  im  Gegensatz  zum  Bewufstsein  des  eigenen  Selbst 
als  das  ^Erkenntnisvermögen". 3)  Anderenorts  aber  gebraucht 
er  dieses  Wort  in  einem  weiteren  Sinne:  „Jede  besondere 
Klasse  von  Vorstellungen  ist  nur  für  eine  ebenso  besondere 
Bestimmung  im  Subjekt  da,  die  man  ein  Erkenntnisvermögen 
nennt."  ^)  Hier  also  geht  die  Bezeichnung  auch  auf  das  Selbst- 
bewufstsein,  als  das  subjektive  Korrelat  zur  vierten  Klasse 
der  Vorstellungen,  also  zum  objektiv  gegebenen  Wollen.  Diese 
weitere  Fassung  bleibt  die  mafsgebende.  In  Übereinstimmung 
damit  heilst  es  in  der  1.  und  2.  Auflage  des  Satzes  vom 
Grunde:  „Unser  erkennendes  Bewufstsein,  als  äufsere  und 
innere  Sinnlichkeit,  Verstand  und  Vernunft  auftretend  ..."*) 
und  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Band  II:  „Das 
Bewufstsein  besteht  im  Erkennen."  <^)  Die  Erkenntniskräfte, 
von  denen  oben  die  Rede  war,  sind:  der  Verstand,  als  das 
subjektive  Korrelat  zu  den  anschaulichen,  empirischen  Vor- 
stellungen, die  Vernunft  als  das  Korrelat  zu  den  ab- 
strakten, die  reine  Sinnlichkeit  als  das  Korrelat  zu  den  reinen 
Anschauungsformen  des  Baumes  und  der  Zeit  und  der  innere 
Sinn,  oder  das  Selbstbewufstsein,  als  das  Korrelat  zu  dem 
objektiv  gegebenen  Wollen.  7) 

Sodann  sei  noch  einiges  über  den  Sinn  des  Wortes  Vor- 
stellung bei  Schopenhauer  gesagt: 

Ein  Vorstellen  ist  jedem  Bewufstsein  eigen:  „Bewulstsein, 
dessen  Begriff  . . .  mit  dem  des  Vorstellens  überhaupt,  welcher 

»)  III,  160.  »)  III,  159.  •)  III,  389.  *)  I,  43. 

•)  III,  39.  •)  n,  233.  ')  in,  161. 


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9 

Art  es  aneh  sei,  zasammenfäUt."  i)  Bewolstsein,  Erkennen,  Vor- 
stellen sind  insofern  für  Sehopenhaner  Begriffe  von  gleich- 
weitem  Umfange. 

Sie  sind  gleichbedeutend  auch  ihrem  Inhalte  nach;  denn 
das  Begriffsmaterial,  das  ihren  alleinigen  Inhalt  ausmacht,  die 
Beziehung  von  Subjekt  und  Objekt,  kommt  ihnen  in  gleicher 
Weise  zu:  „Unser  erkennendes  BewuXstsein  .  .  .  zerfällt  in 
Subjekt  und  Objekt  und  enthält  nichts  aufserdem.'' 2)  „Das 
Zerfallen  in  Objekt  und  Subjekt  ist  ihre  (der  Vorstellung) 
erste,  allgemeinste  und  wesentlichste  Form.^  ^) 

Das  Wort  Vorstellung  wird  von  Schopenhauer  auch  in 
einem  engeren  Sinne  gebraucht  und  ist  gleichbedentend  mit 
Objekt;  es  hebt  in  diesem  Sinne  die  Beziehung  zum  Subjekt 
nicht  auf,  sondern  fordert  sie  denknotwendig:  „Objekt  für  das 
Subjekt  sein  und  unsere  Vorstellung  sein  ist  dasselbe.  Alle 
unsere  Vorstellungen  sind  Objekte  des  Subjekts  und  alle  Ob- 
jekte des  Subjekts  sind  unsere  Vorstellungen.^  ^) 

„Die  Vorstellungen  [objektiv  genommen]  stehen  unter  ein- 
ander in  einer  gesetzmäfsigen  und  der  Form  nach  a  priori 
bestimmbaren  Verbindung  . . .  Diese  Verbindung  ist  es,  welche 
der  Satz  vom  zureichenden  Grunde  in  seiner  Allgemeinheit 
ausdrückt^  ^)  Man  kann  also  sagen,  dafs  das  Gebiet  der 
Vorstellnng  zusammenfalle  mit  dem  Bereiche  der  Geltung  des 
Satzes  vom  Grunde. 


ni.  Das  Zustandekommen  der  empirischen 
Anschauung. 

Die  Lehre  von  dem  Zustandekommen  der  empirischen 
Anschauung  erfährt  eine  fortschreitende  Ausgestaltung  von 
den  Werken  der  ersten  Schaffensperiode  Schopenhauers,  im 
besonderen  der  ersten  Auflage  von  Sehn  und  Farben  zu  denen 
der  zweiten  hin.  Dies  wird  im  IL  Teil  meiner  Schrift  ein- 
gehender dargelegt  werden. 


»)  I,  92.         •)  m,  39.  40.         •)  I,  60.  *)  III,  40.         »)  UI,  40. 

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10 

Am  ausführlichsten  spricht  Schopenhauer  ttber  die  ge- 
nannte Lehre  im  Satz  vom  Grunde,  2.  Auflage  §  21.  Hier 
heifst  es  zunächst  im  allgemeinen:  „Selbst  in  den  edelsten 
Sinnesorganen  ist  (die  blofse  Sinnesempfindung)  nichts  mehr, 
als  ein  lokales  spezifisches,  innerhalb  seiner  Art  einiger  Ab- 
wechselung fähiges,  jedoch  an  sich  selbst  stets  sabjektives 
Gefühl,  welches  als  solches  gar  nichts  Objektives,  also  nichts 
einer  Anschauung  Ahnliches  enthalten  kann  . . .  Erst  wenn 
der  Verstand  ...  in  Tätigkeit  gerät  und  seine  einzige  and 
alleinige  Form,  das  Gesetz  der  Kausalität,  in  Anwendung 
bringt,  geht  eine  mächtige  Verwandlung  vor,  indem  ans  der 
subjektiven  Empfindung  die  objektive  Anschauung  wird.  Er 
nämlich  f afst,  vermöge  seiner  selbsteigenen  Form,  also  a  priori, 
d.  i.  vor  aller  Erfahrung  (denn  diese  ist  bis  dahin  noch  nicht 
möglich),  die  gegebene  Empfindung  des  Leibes  als  eine  Wirkung 
auf  (ein  Wort,  welches  er  allein  versteht),  die  als  solche  not- 
wendig eine  Ursache  haben  mufs.  Zugleich  nimmt  er  die 
ebenfalls  in  Intellekt,  d.  i.  im  Gehirn,  prädisponirt  liegende 
Form  des  äufseren  Sinnes  zu  Hilfe,  den  Raum,  um  jene  Ur- 
sache auf  serhalb  des  Organismus  zu  verlegen:  denn  dadurch 
erst  entsteht  ihm  das  Aufserhalb,  dessen  Möglichkeit  eben  der 
Kaum  ist;  sodafs  die  reine  Anschauung  a  priori  die  Grundlage 
der  empirischen  abgeben  mufs."  i) 

Diese  Tätigkeit  des  Verstandes  nennt  Schopenhauer  ge- 
legentlich einen  „Verstandesschlufs",^)  und  sagt,  dafs  „die 
Empfindung  hier  gleichsam  die  Prämissen  zu  jenem  Verstandes- 
sehlufs  liefert".^)  Dies  ist  sie  jedoch  nur  im  nneigentlicheu 
Sinne:  „Diese  Beziehung  (zwischen  Ursache  und  Wirkung)  ist 
kein  Schlufs  in  abstrakten  Begriffen,  geschieht  nicht  dnreh 
die  Reflexion  . . .  sondern  unmittelbar  ...  sie  ist  die  Erkennt- 
nisweise  des  reinen  Verstandes".*)  „Die  Verstandesoperation 
ist  keine  diskursive,  reflektive,  in  abstracto,  mittelst  Begriffen 
und  Worten  vor  sich  gehende,  sondern  eine  intuitive  und  ganz 
unmittelbare".^)  Diese  Tätigkeit  vollzieht  sich  meist  onbe- 
wufst:  „Wir  sind  so  sehr  gewohnt,  von  der  Empfindung  so- 
gleich zu  ihrer  Ursache  überzugehen,  dafs  diese  sieh  uns  dar- 


»)  III,  66.  67.  »)  VI,  26.  »)  III,  68.  *)  I,  43. 

.*)  IU,67,  ähnUobBO  UI,  87. 


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11 

stellt,  ohne  daf8  wir  die  Empfindungen  ...  an  nnd  fttr  sich 
beachten.''  ■)  „Diese  Verstandesoperation  wird  so  nnmittelbar 
und  schnell  vollzogen,  dafs  von  ihr  nichts  als  blofs  das  Be- 
Bultat  ins  Bewalstsein  kommt."  2)  yWt  gewisse  Sinnesgebiete 
gilt  zwar  eine  Ausnahme:  „Bei  der  empirischen  Wahrnehmung 
findet  die  Bewulstlosigkeit,  mit  welcher  der  Übergang  von  der 
Empfindung  zur  Ursache  derselben  geschieht,  eigentlich  nur  bei 
der  Anschauung  im  engsten  Sinn,  also  beim  Sehen  statt;  hingegen 
geschieht  er  bei  allen  ttbrigen  sinnlichen  Wahrnehmungen  mit 
mehr  oder  minder  deutlichem  Bewufstsein,  daher,  bei  der  Ap- 
prehension  durch  die  gröberen  vier  Sinne  seine  Bealität  sich 
anmittelbar  faktisch  konstatieren  läfst.''  ^) 

Fttr  das  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung  be- 
nutzt Schopenhauer  gelegentlich  den  von  Kant  entlehnten  und 
auf  die  Kausalität  eingeschränkten  Ausdruck  „Apprehension".^) 
Davon  soll  im  zweiten  Teile  dieser  Schrift  mehr  die  Rede  sein. 

Fttr  das  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung  im 
einzelnen  sind  zwei  Momente  von  Bedeutung: 

1.  Die  Beihilfen,  die  dazu  die  einzelnen  Sinnesempfin- 
duDgen  liefern  und 

2.  der  Umstand,  dals  die  Anwendung  des  Kausalgesetzes 
im  einzelnen  Falle  geübt  werden  mufs. 

Fttr  den  Anteil  der  einzelnen  Sinnesempfindungen  gilt  nun, 
dafs  „der  Verstand  selbst  die  minutiösesten  Data  der  gegebenen 
Empfindung  zu  Hilfe  nimmt,  um  ihnen  entsprechend  die  Ur- 
sache derselben  im  Räume  zu  konstruiren.'' ^)  Dabei  sind  in 
der  Hauptsache  zwei  Sinnesgebiete  beteiligt.  „Der  objektiven 
ÄDsehauung  dienen  eigentlich  nur  zwei  Sinne :  das  Getast  und 
das  Gesicht.  Sie  allein  liefern  die  Data,  auf  deren  Grundlage 
der  Verstand  durch  den  angegebenen  Procefs  die  objektive 
Welt  enstehn  läfst.  Die  andern  drei  Sinne  bleiben  in  der  Haupt- 
sache subjektiv;  denn  ihre  Empfindungen  deuten  zwar  auf  eine 
äulsere  Ursache,  aber  enthalten  keine  Data  zur  Bestimmung 

»)  m,  68.  •)  III,  80.  »)  II,  33  (speziell  III,  80). 

*)  m,  6S.     III,  79.     II,  33.    VI,  34  schon  1.  Auflage  von  Sehn  und 
FarbeD,  S.  11. 
»)  m,  67. 


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12 

räamlieher  Verhältnisse  derselbeD.  . . .  Jene  drei  Sinne  können 
zwar  dienen,  ans  die  Gegenwart  der  nns  schon  anderweitig 
bekannten  Objekte  anzukündigen;  aber  auf  Grundlage  ihrer 
Data  kommt  keine  räumliehe  Konstruktion,  also  keine  objektire 
Anschauung  zu  Stande.  Aus  dem  Geruch  können  wir  nie 
die  Rose  konstruiren  .  .  .  Der  Ton  deutet  nie  auf  räumliehe 
Verhältnisse  • . . 

Getast  und  Gesieht  haben  . . .  jedes  seine  eigenen  Vorteile; 
daher  sie  sich  wechselseitig  unterstützen.  Das  Gesicht  bedarf 
keiner  Berührung,  ja  keiner  Nähe:  sein  Feld  ist  unermefslieb, 
geht  bis  zu  den  Sternen.  Sodann  empfindet  es  die  feinsten 
Nuancen  des  Lichts,  des  Schattens,  der  Farbe,  der  Durchsichtig- 
keit :  es  liefert  also  dem  Verstände  eine  Menge  fein  bestimmter 
Data  . . .  Hingegen  ist  das  Getast  zwar  an  den  Kontakt  gebunden, 
gibt  aber  so  untrügliche  und  vielseitige  Data,  dass  ea  der 
gründlichste  Sinn  ist.  Die  Wahrnehmungen  des  Gesichts  be- 
ziehen sich  zuletzt  doch  auf  das  Getast;  ja  das  Sehen  ist  als 
ein  unvollkommenes,  aber  in  die  Ferne  gehendes  Tasten  zu 
betrachten  . . . 

Das  Getast  liefert  1.  ganz  unmittelbar  die  Data  znr 
Erkenntnis  der  Gröfse,  Gestalt,  Härte,  Weiche,  Trockenheit, 
Nässe,  Glätte,  Temperatur  usw.;  2.  es  wird  dabei  unterstützt 
teils  durch  die  Gestalt  und  Beweglichkeit  der  Arme,  Hände 
und  Finger,  aus  deren  Stellung  beim  Tasten  der  Verstand  die  Data 
zur  räumlichen  Konstruktion  der  Körper  entnimmt,  teils  durch 
die  Muskelkraft,  mittelst  welcher  er  die  Schwere,  Festigkeit, 
Zähigkeit  oder  Spröde  der  Körper  erkennt^  0  ^^  ^^^' 
anschaulicht  Schopenhauer  an  einigen  Beispielen: 

,,Erst  indem  mein  Verstand  von  der  Empfindung  (beim 
Tasten  eines  Tisches)  zur  Ursache  derselben  übergeht,  kon- 
struirt  er  einen  Körper,  der  die  Eigenschaft  der  Soli- 
dität, Undurchdringlichkeit  und  Härte  hat.  Von  dem 
gefühlten  Widerstände  macht  der  Verstand  den  unmittel- 
baren und  intuitiven  Schlnfs  auf  eine  Ursache  desselben, 
die  jetzt  eben  dadurch  sieh  als  fester  Körper  darstellt"^) 
„Beim  Betasten  eines  Körpers  mit  zehn  Fingern,  deren 
jeder  einen  anderen  Eindruck  und  in  anderer  Richtung  erhält, 

»)  III,  67,  68,  69. 
•)  m,  69,  70. 


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13 

erkennt  der  Verstand  die  sämtlichen  Eindrücke  als  von 
einem  Körper  herrührend,  dessen  Gestalt  und  Grösse  er 
danach  apprehendirt  nnd  ränmlieh  konstrnirt/'  <)  „(Beim 
Betasten  einer  Fläche  oder  Kugel  im  Finstern)  sind  es 
in  beiden  Fällen  dieselben  Teile  der  Hand,  welche  den 
Druck  empfinden:  blofs  ans  der  verschiedenen  Stellung,  die 
im  einen  oder  anderen  Falle  meine  Hand  einnimmt,  kon- 
struiert mein  Verstand  die  Gestalt  eines  Körpers  . . .  und  er 
bestätigt  sie  sieh  dadurch,  dafs  ich  die  Berührungsstellen 
wechseln  lasse.  Betastet  ein  Blindgeborener  einen  kubischen 
Körper,  so  sind  die  Empfindungen  der  Hand  dabei  ganz  ein- 
förmig . . .  aber  ans  den  Bewegungen,  die  beim  Tasten  seine 
Arme  maehen,  während  die  Empfindung  der  Hände  dieselbe 
bleibt,  konstraiert  er  in  dem  ihm  a  priori  bewu£sten  Räume 
die  kubische  Grestalt  des  Körpers  . . .  Läfst  man  durch  seine 
geschlossene  Hand  einen  Strick  laufen,  so  wird  er  als  Ursache 
der  Reibung  nnd  ihrer  Dauer,  bei  solcher  Lage  seiner  Hand, 
einen  langen  cylinderförmigen  sich  in  einer  Richtung  gleich- 
förmig bewegenden  Körper  konstruiren/' ^)  Über  die  Beihilfe 
der  Muskelkraft  führt  Schopenhauer  nichts  aus. 

Es  sei  hier  herrorgehoben ,  dafs  die  Beihilfen,  die  die 
Tastempfindungen  zur  räumlichen  Konstruktion  der  Körper 
liefern,  selbst  räumlicher  Natur  sind.  Auch  ein  Zeitmoment 
iBt  ihnen  eigen.  Über  beides  wird  an  anderer  Stelle  meiner 
Sehrift  zusammenfassend  gesprochen  werden. 

„Bei  dem  Sinne  des  Gesichts  ...  ist  das  umittelbar  Ge- 
gebene beschränkt  auf  die  Empfindung  der  Retina,  welche  zwar 
viele  Mannigfaltigkeit  zuläfst,  jedoch  zurückläuft  auf  den  Ein- 
druck des  Hellen  und  Dunkeln,  nebst  ihren  Zwischenstufen, 
ood  den  der  eigentlichen  Farben  . . .  Dafs  nun  aus  einem  so 
beschränkten  Stofi*;  wie  Hell,  Dunkel,  Farbe  der  Verstand  durch 
seine  so  einfache  Funktion  des  Beziehens  der  Wirkung  auf 
eine  Ursache,  unter  Beihilfe  der  ihm  beigegebenen  Anschauungs- 
fonn  des  Auges,  die  so  unerschöpflich  reiche  und  vielgestaltete 
sichtbare  Welt  heryorbringen  kann,  beruht  zunächst  auf  der 
Beihilfe,  die  hier  die  Empfindung  selbst  liefert.  Diese  besteht 
darin,  dass  erstlich  die  Retina,  als  Fläche,  ein  Nebeneinander 

')  III,  77.  »)  III,  70. 

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u 

des  Eindrucks  zalä£st,  zweitens,  dafs  das  Licht  stets  in  ge- 
raden Linien  wirkt,  auch  im  Ange  selbst  geradlinigt  gebrochen 
wird  und  endlich,  dals  die  Retina  die  Fähigkeit  besitzt, 
auch  die  Richtung,  in  der  sie  vom  Lichte  getroffen  wird,  un- 
mittelbar mit  zu  empfinden,  welches  wohl  nur  dadurch  zu  er- 
klären ist,  dafs  der  Lichtstrahl  in  die  Dicke  der  Retina  ein- 
dringt. Hierdurch  aber  wird  gewonnen,  dafs  der  blofse  Eindruck 
auch  schon  die  Richtung  seiner  Ursache  anzeigt,  also  auf  den 
Ort  des  das  Licht  aussendenden  oder  reflektirenden,  Objekts 
geradezu  hindeutet  ..." 0 

Es  sei  darauf  hingewiesen,  dafs  auch  die  Beihilfen,  die 
die  Gesichtsempfiadungen  zur  Bestimmung  des  Ortes  des  Ob- 
jekts im  Räume  liefern,  selbst  räumlicher  Natur  sind. 

Das  Verfahren  des  Verstandes  im  einzelnen  ist  nun 
folgendes:  „Das  Erste,  was  er  tut,  ist,  dafs  er  den  Ein- 
druck des  Objekts,  welcher  verkehrt,  das  Unterste  oben,  auf 
der  Retina  eintrifft,  wieder  aufrecht  stellt  .  .  .  Bestände  nun 
das  Sehen  im  blofsen  Empfinden,  so  wttrden  wir  den  Eindruck 
des  Gegenstandes  verkehrt  wahrnehmen;  weil  wir  ihn  so 
empfangen:  sodann  aber  wttrden  wir  ihn  auch  als  etwas  im 
Innern  des  Auges  Befindliches  wahrnehmen,  indem  wir  ebeu 
stehen  blieben  bei  der  Empfindung.  Wirklich  hingegen  tritt 
sogleich  der  Verstand  mit  seinem  Kausalgesetz  ein,  bezieht 
die  empfundene  Wirkung  auf  ihre  Ursache,  hat  von  der  Emp- 
findung das  Datum  der  Richtung,  in  welcher  der  Lichtstrahl 
eintraf,  verfolgt  also  diese  rttckwärts  zur  Ursache  hin,  auf 
beiden  Linien :  Die  Kreuzung  wird  daher  jetzt  auf  umgekehrtem 
Wege  wieder  zurückgelegt,  wodurch  die  Ursache  sich  draufsen, 
als  Objekt  im  Raum,  aufrecht  darstellt,  nämlich  in  der  Stellung, 
wie  sie  die  Strahlen  aussendet,  nicht  in  der,  wie  sie  ein- 
trafen." 2) 

„Das  Zweite,  was  der  Verstand  bei  seiner  Umarbeitung 
der  Empfindung  in  Anschauung  leistet,  ist,  dafs  er  das  zwei- 
mal Empfundene  zu  einem  einfach  Angeschauten  macht;  .  .  . 
Der  Prozefs,  durch  den  dies  zu  stände  kommt,  ist  folgender: 
...    Bei  gerade  vor  uns  liegendem  Objekt  treffen  (die  Augen- 


0  in,  71,  72,  ähnUch  U,  34. 

*)  III,  78,  angelegt  schon  I.Auflage  von  Sehen  und  Farben,  S.27. 


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axen)  genan  io  die  Mitte  jeder  Retina,  mithin  anf  zwei  in 
jedem  Ange  einander  genau  entsprechende  Punkte.  Alsbald 
erkennt  der  Verstand  .  .  .  dafs,  obwohl  hier  der  Eindruck 
doppelt  ist,  derselbe  dennoch  von  nur  einem  äufseren  Punkte 
ausgeht,  also  nur  eine  Ursache  ihm  zum  Grunde  liegt:  dem- 
nach stellt  nunmehr  diese  Ursache  sich  als  Objekt  und  nur 
einfach  dar.  .  .  .  Was  vom  Objekt  seitwärts  vom  Scheitel- 
punkte  des  optischen  Winkels  liegt,  .  .  .  wirft  seine  Strahlen 
nicht  mehr  in  den  Mittelpunkt  jeder  Retina,  sondern  ebenso 
seitwärts  von  demselben  . . . :  die  Stellen  welche  diese  Strahlen 
daselbst  treffen,  sind  ebenso  gut  wie  die  Mittelpunkte,  ein- 
ander symmetrisch  entsprechende,  oder  gleichnamige  Stellen. 
Der  Verstand  lernt  diese  bald  kennen  und  dehnt  demnach  die 
obige  Regel  seiner  kausalen  Auffassung  auch  auf  sie  aus,  be- 
zieht folglich  .  .  .  auch  die  Lichtstrahlen  welche  die  Übrigen 
einander  symmetrisch  entsprechenden  Stellen  beider  Retinen 
treffen,  auf  einen  und  denselben,  solche  aussendenden  Punkt 
im  Objekt,  schaut  also  auch  alle  diese  Punkte,  mithin  das 
ganze  Objekt,  nur  einfach  an  .  .  . 

Das  Dritte,  wodurch  der  Verstand  die  Empfindung  in 
Anschauung  umarbeitet,  ist,  dafs  er  aus  den  bis  hieher  ge- 
wonnenen blofsen  Flächen  Körper  konstruirt,  also  die  dritte 
Dimension  hinzufügt,  indem  er  die  Ausdehnung  der  Körper  in 
dem  ihm  a  priofi  bewufsten  Räume,  nach  Mafsgabe  der  Art 
ihrer  Einwirkung  auf  das  Auge  und  der  Gradationen  des 
Lichtes  und  Schattens,  kausal  beurteilt  .  .  .  Die  Empfindung 
beim  Sehen  ist,  infolge  der  Natur  des  Organes,  blofs  plani- 
metrisch,  nicht  stereometrisch.  Alles  Stereometrische  der  An- 
8ebaaung  wird  vom  Verstände  allererst  hinzugetan:  seine 
alleinigen  Data  hierzu  sind  die  Richtung,  in  der  das  Auge 
den  Eindruck  erhält,  die  Grenzen  desselben  und  die  verschie- 
denen Abstufungen  des  Hellen  und  Dunkeln,  welche  unmittelbar 
auf  ihre  Ursache  deuten,  und  wonach  wir  erkennen,  ob  wir 
z.  B.  eine  Scheibe  oder  eine  Kugel  vor  uns  haben  .  .  ." 

Der  dritten  „sehr  nahe  verwandt"  ist  eine  vierte  Ver- 
Btandesoperation ;  diese  „besteht  nämlich  im  Erkennen  der  Ent- 
fernung der  Objekte  von  uns  . . .  Die  Empfindung  beim  Sehen 
liefert  uns  zwar  ...  die  Richtung,  in  welcher  die  Objekte 
liegen,  aber  nicht  ihre  Entfernung,  also  nicht  ihren  Ort.  Die  Ent- 


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16 

fernang  mnfs  also  erst  dnreh  den  Verstand  herausgebracht 
werden,  folglich  ans  lanter  kausalen  Bestimmungen  sieh  er- 
geben. Von  diesen  nun  ist  die  vornehmste  der  Sehwinkel, 
unter  dem  das  Objekt  sich  darstellt:  dennoch  ist  dieser  durch- 
aus zweideutig  und  kann  für  sich  allein  nichts  entscheiden  . . . 
Nur  wenn  uns  seine  (des  Objekts)  Gröfse  anderweitig  schon 
bekannt  ist,  können  wir  aus  dem  Sehwinkel  seine  Entfernung 
erkennen,  wie  auch  umgekehrt,  wenn  uns  diese  anderweitig 
gegeben  ist,  seine  GrOfse  .  .  .  Auf  der  Abnahme  des  Seh- 
winkels beruht  die  Linearperspektiye  .  .  .  Soweit  wir  eine 
ununterbrochene  Folge  sichtbarlich  zusammenhängender  Gegen- 
stände Yor  uns  haben,  können  wir  aus  dem  allmählichen  Zu- 
sammenlaufen aller  Linien,  also  aus  der  Linearperspektire, 
allerdings  die  Entfernung  erkennen.  Hingegen  aus  dem  bloüsen 
Sehwinkel  für  sich  allein  können  wir  es  nicht,  sondern  als- 
dann mufs  der  Verstand  immer  noch  ein  anderes  Datum  zu 
Hilfe  nehmen,  welches  gleichsam  als  Eomentar  des  Seh- 
winkels dient,  indem  es  den  Anteil,  den  die  Entfernung  an 
ihm  hat,  bestimmter  bezeichnet. 

Zu  den  subsidiarischen  Datis,  .  .  .  gehören  erstlich  die 
mutationes  oculi  internae,  vermöge  welcher  das  Auge  seinen 
optischen  Brechungsapparat,  durch  Vermehrung  oder  Vermin- 
derung der  Brechung,  verschiedenen  Entfernungen  anpafst  .  . . 
Wir  haben  von  diesen  inneren  Veränderungen  *de8  Auges,  wenn 
auch  keine  deutliche  Wahrnehmung,  so  doch  eine  gewisse 
Empfindung,  und  diese  benutzen  wir  unmittelbar  zur  Schätzung 
der  Entfernung.  Da  aber  jene  Veränderungen  nur  dienen,  von 
etwa  7  Zoll  bis  auf  16  Fuls  weit  das  vollkommen  deutliche 
Sehen  möglich  zu  machen,  so  ist  auch  das  besagte  Datum  für 
den  Verstand  nur  innerhalb  dieser  Entfernung  anwendbar. 

Darttber  hinaus  findet  dagegen  das  zweite  Datum  An- 
wendung, nämlich  der  bereits  oben,  beim  Einfach-Sehen,  er- 
klärte, von  den  beiden  Augenaxen  gebildete  optische  Winkel. 
.  .  .  Das  verschiedene  Richten  der  Augen  gegen  einander  ist 
nicht  ohne  eine  gewisse,  leise  Empfindung  davon,  die  aber 
auch  nur  sofern  ins  Bewufstsein  kommt,  als  der  Verstand  sie 
bei  seiner  intuitiven  Beurteilung  der  Entfernung  als  Datum 
gebraucht  Dieses  Datum  läfst  zudem  nicht  blofs  die  Ent- 
fernung, sondern  auch  genau  den  Ort  des  Objekts  erkennen, 


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i7 

vermöge  der  Parallaxe  der  Augen,  die  darin  besteht,  dafs 
jedes  derselben  das  Objekt  in  einer  etwas  anderen  Richtung 
sieht ...  Da  aber,  sobald  der  Gegenstand  zweihundert  Fafs 
oder  weiter  abliegt,  die  Angen  sich  parallel  richten,  also  der 
optische  Winkel  ganz  weg  fällt,  so  gilt  dieses  Datum  nur 
ionerhalb  der  besagten  Entfernung. 

Über  diese  hinaus  kommt  (drittens)  dem  Verstände  die 
Luftperspektive  zu  Hülfe,  als  welche  durch  das  zunehmende 
Dnmpfwerden  aller  Farben,  das  Erscheinen  des  physischen 
Blau  Tor  allen  dunkeln  Gegenständen  .  .  .  und  das  Yer- 
sehwimmen  der  Kontoure  ihm  eine  gröfsere  Entfernung  an- 
kündigt .  .  . 

Endlich  (viertens)  bleibt  uns  noch  die  Schätzung  der 
Entfernung  mittelst  der  uns  intuitiv  bekannten  Gröfse  der  da- 
zwischen liegenden  Gegenstände  .  .  .^  Sie  ist  nur  bei  un- 
nnterbrochenem  Zusammenhang,  also  nur  auf  irdische,  nicht 
auf  himmlische  Objekte  anwendbar  .  .  .^. 

Im  Anschlufs  daran  kommt  Schopenhauer  auf  die  Gröfsen- 
Schätzung  der  Gegenstände  am  Horizont  und  das  Sehen  durch 
Teleskop  und  Lupe  zu  sprechen. 

„Dafs  beim  Sehen  der  Übergang  von  der  Wirkung  zur 
Ursache  ganz  unbewnist  geschieht,  . . .  hat  seinen  Grund  teils 
in  der  hohen  Vollkommenheit  des  Organs,  teils  in  der  aus- 
schlielslich  geradlinigen  Wirkungsart  des  Lichtes.  Vermöge 
dieser  letzteren  leitet  der  Eindruck  selbst  schon  auf  den  Ort 
der  Ursache  hin."  2)  über  die  Unbewufstheit  des  Vorganges 
bellst  es  im  besonderen:  „Auch  diese  Verstandesoperation 
(das  Hinzufügen  der  dritten  Dimension)  wird,  gleich  den 
Torhergehenden,  so  unmittelbar  und  schnell  vollzogen,  dafs  von 
ihr  nichts,  als  blofs  das  Resultat,  ins  Bewufstsein  kommt."  s) 

Die  flir  die  Übung  des  Verstandes,  die  bei  dem  Zu- 
standekommen der  empirischen  Anschauung  eine  Rolle  spielt, 
banptsächlich  in  Betracht  kommenden  Ausführungen  seien 
im  folgenden  zusammengestellt:  „Obgleich  der  rein  formale 
Teil  der  empirischen  Anschauung  .  .  .  a  priori  im  Intellekt 


>)  in,  73-85.  «)  n,  84.  >)  III,  80. 

PhilOMphiaehe  Abhftndlwagon.    XXXV. 


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18 

liegt,  BO  ist  ihm  doch  nicht  die  Anwendung  desselben  auf 
empirische  Data  zugleich  mitgegeben:  sondern  diese  erlangt 
er  erst  durch  Übung  und  Erfahrung.  Daher  kommt  es,  dafs 
neugeborene  Kinder  zwar  Licht-  und  Farbeneindrnck  empfangen, 
allein  noch  nicht  die  Objekte  apprehendiren  und  eigentlich 
sehn;  sondern  sie  sind  die  ersten  Wochen  hindurch  in  einem 
Stupor  befangen,  der  sich  alsdann  yerliert,  wann  ihr  Verstand 
anfängt,  seine  Funktion  an  den  Datis  der  Sinne,  zumal  des 
Getasts  und  Gesichts,  zu  üben,  wodurch  die  objektive  Welt 
allmählich  in  ihr  Bewufstsein  tritt  . .  .^  0  ^^^^  '^^  näher  aus- 
geftohrt  in  Sehn  und  Farben:  „Da  aber  jedes  Objekt  auf 
alle  fünf  Sinne  verschieden  wirkt,  diese  Wirkungen  dennoch 
auf  eine  und  dieselbe  Ursache  zurttckleiten,  welche  sich  eben 
dadurch  als  Objekt  darstellt,  so  yergleicht  das  die  Anschauung 
erlernende  Kind  die  verschiedenartigen  Eindrücke,  welche  es 
vom  nämlichen  Objekte  erhält;  es  betastet,  was  es  sieht,  besieht, 
was  es  betastet,  geht  dem  Klange  nach  zu  dessen  Ursache, 
nimmt  Geruch  und  Geschmack  zu  Hilfe,  bringt  endlich  auch 
für  das  Auge  die  Entfernung  und  Beleuchtung  in  Anschlag,"^) 
und  lernt  auch  die  übrigen  Beihilfen  zur  Beurteilung  des  Ortes 
des  Objekts  kennen.  Ähnliches  sagt  Schopenhauer  von  ope- 
rierten Blindgeborenen:  „Diese  sehen  zwar  gleich  nach  der 
Operation  Licht,  Farben  und  Umrisse,  haben  aber  noch  keine 
objektive  Anschauung  der  Gegenstände:  denn  ihr  Verstand 
mufs  erst  die  Anwendung  seines  Kausalgesetzes  auf  die  ihm 
neuen  Data  und  ihre  Veränderungen  lernen  . . .  Bei  solchen 
hergestellten  Blinden  mufs  das  Getast,  als  welchem  die  Dinge 
schon  bekannt  sind,  diese  dem  Gesicht  erst  bekannt  machen, 
gleichsam  sie  präsentiren  und  einführen  . .  .^') 

Das  Mitwirken  der  Erfahrung  bei  der  Ausübung  der 
Verstandestätigkeit  kommt  auch  bei  der  Erklärung  des  Scheins 
zur  Sprache:  „Schein  entsteht  allemal  entweder  dadurch,  dafs 
der  stets  gesetzmäfsigen  und  unveränderlichen  Apprebension 
des  Verstandes  ein  ungewöhnlicher  (d.  h.  von  den,  auf  welchen 
er  seine  Funktionen  anzuwenden  gelernt  hat,  verschiedener) 
Zustand  der  Sinnesorgane  untergelegt  wird;  oder  dadurch,  dals 
eine  Wirkung,  welche  die  Sinne  sonst  täglich  und  stündlieh 


»)  III,  88.  «)  VI,  24.  >)  III,  88,  89. 

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19 

doreh  eine  and  dieselbe  Ursache  erhalten,  einmal  durch  eine 
ganz  andere  Ursache  hervorgebracht  wird  . . ."  i)  „Wenn  ich 
eine  Engel  mit  gekreuzten  Fingern  betaste,  glaube  ich  sofort, 
zwei  Kugeln  zu  ftthlen,  weil  mein  auf  die  Ursache  zurück- 
gehender und  diese  den  Gesetzen  des  Raumes  gemäfs  kon- 
Btruirender  Verstand,  die  natürliche  Lage  der  Finger  voraus- 
setzend, zwei  Kugelflächen,  welche  die  äufseren  Seiten  des 
Mittel-  und  Zeigefingers  zugleich  bertthren,  durchaus  zweien 
verschiedenen  Kugeln  zuschreiben  mufs.''^)  Als  Beispiele  ftir 
TäQschungen  des  Verstandes  bei  der  Deutung  von  Gesichts- 
wahmehmungen  führt  Schopenhauer  an:  das  Doppeltsehen 
eines  Objektes  beim  Schielen  und  beim  Fixieren  eines  weiter 
oder  näher  stehenden  Objektes,  sowie  das  Einfachsehen  zweier 
Yor  zwei  parallelen  Röhren  angebrachter  Geldstücke^)  und 
das  Einfachsehen  im  Stereoskop.^) 

Wir  hatten  bisher  das  Zustandekommen  der  empirischen 
Anschauung  bis  zu  dem  Punkte  verfolgt,  wo  durch  die  Tätig- 
keit des  Verstandes  aus  der  blofsen  Empfindung  die  räumlich 
geordnete  objektive  Vorstellung  wird.  Es  erübrigt  einiges 
Spezielle  beizufügen  über  das  Zustandekommen  der  zeitlichen 
Ordnung  in  der  empirischen  Anschauung.  Im  allgemeinen 
wurde  dies  bereits  oben  charakterisiert.  Einer  speziellen  Be- 
Btimmung  begegneten  wir  in  der  Bemerkung,  dafs  der  Verstand 
von  „jener  successiven  Empfindung  in  der  Hand^^)  ausgehe. 
Dies  beruht  auf  folgendem:  „Die  Veränderungen  (der  Em- 
pfindungen) gelangen  unmittelbar  [bevor  die  Verstandestätigkeit 
einsetzt]  blofs  in  der  Form  des  inneren  Sinnes,  also  der  Zeit 
allein,  d.h.  suecessiv,  zum  Bewufstsein/^ *)  In  diesem  Sinne 
beiist  es  auch:  „Ohne  Verstand  .  .  .  wäre  die  blofse  Emp- 
findung ein  Wechsel  bedeutungleerer  Zustände."'^) 

Schon  die  blofsen  Empfindungen  also  tragen  einen  zeit- 
liehen Charakter  an  sich.  Die  Empfindungen  aber  reichen 
allein  nicht  aus,  die  zeitliche  Ordnung  in  der  Anschauung  her- 
zustellen: „Nimmermehr  aber  könnte  aus  jener  Empfindung 
[der  successiven  Empfindung]  in  der  Hand  die  Vorstellung  der 


0  VI,  80. 

»)  m,  70. 

•)ui, 
•)  in, 

77, 
66. 

78. 

•)  m,  78. 

»)  VI,  21. 

*)  VI,  29 
2* 

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20 

Bewegung,  d.  i.  der  VeräDderung  des  Ortes  im  Banm,  mittelst 
der  Zeit,  entstehen:  denn  so  etwas  kann  in  ihr  nicht  liegen, 
noch  kann  sie  allein  es  jemals  erzeugen.  Sondern  sein  Intellekt 
mnfs,  vor  aller  Erfahrung  die  Anschauungen  des  Raumes,  der 
Zeit,  und  damit  die  Möglichkeit  der  Bewegung,  in  sich  tragen, 
und  nicht  weniger  die  Vorstellung  der  Kausalität,  um  nun  von 
der  allein  empirisch  gegebenen  Empfindung  überzugehen  auf 
eine  Ursache  derselben  und  solche  dann  als  einen  sich  also 
bewegenden  Körper,  von  der  bezeichneten  Gestalt,  zu  kon- 
struiren." ») 

Ein  Rückblick  auf  die  bisherigen  Ausführungen  lälst  be- 
merkenswert erscheinen,  dafs  als  die  Aufgabe  des  Verstandes 
die  Konstruktion  alles  dessen  in  der  empirischen  Anschauung 
gedacht  wird,  was  in  ihr  mehr  enthalten  ist,  als  blolse  Emp- 
findung und  die  reinen  Formen  Raum  und  Zeit.  Dabei  flielsen 
zwei  Beetimmungen  der  Aufgabe  des  Verstandes  zusammen: 

Erstens  das  Erkennen  der  Empfindung  als  Wirkung  einer 
Ursache, 

Zweitens  die  raumzeitliche  Anordnung  der  Empfindungen. 

Damit  erscheint  die  ursprünglich  eng  begrenzte  Funktion 
des  Verstandes  [„Kausalität  erkennen  ist  seine  einzige  Funk- 
tion"]*) erweitert.  Zu  der  kausal  beziehenden  tritt  eine  formal- 
beziehende Tätigkeit  des  Verstandes.  Im  einzelnen  aber  reichen 
die  a  priori  gegebenen  Vorstellungen  für  die  raumzeitliche 
Einordnung  der  Empfindungen  nicht  aus.  Sie  wird  yielmehr 
erst  hergestellt  durch  Erfahrungsmomente,  die  in  den  Emp- 
findungen liegen,  hauptsächlich  denen  des  Tast-  und  Gesichts- 
sinnes. Dafs  der  Verstand  „ein  Nebeneinander  des  Eindrucks 
zu  Hilfe  nimmt"  und  „der  blofse  Eindruck  auch  schon  die 
Richtung  seiner  Ursache  anzeigt",  ist  psychologisch  gleich- 
bedeutend damit,  dafs  den  Gesichtsempfindungen  aufser  ihrem 
Empfindungsinhalt  ein  Bewufstsein  ihres  Nebeneinander  auf 
der  Netzhaut  und  ein  Bewnüstsein  der  Richtung  ihrer  Ursache 
zukomme.  Wir  fanden,  dafs  ihnen  auch  ein  zeitlicher  Charakter 
eigen  ist  Sie  werden  auf  Grund  ihrer  räumlichen  Beihilfen 
der  allgemeinen  Form  des  Raumes  eingeordnet    In  analoger 


1)  III,  70.  »)  I,  43. 

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21 

Weise  werden  sie,  so  können  wir  interpretieren,  anf  Grand 
ihres  zeitlichen  Charakters  der  allgemeinen  Form  der  Zeit 
eingeordnet. 

Dals  den  blofsen  Empfindangen  ein  räumlicher  nnd  zeit- 
licher Charakter  eigen  sei,  ist  nnyereinbar  mit  der  Annahme, 
dafs  der  Intellekt  a  priori  sie  ihnen  allererst  beifUge.  Wir 
werden  bei  der  Erörterung  der  blofsen  Empfindung  kennen  lernen, 
was  Schopenhauer  zu  einem  Teil  dieser  Unzulänglichkeiten  ver- 
anlassen konnte,  ohne  dafs  dadurch  der  bestehende  Wider- 
spruch aufgehoben  wttrde. 

Ferner  ist  bemerkenswert,  dafs  der  Verstand  die  Anwen- 
dung seiner  Form  erlernen  mufs  und  sich  in  dieser  Anwendung 
täuschen  kann.  Dabei  spielt  ein  Vergleichen  der  Data  des 
last-  und  Gesichtssinns  eine  Rolle.  Wie  dies  psychologisch 
zu  verstehen  sei,  führt  Schopenhauer  nicht  näher  aus.  Es 
wäre  nur  dann  verständlich,  wenn  dem  Verstände  ein  Ge- 
dächtnis zugeschrieben  werden  könnte.  Diese  Annahme  liefse 
sieh  zwar  zur  Not  vereinigen  mit  der  Definition  des  Ge- 
dächtnisses bei  Schopenhauer  als  einer  „blofsen  Übungs- 
tahigkeit".  ^)  Aber  erstlich  liegt  Schopenhauer  eine  solche 
Annahme  fern;  sodann  mttfste  zur  Auflösung  der  genannten 
Schwierigkeit  dem  Verstände  auch  ein  vergleichendes  Denken 
nnd  damit  eine  Fähigkeit  zu  abstrahieren  zugeschrieben 
werden,  womit  er  in  das  Gebiet  der  Vernunft  im  Sinne 
Sehopenhauers  ttbergrifie. 


IV.  Physiologische  Erörterungen. 

Der  Gang  unserer  Darstellung  ftlhrt  uns  zur  Besprechung 
der  Bestandteile  der  empirischen  Anschauung.  Zuvor  mögen 
die  in  Betracht  kommenden  physiologischen  Bedingungen  dar- 
gelegt werden. 

In  dieser  Hinsicht  ist  hervorzuheben,  dafs  Schopenhauer 
die  Empfindungen  mit  den  Vorgängen  in  den  Sinnesorganen 

»)  II,  162. 


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22 

in  eins  setzt.  ,,Die  Empfindungen  sind  eine  Funktion  einzelner 
zarter  Nervenenden",  wie  der  Verstand  „eine  Funktion  des 
Gebims",  sie  „sind  beschränkt  auf  das  Gebiet  unter  der  Haut^ 
und  „in  den  Sinnesorganen  dureh  Zusammenflufs  der  Nerven- 
enden erhöhte,  wegen  der  Ausbreitung  und  dünnen  Bedeckung 
derselben  leicht  von  auf sen  erregbare  und  zudem  einem  speziellen 
Einflufs,  Licht,  Schall,  Luft,  besonders  offenstehende",  >)  während 
„die  Vorstellung  ein  sehr  komplizirter  physiologischer  Vorgaug 
im  Gehirn  . . .  ist".  ^)  „Die  Retina  ist  der  unbezweifelte  Sitz 
dessen,  was  beim  Sehen  in  der  blofsen  Empfindung  besteht."^) 
Für  das  Hören  findet  sich  an  einer  Stelle  eine  etwas  abweichende 
Bestimmung:  „Das  Hören  geht  vermöge  einer  mechanischen 
ErschtttteruDg  des  Gehirnnerven  vor  sieh,  die  sich  sogleich 
bis  ins  Gehirn  fortpflanzt,  während  hingegen  das  Sehen  eine 
wirkliche  Aktion  der  Retina  ist  ..." 0 

Über  die  Abhängigkeitsbeziehungen  des  physiologischen 
und  psychologischen  Geschehens  heilst  es  schlechthin:  „Unser 
Auge  ist  es,  welches  Grün,  Rot  und  Blau  hervorbringt",  wie 
„unser  Gehirn  es  ist,  welches  Zeit,  Raum  und  Kausalität 
hervorbringt."  *»)  „Verleihen  die  Nerven  der  Sinnesorgane  den 
erscheinenden  Objekten  Farbe,  Klang,  Geschmack,  Geruch. 
Temperatur  usw.,  so  verleiht  das  Gehirn  denselben  . . .  alles, 
was  mittelst  Zeit,  Raum  und  Kausalität  vorstellbar  ist."*  ^) 
„Die  Sinne  sind  also  blofs  die  Sitze  einer  gesteigerten 
Sensibilität,  sind  Stellen  des  Leibes,  welche  für  die  Einwirkung 
anderer  Körper  in  höherem  Grade  empfänglich  sind,  und  zwar 
steht  jeder  Sinn  einer  besonderen  Art  von  Einwirkung  offen, 
für  welche  die  übrigen  entweder  wenig  oder  gar  keine 
Empfänglichkeit  haben.  Diese  spezifische  Verschiedenheit 
der  Empfindung  jedes  der  fünf  Sinne  hat  jedoch  ihren 
Grund  nicht  im  Nervensystem  selbst,  sondern  nur  in  der  Art, 
wie  es  affiziert  wird  . . .  Denn  die  Substanz  der  Nerven  (ab- 
gesehen vom  sympathischen  System)  ist  im  ganzen  Leibe  eine 
und  dieselbe,  ohne  den  mindesten  Unterschied.  Wenn  sie  nnn, 
vom  Lichte  durch  das  Auge,  vom  Schalle  durch  das  Ohr  ge- 
troffen,  so   spezifisch   verschiedene   Empfindungen   erhält,  so 


0  III,  6«.  •)  II,  222.  »)  VI,  37.  *)  II,  39. 

»)  IV,  107.  a)  II,  80. 


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23 

kaoQ  dies  Dieht  an  ihr  selbfit  liegen,  sondern  nnr  an  der  Art, 
wie  sie  affizirt  wird.  Diese  aber  hängt  ab  teils  von  dem 
fremden  Agens,  von  dem  sie  affizirt  wird  (Lieht,  Schall,  Dnft,) 
teils  von  der  Vorriehtnng,  dnrch  welche  sie  dem  Eindruck 
dieses  Agens  ansgesetzt  ist,  d.  i.  von  dem  Sinnesorgan  . .  .^  0 
„Indem  der  änJjsere  Sinn,  d.  h.  die  Empfänglichkeit  fUr  äufsere 
Data  f&r  den  Verstand,  sich  in  fttnf  Sinne  spaltete,  richteten 
diese  sich  nach  den  vier  Elementen,  d.  h.  den  vier  Aggrega- 
tioDszaständen,  nebst  dem  der  Imponderabilität.  So  ist  der  Sinn 
fbr  das  Feste  (Erde)  das  Getast,  fUr  das  Flttssige  (Wasser) 
der  Geschmack,  fUr  das  Dampfförmige,  d.  h.  Verflüchtigte 
(Danst,  Dnft)  der  Gerach,  für  das  permanent  Elastische  (Luft) 
das  Gehör,  für  das  Impondrabile  (Fener,  Lieht)  das  Gesicht. 
Das  zweite  Imponderabile,  Wärme,  ist  eigentlich  kein  Gegen- 
stand der  Sinne,  sondern  des  Gemeingefllhls/'  ^) 

Die  Ansdrncksweise  in  diesen  Ausftthrnngen  ist  geeignet, 
ZQ  einer  materialistischen  Dentung  Veranlassung  zn  geben.  3) 
Eine  solche  Aaffassnng  besteht  indes  nicht  zu  Recht.  Erstlich 
iät  jene  Ansdrncksweise  Schopenhauers  nicht  streng  fest- 
gehalten. Er  sagt  zwar:  „Das  Sehen  ist  eine  wirkliche  Aktion 
der  Retina",*)  doch  sagt  er  auch,  dals  „die  Retina  der  Sitz 
d^sen  ist,  was  beim  Sehen  in  der  blofsen  Empfindung  be- 
ßteht**,*)  zwar,  dafs  „die  Modifikationen  der  Sinne  die  blofsen 
Empfindungen  sind^,^)  doch  auch,  dafs  „die  Modifikationen 
des  Auges  unmittelbar  blofs  empfunden  werden"; 7)  er  fordert 
zwar,  dals  sich  „eine  Farbentheorie  zunächst  an  die  Empfindung 
selbst  wenden  solle,  um  zu  erforschen,  ob  nicht  aus  ihrer 
Beschaffenheit  und  Gesetzmäfsigkcit  sich  herausbringen  liefse, 
^orin  sie  an  und  fttr  sieh,  also  physiologisch  bestehe",»)  doch 
erklärt  er  an  derselben  Stelle  auch,  dafs  „die  spezifische 
Empfindung  sich  nicht  beschreiben,  sondern  nur  sinnlich  nach- 
weisen lasse". 


»)  VI,  22,  23.  «)  II,  38. 

')  In  der  Tat  ist  dies  geschehen  in  Kano  Fischers  „Kritik  der 
Sdkopenhaoerschen  Philosophie^.  In  Band  IX  seiner  „Geschichte  der 
Beneren  Phflosophle''.    2.  Auflage.    1898. 

0  II,  39.  *)  VI,  87.  •)  VI,  34.  ')  VI,  85. 


»)  VI,  35,  36. 


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24 

Das  entscheidende  Argament  aber  ergibt  sich  ans  dem 
Zusammenhang  der  Lehre  Schopenhauers  Überhaupt.  Er 
polemisiert  nicht  nur  heftig  gegen  den  Materialismus,  sondern 
ist  auch  sachlich  weit  davon  entfernt,  Materialist  zu  sein.  Im 
materialistischen  Sinne  zu  behaupten,  die  Sinnesempfindungen 
seien  nichts  als  physiologische  Vorgänge  in  den  Sinnesorganen, 
ist  für  Schopenhauer  deshalb  unmöglich,  weil  „der  Materialis- 
mus vom  Objekte  ausgeht,  ein  Objektives  zum  letzten  Er- 
klärungsgrunde nimmt,  sei  nun  dieses  die  Materie  . . .  oder 
der  Stoff  . .  .^,i)  und  dieses  „als  an  sich  und  absolut  existierend 
annimmt,  um  daraus  die  organische  Natur  und  zuletzt  das 
erkennende  Subjekt  hervorgehen  zu  lassen  und  diese  voll- 
ständig zu  erklären  ^^2)  Schopenhauer  wendet  sich  schon  in 
der  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
Band  I  gegen  den  konsequenten  Materialismus,  weil  dieser 
„als  das  letzte  Glied  der  Kette  des  materiellen  Geschehens 
die  tierische  Sensibilität,  das  Erkennen"  setzen  mnfs,  „welches 
folglich  jetzt  als  eine  blofse  Modifikation  der  Materie,  ein 
durch  Kausalität  herbeigeführter  Zustand  derselben  aufträte''. 3) 
An  ein  Hervorbringen  der  Empfindung  durch  den  Leib  im 
materialistischen  Sinne  ist  bei  Schopenhauer  also  deshalb 
nicht  zu  denken,  weil  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
des  Werdens  nur  zwischen  materiellen  Objekten,  nicht  aber 
zwischen  diesen  und  dem  erkennenden  Subjekt  Gültigkeit  hat 
Dennoch  kann  Schopenhauer  von  einer  Identität  der  Empfindung 
und  des  Vorganges  im  Sinnesorgan  reden,  nämlich  im  metaphysi- 
schen Sinne,  insofern  beide  an  sich  ein  und  dasselbe,  nämlich 
Wille,  sind.  Der  Leib  bringt  die  Empfindungen  und  Vorstellungen 
hervor,  insofern  er  die  Sinnesorgane  und  das  Gehirn  hervorbringt, 
und  das  „was  im  Selbsbewufstsein,  also  subjektiv,  der  Intellekt  ist, 
im  Bewufstsein  anderer,  also  objektiv,  sich  als  Gehirn  darstellt''^) 
und  in  analogerweise  die  Empfindungen  in  den  Sinnesorganen 
sich  darstellen.  Gemeint  sein  kann  als  das  Hervorbringende, 
wenn  von  einer  Hervorbringung  des  Intellekts  und  der  Emp- 
findungen die  Rede  ist,  immer  nur  das  am  Leibe  zugrunde 
Liegende,  der  Wille.    „Vorstellung  und  Gedanke  können  . . . 


0  1,  63.  «)  I,  63.  »)  1.  Auflage  Seite  40,  3.  Auflage  1, 62. 

*)  II,  286. 


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25 

als  die  EfiOorescenz  des  Willens  angesehen  werden,  sofern  sie 
ans  der  höchsten  Vollendung  und  Steigerang  des  Organismus 
entspringen,  dieser  aber  an  sieh  selbst  und  auf  serhalb  der 
Vorstellung  der  Wille  ist.  Allerdings  setzt  in  meiner  Er- 
klärung, das  Dasein  des  Leibes  die  Welt  der  Vorstellung 
Yoraus,  sofern  aueh  er,  als  Körper  oder  reales  Objekt,  nur 
in  ihr  ist:  und  anderseits  setzt  die  Vorstellung  selbst  eben  so 
sehr  den  Leib  voraus,  da  sie  nur  durch  die  Funktion  eines 
Organs  desselben  entsteht.  Das  der  ganzen  Erscheinung  zum 
Grunde  Liegende,  das  allein  an  sich  selbst  Seiende  und 
Ursprüngliche  darin,  ist  ausschlief slich  der  Wille:  denn  er  ist 
es,  welcher  eben  durch  diesen  Prozefs  die  Form  der  Vor- 
stellung annimmt,  d.  h.  in  das  secundäre  Daseyn  einer  gegen- 
ständlichen Welt,  oder  die  Erkennbarkeit,  eingeht."  i)  Nur 
ist  hierbei  zu  beachten,  dafs  bei  dem  Willen  als  Ding  an  sich 
?0Q  einem  Hervorbringen  im  eigentlichen  Sinne  nicht  die  Rede 
sein  kann;  denn  dieser  ist  dem  Satze  vom  zureichenden  Grunde 
nicht  unterworfen;  sondern,  wenn  der  Organismus  das  Gehirn 
hervorbringt,  ist  das  mit  diesem  auftretende  Bewufstsein  nur 
scheinbar  etwas  Hervorgebrachtes.  Insofern  sind  Ausdrücke 
wie  „ Efflorescenz  des  Willens",  oder  dafs  „der  Intellekt  ... 
aus  dem  Willen  entspringt ",2)  u.  a.  m.  geeignet,  zu  Mifs- 
verständnissen  zu  ftthren.  Der  Ursprung  der  Empfindungen, 
wie  auch  des  Intellektes  kann  somit,  entsprechend  den  Vor- 
bemerkungen meiner  Schrift,  als  ein  metaphysisch -psycho- 
logischer bezeichnet  werden. 


V,  Die  blofsen  Empfindungen, 

Der  Ursprung  der  Sinnesempfindungen  wurde  bereits  im 
vorigen  Abschnitte  als  ein  metaphysisch -psychologischer  ge- 
kennzeichnet. Die  dadurch  angeregte  Frage,  wie  dieser 
Ursprung  im  Zusammenhange  der  ganze  Lehre  Schopenhauers 
lü  verstehen  sei,  kann  hier  nicht  näher  erörtert  werden.    Eine 


0  n,  322.  >)  U,  828. 

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spezielle  psychologische  Bestimmang  finden  wir  in  folgender  Stelle: 
„Die  einfachste,  unbefangene  Selbstbeobachtung,  zusammen- 
gehalten mit  dem  anatomischen  Ergebnis,  führt  zu  dem  Resultat, 
dafs  der  Intellekt,  wie  seine  Objektiyation,  das  Gehirn,  nebst 
diesem  anhängenden  Sinnenapparat,  nichts  anderes  sei,  als 
eine  sehr  gesteigerte  Empfänglichkeit  für  Einwirkungen  von 
aufsen  ...i)  Ferner:  „Man  kann  jede  Sinnesempfindung  an- 
sehen als  eine  Modifikation  des  Tastsinnes,  oder  der  über  den 
ganzen  Leib  verbreiteten  Fähigkeit  zu  Ftihlen".^)  Diese  Aus- 
führungen enthalten  den  Gedanken  einer  Herleitung  des 
Mannigfaltigen  der  Empfindungen  aus  einem  einzigen  und 
einfachsten  Elemente,  nämlich  —  wenn  wir  die  beiden  Aus- 
führuDgen  interpretierend  miteinander  verbinden  —  der  Emp- 
fänglichkeit für  Einwirkungen  von  aufsen,  und  zwar  der 
Fähigkeit  zu  tasten  oder  zu  fühlen.  Jedoch  ist  dieser  Gedanke 
bei  Schopenhauer  nicht  prinzipiell  gefafst  Was  er  darüber 
Näheres  sagt,  bewegt  sich  in  bildlicher  Darstellung.  3) 

Hinsichtlich  des  Bestandes  der  blofsen  Empfindungen  ist  eine 
Bemerkung  Schopenhauers  anzuführen,  die  den  oben  zitierten 
insofern  widerspricht,  als  sie  die  blofse  Sinnesempfindung  als  ein- 
fachen Inhalt  darstellt:  „Jene  specifische  Empfindung  im  Auge, 
die  sich  nicht  beschreiben,  sondern  nur  sinnlich  nachweisen 
läfst^^^)  Auf  die  Ausführungen  Schopenhauers  über  die  speziellen 
Empfindungen,  im  besonderen  auf  seine  Farbenlehre  kann  im 
Zusammenhange  der  vorliegenden  Schrift  nicht  eingegangen 
werden. 

Es  soll  vielmehr  im  folgenden  die  für  das  Verständnis 
der  Lehre  Schopenhauers  bedeutsame  Frage  erörtert  werden, 
wie  sich  die  blofsen  Empfindungen  in  den  Zusammenhang  des 
geistigen  Bestandes  überhaupt  einordnen.  Dieselbe  hat  in 
den  späteren  Schriften  Schopenhauers  eine  etwas  andere 
Beanwortung  gefunden  als  in  den  früheren;  um  dies  dar- 
zulegen, mögen  die  einzelnen  Schriften  in  dieser  Hinsicht 
geprüft  werden. 

In  der  ersten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde,  wie  auch 
in   der  zweiten  Auflage,   werden  die  Sinnesempfindungen  in 


0  V,  65.  »)  VI,  22,  ähnlich  so  III,  66.  >)  V,  55,  56. 

*)  VI,  35. 


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27 

AnlehnuDg  an  Kant  als  das  Materiale  der  ErBcheinnngen  anf- 
gefabt,  auf  welches  der  Verstand  seine  Tätigkeit  richtet,  in 
der  ersten  Anfinge  aber  in  engerer  Anlehnung  an  Kant,  als 
in  der  zweiten  Auflage:  In  jener  heifst  es:  „Ohne  Anwendung 
des  Verstandes  überhaupt  bliebe  es  bei  der  blofsen  Emp- 
findang".!)  „Durch  Anwendung  der  Kategorien  der  Subsisteoz, 
Realität,  Einheit  usw.^  ^)  auf  dieselbe  ersteht  nun  das  unmittel- 
bare Objekt.  Nun  wird  „von  der  Veränderung  ...  im  Organ 
auf  eine  Ursache  geschlossen,  und  solche  wird  im  Räume 
dahin,  von  wo  ihre  Wirkung  ausgeht,  . . .  gesetzt  . . .  Durch 
die  Kategorie  der  Kausalität  allein  erkennen  wir  die  Objekte 
als  wirklich,  d.  i.  auf  uns  wirkend",^)  d.  h.  „es  werden  die 
anderen  Objekte  als  zum  Ganzen  der  Erfahrung  so  gut  als 
das  unmittelbare  gehörend  erkannt ".3)  „Das  unmittelbare 
Objekt  ist  der  eigene  Leib,  die  Hand  indem  sie  tastet,  das 
ÄBge,  indem  es  sieht.  Indem  der  Leib  getastet,  gesehen  usw. 
wird,  ist  er  nicht  mehr  unmittelbares,  sondern  vermitteltes 
Objekt.  Das  unmittelbare  Objekt  ist  . . .  eine  unmittelbare  im 
Gegensatz  aller  anderen  Vorstellungen,  welche  durch  sie 
vermittelt  sind.^'^)  Diese  Voraussetzung  eines  unmittelbaren 
Objekts  als  des  Ausgangspunktes  für  den  Übergang  zum 
vermittelten  entspricht  der  Forderung,  dafs  der  Satz  vom 
Grunde  nur  zwischen  Objekten,  nicht  aber  zwischen  Subjekt 
und  Objekt  statthabe.'^)  Das  unmittelbare  Objekt,  das  durch 
Anwendung  der  Kategorien  der  Subsistenz,  Realität,  Einheit 
Qsw.,  aufser  der  der  Kausalität,  auf  die  blolse  Empfindung 
erstanden  ist,  könnte  dabei  vielleicht  als  im  psychologischen 
Sinne  gleichbedeutend  mit  der  auf  diese  Weise  zur  Vorstellung 
erhobenen,  insofern  also  unmittelbar  objektiv  gewordenen  Emp- 
findung genommen  werden.  Im  Widerspruch  damit  steht,  dafs 
.Schopenhauer  gelegentlich  in  dieser  Auflage  von  dem  „unmittel- 
baren Objekt  im  Räume''  redet. 

Die  Forderung  des  Ausgehens  vom  unmittelbaren  Objekt 
Air  den  Kausalschlufs  auf  das  vermittelte  ist  in  der  ersten 
und  den  folgenden,  nur  in  Unwesentlichem  veränderten  Auf- 
lagen der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  I  festgehalten. 


0  S.  54.  *)  S.  53.  •)  S.  54.  *)  S.  36. 

^)  S.  67,  auch  schon  Nachlala  3,  S.  160,  aus  dem  Jahre  1800. 


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28 

weil  die  ftlr  die  Erkenntuislehre  SchopenhanerB  grandlegeode 
Annahme  bestehen  bleibt,  dafs  zwischen  Subjekt  und  Objekt 
nicht  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  obwalten  kann. 
Jedoch  findet  schon  hier  eine  Einschränkung  des  Ausdrucks 
„unmittelbares  Objekt",  als  nur  im  uneigentlichen  Sinne  zu 
verstehen,  statt.  „Der  Leib  ist  uns  unmittelbares  Objekt,  d. 
h.  diejenige  Vorstellung,  welche  den  Ausgangspunkt  der  Er- 
kenntnis des  Subjekts  macht,  indem  sie  selbst  mit  ihren 
unmittelbar  erkannten  Veränderungen  der  Anwendang  des 
Gesetzes  der  Kausalität  vorhergeht  und  so  zu  dieser  die  ersten 
Data  liefert".»)  „Man  hüte  sich  aber  vor  dem  greisen  Mifs- 
Verständnis,  dafs,  weil  die  Anschauung  durch  die  Erkenntnis 
der  Kausalität  vermittelt  ist,  deswegen  zwischen  Objekt  und 
Subjekt  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  bestehe; 
da  vielmehr  dasselbe  immer  nur  zwischen  unmittelbarem  und 
vermitteltem  Objekt,  also  immer  nur  zwischen  Objekten  statt- 
findet".^) „Insofern  die  blofsen  Veränderungen,  welche  die 
Sinnesorgane  . . .  erleiden,  . . .  nur  für  die  Erkenntnis  da  sind 
.  .  .,  sage  ich,  dafs  der  Leib  unmittelbar  erkannt  wird,  un- 
mittelbares Objekt  ist:  jedoch  ist  hier  der  Begriff  Objekt  nicht 
einmal  im  eigentlichsten  Sinne  zu  nehmen:  denn  durch  diese 
unmittelbare  Erkenntnis  des  Leibes,  . . .  steht  der  Leib  selbst 
nicht  eigentlich  als  Objekt  da  ...  d.  h.  als  anschauliche 
Vorstellung  im  Raum."^)  „Nicht  eigentlich",  d.  i.,  wie  wir 
fanden,  insofern  der  Leib,  hier  das  Sinnesorgan,  im  uneigent- 
lichen, d.  h.  metaphysischen  Sinne  identisch  ist  mit  der 
Sinnesempfindung.  Da  von  den  Kategorien  in  dieser  Schrift 
nur  noch  die  der  Kausalität  beibehalten  wird,  so  wird  die 
psychologische  Erklärung  des  Zustandekommens  des  unmittel- 
baren Objekts,  wie  wir  sie  in  dem  Rahmen  der  ersten  Auflage 
des  Satzes  vom  Grunde  versuchten,  unmöglich.  Beiläufig  sei 
erwähnt,  dafs  die  Begrenzung  in  dem  Gebrauche  der  Kategorien 
schon  in  der  ersten  Auflage  von  Sehn  und  Farben  angelegt 
ist,  wo  von  den  Kategorien  anfser  der  Kausalität  nicht 
mehr  gesprochen  wird;  es  heifs  vielmehr:  „Die  Anschauung 


')  1.  Auflage  S.  27,  28.    3.  Auflage  I,  52—53. 
')  1.  Auflage  S.  IS.    3.  Auflage  I,  45. 
>}  U  Auflage  S.  29.    3.  Auflage  I,  53. 


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20 

d.  h.  die  Apprehension  einer  objektiven  Welt,  deren  Teile 
dnreb  den  Raum  getrennt,  nnd  darch  das  Gesetz  der  Kausalität 
...  verbanden  sind  ...^.^)  Es  bleibt  daher,  soll  die  Eansal- 
beziehnng  zwischen  Subjekt  und  Objekt  vermieden  werden,  nur 
übrig,  der  biolsen  Empfindung  schon  den  Objektcharakter  zu- 
zuschreiben. Dieser  Gedanke  ist  zwar  in  dieser  Wendung  von 
Schopenhauer  nicht  ausgesprochen,  auch  wenn  er  das  unmittel- 
bare Objekt  als  eine  Vorstellung  erklärt.  Schopenhauer  gelangt 
aber  zu  demselben  Ergebnis,  dafs  die  Empfindung  als  Vor- 
BtelluDg  anzusehen  sei,  von  einer  anderen  Seite  her,  nämlich 
vom  Standpunkte  des  Willens  aus.  „Die  blofsen  Veränderungen, 
welche  die  Sinnnesorgane  durch  die  ihnen  spezifisch  angemessene 
Einwirkung  von  aufsen  erleiden,  sind  zwar  schon  Vorstellungen 
za  nennen,  sofern  solche  Einwirkungen  weder  Schmerz  noch 
Wollast  erregen,  d.  h.  keine  unmittelbare  Bedeutung  fUr  den 
Willen  haben,  und  dennoch  wahrgenommen  werden,  also  nur 
für  die  Erkenntnis  da  sind.'^^)  Angelegt  ist  auch  dieser 
Gedanke  schon  in  der  ersten  Auflage  von  Sehn  und  Farben: 
^Die  blofse  Empfindung,  die  allenfalls  als  Schmerz  oder  Wohl- 
behagen eine  Bedeutung  in  bezug  auf  den  Willen  haben  konnte, 
übrigens  aber  ein  Wechsel  bedeutungsleerer  Zustände  .  .  . 
wäre". 3)  Dafs  hier  die  Empfindung  als  bedeutungsleerer  Zu- 
stand gedeutet  ist,  was  hier  nur  heifsen  soll,  dafs  sie  keine 
„objektive'^  Bedeutung  habe,  sei  vorerst  nicht  beachtet,  sondern 
nar,  dafs  sie  in  gewissen  Fällen  den  Willen  nicht  berühre. 
Diese  Bestimmung,  die  insofern  eine  metaphysische  ist,  als  die 
Empfindung  in  Gegensatz  gesetzt  ist  zum  Willen,  also  dem 
Ding  an  sich,  kann  auch  als  psychologische  gelten,  in  dem 
Sinne,  der  in  der  Einleitung  der  vorliegenden  Schrift  dar- 
gelegt wurde.  Wir  können  somit  verstehen,  dafs  Schopenhauer 
ans  der  negativen,  metaphysisch -psychologischen  Bestimmung, 
dab  die  Empfindung  den  Willen  nicht  berühre,  die  positive, 
erkenntnispsyohologische  gewinnt,  dafs  sie  Vorstellung  sei.  Die 
bereits  angedeutete  Beschränkung  dieser  Folgerung  auf  gewisse 
SiDsesgebiete  wird  an  einer  anderen  Stelle  der  Welt  als  Wille  und 


')  1.  Auflage  S.«26;  umgeändert  2.  Auflage  VI,  34. 
^  1.  Auflage  S.  28.    3.  Auflage  I,  53. 
")  1.  Auflage  S.  11.    2.  Auflage  VI,  21. 


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30 

Vorstellung  Band  I  genauer  bestimmt:  „Unmittelbar  als  blofse 
Vorstellungen  zu  betrachten  und  daher  von  dem  eben  Gesagten 
auszunehmen,  —  (dafs  Gefühle  nicht  Vorstellungen  zu  nennen 
seien)  —  sind  nur  gewisse  wenige  Eindrücke  auf  den  Leib, 
die  den  Willen  nicht  anregen  .  .  .  Das  hier  Gemeinte  sind 
nämlich  die  Affektionen  der  rein  objektiven  Sinne  des  Gesichts, 
Gehörs  und  Getastes,  wiewohl  auch  nur,  sofern  diese  Organe 
auf  die  ihnen  besonders  eigentümliche,  spezifische,  naturgemäfse 
Weise  affiziert  werden  .  .  .  Jede  stärkere  oder  anderartige 
Affektion  jener  Sinneswerkzeuge  ist  aber  schmerzhaft,  d.  b. 
dem  Willen  entgegen,  zu  dessen  Objektität  also  auch  sie 
gehören".») 

In  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  I  kommt  noch 
eine  andere  Bestimmung  der  Empfindung  in  Betracht,  nämlich 
eine  terminologische.  „Da  wir  im  Deutschen  noch  das  ziemlich 
(mit  Gefühl)  gleichbedeutende  Wort  Empfindung  haben,  so 
würde  es  dienlich  sein,  dieses  für  die  körperlichen  Gefühle 
als  eine  Unterart  in  Beschlag  zu  nehmen." 2)  Dafg  die  körper- 
lichen Gefühle  für  Schopenhauer  in  das  Gebiet  des  Willens 
gehören,  geht  aus  einer  Stelle  der  Freiheit  des  Willens  her- 
vor: Das  Gebiet  des  Willens  „erstreckt  sich  bis  auf  die 
körperlichen,  angenehmen  oder  schmerzlichen,  und  alle  zwischen 
diesen  beiden  liegenden  zahllosen  Empfindungen".')  Von  diesen 
bilden  also  die  Sinnesempfindungen  eine  Unterart,  wenngleich 
sie  zum  Teil  in  das  Gebiet  des  Willens  nicht  hinein  gehören. 

Der  Ausdruck  „unmittelbares  Objekt"  ist  schon  in  der 
ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  II 
vermieden;  ebenso  in  den  Zusätzen  der  zweiten  und  dritten 
Auflage  der  Kritik  der  Kantischen  Philosophie.  In  der 
zweiten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  kehrt  die  Re- 
striktion in  Bezug  auf  den  Ausdruck  „unmittelbares  Objekt" 
wieder;  im  übrigen  ist  dieser  gleichfalls  vermieden.  Auch  in 
den  Parerga  und  Paralipomena  kehrt  er  nicht  wieder.  In 
der  zweiten  Auflage  der  übrigen  Werke  findet  er  sieh  nur 
noch   in  Sehn  und  Farben,  an  einer  Stelle,  wo  er  anch  in 


0  1.  Auflage  S.  149.    3.  Auflage  1, 152. 
>)  1.  Auflage  S.  78.    3.  Auflage  I,  93* 
•)  III,  392. 

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31 

der  ersten  Auflage  schon  enthalten  ist,*)  während  er  an  anderen 
Stellen  der  zweiten  Auflage  von  Sehn  und  Farben,  wo  er  in 
der  ersten  Auflage  vorkommt,  fortgefallen  ist  2) 

Die  Vermeidung  dieses  Ausdruckes  in  den  genannten 
Schriften  steht  im  Zusammenhang  damit,  dafs  auch  die 
Bezeichnung  der  Empfindung  als  Vorstellung  in  diesen  Schriften 
fehlt:  in  der  zweiten  und  dritten  Auflage  der  Kritik  der 
Kantigehen  Philosophie,  in  der  ersten  und  zweiten  Auflage 
der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  II,  in  der  zweiten 
Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  in  Parerga  und  Paralipomena 
nnd  auch  in  den  späteren  Auflagen  der  anderen  Schriften 
anber  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  I  ist  er  aus- 
gefallen, —  was  ich  durch  eine  mehr  zeitraubende  als  frucht- 
briDgende  Arbeit  festgestellt  habe. 

In  der  Tat  ergibt  sich  aus  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
Band  11  und  der  zweiten  Auflage  der  Kritik  der  Kantischen 
Philosophie  in  erster  Linie,  dafs  die  Empfindung  nicht  mehr 
Vorstellung  genannt  werden  kann:  „Nach  Kant  . . .  wäre  der 
Eindruck,  für  den  allein  wir  blofse  Receptivität  haben,  der 
also  von  Aufsen  kommt  und  allein  eigentlich  „gegeben"  ist, 
Bchon  eine  Vorstellung,  ja  sogar  schon  ein  Gegenstand.  Er 
ist  aber  nichts  weiter,  als  eine  blofse  Empfindung  im  Sinnes- 
organ, und  erst  durch  Anwendung  des  Verstandes  . . .  und  der 
Ansehauungsformen  des  Baumes  und  der  Zeit  wandelt  unser 
Intellekt  diese  blofse  Empfindung  in  eine  Vorstellung  um  ".3) 
Entsprechend  heifst  es  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
Band  II  „Beim  Sehen  tritt  der  Verstandesakt  . . .  keineswegs 
iog  deutliche  Bewufstsein:  daher  sondert  sich  die  Sinnes- 
empfindong  nicht  von  der  aus  ihr,  als  dem  rohen  Stoff,  erst 
vom  Verstände  gebildeten  Vorstellung.  Noch  weniger  kann 
ein  Überhaupt  nicht  statthabender  Unterschied  zwischen  Gegen- 
stand und  Vorstellung  ins  Bewufstsein  treten".^) 

Es  werde  zuerst  festgestellt,  was  an  die  Stelle  der  Be- 
stimmung der  Empfindung  ab  einer  Vorstellung  tritt 

An  einigen  Stellen  läfst  Schopenhauer  die  Empfindung 
unbestimmt  und  sagt  schlechthin:  „Diese  Empfindung  bezieht 

»)  1.  Auflage  S.  18.    2.  Auflage  VI,  22. 

^  1.  Auflage  S.  22.  2.  Auflage  VI,  31  nnd  1.  Auflage  S.  26.  2.  Auf- 
lage VI,  33.  »)  I,  560.  *)  n,  32. 

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S2 

der  Verstand  . . ."  *)  „Erkenntnis  der  Kausalität,  welche  die 
blofse  Empfindung  in  objektire,  empirische  Anschauung  ver- 
wandelt." 2)  „Die  zu  der  gegebenen  Empfindnng  vorausgesetzte 
Ursache  . . ." »)  „Übergang  von  der  Empfindung  zu  ihrer  Ur- 
Ursache"*) „Der  Eindruck  ...  ist  nichts  weiter  als  eine  blofse 
Empfindung  im  Sinnesorgan."^) 

An  anderen  Stellen  charakterisiert  er  die  blofse  Empfindung 
als  „unmittelbar  wahrgenommen":  „In  den  objektiven  Sinnes- 
organen (Gesicht,  Gehör)  werden  die  ihnen  angemessenen,  höchst 
zarten  Affektionen  empfunden  .  .  .  (so,)  dafs  sie  als  an  sich 
gleichgültige,  blofs  wahrgenommene  Empfindungen  ins  Bewofst- 
sein  treten."  <^)  „Die  Wahrnehmung  seiner  Empfindungen  eine 
schlechthin  unmittelbare."  ^)  „Die  diesem  [der  Anschauung  des 
Körpers]  vorhergegangene  unmittelbare  Wahrnehmung  (der 
Farbe)  .  .  ."^)  „Unmittelbar  steht  im  Gegensatz  zu  der  Ver- 
mittlung durch  den  Verstand,  enthält  also  nur  eine  negative  Be- 
stimmung. Der  Ausdruck  „wahrnehmen"  wird  von  Schopenhauer 
in  doppelter  Weise  angewandt.  Erstlich,  um  einen  Gegensatz 
zum  Empfinden  zu  bezeichnen.  Dann  bedeutet  er :  wahrnehmen 
äufserer  Objekte;  so  in  der  zweiten  Auflage  des  Satzes  vom 
Grunde,  wo  Schopenhauer  an  Kant  rügt,  dass  dieser  „Wahr- 
nehmung und  Empfindung  geradezu  identifizire".*)  In  derselben 
Schrift  heifst  es,  dafs  „die  Empfindungen  der  Ausgangspunkt 
aller  Wahrnehmungen"  seien,  ^o)  la  Parerga  und  Paralipomena 
Band  IL  ferner:  „Die  Empfänglichkeit . . .  wird  zur  Empfindung, 
begleitet  von  der  Fähigkeit,  diese  auf  ihre  Ursachen  zu  be- 
ziehen und  so  am  Ende  zur  Wahrnehmung."  ^^  Wenn  aber 
die  blofse  Empfindung  als  unmittelbar  wahrgenommene  ge- 
kennzeichnet wird,  so  ist  hier  „wahrnehmen"  in  einem 
weiteren  Sinne  gebraucht.  Es  fügt  offenbar  zur  blofsen  „Emp- 
findung" kein  neues  Merkmal  hinzu  und  ist  daher  mit 
„empfinden"  gleichbedeutend.  Der  Ausdruck  „bloss  wahr- 
genommene Empfindung",  ist,  wie  deutlich  aus  einer  der  an- 
geführten Stellen  1^)  hervorgeht,  nur  gesetzt,  um  das  Nicht- 
bertthren  des  Willens  zum  Ausdruck  zu  bringen. 


*)  I,  575.  •)  II,  19.  4)  II,  19,  iOuÜich  so  U,  50. 

•)  n,  321,  ähnlich  so  H,  322.     *)  IH,  lül.  «)  VI,  54. 

»•)  m,  103.        ")  V,  55,  56.     ")  U,  321. 


0  1,567. 
»)  1,560. 
•)  ni,97 


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33 

Wenn  die  Empfindang  nicht  mehr  VorstellaDg  genannt 
werden  kann,  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  sie  als  Gefühl  zu 
bestimmen.  Dies  geschieht  in  der  2.  Auflage  des  Satzes  vom 
Grande:  „Selbst  in  den  edelsten  Sinnesorganen  ist  sie  (die 
blolse  Empfindang)  nichts  mehr  als  ein  lokales,  spezifisches 
innerhalb  seiner  Art  einiger  Abwechslung  fähiges,  jedoch  an 
sich  selbst  stets  subjektives  Gefühl.^  ^  Ähnlich  so  in  der  2. 
Auflage  Yon  Sehn  und  Farben:  ^Man  kann  jede  Sinnesempfindung 
ansehen  als  eine  Modifikation  des  Tastsinnes,  oder  der  ttber 
den  ganzen  Leib  verbreiteten  Fähigkeit  zu  fühlen.''^)  Beide 
Stellen  sind  je  in  der  2.  Auflage  dieser  Schriften  zugefügt. 
Dies  kann  wohl  als  eine  weitere  Bestätigung  dafür  angesehen 
werden,  dals  Schopenhauer  sie  bewufsterweise  hier  als  Gefühle 
in  Anspruch  nimmt.  Wenn  nun  aber  die  blofsen  Empfindungen 
in  das  Gebiet  des  Fühlens  hineingehören,  so  können  wir  folgern, 
daffl  sie  damit  auch  in  das  Gebiet  des  Willens  hineinfallen; 
denn  dieses  erstreckt  sich:  „bis  auf  die  körperlichen  angenehmen 
oder  schmerzlichen,  und  allen  zwischen  diesen  beiden  liegenden 
zahllosen  Empfindungen ;  da  das  Wesen  aller  dieser  Affektionen 
darin  besteht,  dafs  sie  als  ein  dem  Willen  gemäfses,  oder  ihm 
Widerwärtiges ,  unmittelbar  ins  Selbstbewufstsein  treten."  ^) 
Daraus  erwächst  nun  eine  Schwierigkeit  für  die  Interpretation 
der  für  die  objektiven  Sinne  geltenden  Einschränkung,  die  wir 
in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  I.  1.  Auflage  kennen 
gelernt  haben,  und  die  auch  in  den  späteren  Schriften  Schopen- 
hauers beibehalten  ist,  nämlich  dafs  sie  den  Willen  „eigentlich 
unberührt  lassen"^)  und  empfunden  werden,  „ohne  an  sich  selbst 
und  unmittelbar  den  Willen  zu  affiziren.'^^)  „Unmittelbar '^y  das 
ist  im  Gegensatz  zu  einer  Vermittlung  auf  dem  Wege  des  Vor- 
stellens.  „TJneigentlich"  gehören  sie  zum  Willen  nur  im  meta- 
physischen Sinne  in  eben  der  Weise,  wie  auch  das  Vorstellen 
im  metaphysischen  Sinne  in  das  Gebiet  des  Willens  gehört. 
An  anderer  Stelle  erscheint  der  Unterschied  zwischen  den 
niederen  und  höheren  Sinnen  als  ein  gradueller:  „Die  beiden 
niedrigsten  Sinne,  Geruch  und  Geschmack,  sind  schon  nicht 
mehr  frei  von  einer  unmittelbaren  Erregung  des  Willens,  das 


0  in,  66.  «)  VI,  22.  »)  III,  392.  *)  II,  36. 

»)  II,  321. 

PhilosopliiMli«  AbhAndloBgen.    XXXV.  3 


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34 

heifst,  sie  werden  stets  aogeDehm  oder  aDangeDehm  affizirt, 
sind  daher  mehr  subjektiv  als  objektiv.'^  ^  Sie  sind  mehr 
subjektiv  als  objektiv,  das  ist  genau  ausgedruckt :  es  kommt 
ihnen  die  sabjektiv-objektive  Beziehung,  die  den  Vorsteliongs- 
eharakter  ausmacht,  in  weniger  deutlichem  Mafse  zu  als  den 
höheren  Sinnen.  Diese  sind  objektiver,  weil  sie  mehr  nach 
dem  Gebiete  des  Vorstellens  hin  liegen,  jene  subjektiver,  weil 
sie  mehr  nach  dem  Gebiete  des  Fohlens  und  somit  des  Willens 
hin  liegen. 

Die  Sinnesempfindungen  der  objektiven  Sinne  werden  also 
einmal  charakterisiert  im  Unterschiede  von  den  Vorstellangen, 
anderen  Orts  aber  im  Unterschied  von  denjenigen  Sinnes- 
empfindungen, die  den  Willen  nicht  unberührt  lassen.  Dort 
werden  sie  zu  den  Gefühlen  gerechnet,  um  sie  von  den  Vor- 
stellungen zu  scheiden,  hier  werden  sie  aus  dem  Gebiete  des 
Willens  ausgeschieden,  um  ihre  Fähigkeit,  Vorstellung  zu  werden, 
zu  motivieren;  denn  „so  verlangt  es  der  Primat  des  Willens.*^ 
Es  mttfste  ihnen  daher  eine  Sonderstellung  zugesprochen  werden, 
wenn  dies  nicht  im  Widerspruch  stände  mit  der  „Duplizität 
unsers  Wesens",  das  aus  Wille  und  Vorstellung  besteht 

Wir  können  als  das  Resultat  unserer  bisherigen  Unter- 
suchung ttber  die  blofsen  Empfindungen  feststellen,  dafs  in  den 
Schriften  und  Ausgaben,  die  nach  der  1.  Auflage  der  Welt 
als  Wille  und  Vorstellung  Band  I.  liegen,  [die  2.  and  3.  Auf- 
lage von  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  natürlich  ausgenommen] 
die  Empfindungen  nicht  mehr  als  Vorstellungen  genommen 
werden,  dafs  aber  im  übrigen  ihre  Stellung  in  dem  Gesamt- 
bereiche des  psychologischen  Bestandes  undeutlich  bestimmt 
bleibt. 

Die  erkannte  Schwierigkeit  ist  von  Bedeutung  für  die 
Frage,  in  welchem  Sinne  die  Empfindung  subjektiv  genannt 
werden  könne,  wenn  es  heilst,  dafs  aus  ihr  der  Verstand  die 
objektive  Anschauung  mache.  Zum  Zweck  der  Beantwortung 
dieser  Frage  seien  einige  Bemerkungen  terminologischer  Art, 
betreffend  den  Gebrauch  der  Worte  subjektiv  und  objektiv 
bei  Schopenhauer,  vorausgeschickt,  und  zwar  zunächst  unter 


0  II,  88. 

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35 

BerüeksiebtigUDg  der  Fälle,  in  denen  die  Empfindang  nicht 
in  Betracht  kommt 

Eine  erkenntnistheoretische  Scheidung  ist  gegeben  in  der  Be- 
ziehuDg  von  Subjekt  nnd  Objekt,  die  den  Inhalt  des  Begriffs  Vor- 
stellnng  ausmacht:  „Das  Zerfallen  in  Objekt  und  Subjekt  ist  die 
erste,  allgemeinste  und  wesentlichste  Form  der  Vorstellung^.  ^) 

In  transcendenter  Beziehung  steht  subjektiv  im  Gegensatz 
ZQ  dem  Ding  an  sieh  des  empirischen  Objektes:  „Der  Ursprung 
des  Kausalgesetzes  ist  ebenso  subjektiv  wie  die  Sinnesempfin- 
dang  .  .  .,  und  dann  ist  klar,  dafs  wir  damit  stets  im  Sub- 
jektiven bleiben  . . .  Auch  die  Formen  Raum  und  Zeit  sind 
wieder  ganz  subjektiven  Ursprungs  . . .  Jener  Übergang  von 
der  Sinnesempfindung  zu  ihrer  Ursache,  der  . . .  aller  Sinnes- 
anschaunng  zu  Grunde  liegt,  ist  zwar  ausreichend,  uns  die 
empirische  Gegenwart  eines  empirischen  Objektes  anzuzeigen . . ., 
aber  er  reicht  keineswegs  aus,  .uns  Aufschlnfs  zu  geben  über 
dag  Dasein  und  Wesen  an  sich  der  auf  solche  Weise  fUr  uns 
entstehenden  Erscheinungen  oder  vielmehr  ihres  intelligibeln 
Substrats.^  ^  Empfindung,  Raum,  Zeit,  Kausalität  und  somit 
aneh  das  empirische  Objekt  sind  also  subjektiv  im  Gegensatz 
ZQ  dem  Ding  an  sich  des  empirischen  Objekts,  d.  i.  zu  dem 
im  transeendenten  Sinne  aufser  uns  Vorhandenen. 

Von  gewechseltem  Standpunkt  aus  heilst  es  an  anderer 
Stelle  umgekehrt,  aber  gleichfalls  im  transeendenten  Sinne: 
„Der  Unterschied  zwischen  Ding  an  sich  und  Erscheinung 
läÜBt  sich  ausdrucken  als  der  zwischen  dem  subjektiven  und 
objektiven  Wesen  eines  Dinges:  Sein  rein  subjektives  Wesen 
ist  eben  das  Ding  an  sich^.^) 

Psychologisch  und  transcendent  deutbar  ist  subjektiv  an 
folgender  Stelle:  „Alles  Objektive,  alles  [empirisch]  Äufsere, 
da  es  stets  nur  ein  Wahrgenommenes,  Erkanntes  ist,  bleibt 
aneh  immer  nur  ein  Mittelbares  und  Sekundäres,  kann  daher 
sebleehterdings  nie  der  letzte  Erklärungsgrund  der  Dinge  oder 
der  Ausgangspunkt  der  Philosophie  werden.  Diese  nämlich 
verlangt  notwendig  das  schlechthin  Unmittelbare  zu  ihrem 
Ausgangspunkt:  ein  solches  aber  ist  ofienbar  nur  das  dem 
Selbsthewulstsein   Gegebene,  das   Innere,   das  Subjektive.'^  ^) 

>)  I,  60.  *)  II,  19,  ähnlich  so  II,  223  und  II,  357. 

^)  V,  105.  *)  II,  367. 

3* 


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Insofern  dieses  Subjektive  ein  durch  das  Selbstbewofstsein 
Gegebenes  ist,  steht  es  im  psychologischen  Gegensatz  zur  Vor- 
stellang  des  äufseren  Objekts;  insofern  es  von  Schopenhauer 
metaphysisch  gedeutet  wird,  im  transeendenten  Gegensatz  zum 
äufseren  Objekt  als  Erscheinung,  analog  dem  zweiten  oben 
erörterten  Falle. 

In  welchem  Sinne  ist  nun  die  Empfindung  subjektiv,  wenn 
aus  ihr  der  Verstand  die  objektive  Anschauung  macht?  Aus- 
geschlossen ist  nach  dem  bisher  Erörterten,  dafs  hier  der  Ge- 
gensatz zwischen  dem  Subjektiven  und  Objektiven  in  dem 
erkenntnistheoretischen  Sinne  zu  nehmen  sei,  wie  wir  ihn  in 
der  Definition  der  Vorstellung  fanden:  „Man  hüte  sieh  vor 
dem  grofsen  Mifsverständnis,  dafs,  weil  die  Anschauung  dnreh 
die  Erkenntnis  der  Kausalität  vermittelt  ist,  deswegen  zwischen 
Objekt  nnd  Subjekt  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
bestehe."  i)  Die  Lehre,  dafs  der  Satz  vom  Grunde  immer  nur 
zwischen  Objekten  statthabe,  bleibt  auch  fttr  die  späteren 
Schriften  Schopenhauers  als  ein  wesentliches  Grundstück  seiner 
Lehre  bestehen. 

Auch  ein  Gegensatz  im  transeendenten  Sinne  ist  nicht 
angängig;  denn  der  Satz  vom  Grunde,  weil  beschränkt  auf 
das  Gebiet  des  Vorstellens,  gilt  nicht  fttr  die  Beziehung 
des  Dinges  an  sich  zur  Erscheinung  oder  umgekehrt  Der 
Gegensatz  zwischen  subjektiver  Empfindung  and  objek- 
tiver Anschauung  kann  erkenntniskritisch  betrachtet  werden, 
d.  h.  es  kann  gefragt  werden,  welche  Geltung  das  objektiv 
Angeschaute  fttr  unsere  Erkenntnis  des  Dinges  an  sich 
habe.  Da  aber  findet  sich  vom  Standpunkt  Schopenhauers 
aus,  das  durchaus  negative  Resultat,  dafs  in  der  objek- 
tiven Anschauung  kein  Hinweis  auf  etwas  Transcendentes 
enthalten  sei.^) 

Der  Gegensatz  zwischen  subjektiver  Empfindung  nnd  ob« 
jektiver  Anschauung  ist  somit  lediglich  ein  psychologischer. 
Prüfen  wir,  in  welchem  speziellen  Sinne  ein  psychologischer 
Gegensatz  in  Betracht  kommen  kann.  Dieser  kann  nicht 
innerhalb  des  Gebietes  der  Vorstellung  liegen;  denn  die  blofse 
Empfindung  kann,  wie  wir  fanden,  nicht  als  Vorstellung  ange- 


*)  I,  45.  «)  m,  99. 

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87 

sehen  werden.  Es  bleibt  nur  die  Annahme  ttbrig,  dafs  der 
Gegensatz  zwischen  subjektiver  nnd  objektiver  Ansehannng 
zosammenfalle  mit  dem  psychologischen  Gegensatz  der  Emp- 
findung als  körperlichem  Gefbhl,  [abgesehen  von  dessen  meta- 
physischer Bedeatnng,  nämlich  ihrer  Zugehörigkeit  zum  Willen 
ab  Ding  an  sich]  nnd  der  ans  ihr  gebildeten  Vorstellung. 
Di^er  Annahme  aber  steht  entgegen  die  Forderung,  dafs  der 
Satz  Yom  zureichenden  Grunde  nur  innerhalb  des  Gebietes  der 
Vorstellung  Geltung  habe:  „Der  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
drückt  die  Verbindung  unserer  Vorstellungen  untereinander 
aus.«  1) 

Es  möge  aber  im  folgenden  der  Versuch  einer  Zurecht- 
legang  dieses  Mifsverhältnisses  gemacht  werden:  Die  Vor- 
stellnng,  zu  der  die  blofse  Empfindung  im  Gegensatz  steht, 
könnte  vielleicht  als  Vorstellung  im  engeren  Sinne  genommen 
werden,  in  der  Weise,  dafs  sie  mit  der  blofsen  Empfindung 
als  Vorstellung  im  weiteren  Sinne  zu  vereinigen  wäre. 
Schopenhauer  setzt  an  einigen  Stellen  „Objekt"  im  engeren 
Sinne  fbr  empirisches  Objekt:  „alles  Objekt,  also  das  em- 
pirisch Reale  überhaupt."  2)  Entsprechend  könnte,  da  „Objekt- 
sein" und  „unsere -Vorstellungsein"  dasselbe  ist,  auch  Vor- 
stellnng  im  engeren  Sinne  gebraucht  sein,  so  dafs  die  Vor- 
Btellong  im  engeren  Sinne,  d.  i.  die  anschauliche  Vorstellung, 
mit  den  drei  übrigen  Klassen  von  Vorstellungen  zusammen 
das  Gebiet  der  Vorstellung  im  weitesten  Sinne  ausmachten. 
Die  blofse  Empfindung  könnte  ihrerseits  vielleicht  als  eine 
Vorstellung  der  vierten  Klasse  genommen  werden:  „Das  Sub- 
jekt erkennt  den  Willen  auch  nur  wie  die  Aufsendinge  an 
seinen  Äufserungen,  also  an  den  einzelnen  Willensakten  und 
sonstigen  Affektionen,  die  man  unter  dem  Namen  der  Wünsche, 
Affekte,  Leidenschaften  und  Gefühle  begreift,  folglich  erkennt 
es  ihn  immer  noch  als  Erscheinung  ..."  3)  Wir  könnten 
daraus  ableiten,  dafs  die  blofsen  Sinnesempfindungen,  als  Ge- 
ftkle,  auch  als  Erscheinungsformen  des  Willens,  und  somit  als 
Vorstellungen  der  vierten  Klasse  angesehen  werden  müfsten. 
Wir  würden  damit  zu  einer  Annahme  gelangen,  die  der  ur- 
sprüngiichen   Meinung  Schopenhauers   entspräche,    dafs    „die 


0  m,  40.  . »)  II,  15,  ähnUch  so  I,  86,  II,  431.  •)  V,  54. 

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38 

blofse  EmpfinduDg  schon  Yorstellnng  zu  nennen  sei",  die  Bich 
aber  von  jener  dadarch  nnterschiede,  dafs  dort  die  Empfin- 
dung Yorstellnng  genannt  wurde,  weil  sie  „keine  unmittelbare 
Bedeutung  für  den  Willen  habe",^)  hier  aber  so  genannt 
wttrde,  weil  sie  Äufserung  des  Willens  wäre.  Der  Übergang 
des  Verstandes  von  der  subjektiven  Empfindung  zu  der  ob- 
jektiven Anschauung  wttrde  bei  dieser  Zurechtlegung  inner- 
halb des  Gebietes  der  Vorstellung  bleiben. 

Dieser  Gedanke  findet  sich  bei  Schopenhauer  nicht  aus- 
gesprochen, sondern  ist  nur  mit  Mtthe  in  der  angefUhrten 
Weise  herauszuentwickeln.  Er  mufs  schon  aus  diesem  Grunde 
als  ein  nachträglicher  Versuch  einer  Harmonisierung  bestehen- 
der Widersprüche  bezeichnet  werden. 

Auch  zieht  er  andere  Widersprüche  nach  sich.  Wir  fan- 
den, dafs  die  Stellung  der  mehr  objektiven  Sinnesempfindungen 
bei  Schopenhauer  undeutlich  bestimmt  ist  Es  ist  zweifelhaft 
ob  sie,  wenn  sie  den  Willen  nicht  wie  die  übri^n  Empfin- 
dungen unmittelbar  berühren,  noch  wie  diese  als  Aufserungen 
des  Willens  angesehen  werden  können. 

Femer  würde  die  abgeleitete  Annahme  voraussetzen,  dafs 
das  Gesetz  der  Kausalität  statthabe  zwischen  Vorstellungen 
verschiedener  Klassen.  Es  würde  dann  ein  analoges,  wenn- 
gleich umgekehrtes  Verhältnis  vorliegen,  wie  für  das  Gesetz 
der  Motivation,  das  zwischen  einer  Vorstellung  nnd  einem 
Willensakte  gilt:  „Wir  wissen  aus  der  an  uns  selbst  ge- 
machten inneren  Erfahrung,  dafs  (das  Innere  der  Bewegungen 
und  Handlungen  der  Menschen)  ein  Willensakt  ist,  welcher 
durch  das  Motiv,  das  in  einer  blofsen  Vorstellung  besteht, 
hervorgerufen  wird."  2)  Nun  aber  ist  der  Geltungsbereich  der 
Kausalität  bei  Schopenhauer  enger  begrenzt:  Das  Kausalitäts- 
gesetz „bezieht  sich  allein  und  ausschliefslich  auf  Verände- 
rungen materieller  Zustände  und  schlechterdings  auf  nichts 
anderes",^)  und  „die  ganze  Kausalität  ist  nur  die  Gestalt  des 
Satzes  vom  Grunde  in  der  ersten  Klasse  der  Objekte,  also  in 
der  in  auf  serer  Anschauung  gegebenen  Körperwelt".  ^) 

Erweist  sich  aber  auch  so  die  versuchte  Annahme  als  un- 
zulänglich,  so   findet  sich  offennbar  keine  Möglichkeit,  den 


»)  I,  53.  •)  ni,  162.  »)  III,  49.  ")  III,  161 

« 

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39 

Übergang  des  Verstandes  von  der  subjektiven  Empfindung  znr 
Objektiren  Anschauung  vom  Standpunkte  Schopenhauers  aus 
psychologisch  begreiflich  zu  machen,  weil  ein  solcher  Versuch, 
wie  wir  fanden,  mit  grundlegenden  Sätzen  seiner  Lehre  in 
Widerspruch  gerät. 

Eine  andere  Frage  ist  die,  wie  der  Übergang  des  Ver- 
standes von  der  subjektiven  Empfindung  zur  objektiven  An- 
schauung im  Zusammenhange  der  Lehre  Schopenhauers  sich 
darstelle,  eine  andere  die,  wie  er  sich  dem  geistigen  Auge 
Schopenhauers  in  der  Tat  dargestellt  habe.  Letztere  seheint 
anf  folgendem  Wege  eine  Beantwortung  zu  finden. 

Schon  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Band  I,  1.  Auf- 
lage, wo  die  Einschränkung  des  Ausdrucks  ,,unmittelbares 
Objekt",  sieb  schon  findet,')  bleibt  dieser  Ausdruck,  ersicht- 
nicht  im  uneigentlichen  Sinne  angewandt,  bestehen.  „Ihre 
(der  Materie)  Einwirkung  auf  das  unmittelbare  Objekt,  das 
selbst  Materie  ist,  .  .  ."2)  Wir  stellten  fest,  dafs  in  den 
späteren  Schriften  der  Gebrauch  des  Ausdruckes  fast  ganz 
zurücktritt.  Dennoch  aber  wird  er  in  einem  Zusammenhange, 
^0  er,  im  uneigentlichen  Sinne  gebraucht,  bedeutungslos  wäre. 
Dämlich  Sehn  und  Farben,  2.  Auflage,  gesetzt.  Hier  werden 
mar  an  einigen  Stellen,  wo  in  der  1.  Auflage  „unmittelbares 
Objekt^  steht,  andere  Ausdrucke  gebraucht,  so  statt  „Affektion 
des  unmittelbaren  Objektes"  „empfundene  Affektionen",  3)  statt 
rUnmittelbare  Objekte"  „Sinne",*)  statt  „Affektion"  „emp- 
fundene Affektion", ^)  was  alles  anf  eine  psychologisch  ge- 
änderte Betrachtungsweise  hindeutet.  Aber  es  bleibt  der  Satz: 
nMittelst  derselben  (der  Erkenntnis  des  Gesetzes  der  Kausalität) 
werden  die  Empfindungen  des  Leibes  der  Ausgangspunkt  ftlr 
die  Anschauung  einer  Welt,  indem  nämlich  das  a  priori  uns 
bewnJste  Gesetz  der  Kausalität  angewandt  wird  auf  das  Ver- 
hältnis des  unmittelbaren  Objekts,  des  Leibes,  zu  den  anderen 
nur  mittelbaren  Objekten."  e) 

0  1.  Auflage  S.  29.  3.  Auflage  I,  53. 

^  1.  AnfUge  S.  11.  3.  Auflage  I,  40. 

>)  1.  Auflage  S.  22.  2.  Auflage  VI,  31. 

*)  1.  Auflage  S.  26.  2.  Auflage  VI,  34. 

>)  1.  Auflage  S.  22.  2.  Auflage  VI,  31.  •)  VI,  22. 


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40 

Schwerwiegender  noch  als  dies  ist,  dafs  der  Verstand  znr 
Bestimmung  des  Ortes  des  Objekts  im  Ranme  sich  der  Bei- 
hilfen bedient,  die  in  den  Empfindungen  selbst  liegen,  und  die 
in  Wirklichkeit  nur  physiologische  Verhältnisse  sind,  von  denen 
die  Empfindungen  ein  Bewufstsein  liefern  sollen. 

Die  angeführten  Momente,  zusammen  mit  der  Unmöglich- 
keit einer  psychologischen  Erklärung,  drängen  den  Gedanken 
auf,  dafs  Schopenhauer,  indem  er  sagt,  der  Verstand  schaffe 
aus  der  subjektiven  Empfindung  die  objektive  Anschauung,  in 
der  Tat  einen  Übergang  vom  Sinnesorgan  zum  äufseren  Objekt 
vor  Augen  habe.  So  wird  verständlich,  wie  Schopenhauer  dazu 
kommt,  statt  „des  Ausgehens  von  der  Empfindung''  unbedenklich 
„das  Ausgehen  von  dem  unmittelbaren  Objekt  d.  i.  dem  Leib'' 
zu  setzen;  sodann  auch,  dafs  der  Verstand  fUr  die  Anordnung 
des  Objekts  im  Räume  in  der  Gesichtsempfindung  gewisse 
Beihilfen  findet:  Indem  Schopenhauer  Gesichtsempfindung  sagt, 
hat  er  die  Retina  und  damit  die  physiologischen  Eigentümlich- 
keiten des  Auges  vor  seinem  geistigen  Blick.  Von  hier  ans 
fällt  auch  ein  Licht  auf  den  Ausdruck,  der  uns  in  der  ersten 
Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  begegnet  ist,  nämlich  „das 
unmittelbare  Objekt  im  Räume".  0 

Diese  Anschauungsweise  Schopenhauers  ist  freilich  mit 
den  Grundzttgen  seiner  Theorie  nicht  vereinbar;  denn  die 
Identität  von  Sinnesempfindung  und  Erregung  im  Sinnesorgan 
ist,  wie  wir  nachwiesen,  fttr  Schopenhauer  nur  eine  meta- 
physische. Jenes  Einfliefsen  physiologischer  Daten  als  psycho- 
logischer erscheint  also,  vom  Standpunkte  der  Lehre  Schopen- 
hauers aus  gesehen,  als  ein  unberechtigtes  Ineinssetzen  des 
metaphysisch  Identischen  mit  einem  fttr  das  Bewufstsein  Iden- 
tischen. 

Endlich  verstehen  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
auch,  dafs  die  Frage  nach  der  Einordnung  der  blofsen  Emp- 
findung in  den  Bestand  des  psychologisch  Fafsbaren  für 
Schopenhauer  keine  sehr  brennende  ist.  Der  von  der  An- 
schauung erfüllte  Denker  hat  als  selbstverständliche  Tatsache 
zunächst  vor  Augen,  dafs  die  Empfindung  im  Sinnesorgan  sei, 
und  der  Verstand  von  diesem  aus  den  Übergang  zum  äufseren 


0  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Qrande  S.  53. 


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41 

Objekt  mache.  Nachträgliche  theoretische  Erwägungen  lassen 
ihn  dann  sagen,  dafs  das  nnmittelbare  Objekt  nnr  im  nneigent- 
liehen  Sinne  zu  nehmen  sei,  dafs  die  Empfindung  „noch  nicht 
Vonitellung  genannt  werden  könne^^  und  dafs  „die  rein  ob- 
jektiven Sinne  den  Willen  unberührt  lassen".  Eine  rein  psycho- 
logische Betrachtungsweise  dieser  Verhältnisse  liegt  Schopen- 
hauer im  Grunde  fern. 


YL   Die  formalen  Bestandteile  der 
empirischen  Anschauung. 

Materie.    Körper.   Naturkraft.   Naturgesetz. 

Der  Gang  unserer  Darstellung  führt  uns  zu  den  formalen 
Bestandteilen  der  empirischen  Anschauung.  Als  solche  nennt 
Schopenhauer  im  Satz  vom  Grunde  i)  im  Anschlufs  an  Kant 
Zeit  und  Raum,  zu  denen  als  weitere  subjektive  Bedingung 
die  Kausalität  kommt.  Schon  in  der  ersten  Auflage  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Band  I,  und  vielfach  später- 
hin nennt  Schopenhauer  als  Formen  der  empirischen  An- 
schauung schlechthin  Zeit,  Raum  und  Kausalität,  ohne  dafs 
mit  diesem  etwas  anderen  Sprachgebrauch  Sachliches  geändert 
würde.  Im  Unterschied  von  der  ersten  Auflage  des  Satzes 
vom  Grunde  ist  in  den  Schriften  von  der  ersten  Auflage  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Band  I,  an  die  Kausalität  die 
einzige  Kategorie,  die  von  den  zwölf  Kategorien  Kants  bei- 
behalten wird.  Näheres  darttber  siehe  in  dem  Abschnitt  der 
?orliegenden  Schrift  ttber  „Die  blofsen  Empfindungen ^^ 

Über  den  Ursprung  dieser  Formen  ist  zunächst  das,  was 
in  metaphysisch-psychologischem  Sinne  gesagt  wird,  in  Er- 
innerung zu  bringen.  Wir  haben  es  im  Zusammenhange  mit 
den  Empfindungen  schon  erörtert. 

Psychologisches  erfahren  wir  über  den  Ursprung  dieser 
Fonnen  folgendes:    „Die  wesentlichen  und  daher  allgemeinen 

0  UI,  41.    1.  Auflage  S.  29. 

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42 

Formen  alles  (änfsereD)  Objekts,  welche  Zeit,  Raum  und 
Kausalität  sind,  können  auch  ohne  die  Erkenntnis  des  Objekts 
selbst,  vom  Snbjekt  ausgehend  gefunden  und  vollständig  er- 
kannt werden,  d.  h.  in  Kants  Sprache,  sie  liegen  a  priori  in 
unserm  Bewufstsein.^  ^)  „Sie  sind  ihrer  ganzen  Gesetzmäfsig- 
keit  und  der  Möglichkeit  ihrer  Formen  nach,  in  unserem  Be- 
wnfstsein  vorhanden,  ganz  unabhängig  von  den  Objekten,  die 
in  ihnen  erscheinen,  die  ihren  Inhalt  ausmachen,  oder  mit 
anderen  Worten:  sie  können  ebensowohl,  wenn  man  vom 
Subjekt,  als  wenn  man  von  dem  Objekt  ausgeht,  gefunden 
werden/'^)  „Sie  mttssen  schon  mit  dem  blofsen  Gegensatz 
von  Subjekt  und  Objekt  (nicht  im  Begriff,  sondern  in  der 
Tat)  gegeben  sein,  folglich  nur  die  nähere  Bestimmung  der 
Form  der  Erkenntnis  überhaupt  sein,  deren  allgemeinste  Be- 
stimmung jener  Gegensatz  selbst  ist/^  ^)  Zeit  und  Raum 
„sind  als  reine  Anschauungen  fttr  sich  und  abgesondert 
von  den  vollständigen  Vorstellungen  .  .  .  Gegenstände  des 
Vorstellungs Vermögens ".4)  ,.  Hingegen  ist  die  Verstandesform 
der  Kausalität  nicht  für  sich  und  abgesondert  ein  Gegen- 
stand des  Vorstellungsvermögens,  sondern  kommt  erst  mit 
und  an  dem  Materiellen  der  Erkenntnis  ins  Bewufstsein."  ^) 
Sie  ist  ein  „Gesetz,  dessen  bestimmten  Inhalt  die  Er- 
fahrung gelehrt  hat,  dessen  allgemeine  Form  und  Not- 
wendigkeit jedoch  unabhängig  von  ihr  uns  bewufst  ist".«)  In 
der  Annahme  der  Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit  stützt 
sich  Schopenhauer  auf  Kant:  „Die  Zeit,  die  erste  Bedingung 
der  Möglichkeit  jeder  Veränderung,  also  auch  der,  auf  deren 
Anlafs  die  Anwendung  des  Kausalitätsbegriffs  erst  eintreten 
kann,  nicht  weniger  der  Raum,  welcher  das  Nach -aussen- 
verlegen  einer  Ursache  . . .  allererst  möglich  macht,  ist,  wie 
Kant  sicher  dargetan  hat,  eine  subjektive  Form  des  In- 
tellekts".7) 

Den  von  Kant  aufgestellten  Beweis  der  Apriorität  des 
Kausalgesetzes  bestreitet  Schopenhauer:  „Wirklich  liegt  in  der 
Notwendigkeit  eines  von  der  empirisch  allein  gegebenen  Sinnes- 
empiindung  zur  Ursache  derselben  zu  machenden  Überganges, 

^)  I,  36.  «)  I,  174.  »)  I,  175.  *)  m,  147. 

»)  III,  148.  •)  I,  147.  ')  III,  98. 


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48 

damit  es  znr  AuBchaniing  der  Aafsenwelt  komme,  der  einzige 
echte  Beweiflgrand  dayon,  dafs  das  Gesetz  der  Kausalität  vor 
aller  Erfahrung  uns  bewnfst  ist.  Daher  habe  ich  diesen 
Beweis  dem  Eantischen  substitnirt,  dessen  Unrichtigkeit  ich 
dargetan  hatte  ^.i)  Zu  diesem  auf  eine  logische  Tatsache,  die 
Denknotwendigkeit  der  Beziehung  zwischen  Wirkung  und 
Ursache,  gestützten  Beweise  tritt  in  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung Band  II  ein  physiologischer  Nachweis:  „Physiologische 
Bestätigung  erhält  die  hier  dargelegte  Intellektualität  der 
Anschauung  durch  Flourens  .  .  .'^^)  In  der  Wtlrdigung  der 
historischen  Grundlagen  der  von  uns  behandelten  Lehre  Schopen- 
hauers werden  wir  auf  diesen  Punkt  näher  eingehen. 

Über  den  Bestand  dieser  Formen  ist  im  allgemeinen  dies 
ZQ  sagen:  Die  reinen  Anschauungen  Zeit  und  Kaum  machen 
die  dritte  Klasse  der  Gegenstände  für  das  Yorstellnngs- 
vermögen  aus. 

Auf  dieselben  und  die  in  ihr  herrschende  Form  des  Satzes 
vom  Grunde  näher  einzugehen,  würde  den  Rahmen  dieser 
Schrift  ttberschreiten. 

Über  den  Bestand  der  dritten  Form,  die  Kausalität,  ist 
zunächst  zu  bemerken:  Die  Kausalität  ist  ein  Gesetz,  „dessen 
bestimmten  Inhalt  die  Erfahrung  gelehrt  hat,  dessen  allgemeine 
Form  und  Notwendigkeit  jedoch,  unabhängig  von  ihr  uns 
bewnist  ist".^)  Als  solche  ist  sie  keine  Anschauung,  aber  auch 
kein  Begriff  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  nimmt  als  Funktion 
des  Verstandes  eine  Sonderstellung  ein.  Dafs  sie  auch  kein 
Begriff  sein  soll,  geht  aus  folgenden  Stellen  hervor:  „Diese 
Beziehung  (zwischen  Ursache  und  Wirkung)  ist  kein  Schlufs 
in  abstracten  Begriffen,  geschieht  nicht  durch  die  Reflexion 
. . .  sondern  unmittelbar  ...  Sie  ist  die  Erkenntnisweise  des 
reinen  Verstandes".*)  „Die  Verstandesoperation  ist  keine 
diskursive,  reflexive,  in  abstracto,  mittels  Begriffen  und  Worten 
vor  sich  gehende,  sondern  eine  intuitive  und  ganz  unmittel- 
bare."^) „Das  Gesetz  der  Kausalität  ist  als  abstracter  Grund- 
99tz  freilieh,  wie  alle  Grundsätze  in  abstracto,  Reflexion,  also 
Objekt   der   Vernunft:    Aber    die   eigentliche   lebendige,   un- 


0  n,  49.         .   •)  DI,  90.  »)  1,147.  *)  I,  48.  »)  lU,  67. 

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44 

vermittelte,  notwendige  Erkenntnis  des  Gesetzes  der  Kausalität 
geht  aller  Reflexion  wie  aller  Erfahrung  vorher  nnd  liegt 
im  Verstände."  1) 

Nach  diesen  Erörterungen  erttbrigt  eine  solehe  über  den 
psychologischen  Zusammenhang  dieser  Formen  untereinander. 
Da  dieser  bei  Schopenhauer  aus  ihren  logischen  Beziehungen 
abgeleitet  ist,  so  ist  es  notwendig,  diese  zuerst  zu  erörtern. 

Diese  logischen  Beziehungen  gelangen  in  folgendem  zum 
Ausdruck:  „Das  Gesetz  der  Kausalität  erhält  seine  Bedeutung 
und  Notwendigkeit  allein  dadurch,  dafs  das  Wesen  der  Ver- 
änderung nicht  allein  im  blofsen  Wechsel  der  Zustände  an 
sich,  sondern  vielmehr  darin  besteht,  dafs  an  demselben  Ort 
im  Raum  jetzt  ein  Zustand  ist  und  darauf  ein  anderer,  und 
zu  einer  und  derselben  bestimmten  Zeit  hier  dieser  Zustand 
und  dort  jener:  Nur  diese  gegenseitige  Beschränkung  der  Zeit 
und  des  Raumes  durcheinander  gibt  einer  Regel,  nach  der  die 
Veränderung  vorgehen  mufs,  Bedeutung  und  zugleich  Not- 
wendigkeit. Was  durch  das  Gesetz  der  Kausalität  bestimmt 
wird,  ist  also  nicht  Sukzession  der  Zustände  in  der  blofsen 
Zeit,  sondern  die  Sukzession  in  Hinsicht  auf  einen  bestimmten 
Raum,  und  nicht  das  Dasein  der  Zustände  an  einem  bestimmten 
Ort,  sondern  an  diesem  Ort  zu  einer  bestimmten  Zeit.  Die 
Veränderung,  d.  h.  der  nach  den  Kausalgesetz  eintretende 
Wechsel,  betrifft  also  jedesmal  einen  bestimmten  Teil  des 
Raumes  imd  einen  bestimmten  Teil  der  Zeit  zugleich  und  im 
Verein.  Demzufolge  vereinigt  die  Kausalität  den  Raum  mit 
der  Zeit." 2)  Letzterer  Satz,  wenn  er  im  logischen  Sinne  und 
wörtlich  genommen  wird,  ist  gleichbedeutend  mit  dem  Satze: 
Der  Begriff  der  Kausalität  enthält  als  eines  seiner  Merkmale 
die  Beziehung  des  Nebeneinander  zum  Nacheinander.  Nun 
aber  sind,  was  in  die  Beziehung  von  Ursache  und  Wirkung 
gesetzt  wird,  die  Veränderungen.  Die  Veränderung  begreift 
eine  Beziehung  des  Nebeneinander  zum  Nacheinander.  Aber 
diese  ist  keine  kausale.  Also  kann  nicht  gefolgert  werden, 
dafs  der  Begriff  Kausalität  die  Beziehung  von  Raum  und  Zeit 
enthalte,   in    diesem    Sinne   Raum   und   Zeit   vereinige.     Im 

>}  VI,  22  (1.  Auflage  von  Sehn  und  Farben  S.  18).  >)  1, 41. 

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45 

logisehen  Sinne  also  genommen,  enthält  der  besprochene  Satz 
eine  Ungereimtheit  Dagegen  ist  er,  yom  Standpunkte  Sehopen- 
haners  aas  im  psychologischen  Sinne  genommen,  zu  verstehen: 
Die  Kausalität,  gemeint  ist  der  Verstand,  bezieht  die  Ursache, 
die  er  zur  blofsen  Empfindung  als  der  Wirkung  setzt,  auf 
Raum  und  Zeit;  er  verknüpft  räumliche  und  zeitliche  Be- 
stimmungen in  der  Vorstellung  des  äufseren  Objekts.  Nun 
aber  schiebt  sieh  in  der  Tat  an  der  angeführten  Stelle  und 
in  der  weiteren  Deduktion  der  genannte  Satz  als  in  logischem 
Sinne  genommen  unbesehen  unter,  was  auch  von  Bedeutung 
für  den  Begriff  Materie  ist. 

Die  logischen  Beziehungen  von  Raum,  Zeit  und  Kausalität 
fliefsen  zusammen  in  dem  Begriff  Materie.  Die  Merkmale 
dieses  Begriffes  werden  in  folgenden  Gedankenreihen  ab- 
geleitet: 

Die  erste  Gedankenreihe  stellt  sich  dar  als  eine  Deduktion 
aas  dem  Begriffe  der  Kausalität. 

„Wer  diejenige  Gestaltung  des  Satzes  vom  Grunde,  welche 
den  Inhalt  jener  Formen  (der  Zeit  und  des  Baumes),  ihre 
Wahrnehmbarkeit,  d.  i.  die  Materie,  beherrscht,  also  das  Gesetz 
der  Kausalität  erkannt  hat;  der  hat  eben  damit  das  ganze 
Wesen  der  Materie  als  solcher  erkannt:  Denn  diese  ist  durch 
und  durch  nichts  als  Kausalität.**  >)  Dieser  Satz  ist  ab- 
geleitet aus  folgendem:  „Ihr  Sein  nämlich  ist  ihr  Wirken^, 
und  dieser  Satz  letzten  Grundes  aus  dem  nachstehenden: 
„Ihre  Einwirkung  auf  das  unmittelbare  Objekt  (das  selbst 
Materie  ist)  bedingt  die  Anschauung,  in  der  sie  allein 
existirt:  Die  Folge  der  Einwirkung  jedes  andern  materiellen 
Objekts  auf  ein  anderes  wird  nur  erkannt,  sofern  das  letztere 
jetzt  anders  als  zuvor  auf  das  unmittelbare  Objekt  einwirkt, 
besteht  nur  darin ".«) 

Diese  Beweisführung,  besonders  der  letzte  Satz  läfst 
deutlich  erkennen,  dals  der  Grund,  auf  den  hier  die  Deduktion 
folst,  die  psychologische  Tatsache  des  Zustandekommens  der 
angeschauten  Welt  durch  die  kausalbeziehende  Funktion  des 
Verstandes  ist     Genau  betrachtet  findet  also  die  Deduktion 


»)  I,  39.  •)  I,  40. 


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46 

Btatt  aus  der  Art  der  Kausalität,  die  fUr  das  Zustandekommen 
der  empirischen  Anschauung  malsgebend  ist.  Daraus  würde 
folgender  erkenntnistheoretische  Schluls  herflieXsen:  Die  reale 
Welt  wird  als  seiend  erkannt  nur,  indem  sie  als  auf  uns  wirkend 
erkannt  wird.    Ihr  Sein  für  uns  ist  also  ihr  Wirken  auf  uns. 

Nun  aber  schiebt  sich  in  der  oben  angefUhrten  Argumen- 
tation das  unmittelbare  Objekt  als  in  objektivem  Sinne  ge- 
nommen unter:  ,,Das  unmittelbare  Objekt,  welches  selbst 
Materie  ist." 

Damit  wird  von  Schopenhauer  die  kausale  Beziehung  der 
äufseren  Objekte  zum  unmittelbaren  Objekt  der  kausalen  Be- 
ziehung der  äufseren  Objekte  untereinander  koordiniert;  dadurch 
aber  verliert  der  Schlufs  seine  erkenntnistheoretische  Bedeutung 
und  erhält  die  logische  der  Gattungsbestimmung  zu  allem 
konkreten  Wirken:  „Das  Wesen  [der  Begriff]  der  Materie  ist 
Kausalität."   . 

Der  Gang  der  Deduktion  stellt  sich  in  folgender  Schlub- 
reihe  dar: 

Das  Sein  jeden  äufseren  Objektes,  einschliefslich  seines 
Wirkens  auf  ein  anderes  äufseres  Objekt,  besteht  in  seinem 
Wirken  auf  das  unmittelbare  Objekt. 

Die  Gesamtheit  der  äufseren  Objekte  ist  Materie. 

Das  Sein  der  Materie  besteht  in  ihrem  Wirken  auf  das 
unmittelbare  Objekt. 

Dieses  ist  selbst  Materie. 

Das  Sein  der  Materie  besteht  im  Wirken  auf  andere 
Materie.  Ihr  Wesen  (Begriff*)  besteht  im  Wirken  überhaupt, 
in  der  Kausalität. 

Die  zweite  Gedankenreihe  stellt  sich  dar  als  eine  De- 
duktion aus  den  Formen  Raum  und  Zeit: 

Die  Beziehung  des  Nebeneinander  im  Baume  zum  Nach- 
einander in  der  Zeit  macht  für  Schopenhauer  das  wesentliche 
Merkmal  des  Begriffs  Zugleichsein  aus.  Daraus  folgt  unmittel- 
bar die  Dauer  im  Gegensatz  zum  Wechsel  des  damit  zugleich 
Vorhandenen,  hieraus  auf  Grund  einer  erkenntnistheoretischeo 
Wendung  des  Gedankens  das  Dauernde  im  Wechsel  der  Za- 


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i1 

stände.    Jenes  ist  die  Materie,  diese  sind  die  Veränderungen 
ihrer  Formen  and  Qualitäten. 

Dieser  (xedankengang  enthält  folgenden  Schlafs: 
Die  Materie  ist  das  Beharrende  im  Wechsel  der  Zustände. 
Das  Beharrende  begreift  eine  Vereiniguag  von  Raum  und 
Zeit  in  sich. 

Das  Wesen  (Begriff)  der  Materie  ist  die  Vereinigung  von 
Raom  und  Zeit 

Der  Begriff  der  Materie,  als  des  Beharrenden,  vereinigt 
somit  Raum-  und  Zeitbestimmungen  in  sich: 

qDas  Zugleichsein  der  Zustände  macht  eigentlich  das  Wesen 
der  Wirklichkeit  aus:  Denn  durch  dasselbe  wird  allererst  die 
Dauer  möglieb,  indem  nämlich  diese  nur  erkennbar  ist  an  dem 
Wechsel  des  mit  dem  Dauernden  zugleich  Vorhandenen;  aber 
aoeh  nur  mittelst  des  Dauernden  im  Wechsel  erhält  dieser  jetzt 
den  Charakter  der  Veränderung,  d.  h.  des  Wandels  der  Qualität 
and  Form,  beim  Beharren  der  Substanz,  d.  i.  die  Materie.'*  ^) 
„Erst  durch  die  Vereinigung  von  Zeit  und  Raum  erwächst  die 
Materie,  d.  i.  die  Möglichkeit  des  Zugleichseins  und  dadurch 
der  Dauer,  durch  diese  wieder  des  Beharrens  der  Substanz, 
bei  der  Veränderung  der  Zustände."  ^)  „Auf  dieser  Ableitung 
der  Grundbestimmungen  der  Materie  aus  den  uns  a  priori  be- 
wuTgteD  Formen  unserer  Erkenntnis  beruht  es,  dafs  wir  ihr 
gewisse  Eigenschaften  a  priori  zu  ererkennen,  nämlich  Raum- 
erfttlluDg,  d.  i.  Undurchdringlichkeit,  d.  i.  Wirksamkeit,  sodann 
Ausdehnung,  unendliche  Teilbarkeit,  Beharrlichkeit,  d.  h.  Un- 
zerstörbarkeit, und  endUch  Beweglichkeit"^) 

Die  Beziehung  der  beiden  angefahrten  definitorischen  Be- 
stimmungen zu  einander  ergibt  sich  aus  folgenden  Schlüssen: 

1.  „Die  Kausalität  vereinigt  den  Raum  mit  der  Zeit". 

„Im  Wirken,  also  in  der  Kausalität,  besteht  das  ganze 
Wesen  der  Materie." 

„Folglich  müssen  auch  in  dieser  Raum  und  Zeit  vereinigt 
8eio".4) 

0  1, 41.         •)  1, 42.         »)  1, 42  (Zusatz  zur  1.  Auf  läge).         *)  1, 41. 

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48 

2.  „Die  Kausalität  vereinigt  den  Ranm  mit  der  Zeit,^ 

„Das  Wesen  der  Materie  besteht  in  der  gänzlichen  Ver- 
einigung von  Raum  und  Zeit.^ 

Die  Materie  ist  Kausalität,  i) 

Wir  fanden  also  bisher: 

Der  Begriff  Materie  enthält 
als  erstes  Merkmal:  das  der  Kausalität, 
als  zweites  Merkmal:  das  der  Vereinigung  von  Baum  und  Zeit 

Das  erste  ist  ein  logisches:  es  enthält  den  Gattungsbegriff 
zu  allem  besonderen  Wirken.  Das  zweite  ist  gleichfalls  ein 
logisches:  es  enthält  die  Beziehung  zweier  „Formen"  zueinander. 
Dazu  kommt  ein  drittes,  ein  erkenntnistheoretisches:  es  enthält 
die  objektive  Geltung  des  Begriffs  Materie  im  empirischen 
Angeschauten  überhaupt: 

Das  erste  Merkmal,  in  Beziehung  gedacht  zur  empirischen 
Anschauung,  stellt  sich  dar  als  „die  objektivierte,  das  heiTst 
als  die  nach  aufsen  projicirte  Yerstandesfunktion  der  Kau- 
salität", 2)  kurz  „die  Kausalität  objektiv  gedacht".»)    (3  a) 

Das  zweite  Merkmal  stellt  sich  dar  als  „das  Beharrende 
im  Wechsel  der  Zustände".«)    (3b) 

Beide  fliefsen  zusammen  in  dem  Urteil:  „Die  Materie  ist 
die  keinem  Werden  und  Vergehen  unterworfene  Grundlage 
aller  Dinge."    (3  c) 

Der  Gedanke  3  a  tritt,  wie  wir  fanden,  in  der  Deduktion 
des  ersten  Merkmals  zurück.  Der  Gedanke  3  b  ist  in  der 
Deduktion  des  zweiten  Merkmals  schon  mit  ausgesprochen, 
insofern  nämlich  dort  von  Zuständen  der  beharrenden  Materie 
geredet  wird. 

Der  Satz  3c  wird  in  folgender  Weise  abgeleitet: 

a)  „Die  Kausalität  erstreckt  sich  nur  auf  Veränderungen. 
Die  Materie  ist  der  Träger  aller  Veränderungen. 

Die  Kausalität  läfst  die  Materie  unberührt."  &) 


>)  So  der  Sache  nach  I,  602.  «)  V,  119.  »)  U,  358. 

*)  I,  623,  ähnlich  I,  41,  42,  V,  119.  »)  III,  58. 


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49 

Daraus  wird  positiv  gewandt:  Sie  erscheint  nnserm  Be- 
wafstsein  als  die  keinem  Werden  und  Vergehen  unterworfene, 
mithin  immer  gewesene,  immer  bleibende  Grundlage  aller 
Dinge."!) 

ß)  Der  Schlufssatt  des  Syllogismus  a  wird  aueh  in  folgender 
Weise  abgeleitet: 

Materie  =  Wirken  =  Kausalität 

„Kausalität  kann  nicht  auf  sich  selbst  angewandt  werden." 

„Die  Materie  ist  der  Kausalität  nicht  unterworfen."^) 
Die  Scheidung  der  logischen  Bestimmungen  und  der 
erkenntnistheoretischen  ist  deutlich  aus  folgender'  Stelle  heraus- 
zulesen: „Das  ganze  Wesen  der  Materie  besteht  im  Wirken: 
Kur  durch  dieses  erfallt  sie  den  Raum  und  beharrt  sie  in  der 
Zeit:  sie  ist  durch  und  durch  Kausalität  Mithin,  [erkenntuis- 
theoretisch  gewandt]  wo  gewirkt  wird,  ist  Materie,  und  das 
Materielle  ist  das  Wirkende  überhaupt"')  Dort  also:  die 
Materie  ist  Kausalität,  ist  Wirken  Überhaupt;  hier:  die  Materie 
ist  das  Wirkende  überhaupt. 

In  dem  Satze  3  c  ist  eine  der  Erweiterung,  die  wir  in  der 
Deduktion  des  ersten  Merkmals  fanden,  entsprechende  Ver- 
engerung des  Begriffs  Kausalität  festzustellen.  Dies  ist  aus 
folgender  AusfbhruDg  ersichtlich:  „Unter  Materie  denken  wir 
das,  was  noch  übrig  bleibt,  wenn  wir  sie  von  ihrer  Form  und 
allen  ihren  specifischen  Qualitäten  entkleiden,  welches  eben 
deshalb  in  allen  Körpern  ganz  gleich,  eins  und  dasselbe  sein 
mnis.  Jene  von  uns  aufgehobenen  Formen  und  Qualitäten 
nun  aber  sind  nichts  anderes,  als  die  besondere  und  speciell 
bestimmte  Wirkungsart  der  Körper,  welche  eben  die  Ver- 
Bchiedenlieit  derselben  ausmacht.  Daher  ist,  wenn  wir  davon 
absehen,  das  dann  noch  Übrigbleibende  die  blofse  Wirksamkeit 
überhaupt,  das  reine  Wirken  als  solches,  die  Kausalität  selbst 
objektiv  gedacht  Daher  läfst  die  Materie  sich  blofs  denken: 
Sie  ist  ein  zu  jeder  Realität  als  ihre  Grundlage  Hinzugedachtes."  ^) 


»)  I,  602,  ilmfich  so  lU,  56,  III,  67,  IH,  99,  H,  357,  V,  119. 
*)  U,  62  und  III,  99. 
>)  II,  358. 
0m,99. 
PUlotophlflehi»  AbhaadlvDfm.    ZLH.  4 


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50 

Der  Sehlnlüssatz  ist  nur  verBtändlich,  wenn  Wirksamkeit  als 
Wirksamkeit  auf  ans,  das  ist,  mit  Schopenhaner  zu  reden,  auf 
„das  unmittelbare  Objekt",  dieses  subjektiv  genommen,  ver- 
standen wird. 

Diese  Einschränkung  findet  sieh  schon  in  einer  Bemerkung 
der  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde:  „Durch  die  Kategorie 
der  Kausalität  allein  erkennen  wir  die  Objekte  als  wirklich, 
das  ist  auf  uns  wirkend."  i) 

In  diesem  Sinne  ist  auch  folgende  Ausführung  zu  ver- 
stehen: „Die  Materie  ist  die  objektiv  aufgefalste  Kausalität 
selbst,  indem  ihr  ganzes  Wesen  im  Wirken  überhaupt  besteht, 
sie  selbst  also  die  Wirksamkeit  (energeia  =  Wirklichkeit)  der 
Dinge  überhaupt  ist,  gleichsam  das  Abstractum  alles  ihres  ver- 
schiedenartigen Wirkens  ...  Sie  hat  keine  anderen  Attribute  als 
das  Dasein  selbst  überhaupt  und  abgesehen  von  aller  näheren 
Bestimmung  desselben."'^)  Der  Ausdruck  „gleichsam  das  Ab- 
straktum"  ist  in  diesem  Znsammenhange  zu  interpretieren  als 
nicht  auf  das  im  logischen  Sinne  Gemeinsame  gehend,  sondern 
auf  das,  was  allen  besonderen  Wirkungsarten  im  erkenntnis- 
theoretischen  Sinne  gemeinsam  ist;  dies  ist  ihre  Beziehung 
auf  das  anschauende  Subjekt. 

Die  dargelegte  Schlufsreihe  möge  durch  folgendes  Schema 
deutlich  gemacht  werden: 

A.  Logisch. 

Kausalität  vereinigt  Raum  und  Zeit 
Materie  =  Wirksamkeit  über-  -    •    Materie  =  Vereinigung-  von 

haupt     Raum  und  Zeit 

Die  Identität  von  A^  und  A3  erschlossen  aus  Aj. 

B.  Erkenntnistheoretisch. 

Kausalität  betrifft  nur  Veränderungen. 
Materie = Kausalität,  objektiv        Materie  =  Beharrendes  im 
gedacht.  Wechsel  der  Zustände. 

Materie  =  keinem  Werden  und  Vergehen  unterworfene  objektive 
Grundlage  alles  Seins. 

0  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Grande,  S.  54.  >)  11,59. 

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51 

Fassen  wir  die  Bestimmimgen  znsammeD,  die  dem  Begriff 
Materie,  wie  er  bisher  definiert  wurde,  zukommen,  so  können 
wir  sagen:  Die  Materie  vereinigt  in  ihrem  Begriff  Raum  and 
Zeitbestimmangen.  Das  beide  vereinigende  Begrifibmerkmal 
ist  Wirksamkeit  Dieses  ist  insofern  das  einzige  Merkmal  des 
Begriffs  Materie;  in  ihm  ist  die  Bestimmung  „objektive  Grnnd- 
lage  alles  realen  Seins^,  mitgedacht 

Aus  diesem  Begriffe  der  reinen  Materie  gewinnt  nmi 
Sehopenhaner  doreh  ein  abstrahere  ab  aliqna  re  einen  Begriff, 
den  er  als  gleichbedeutend  setzt  mit  Substanz:  „Von  diesem 
Begriff  der  Materie  ist  nun  Substanz  wieder  eine  Abstraktion, 
folglich  ein  höheres  Genus  und  ist  dadurch  entstanden,  dafs 
man  von  dem  Begriff  der  Materie  nur  das  Prädikat  der  Be- 
harrlichkeit stehen  liefs.  Alle  ihre  ttbrigen  wesentlichen 
Eigenschaften,  Ausdehnung,  Undurchdringlichkeit,  Teilbarkeit 
usw.  aber  wegdachtet  ^  Mit  dem  Prädikat  der  Beharrlichkeit 
kommt  der  Substanz  auch  das  Prädikat  der  objektiven  Unter- 
lage alles  Realen  zu:  „Die  Beharrlichkeit  der  Substanz,  d.i. 
der  Materie  [in  dem  begrenzten  Sinne]  .  .  .  leite  ich  davon 
ab,  dals  .  •  .  das  Gesetz  der  Kausalität  .  .  .  ganz  wesent- 
lich nur  die  Veränderungen,  d.  h.  die  sukzessiven  Zustände 
der  Materie  betrifft,  also  auf  die  [spezielle]  Form  beschränkt 
ist,  die  Materie  aber  unangetastet  läfst,  welche  daher  in 
uns^em  Bewulstsein  als  die  keinem  Werden  und  Vergehen 
unterworfene,  mithin  inmier  gewesene  und  immer  bleibende 
Grundlage  aller  Dinge  dasteht  ^^.2) 

In  dieser  inhaltsärmeren  Bedeutung  gebraucht  Schopen- 
hauer an  einigen  Stellen  auch  ohne  besondere  Erklärung  das 
Wort  Materie:  „Alle«  Objekt,  also  das  empirisch  Reale  ttber- 
haupt,  ist  durch  das  Objekt  zwiefach  bedingt;  erstlich  materiell 
oder  als  Objekt  überhaupt,  weil  ein  objektives  Dasein  nur 
einem  Subjekt  gegenüber  und  als  dessen  Vorstellung  denkbar 
ist,  zweitens  formell,  indem  die  Art  und  Weise  der  Existenz 
des  Objekts,  d.  h.  des  Vorgestelltwerdens  (Raum,  Zeit,  Kausalität), 
Tom  Subjekt  ausgeht,  im  Subjekt  praedisponirt  ist.^  Femer: 
„Berauben  wir  nun  das  Subjekt  aller  näheren  Bestimmungen 
und  Formen   seines  Erkennens,   so    verschwinden   auch   am 


0  1, 624  «)  I,  602. 

4* 


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52 

Objekt  alle  Eigenschaften,  and  nichts  bleibt  ttbrig  als  die 
Materie  ohne  Fonn  und  Qualität,  welche  in  der  Erfahmng  so 
wenig  vorkommen  kann,  wie  das  Subjekt  ohne  Formen  seines 
Erkennens,  jedoch  dem  nackten  Subjekt  als  solchem  gegen- 
über stehen  bleibt,  als  sein  Reflex,  der  nur  mit  ihm  zugleich 
verschwinden  kann.  Denn  wenn  auch  der  Materialismus  nichts 
weiter  als  diese  Materie,  etwa  Atome,  zu  postuliren  w&hnt: 
So  setzt  er  doch  unbewulst  nicht  nur  das  Subjekt,  sondern 
auch  Raum,  Zeit  und  Kausalität  hinzu,  die  auf  speciellen  Be- 
stimmungen des  Subjekts  beruhen''.^) 

Der  inhaltsärmere  Begriff  der  reinen  Materie  unterscheidet 
sich  von  demjenigen,  aus  dem  er  abstrahirt  ist,  auch  inbezug 
auf  Raum  und  Zeit:  Dieser  enthält  die  Bestimmung  der  Aus- 
dehnung und  der  Raumerftillung,  jener,  wie  der  Substanz- 
begriff,  nicht.  Für  diesen  gilt:  „Die  reine  Materie  ...  ist  die 
Kausalität  selbst,  objektiv,  mithin  als  im  Raum  und  daher  als 
diesen  erfUUend  gedacht".')  Für  jenen  gilt:  „Die  ihm  (dem 
aller  näheren  Bestimmungen  und  Formen  seines  Erkennens 
beraubten  Subjekt)  gegenttberstehende  Materie  ...  ist  eigent- 
lich nicht  einmal  ausgedehnt,  weil  Ausdehnung  Form  gibt, 
also  nicht  räumlich".')  „Die  Materie  selbst  ist  nicht  aus- 
gedehnt, folglich  ist  sie  unkörperlich."*) 

Beiläufig  sei  bemerkt,  dafs  Schopenhauer  die  Raumerftillung 
der  Undurchdringliehkeit  gleichsetzt:  „Was  man  die  Raum- 
erfttUung  oder  Undurchdringlichkeit  nennt  und  als  das  wesent- 
liche Merkmal  des  Körpers,  d.  i.  des  Materiellen,  angibt,  ist 
blols  diejenige  Wirkungsart,  welche  allen  Körpern  ohne  Aus- 
nahme zukommt,  nämlich  die  mechanische".^)  Sie  enthält 
streng  genommen  ein  empirisches  Moment  im  Gegensatz  zur 
Ausdehnung. 

Die  dargelegte  begriffliche  Scheidung  von  Materie  im 
weiteren  Sinne  und  Substanz  geben  das  Verständnis  für  die 
in  den  „Praedicabilia  a  priori"  angefahrte  erste  Bestimmung  der 
Materie:  „Es  gibt  nur  eine  Materie,  und  alle  verschiedenen 
Stoffe  sind  verschiedene  Zustände  derselben:  Als  solche  heilst 
sie  Substanz".<^)  „Als  solche",  d.  i.  sofern  hier  nur  das  Prädikat 
der  Beharrlichkeit  in  Betracht  kommt 


0  II,  24.  •)  U,  858.  »)  II,  24.  0  H,  360.  »)  II,  62. 

•)  II,  62,  63. 


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53 

Von  hier  ans  ist  auch  folgende  Stelle  zn  verstehen:  „Da 
Substanz  identisch  ist  mit  Materie,  so  kann  man  sagen :  Sub- 
stanz ist  das  Wirken  in  abstracto  anfgefalst;  Aceidenz  die  be- 
soDdere  Art  des  Wirkens,  das  Wirken  in  concreto".  ^  In  diesem 
Sinne  ist  anch  folgende  Stelle  anszalegen :  „Die  reine  Materie, 
welche  allein  . . .  den  wirklichen  nnd  berechtigten  Inhalt  des  Be- 
griffes der  Substanz  ausmacht,  ist  die  Kausalität  selbst,  objektiv, 
mithin  als  im  Raum  und  daher  als  diesen  erfüllend,  gedacht".^) 
Man  hat  zu  interpretieren:  „Welche  mit  einem  ihrer  Merkmale, 
Bämlich  der  Beharrlichkeit,  den  Inhalt  des  Begriffs  Substanz 
ausmacht''. 

Der  reinen  Materie  steht  gegenüber  die  empirische.  „In 
der  Anschauung  konunt  die  Materie  nur  in  Verbindung  mit 
der  [speciellen]  Form  und  Qualität  vor,  als  Körper,  d.  h.  als 
eine  bestimmte  Art  des  Wirkens  .  .  .  Das  näher  bestimmte 
Wirken  fassen  wir  dann  als  Aceidenz  der  Materie  auf,  aber 
erst  mittelst  dieser  wird  dieselbe  anschaulich.'^')  „Die  empirisch 
gegebene  Materie,  also  der  Stoff  ist  schon  in  die  Hülle  der 
[speciellen]  Formen  eingegangen  und  manifestirt  sich  allein 
durch  deren  Qualitäten  und  Accidenzien,  weil  in  der  Erfah- 
nmg  jedes  Wirken  ganz  bestimmter  und  besonderer  Art  ist, 
nie  ein  blols  allgemeines.^^) 

Wir  erkennen  von  hier  aus,  dafs  in  die  Ausführungen 
über  die  Materie,  die  wir  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
Band  I  finden,  auch  Bestimmungen,  die  der  empirischen  Materie 
zukommen,  unbesehen  miteinfliefsen,  insofern  dort  gesagt  wird: 
^Das,  worauf  sie  (die  Materie)  wirkt,  ist  allemal  wieder 
Materie".!^) 

Diese  empirische  Materie  kann,  um  wiederum  mit  einer 
Schopenhauer  nicht  eigentümlichen  logischen  Betrachtungsweise 
einzusetzen,  als  aus  der  reinen  Materie  durch  Determination 
gewonnen  angesehen  werden.  Die  Merkmale,  die  zu  der 
reinen  Materie,  logisch  betrachtet,  hinzutreten,  sind  durch  die 
speziellen,  raumzeitlichen  Formen  und  die  speziellen  kausalen 
Beziehungen  gegeben,  welche  die  einzelnen  Veränderungen  als 
einzehe  kennzeichnen. 

')  m,  99.  *)  U,  357,  358,  desgleichen  HI,  58.  *)  II,  357. 

*)  n,  59.  »)  I,  40. 


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54 

Es  wäre  verfehlt,  anzanehmen,  dals  das  Verhältnis  der 
reinen  zur  empirischen  Materie  das  des  a  priori  Gegebenen 
znm  erschlossenen  Transzendenten  wäre;  es  ist  vielmehr  ledig- 
lich das  des  a  priori  za  dem  a  posteriori  Vorgestellten.  Schon 
in  jenem  ist  die  Vorstellung  des  Objektseins  mitgedacht 

Es  wnrde  erwähnt,  dafs  „in  der  Anschannng  die  Materie 
als  Körper  vorkomme."  *) 

Das,  was  den  Begriff  des  Köqiers  ausmacht,  ist  aofser 
den  Bestimmungen,  die  ihn  „als  geformte  und  spezifisch  be- 
stimmte Materie"  2)  kennzeichnen,  noch  ein  weiteres  Merkmal, 
nämlich  das,  der  Träger  einer  Kraft  zu  sein.  „Man  hat  sich 
zu  erinnern,  dafs  die  empirisch  gegebene  Materie  sich  überall 
nur  durch  die  in  ihr  sich  äufsemden  Kräfte  manifestirt;  wie 
auch  umgekehrt  jede  Kraft  immer  nur  als  einer  Materie  in- 
härirend  erkannt  wird;  beide  zusammen  machen  den  empirisch 
gegebenen  Körper  aus."  3)  Damit  sind  wir  an  den  Begriffen 
der  Naturkraft  und  des  Naturgesetzes  angelangt,  die  zur  Ver- 
vollständigung der  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung 
einer  Erörterung  bedürfen. 

Die  Naturkraft  ist  zunächst,  d.  h.  solange  wir  innerhalb 
des  Gebietes  der  Vorstellung  bleiben,  ein  durch  Induktion 
gewonnenes  Allgemeines.  Die  logische  Beziehung  zwischen 
Ursache  und  Naturkraft  ist  die  zwischen  „dem  flüchtigen 
Phänomen  und  der  ewigen  Tätigkeitsform." «)  Dieses  Allgemeine 
ist  nicht  die  Eigenschaft  des  Ursachseins  überhaupt,  sondern 
ein  Allgemeines,  das  aus  den  a  posteriori  gegebenen  Momenten, 
welche  die  einzelnen  Ursachen  als  einzelne  kennzeichnen,  ge- 
wonnen ist:  Die  Naturwissenschaften  finden,  dafs  gewisse 
Ursachenunter  gewissen  aus  der  Erfahrung  bekannten  Beding- 
ungen gleichförmig  wirken.  Das  gleichförmig  Wirkende  ist  das 
was  sie  Kraft  nennen.  „Die  Aetiologie  (d.  i.  diejenige  Natur- 
wissenschaft, deren  Aufgabe  „die  Erklärung  der  Veränderungen 
ist,"  5)  gibt  Rechenschaft  von  den  Ursachen,  welche  die  ein- 
zelne zu  erklärende  Erscheinung  notwendig  herbeiftihrten,  und 
zeigt  als  die  Grundlage  aUer  ihrer  Erklärungen  die  aUgemeinen 

0  II,  357.  •)  V,  119.  »)  V,  119.  *)  in,  69.  •)  1, 146. 

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55 

Klüfte  auf,  die  in  allen  diefien  Ursachen  und  Wirkungen  tätig 
uui,  beBtimmt  diese  Kräfte  genau,  ihre  Zahl,  ihre  Untersehiede, 
nnd  dann  alle  Wirkungen,  in  denen  jede  Kraft,  naeh  Maüsgabe 
der  Verschiedenheit  der  Umstände  verschieden  hervortritt, 
immer  ihrem  eigentümlichen  Charakter  gemäls,  den  sie  nach 
einer  unfehlbaren  Regel  entfaltet,  welche  ein  Naturgesetz  heifst  0 

Das  Naturgesetz  ist  dementsprechend  „die  Norm,  welche 
eine  Naturkraft  befolgt.'^  ^)  Es  ist  das  Gesetz,  welches  „die 
anwandelbare  Konstanz  des  Eintritts  derselben,  sobald  am  Leit- 
faden der  Kausalität  die  [a  posteriori  bekannten]  Bedingungen 
dazu  vorhanden  sind'',  3)  ausdrückt.  Das  Allgemeine  in  dem 
Naturgesetz  ist,  in  analoger  Weise  wie  in  der  Naturkraft,  nicht 
die  Beziehung  von  Ursache  und  Wirkung  überhaupt,  sondern 
ein  Allgemeines,  das  aus  den  aposteriorischen  Momenten  in 
den  einzelnen  kausalen  Beziehungen  gewonnen  ist  Es  bleibt 
blols  die  der  Natur  abgemerkte  Regel^.^)  Insofern  verlassen 
wir  mit  dieser  Betrachtung  nicht  das  Gebiet  der  Welt  als  Vor- 
stellong,  also  nicht  das  des  Satzes  vom  Grunde. 

In  der  Physik  muXs  die  Kraft  „als  qualitas  occdta^  stehen 
bleiben.  Die  Naturkraft  wird  nun  schon  an  den  angeführten 
Stellen  nicht  nur  als  Allgemeines  angesehen,  demzufolge  sie 
lediglich  ein  Begri£f  wäre,  sondern  auch  als  ein  „zu  Grunde 
liegendes",  als  ein  „Vorausgesetztes",  als  „etwas,  was  der  Ur- 
sache die  Fähigkeit  zu  wirken  allererst  erteilt".  Damit  kommt 
ein  transzendentes  Moment  in  die  Lehre  von  der  empirischen 
Anschauung.  Hierauf  und  auf  die  Frage,  ob  die  Forderung, 
dafs  den  empirisch  bestimmten  Kräften  etwas  Transzendentes 
entsprechen  müsse,  nicht  schon  über  den  Bereich,  den  Schopen- 
hauer der  Geltung  des  Satzes  vom  Grunde  anweist,  hinausgehe, 
und  auf  die  Frage,  in  welcher  Weise  er  dieses  Transzendente 
deutet,  näher  einzugehen,  würde  den  Rahmen  der  vorliegenden 
Arbeit  überschreiten. 

Es  erübrigt  nunmehr,  den  psychologischen  Zusammmen- 
hang  der  drei  Formen  Raum,  Zeit  und  Kausalität  bei  Schopen- 
hauer zu  erörtern.    Darüber  ist  nur  weniges  zu  erwähnen. 

Das  logisch  allgemeine  wird  ihm  zur  genetischen  Wurzel 


')  I,  200.  »)  in,  59.  »)  1, 190.  *)  I,  200. 


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56 

des  psychologisch  za  erklärenden  Gewordenen,  and  die  logi- 
schen Beziehungen  stellen  sich  ihm  als  psychologische  Zusam- 
menhänge dar.  Daher  kommt  es,  dafs  die  psychologisch  ge- 
wandten Ansfahrongen  nnr  in  eine  biologische  Form  gekleidete 
logische  sind:  „Der  Verstand  vereinigt  Baum  und  Zeit  in 
der  Vorstellung  der  Materie.''  ^)  „Der  Verstand  nimmt  die  im 
Intellekt  prädisponirt  liegende  Form  des  äufseren  Sinnes,  den 
Raum  zu  Hilfe." 2)  „Was  die  Vereinigung  beider  (des  Baumes 
und  der  2^it)  schafft,  ist  der  Verstand,  der  mittelst  seiner 
Funktion  jene  Formen  verbindet . . .  Wechselseitige  Durch- 
dringung (von  Baum  und  Zeit)."')  „Bei  der  objektiven 
Auffassung  der  Körperwelt  gibt  der  Intellekt  die  sämtlichen 
Formen  derselben  aus  eigenen  Mitteln,  nämlich  Zeit,  Baum  und 
Kausalität,  und  mit  dieser  auch  den  Begri£f  der  abstract  ge- 
dachten, Eigenschafts-  und  formlosen  Materie."^)  Die  ursprüng- 
lich eng  begrenzte  Funktion  des  Verstandes,  [„Kausalität  erkennen 
ist  seine  einzige  Funktion"]^)  erscheint  hier  wiederum  erweitert: 
zu  der  kausalbeziehenden  tritt  wieder  eine  formalbeziehende 
Tätigkeit  des  Verstandes.  Der  Begriff  der  reinen  Materie,  als 
durch  die  Tätigkeit  des  Verstandes  bewerkstelligt,  gilt  insofern 
als  etwas  a  priori  Glegebenes: 

„Die  Materie  ist  Kausalität." 

„Die  Kausalität  selbst  ist  die  Form  des  Verstandes;  denn 
sie  ist  .  .  .  uns  a  priori  bewufst". 

„Also  gehört  auch  die  Materie  insofern  und  bis  hierher 
dem  formellen  Teil  unserer  Erkenntnis  an."  <^)  „Ihr  subjektives 
Korrelat  ist  der  Verstand."^) 

Der  Übergang  von  der  reinen  zur  empirischen  Materie  ist 
der  Sache  nach  auch  noch  als  Funktion  des  Verstandes  auf- 
gefalst,  wenngleich  Schopenhauer  hier  schlechthin  Intellekt 
sagt  Auch  fttr  die  psychologische  Erklärung  dieses  Geschehens 
durch  Schopenhauer  gelten  die  vorhin  genaimten  Kennzeichen: 
„Sobald  der  Intellekt,  mittelst  dieser  Formen  (Baum,  Zeit, 
Kausalität  und  damit  der  reinen  Materie)  und  in  ihnen,  einen, 
stets  nur  von  der  Sinnesempfindung  ausgehenden  realen  Gtehalt 

0  I,  44.  «)  m,  66.  •)  in,  42.  *)  V,  119. 

»)  I,  48,  •)  U,  358.  ')  I,  4a. 


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57 

das  heilst  etwas  von  seinen  eigenen  Erkenntnisfonnen  Un- 
abhänges  spttrt,  welches  nicht  im  Wirken  überhaupt,  sondern 
in  einer  bestimmten  Wirkongsart  sich  kundgibt;  so  ist  es 
dies,  was  er  als  Körper,  das  heilst  als  geformte  und  speeifisch 
begtimmte  Materie  setzt.'^i) 

Mit  der  letzten  Ausftlhrung  ist  zugleich  der  psychlogische 
Zusammenhang  zwischen  Materie  und  Empfindung  berührt. 
Näheres  erfahren  wir  darüber  bei  Schopenhauer  nicht.  Wir 
erkennen,  dals  diese  Frage  ihm  in  den  Parerga  und  Paralipomena 
Band  II  etwas  näher  liegt,  als  in  den  früheren  Schriften, 
wenngleich  sie  auch  in  der  späteren  keine  Lösung  findet. 


Vn.  Schlufs. 

Die  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  bei  Schopen* 
haner  erseheint  mir  in  ihrem  wesentlichen  Funkte,  der  Annahme, 
dals  der  Verstand,  indem  er  zur  Empfindung,  als  der  Wirkung, 
die  Ursache  in  den  Baum  setze,  aus  der  Empfindung  allererst 
eine  Vorstellung  mache,  wenn  diese  Annahme  unter  der  Voraus- 
sehnng  Schopenhauers  von  der  Geltung  der  objektiven  Vor- 
stellung stattfinden  soll,  als  verfehlt.  Wenn  wir  mit  ihm  unter 
der  Ursache  unserer  Empfindungen,  so  lange  wir  im  Gebiete  der 
Welt  als  Vorstellung  bleiben,  in  keiner  Weise  ein  Transzendentes 
mitverstehen,  also  nicht  einmal  annehmen,  dafs  es  wirke,  ge^ 
sebweige  denn  was  es  sei,  oder  wie  es  wirke,  so  sind  die 
blolse  Empfindung  und  die  ihr  entsprechende  Vorstellung  nur 
darin  fllr  das  Bewnfstsein  unterschieden,  dafs  diese  raumzeitlich 
bezogen  ist,  jene  noch  nicht.  Abgesehen  davon  sind  sie  für 
das  Bewulstsein  in  nichts  unterschieden,  und  die  eine  als  Ur- 
sache der  anderen  als  Wirkung  aufzufassen,  würde  gleich- 
bedeutend sein  mit  einem  Zusammenfallen  von  Ursache  und 
Wirkung. 

0  V,  119.  


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IL  TeU. 

Skizze  der  Entwicklnng  der  Lehre  von  der 
empirischen  Anschauung  bei  Schopenhauer. 

Von  einer  prinzipiell  bedeutsamen  Entwicklang  kann  man 
in  der  Philosophie  Schopenhaaers  nar  bei  dem  Fortschritt  von 
der  ersten  Auflage  des  .Satzes  vom  Gronde*  zur  ersten  Auf- 
lage der  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung*  reden.  Die  Ein- 
schränkung des  inneren  Sinnes  als  nur  auf  den  Willen  gehend, 
die  Gleiohsetznng  des  Willens  mit  dem  Ding  an  sich,  und  die 
Einschränkung  der  Kategorien  auf  die  eine  der  Kausalität  sind 
die  hervorragenden  Kennzeichen  der  Entwicklung  des  meta- 
physisch-erkeuntnistheoretischen  Bestandes  seiner  Lehre  in 
dieser  Periode.  0  In  den  späteren  Werken  dagegen  finden 
keine  Änderungen  dieses  Bestandes  statt,  die  geeignet  wären, 
dessen  Grundlagen  zu  erschüttern,  sondern  nur  solche,  die  in 
der  Gedankenfolge  desselben  liegen.  Die  Ausgestaltung  der 
Lehre  vom  Willen  in  der  Natur  ist  hier  besonders  hervor- 
zuheben.^) 

Eine  ähnliehe  Gestaltung  zeigt  insbesondere  auch  die  Ent- 
wicklung der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen  An- 
schauung. 

^)  Sieh  darüber  Theodor  Lorenz  «Zur  Entwicklangsgeschichte  der 
Metaphysik  Schopenhauers",  Diss.  Berlin  1897;  Bernhard  Willems  .Über 
Schopenhauers  Erkenntnistheorie.  Eine  historisch-kritische  Abhandlang.*' 
Diss.  Königsberg  1908. 

*)  Sieh  Robert  Schlüter  .Schopenhauers  Philosophie  in  seinen  Briefen", 
Diss.  Rotsock  1900  nnd  die  während  des  Druckes  vorliegender  Arbeit 
erschienene  sorgfaltige  nnd  tiefdringende  Abhandlang  von  Heinrich  Hasse 
.Schopenhauers  Erkenntnislehre  als  System  einer  Gemeinschaft  des 
Rationalen  nnd  Irrationalen".   Leipzig,  F.  Meiner,  1918;  insbesondere  S.  77  f. 


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59 

Scbon  in  der  ersten  Auflage  des  Satzes  7om  Grunde 
ist  der  Grundgedanke  dieser  Lehre  ausgesprochen,  da£s  der 
Verstand  von  dem  unmittelbaren  Objekt  als  der  Wirkung  den 
Sehlnfs  auf  die  Ursache  derselben  im  Räume  mache,  so  zwar, 
dab  hier  aulser  der  Kausalität  auch  noch  die  andern  Kategorien 
Kants  fttr  das  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung 
in  Anspruch  genommen  werden,  i)  Auch  besteht  hier  bereits 
die  Voraussetzung  des  eigenen  Leibes  als  des  «unmittelbaren 
Objektes',  femer  schon  die  Ineinsetzung,  wenn  nicht  der 
Empfindung,  so  doch  der  «unmittelbar  gegenwärtigen  Vor- 
stellung" mit  dem  „unmittelbaren  Objekt^^)  Hier  auch  findet 
schon  die  unbesehene  Koordination  der  kausalen  Beziehung 
des  unmittelbaren  Objektes  zu  den  vermittelten  mit  der  dieser 
QDtereinander  statt,  3)  und  dies  trotz  des  prinzipiellen  Unter- 
schiedes zwischen  dem  „unmittelbaren^'  und  dem  „vermittelten 
Objekt''^).  Die  Einschränkung  des  „unmittelbaren  Objekts'' 
als  nnr  im  uneigentlichen  Sinne  zu  verstehen,  ist  noch  nicht 
ausgesprochen.  Aber  hier  tritt  schon  der  Gedanke  auf,  dafs, 
was  die  Vereinigung  von  Raum  und  Zeit  zustande  bringe,  der 
Verstand  sei,  auch  dies  zwar  noch  unter  Anwendung  auch  der 
Kategorien  aulser  der  Kausalität.  &)  Die  Tätigkeit  des  Ver- 
standes, genauer  der  Kausalschlnfs  desselben,  wird  bereits  von 
einem  Vemunftsehlufs,  als  einer  „Verknüpfung  von  Urteilen^'  unter- 
schieden und  als  unbewufst  charakterisiert«)  „Eine  vollständige 
Analysis  der  Erfahrungen"  wird  hier  bereits  als  „ein  eigenes 
sehr  mtthsames  und  schwieriges  Gescbäft"'')  ins  Auge  gefafst 

Beide  Ableitungen  der  Beharrlichkeit  der  Materie  sind 
schon  hier  angelegt,  die  aus  der  Vereinigung  von  Baum  und 
Zeit  in  den  ViTorten:  „Er  (der  Verstand)  schafft  durch  die  innige 
Vereinigung  jener  heterogenen  Formen  der  Sinnlichkeit  (des 
Raumes  und  der  Zeit)  die  Erfahrung;  ...  in  der  ungeachtet 
der  Unaufhaltsamkeit  der  Zeit  die  Substanz  beharrt  und 
ungeachtet  der  starren  Unbeweglichkeit  des  Baumes  ihre  Zu- 
stände wechseln,''^)  die  Ableitung  aus  der  Kausalität  deutlicher 

0  1*  Auflage  des  Satzes  vom  Gmnde  S.  54. 
>)  Ebenda  S.  36.  *)  Ebenda  S.  85  f. 

')  Ebenda  S.  53,  54.  «)  Ebenda  S.  80,  46. 

*)  Ebenda  S.  54,  55.  0  Ebenda  S.  31. 

')  Ebenda  S.  301. 


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60 

noeh  in  dem  Satze:  „Aas  dieser  BetrachtaDg,  dafs  das  Gesetz 
der  Kansalität  sich  nur  anf  Zustände  bezieht,  und  nieht  auf 
Dinge,  dafs  nnr  Zustände  entstehen  nnd  vergehen,  werden  und 
aufhören,  nicht  Dinge,  ergibt  sieh  der  Satz  von  der  Beharrlich- 
keit der  Substanz  von  selbst,  folglieh  durch  blofse  Analysis 
des  Begriffs  Kausalität,  ohne  Synthesis/^  >)  Schon  in  der  Bei- 
lage zn  den  Anmerkungen  zu  Kants  „Metaphysik  der  Natur- 
wissenschaft*', die  Grisebach  in  die  Jahre  1812,  1813  verlegt, 
finden  sich  einige  grnndlegende  Gedanken  der  Lehre  von  der 
Materie.  Hier  heifst  es:  „Das  Dasein  der  Materie,  d.h.  ihre 
Wirklichkeit,  ist  nichts  als  ihr  Wirken,  d.  i.  ihre  Kansalität 
Wo  also  Materie  ist,  ist  Kausalität,  aber  auch,  wo  Kausalität 
ist,  ist  Materie. '^2)  Dafs  weder  in  den  Anmerkungen  selbst, 
noch  auch  in  der  ersten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  diese 
grundlegenden  Gedanken  der  Lehre  von  der  Materie  in  dieser 
mit  der  in  der  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung gegebenen  Formulierung  vorkommen,  ist  einigermafsen 
auffallend. 

Auf  einige  Unterschiede  der  iu  der  ersten  Auflage  des 
Satzes  vom  Grunde  gegebenen  Kritik  des  Kantischen  Beweises 
fttr  die  Apriorität  des  Gesetzes  der  Kausalität  von  der  späteren 
werden  wir  in  dem  Abschnitt  über  die  Beziehungen  zwischen 
Schopenhauer  und  Kant  noch  zu  sprechen  kommen.^) 

In  der  ersten  Auflage  von  Sehen  und  Farben  gelangt 
die  angekündigte  Analysis  der  Erfahrung  zur  ersten  Ausführung. 
Hier  begegnen  wir  zuerst  dem  Satze:  „Die  Anschauung  ist 
intellektual,  und  nicht  blofs  sensual."  ^)  Die  Sinnesempfindungen 
sind  hier  schon,  wenn  auch  nicht  deutlich  ausgesprochen,  in 
den  Sinnesorganen  lokalisiert:  .Die  Sinne  sind  die  Sitze  einer 
gesteigerten  Sensibilität^)  Jeder  Sinn  gilt  als  , einer  besonderen 
Art  von  Einwirkung  offenstehend.*  ^)  Psychologisch  genommen 
gilt  die  Sinnesempfindung  hier,  wie  ich  im  ersten  Teile  meiner 


>)  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  S.  81. 
>)  Nachlafs  IU,  S.  19. 

*)  1.  Auflage  von  Sehen  und  Farben  S.  17. 

*)  Ebenda  S.  13,   auch   in  der  Kritik  der  Lehre  des  Dr.  Weber, 
ebenda  S.  13. 

>)  Ebenda  S.  13. 

•)  S.  76f.  u.  102£  dieser  Schrift. 


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61 

Sehrift  nachgewiesen  habe,  Hoch  als  Yorstellnng.  Ihre  Subjek- 
tiTiült  gegenüber  der  objektiven  Anscbaanng  wird  dabei  hervor- 
gehoben. Die  Data  des  Gesichtssinnes  werden  schon  geschieden 
in  den  Eindmek  des  Lichtes  anf  das  Ange  nnd  die  Farbe.  ^ 
Eine  biologische  Betrachtungsweise  ftthrt  zn  dem  Gedanken, 
dafjs  „das  Kind  in  den  ersten  Wochen  seines  Lebens  anfängt 
des  Veistand  za  gebranchen.*  ^)  Dazn  gehört  n.  a.  auch,  daij9 
es  „obwohl  es  mit  zwei  Angen  sieht,  . . .  dennoch  nur  einen 
Gegenstand  sehen  lernt ^'')  Daran  reiht  sieh  zur  Erklämng 
des  Einfachsehens  eine  Ansftthmng  ttber  die  Angenaxen,  den 
optischen  Winkel  und  die  gleichnamigen  Stellen  der  Retina, 
ferner  eine  solche  ttber  das  Doppeltsehen,  das  Schielen,  das 
Doppelttasten  und  ttber  Schein  nnd  Irrtum.^)  Noch  nicht  ist 
hier,  wie  in  der  Theoria  colorum  vom  Anfrechtsehen  der  Gegen- 
stände die  Rede.  Von  den  Kategorien  kommt  nur  noch  die 
der  Kausalität  zur  Sprache. 

In  der  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung Band  I  findet  zuerst  eine  ausdrückliche  Einschränkung 
des  Ausdrucks  „unmittelbares  Objekt^^  als  nur  im  uneigent- 
lichen Sinne  zn  verstehen,  statt ^)  Hier  ferner  gelangt  die 
Ineinssetzung  der  blofsen  Empfindung  und  „des  unmittelbaren 
Objekts^  zam  deutlichen  Ausdruck:  „Die  blofse  Empfindung, 
das  nnmittelbare  Bewulstsein  der  Veränderungen  des  Leibes, 
yermöge  dessen  dieser  unmittelbares  Objekt  ist^^)  Wir  fanden^), 
dals  diese  Ineinssetzung  sich  als  ein  Unterfliefsen  eines  meta- 
physisch Identischen  als  eines  fUr  das  Bewulstsein  Identischen 
dem  Nachprttfenden  darstelle.  Die  Manuskripte  Schopenhauers, 
die  vor  der  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
liegen,  weisen  für  diese  Auffassung  einige  Belege  anf  Hier 
heibt  es  n.  a.:  „Ein  Hauptfehler  aller  bisherigen  Philosophie, 
der  damit  zusammenhängt,  dafs  man  sie  als  Wissenschaft 
sachte,  ist  der,  dafs  man  mittelbare  Erkenntnis,  d.  h.  Erkenntnis 
ans  Grttnden,  auch  da  suchte,  wo  nnmittelbare  gegeben  ist 

0  1.  Auflage  Yon  Sehen  nnd  Farben  S.  27. 

*)  Ebenda  S.  15  u.  27.  *)  Ebenda  S.  16. 

«)  Ebenda  S.  16,  17,  20,  21. 

^  1.  Auflage  der  Welt  als  Wille  nnd  Voratellnng  S.  29,  3.  Auflage  1, 58. 

*)  Ebenda  1.  Auflage  S.  28,  3.  Auflage  1, 53. 

^  S.  40  dieser  Schrift 


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62 

So  ist  z.  B.  Identität  meines  Leibes  mit  meinem  Willen  eine 
anmittelbare  Erkenntnis,  yondefiman  also  nieht  zngeben  darf; 
dafs  sie  der  Begrttndang  biedtlrfe,  weil  man  sonst  sieh  einer 
unmittelbaren  Erkenntnis  entänfsert,  die  man,  eben  weil  sie 
unmittelbar  ist,  nie  hoffen  darf,  nachher  als  mittelbare  wieder- 
zuerhalten . .  .*  ^)  Ferner:  „Der  Menseh  erkennt  nur,  sofern 
sein  Leib  ein  mit  dem  Willen  Identisches,  eine  Erscheinung, 
Objektivierung  des  Willens,  eben  in  dieser  letzteren  Eigen- 
schaft unmittelbares  Objekt  des  Subjekts  ist:  die  mittelbaren 
Objekte  (d.  h.  die  Übrige  Welt  erkennt  das  Subjekt,  sofern  es 
in  diesem  einzelnen  Menschen  erkennt,  nur  vermöge  ihrer  Ein- 
wirkung auf  dies  unmittelbare  Objekt,  also  durch  das  Gesetz 
der  Kausalität,  also  im  Verstände.  An  dem  unmittelbaren 
Objekt  hat  das  Subjekt  also  immer  einen  Befestigungspunkt, 
von  dem  alle  übrige  Erkenntnis  ausgeht,  und  an  den  sie  nur 
durch  das  Gesetz  der  Kausalität  geheftet  isf ) 

Die  Lehre  von  der  Materie  ist  in  allem  Wesentlichen  ent- 
wickelt, sowohl  die  Deduktion  aus  den  Formen  Raum  und  Zeit,  als 
auch  die  aus  der  Kausalität  Die  Ableitung  speziell  der  Beharr- 
lichkeit der  Materie  aus  der  Anteilnahme  des  Raumes  an  der  Ver- 
einigung von  Raum  und  Zeit  wird  klarer  formuliert,  dagegen  tritt 
die  Ableitung  der  Beharrlichkeit  aus  der  Kausalität  hier  vorerst 
zurttck.  Das  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidenz  wird  an 
den  entscheidenden  Stellen  noch  als  das  des  Beharrenden  zum 
Wechselnden  dargestellt.  Nur  gelegentlich  kommt  schon  die 
spätere  Bestimmung  dieses  Verhältnisses  als  des  zwischen 
Wirken  in  abstracto  und  Wirken  in  concreto  zum  Vorschein: 
^,Der  Begriff  Substanz  hat  keinen  andern  wahren  Inhalt  als 
den  des  Begriffs  Materie.  Akzidenzen  aber  sind  ganz  gleich- 
bedeutend mit  Wirkungsarten."')  In  den  vor  der  ersten  Auf- 
lage der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  liegenden  Manuskripten 
kommt  ein  zeitweiliges  Schwanken  hinsichtlich  der  Bestimmung 
der  Materie  zum  Vorschein.     Hier  heifst  es  an  einer  Stelle: 


>)  SchopeDhaaera  NaohlaTs  Nr.  20;  Philosophische  Manuskripte  Bogen 
TY,  S.  5f.,  Dresden  1814. 

')  Schopenhauers  Nachlaüs  Nr.  19;  Philosophische  Manuskripte  Bogen 
QQQ,  S.  7  (Anmerkung),  Dresden  1816;  ähnlich  so  Nr.  20,  Bogen  ££,  S.  2, 
Dresden  1814;  Nr.  19,  Bogen  DDD,  S.  5,  Dresden  1815. 

•)  1, 585. 


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68 

„Aber  warum  wnndert  man  sieh  nicht  ttber  die  Materie?  Was 
erkUrt  Materie?  Eangalität  nicht,  die  erklärt  blofs  Znstand 
der  Materie  . .  .'^  0  Dieses  Schwanken  hängt  yermntlich  damit 
zusammen,  dafs  Schopenhauer  hier  vorübergehend  Kausalität 
und  Wille  als  koordinierte  Ursachen  von  Bewegungen  behandelt: 
«Die  Bewegung  der  Materie  geschieht  nicht  immer  nach  dem 
Gesetz  der  Kausalität;  sondern  nur  entweder  nach  diesem  oder 
durch  Willen,  d.  i.  ohne  Grund.  Eine  solche  ist  nicht  nur  die 
Bewegung  der  Tiere,  sondern  auch  alle  Vegetation  und  das 
ÄDschielsen  der  Krjstalle.'' 2)  Diesen  Gedanken  läfst  er  aller- 
dings schon  bald  fallen;  denn  in  einer  Anmerkung  zu  der 
zitierten  Stelle  fttgt  er  bei:  ,Dies  ist  falsch:  alles  was  in  der 
Zeit  geschieht,  hat  eine  nach  dem  Satze  vom  Grunde  bestimmte 
Stelle  in  derselben;  es  gibt  also  keine  grundlose  Bewegung. 
Wohl  aber  ist  der  Wille  grundlos;  denn  der  Satz  vom  Grunde 
gilt  nur  ftlr  die  Erscheinung  der  Idee  (welche  selbst  Objektität 
des  Willens  ist)  in  Zeit  und  Raum*". 

Auch  in  der  „Vorlesung  tlber  die  gesamte  Philo- 
sophie^  speziell  in  der  „Theorie  des  gesamten  Vor- 
stellens,  Denkens  und  Erkennens,**  deren  erste  Entwürfe 
nach  den  yerdienstvoUen  und  sorgfältigen  Untersuchungen  von 
Franz  Mokrauer  noch  in  das  Jahr  1819  fallen,  und  für  deren 
Znsatze  ein  Spielraum  bis  Herbst  1831  anzusetzen  ist,')  gelten 
die  Empfindungen  noch  als  Vorstellungen:  „Diese  Verände- 
nmgen  (welche  die  Sinnesorgane  durch  die  ihnen  spezifisch 
angemessene  Einwirkung  von  aufsen  erleiden)  sind  nun  zwar, 
da  sie  nicht  als  Schmerz  oder  Wollust  den  Willen  unmittelbar 
af&ieren  und  dennoch  ins  Bewulstsein  kommen,  wirkliche  Vor- 
stellungen, d.  h.  sind  nur  fttr  die  Erkenntnis  da.'^^)  Auffallend 
H  dafs  hier  schon  alle  vier  Momente  in  der  Tätigkeit  des 
Verstandes  beim  Gesichtssinn:  Einfachsehen,  Aufrechtsehen, 
Sehätzen  von  Gröfse  und  Entfernung  und  Hinzufügen  der  dritten 


0  Schopenhauers  Nachlals  Nr.  20;  Philosophische  Manuskripte  Bogen 
W,  S.  6,  Weimar  1814. 

^  Schopenhauers  Nachla(s  Nr.  19;  Philosophische  Manuskripte  Bogen 
£EE,S.S,  Dresden  1815. 

')  Arthur  Scbopenhauers  sämtliche  Werke,  herausgegeben  von  Paul 
Deufaen.    IX.  Band,  Voirede  der  Herausgeber  S.  XIX  f. 

1  Ebenda  S.  20S,  Z.  16 --19. 


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64 

Dimension  ausführlich  behandelt  werden,  während  von  diesen 
vier  Momenten  in  der  Theoria  colornm  (1830)0  nur  erst  die 
ersten  beiden,  in  der  ersten  Anflage  des  zweiten  Bandes  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellang  (1844)2)  nur  die  ersten  drei 
genannten  Momente  znr  Sprache  kommen.  Znr  Lehre  von  der 
Materie  ist  für  die  Vorlesungen  anzumerken,  dafs  die  Be- 
ziehungen dieser  zu  Baum  und  Zeit  etwas  ausführlicher  behandelt 
werden.  Zudem  tritt  die  Wendung  wieder  hervor,  dals  die 
Beharrlichkeit  der  Materie  daraus  ableitbar  sei,  dafs  die 
Kausalität  nur  auf  die  Zustände,  nicht  auf  die  Materie  gehe.') 
Auch  hier  ist  die  spätere  präzisere  Formulierung  des  durch 
ihre  Beziehung  auf  die  Kausalität  gedeuteten  Verhältnisses  von 
Substanz  und  Akzidenz  schon  angelegt  in  den  Sätzen:  „Ich 
.  mufs  hier  anmerken,  dafs  wir  unter  dem  Begri£P  Substanz  nicht 
etwas  anderes  zu  denken  haben  als  die  Materie  an  sich,  mit 
Abstraktion  von  ihren  Akzidenzen  (Form,  Qualität)  • . .  Unter 
einer  Materie  ohne  Form  und  Qualität  denken  wir  eigentlich 
reines  Wirken  ohne  Bestimmung  der  Wirkungsart . .  ."*)  Prinzi- 
piell bedeutsame  Änderungen  in  der  Lehre  von  der  Materie 
liegen  in  den  Vorlesungen  nicht  vor. 

In  der  Theoria  eolorum  physiologica  ist  aufser  dem 
bereits  genannten  Funkte  nur  noch  anzumerken,  dafs  hier 
die  Beziehung  der  Sinnesempfindungen  aller  Sinnesorgane  auf 
ein  gemeinsames  Objekt  besonders  hervorgehoben  wird. 

In  der  ersten  Auflage  des  Willens  in  der  Natar  und 
der  Grundlagen  der  Ethik  ist  von  dem  Zustandekommen 
der  empirischen  Anschauung  nicht  die  Bede. 

In  der  zweiten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung tritt  zuerst  die  Wendung  in  der  Auffassung  der 
blofsen  Empfindung  hervor;  sie  gilt  fortan  als  etwas,  dem  der 
Charakter  der  Vorstellung  noch  nicht  zukommt  Die  Lokalisation 
der  Sinnesempfindungen  in  die  Sinnesorgane  wird  deutlicher 
ausgesprochen:  „Das  Sehen  ist  eine  wirkliche  Aktion  der 
Betina.'^^)    Zu  den  Verstandesoperationen  tritt  als  dritte  die, 


1)  VI,  121.  «)  II,  34f.  »)  A.  a.  0.  S.  224,  Z.  31,  32. 

*)  A.  a.  0.  S.  225,  Z.  13—20. 

')  1.  Auflage  von  Welt  als  Wille  und  VorsteUung,  BcL  2,  S.  32, 
2.  Auflage  U,39 


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65 

„aus  fttnf  DatiB  —  die  nicht  genannt  werden,  sondern  fttr  die 
auf  Thomas  Reid  hingewiesen  wird  —  Gröfse  and  Entfemang 
abzusehätzen/*  1)  Die  Lehre  von  der  Materie  zeigt  eine  Fort- 
bildang  in  der  deutlicheren  Formnliemng  ihrer  erkenntnis- 
theoretisehen  Bestimmung  „als  der  keinem  Werden  und  Ver- 
gehen unterworfenen  . . .  Grundlage  aller  Dinge/'^)  femer  in 
der  deatlieheren  Formulierung  der  Ableitung  der  Beharrliehkeit 
der  Materie  aus  der  Kausalität  und  der  der  Gleiohsetzung  des 
Verhältnisses  von  Substanz  und  Akzidenz  mit  dem  von  Wirk- 
samkeit überhaupt  und  Wirkungsart  >) 

Eine  Fortbildung  zeigt  sieh  auch  in  den  Ausführungen 
über  die  Beziehungen  des  Empirischen  in  der  Materie  zu  dem 
Willen  als  dem  Ding  an  sich  der  Objekte.^) 

In  der  zweiten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde 
setzen  folgende  neuen  Momente  ein:  Das  Verfahren  des  Ver- 
standes beim  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung 
erfährt  eine  nochmalige  Erweiterung.  Zu  den  drei  genannten 
Momenten  kommt  als  viertes,  dafs  der  Verstand  die  dritte 
Dimension  hinzufüge.  Die  Beihilfen  bei  der  Abschätzung  der 
Entfernung  werden  ausführlich  behandelt  und  auf  vier  reduziert: 

1.  Die  mutationes  oculi, 

2.  der  optische  Winkel, 

3.  die  Luftperspektive, 

4.  die  bekannte  Gröfse  dazwischen  liegender  Gegen- 
stände.^) 

Ferner  werden  die  Beihilfen,  die  das  Getast  zur  Konstruktion 
der  empirischen  Anschauung  bietet,  und  diejenigen,  die  beim 
Sehen  die  Empfindung  liefert,  ausgeführt;  letztere  sind: 

1.  Das  Nebeneinander  der  Retina, 

2.  Die  Gradlinigkeit  des  Lichtes,  das  im  Auge  selbst 
gradlinig  gebrochen  wird,  und 

3.  die  Fähigkeit   der  Retina,   die  Richtung  des  ein- 

dringenden Lichtstrahles  zu  empfinden. 

>)  Ebenda,  1.  Auflage  S.  28,  2.  Auflage  11,85. 

>)  Sieh  S.  49  dieser  Schrift. 

>)  U,35f.,  ShnUch  11,59  u.62. 

*)  11,860.  »)in,84f. 

Philosophische  Abhuidlmi|rei>.   XLII.  5 


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Hier  finden  wir  zuerst  den  Satz  ansgesproehen,  dafs  „der 
Lichtstrahl  in  die  Dieke  der  Retina  eindringe.^ i)  Die  Lehre 
von  der  Materie  weist  eine  zusammenfassende  Darstellung,  aber 
keinen  sachlichen  Fortschritt  auf.^) 

In  Parerga  und  Paralipomena  Band  II  kommt  ein 
schon  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung')  angelegter  neuer 
Beweis  für  die  Idealität  von  Zeit  und  Baum  zur  klareren 
Formulierung.  Er  ist  darin  gegeben,  daTs  .„die  blofse  Zeit 
keine  physische  Wirkung  hervorzubringen  vermag*  und  .die 
Materie  durch  alle  sie  ausdehnende  Zerteilung  oder  auch 
wiederum  Zusammenpressung  im  Räume  weder  vermehrt  noch 
vermindert  werden  kann,  wie  auch  darin,  dals  im  absoluten 
Räume  Ruhe  und  geradlinige  Bewegung  phoronomisch  zu- 
sammenfallen und  dasselbe  sind."^)  Die  kausale  «Notwendig- 
keit  alles  Geschehenden,  d.  h.  in  der  Zeit  sukzessiv  Eintretenden," 
und  damit  der  Sache  nach  die  in  den  früheren  Schriften  ge- 
lehrte «innige  Vereinigung*  &)  des  Raumes  mit  der  Zeit,  erhält 
eine  ergänzende  definitorische  Bestimmung.  Hier  „ist  die  sieh 
uns  vermittelst  der  Kette  der  Ursachen  und  Wirkungen  dar- 
stellende Notwendigkeit  alles  Geschehenden,  d.h.  in  der  Zeit 
sukzessiv  Eintretenden  blofs  die  Art,  wie  wir,  unter  der  Form  der 
Zeit,  das  einheitlich  und  unverändert  Existierende  wahrnehmen, 
oder  auch  sie  ist  die  Unmöglichkeit,  dafs  das  Existierende, 
obgleich  es  von  uns  heute  als  zukünftig,  morgen  als  gegen- 
wärtig, übermorgen  als  vergangen  erkannt  wird,  nicht  dennoch 
mit  sich  selbst  identisch.  Eins  und  unveränderlich  sei.**) 

Zusammenfassend  können  wir  somit  sagen:  Von  vornherein 
grundlegend  für  die  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen 
Anschauung  ist  die  Einsicht  in  die  besondere  Bedeutung  der 
Kausalität  für  die  Realität  der  Anfsenwelt.  Die  psychologische 
Wendung  dieses  Gedankens  in  der  Deutung  des  Zustande- 
kommens der  Erkenntnis  der  Anfsenwelt  durch  die  kausal- 
beziehende Tätigkeit  des  Verstandes  ist  schon  in  der  ersten 
Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  angelegt  Die  Entwicklung 
auch  der  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  weist  zwei 

>)  111,72.  «)ni,99. 

')  II,  352,  auch  schon  in  der  ersten  Aufl.  dieses  Bandes  (1844). 

*)  V,  47f.  »)  ni,42. 

*)  y,  51.    Die  letzte  Sperrung  findet  sieb  nicht  im  Text. 


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67 

QDgleieh  bedeatsame  Stufen  auf:  die  erste,  sprunghafte,  von  der 
ersten  Auflage  des  Satzes  vom  Grande  zar  ersten  Auflage  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung  hin;  die  zweite,  kontinuierliehe, 
Ton  da  ab  zu  den  späteren  Werken.  Jene  ist  wesentlich 
gekennzeichnet  durch  die  Einschränkung  der  Kategorien  auf 
die  eine  der  Kausalität;  weniger  bedeutsam  ist  die  Einschränkung 
des  unmittelbaren  Objektes ;  neu  ist  die  Lehre  von  der  Materie. 
Die  zweite  Stufe  können  wir  folgendermafsen  zusammenfassen: 
War  schon  die  Einschränkung  des  Ausdrucks  „unmittelbares 
Objekt^,  als  nur  im  uneigentlichen  Sinne  zu  verstehen,  eine 
Konsequenz  der  Forderung,  dafs  allererst  durch  die  kausale 
Erkenntnis  des  Verstandes  die  Vorstellung  des  Objektes  entstehe, 
so  stellt  sich  als  eine  weitere  Konsequenz  dieser  Forderung 
die  mit  der  zweiten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
anhebende  Wandlung  in  der  Deutung  der  bis  dahin  im  Hin- 
blick auf  ihre  Nichtzugehörigkeit  -zum  Willen  noch  als  Vor- 
Btellnng  in  Anspruch  genommenen  Empfindung  dar.  Sie  gilt 
fortan  als  etwas,  dem  der  Charakter  der  Vorstellung  noch 
nicht  zukommt.  Die  Annahme  des  unmittelbaren  Objektes  als 
des  Ausgangspunktes  für  den  Verstand,  welche  Annahme  sieb 
als  eine  Konsequenz  der  Einschränkung  der  Geltung  der 
Kanaalbeziefanng  lediglich  fttr  die  Beziehungen  von  Objekten 
darstellt,  bleibt  indes  bestehen.  Wir  fanden  früher,  dafs  dieser 
Widerspruch  durch  die  metaphysische  Ineinssetzung  von  blofser 
Empfindung  und  physiologischer  Erregung  im  Sinnesorgan  zwar 
verständlich,  aber  nicht  aufgehoben  wird.  Weiter  haben  wir 
za  sagen,  dafs  eine  kontinuierliche  Entwicklung  des  empirischen 
Nachweises  der  Verstandestätigkeit  von  der  ersten  Auflage  von 
Sehen  und  Farben  bis  zur  zweiten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde 
bemerkbar  ist  Die  Lehre  von  der  Materie  erfährt  von  der  ersten 
Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  an  keine  prinzipielle 
Änderung,  sondern  nur  eine  Weiterbildung  von  solchen  Gedanken, 
die  dort  und  zum  Teil  schon  in  der  ersten  Auflage  des  Satzes 
Tom  Grunde  angelegt  sind.  Allein  dem  aufmerksamen  Leser 
wird  es  nicht  entgehen,  dafs  Schopenhauer  in  den  späteren 
Werken  mit  der  Formulierung  insbesondere  von  zwei  Gedanken 
ringt  Der  eine  ist  die  Deutung  der  Materie  als  der  Grundlage 
^es  Realen,  der  andere,  damit  zusammenhängende,  die  Deutung 
des  Verhältnisses  von  Substanz  und  Akzidenz  als  des  zwischen 

5* 


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68 

Wirksamkeit  überhaupt  und  Wirknngsart.    Dies  ist  in  der  Tat 
von  historischer  Bedentang,  wie  wir  noch  sehen  werden. 

Es  sei  hier  gestattet,  za  einer  von  Theodor  Lorenz <) 
vertretenen  Auffassung  einiges  zu  bemerken.  Dieser  nämlich 
sagt,  dafs  nach  der  Darstellung  in  der  ersten  Auflage  des 
Satzes  vom  Grunde,  nach  welcher  ,das  unmittelbare  Objekt 
erst  durch  die  Anwendung  der  Kategorien  der  Einheit,  Sab* 
sistenz,  Realität  usw.  zum  Objekt  wird*^,')  «die  sinnliehe 
Anschauung  des  eigenen  Leibes  auf  einem  ganz  anderen 
psychischen  Wege  zustande  käme,  als  die  aller  anderen 
Körper",^)  und  dafs  diese  Darstellung,  wenngleich  «psycho- 
logisch noch  weniger  haltbar  als  die  spätere^,  so  doch  «den 
Widerspruch,  welcher  dem  Aprioritätsbeweis  in  den  späteren 
Schriften  anhaftet,  die  nur  noch  die  Kategorie  der  Kausalität 
gelten  lassen,  klärt*. ^)  Diese  Zurechtlegung  der  Oedanken 
Schopenhauers  hat  nur  dann  ein,  wenngleich  noch  einzu- 
schränkendes Recht,  wenn  sie  darauf  fnfst,  dafs  in  der  ersten 
Auflage  des  Satzes  vom  Gründe  ein  Vorstellungsmälsiges  den 
Ausgangspunkt  ftlr  den  Kausalschlufs  auf  das  reale  Objekt 
bildet  Nicht,  dafs  ftlr  das  unmittelare  Objekt  die  Kategorien 
auiser  der  Kausalität  in  Anspruch  genommen  werden  —  denn 
die  Ineinssetzung  des  unmittelbaren  Objekts  mit  der  „unmittel- 
bar gegenwärtigen  Vorstellung*  enthält  dieselbe  prinzipielle 
Schwierigkeit,  wie  die  spätere  mit  der  blolsen  Empfindung, 
deshalb  nämlich,  weil  sie  nicht  als  psychologische  gelten 
kann  —  sondern  lediglich,  dafs  die  Annahme  eines  kategorial 
bestimmten  und  insofern  vorstellungsmäfsigen  Ausgangspunktes, 
nämlich  in  der  «unmittelbar  gegenwärtigen  Vorstellung", 
möglich  sei,  würde  geeignet  sein,  die  Schwierigkeiten,  die  sich 
ftlr  den  Ausgangspunkt  der  kausalen  Erkenntnisweise  des  Ver- 
standes in  den  späteren  Schriften  ergeben,  zu  mildem.  Dafs 
in  diesem  Sinne  die  «unmittelbar  gegenwärtige  Vorstellang* 
genommen  werden  kann,  ist  eine  naheliegende  Folgerung  aus 
den  Erörterungen  des  §  21  der  genannten  Schrift.  Dort  lesen 
wir:  „Vorstellungen  sind  unmittelbar  gegenwärtig,  heifst:  sie 
werden  nicht  nur  in  der  vom  Verstände  vollzogenen  Vereinigung 

»)  A.  a.  0.  S.  8. 

>)  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Qrnnde  S.  54. 

•)  A.  a.  0.  S.  8. 


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69 

Yon  Zeit  und  Raum,  d.  h.  im  Ganzen  der  Erfahrang,  sondern 
sie  werden  al8  Yorstellnng  des  inneren  Sinnes  in  der  blofsen 
Zeit  erkannt^'  i)    Es  kommt  ihnen,  so  dürfen  wir  folgern,  alles 
das  za,  was  den  objektiven  Vorstelinngen  noeh  anüser  ihren 
raamzeitlichen    nnd    kausalen   Bestimmungen    eigen   ist     Es 
bleiben    ihnen    also    die   kategorialen   BestimmaDgen    aufser 
der  Kausalität    Betrachten  wir  die  ,,  unmittelbar  gegenwärtige 
Vorstellung'  als  Aasgangspunkt  fUr  die  Verstandestätigkeit,  so 
bat  dieser  also  den  Charakter  des  VorstellnngsmäTsigen.    So 
naheliegend  diese  Folgerung  aber  auch  ist,  so  ist  sie  doeh 
nieht  ansdrtteklich  von  Schopenhauer  gezogen.    Sie  mnfs  viel- 
mehr  schon  deshalb  eine  nachträglieh  harmonisierende  Dentung 
genannt  werden,   weil  Schopenhauer  der  dabei  geltend  ge- 
machte   psychologische   Gesichtspunkt    fernliegt     Dies   zeigt 
sieh  nicht  nur  darin,   dals   er  von  Schopenhauer  nicht  zum 
Problem  erhoben  wird,  es  zeigt  sich  deutlicher  noch  in  einer 
Reihe  yon  Unstimmigkeiten.     Eine  Unstimmigkeit  zeigt  sich 
darin,  dafs  die  oben  als  möglich   aufgewiesene  Auffassung, 
die  Anwendung  der  Kategorien  aufser  der  Kausalität  auf  die 
„unmittelbar  gegenwärtige  Vorstellung'  gehe,  psychologisch  be- 
trachtet, dem  Kausalschlnis  auf  das  Vermittelte  vorher,  sich  nicht 
reinlich  dnrchf&hren  läfst;  denn  es  heifst  im  §24  derselben  Schrift: 
«Die  Erkenntnis  der  vermittelten  Objekte  aber  fängt  nun  mit 
der  Kategorie  der  Kausalität  an,  geht  von  dieser  aus.     Von 
der  Veränderung  im  Auge,  Ohr  oder  jedem  andern  Organ  wird 
auf  eine  Ursache  geschlossen,  und  solche  wird  im  Raum  dahin, 
von  wo  ihre  Wirkung  ausgeht,  als  das  Substrat  dieser  Kraft 
gesetzt,  und  dann  erst  können  die  Kategorien  der  Subsistenz, 
Dasein  usw.  auf  sie  angewandt  werden.''^)     Auch  der  Satz: 
«Ohne  Anwendung  derselben  (der  Kategorie  der  Kausalität) 
bliebe  es  bei  der  blofsen  Empfindung 'S)  pafst  nicht  zu  dem 
genannten   psychologischen   Deutungsversuch.     Dazu    kommt, 
dals  es  fraglich  bleibt,  ob  der  oben  genannte  Satz:   „Das  un- 
mittelbare Objekt  selbst  wird  erst  durch  die  Anwendung  der 
Kategorien  der  Subsistenz,  Realität,  Einheit  usw.  zum  Objekt' 
in  dem  Sinne  gedeutet  werden  darf,  dafs  es  hier  durch  die 

>)  1.  Auflage  des  Sutses  vom  Grunde  S.  35,  36. 
>)  Ebenda  S.  54. 
>)  Ebenda  S.  54. 


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70 

AnwenduDg  der  Kategorien  anfser  der  Eansalität  zam  anmittel- 
baren  Objekt  werde.  Es  bleibt  vielmebr  aaeb  die  Auffassung 
mSglicb,  dafs  Objekt  bier  die  Dentang  von  vermitteltem  Objekt 
habe  and  anter  jenen  Kategorien  die  der  Kaasalität  ein* 
gesehlossen  sei,  was  der  oben  genannten  Anwendung  der 
übrigen  Kategorien  zeitlieh  nach  der  der  Kaasalität  entsprechen 
würde.  Daza  kommt  endlieh  noeb,  dafs  aaeb  mit  jener 
Deatang  der  „anmittelbar  gegenwärtigen  Vorstellang*  als  des 
Yorstellangsmäfsigen  Ansgangspanktes  fllr  den  Kaasalsehlofs 
aaf  das  vermittelte  Objekt  der  Widersprach  za  dem  Gleltangs- 
bereiche  der  Kaasalität,  als  lediglich  innerhalb  des  (jebietes 
der  ersten  Klasse  der  Vorstellangen,  «der  Welt  der  realen 
Objekte ',!)  geltend,  nicht  gehoben  würde.  Diese  Unstimmig- 
keiten drängen  za  der  Aaffassang,  dafs  aaeb  schon  für  die 
erste  Auflage  des  Satzes  vom  Grande  diejenige  Dentang  die 
wahrscheinliche  ist,  die  wir  fttr  die  späteren  Schriften  als  die 
zutreffende  aufwiesen,')  nämlich  die  unbesehene  Ineinsetzung 
hier  der  psychologischen  Tatsache  der  unmittelbar  gegen- 
wärtigen Vorstellung  mit  der  physiologischen  der  Erregung  in 
dem  Sinnesorgan,  wodurch  dieses  zum  unmittelbaren  Objekt  wird. 


Über  die  aUgemeinen  historischen  Grundlagen 
der  Lehre  Schopenhauers. 

Die  Problemlage  der  Philosophie  zu  der  Zeit,  in  die  die 
Entwicklung  der  Grundgedanken  der  Lehre  Schopenhauers 
fällt,*)  ist  in  Deutschland  durch  die  Wirksamkeit  derjenigen 
Elemente  der  kantischen  Philosophie  gekennzeichnet,  die  zu 
einer  metaphysischen  Reaktion  gegen  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft  drängten.     Eine  Schwierigkeit  in  dem  Gedanken- 

0  Ebenda  S.  67. 

3)  S.  40  dieser  Schrift. 

*)  Sieh  Paul  Wapler  «Die  geschichtlichen  Gnindhigen  der  WeU- 
anschaunng  Schopenhauers''.  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 
Band  18,  1905,  S.  369f.;  ehie  ihr  Thema  zwar  nicht  erschöpfende,  aber 
manches  Brauchbare  enthaltende  Abhandlung. 


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71 

gange  der  Kritik  ist  es,  die  fllr  die  naehkantische  Philosophie 
entscheidend  wird.  Sie  liegt  in  dem  Widersprach  zwischen 
der  Voraassetzung  wirkender  Dinge  an  sich  in  der  transzenden- 
talen Ästhetik  and  dem  kritischen  Ergebnis  der  Analytik,  der 
Beschränktheit  aller  unserer  Erkenntnis  durch  das  Oebiet 
möglicher  Erfahrung,  i)  Das  Aufgeben  der  Voraussetzung 
wirkender  Dinge  an  sich  und  das  Hineinverlegen  der  ihnen 
abgesprochenen  Funktionen  in  das  Ich  ffthrt,  unter  Berührung 
mit  spinozistischen  Gedanken,  zu  der  Entwicklung,  die  durch 
die  Lehren  Fiehtes,  Schellings  und  Hegels  repräsentiert  wird. 
unter  Beibehaltung  der  Dinge  an  sich,  aber  empiristischer 
Wendung  der  Lehre  Kants  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  wird 
Herbart,  mitbestimmt  durch  Leibnizsche  Gedanken,  zu  einem 
sobstanzialen  Pluralismus  geführt  Die  dritte  Form  der  meta- 
physischen Reaktion  gegen  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  ist 
in  der  Liehre  Schopenhauers  gegeben,  der  diesen  gemeinsamen 
Zog  insbesondere  mit  Fichte,  Schelling  und  Hegel  nicht  in 
dem  Ifalse  erkannt  hat,  wie  es  der  historischen  Entwicklung 
tatsächlich  entspricht  Waren  die  beiden  zuerst  gekenn- 
zeiehneten  Sichtungen  wesentlich  bestimmt  durch  den  Inhalt 
der  theoretischen  Lehre  Kants,  so  kommen  bei  Schopen- 
hauer die  Gedankengänge  der  praktischen  entscheidend  zur 
Geltung.  Die  intelligibele  Kausalität,  die  sich  nach  Kant  in 
unserem  sittlichen  Wollen  geltend  macht,  und  die  uns  als 
Glieder  der  Welt  der  Dinge  an  sich  kennzeichnet,  ist  es  im 
besonderen,  die  von  Schopenhauer  zu  dem,  auch  von  seinen 
Zeitgenossen,  namentlich  Schelling,  berührten  Gedanken  weiter- 
gebildet wird,  dafs  der  Wille  nicht  eine  Bestimmung  des 
I^ges  an  sieb,  sondern  das  Ding  an  sich  selbst  sei.  Ergriffen 
^on  verwandten  Gedanken  der  indischen  Philosophie,  und  in 
Anlehnung  an  die  nach  der  Analogie  des  Dinges  an  sich  auf- 
gefalste  Ideenlehre  Piatos,  gelangt  Schopenhauer  zur  Aus- 
gestaltung seiner  Lehre.  Was  ihn  von  Herbart  unterscheidet 
^d  ihm  mit  Fichte,  Schelling  und  Hegel  gemeinsam  ist,  ist 
der  Gedanke,  der  das  Absolute  als  absolute  Tätigkeit  auf- 
fassen labt,  bei  Schopenhauer  aber  so  gewandt,  dafs  alle  die 

^)  Sieh  Benno  Erdmaan,   Znr  Charakteristik  der  Philosophie  der 
^enwart  in  Deutschhnd.    Deutsche  Randschau  Bd.  19,  S.  400. 


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72 

Bestimmangen  fehlen,  die  bei  Fichte,  Schelling  und  Hegel  das 
Absolute  als  vernnnftmäfsig  charakterisieren J) 

Der  unmittelbare  Ausgang  von  Kant  ist  jfiir  Schopenhauers 
Lehre  entscheidend.  Er  anerkennt  die  geschichtliche  Bedeutung 
Kants  in  der  Unterscheidung  der  Erscheinung  vom  Ding  an 
sich  «auf  Grund  der  Nachweisung,  dafs  zwischen  den  Dingen 
und  uns  immer  noch  der  Intellekt  steht,  weshalb  sie  nicht 
nach  dem,  was  sie  an  sich  selbst  sein  mögen,  erkannt  weiden 
können."  2)  Seine  Auffassung  von  der  Lehre  Kants  ist  mit- 
bestimmt durch  die  Interpretation  und  Kritik,  die  6.  K  Schuhe, 
sein  Lehrer  in  Göttingen,  an  ihr  geübt  hatte.  Angeregt  durch 
Jakobis  Kritik  an  der  kantisohen  Philosophie,  hatte  Schulze 
den  Gedanken,  dafs  Dinge  an  sich  zwar  unerkennbar  seien, 
aber  doch  als  Gegenstände  des  reinen  Denkens  vorausgesetzt 
werden  mttfsten,  dahin  aufgelöst,  daüs  Dinge  an  sich  Ober- 
haupt undenkbar  seien.  .  Gegen  Reinhold  und  damit  gegen 
Kant  gewandt,  hatte  er  festgestellt,  daüs  diese  einen  Beweis 
für  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  nicht  geliefert  hätten,  und 
hatte  in  scharfer  Kritik  besonders  auf  den  Widerspruch  zwischen 
der  Annahme  wirkender  Dinge  an  sich  und  dem  Resultat  der 
transzendentalen  Analytik,  der  Einschränkung  des  Erkenntnis- 
gebrauches der  Kategorien  durch  die  Erfahrung  hingewiesen. 
Mit  Jakobi  und  Schulze  hat  Schopenhauer  das  Verdienst,  auf 
die  realistischen  Voraussetzungen,  die  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  zugrunde  liegen,  kritisch  hingewiesen  zu  haben. 
Mit  Schulze  stimmt  er  auch  darin  ttberein,  dafs  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  konsequenterweise  idealistisch  zu  inter- 
pretieren sei. 

Von  seiner  metaphysischen  Basis  aus  wird  es  fttr  Schopen- 
hauer methodisch  möglich,  Kants  kritischen  Grundgedanken 
der  Beschränktheit  aller  unserer  Erkenntnis  durch  das  Gebiet 
möglicher  Erfahrung  fttr  die  Kausalität  der  auf  uns  wirkenden 
Dinge  aufrechtzuerhalten.  Von  der  Voraussetzung  der  intuitiven 
Erfassung  des  Dinges  an  sich  in  unserm  Willen  und  der  ana- 
logen Deutung  des  Dinges  an  sich  in  dem  auüser  uns  Vor- 

0  Aus  Benno  Erdmanns  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie, denen  auch  viele  andere  Gedanicen  dieser  Schrift  teils  entstammen, 
teils  ihre  Anregung  verdanken. 

«)  1, 534. 


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73 

^anäeuen  aus  ist  nämlich  Sehopcnbaner,  wenigstenB  formal, 
iei  li(otweiidigkeit  enthoben,  eine  Wirksamkeit  der  Dinge  an 
ue\i,  die  sich  in  den  Sinnesempfindungen  geltend  maehe,  zu 
dedmeien.  Das  Verhältnis  des  Willens  als  des  Dinges  an  sieh 
des  aufser  nns  Vorhandenen  zu  dem  Inhalt  unserer  subjektiven 
Sinnesempfindungen  ist  fllr  ihn  vielmehr  dasjenige  meta- 
physische, unserm  Erkennen  unzugängliche  Verhältnis,  das  sieh 
onserm  Vorstellen  als  das  von  Ursache  und  Wirkung  darstellt.  0 


Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers  von 
der  empirischen  Anschauung  zur  Lehre  Kants. 

Im  aUgemeinen. 

Zu  dem  angeführten,  das  allgemeine  Verhältnis  der 
metaphysischen  und  erkenntnistheoretischen  Lehre  Kants  zu 
der  Sehopenhauers  kennzeichnenden,  kommt  eine  Reihe 
spezieller  erkenntnistheoretiseher  und  psychologischer  Be- 
rührungspunkte in  der  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung. 
Indem  wir  auf  eine  Untersuchung  derselben  näher  eingehen, 
wollen  wir  prüfen,  welches  die  Auffassung  Sehopenhauers  von 
der  Lehre  Kants  und  seines  Verhältnisses  zu  derselben  in  den 
in  Betracht  kommenden  Punkten  ist,  und  wie  sich  das  tat- 
sächliche Verhältnis  beider  Lehren  zueinander  darstellt. 

In  Übereinstimmung  mit  Kant  sind  bei  Schopenhauer  die 
Empfindungen  der  gegebene  Stoff,  bei  dessen  Aufnahme  der 
Intellekt  sich  rezeptiv  verhält.  Eine  Empfindung  ist  nach 
Schopenhauer  ,der  Eindruck,  für  den  allein  wir  blofse  Rezep- 
tivität  haben. 2)''  Eine  Abweichung  von  Kant  ist  darin  gegeben, 
daffl  Schopenhauer  lediglich  der  Empfindung  Rezeptivität  zu- 
schreibt, während  bei  Kant  auch  die  reine  Anschauung  des 
Baumes  und  der  Zeit  dazu  gehört  Diese  Rezeptivität  der 
Empfindung  hat  jedoeh  bei  Schopenhauer  eine  andere  meta- 


0  Vgl.  S.  25  dieser  Schrift 
«)  1,560. 


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74 

physische  Grnndlage,  als  bei  Kant,  insofern  nämlich  einer  Wirk- 
samkeit von  Dingen  an  sich  aaf  uns  fllr  ihn  ansgeschlossen  bleibt. 
In  welchem  Sinne  die  Rezeptivität  der  Empfindangen  bei  Schopen- 
haner  eine  metaphysische  Bedeutung  hat,  geht  aus  folgender 
Stelle  hervor:  „Könnten  wir  eine  gegebene  Materie  von  allen  ihr 
a  priori  zukommenden  Eigenschaften,  d.  h.  von  allen  Formen 
unserer  Anschauung  und  Apprehension  entkleiden,  so  wtlrden  wir 
das  Ding  an  sich  übrig  behalten,  nämlich  dasjenige,  was  mittels 
jener  Formen  als  das  rein  Empirische  an  der  Materie  auftritt, 
welche  selbst  aber  alsdann  nicht  mehr  als  ein  Ausgedehntes 
und  Wirkendes  erscheinen  würde,  d.  h.  wir  würden  keine  Materie 
mehr  vor  uns  haben,  sondern  den  Willen.^ i)  Die  bloCsen 
Empfindungen  also,  so  dürfen  wir  interpretierend  sagen,  sind 
in  derjenigen  unserm  Erkennen  unzugänglichen  Weise  ent- 
standen zu  denken,  die  für  die  methaphysische  Beziehung  des 
Willens  als  des  Dinges  an  sich  der  aufser  uns  vorhandenen 
Materie  zu  dem  Willen  als  dem  Ding  an  sich  in  uns  selbst 
gilt,  und  sich  unserm  Vorstellen  als  die  Wirksamkeit  der 
Materie  auf  unsere  Sinnesorgane  darstellt  Insofern  sie,  so 
kann  im  Sinne  Schopenhauers  gefolgert  werden,  ihren  meta- 
physischen Ursprung  nicht  lediglich  in  dem  Willen  als  dem 
Ding  an  sich  in  uns  selbst,  sondern  zum  andern  Teil  auch  in 
dem  Willen  als  dem  Ding  an  sich  der  Materie  aufser  nns 
nehmen,  sind  sie  rezeptiv^  im  Gegensatz  zur  Spontanität  unseres 
Intellektes,  der  als  Wille  zum  Erkennen  lediglich  unserm 
eigenen  Willen  metaphysisch  entspringt.^)  Die  Lehre  Schopen- 
hauers von  der  Rezeptivität  der  Sinnesempfindungen  enthält 
jedoch  trotz  der  formalen  Ablehnung  der  Kausalität  für  das 
Verhältnis  der  Dinge  an  sich  zu  uns,  und  trotz  des  heftigen 
Widerspruchs  Schopenhauers  gegen  die  der  Lehre  Kants  tat- 
sächlich zugrunde  liegende  Voraussetzung  wirkender  Dinge 
an  sich  eine  analoge  Schwierigkeit  wie  die  Lehre  Kants.  Sie 
liegt  darin,  dafs  für  eine  kritische  Betrachtung  die  Annahme 
eines  metaphysischen  Zusammenhanges  des  Willens  in  dem 
aufser  uns  Vorhandenen  mit  unserem  eigenen  metaphysischen 
Willen  nicht  anders  als  im  Sinne  eines  kausalen  Znsammen- 


»)  ir,  360. 

*)  Vgl.  S.  6  dieser  Schrift. 


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75 

hangea  ^eTständlieh  ist.  Dazu  kommt  bei  Sobopenbaner,  dafs 
dei  Aufweis  des  Willens  in  dem  anfser  uns  Vorbandenen  sich 
ala  eme  Beibe  von  Analogiescbltlssen  darstellt,  der  die  Vor- 
anBsetziiBg  des  im  Prinzip  ansgescblossenen  Kausalgesetzes  in 
der  Tat  doeb  wieder  zngrnnde  liegt,  nämlieb  in  dem  still- 
schweigend Yoransgesetzten  Postnlat,  dafs  in  den  Körpern 
anlser  nns  in  dem  Halse,  wie  sie  dem  unseren  ähnlich  sind, 
ähnliehe  Ursaehen  wirksam  sind.^) 

völlig  gewonnen  ist  Sebopenbauer  von  Kants  Lehre  in 
der  transzendentalen  Ästhetik.  Er  ist  mit  Kant,  auch  den 
Beweisgründen  nach,  einverstanden,  dafs  ein  Verständnis  der 
Sinnenwelt  nur  dadurch  mögUeh  ist,  dafs  Baum  und  Zeit  als 
apriorische  Formen  der  sinnlichen  Anschauung  angesehen 
werden.*) 

Ein  Schopenhauer  eigentttmlicbes  Argument  ist  darin  ge- 
geben, dafs  „die  blofse  Zeit  keine  physische  Wirkung  bervor- 
znbringen  vermag^,')  sie  „vielmehr  über  die  Dinge  binfliefst, 
ohne  ihnen  die  leiseste  Spur  aufzudrücken'' ,3)  und  dafs  ,die 
Materie  durch  alle  sie  ausdebnende  Zerteilung  oder  auch 
wiederum  Zusammenpressung  im  Baume  weder  vermehrt  noch 

vermindert  werden  kann,  wie  auch dafs  im  absoluten  Baume 

Bähe  und  geradlinige  Bewegung  phoronomisch  zusammenfallen 
und  dasselbe  sind',^)  ein  Argument  also,  das  diesem  Besultat 
nach  zwar  in  Übereinstimmung  mit  Kant,  die  funktionale 
Unabhängigkeit  der  Baum-  und  Zeitbeziehung  von  der  Kausali- 
tät und  damit  von  der  Wirklichkeit  dartut.  Dieser  Gedanke 
ist  schon  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  Band  11.  1.  Aufl. 
angelegt.  Dort  heifst  es:  «Man  kann  selbst,  indem  man  die 
Machtlosigkeit  der  Zeit  den  Naturkräften  gegenüber  ins  Auge 
fiabt,  von  der  blofsen  Idealittt  dieser  Form  unserer  Anschauung 
gewissermafsen  sieh  empirisch  und  faktisch  tlberzengen.*^)    Mit 


1)  VglBudolf  Seydel  „Schopenhauers  phUosophisches  System",  S.22ff., 
64 f.,  Johannes  Volkelt,  Arthur  Schopenhauer,  Fromnums  Khisslker  der 
Philosophie,  Band  X,  3.  Aufl.  1907,  S.  107  und  Robert  Schlüter  a.  a.  0., 
S.23f. 

*)  Sieh  Oswald  Külpe,  Immanuel  Kant,  »Aus  Natur  und  Geisteswelt* 
146.  Biadehen,  3.  Aufl.,  Leipzig  1912,  S.  57. 

»)  V,  47;  Shnlich  IV,  105.  *)  V,  49. 

0  II,  852. 


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76 

dieBem  Gedanken,  so  haben  wir  za  sagen,  ist  die  Idealität  des 
Ranmes  nnd  der  Zeit  auch,  gegenüber  der  empirischen  Wirk- 
lichkeit dargetan;  denn  es  «folgt,  dafs  die  Zeit  etwas  die 
Körper  nicht  Berührendes  ist,  ja  dafs  beide  heterogener  Katnr 
sind,  indem  diejenige  Realität,  welche  den  Körpern  zakommt, 
der  Zeit  nicht  beizulegen  ist,  wonach  denn  diese  absolut  ideal 
ist,  d.  h.  der  blofsen  Vorstellung  und  ihrem  Apparat  angehört' 0 
Sie  ist  , nichts  Wahrnehmbares,  nichts  äufserlich  Gegebenes 
und  auf  uns  Einwirkendes,  also  kein  eigentlich  Objektives.' 2) 
Mit  dieser  Argumentation  für  die  Idealität  des  Raumes  und 
der  Zeit  bleibt  die  schon  in  den  früheren  Schriften  Schopen- 
hauers gegebene  zugleich  bestehen:  Die  «Materie  ist  demnach 
nur  die  objektivierte,  d.  h.  nach  aufisen  projizierte  Verstandes- 
funktion der  Kausalität  selbst, demzufolge  gibt,  bei  der 

objektiven  Auffassung  der  Körperwelt  der  Intellekt  die  sämt- 
lichen Formen  derselben  aus  eigenen  Mitteln,  nämlich  Zeit, 
Raum  und  Kausalität,  und  mit  dieser  auch  den  Begriff  der 
abstrakt  gedachten,  eigenschafts-  und  formlosen  Materie,  die 
als  solche  in  der  Erfahrung  gar  nicht  vorkommen  kann.* ')  .Mit 
unendlich  überlegener  Besonnenheit  zeigte  nun  später  Kant, 
dafs  auch  diese  Eigenschaften  [die  primären  Qualitäten  Lecks] 
nicht  dem  rein  objektiven  Wesen  der  Dinge  oder  dem  Dinge 
an  sich  selbst  zukommen,  also  nicht  schlechthin  real  sein 
können,  weil  sie  durch  Raum,  Zeit  und  Kausalität  bedingt 
seien,  diese  aber,  und  zwar  ihrer  ganzen  Gesetzmälsigkeit  und 
Beschaffenheit  nach  uns  vor  aller  Erfahrung  gegeben  und 
genau  bekannt  seien;  daher  sie  präformiert  in  uns  liegen 
müssen,  so  gut  wie  die  spezifische  Art  der  Empfänglichkeit 
und  Tätigkeit  jedes  unserer  Sinne.*  ^) 

Einen  doppelten  Sinn  der  Idealität  des  Raumes  und  der 
Zeit,  so  seheint  es,  haben  wir  zu  unterscheiden;  sie  sind  erstens 
ideal  gegenüber  der  empirischen  Wirklichkeit  und  zusammen 
mit  dieser  im  weiteren  Sinne  ideal  gegenüber  der  Welt  des 
Willens  als  des  Dinges  an  sich.  Es  scheint  allerdings  nur  so; 
denn  dem  aufmerksamen  Leser  der  Parerga  und  Paraligomena; 
insbesondere  des  zweiten  Bandes,  wird  es  nicht  entgehen,  dafs 


»)  V,  48.  »)  V,  50. 

»)  V,  119.  *)  IV,  106,  107. 


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77 

hier  ein  Gedanke  sich  darcbzariDgen  sncht,  der  der  Sache 
nach  eine  Einschränkung  der  Idealität  der  Welt  als  Vorstellung 
bedeutet  An  der  oben  zitierten  Stelle  heifst  es  nämlich  weiter: 
„Während  hingegen  die  Körper  dorch  die  mannigfaltige  Ver- 
Bchiedenheit  ihrer  Qualitäten  und  deren  Wirkungen  an  den 
Tag  legen,  dafs  sie  nicht  blofs  ideal  sind,  sondern  zugleich  ein 
objektiv  Reales,  ein  Ding  an  sich  selbst,  in  ihnen  sich  offen* 
bart,  so  verschieden  solches  auch  von  dieser  seiner  Erscheinung 
sein  möge.^  >)  Schon  in  der  ersten  Auflage  des  II.  Bandes  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung  findet  sich  eine  ähnliche,  bereits 
oben  einmal  zitierte  Ausführung:  „Könnten  wir  eine  gegebene 
Materie  von  allen  ihr  a  priori  zukommenden  Eigenschaften  .... 
entkleiden,  so  würden  wir  das  Ding  an  sich  ttbrig  behalten, 
Dämlich  dasjenige,  was  mittelst  jener  Formen  als  das  rein 
Empirische  an  der  Materie  auftritt  . .  .^ ')  In  diesem  Sinne 
ist  aneh  die,  die  transzendentale  Problemstellung  Kants  freilich 
verkennende  Interpretation  der  Kantischen  Philosophie  ge- 
halten, die  Schopenhauer  im  ersten  Band  der  Parerga  und 
Paralipomena  gibt,  dort  heifst  es:  „Nach  Kants  Entdeckungen 
enthält . . .  unsere  empirische  Erkenntnis  ein  Element,  welches 
nachweisbar  subjektiven  Ursprungs  ist,  und  ein  anderes, 
Ton  dem  dieses  nicht  gilt:  dieses  letztere  bleibt  also  objektiv, 
weil  kein  Grund  ist,  es  fttr  subjektiv  zu  halten.  Demgemäfs 
leugnet  Kants  transzendentaler  Idealismus  das  objektive  Wesen 
der  Dinge  oder  die  von  unserer  Auffassung  unabhängige 
Realität  derselben  zwar  soweit,  als  das  Apriori  in  unserer 
Erkenntnis  sich  erstreckt,  jedoch  nicht  weiter,  weil  eben  der 
Crrnnd  zum  Ableugnen  nicht  weiter  reicht:  was  darüber  hinaus- 
liegt, läfst  er  demnach  bestehen,  also  alle  solche  Eigenschaften 
der  Dinge,  welche  sieh  nicht  a  priori  konstruieren  lassen. 
Denn  keineswegs  ist  das  ganze  Wesen  der  gegebenen  Er« 
scheinungen,  d.  h.  der  Körperwelt,  von  uns  a  priori  bestimmbar, 
Bondem  blofs  die  allgemeine  Form  ihrer  Erscheinung  ist  es, 
und  diese  läfist  sich  zurückfahren  auf  Raum,  Zeit  und  Kausali- 
tät, nebst  der  gesamten  Gesetzlichkeit  dieser  drei  Formen. 
Hingegen  das  durch  alle  jene  a  priori  vorhandenen  Formen 
unbestimmt  Gelassene,  also  das  hinsiohtlich  auf  sie  Zufällige, 


0  V,  48.  «)  II,  360. 


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78 

ist  eben  die  Manifestation  des  Dinges  an  sich  selbst^  0  ^^^^ 
hier  ist  zwar  die  Kausalität  als  a  priorische  Form  dem  Baum 
und  der  Zeit  wiederam  koordiniert;  doch  gibt  es  auch  hier  einen 
empirischen  Bestand  der  Materie,  der  in  einem  weiteren  Sinne 
real  ist  als  die  blofs  vorgestellte  Wirklichkeit,  weil  er  nämlich 
anf  das  zagrnnde  liegende  Ding  an  sich  hinweist  Dieser 
empirische  Bestand  ist  eben  das,  was  sich  als  die  spezifischen 
Körper  darstellt,  die  an  der  oben  genannten  Stelle  als  das 
physisch  Beale  der  Idealität  von  Raum  und  Zeit  gegenttber- 
gestellt  wurden.  In  diesem  Sinne  wird  anch  folgende  Aus- 
führnng  verständlich:  „Sobald  nun  aber  der  Intellekt  mittelst 
dieser  Formen  und  in  ihnen  einen  (stets  nnr  von  der  Sinnes- 
empfindang  aasgehenden),  realen  Gehalt,  d.  h.  etwas  von  seinen 
eigenen  Erkenntnisformen  Unabhängiges  spürt,  welches  nicht 
im  Wirken  Überhaupt,  sondern  in  einer  bestimmten  Wirkungs- 
art sich  kundgibt,  so  ist  es  dies,  was  er  als  Körper,  d.  h.  als 
geformte  und  spezifisch  bestimmte  Materie  setzt,  welche  also 
als  ein  von  seinen  Formen  Unabhängiges  auftritt,  d.  h.  als  ein 
durchaus  Objektives.  Hierbei  hat  man  sich  aber  zu  erinnern, 
dafs  die  empirisch  gegebene  Materie  sich  Überall  nur  durch 
die  in  ihr  sich  äufsernden  Kräfte  manifestiert  . . .  Beide  zu- 
sammen machen  den  empirisch  realen  Körper  aus.  . . .  Das  in 
einem  solchen  empirisch  gegebenen  Körper,  also  in  jeder  Er- 
scheinung, sich  darstellende  Ding  an  sich  selbst,  habe  ich  als 
Willen  nachgewiesen.' 2) 

Wird  nun  aber  so  auch  verständlich,  wie  der  Begriff  der 
Materie  überhaupt  zwar  eine  a  priorische  Form  unseres  In- 
tellektes, die  spezifische  Art  des  Wirkens  aber  von  diesen 
Formen  unabhängig  sei,  so  bleibt  doch  noch  eine  innerhalb 
des  Gedankenganges  Schopenhauers  unaufhebbare  Schwierig- 
keit; denn  anch  für  die  Parerga  und  Paralipomena  gilt:  .Unsere 
ganze  empirische  Erkenntnis  löst  sich  in  zwei  Bestandteile  auf, 
welche  beide  ihren  Ursprung  in  uns  selbst  haben,  nämlich  die 
Sinnesempfindung  und  die  a  priori  gegebenen,  also  in  den 
Funktionen  unseres  Intellekts  oder  Gehirns  gelegenen  Formen 
Zeit,  Raum  und  Kausalität . . .  Demzufolge  liefert  die  anschau- 
liche Vorstellung  und  unsere  auf  ihr  beruhende  empirische 


')1V,  111.  «)V,  119. 


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79 

Erkenntnis  in  Wahrheit  keine  Data  zu  Sehlttssen  anf  Dinge 
an  sich.^1)  „In  der  Tat  ist  das  Ding  an  sieh  auf  diesem 
Wege  [dureh  den  Übergang  von  der  Wirkung  zur  Ursache] 
nimmermehr  zu  erreichen,  und  überhaupt  nicht  auf  dem  der 
rein  objektiven  Erkenntnis,  als  welche  immer  Vorstellung  bleibt, 
als  solche  aber  im  Subjekt  wurzelt  und  nie  etwas  von  der 
Vorotellong  wirklich  Verschiedenes  liefern  kann.^^)  Entgegen 
dieser  prinzipiell  festgehaltenen  «gänzlichen  Diversität  des 
Realen  und  Idealen*^)  enthalten  die  oben  angeftthrten 
Wendungen  Schopenhauers  den  Gedanken  eines  empirischen 
Kriteriams  für  die  Zogehörigkeit  des  vorerst  blols  vorge- 
stellten Wirklichen  zum  transzendenten  Wirklichen.  Em- 
piriseh  ist  dieses  Kriterium  im  Gegensatz  zu  der  dem  Satz 
vom  Grunde  nicht  unterworfenen  Kontemplation  der  Idee  als 
der  Objektität  des  Willens;  denn  „die  Idee  . . .  geht  in  jenes 
Prinzip  nicht  ein:  daher  ihr  weder  Vielheit  noch  Wechsel 
zakommi  Während  die  Individuen,  in  denen  sie  sich  darstellt, 
unzählige  sind  und  unaufhaltsam  werden  und  vergehen,  bleibt 
sie  unverändert  als  die  eine  und  selbe  stehen,  und  der  Satz 
Tom  Grunde  hat  ftir  sie  keine  Bedeutung.''^) 

Mit  den  angeführten  realistischen  Wendungen  nähert  sich 
Sehopenhauer  der  von  ihm  im  Prinzip  verkannten  transzenden- 
talen Problemstellung  Kants  in  der  Frage  nach  der  objektiven 
Gflltigkeit  unseres  Erkennens:  ,Auf  welchem  Grunde  beruhet 
die  Beziehung  desjenigen,  was  man  in  uns  Vorstellung  nennt, 
anf  den  Gegenstand?*"  &),  sofern  nämlich  hierbei  Gegenstand 
nicht  gleichbedeutend  ist  mit  Vorstellung,  sondern  mit  Ding 
an  sieh.  Die  beiden  Merkmale  des  Begriffes  des  a  priori,  die 
wir  bei  Kant  unterscheiden  können,  das  genetische,  demzufolge 
ein  Begriff  nicht  in  dem  Empirischen  der  Erfahrung  seinen 
Ureprung  hat,  und  das  erkenntnistheoretische,  demgemäfs  er 
onabhängig  von  jeder  Bestätigung  durch  die  Erfahrung  gültig  ist, 
können  mi  zwar  auch  bei  Schopenhauer  aufweisen.  Für  ersteres 
sprechen  alle  die  Bemerkungen,  die  das  apriori  Gegebene  als 


*)  IV,  113f.  «)  IV,  114. 

»)IV,  106.  *)  1,233. 

<)  Brief  Kants  %rk  Markus  Herz,  21.  Febr.  1772;  ähnlich  so  Kritik 
der  remen  Vernunft,  2.  Aufl.  S.  122. 


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80 

«Dicht  anf  dem  Wege  der  Erfahrnng  gewonnen,  also  nieht 
von  anf  gen  in  nns  gekommen*  i)  kennzeichnen,  ftlr  letzteies 
alle  diejenigen,  die  die  Erkenntnisse  a  priori  als  Bedingungen 
möglicher  Erfahrung^)  charakterisieren.  Die  Frage  naeh  der 
objektiven  Gültigkeit  unseres  Erkennens  aber  hat  Air  Schopen- 
haner  im  Prinzip  wenigstens  lediglich  für  die  vorgestellten 
Objekte  einen  Sinn. 

Aber  auch  wenn  wir  die  angeführten  realistischen 
Wendungen  Schopenhauers  einmal  gelten  lassen,  so  bleibt  die 
Behauptung  der  Idealität  von  Baum  und  Zeit  gegenüber  dem 
empirisch  Wirklichen  ein  Kant  nicht  eigentümlicher  Gedanke; 
denn  Raum  und  Zeit  haben  für  Kant  eine  empirische  Realität 
in  demselben  Sinne  wie  jede  empirische  Erkenntnis;  sie  sind 
für  ihn  nicht  blofse  Vorstellungen,  sondern  Erscheinungen  und 
weisen  als  solche  ebenso  wie  das  Mannigfaltige  der  Sinnes- 
empfindungen auf  das  ihnen  zugrunde  liegende  Transzendente 
hin,  freilich  nicht  wie  das  Empirische  an  der  Materie  bei 
Schopenhauer  vermöge  ihrer  Unabhängigkeit  von  den  Er- 
kenntnisformen, sondern  vermittelst  dieser. 

Zu  den  beiden  genannten  kommt  ein  dritter  Berührungs- 
punkt, nämlich  in  der  Lehre  vom  Gegenstande  überhaupt 
«Das  was  allen  unsem  empirischen  Begriffen  überhaupt 
Beziehung  auf  einen  Gegenstand,  die  objektive  Realität,  ver- 
schaffen kann",  ist  nach  Kant  „der  reine  Begriff  von  dem  trans- 
zendentalen Gegenstande.*  Diese  Beziehung  aber  ist  nichts 
Anderes,  als  die  notwendige  Einheit  des  Bewufstseins,  mithin 
die  Synthesis  des  Mannigfaltigen  durch  gemeinschaftliche 
Funktion  des  Gemüts,  es  in  einer  Vorstellung  zu  verbinden^), 
die  Einheit  der  «transzendentalen  Apperzeption^.  „Das  Denken 
eines  Objektes  überhaupt"  ist  bei  Kant  nicht  eine  selbständige, 
anderen  koordinierte  Funktion  des  Denkens,  es  ist  vielmehr 
das  den  reinen  Kategorien  gemeinsame  Merkmal.  „Durch  eine 
reine  Kategorie  nun,  in  welcher  von  aller  Bedingung  der 
sinnlichen  Anschauung  als  der  einzigen,  die  uns  möglich  ist. 


»)  1,559. 

*)  1, 109;  11,96;  ähnlich  II,  358  and  Arthur  Schopenhauers  sämtliche 
Werke,  herausgegeben  von  P.  DenDsen,  Bd«  IX,  S.  121,  Z.  11  ff. 
*)  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  109. 


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81 

abstrahiert  wird,  wird  also  kein  Objekt  bestimmt,  sondern  nnr 
das  Denken  eines  Objekts  überhaupt  nach  versehiedenen  Modis 
(des  Urteilens)  aasgedrftekt'^^)  Das  Problem  des  Gegenstandes 
überbaapt  geht  bei  Schopenhauer  in  dem  der  Vorstellnng  über- 
haupt anf:  „Objekt  für  das  Subjekt  sein  und  unsere  Vorstellung 
BeiD,  ist  dasselbe".^)  Jenes  Problem  ist  diesem  darin  analog, 
dars  auch  die  Form  der  Vorstellung  überhaupt  bei  Schopenhauer 
keiner  anderen  Form  des  Denkens  gleichgeordnet,  sondern  die 
allen  Klassen  der  Vorstellungen  übergeordnete,  weil  in  ihnen 
als  gemeinsames  Merkmal  enthaltene  Form  ist.  Dieses  mit 
der  Lehre  Kants  Übereinkommende  meint  Schopenhauer,  wenn 
er  sagt:  ,Wenn  wir  Kants  ÄuDserungen  zusammenfassen, 
werden  wir  finden,  dalB,  was  er  unter  der  synthetischen  Einheit 
der  Apperzeption  versteht,  gleichsam  das  ansdehnungslose 
Zentrum  der  Sphäre  aller  unserer  Vorstellungen  ist,  deren 
Radien  zu  ihm  konvergieren.  Es  ist,  was  ich  das  Subjekt  des 
Erkennens,  das  Korrelat  aller  Vorstellungen  nenne".^)  Eine 
Spezialisiernng  des  genannten  Problems  liegt  bei  Schopenhauer 
in  der  Aufstellung  der  vier  Klassen  der  Vorstellungen,  eine 
Erweiterung  darin,  dafs  Baum  und  Zeit  als  den  übrigen 
koordinierte  Vorstellungen  gelten.  Damit  hängt  zusammen,  dafs 
bei  Schopenhauer  die  Beziehungen  des  Baumes,  der  Zeit  und 
der  Kausalität,  im  Unterschied  von  Kant,  aus  einer  gemeinsamen 
lo^schen  Wurzel,  nämlich  der  des  Satzes  vom  Grunde,  abgeleitet 
werden.  Auch  Kant  sagt  gelegentlich,  „dafs  es  zwei  Stämme 
der  menschlichen  Erkenntnis  gebe,  die  vielleicht  aus  einer 
gemeinschaftlichen,  aber  uns  unbekannten  Wurzel  entspringen, 
Dämüeh  Sinnlichkeit  und  Verstand",*)  jedoch  ist  hier  die  Wurzel 
eine  metaphysische  und  in  der  unio  realis  des  mundus  sensibiUs 
und  des  mundus  intelligibilis,  die  Kant  im  Menschen  vollzogen 
sieht,  gegeben.  Als  metaphysisch  fundierte,  hat  diese  Annahme 
allerdings  ein  Analogen  bei  Schopenhauer,  nämlich  in  der  Lehre 
^om  Willen  als  dem  metaphysischen  Ursprung  des  Intellektes, 
einschliefslich   der   Sinnesempfindungen.^)     Es   ist   aber  nicht 

')  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernnnft  S.  304. 
')III,40.  »)  1,576. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  29. 
')  Sieh  S.  24,  25  dieser  Schrift. 

I*^il<Mopfaiiohe  AbhMidluD^en.    XLII.  6 


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82 

ansgeschlosBen,  dafs  jene  Bemerkung  Kants,  deren  Gedanke 
für  die  Entwicklung  der  Philosophie  nach  Kant  bedentsam 
geworden  ist,  so  bei  Reinhold  und  Fichte,  auch  auf  Schopenhauer, 
vielleicht  unter  dem  Miteinflufs  letzterer,  unabhängig  aber,  wie 
wohl  anzunehmen  ist,  von  verwandten  Gedanken  bei  Ch.  A. 
Grusius,!)  anregend  für  den  bertthi*ten  Punkt  seiner  Lehre  von 
der  Wurzel  des  Satzes  vom  Grunde  gewirkt  hat.  Eine  Ver- 
engung des  eben  genannten  Problems  liegt  bei  Schopenhauer 
darin,  dafs  die  Frage  nach  dem  Geltungsbereich  der  Kategorien 
über  unsere  sinnliche  Anschauung  hinaus,  die  bei  Kant  in  dem 
Sinne  beantwortet  wird,  dafs  die  reinen  Verstandesbegriffe  sieb 
auf  Gegenstände  der  Anschauung  überhaupt  erstrecken,  sie  mag 
der  unsrigen  ähnlich  sein  oder  nicht,  wenn  sie  nur  sinnlieh 
und  nicht  intellektuell  ist,^)  bei  Schopenhauer  fortfällt  und 
endlich  darin,  dafs  die  Bestimmung  des  transzendentalen 
Objektes  als  eines  Grenzbegriffes  für  Schopenhauer  dadureh 
ausgeschlossen  ist,  dafs  das  Objekt  des  Erkennens  bei  ihm 
im  Prinzip  lediglich  als  Vorstellung  Bedeutung  hat.  Dies  fllhrt 
uns  zu  der  Frage  nach  dem  Gegenstande  der  empirischen 
Erkenntnis  in  den  Lehren  beider. 


Gegenstand  der  empirischen  Ansehanung  und 
Znstandekommen  derselben. 

Die  Lehre  Kants  vom  Gegenstande  der  Erkenntnis  ist 
von  Schopenhauer  einer  scharfen  Kritik  unterzogen  worden. 
Als  schwerer  Mangel  an  der  Lehre  Kants  erscheint  ihm  die 
Unvereinbarkeit  des  durch  den  Verstand  gedachten  Gegen- 
standes der  Erkenntnis  mit  der  anschaulichen  Vorstellung. 
Das  JtQcoTov  tpsvöog  dieses  Zwiespaltes  findet  er  in  folgender 
Ausführung  Kants:  „Unsere  Erkenntnis  hat  zwei  Quellen, 
nämlich  Rezeptivität  der  Eindrücke  und  Spontaneität  der  Be- 
griffe: Die  erste  ist  die  Fähigkeit,  Vorstellungen  zu  empfangen, 


')  Gh.  A.  Grosias,  „Dissertatio  pbilosopbiea  de  usu  et  limitibus  principü 
determinantis  vulgo  snfficientis  1743*'  und  „Entwarf  der  notwendi^n  Ver- 
nnoftwabiheiten  1745*',  4.  Aufl.  1766,  letzteres  Werk  von  Schopenhauer 
zitiert  Nachlafs  4,  S.  345. 

•)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  148. 


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83 

die  zweite  die,  einen  Gegenstand  durch  diese  Vorstellungen 
zn  erkennen;  durch  die  erste  wird  uns  ein  Gegenstand  gegeben 
dnrch  die  zweite  wird  er  gedacht^ 0  Danach,  so  folgert 
Schopenhauer,  wäre  der  Eindruck,  für  den  allein  wir  blofse 
Rezeptivität  haben,  der  also  von  anfsen  kommt  und  allein 
eigentlich  „gegeben*  ist,  schon  eine  Vorstellung,  ja  sogar  schon 
ein  Gegenstand.^)  Mit  der  Bestimmung,  dafs  durch  die  Sinnlich- 
keit der  Gegenstand  gegeben  sei, 'kann  Schopenhauer  die  des 
Gegenstandes  der  Erkenntnis  bei  Kant  nicht  vereinigen.  Er 
sagt:  Kant  „unterscheidet  eigentlich  dreierlei:  1.  die  Vor- 
flteUuog,  2.  den  Gegenstand  der  Vorstellung,  3.  das  Ding  an  sich. 
Erstere  ist  Sache  der  Sinnlichkeit,  welche  bei  ihm  neben  der  Em- 
pfindung auch  die  reinen  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit  be- 
greift Das  zweite  ist  Sache  des  Verstandes,  der  es  dnrch  seine 
zwölf  Kategorien  hinzudenkt  Das  dritte  liegt  jenseit  aller  Er- 
kennbarkeit . . .  Nun  ist  aber  die  Unterscheidung  der  Vorstellung 
und  des  Gegenstandes  der  Vorstellung  unbegründet  .  .  .  Das 
anberechtigte  Einschieben  jenes  Zwitters,  Gegenstand  der  Vor- 
stellaog,  ist  die  Quelle  der  Irrtümer  Kants '.^)  Ferner:  Es  «ist 
klar,  dafs  Kants  ,Gegenstand  der  Vorstellung'  zusammengesetzt 
ist  ans  dem,  was  er  teils  der  Vorstellung,  teils  dem  Ding  an  sich 
geraubt  hat".*)  Eine  Verdoppelung  also  des  Problems  des  Gegen- 
standes der  empirischen  Anschauung,  so  dürfen  wir  formulieren, 
liegt  nach  Schopenhauers  Meinung  bei  Kant  vor,  so  zwar,  dafs 
im  ersten  Falle  lediglich  nach  dem  Gegenstande  der  Er- 
seheinung,  im  zweiten  aber  auch  nach  seiner  transzendenten 
Bedeutung  gefragt  werde.  Diese  Auffassung  Schopenhauers 
tritt  deutlicher  noch  aus  folgender  Ausführung  hervor:  „Wenn 
TO  nun  Kants  innerste,  von  ihm  selbst  nicht  deutlich  aus- 
gesprochene Meinung  zu  erforschen  uns  bemühen,  so  finden 
wir,  dafs  wirklich  ein  solches,  von  der  Anschauung  ver- 
schiedenes Objekt,  das  aber  auch  keineswegs  ein  Begriff  ist, 
ibm  der  eigentliche  Gegenstand  für  den  Verstand  ist,  ja  dafs 
die  sonderbare  Voraussetzung  eines   solchen   unvorstellbaren 


0  1,560;  bei  Kant:  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  74. 
*)  1, 560. 
•)  1,567. 
*)  1, 568. 


6* 

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84 

Gegenstandes  es  eigentlich  sein  soll,  wodurch  allererst  die  An- 
schauung zur  Erfahrung  wird.  Ich  glaube,  dafs  ein  altes, 
eingewurzeltes,  aller  Untersuchung  abgestorbenes  Vorurteil  in 
Kant  der  letzte  Grund  ist,  von  der  Annahme  eines  solchen 
absoluten  Objekts,  welches  an  sich,  d.  h.  auch  ohne  Subjekt, 
Objekt  ist.  Es  ist  durchaus  nicht  das  angeschaute  Objekt, 
sondern  es  wird  durch  den  Begriff  zur  Anschauung  hinzu- 
gedacht, als  etwas  derselben  Entsprechendes,  und  nunmehr  ist 
die  Anschauung  Erfahrung  und  hat  Wert  und  Wahrheit,  die 

sie  folglich  erst  durch  die  Beziehung  auf  einen  Begriff  erhält 

Das  Hinzudenken  dieses  direkt  nicht  vorstellbaren  Objekts 
zur  Anschauung  ist  dann  die  eigentliche  Funktion  der  Kate- 
gorien.^1)  Bei  Kant  ist  «der  Gegenstand  der  Kategorien  zwar 
nicht  das  Ding  an  sich,  aber  doch  dessen  nächster  Anverwandter; 
es  ist  das  Objekt  an  sich,  ist  ein  Objekt,  das  keines  Subjekts 
bedarf,  es  ist  ein  einzelnes  Ding  und  doch  nicht  in  Zeit  und 
Raum,  weil  nicht  anschaulich,  ist  Gegenstand  des  Denkens, 
und  doch  nicht  abstrakter  Begriff. '2)  Diese  Verdoppelung  des 
Gegenstandes  der  empirischen  Anschauung  hält  Schopenhauer 
im  Prinzip  für  verfehlt.  Für  ihn  vielmehr  « steht  dies  fest,  daCs 
bei  deutlicher  Bestimmung  nichts  weiter  zu  finden  ist,  als 
Vorstellung  und  Ding  an  sich*. 3) 

Mit  dieser  erkenntnistheoretisch  gerichteten  Kritik  durch- 
flochten  ist  ein  psychologisches  Bedenken,  dafs  sich  gegen  die 
dem  Mangel  in  der  Gegenstandsbestimmung  zugrunde  liegenden 
Voraussetzungen  Kants  über  das  Zustandekommen  der  An- 
schauung und  der  Erkenntnis  des  empirischen  Gegenstandes 
bei  Kant  richtet. 

Über  erstere  sagt  Schopenhauer:  „Nach  der  in  der  trans- 
zendentalen Ästhetik  gegebenen  ausführlichen  Erörterung  der 
allgemeinen  Formen  der  Anschauung  mufs  man  erwarten,  doch 
einige  Aufklärung  zu  erhalten  über  den  Inhalt  derselben,  über 
die  Art,  wie  die  empirische  Anschauung  in  unser  Bewufstsein 
kommt,  wie  die  Erkenntnis  dieser  ganzen,  für  uns  so  realen 
und  so  wichtigen  Welt  in  uns  entsteht  Allein  darüber  enthält 
die  ganze  Lehre  Kants  eigentlich  nichts  weiter  als  den  oft 

>)  1,564,  565.  «)  1,566,  567. 

■)  1, 567. 


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85 

wiederholten,  nichtssagenden  Ansdrnek:  „Das  Empirische  der 
Änschannng  wird  von  anfsen  gegeben.^  i)    Femer:  Kants  Fehler 
ist,   „dafs  er  keine  Theorie  der  Entstehung  der  empirischen 
Ansehanang  gibt,  sondern  diese  ohne  weiteres  gegeben  sein 
lärst,  sie  identifizierend  mit  der  blofsen  Sinnesempfindnng,  der 
er  noch  die  Anschanungsformen  Baum  und  Zeit  beigibt,  beide 
üDter  dem  Namen  Sinnlichkeit  begreifend.^)    An  anderer  Stelle 
sagt  er:  „Die  Wahrnehmung  ist  nämlich  bei  Kant  etwas  ganz 
Unmittelbares,  welches  ohne  alle  Beihilfe  des  Kausalnexas,  und 
mithin  des  Verstandes  zustande  kommt:  er  identifiziert  sie  gerade- 
zu mit  der  Empfindung." ')    Aus  einigen  von  Schopenhauer  an- 
gef&hrten  Stellen  Kants  geht  flir  Schopenhauer  «vollkommen 
deutlich  hervor,  dafs  bei  ihm  (Kant)  die  Wahrnehmung  äufserer 
Dioge  im  Raum  aller  Anwendung  des  Kausalgesetzes  vorher- 
gängig  ist,  dieses  also  nicht  in  jene,  als  Element  und  Bedingung 
derselben,  eingeht:  die  blofse  Sinnesempfindung  ist  ihm  sofort 
Wahrnehmung".^)     Aus  Kants  Lehre  folgt  fbr  Schopenhauer, 
^dafs  diese  anschauliche  Welt  flir  uns  da  wäre,  auch  wenn 
wir  gar  keinen  Verstand  hätten,  dafs  sie  auf  eine  ganz  un- 
erklärliche Weise  in  unsern  Kopf  kommt,  welches   er  eben 
durch  seinen  wunderlichen  Ausdruck,  die  Anschauung  wäre 
gegeben,  häufig   bezeichnet,   ohne   diesen   unbestimmten   und 
bildliehen  Ausdruck  je   weiter   zu    erklären".  5)     Findet   so, 
in    nnzureichender   Weise,    wie    Schopenhauer    meint,    die 
empirische    Anschauung    der    Gegenstände    bei    Kant    schon 
ohne   den    Verstand    statt,    so    ist    nach    seiner   Auffassung 
die  Erkenntnis  der  Gegenstände  bei  Kant  eine  Vermischung 
aas  Elementen   der  anschaulichen   und   der  abstrakten  Vor- 
stellung.    Er   sagt:    Kant    „läfst    die   Anschauung   fttr    sich 
genommen,  verstaudlos,  rein  sinnlich,  also  ganz  passiv  sein, 
nnd  erst  durch  das  Denken  (Verstandeskategorie)  einen  Gegen- 
Btand  au%efafst  werden:  so  bringt   er  das   Denken   in   die 
Anschauung.     Dann  ist  aber  wiederum  der  Gegenstand  des 
Denkens  ein  einzelnes,  reales  Objekt,  wodurch  das  Denken 
seinen  wesentlichen  Charakter  der  Allgemeinheit  und  Abstraktion 


T  1,559,  560.  ")  1,568. 

»)  111,97.  Oni,97. 


')  1,562;  ähnlich  1,564. 

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8G 

einbtlfst  und  statt  allgemeiner  Begriffe  einzelne  Dinge  znm 
Objekt  erhält,  wodurch  er  wieder  das  Anschauen  in  das 
Denken  bringt.  . . .  Dnrch  das  Ganze  (der  Theorie  Kants)  zieht 
sich  die  gänzliche  Vermischung  der  anschaulichen  VorstelloDg 
mit  der  abstrakten  zu  einem  Mittelding  von  beiden,  welches 
er  als  den  Gegenstand  der  Erkenntnis  durch  den  Verstand  nnd 
dessen  Kategorien  darstellt  und  diese  Erkenntnis  Errahrang 
nennt.'' 1)  «Kant  aber  schreibt  die  Gegenstände  selbst  dem 
Denken  zu,  um  dadurch  die  Erfahrung  und  die  objektive  Welt 
vom  Verstände  abhängig  zu  machen,  ohne  jedoch  diesen  ein  Ver- 
mögen der  Anschauung  sein  zu  lassen.  In  dieser  Beziehnog 
unterscheidet  er  allerdings  das  Anschauen  vom  Denken,  macht 
aber  die  einzelnen  Dinge  zum  Gegenstande  teils  der  AnschanuDg, 
teils  des  Denkens."^) 

Mit  dem  Bedenken,  das  Schopenhauer  gegen  eine  Ver- 
mischung der  anschaulichen  Vorstellung  mit  der  abstrakten  bei 
Kant  richtet,  steht  auch  die  Kritik,  die  er  an  der  Bestimmung 
des  Verstandes  bei  Kant  übt,  im  Znsammenhang.  Nach  einer 
ersten  Fassung  Kants  sei,  so  meint  Schopenhauer,  der  Verstand 
kein  Vermögen  der  Anschauung,  seine  Erkenntnis  sei  nieht 
intuitiv,  sondern  diskursiv,  der  Verstand  sei  das  Vermögen,  zn 
urteilen,  und  ein  Urteil  sei  mittelbare  Erkenntnis,  Vorstellung 
einer  Vorstellung;  der  Verstand  sei  das  Vermögen  zu  denken, 
und  Denken  sei  die  Erkenntnis  durch  Begriffe . . . ')  Mit  dieser 
Fassung  kann  Schopenhauer  eine  zweite  nicht  vereinigen,  nach 
welcher  „  der  Verstand  durch  seine  Kategorien  Einheit  in  das 
Mannigfaltige  der  Anschauung  bringt,  und  die  reinen  Ver- 
standesbegriffe a  priori  auf  Gegenstände  der  Anschauung  gehen, 
die  Kategorien  Bedingung  der  Erfahrung  sind,  es  sei  der  An- 
schauung oder  des  Denkens,  das  in  ihr  angetroffen  wird,... 
die  Kategorien,  die  Anschauung  der  Gegenstände  bestimmen . . . 
der  Verstand  als  das  Vermögen  a  priori  zu  verbinden  und  das 
Mannigfaltige  gegebener  Vorstellungen  unter  die  Einheit  der 
Apperzeption  zu  bringen  erklärt  wird  ...  die  logische  Funktion 
der  Urteile  auch  das  Mannigfaltige  gegebener  Anschauungen 


»)  1,561. 

>)  1,565;  Khnifch  568. 

«)  1,561,  562. 


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87 

anter  eine  Apperzeption  Überhaupt  bringt  und  das  Mannigfaltige 
einer  gegebenen  Anschauung  notwendig  unter  den  Kategorien 
steht  . . .  das  Denken  des  Verstandes  dadurch  erklärt  wird, 
daffl  er  das  Mannigfaltige  der  Anschauung  synthesiert,  ver- 
bindet und  ordnet  . . . "  ^)  Schopenhauer  führt  zu  beiden  Arten 
der  Bestimmnng  des  Verstandes  noch  eine  Reihe  ähnlicher 
Äassprflehe  an,  die  gleichfalls  nachweisen  sollen,  dafs  der 
Verstand  einerseits  in  Übereinstimmung  mit  der  Voraussetzung, 
dals  die  Gegenstände  schon  durch  die  Sinnlichkeit  gegeben 
werden,  als  ein  Vermögen  der  begrifflichen  Erkenntnis  gekenn- 
zeichnet, ihm  also  eine  Funktion  zugeschrieben  werde,  die  der 
der  Vernunft  bei  Schopenhauer  analog  sei,  andererseits  aber 
eine  Reihe  von  Prädikaten  erhalte,  die  ihn  inkonsequenterweise 
als  ein  Vermögen  der  Anschauung  charakterisierten.  Auch  hier 
also  glanbt  Schopenhauer  eine  Vermischung  der  anschaulichen 
and  abstrakten  Vorstellung  bei  Kant  aufweisen  zu  können. 

Gegen  die  in  diesem  Sinne  aufgefafste  psychologische  Grund- 
lage der  Lehre  Kants  von  der  empirischen  Anschauung  richtet 
Schopenhauer  seine  Kritik.  Er  tadelt  einerseits,  dafs  bei  Kant 
die  Gegenstände  schon  durch  die  blofse  Sinnlichkeit  und  ohne 
die  kausale  Erkenntnisweise  des  Verstandes  gegeben  werden, 
andererseits  aber,  dafs  fttr  die  Erkenntnis  der  Gegenstände 
nicht  die  unmittelbare  Weise  des  Verstandes,  sondern  die  mit 
Hilfe  von  Begriffen,  also  einer  Funktion  der  Vernunft  im  Sinne 
Schopenhauers,  geltend  gemacht  werde.  Der  erste  Punkt  fliefst 
unter  dem  Gesichtspunkt  seiner  Interpretation  der  Lehre  Kants 
ans  der  Lehre  Schopenhauers  von  dem  Zustandekommen  der 
empirischen  Anschauung  ohne  weiteres  ab,  der  zufolge  der 
Hndraek  „nichts  weiter  als  eine  blofse  Empfindung  im  Sinnes- 
organe ist  und  erst  durch  Anwendung  des  Verstandes,  d.  i.  des 
Gesetzes  der  Kausalität  und  der  Anschauungsformen  des  Raumes 
and  der  Zeit  unser  Intellekt  diese  blofse  Empfindung  in  eine 
VorstelluDg  umwandelt,  welche  nunmehr  als  Gegenstand  in 
Banm  und  Zeit  dasteht*  >)  Den  zweiten  Einwand  führt 
Schopenhauer  folgendermafsen  durch.  Er  sagt:  „Damit  (mit  der 
Anwendung  des  Gesetzes  der  Kausalität)  ist  aber  das  Geschäft 


')  1,562,  568. 
')  1,560. 


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88 

des  Verstandes  und  der  anschauenden  Erkenntnis  vollbracht,  and 

es  bedarf  dazu  keiner  Begriffe  und  keines  Denkens Kommen 

Begriffe,  kommt  Denken  hinzu, so  wird  die  anschauende 

Erkenntnis  gänzlich  verlassen  und  eine  völlig  andere  Klasse 
von  Vorstellungeu,  nämlich  nicht  anschauliche,  abstrakte  Begriffe, 
tritt  ins  Bewufstsein.  Dies  ist  die  Tätigkeit  der  Vernunft, 
welche  jedoch  den  ganzen  Inhalt  ihres  Denkens  allein  aas  der 
diesem  vorhergegangenen  Anschauung  und  Vergleichnng  der- 
selben mit  anderen  Anschauungen  und  Begriffen  hat/  i)  „Der 
Gegenstand  als  solcher  ist  allemal  nur  für  die  Anschauung  und 
in  ihr  da:  sie  mag  nun  durch  die  Sinne  oder  bei  seiner  Ab- 
wesenheit durch  die  Einbildungskraft  vollzogen  werden.  Was 
hingegen  gedacht  wird,  ist  allemal  ein  allgemeiner  nicht  an- 
schaulicher Begriff,  der  allenfalls  der  Begriff  von  einem  (Gegen- 
stände überhaupt  sein  kann:  aber  nur  mittelbar,  mittels  der 
Begriffe,  bezieht  sich  das  Denken  auf  Gegenstände,  als  welche 
selbst  allezeit  anschaulich  sind  und  bleiben.  Denn  unser 
Denken  dient  nicht  dazu,  den  Anschauungen  Realität  zu  ver- 
leihen: diese  haben  sie,  soweit  sie  ihrer  fähig  sind  (empirische 
Realität)  durch  sich  selbst;  sondern  es  dient,  das  Gemeinsame 
und  die  Resultate  der  Anschauungen  zusammenzufassen,  um  sie 
aufzubewahren  und  leichter  handhaben  zu  können/') 

Im  Sinne  dieser  kritischen  Ausführungen  liegt  auch  eine 
Form  der  Abweisung  der  Kategorien  Kants,  auf  die  wir  noch 
zu  sprechen  kommen  werden. 

Wenden  wir  uns  nun  vorerst  dem  erkenntnistheoretischen 
Bedenken,  das  Schopenhauer  gegen  Kant  richtet,  zu,  so  habeu 
wir  festzustellen,  dafs  in  einem  anderen  Sinne,  als  es  von 
Schopenhauer  geschieht,  die  Worte  Kants,  dafs  uns  „vermittelst 
der  Sinnlichkeit  Gegenstände  gegeben  werden'),'^  zu  verstehen 
sind.  Zwar  wird  uns  durch  die  blofse  Sinnesempfindung  bei 
Kant  keine  Erkenntnis  des  Gegenstandes  als  Dinges  an  sich 
gegeben,  auch  ist  in  jenem  Ausdrucke  der  Gegenstand  nicht 
gleichbedeutend  mit  dem  Gegenstande  der  Erkenntnis  durch 
den  Verstand,  was  beides  auch  Schopenhauer  nicht  bestreitet 


*)  I,  560,  561. 

»)  I,  565. 

')  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  33. 


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89 

Was  aber  in  dem  genannten  Zasamnienbange  .der  Gegenstand 
sei,  hat  die  nenere  historiseh- philologische  Kantforschnng, 
zaergt  Benno  Erdmann,  nachgewiesen.  Dieser  hat  gezeigt, 
dafs  bei  Kant  der  Gegenstand,  der  dnrch  die  Sinnlichkeit 
gegeben  wird,  ein  Doppelbegriff  ist.  „Dadarch,  dafs  ans  der 
Gegenstand  (das  Ding  an  sich)  affiziert,  wird  nns  der  Gegen- 
stand (die  Anschauung,  resp.  die  Erscheinung)  gegeben",^)  so 
ist  nach  Erdmann  der  Sinn  der  Worte  zu  Anfang  der  Ästhetik: 
«Diese  (die  Anschauung)  aber  findet  nur  statt,  sofern  uns  der 
Gegenstand  gegeben  wird;  dieses  aber  ist  wiederum  (uns 
Mensehen  wenigstens)  nur  dadurch  möglich,  dafs  er  das 
Gemüt  auf  gewisse  Weise  affiziere/^)  Nun  ist  Schopenhauer 
zwar  nicht  unbekannt,  dafs  Kant  die  Dinge  an  sich  als 
Ursachen  der  Affektion  unserer  Sinnlichkeit  gelten  läfst. 
Entgangen  aber  ist  ihm  die  dargelegte  Bedeutung  des  Gegen- 
standes, sofern  er  durch  die  Affektion  in  der  Sinnlichkeit 
gegeben  wird.  In  der  Interpretation  Erdmanns  ist  Erscheinung 
als  noch  gänzlich  unbestimmt  durch  die  Kategorien  genommen, 
gemäfs  der  Definition  Kants:  ,Der  unbestimmte  Gegenstand 
einer  empirischen  Anschauung  heilst  Erscheinung.'' 3)  Un- 
bestimmt heifst  er  nämlich  insofern,  als  fUr  ihn  noch  nicht  .in 
Betracht  kommt,  was  den  Gegenstand  einer  empirischen  An- 
schauung oder  Erkenntnis  als  solchen  kennzeichnet,  die 
synthetische  Vereinigung  des  Mannigfaltigen  der  Sinnlichkeit 
durch  die  Kategorien.  Der  unbestimmte  Gegenstand  enthält 
dementsprechend  nur  Empfindung,  Raum  und  Zeit  als  Merk- 
male. Die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  wird  u.  a.  durch 
folgende  Worte  Kants  bestätigt:  ^, Gründete  diese  (die  Einheit 
der  Synthesis)  sich  nicht  auf  einen  transzendentalen  Grund 
der  Einheit,  so  würde  es  möglich  sein,  dafs  ein  Gewühle  von 
Erscheinungen  unsere  Seele  anfüllte,  ohne  dafs  doch  daraus 
jemals  Erfahrung  werden  könnte.  Alsdann  fiele  aber  auch 
alle  Beziehung  der  Erkenntnis  auf  Gegenstände  weg,  weil  ihr 
die  Verknüpfung  nach  allgemeinen  und  notwendigen  Gesetzen 
mangelte;  mithin  würde  sie  zwar  gedankenlose  Anschauung, 


^)  Benno  Erdmann,  Kants  Kritizismus  S.  19. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vemanft  S.  33. 

')  Ebenda  S.  34. 


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90 

aber  niemals  Erkenntnis,  also  fttr  uns  soviel  als  garnichts 
sein."0  Ferner:  „Diese  (die  Wahrnehmungen)  würden  aber 
alsdann  (ohne  eine  Einheit,  die  ihre  Regel  a  priori  hat)  aaeb 
zu  keiner  Erfahrung  gehören,  folglieh  ohne  Objekt  und  niebts 
als  ein  blindes  Spiel  der  Vorstellungen,  d.  i.  weniger  als  ein 

Traum  sein." 2)    Sodann:  „ die  Materie  zu  irgend  einem 

Objekte  überhaupt,  .  .  .  d.  i.  das  Beale  der  Empfindung  als 
blofs  subjektive  Vorstellung,  von  der  man  sieh  nur  bewufst 
werden  kann,  dafs  das  Subjekt  affiziert  sei,  und  die  man 
auf  ein  Objekt  überhaupt  bezieht" «)  Ferner:  „Da  nao 
Empfindung  an  sich  gar  keine  objektive  Vorstellung  ist../'*) 
„Dinge  im  Raum  und  der  Zeit  werden  aber  nur  gegeben, 
sofern  sie  Wahrnehmungen  (mit  Empfindung  begleitete  Vor- 
stellungen) sind."^)  Über  die  Objektivierung  der  Sinnes- 
empfindung heilst  es  im  besonderen:  „Verstand  ist  allgemein 
zu  reden  das  Vermögen  der  Erkenntnisse.  Diese  bestehen  in 
der  bestimmten  Beziehung  gegebener  Vorstellungen  auf  ein 
Objekt.  Objekt  aber  ist  das,  in  dessen  Begriffen  das  Mannig- 
faltige einer  gegebenen  Anschauung  vereinigt  ist.  Nun  erfordert 
aber  alle  Vereinigung  der  Vorstellungen  Einheit  des  Bewufstseins 
in  der  Synthesis  deraelben.  Folglich  ist  die  Einheit  des 
Bewufstseins  dasjenige,  was  allein  die  Beziehung  der  Vor- 
stellungen auf  einen  Gegenstand,  mithin  ihre  objektive  Gültigkeit, 
folglich,  dafs  sie  Erkenntnisse  werden,  ausmacht  und  worauf 
folglich  selbst  die  Möglichkeit  des  Verstandes  beruht^' ^) 

Aus  dem  Dargelegten  ergibt  sich,  dafs  die  Auffassung 
Schopenhauers,  dafs  bei  Kant  mit  dem  Eindruck  auf  unsere 
rezeptive  Sinnlichkeit  auch  schon  der  Gegenstand  für  unser 
empirisches  Bewulstsein  gegeben  sei,  nicht  zu  Recht  besteht 
Insbesondere  gilt,  dafs  die  von  Schopenhauer  zur  Stützung 
seiner  Auffassung  u.  a.  angeführten  Worte  Kants:  „Die  Kategorien 
des  Verstandes  dagegen  stellen  uns  gar  nicht  die  Bedingungen 
vor,  unter  denen  Gegenstände  in  der  Anschauung  gegeben 

>)  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  111. 

2)  Ebenda  S.  112. 

3)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  207. 
«)  Ebenda  S.  208. 

B)  Ebenda  S.  147. 
«)  Ebenda  S.  137. 


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91 

werden;  mithin  kennen  ans  allerdings  Gegenstände  erscheinen, 
ohne  dafs  sie  sich  notwendig  auf  Funktionen  des  Verstandes 
beziehen  müssen  nnd  dieser  daher  die  Bedingungen  a  priori 
enthielte,^^^)  nur  so  zu  verstehen  sind,  dafs  hier  lediglich  die 
anbestimmte  Erscheinung  der  Gegenstände  gemeint  ist.  Nach 
dieser  Klarlegung  der  Terminologie  Kants  gelangen  wir  unschwer 
ZQ  einem  Urteil  über  die  Meinung  Schopenhauers,  dafs  bei  Kant 
dreierlei  zu  unterscheiden  sei,  nämlich  Vorstellung,  Gegenstand 
der  Vorstellung  und  Ding  an  sich,  und  dafs  die  Unterscheidung 
Ton  Vorstellung  und  Gegenstand  der  Vorstellung  unbegrOndet 
sei.  Auf  die  Beziehung  des  Gegenstandes  der  Vorstellung 
zum  Ding  an  sich  brauchen  wir  für  unsern  Zweck  nicht  ein- 
zQgehen.  Die  Unterscheidung  der  beiden  erstgenannten  Glieder 
kann  zwar  in  gewissem  Sinne  für  Kant  zugestanden  werden, 
doch  nicht  in  dem  von  Schopenhauer  untergelegten.  Zugegeben 
kann  sie  werden,  weil  Kant  auch  von  den  blofsen  Empfindungen 
als  von  Vorstellnngen  spricht;  doch  nimmt  er  dann  Vorstellung 
im  weiteren  Sinne,  nämlich  als  „blofse  Bestimmung  des 
Gemüts."  2)  Das  Wort  Vorstellung  gebraucht  er  gelegentlich 
sogar  in  einem  noch  weiteren  Sinne,  wenn  er  von  unbewnfsten 
Vorstellungen  spricht.  In  diesem  weitesten  Sinne  heifst  es: 
„Die  Gattung  ist  Vorstellung  überhaupt  (repräsentatio).  Unter 
ihr  steht  die  Vorstellung  mit  Bewufstsein  (perzeptio)/*^)  Wir 
fanden  auch  bei  Schopenhauer  eine  weitere  und  eine  engere 
Bedeutung  dieses  Wortes  vor,  die  engere  im  Sinne  des  empi- 
rischen Objektes.^)  Weder  ersterer,  was  für  uns  hier  nicht  in 
Betracht  kommt,  noch  auch  letzterer  entspricht  bei  Kant  der 
dareh  die  Sinnlichkeit  gegebene  Gegenstand  als  eine  Vor- 
stellang  im  weiteren  Sinne,  weil  darunter  lediglich  das  durch 
die  Rezeptivität  Gegebene  verstanden  wird.  Die  Vorstellung 
und  der  Gegenstand  der  Vorstellung  sind  in  der  von  Schopen- 
hauer herangezogenen  Beziehung  bei  Kant  nicht  gleichgeordnet, 
sondern  jene  ist  dieser  übergeordnet.  Damit  wird  der  Einwand 
gegen  eine  Verdoppelung  des  Problems  des  Gegenstandes  der 
empirischen  Anschauung  bei  Kant  im  Prinzip  hinfällig. 

0  Ebenda  S.  122.    Darüber  spricht  Schopenhaaer  I,561i 

>)  Ebenda  S.  74. 

*)  Ebenda  S.  376. 

*)  S.  6,  9  dieser  Schrift. 


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92 

Gleiches  gilt  auch  von  der  AuffassuDg,  dafs  Kant  Emp- 
findung und  Wahrnelimnng  identifiziere,  dagegen  in  der  Er- 
kenntnis des  Gegenstandes  die  anschaaliehe  and  die  ab- 
strakte Vorstellnng  znsammenfliefsen  lasse,  welcher  Einwand 
insbesondere  die  Kritik  Schopenhauers  an  der  Definition  des 
Verstandes  bei  Kant  durchzieht 

Zu  dem  ersten  Punkte  ist  wiederum  zu  sagen,  dals  aller- 
dings Empfindung  und  Wahrnehmung  gelegentlich  bei  Kant 
als  gleichbedeutend  gebraucht  werden,  so  z.  B.  wenn  er  sa^: 
„Erfahrung  ist  ein  empirisches  Erkenntnis,  ä.  i.  ein  Erkenntnis, 
das  durch  Wahrnehmungen  ein  Objekt  bestimmt  Sie  ist  also 
eine  Synthesis  der  Wahrnehmungen,  die  selbst  nicht  in  der 
Wahrnehmung  enthalten  ist,  sondern  die  synthetische  Einheit 
des  Mannigfaltigen  derselben  in  einem  Bewufstsein  enthält 
welche  das  Wesentliche  einer  Erkeimtnis  der  Objekte  der 
Sinne  d.  i.  der  Erfahrung  (nicht  blofs  der  Anschanung  oder 
Empfindung  der  Sinne)  ausmacht''  ^  ^^  engeren  Sinne  aber 
braucht  Kant  das  Wort  Wahrnehmung  gelegentlich  auch  als 
gleichbedeutend  mit  Erkenntnis,  so  z.  B.  in  dem  Satze:  „Dinge 
im  Raum  und  der  Zeit  werden  aber  nur  gegeben,  sofern  sie 
Wahrnehmungen  (mit  Empfindungen  begleitete  VorBtellungeu) 
sind,  mithin  durch  empirische  Vorstellung.''^)  Nach  dem  über 
den  Gegenstand  der  Erkenntnis  bei  Kant  Angeführten  ist  es 
leicht  ersichtlich,  dafs,  wenn  Kant  Empfindung  nnd  Wahr- 
nehmung als  gleichbedeutend  gebraucht,  letztere  nicht  den 
Sinn  der  empirischen  Anschauung  bei  Schopenhauer  hat 

Dazu  kommt  noch  eine  zweite  Unzulänglichkeit  in  der 
Kritik  Schopenhauers. 

Zur  Stützung  seiner  Behauptung,  dafs  bei  Kant  „die 
Wahrnehmung  änfserer  Dinge  im  Raum  aller  Anwendung  des 
Kausalgesetzes  vorhergängig"^)  sei,  verweist  Schopenhauer  auf 
zwei  Stellen  aus  der  „Kritik  des  vierten  Paralogismus  der 
transzendentalen  Psychologie".  Diese  heifsen:  „Ich  habe  in 
Absicht  auf  die  Wirklichkeit  änfserer  Gegenstände  ebensowenig 
nötig  zu  schlief  sen  als  in  Ansehung  der  Wirklichkeit  des  Gegen- 


>)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  218,  219. 
>)  Ebenda  S.  147. 
•)  III,  97. 


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93 

Standes  meines  inneren  Sinnes  (meiner  Gedanken);  denn  sie  sind 
beidefseitig  nichts  als  Vorstellnngen,  deren  unmittelbare  Walir- 
nehmong  (Bewnfstsein)  zugleich  ein  genOgsamer  Beweis  ihrer 
Wirklichkeit  ist"*)  Ferner:  „Nun  kann  man  zwar  einräumen,  dafs 
von  unsern  äufseren  Anschauungen  etwas,  was  im  transzendentalen 
Verstände  aufser  uns  sein  mag,  die  Ursache  sei;  aber  dieses  ist 
nicht  der  Gegenstand,  den  wir  unter  den  Vorstellnngen  der 
Materie  und   körgerlicher  Dinge  verstehen,   denn   diese  sind 
lediglich  Erscheinungen,  d.  i.  blofse  Vorstellungsarten,  die  sich 
jederzeit  in  uns  befinden  und  deren  Wirklichkeit  auf  dem  unmittel- 
baren Bewnfstsein  ebenso,  wie  dasBewufstsein  meiner  eigenen  Ge- 
danken beruht^ 2)  In  diesen  Ausführungen  Kants  darf  allerdings 
Wahrnehmung  in  dem  oben  dargelegten  engeren  Sinne  genommen 
werden.    Wenn  aber  Schopenhauer  aus  ihnen  schliefst,  dafs 
bei  Kant  die  Wahrnehmung  äuiserer  Dinge  der  Anwendung 
des  Kausalgesetzes  vorhergängig  sei,  so  kann  dieser  Schlufs 
nnr  in  dem  Sinne  zugelassen  werden,  dafs  die  Wahrnehmung 
äoTserer  Dinge  im  Raum  bei  Kant  nicht  von  einem  Schlufs 
aaf  ein  Ding  an  sich  als  Ursache  unserer  Erscheinungen  ab- 
hängig sei,  gemäfs  des  von  ihm  vertretenen  transzendentalen 
Idealismus  und  blofs  empirischen  Realismus.    In  diesem  Sinne, 
alfl  auf  das  Ding  an  sich  gehend,  ist  aber  auch  für  Schopen- 
haaer  der  Kausalschlufs  unzulänglich.    Dafs  aber  die  Wahr- 
nehmung in  dem  Sinne  der  Erkenntnis  der  Gegenstände  bei 
Kant  der   empirisch   realen  Anwendung   des  Kausalgesetzes 
nieht  vorhergängig  sei,  werden  wir  noch  weiter  unten  deut- 
licher erkennen. 

Dasselbe,  was  ftlr  Wahrnehmung,  gilt  auch  fttr  den  Ge- 
braneh  der  Worte  „empirische  Anschauung^^  bei  Kant.  Der 
unbestimmte  Gegenstand  der  Erscheinung  liegt  der  weiteren 
Ton  den  beiden  bei  Kant  unterscheidbaren  Bedeutungen  des 
Ausdrucks  empirische  Anschauung  zugrunde.  Im  weiteren 
Sinne  wird  er  z.  B.  in  der  transzendentalen  Ästhetik  gebraucht, 
wenn  es  heilst:  „In  der  transzendentalen  Ästhetik  also  werden 
wir  zuerst  die  Sinnlichkeit  isolieren,  dadurch,  dafs  wir  alles 
absondern,  was  der  Verstand  durch  seine  Begriffe  dabei  denkt, 

')  I.Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernonft  S.  371. 
*)  Ebenda  S.  372. 


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damit  nichts  als  empirische  Anschanang  übrig  bleibe."  <) 
Entsprechend  beifst  es  in  der  transzendentalen  Logik:  „Unsere 
Erkenntnis  entspringt  ans  zwei  Grnndqaellen  des  Gemüts, 
deren  die  erste  ist,  die  Vorstellangen  zn  empfangen  (die 
Rezeptivität  der  Eindrücke),  die  zweite  das  Vermögen,  darch 
diese  Vorstellnngen  einen  Gegenstand  zn  erkennen  (Spontaneität 
der  Begriffe);  dnrch  die  erstere  wird  nns  ein  Gegenstand 
gegeben,  durch  die  zweite  wird  dieser  im  Verhältnis  auf  jene 
Vorstellung  (als  blofse  Bestimmung  des  Gemüts)  gedacht; 
Anschauung  und  Begriffe  machen  also  die  Elemente  aller 
unserer  Erkenntnis  aus,  so  dafs  weder  Begriffe  ohne  ihnen  anf 
einige  Art  korrespondierende  Anschauung,  noch  AnschannDg 
ohne  Begriffe  eine  Erkenntnis  abgeben  können.^  ^)  In  diesem 
Sinne  heilet  es  auch:  „Ein  Verstand,  in  welchem  durch  das 
Selbstbewufstsein  zugleich  alles  Mannigfaltige  gegeben  würde, 
würde  anschauen,  der  unsere  kann  nur  denken  und  mnis  in 
den  Sinnen  die  Anschauung  suchen.'' ')  Im  engeren  Sinne 
dagegen  tritt  der  Ausdruck  als  gleichbedeutend  mit  empirischer 
Erkenntnis  anf,  so,  wenn  Kant  in  der  transzendentalen  Ästhetiii 
sagt:  „Diese  (die  Empfindung)  aber  ist  das  in  unserem  Er- 
kenntnis, was  da  macht,  dafs  es  Erkenntnis  a  posteriori,  d  i. 
empirische  Anschauung  heifst^^;^)  so  auch  in  folgender  Stelle 
der  transzendentalen  Dialektik:  „Eine  Perzeption,  die  sieh 
lediglich  auf  das  Subjekt  als  die  Modifikation  seines  Zustandes 
bezieht,  ist  Empfindung  (sensatio);  eine  objektive  Perzeption 
ist  Erkenntnis  (cognitio).  Diese  ist  entweder  Anschauung  oder 
Begriff  (intuitus  vel  conceptus)."  *)  In  der  weiteren  Bedeutung 
kommen  der  empirischen  Anschauung  nur  die  Merkmale  der 
Empfindung  als  ihrer  Materie  und  des  Baumes  und  der  Zeit 
als  ihrer  Form  zu,  während  die  engere,  alle  diejenigen  Be- 
stimmungen, die  der  Verstand  hinzudenkt,  als  determinierende 
Merkmale  enthält  und  mit  der  Bedeutung  der  empirischen 
Erkentnis  zusammenfällt.  Die  weitere  Bedeutung  liegt  den 
von  Schopenhauer  angeführten  Stellen  zu  Grunde,  die  engere 
kommt  verhältnismäfsig  selten  bei  Kant  vor. 

^)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernnnft  S.  36. 
«)  Ebenda  S.  74.  >)  Ebenda  S.  135. 

*)  Ebenda  S.  60. 
*)  Ebenda  S.  376,  877. 


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95 

Die  Folge  dieser  verscbiedenen  FassnDgen  des  Ausdrucks 
empirische  Anschaaapg  ist,  dafs  Kant  sagen  kann:  Der  Ver- 
stand ist  „kein  Vermögen  der  Anschauung*,*)  wobei  Anschauung 
in  dem  dargelegten  weiteren  Sinne  zu  interpretieren  ist,  während 
Schopenhauer  sagen  darf:  Der  Verstand  ist  ein  , Vermögen 
der  anschaulichen  Vorstellung",^)  seine  „erste  Äufserung"  ist 
die  „Anschauung  der  wirklichen  Welt*.') 

Es  braucht  kaum  erwähnt  zu  werden,  dafs  das  Kriterium 
für  die  Anschaulichkeit  einer  Vorstellung,  das  Kant  zum 
Beweise  für  die  Anschauung  von  Baum  und  Zeit  geltend  macht, 
dafs  nämlich  die  Vorstellung,  die  nur  durch  einen  einzigen 
Gegenstand  gegeben  sein  könne,  eine  Anschauung  sei,^)  für 
die  Kausalität  als  Form  der  Anschauung  bei  Schopenhauer 
nicht  in  Betracht  kommt.  Was  ihn  bewegt,  diese  als  solche 
gelten  zu  lassen,  wird  uns  noch  beschäftigen. 

Bevor  wir  in  eine  Prüfung  des  Einwandes  Schopenhauers 
gegen  eine  Vermischung  der  anschaulichen  Vorstellung  mit  der 
abstrakten  bei  Kant  gehen  können,  haben  wir  noch  den  Gebrauch 
des  Wortes  «abstrakt*  und  zu  diesem  Zwecke  den  der  Worte 
„Verstand*,    , Denken*  und  ,BegriflFe*  bei  beiden  zu  erörtern. 

In  den  beiden  von  Schopenhauer  einander  gegenttber- 
gestellten  definitorischen  Bestimmungen  des  Verstandes  bei 
Kant  ist  zwar  kein  inhaltlich  widerspruchsvoller,  aber  doch  ein 
formaler  Gegensatz  enthalten,  insofern  nämlich  die  erste  eine 
logische  Bestimmung  des  Verstandes  als  eines  Vermögens  zu 
urteilen,  die  zweite  eine  transzendentale,  die  wir  vorerst  als 
eiae  psyehologische  auffassen  können,  als  eines  Vermögens 
synthetischer  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen  der  Anschauung, 
welche  beiden  Bestimmungen  in  der  transzendentalen  Deduktion 
der  Kategorien  zusammenfliefsen. 

Die  logische  Bestimmung  des  Verstandes  ist  in  den  Sätzen 
enthalten:  ,Wir  können  aber  alle  Handlungen  des  Verstandes 
aaf  Urteile  zurückführen,  so  dafs  der  Verstand  überhaupt  als 
ein  Vermögen  zu  urteilen  vorgestellt  werden  kann.  Denn  er 
ist ....  ein  Vermögen  zu  denken.  Denken  ist  das  Erkenntnis 
durch  Begriffe.  Begriffe  aber  beziehen  sich  als  Prädikate 
möglicher  Urteile  auf  irgend  eine  Vorstellung  von  einem  noch 

>)  Ebenda  S.  153.  «)  II,  79.  »)  I,  43. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  47. 


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unbestimmten  Gegenstande '^J)  Die  psychologische  Bestimmnog 
tritt  gesondert  in  folgenden  Sätzen  auf:  ,  Allein  die  Yerbindang 
(eonjnnctio)  eines  Mannigfaltigen  Überhaupt  kann  niemals  durch 
Sinne  in  uns  kommen  und  kann  also  auch  nicht  in  der  reinen 
Form  der  sinnlichen  Anschauung  zugleich  mit  enthalten  sein; 
denn  sie  ist  ein  Aktus  der  Spontaneität  der  Vorstellungskraft, 
und  da  man  diese,  zum  Unterschiede  von  der  Sinnlichkeit, 
Verstand  nennen  mnfs,  so  ist  alle  Verbindung,  wir  mögen  uns 
ihrer  bewufst  werden  oder  nicht,  es  mag  eine  Verbindung 
des  Mannigfaltigen  der  Anschauung  oder  mancherlei  Begriffe, 
und  an  der  ersteren  der  sinnlichen  oder  nicht  sinnlichen  An- 
schauung sein,  eine  Verstandeshandiung,  die  wir  mit  der  all- 
gemeinen Benennung  Synthesis  belegen  werden  •  .  ."*)  Die 
Beziehung  dieser  beiden  Bestimmungen  zueinander  ist  damit 
gegeben,  dafs  „die  logische  Form  aller  Urteile  in  der  objek- 
tiven Einheit  der  Apperzeption  der  darin  enthaltenen  Begriffe*" 
besteht.  3)  „Diejenige  Handlung  des  Verstandes  aber  durch 
die  das  Mannigfaltige  gegebener  Vorstellungen  (sie  mögen 
Anschauungen  oder  Begriffe  sein)  unter  eine  Apperzeption  über- 
haupt gebracht  wird,  ist  die  logische  Funktion  der  Urteile"/) 
Zu  den  so  vereinigten  tritt  noch  die  erkenntnistheoretische 
Bestimmung,  die  in  der  Beziehung  der  Einheit  der  Apperzeption 
auf  den  Gegenstand  der  Erkenntnis  gegeben  ist.  , Verstand 
ist,  allgemein  zu  reden,  das  Vermögen  der  Erkenntnisse.  Diese 
bestehen  in  der  bestimmten  Beziehung  gegebener  Vorstellungen 
auf  ein  Objekt.  Objekt  aber  ist  das,  in  dessen  Begriffen  das 
Mannigfaltige  einer  gegebenen  Anschauung  vereinigt  ist.  Nun 
erfordert  aber  alle  Vereinigung  der  Vorstellungen  Einheit  des 
Bewufstseins  in  der  Synthesis  derselben.  Folglich  ist  die  Ein- 
heit des  Bewafstseins  dasjenige,  was  allein  die  Beziehung  der 
Vorstellungen  auf  einen  Gegenstand,  mithin  ihre  objektive 
Gültigkeit,  folglich,  dafs  sie  Erkenntnisse  werden,  ausmacht  und 
worauf  folglich  selbst  die  Möglichkeit  des  Verstandes  beruht'.^) 
An  dem  Tadel,  den  Schopenhauer  gegen  den  Gebrauch 
der  Ausdrücke  Verstand  und  Vernunft  bei  Kant  richtet,  ist 


>)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  94. 
>)  Ebenda  S.  129/30.  >)  Ebenda  S.  140. 

*)  Ebenda  S.  143. 
*)  Ebenda  S.  137. 


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97 

zutreffend,  dafs  dieser  Gebraneh  in  der  Tat  ein  fliefsender  ist. 
Im  engeren  Sinne  ist  Verstand  bei  Kant  lediglich  das  Ver- 
mögen der  Begriffe:  .Die  allgemeine  Logik,  sagt  er  z.  B.  ist 
über  einem  Grundrisse  erbaut,  der  ganz  genau  mit  der  Ein- 
teilnng  der  oberen  Erkenntnisvermögen  zusammentrifft.  Diese 
sind:  Verstand,  Urteilskraft  und  Vernunft.  Jene  Dokterin 
handelt  daher  in  ihrer  Analytik  von  Begriffen,  Urteilen  und 
Schlttssen*".!)  Im  weiteren  Sinne  ist  Verstand  das  Vermögen 
der  empirisehen  Erkenntnisse  und  umfafst  den  Verstand  im 
engeren  Sinne  und  die  Urteilskraft.  Diesen  weiteren  Sinn  bat 
er  in  den  oben  angeführten  Sätzen  über  den  Verstand  als  das 
Vermögen  zu  urteilen  und  das  Vermögen  der  synthetischen  Einheit 
Im  weitesten  Sinne  ist  Verstand  das  obere  Erkenntnisvermögen.^) 

Beiläufig  sei  bemerkt,  dafs  die  definitorischen  Bestimmungen 
des  Verstandes  auch  mit  denen  der  Vernunft  ineinander  über- 
iliefsen.  Die  Vernunft  im  engsten  Sinne  ist  das  Vermögen  der 
Erkenntnis  aus  Prinzipien  oder  das  der  Ideen,^)  im  weiteren 
Sinne  ist  sie  das  obere  Erkenntnisvermögen  und  als  solches 
gieiehbedentend  mit  dem  Verstand  im  weitesten  Sinne.^)  Im 
weitesten  Sinne  ist  Vernunft  das  Vermögen  der  Erkenntnis 
a  priori  und  umfafst  Vernunft  im  engsten  Sinne,  Verstand  im 
weiteren  und  die  Formen  der  Sinnlichkeit.^) 

Verstand  und  Vernunft  erfahren  bei  Schopenhauer 
eine  Vereinfachung.  Der  Vernunft  kommen  bei  ihm  nur 
die  psychologische  Bestimmung  als  eines  Vermögens  zu  ab- 
strahieren und  die  vom  logischen  Gesichtspunkte  aus  auf- 
gestellte des  Vermögens  der  Begriffe,  der  Urteile,  als  deutlich 
gedachter  Begriffsverhältnisse,  und  der  Schlüsse  zu.  Damit 
wird  Baum  gewonnen  für  ein  neues  Vermögen,  das  der  intui- 
tiven Erfassung  des  Wirklichen  an  sich  im  Willen.<^)  «Die  einzige 
Funktion*'  des  Verstandes  aber  ist,  „Kausalität  erkennen^. ^) 
Er  ist  insofern  das  Vermögen   der  empirischen  Anschauung. 


0  Ebenda  S.  169.  «)  Ebenda  S.  29. 

")  Ebenda  S.  356  f.  *)  Ebenda  S.  863. 

>)  Ebenda  S.24f. 

*)  Über  das  Verhältnis  der  diskarsiven  zur  intuitiven ,  sowie  der 
inationalen  znr  rationalen  Erkenntnis  bei  Schopenhauer  sieh  die  be- 
tref enden  Kapitel  bei  Heinrich  Hasse  a.  a.  0.,  S.  179  f.  u.  197  f. 

')I,43. 

Philosophische  Abhandlungen«    XLII.  7 


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98 

Prüfen  wir  nun  zuerst,  wie  sieh  die  logisehe  BestimmiiDg 
des  Verstandes  bei  Kant,  als  eines  Vermögens  zu  urteilen,  za 
^^Erkenntnissen  dureh  Begriffe'S  zur  Lehre  Schopenhauers  ver- 
hält. Im  Unterschied  von  dieser  Bestimmung  bei  Kant  wird 
der  Verstand  bei  Schopenhauer  als  ein  nicht  disknrsiyes,  sondern 
intuitives  Vermögen  gekennzeichnet.  Gleichwohl  ist  der  Ver- 
stand bei  Kant  in  den  genannten  Merkmalen  nieht  der  Ver- 
nunft bei  Schopenhauer  analog  zu  setzen.  Darauf  ftthrt  uns 
eine  Betrachtung  der  Worte  „Begriff'^  und  „Denken'  bei  beiden. 
Wenn  Kant  von  den  Kategorien  als  von  den  Begriffen  spricht, 
so  sind  diese  Begriffe  nicht  durch  eine  „empirische',  sondern 
„transzendentale  Deduktion^  gewonnen  anzusehen.  „Unter  den 
mancherlei  Begriffen  aber,  sagt  Kant,  die  das  sehr  vermischte 
Oewebe  der  menschlichen  Erkenntnis  ausmachen,  gibt  es  einige, 
die  auch  zum  reinen  Gebrauch  a  priori  (völlig  unabhängig  von 
aller  Erfahrung)  bestimmt  sind,  und  diese  ihre  Befugnis  bedarf 
jederzeit  einer  Deduktion,  weil  zu  der  Rechtmäfsigkeit  eines 
solchen  Gebrauchs  Beweise  aus  der  Erfahrung  nicht  hinreichend 
sind,  man  aber  doch  wissen  muls,  wie  diese  Begriffe  sieh  anf 
Objekte  beziehen  können,  die  sie  doch  aus  keiner  Erfahrung 
hernehmen.  Ich  nenne  daher  die  Erklärung  der  Art,  wie  sich 
Begriffe  a  priori  auf  Gegenstände  beziehen  können,  die  tran- 
szendentale Deduktion  derselben  und  unterscheide  sie  von  der 
empirischen  Deduktion,  welche  die  Art  anzeigt,  yrie  ein  Begriff 
durch  Erfahrung  und  Reflexion  Über  dieselbe  erworben  worden, 
und  daher  nicht  die  Rechtmäfsigkeit,  sondern  das  Faktum 
betrifft,  wodurch  der  Besitz  entsprungen'.^)  Das  Ergebnis 
der  transzendentalen  Deduktion  sind  die  ,reinen  Elementar- 
begriffe',^) als  die  apodiktischen  Bedingungen  fttr  unsere  em- 
pirische Erkenntnis,  die  Kategorien.  Das  Ergebnis  einer  em- 
pirischen Deduktion  sind  nur  empirische  Begriffe.  Nach  ihrem 
psychologischen  Bestände  gekennzeichnet,  sind  die  Begriffe 
„empirisch,  wenn  Empfindung  .  .  .  darin  enthalten  ist,  rein 
aber,  wenn  der  Vorstellung  keine  Empfindung  beigemischt  ist'.^) 

Die  transzendentale  Deduktion  ist  Gegenstand  der  Kritik 
in  der  ersten  der  beiden  Formen  der  Ablehnung  der  Kate- 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  117. 
«)  Ebenda  S.  S9.  »)  Ebenda  S.  74. 


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99 

gorien  Kants,  die  wir  bei  Sebopenhaner  zn  nnterscbeiden  baben. 
Ans  seiner  Annabme,  dafe  die  Kausalität  die  einzige  nrsprttnglicbe 
nnd  apodiktische  intellektuelle  Form  der  empiriseben  Anschauung 
sei,  fliefst  fUr  Scbopenbaner  folgerichtig,  dafs  alle  übrigen  von 
Kant  aufgestellten  Kategorien  nur  abgeleitete,  also  durch 
Induktion  gewonnene  Begriffe  sein  können.  In  diesem  Sinne 
ftlhrt  Schopenhauer  aus:  «Wenn  wirklich  die  Erfahrung  nur 
dadurch  zustande  käme,  dafs  unser  Verstand  zwölf  yerschiedene 
Funktionen  anwendete,  um  durch  ebensoyiele  Begriffe  a  priori 
die  Gegenstände,  welche  vorher  blofs  angeschaut  wurden,  zu 
denken,  so  mülste  jedes  wirkliche  Ding  als  solches  eine  Menge 
Bestimmungen  haben,  welche  als  a  priori  gegeben,  sich  eben 
wie  Raum  und  Zeit  schlechterdings  nicht  wegdenken  liefsen, 
sondern  ganz  wesentlich  zum  Dasein  des  Dinges  gehörten, 
jedoch  nicht  abzuleiten  wären  aus  den  Eigenschaften  des 
Raumes  nnd  der  Zeit  Aber  nur  eine  einzige  dergleichen 
Bestimmung  ist  anzutreffen:  Die  der  Kausalität.'' i)  Neben 
dieser  Form  der  Ableitung  der  Unzulänglichkeit  der  Kategorien 
Kants  aufser  der  Kausalität  findet  sich  aber  noch  eine  zweite 
bei  Schopenhauer,  die  schlechthin  auf  alle  Kategorien  Kants, 
einsehlieblieh  der  Kausalität  geht.  Er  sagt  nämlich:  „Sobald 
wir  hingegen  zum  Denken  ttbergehen,  verlassen  wir  die  einzelnen 
Dinge  und  haben  es  mit  allgemeinen  Begriffen  ohne  Anschau- 
hchkeit  zu  tun.  . . .  Wenn  wir  dieses  festhalten,  so  erhellt  die 
Unzulässigkeit  der  Annahme,  dafs  die  Anschauung  der  Dinge 
erst  durch  das  die  zwölf  Kategorien  anwendende  Denken  eben 
dieser  Dinge  Realität  erhalte  und  zur  Erfahrung  werde.*  ^)  Die 
empirische  Ableitbarkeit  der  Kategorien  Kants  ist  das  Ziel 
dieses  Beweises,  das  indirekt  fttr  die  Kategorien  aufser  der 
Kausalität  schon  durch  die  erstgenannte  Begründung  erreicht 
wird.  Der  genannte  zweite  Beweis  erhält  seinen  weiteren 
Bereich  durch  die  Voraussetzung  des  Denkens  bei  Kant  als 
eines  Denkens  empirischer  Begriffe.  Letzteres  Merkmal  trifft 
aber,  wie  wir  fanden,  fttr  die  Kategorien  Kants  nicht  zu.  Sie 
sind  vielmehr  dem  Begriff  des  Gesetzes  der  Kausalität  bei 
Schopenhauer  analog,  wenn  dieses  in  abstracto  genommen  wird, 
in  dem  Sinne,  in  dem  Schopenhauer  sagt:   „Das  Gesetz   der 


»)  1, 568.  »)  1,  566. 

7* 


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100 

Kausalität  als  abstrakter  Grundsatz  ist  freilich,  wie  alle  Grund- 
sätze in  abstracto,  Reflexion,  also  Objekt  der  Vernunft:  aber 
die  eigentliche,  lebendige,  unvermittelte,  notwendige  Erkenntnis 
des  Gesetzes  der  Eauealität,  geht  aller  Reflexion  wie  alle  Er- 
fahrung, vorher  und  liegt  im  Verstände.'  <)  Als  apriorischer 
ist  dieser  abstrakte  Grundsatz  bei  Schopenhauer  gleich  wie  bei 
Kant  nicht  anders  als  durch  eine  transzendentale  Deduktion 
gewonnen  anzusehen.  Dies  aber,  wenn  auch  von  Schopenhauer 
nicht  ausdrücklich  unter  diesen  logischen  Gesichtspunkt  unter- 
geordnet, ist  mitgemeint,  wenn  es  heifst:  „Es  (das  Gesetz  der 
Kausalität)  ist  . . .  immer  nur  in  Beziehung  auf  das  Subjekt, 
also  bedingterweise  da,  weshalb  es  auch  ebensowohl,  wenn 
man  vom  Subjekt  ausgeht,  d.  h.  a  priori,  als  wenn  man  vom 
Objekt  ausgeht,  d.  h.  a  posteriori,  erkannt  wird,  wie  eben  Kant 
uns  gelehrt  hat.''^)  Wir  dürfen  somit  sagen,  dafs  für  die 
logische  Betrachtung  die  Kategorien  Kants,  oder  genauer  die 
ihnen  entsprechenden  Grundsätze  sich  zu  dem  Inbegriff  der 
vermittelst  ihrer  in  synthetischen  Urteilen  vollzogenen  Erkennt- 
nisse, dieses  Wortes  im  objektiven  Sinne  genommen,  genau  so 
verhalten,  wie  der  Begriff  des  Gesetzes  der  Kausalität  bei 
Schopenhauer  zu  dem  Inbegriff  der  kausalen  Beziehungen  der 
Objekte,  einschliefslich  der  kausalen  Beziehungen  der  Objekte 
aufser  uns  zu  den  Empfindungen  in  uns. 

Dafs  Schopenhauer  trotz  seiner  Kenntnis  ^)  von  der  Unter- 
scheidung der  empirischen  und  reinen  Begriffe  bei  Kant  die 
Kategorien  in  seiner  Kritik  wie  empirische  Begriffe  behandelt,^) 
daflir  liegt  die  Annahme  nahe,  dafs  dies  in  Konsequenz  seiner 
Deutung  des  Gegenstandes,  der  bei  Kant  durch  die  Sinnlich- 
keit gegeben  wird,  geschehe.  Ist  dieser  nämlich  schon  ein 
Gegenstand  für  unser  Bewufstsein,  so  bleibt  fUr  die  Annahme 
der  Kategorien,  durch  die  der  Gegenstand  gedacht  werden 
soll,  kein  Anlafs  mehr.  Eine  solche  Annahme  wOrde  vielmehr 
eine  Verdoppelung  des  Problems  des  Gegenstandes  bedeuten 


>)VI,22.  «)  1,149;  ähnlich  1,539.  »)  1,572. 

*)  Vgl.  Gttnther,  „Über  Schopenhauers  Kritik  der  Kant'schen  Philo- 
sophie**. Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Piulagogik,  IV.  Jahrg. 
Hersg.  Yon  Ziller,  Leipzig  1872  S.  133f.  Das  Gemeinsame  der  Lehren 
Schopenhaaers  und  Kants  hat  der  Verfasser  nicht  deutlich  gesehen. 


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101 

in  dem  Sinne,  wie  er  dem  oben^)  znerst  besproohenen  Ein- 
wand Sebopenbaners  gegen  Kant  zugrunde  liegt.  Abgeseben 
aber  von  dieser  unzulässigen,  weil  eine  solebe  Verdoppelung 
des  Problems  enthaltenden  Bedeutung  der  Kategorien  kommt 
diesen,  wenn  anders  der  Gegenstand  dnreb  die  blofse  Sinnlicb- 
keit  als  Gegenstand  fbr  unser  Bewnfstsein  sebon  gegeben  sein 
soll,  nur  mebr  die  Bedeutung  von  im  empiriseben  Sinne  ab- 
strakten Vorstellungen  zu.  Als  eine  Konsequenz  seiner  Auf- 
fassung von  dem  Gegenstande,  der  dureh  die  Sinnliebkeit 
gegeben  wird,  nämlich  als  eines  Gegenstandes  fttr  unser  Be- 
wnfstsein, kann  es  also  gedeutet  werden,  dafs  Schopenhauer 
Anschauung  nnd  Denken  bei  Kant  im  Sinne  seiner  eigenen 
Termini  nimmt  Dadurch  entsteht  zwar  für  den  ersten  Blick 
der  Anschein,  als  ob  er  ungeprüft  den  Termini  Kants  seine 
eigenen  Bedeutungen  untergeschoben  habe;  es  hiefse  jedoch 
der  Tiefe  seines  Denkens  nicht  gerecht  werden,  wenn  wir  diese 
oberflächliehe  Annahme  machen  wollten.^) 

Dafs  das  Denken  bei  Kant  eine  weitere  Bedeutung  als 
das  Erkennen  hat,  dafs  nämlich  ftir  das  Denken,  soll  es  zum 
Erkennen  werden,  zu  den  reinen  Begriffen  noch  die  «Art,  wie 
das  Mannigfaltige  zu  einer  empirischen  Anschauung  gegeben 's) 
wird,  hinzukommen  mufs^),  kann  die  Interpretation  Schopen- 
baners  gleichfalls  nicht  rechtfertigen. 

Nun  erkennt  Schopenhauer  zwar  an,  dafs  der  Gegenstand 
der  Erkenntnis  bei  Kant  ein  „Gegenstand  des  Denkens  und 
doch  abstrakter  Begriff*"  sein  solle,  doch  eben  dies  erscheint 
ihm  in  dem  dargelegten  Sinne  als  Inkonsequenz  in  der  Lehre 
Kants. 

Vom  Standpunkt  unserer  Deutung  des  Gegenstandes  aus, 
der  bei  Kant  durch  die  Sinnlichkeit  gegeben  wird,  wird  der 
angefahrte  zweite  Beweis  Schopenhauers  für  die  empirische 
Natnr  der  Kategorien  Kants  hinfällig.  Mit  sachlichem  Bechte 
darf  Schopenhauer   von    seinem   Standpunkte    aus    nur   die 


>)  S.  81  dieser  Schrift. 

')  So  in  einer  auch  manches  andere  Unzutreffende  und  Ungebührliche 
enthaltenden  Schrift  von  Wilh.  Jos.  Dotzer,  „Über  Schopenhauers  Kritik 
der  kant'schen  Analytik".    Diss.  Erlangen  1891. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  144. 

*)  Ebenda  §  22. 


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102 

Kategorien  Kants  aofser  der  Kausalität  als  empirische  Begriffe 
kennzeichnen ;  in  dem  Sinne,  der  der  oben  zuerst  angeführten 
Form  seiner  Kritik  an  den  Kategorien  Kants  zugrunde  legt 

Die  zweite  von  den  genannten  Beweisführungen  gegen  die 
Apriorität  der  Kategorien  Kants  tritt  in  den  späteren  Werken 
Schopenhauers  zurück.  Es  bahnt  sich  vielmehr  der  Gedanke 
an,  dafs  die  Funktion  der  Kategorien  Kants  der  der  Kausalität 
Schopenhauers  analog  sei,  so,  wenn  es  heifst:  ,Es  (der  Sinn 
des  Satzes:  Nihil  est  in  intellectu,  quod  non  antea  fuerit  in 
sensu)  ist  in  der  Hauptsache,  was  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft lehrt  Auch  sie  nämlich  will,  dafs  man  nicht  bei  den 
Begriffen  stehen  bleibe,  sondern  auf  den  Ursprung  derselben 
zurückgehe,  also  auf  die  Anschauung,  nur  noch  mit  dem  wahren 
und  wichtigen  Zusatz,  dafs,  was  von  der  Anschauung  selbst 
gilt,  sich  auch  auf  die  subjektiven  Bedingungen  derselben 
erstreckt,  also  auf  die  Formen,  welche  im  anschauenden  und 
denkenden  Gehirn  als  seinen  natürlichen  Funktionen  prä- 
disponiert liegen;  obgleich  diese  wenigstens  virtualiter  der  wirk- 
lichen Sinnesanschauung  vorhergängig,  d.  h.  a  priori  sind,  also 
nicht  von  dieser  abhängen,  sondern  diese  von  ihnen:  Denn 
auch  diese  Formen  haben  ja  keinen  andern  Zweck  noch 
Tauglichkeit,  als  auf  eintretende  Anregungen  der  Sinnesnerven 
die  empirische  Anschauung  hervorzubringen;  wie  aus  dem  Stoffe 
dieser  andere  Formen  nachmals  Gedanken  in  abstracto  zu 
bilden  bestimmt  sind.^  ^) 

Zusammenfassend  dürfen  wir  auf  Grund  unserer  termino- 
logischen Untersuchung  sagen,  dafs,  wenn  Kant  der  Tätigkeit 
des  Verstandes  die  Bezeichnung  Denken  beilegt,  so  dieses 
Denken  als  „  Erkenntnis  durch  Begriffe  '^  nicht  gleichbedeutend 
mit  dem  Denken  bei  Schopenhauer  als  einem  Vermögen  der 
empirischen  Begriffe  ist  Jenes  hat  eine  synthetische,  dieses 
eine  analytische  Funktion.  Weiter  dürfen  wir  sagen,  dafs  die 
Worte  Schopenhauers,  dafs  Kant  „die  Anschauung  fUr  sich 
genommen,  verstandlos,  rein  sinnlich,  also  ganz  passiv  sein 
und  erst  durch  das  Denken  (Verstandeskategorie)  einen  Gegen- 
stand aufgefafst  werden^  lasse,  allerdings  einen  für  Kant 
gültigen  Sinn  haben  können,  wenn  wir  Anschauung  in  dem 

>)  11,  %j  ähnlich  IV,  100. 

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103 

obeD  dargelegen  weiteren  Sinn  und  Denken  in  dem  Sinn  der 
Erkenntnis  durch  lediglich  anf  dem  Wege  einer  transzenden- 
talen Dedaktion  ableitbare  Begriffe  dabei  nehmen,  dals  aber  in 
der  Yon  Schopenhauer  geübten  Interpretation  die  Bedeutungen 
von  Ansebauung  und  Denken  bei  Kant  verschoben  erscheinen, 
tmd  zwar  so,  dafs  diesen  Termini,  dem  Resultat  seiner  Inter- 
pretation nach,  die  Bedeutung  der  entsprechenden  Schopen- 
haaers  unterfliefscn.  Damit  werden  auch  die  Gründe,  durch  die 
Schopenhauer  die  vermeintliche  Vermischung  der  anschaulichen 
mit  der  abstrakten  Vorstellung  bei  Kant  ablehnt,  hinfällig. 
Diese  Vermischung  ist  ftir  ihn  nämlich  deshalb  unstatthaft,  weil 
die  empirische  Anschauung  selbst  sehen  gegenständlich  und 
intellektual,  das  Denken  aber  lediglich  ein  Vermögen  der  im 
empirischen  Sinne  abstrakten  Vorstellungen  ist.  Wir  fanden 
jedoeh,  dafs  Anschauung  bei  Kant,  wenn  sie  der  gegen- 
s^ndlichen  Erkenntnis  gegenttbergestellt  wird,  keine  anderen 
Merkmale  hat  als  der  Stoff  fttr  den  Verstand  bei  Schopen- 
hauer nebst  den  Formen  Baum  und  Zeit,  und  dafs  Denken 
bei  Kant  nicht  als  das  Vermögen  abstrakter  Vorstellungen  im 
Sinne  Schopenhauers  gilt.^) 

Wir  haben  indes  noch  einen  weiteren  Schritt  zu  tun  und 
festzastellen,  dafs  auch  die  Funktion  des  Verstandes  in  der 
Synthesis  des  Mannigfaltigen  der  Sinnlichkeit  bei  Kant  der 
Funktion  des  Verstandes  bei  Schopenhauer  in  einem  wesent- 
lichen Merkmal  gleichbedeutend  ist. 

Das  Verhältnis  der  psychologischen  Bestimmung  des  Ver- 
standes bei  Kant  als  des  Vermögens  der  Synthesis  des  Mannig- 
faltigen der  Erscheinung  zur  Lehre  Schopenhauers  vom  Verstände 
läfflt  sich  im  Anschlnis  an  eine  Besprechung  des  Gebrauchs  des 
AoBdnieks  ,  Apprehension'  bei  beiden  deutlich  machen.  Schopen- 
haaer  spricht  von  der  „kausalen  Apprehension''  des  Ver- 
standes* >)  und  nennt  die  empirische  Anschauung  «die  Ap- 
prehension,  in  welcher  allein  Objekte  sich  eigentlich  darstellen 
können.*  3^  In  einem  engeren  Sinn  als  von  Schopenhauer 
^rd  dieser  Ausdruck  von  Kant  genommen:  „Jede  Anschauung, 
^  heifst  es  bei  diesem,  enthält  ein  Mannigfaltiges  in  sich . . . 

0  Darauf  weist  schon  B.  Haym  hin :  Arthur  Schopenhauer.  Preußische 
•^Macher,  U.Band  1864,  S.  88. 

«)  111,79.  »)  111,68;  ühnlicli  11,29,  33;  VI,  34. 


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104 

Damit  nun  ans  diesem  Mannigfaltigen  Einheit  der  AnBchanünp 
werde  (wie  etwa  in  der  Vorstellnng  des  Raumes),  so  ist 
erstlieh  das  Darehlaufen  der  Mannigfaltigkeit  nnd  dann  die 
Zusammenfassung  derselben  notwendig,  welche  Handlung  ich 
die  Synthesis  der  Apprehension  nenne . . .  Diese  Synthesis 
der  Apprehension  mufs  nun  auch  a  priori,  d.  i.  in  Ansehung 
der  Vorstellangen,  die  nicht  empirisch  sind,  ausgeübt  werden. 
Denn  ohne  sie  würden  wir  weder  Vorstellungen  des  Raumes 
noch  der  Zeit  a  priori  haben  können,  da  diese  nur  durch  die 
Synthesis  des  Mannigfaltigen,  welches  die  Sinnlichkeit  in  ihrer 
ursprünglichen  Rezeptivität  darbietet,  erzeugt  werden  können/  0 
Zu  der  Synthesis  der  Apprehension  in  der  Anschauung  kommt 
bei  Kant  —  wenn  wir  uns  an  die  Ausführungen  des  zweiten 
Abschnitts  der  Deduktion  der  reinen  Yerstandesbegriffe  in  der 
ersten  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  halten  —  noch 
die  Synthesis  der  Reproduktion  in  der  Einbildung  und  die 
Synthesis  der  Rekognition  im  Begriffe.  Die  psychologische 
Bedeutung  der  Ausführungen  dieses  Abschnittes  werden  wir 
unter  dem  Gesichtspunkte  der  strengen  Definition  der  Synthesis, 
die  in  der  zweiten  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vemonft 
gegeben  ist^),  nicht  fehlgehen  darin  zu  sehen,  dafs  hier  das 
Durchlaufen,  Erinnern  und  Wiedererinnern  des  Mannigfaltigen 
der  Sinnlichkeit  als  psychologische,  der  Sinnlichkeit  znza- 
ordnende  Vorbedingungen  für  die  synthetische  Tätigkeit  des 
Verstandes  dargetan  werden.  Nur  wird  überdies  gezeigt,  dafs 
zu  jeder  derselben,  soll  sie  zur  Erkenntnis  führen,  die  Synthesis 
hinzukommen  mufs,  und  welchen  Sinn  die  Synthesis  für  jede 
derselben  gewinnt.  Letztgenannte  Bestimmung  ist  keine  psycho- 
logische mehr,  sondern  eine  logische.  Sie  führt  deshalb,  so 
dürfen  wir  anmerken,  nicht  etwa  zu  der  Forderung  dreier 
psychologisch  voneinander  trennbarer  Handlungen  der  Synthesis 
des  Verstandes,  sondern  lediglich  zu  der  Forderung  derjenigen 
einheitlichen  Handlung,  deren  verschiedene  Funktionen  nnr 
durch  die  Funktionen  der  Einheit  in  den  Urteilen  bestimmt 
werden  können.  Wir  müssen  uns  hier  versagen,  die  psjxho- 
logischen  Fäden  dieser  Lehre  Kants  weiter  zu  verfolgen.   Nnr^ 

»)  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Verannft  S,  99,  100. 
')  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Verounit  §  15. 


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105 

dieses  sei  noch  gestattet  zu  bemerken,  dafs  die  Bestimmung 
der  Bekognition  als  der  Bedingung  für  das  Bewufstsein,  dafs 
das,  was  wir  denken,  eben  dasselbe  sei,  was  wir  einen  Augen- 
blick zuvor  daebten^,  einen  weiteren  Sinn  als  die  im  dritten 
Abschnitt  der  genannten  Deduktion  gegebene  hat,  die  lautet: 
«Die  wirkliehe  Erfahrung,  welehe  ans  der  Apprehension,  der 
Assoziation  (der  Reproduktion)  endlich  der  Rekognition  der 
Erscheinungen  besteht,  enthält  in  der  letzteren  und  höchsten 
(der  blofs  empirischen  Elemente  der  Erfahrung)  Begriffe, 
welche  die  formale  Einheit  der  Erfahrung  und  mit  ihr  alle 
objektive  Gültigkeit  (Wahrheit)  der  empirischen  Erkenntnis 
möglich  machen."  1)  Hier  nämlich  ist  in  der  Rekogniton  die 
Synthesis  durch  den  Verstand  schon  mitgedacht.  Zu  jener 
Bestimmung  dagegen  mufs  das  Merkmal  der  Synthesis  des 
Verstandes  allererst  hinzukommen.  Das  Wiedererkennen  in 
dem  durch  den  Verstand  noch  nicht  synthetisch  erfafsten  Zu- 
stande nimmt  nach  seinem  Bestände  eine  dem  Durchlaufen 
und  Erinnern  koordinierte  Stelle  ein.  Nur  hinsichtlich  des 
Zustaudekommens  der  Erkenntnis  kann  ihm  in  einer  Kant 
allerdings  nicht  geläufigen  Betrachtungsweise  eine  bevorzugte 
Stellang  eingeräumt  werden,  insofern  sie  nämlich  als  die 
zeitlieh  letzte,  und  so  die  synthetische  Verstandestätigkeit 
uamittelbar  auslösende  psychologische  Vorbedingung  für  letztere 
angesehen  werden  kann. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  zu  unserer  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  Bedeutung  des  Wortes  Apprehension 
bei  Schopenhauer  zu  der  bei  Kant  zurück,  so  haben  wir  zu 
sagen;  Für  Schopenhauer  kommt  weder  die  Unterscheidung 
von  Apprehension,  Reproduktion  und  Bekognition,  noch  auch 
die  von  blofser  Apprehension  und  S'ynthesis  derselben  in 
Betracht  Die  Apprehension  ist  für  ihn  vielmehr  schlechthin 
gleichbedeutend  mit  der  Tätigkeit  des  Verstandes  in  der  An- 
wendung seiner  kategorialen,  hier  kausalen  Erkenntnisweise. 
Insofern  aber  bei  ihm  die  Tätigkeit  des  Verstandes,  wenn 
sieht  zur  Erkenntnis  der  Objektivität  der  Gegenstände,  so  doch 
zu  ihrer  raumzeitlichen  Anordnung  ein  Durchlaufen  des  Mannig- 
faltigen der  Empfindungen,  die  Schopenhauer  deshalb  die  „Data" 

*)  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  124,  125. 

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106 

des  Verstandes  nennt,  saclilieh  zur  Vorattssetzang  hat,  ist  sie  der 
Apprehension  bei  Kant  analog.  Somit  bildet  also  die  räum- 
zeitliehe  Anordnung  der  Empfindungen  bei  Sehopenbauer  auch 
ein  Analogen  zur  Synthesis  des  Mannigfaltigen  durch  den 
Verstand  bei  Kant,  so  zwar,  dafs  letztere  die  Bedingung  zur 
Objektivierung  der  bis  dabin  subjektiven  Empfindungen,  erstere 
aber  gegenüber  der  Objektivierung  der  Empfindungen  ein 
Sekundäres  darstellt.  In  noch  einem  andern  Sinne  findet  bei 
Schopenhauer  eine  Synthesis  durch  den  Verstand  statt,  nämlich 
in  der  Beziehung  der  Data  verschiedener  Sinne  auf  eine 
gemeinsame  Ursache.  Doch  auch  diese  gilt  als  etwas  Sekun- 
däres, «als  eine  Folge  der  Erkenntnis  a  priori  vom  Kansal- 
nexus  .  .  .  vermöge  welcher  alle  jene  verschiedenen  Ein- 
wirkungen auf  meine  verschiedenen  Sinnesorgane  mich  doch 
nur  auf  eine  gemeinsame  Ursache  derselben,  nämlich  die 
Beschaffenheit  des  vor  mir  stehenden  Körpers,  hinleiten,  so  dafs 
mein  Verstand,  ungeachtet  der  Verschiedenheit  und  Vielheit 
der  Wirkungen,  doch  die  Einheit  der  Ursache  als  ein  einziges 
sich  eben  dadurch  anschaulich  darstellendes  Objekt  apprehen- 
diert"*).  Ein  Unterscheidendes  ferner  ist  damit  gegeben,  dafs 
für    Kant  die   Synthesis   der  Apprehension    „auch   a   priori, 

d.  i in  Ansehung  der  Vorstellungen,  die  nicht  empirisch 

sind,  ausgeübt  werden  mufs;  denn  ohne  sie  würden  wir  weder 
Vorstellungen  des  Raumes  noch  der  Zeit  a  priori  haben 
können'' 2),  während  für  Schopenhauer  eine  Synthesis  für  die 
reinen  Formen  Raum  und  Zeit  als  ausgeschlossen  gilt;  denn  er 
sagt:  „Nun  aber  sind  die  Zeit  und  der  Raum,  dieser  in  allen 
seinen  drei  Dimensionen,  Kontinua,  d.  h.,  alle  ihre  Teile  sind 
ursprünglich  nicht  getrennt,  sondern  verbunden.  Sie  aber  sind 
die  durchgängigen  Formen  unserer  Anschauung;  also  erscheint 
auch  alles,  was  in  ihnen  sieh  darstellt,  (gegeben  wird)  schon 
ursprünglich  als  Kontinuum,  d.  h.  seine  Teile  treten  schon  als 
verbunden  auf  und  bedürfen  keiner  hinzukommenden  Ver- 
bindung des  Mannigfaltigen.'^))  Zu  diesen  Unterschieden 
kommt    bei    Schopenhauer    die    empirisch    gegliederte    Dar- 


1)1,571. 

')  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  99/100. 

»)  1,571. 


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107 

stellang  der  synthetischen  Tätigkeit  des  Verstandes  und  des 
ElDflusses  der  Übung.  Auch  wird  das  Unbewufste  des  Vor- 
ganges in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  der  kausalen 
Erkenntnis  des  Verstandes  bei  Schopenhauer  besonders  betont, 
während  bei  Kant  eine  Bewufstlosigkeit  der  Synthesis  des 
Verstandes  zwar  nicht  ausgeschlossen,  doch  nur  beiläufig 
erwähnt  wird,  so  z.  B.  wenn  er  sagt:  „  . . .  so  ist  alle  Ver- 
bindung, wir  mögen  uns  ihrer  bewulst  werden  oder  nicht,  eine 
Yerstandeshandlung,  die  wir  mit  der  allgemeinen  Benennung 
Synthesis  belegen  werden."  i) 

Der  Bedeutung  der  Gliederung  in  Apprehension,  Be- 
Produktion  und  Rekognition  im  Zusammenhange  der  Lehre 
Kants  wird  Schopenhauer  nicht  gerecht,  wenn  er  sagt:  „Er 
(Kant)  bemüht  sich  darzulegen,  wie  nach  der  von  der  Sinnlich- 
keit gegebenen  Anschauung  der  Verstand  mittelst  des  Denkens 
der  Kategorien  die  Erfahrung  zustande  bringt.  Dabei  werden 
die  Ausdrücke  Rekognition,  Reproduktion,  Assoziation,  Ap- 
prehension, transzendentale  Einheit  der  Apperzeption  bis  zur 
Ermüdung  wiederholt  und  doch  keine  Deutlichkeit  erreicht.*  2) 
Die  psychologische  Feinheit,  die  in  jener  Gliederung  bei  Kant 
liegt,  ist  Schopenhauer  vollends  entgangen. 

Treffend  aber  bemerkt  er,  dafs  man  „nach  der  in  der 
transzendentalen  Ästhetik  gegebenen  ausführlichen  Erörterung 
der  allgemeinen  Formen  der  Anschauung  doch  einige  Auf- 
klaning  über  den  Inhalt  derselben  erwarten  mufs,  über  die 
Art,  wie  die  empirische  Anschauung  in  unser  Bewufstsein 
kommt,  wie  die  Erkenntnis  dieser  ganzen  ftlr  uns  so  realen 
und  so  wichtigen  Welt  in  uns  entsteht, ''  ^)  dafs  man  aber  nach 
einer  solchen  Aufklärung  bei  Kant  vergebens  suche.  In  der 
Tat  wird  jeder,  der  den  Versuch  macht,  sich  hierin  bei  Kant 
zn  orientieren,  finden,  dafs  dies  wohl  im  allgemeinen,  aber 
üieht  im  einzelnen ,  geht.  Die  Gründe,  die  Kant  abgehalten 
haben,  auf  den  Einzelfall  einzugehen,  sind  nach  Benno  Erd- 
mann  darin  zu  suchen,  dafs  sein  Hauptinteresse  auf  die 
Transzendentalphilosophie  gerichtet  ist,  und  im  Inhalte  seiner 
Lehre,  dafs  die  empirische  Mannigfaltigkeit  der  Sinnlichkeit 

')  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  ISO;  ähnlich  ebenda 

8.  mt 

«)  1,570.  8)  1^559^  560. 

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108 

durcb  die  Dinge  an  sieb  gegeben  werde.  Um  za  erklären, 
warnm  dieser  Gegenstand  als  Ding  an  sieh  gerade  diese 
Empfindang  heryorrufe,  bätte  er  etwas  Spezielles  ttber  das 
Ding  an  sieb  sagen  müssen,  was  naeh  seiner  Lehre  von 
der  Erkenntnis  nicht  gebt.  Auch  wie  in  einer  besonderen 
Erscheinung  die  einzelnen  Kategorien  zusammenwirken,  welelies 
hier  der  Anteil  der  einzelnen  sei,  bleibt  eine  offene  Fra^. 
Yielleicbt  entsprach  es  schon  der  anschanungsbedttrftigen  NatQr 
Sebopenbaners,  hier  einen  wesentlichen  Mangel  in  Kants  Lehre 
za  empfinden.  Die  empirische  Ansgestaltang  seiner  Lehre 
bedentet  in  der  Tat  einen  Fortsehritt  gegenüber  Kant 

Eine  Syntbesis  des  Mannigfaltigen,  so  dürfen  wir  zusammen- 
fassend sagen,  ist  fttr  Schopenhauer  und  Kant  ein  Merkmal 
der  Tätigkeit  des  Verstandes. 

Dazu  kommt  ein  Zweites,  ungleich  Bedeutsameres.  Ein 
Gemeinsames  der  Funktion  des  Verstandes  bei  beiden  ist, 
neben  der  ranmzeitlicben  Anordnung,  die  Auffassung  des  sinn- 
lich gegebenen  Stoffes  als  einem  Objekt  aufser  uns  zugehörig. 
Diese  Übereinstimmung  gebt  soweit,  dafs  auch  bei  Kant  der 
Begriff  der  Kausalität  es  ist,  der  in  erster  Linie  die  Erkenntnis 
eines  Objektes  aufser  uns  ermöglicht.^)  Wir  werden  darauf  im 
folgenden  Abschnitt  näher  eingehen.  Hier  sei  nur  hervor- 
gehoben, was  im  Prinzip  für  alle  Kategorien  gilt,  dafs  nämlich 
vermittelst  ihrer  in  synthetischen  Urteilen  die  Objekte,  inner- 
halb der  Welt  der  Erscheinung,  in  demselben  Sinne  erst 
erkannt  werden,  wie  vermittelst  der  Kausalität  durch  die 
unmittelbare  Erkenntnisweise  des  Verstandes  die  Objekte  bei 
Schopenhauer.  Das  Produkt  der  Tätigkeit  des  Verstandes  also, 
zuvörderst  seinem  psychologischen  Bestände  nach,  ist  ein  bei 
beiden  gleiches,  nämlich  der  Erkenntnisinhalt  der  Objekte 
aufser  uns,  sowohl  naeh  ihrem  Realitätscharakter,  als  auch 
nach  ihrer  raumzeitliehen  Ordnung. 

Damit  hängt  zusammen,  dafs  auch  die  erkenntnistheoretische 
Bedeutung  dieser  Tätigkeit  des  Verstandes  bei  beiden  dieselbe 

0  Dies  findet  auch  Richard  Behm,  „Vergleichnng  der  kantischen 
und  schopenhauerschen  Lehre  in  Ansehung  der  Kausalität''.  Diss.  Heidel- 
berg 1892  S.  76.  Die  Ausführungen  des  Verfassers  über  die  Kritik  Schopen- 
hauers an  der  Geltung  des  Kausalgesetzes  bei  Kant  n.  a.  stimmen  mit  den 
vorliegenden  nicht  überein. 


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109 

ist  Sie  Hegt  bei  Kant  in  der  Beziehnng  des  kategorial  be- 
stimmten Gegenstandes  der  Erkenntnis  auf  die  Einheit  der 
Apperzeption  in  der  Synthesis  des  Verstandes  und  bei  Sehopen- 
hancr  in  der  Beziehung  des  kausal  bestimmten  Objektes  zum 
Verstände  als  seinem  subjektiven  Korrelat;  bei  beiden  ist  es 
also  die  Funktion  des  Verstandes,  die  die  objektive  Gültigkeit 
des  empirisch  Angeschauten  gewährleistet,  wobei  zwar  bestehen 
bleibt,  dafs  die  Objektivität  der  empirischen  Erkenntnis  bei 
Schopenhauer  nur  in  dem  engeren  Sinne  zu  nehmen  ist,  der 
für  die  Welt  als  Vorstellung  gilt. 

Diese  sachliche  Übereinstimmung  läfst  die  empirische  An« 
sebaunng  im  engeren  Sinne  oder  Erkenntnis  bei  Kant  der 
empirischen  Anschauung  bei  Schopenhauer  analog  erscheinen. 
Beiden  nämlich  ist  gemeinsam,  dafs  ihnen  aulser  dem  Stoff 
der  Empfindungen  und  der  Formen  Baum  und  Zeit  noch  eine 
Bestimmung  durch  der  Verstand,  dort  durch  die  ganze  Beihe 
der  Kategorien,  hier  durch  die  eine  der  Kausalität,  als  Merk- 
mal zukommt.  Somit  wird  eroichtlich,  dafs  Schopenhauer,  wenn 
er  sagt:  .Die  Anschauung  ist  .  .  .  intellektual,  was  gerade 
Kant  leugnet,**!)  sich  in  einem  historischen  Irrtum  befindet. 
Wir  haben  vielmehr  festzustellen,  dafs  die  empirische  An- 
schauung Schopenhauers  im  Grunde  in  keinem  anderen  Sinne 
intellektual  ist,  wie  die  empirische  Erkenntnis  oder  Anschauung 
im  engeren  Sinne  bei  Kant.  Beide  sind  intellektual,  weil  sie 
erst  durch  den  Verstand  ihren  objektiven  Charakter  erhalten,*^) 

Dafs  hierbei  lediglich  die  auf  Erscheinungen  bezügliche 
Bealität  in  Frage  kommt,  dafs  nämlich,  wie  bei  Schopenhauer 
die  Kausalität  nur  für  das  Gebiet  der  Vorstellungen,  so  bei 
Kant  „die  Grundsätze  .  .  .  ,  nicht  als   Grundsätze  des  tran- 

01,566. 

^  Zu  demselben  Ergebnis  kommt  RaoulBichter: , Schopenhauers  Ver- 
baltDis  zu  Kant*,  Dias.  Leipzig  1893  S.  1 67  u.  1 84.  Seine  Ausfahrungen  erhalten 
doieh  die  vorliegenden  eine  Ergänzung  und  z.  T.  eine  Berichtigung.  Wie  auch 
Hichter  erwähnt  (a.  a.  0.  S.  167),  hat  schon  Herbart  (Werke  Bd.  XII,  S.  378) 
den  gleichen  Einwand  gegen  Schopenhauer  erhoben:  ,Auch  Kant  habe 
n^en  können,  jede  Anschauung  sei  intellektnell."  Auch  Herbarts  Aus- 
f  Sbron^n,  soweit  sie  sich  mit  der  empirischen  Anschauung  bei  Schopenhauer 
beschäftigen,  dürften  durch  die  vorliegenden  cr^nzt  werden  und  eine  andere 
^^rundlage  erhalten.  Auch  R.  Haym  weist  flüchtig  darauf  hin  in  seinem 
Aafsatz:  Arthur  Schopenhauer.  PreuBische  Jahrbücher,  14.  Band  1864,  S.  87. 


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110 

szendentalcn,  sondern  blofs  dos  empirischen  Verstandes- 
gebraucbes  ihre  alleinige  Bedentnng  nnd  Gültigkeit  haben/  ^) 
ist  gleichfalls  ein  Moment  der  Übereinstimmung.  Ihre  ver- 
schiedene metaphysische  Bedeutung  zu  beleuchten,  liegt  nielit 
im  Rahmen  unserer  Untersuchung. 

Ein  die  genannte  sachliche  Übereinstimmung  in  dem  Pro- 
dukt der  Tätigkeit  des  Verstandes  nicht  berührender  Unter- 
schied zwischen  Schopenhauer  und  Kant  ist  allerdings  in  ibren 
psychologischen  Voraussetzungen  über  das  Zustandekommen 
dieses  Produktes  gegeben,  und  zwar  auch  abgesehen  noch  von 
dem  Unterscheidenden,  das  bei  Kant  in  der  Trennung  der 
Synthesis  der  Apprehension,  Reproduktion  und  Rekognition  liegt 
Ein  bedeutsamer  Unterschied  liegt  vielmehr  schon  darin,  dafs 
die  Erkenntnis  eines  Gegenstandes  bei  Kant  sieh  in  einer 
Weise  vollzieht,  die  sieb,  logisch  betrachtet,  als  Urteil  darstellt, 
während  sie  bei  Schopenhauer  ausdrücklich  als  eine  nicht 
urteilsgemäfse,  nicht  , diskursive*  sondern  .intuitive"  gilt  Jene 
erfolgt,  so  dürfen  wir  den  von  Kant  nicht  unter  einem  streng 
psychologischen  Gesichtspunkte  entwickelten  Zusammenhang: 
des  zugrunde  liegenden  psychischen  Geschehens  von  einem 
Standpunkte  der  Psychologie  unserer  Tage  aus  erklären,  erst 
in  der  Weise  eines  subsumierenden  Vorstellungsverlaufs,  diese 
aber,  die  bei  Schopenhauer,  so  dürfen  wir  weiter  deuten,  vollzieht 
sich  in  der  Weise  eines  unmittelbaren  simultanen  Beziehungs- 
bewufstseins.  Jene  stellt  ein  Zusammengesetzes,  diese  ein  ein- 
faches, psychologisch  nicht  weiter  analysierbares  Geschehen  dar. 

Es  möchte  eine  nicht  ganz  unwahrscheinliche  Vermutung 
sein,  dafs  die  Einsicht  in  diese  Unmittelbarkeit  des  kausalen 
Beziehungsbewufstseins  der  tiefere  Grund  dafür  gewesen  ist, 
dafs  Schopenhauer  den  Verstand  ein  Vermögen  der  Anschauung 
nennt,  und  auch  die  eigentliche  Triebfeder  in  der  Polemik 
Schopenhauers  gegen  die  Lehre  Kants  vom  Denken  des  Ver- 
standes durch  die  Kategorien  ist^)    Diese  Annahme  wird  sich 


1)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  223. 

')  Johannes  Voikelt  a.a.O.  S.  112  sieht  den  Unterschied  zwiachen 
der  Lehre  Schopenhauers  in  diesem  Punkte  und  der  Kants  nur  darin, 
„dafs  Schopenhauer  an  die  Stelle  der  zahlreichen  Kategorien  die  einzige 
Kausalität  gesetzt  und  das  Unwillkürliche  und  Unbewufste  der  Verstandes- 
arbeit  nachdrücklich  hervorgehoben*  habe. 


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111 

uns  als  naheliegend  auch  bei  der  Besprechung  des  Verhältnisses 
Sehopenhaners  za  Thomas  Beid  erweisen.  Gleichwohl  wird 
darch  die  synthetische  Unterordnung  des  Mannigfaltigen  der 
Erscheinung  als  des  Subjekts  eines  Urteils  unter  eine  Kategorie 
als  sein  Prädikat  das  Denken  des  Verstandes  bei  Kant  noch 
nicht  gleichbedeutend  mit  dem  Denken  der  Vernunft  bei  Schopen- 
hauer als  dem  Vermögen  zn  empirischen  Begriffen.  Zu  Unrecht 
also  bleibt  bestehen,  dafs  Schopenhauer  das  Denken  in  seinem 
Sinne  als  kritischen  Mafsstab  an  das  Denken  bei  Kant 
heranbringt 

Sehen  wir  aber  einmal  von  dieser  Verschiebung  des 
Problems  ab,  so  müssen  wir  wohl  vom  Standpunkte  der 
modernen  Erkenntnistheorie  aus  anerkennen,  dafs  der  Gedanke 
Sehopenhaners,  dafs  die  realen  Kategorien  nicht  aus  der 
prädikativen  Beziehung  des  Subjekts  zum  Prädikate  ableitbar 
seien,  zu  Recht  besteht,  wenngleich  auch  die  von  Schopenhauer 
seiner  Kritik  zugrunde  gelegte  Auffassung  von  einer  Umfangs- 
beziehnng  vom  Subjekt  zum  Prädikat  zu  weiteren  Bedenken 
Anlafs  gibt. 

Als  zutreffend  mufs  auch,  nebenbei  bemerkt,  ein  Gedanke 
anerkannt  werden,  der  in  der  Kritik  Schopenhauers  an  den 
Bcheniaten  Kants  wirksam  ist,  der  nämlich,  dafs  die  Schwierig- 
keit, die  in  der  logischen  Unbeziehbarkeit  der  reinen  Kategorien 
auf  das  Mannigfaltige  der  Empfindungen  liegt,  durch  die  Ana- 
logie zu  der  psychologischen  Tatsache  der  empirischen  Schemata, 
als  die  sich  die  Lehre  Kants  von  den  Schematen  darstellt, 
nieht  gehoben  wird.  Es  würde  hier  zu  weit  ftthren,  darauf 
im  einzelnen  einzugehen. 

Kausalität 

Die  Kritik,  die  Schopenhauer  an  den  angeführten  Punkten 
der  Lehre  Kants,  dem  Gegenstande  der  Anschauung,  dem 
Unterschiede  der  anschaulichen  und  abstrakten  Vorstellung 
der  Funktion  des  Verstandes  und  den  Kategorien  übt,  zeigte 
sich  uns  wesentlich  abhängig  von  der  irrtümlichen  Inter- 
pretation des  Ausdrucks  Gegenstand,  wie  er  in  der  tran- 
szendentalen Ästhetik  zur  Bezeichnung  des  durch  die  Sinnlich- 
keit Gegebenen  auftritt. 


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112 

Für  den  nnn  zn  vergleicbenden  Bestand  der  beiden  Lebren 
kommt  in  der  Kritik  Schopenbauers  ein  neaes,  wie  wir  sehen 
werden,  gleiehfalls  intümlicbes  Moment  der  Interpretation 
in  Betraebt 

Eine  bemerkenswerte  Analogie  zar  Lehre  Scbopenhaners 
ist  bei  Kant  darin  gegeben,  dafs  die  Kategorie  der  Kausalität 
eine  bevorzugte  Stellung  unter  den  übrigen  Kategorien  hin- 
sichtlieh ihrer  Bedeutung  für  die  Synthesis  des  Mannigfaltigen 
der  Erscheinung  einnimmt  Damit  ist  ein  spezielles  Moment 
der  allgemeinen  Übereinstimmung  berührt,  die  wir  darin  fanden, 
dafs  die  Tätigkeit  des  Verstandes  bei  beiden  es  ist,  die  das 
unbestimmte  Mannigfaltige  der  Sinnlichkeit  zu  Gegenständen 
formt 

Der  Gedankengang  Kants  in  der  , zweiten  Analogie" 
lärst  sich  unter  besonderer  Berücksichtigung  seiner  psycho- 
logischen Voraussetzungen  folgendermafsen  darstellen:  Kant 
sagt:  „Wir  haben  Vorstellungen  in  uns,  deren  wir  uns  auch 
bewufst  werden  können.  Dieses  Bewulstsein  aber  mag  so  weit 
erstreckt  und  so  genau  oder  pünktlich  sein,  als  man  wolle, 
so  bleiben  es  doch  nur  immer  Vorstellungen,  d.  i.  innere  Be- 
stimmungen unseres  Gemüts  in  diesem  oder  jenem  Zeitver- 
hältnisse. Wie  kommen  wir  nun  dazu,  dafs  wir  diesen  Vor- 
stellungen ein  Objekt  setzen,  oder  über  ihre  subjektive  Realität 
als  Modifikationen  ihnen  noch,  ich  weils  nicht  was  flir  eine 
objektive  beilegen?''  ^)  «Ich  nehme  wahr,  dafs  Erscheinungen 
aufeinander  folgen,  d.  i.  dafs  ein  Zustand  der  Dinge  zu  einer 
Zeit  ist,  dessen  Gegenteil  im  vorigen  Zustande  war.  Ich  ver- 
knüpfe also  eigentlich  zwei  Wahrnehmungen  in  der  Zeit  Nun 
ist  die  Verknüpfung  kein  Werk  des  bloXsen  Sinnes  und  der 
Anschauung,  sondern  hier  das  Produkt  eines  synthetisehen 
Vermögens  der  Einbildungskraft,  die  den  inneren  Sinn  in 
Ansehung  des  Zeitverhältnisses  bestimmt  Diese  kann  aber 
gedachte  zwei  Zustände  auf  zweierlei  Art  verbinden,  so  dafs 
der  eine  oder  der  andere  in  der  Zeit  vorausgehe  .  .  .  Ich  bin 
mir  also  nur  bewufst,  dafs  meine  Imagination  eines  vorher, 
das  andere  nachher  setze,  nicht,  dafs  im  Objekte  der  eine 


>)  2.  Aufl.  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  242. 


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113 

• 

Zustand  vor  dem  anderen  yorhergehe,  oder  mit  anderen  Worten, 
es  bleibt  dnrcb  die  blofse  Wabrnebmnng  das  objektive  Ver- 
hältnis der  einander  folgenden  Erscheinungen  unbestimmt/  <) 
„Allein,  ich  bemerke  aneb,  dafs,  wenn  ich  an  einer  Erscheinung, 
welche  ein  Geschehen  enthält,  den  yorhergehenden  Zustand 
der  Wahrnehmung  A,  den  folgenden  aber  B  nenne,  dals  B 
auf  A  in  der  Apprehension  nur  folgen,  die  Wahrnehmung  A  aber 

auf  B  nicht  folgen,  sondern  nur  vorhergehen  kann Die 

Ordnung  in  der  Folge  der  Wahrnehmungen  in  der  Apprehension 
ist  hier  also  bestimmt,  und  an  dieselbe  ist  die  letztere 
gebunden.  . . .  Diese  Regel  aber  ist  bei  der  Wahrnehmung  von 
dem,  was  geschieht,  jederzeit  anzutreffen,  und  sie  macht  die 
Ordnung  der  einander  folgenden  Wahrnehmungen  (in  der 
Apprehension  dieser  Erscheinung)  notwendig ',<)  ,der  Begriff 
aber,  der  eine  Notwendigkeit  der  synthetischen  Einheit  bei 
Bieh  führt,  kann  nur  ein  reiner  Verstandesbegriff  sein,  der  nicht 
in  der  Wahrnehmung  liegt,  und  das  ist  hier  der  Begriff  des 
Verhältnisses  der  Ursache  und  Wirkung,  wovon  die  erstere  die 
letztere  in  der  Zeit  als  die  Folge,  und  nicht  als  etwas,  was 
blols  in  der  Einbildung  vorhergehen  . . .  könnte,  bestimmt '^3) 
„Dasjenige  an  der  Erscheinung,  was  die  Bedingung  dieser 
notwendigen  Begel  der  Apprehension  enthält,  ist  das  Objekt'  ^) 
Demnach:  ,Wenn  wir  untersuchen,  was  denn  die  Beziehung 
auf  einen  Gegenstand  unseren  Vorstellungen  für  eine  neue 
Beschaffenheit  gebe,  und  welches  die  Dignität  sei,  die  sie 
dadureb  erhalten,  so  finden  wir,  dafs  sie  nichts  weiter  tue,  als 
die  Verbindung  der  Vorstellungen  auf  eine  gewisse  Art  not* 
wendig  zu  machen  und  sie  einer  Regel  zu  unterwerfen,  daä 
umgekehrt  nur  dadurch,  dafs  eine  gewisse  Ordnung  in  dem 
Zeitverhältnisse  unserer  Vorstellungen  notwendig  ist,  ihnen 
objektive  Bedeutung  erteilt  wird.""^)  „Der  Beziehung  auf  das 
transzendendale  Objekt',  so  können  wir  mit  Erdmann  inter- 
pretierend sagen,  «die  alle  Erkenntnis  erst  unter  sich  einstimmig 
macht,    wird  auch   hier  die  notwendige  Beziehung  auf  den 

0  Ebenda  S:  233,  234. 
*)  Ebenda  S.  237,  238. 
•)  Ebenda  S.  234. 
«)  Ebenda  S.  236. 
>)  Ebenda  S.  242, 243. 

PhilotophUche  Abhandlnogen.    XLII.  S 


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114 

Verstand,  der  die  Verbindung  der  Vorstellungen  anf  eine 
gewisse  Art  notwendig  und  dadareh  die  Vorstellung  eines 
Gegenstandes  erst  möglieh  maeht,  d.  i.  die  Einheit  der  Apper- 
zeption, substituiert  Es  wird  nur  überdies  gezeigt,  dafs 
diejenige  Kategorie,  die  hierbei  als  die  Regel  setzende  allein 
in  Betraeht  kommt,  die  Kategorie  der  Kausalität  ist''  ^) 

Wir  entsinnen  uns,  dafs  wir  in  der  Verstandes^tigkeit 
bei  Schopenhauer  ein  Zweifaches  unterschieden  haben:  die 
Beziehung  der  blofsen  Empfindung  als  der  Wirkung  auf  ihre 
Ursache  und  die  Einordnung  derselben  in  den  kausal  be- 
stimmten raumzeitlichen  Zusammenhang.  Auch  bei  Kant 
geschieht  die  Auffassung  der  bis  dahin  subjektiven  Vor- 
stellungen als  objektiver  in  grundlegender  Weise,  grundlegend 
nämlich  fllr  die  dann  erst  möglich  werdende  reale  Bedeutung 
der  übrigen  Kategorien,  durch  den  Begriff  der  Kausalität 
Auch  bei  ihm  ist  es  die  Kausalität,  die  die  objektive 
Zeitordnung  der  Gegeustände  und,  sofern  es  sich  um  (gegen- 
stände im  Räume  handelt,  damit  die  ranmzeitliche  Ordnung 
derselben  erst  möglich  macht  Ein  wesentlicher  Unterschied 
von  Schopenhauer  aber  ist  darin  gegeben,  dafs  bei  Kant  die 
kausale  Notwendigkeit  in  der  Zeitfolge  der  Vorstellungen 
untereinander  es  ist,  die  die  Objektivität  letzterer  gewähr- 
leistet, während  bei  Schopenhauer  die  kausale  Beziehung  der 
subjektiven,  einzelnen  Sinnesempfindung  als  einer  Wirkung  in 
uns  auf  eine  ihnen  entsprechende  Ursache  das  ausmacht,  was 
jener  den  Charakter  der  Objektivität  verleiht,  aus  weleher 
kausalen  Beziehung,  als  der  ursprünglichen,  die  zwischen  den 
Objekten,  im  Prinzip  wenigstens,  erst  ableitbar  wird. 

Diese  von  Kant  verschiedene  Voraussetzung  hat  Schopen- 
hauer seiner  Kritik  an  dem  Beweise  Kants  fftr  die  Apriori- 
tät  des  Kausalgesetzes  als  Mafsstab  untergelegt  Das 
Argument  Schopenhauers  gegen  den  genannten  Beweis  Kants 
ist  in  Folgendem  gegeben.  Er  sagt:  „Das  Resultat  seiner 
(Kants)  Behauptung  würde  sein,  dafs  wir  gar  keine  Folge 
in  der  Zeit  als  objektiv  wahrnehmen,  ausgenommen  die 
von  Ursache  und  Wirkung,  und  dafs  jede  andere  von  uns 
wahrgenommene  Folge  von  Erscheinungen  blofs  durch  unsere 


^)  Benno  Erdmann,  „Kants  Kritizismus^  S.  33. 


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115 

WiUkttr  so  und  nicht  anders  bestimmt  sei.*  ^)  „Kant  in  seinem 
Beweise  ist  in  den,  dem  des  Hnme  entgegengesetzten  Fehler 
geraten.  Dieser  nämlich  erklärte  alles  Erfolgen  fUr  blofses 
Folgen:  Kant  hingegen  will,  dafs  es  kein  anderes  Folgen 
gebe,  als  das  Erfolgen.'^  ^)  Diese  Interpretation  der  Gedanken 
Kants,  wenn  sie  lediglich  in  dem  weiteren  Sinne  genommen 
würde,  dab  bei  Kant  jede  objektive  Folge  überhaupt  als 
ein  Erfolgen,  d.  i.  als  durch  zareichende  Ursachen  irgend- 
wie bedingt  gedacht  werde,  könnte  als  zutreffend  gelten.  Sie 
hat  indessen  bei  Schopenhauer  einen  engeren  Sinn;  denn  er 
sagt:  Jede  Veränderung  „folgt  nicht  blofs  auf  die  einzige, 
die  ihre  Ursache  ist,  sondern  auf  alle  anderen,  die  mit 
jener  Ursache  zugleich  sind  und  mit  denen  sie  in  keiner  Kausal- 
verbindung steht  Sie  wird  nicht  gerade  in  der  Folge  der 
Reihe  der  Ursachen  von  mir  wahrgenommen,  sondern  in  einer 
ganz  anderen,  die  aber  deshalb  nicht  minder  objektiv  ist,  und 
von  einersnbjektiven,  von  meiner  Willkür  abhängigen,  dergleichen 
z.  B.  die  meiner  Phantasmen  ist,  sich  sehr  unterscheidet  ^,3^  nicht 
zwar  so,  als  ob  für  Schopenhauer  eine  Folge  von  Objekten  in 
Betracht  käme,  die  nicht  auch  fUr  sich  kausal  bedingt  wäre; 
»denn  es  bleibt  gewifs,  dafs  jede  Veränderung  Wirkung  einer 
anderen  ist,  da  dies  a  priori  feststeht 'V)  aber  doch  so,  dafs 
eine  reale  Folge  von  Objekten  für  ihn  unabhängig  von  der 
Voraussetzung  der  kausalen  Beziehung  dieser  untereinander 
erkennbar  ist  Der  Gedankengang  Kants  wird  dementsprechend 
von  Schopenhauer  in  dem  engeren  Sinne  genommen,  dafs  bei 
Kant  jede  in  der  Wahrnehmung  gegebene  Folge  als  in  einem 
unmittelbaren  Kausalzusammenhange  stehend  gedacht  werde. 
Diese  Auffassung  der  Lehre  Kants  aber  besteht  zweifellos  nicht 
zurecht  Der  Gedanke  der  Notwendigkeit  der  objektiven  Folge 
im  Gegensatz  der  Zufälligkeit  oder  Willkür  der  subjektiven 
enthält  liei  Kant  nur  die  Forderung,  dafs  die  objektive  durch 
eine  Ursache  bedingt  sei,  die  nicht  im  wahrnehmenden  Subjekt 
liegt,  nicht  aber,  wie  beschaffen  diese  Ursache  sei,  demnach 
auch  nicht,  dafs  es  der  einem  Vorgange  in  der. Wahrnehmung 
vorhergehende  Vorgang  sein  müsse,  in  dem  die  Ursache  jenes 


»)  m,  104.  »)  III,  106,  107. 

•)  III,  104.  *)  III,  104. 

3* 


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116 

gegeben  seLi)  Nicbt  notwendig  also  braucht  jede  in  der  Wahr- 
nehmung gegebene  Folge  der  Erscheinungen  in  der  Beziehung 
von  Ursache  und  Wirkung  zu  stehen,  bei  Kant  ebensowenig, 
wie  Schopenhauer  es  für  sich  gelten  lälst.  Es  bleibt  vielmehr 
auch  bei  Kant  dem  Gedanken  Raum,  dafs  zwei  in  der  Wahr- 
nehmnng  aufeinanderfolgende  Vorgänge  zwar  nicht  unmittelbar 
untereinander  in  dem  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
stehen,  aber  doch  je  durch  einen  vorhergehenden,  wenn  auch 
in  der  Wahrnehmung  nicht  gegebenen  Vorgang  bedingt  seien. 
Diesen  Sinn  drücken  u.  a.  die  Worte  Kants  aus:  ,  Dadurch 
(durch  das  Kausalgesetz)  geschieht  es,  dafs  eine  Ordnung  unter 
unseren  Vorstellungen  wird,  in  welcher  das  Gegenwärtige  (sofern 
es  geworden)  auf  irgend  einen  vorhergehenden  Zustand 
Anweisung  gibt,  als  ein,  obzwar  noch  unbestimmtes 
Korrelatum  dieser  Eräugniss,  die  gegeben  ist,  welches  sich 
aber  auf  diese  als  ihre  Folge  bestimmend  bezieht  und  sie 
notwendig  mit  sich  in  der  Zeitreihe  verknüpfet. *<)  „Nach  einer 
solchen  Regel  also  mufs  in  dem,  was  überhaupt  vor  einer  Be- 
gebenheit vorhergeht,  die  Bedingung  zu  einer  Regel  liegen,  nach 
welcher  jederzeit  und  notwendigerweise  diese  Begebenheit  folgt, 
umgekehrt  aber  kann  ich  nicht  von  der  Begebenheit  zurück- 
gehen und  dasjenige  bestimmen  (durch  Apprehension),  was 
vorhergeht  Denn  von  dem  folgenden  Zeitpunkt  geht  keine 
Erscheinung  zu  dem  vorigen  zurück,  aber  bezieht  sich  doch  auf 
irgendeinen  vorigen.* 3)  In  der  Konsequenz  der  Gedanken 
Kants  liegt,  so  dürfen  wir  somit  sagen,  dafs  auch  schon  die 
Tatsache  einer  Folge  von  Erscheinungen  in  der  Wahrnehmung, 
die  untereinander  nicht  unmittelbar  kausal  verknüpft  sind, 
sofern  sie  sich  nur  durch  ihre  Nichtumkehrbarkeit  von  der 
subjektiven  Folge  der  Vorstellungen  unterscheidet,  einen 
hinreichenden  empirischen  Anlafs  dafür  abgibt,  sie  auf  eine 
vom  wahrnehmenden  Subjekt  verschiedene  Ursache  denk- 
notwendig zu  beziehen  und  dadurch  als  objektiv  aufzufassen. 
Dafs  also  die  Wirkung  der  vorauszusetzenden  Ursachen  aufser 
uns  sich  in  der  Nichtumkehrbarkeit  einer  Folge  unserer  Vor- 

^)  Sieh  Alois  Riehl,  „Der  philosophische  Kritizismas*',  I.  Band,  2.  Aufl., 
Leipzig  1908  S.  553  f. 

>)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  244. 

*)  Ebenda  S.  238,  239;  die  Sperrung  fehlt  i^  Originaltext. 


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117 

stellangen  kundgibt,  verbürgt  allein  scbon  ihre  Objektivität 
aud  maebt  das  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung 
oder  Erkenntnis  eines  oder  einer  Mehrzahl  von  realen  Objekten 
bei  Kant  psychologisch  fafsbar.  Hierfür  ist  also  ein  Wissen 
um  die  jeweilige  Ursache  entgegen  der  Behauptung  Schopen- 
hauers, dafs  wir  nach  Kant  „einen  alle  Reihen  von  Ursachen 
nud  Wirkungen  zugleich  umfassenden,  folglich  allwissenden 
Verstand  voraussetzen '' i)  mttfsten,  nicht  erforderlich. 

Schopenhauer  befindet  sich  somit  in  formaler  Überein- 
stimmung mit  Kant,  wenn  er  flir  sich  gelten  läfst,  dafs 
Erscheinungen  sehr  wohl  (in  der  Wahrnehmung)  aufeinander 
folgen  können,  ohne  auseinander  zu  erfolgen. 2)  Nur  ist  die 
Objektivität  einer  nicht  unmittelbar  kausal  zusammenhängenden 
Folge  in  der  Wahrnehmung  bei  beiden  aus  verschiedenen  Vor- 
aussetzungen abgeleitet.  Bei  Kant  ist  sie,  wie  wir  fanden, 
mit  der  Forderung  der  kausalen  Bedingtheit  einer  nicht 
umkehrbaren  Folge  gegeben,  bei  Schopenhauer  aber  mit  der 
Forderung  von  Ursachen  fttr  die  in  den  Empfindungen 
gegebenen  Wirkungen. 

Die  Forderung  Schopenhauers  läfst  überdies  im  Unter- 
schiede von  Kant  in  ihrer  Eonsequenz  vorerst  den  Gedanken 
möglich  werden,  dafs  eine  reale  Folge  von  untereinander  nicht 
kausal  verknüpften  Zuständen  oder  Objekten  in  der  Wahrnehmung 
gegeben  sein  könne.  Erst  die  unabhängig  von  dieser  Forderung 
einsetzende  der  kausalen  Bedingtheit  auch  der  Zustände  der 
Objekte  untereinander  läfst  sie,  wie  bei  Kant,  wenn  nicht  not- 
wendig durch  in  der  Wahrnehmung  gegebene,  so  doch  irgendwie 
durch  äuüsiere  Ursachen  bedingt  erseheinen.  Die  Ableitung  der 
Kausalität  der  Objekte  untereinander  ist  bei  Schopenhauer  eine 
mittelbare,  bei  Kant  eine  unmittelbare. 

In  welchem  Sinne  die  Mittelbarkeit  der  Ableitung  der 
Kausalität  der  Objekte  untereinander  bei  Schopenhauer  bestehe, 
sei  gestattet,  noch  etwas  weiter  auszuführen. 

Wenn  wir  die  Lehre  Schopenhauers,  dafs  der  Verstand, 
indem  er  die  Empfindung  als  Wirkung  auffafst,  und  dazu  die 
Ursache  im  Baume  setzt,  die  objektive  Anschauung  hervor- 
bringe, im  strengen  Sinne  nehmen,  d.  i.  die  dabei  zugrunde 


»)  in,  108.  »)  III,  104, 

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118 

liegende  Ineinssetzang  von  Sinneflempfindung  und  .nnmittel- 
barem  Objekt*  einmal  anfser  acht  lassen,  so  haben  wir  za 
sagen,  dafs  hierbei  etwas  als  Wirkung  gilt,  was  nachher  als  Zu- 
stand des  Objektes  erscheint,  nämlieh  der  Inbegriff  aller  diesem 
zugeschriebenen  Sinnesqualitäten,  als  Ursache  aber  dasjenige  in 
dem  Objekt,  was  als  diesem  seinem  Zustande  zugrunde  liegend 
gedacht  wird.  Wir  haben  also  fttrs  erste,  so  scheint  es,  eine 
Einschränkung  des  Satzes,  dafs  die  Kausalität  sich  nur  auf  die 
Zustände  der  Objekte  beziehe,  hier  anzunehmen,  insofern  näm- 
lich hier  Zustand  und  zugrunde  Liegendes  vorerst  auseinander- 
treten, so  zwar,  dafs  alle  Merkmale,  die  jenen  charakterisieren, 
zunächst  als  Wirkungen  in  uns  aufgefafst  werden. 

Die  Ableitung  der  Kausalität  der  Objekte  anfser  uns  ans 
der  kausalen  Beziehung  der  Sinneseropfindungen  zu  ihren  ent- 
sprechenden ursächlichen  Objekten  im  Baume  anfser  uns  berührt 
Schopenhauer  nur  an  einer  Stelle.  —  An  allen  ttbrigen  werden, 
soweit  ich  sehe,  diese  beiden  Arten  der  kausalen  Beziehung 
unbesehen  koordiniert.  —  Dort  sagt  er:  .Die  Folge  der  Ein- 
wirkung jedes  anderen  materiellen  Objekts  auf  ein  anderes 
wird  nur  erkannt,  sofern  das  letztere  jetzt  anders  als  zuvor 
auf  das  unmittelbare  Objekt  einwirkt,  besteht  nur  darin.'  *) 

Wenn  wir  fortfahren,  die  vorhin  genannte  Lehre  im 
strengen  Sinne  zu  nehmen,  so  ist  es  logisch  geboten,  auf 
Grund  der  zuletzt  genannten  Ausführung  weiter  zu  folgern, 
dafs  zu  den  Veränderungen  in  den  Sinnesempfindungen  der 
Verstand  eine  entsprechende  Änderung  in  der  Ursache  anfser 
uns  fordert,  diese  Änderung  in  der  Ursache  gleichfalls  als 
Wirkung  auffafst  und  zu  derselben  eine  andere  zureichende 
Ursache  aufser  uns  postuliert,  womit  er  in  das  Gebiet  der 
kausalen  Beziehungen  der  Objekte  untereinander  übergreift. 
Während  also  im  ersten  Falle  die  Wirkung  auf  uns  geschieht, 
findet  sie  im  zweiten  auf  das  im  Objekte  als  der  Ursache 
unserer  Empfindung  Zugrundeliegende  statt.  Die  einzelnen 
Kausalbeziehungen  der  Objekte  untereinander  sind  dann  ihrem 
Inhalte  nach  als  erst  durch  Vermittlung  der  kausalen  Beziehung 
der  Empfindung  auf  ihr  ursächliches  Objekt  gewonnen  anzu- 


0  1,  40. 

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119 

sehen.  Die  Geltang  der  Eausalbeziehong  jener  aber  bleibt  der 
dieser  dabei  gleiebgeordnet 

Die  Yorgetragenen  Konsequenzen  liegen  jedoeb  nieht  im 
Sinne  Schopenhaners.  Das  Eausalitätsgesetz  gilt  nämlieb  für 
ihn  lediglich  für  die  Beziehungen  der  Znstände  der  Objekte 
untereinander,  nicht  aber  fUr  das  ihnen  zagrunde  liegende 
Wirksame,  das  sich  uns  yielmehr  als  ein  BehaiTcndes,  weil  der 
Eaasalität  selbst  nicht  Unterworfenes  in  der  Lehre  von  der 
Materie  erwies.  Der  Gedanke  also  auch,  die  Ursache  der 
Empfindung  als  ein  in  dem  Sinne  Transzendentes,  wie  es  in 
der  späteren  Entwicklung  der  Lehre  Schopenhauers  von  der 
empirischen  Materie  herFortritt,  derzufolge  „dasjenige,  was 
mittelst  jener  Formen  (unserer  Anschauung  und  Apprehension) 
als  das  rein  Empirische  an  der  Materie  auftritt,^  i)  das  Ding 
an  sich  ist,  aufzufassen,  ist  für  Schopenhauer  gänzlich  aus- 
geschlossen. 

Wir  wollen  für  unseren  Zweck  davon  absehen,  dafs  die 
gefolgerte  Eausalität  des  Zugrundeliegenden  nur  dann  einen 
Sinn  gewinnen  könnte,  wenn  dieses  als  ein  im  transzendenten 
Sinne  Zugrundeliegendes  genommen  würde,  dass  diese  Schwierig- 
keit schon  fttr  die  Beziehung  der  Empfinding  auf  ihre  Ursache 
aulser  uns  besteht,  weil  diese,  wenn  sie  nicht  im  transzendenten 
Sinne  genommen  wird,  lediglich  eine  Verdoppelung  der  Emp- 
findung bedeutet,  2)  und  dafs  endlich  auch  das  beharrend  Wirk- 
same der  Materie  nicht  anders  als  im  transzendenten  Sinne 
zugrundeliegend  gedacht  werden  kann.  Fttr  den  Zweck  unserer 
historischen  Betraehtung  dürfen  wir  deshalb  davon  abseben, 
weil  eine  solche  Transgredienz  für  Schopenhauer  innerhalb  des 
Gebietes  der  Vorstellung  ausgeschlossen  ist 

Halten  wir  uns  aber  lediglich  an  die  logischen  Beziehungen 
der  Ausführungen  Schopenhauers  selbst,  so  dürfen  wir  also 
erwarten,  in  dem  InbegriiSf  der  Merkmale  des  Zustandes  eines 
Objekts,  schon,  sofern  er  vorerst  als  Wirkung  in  uns  aufgefalst 
wird,  auch  dasjenige  Merkmal  zu  finden,  das  einen  Hinweis 
auf  eine  ursächliche  Beziehung  zu  einem  anderen  gleichfalls 
vorerst  so  auffaisbaren  Zustande  enthält.  Damit  würde  aller- 
dings die  Geltung  der  kausalen  Beziehung  der  Zustände  der 


»)  II  360.  •)  Sieh  S.  57  dieser  Schrift. 


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120 

Objekte  antereinander  von  der  kausalen  Beziehung  zwischen 
Empfindung  und  ursächlichem  Objekt  abhängig  werden,  weil 
jene  erst  aus  dem  Bestände  der  Zustände  der  Objekte  ableit- 
bar wäre,  diese  aber  schon  die  Voraussetzung  für  die  Objek- 
tivität der  Zustände  ist.  In  der  Tat  bleibt  fttr  die  logische 
Betrachtung,  wenn  anders  sowohl  die  Voraussetzung,  dals  erst 
durch  die  kausale  Erkenntnisweise  des  Verstandes  die  snb- 
jektiFcn  Empfindungen  zu  objektiver  Anschauung  werden, 
als  auch  die,  dafs  die  Kausalität  lediglich  fttr  die  Zu- 
stände der  Objekte  Geltung  habe,  bestehen  bleiben  soll,  nnr 
die  Möglichkeit  ttbrig,  die  Geltung  der  Kausalität  der  Objekte 
untereinander  der  der  Kausalität  zwischen  Empfindung  und 
entsprechendem  ursächlichen  Objekt  in  dem  dargelegten  Sinne 
unterzuordnen.!) 

Auch  in  diesem  Sinne  aber  finden  wir  nirgends  bei 
Schopenhauer  einen  Ansatz  der  Gedankenfllhrnng.  Auch  die 
oben  genannte  Stelle  über  «die  Folge  der  Einwirkung  jedes 
anderen  Objekts  auf  ein  anderes ''  enthält  weder  eine  Hand- 
habe für  unseren  Deutungsversuch,  noch  überhaupt  einen 
Ableitungsgrund  fttr  die  Kausalität  der  Objekte  untereinander, 
sondern  lediglich  fttr  ihre  Sukzession  unter  der  Voraussetzung 
ihrer  Objektivität 

Beide  Arten  der  Kausalbeziehung  werden  vielmehr  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle,  wo  sie  zur  Sprache  kommen,  ungesehen 
koordiniert,  ja  als  gradweise  verschieden  dargestellt,  so  z.  B. 
wenn  es  heifst:  „Die  eigentliche,  lebendige,  unvermittelte,  not- 
wendige Erkenntnis  des  Gesetzes  der  Kausalität  geht  aller 
Reflexion,  wie  aller  Erfahrung,  vorher  und  liegt  im  Verstände. 
Mittelst  derselben  werden  die  Empfindungen  des  Leibes  der 
Ausgangspunkt  für  die  Anschauung  einer  Welt,  indem  nämlich 
das  a  priori  uns  bewufste  Gesetz  der  Kausalität  angewandt 
wird  auf  das  Verhältnis  des  unmittelbaren  Objekts  (des  Leibes) 
zu  den  anderen  nur  mittelbaren  Objekten :  die  Erkenntnis  des- 
selben Gesetzes,  angewandt  auf  die  mittelbaren  Objekte  allein 
und  untereinander,  gibt ...  die  Klugheit ^^)    Femer:  .der 

*)  Sieh  die  auf  dieselbe  Ansicht  zielenden  AosfUbrungen  von  Edmand 
EOnig,  „Die  Entwicklung  des  Kausalproblems  in  der  Philosophie  seit 
Kant«,  Leipzig  1890,  II.  Teil  S.  68. 

«)  VI,  22. 


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121 

Verstand  ist  in  allen  Tieren  and  allen  Mensehen  der  uämliebe, 
hat  überall  dieselbe  einfache  Form;  Erkenntnis  der  Eansalität, 
Übergang  von  Wirkung  anf  Ursache  nnd  von  Ursache  anf 
Wirkung,  nnd  nichts  anfserdem.  Aber  die  Grade  seiner  Schärfe 
und  die  Ansdehnang  seiner  Erkenntnissphäre  sind  höchst 
verschieden,  mannigfaltig  und  vielfach  abgestuft,  vom  niedrigsten 
Grad,  welcher  nur  das  Kausalitätsverhältnis  zwischen  dem 
unmittelbaren  Objekt  und  den  mittelbaren  erkennt,  also  eben 
hinreicht,  durch  den  Übergang  von  der  Einwirkung,  welche 
der  Leib  erleidet,  auf  deren  Ursache,  diese  als  Objekt  im  Räume 
anzuschauen,  bis  zu  den  höheren  Graden  der  Erkenntnis  des 
kausalen  Zusammenhanges  der  blofs  mittelbaren  Objekte  unter- 
einander, welche  bis  zum  Verstehen  der  zusammengesetztesten 
Verkettungen  von  Ursachen  und  Wirkungen  in  der  Natur  geht/'^) 

Den  Grund  für  die  hier  stattfindende  Koordination,  die 
freilich  die  tatsächlich  zugrundeliegende  Subordination  nur 
scheinbar  zu  verdecken  vermag,  haben  wir  in  der  bereits 
früher  aufgewiesenen  Ineinssetzung  von  Empfindung  und  un- 
mittelbarem Objekt  zu  suchen,  eine  Ineinsetznng,  die  sich  uns 
zwar  als  eine  metaphysisch  verständliche,  aber  psychologisch 
unmögliche  erwies^  nnd  die  deshalb  auch  zu  einer  unzuläng- 
lichen Beantwortung  der  erkenntnistheoretischen  Frage  nach 
der  objektiven  Gültigkeit  unseres  empirisch  anschauenden  Vor- 
Btellens  führt  Wir  fanden  nämlich,  dafs  unter  Voraussetzung 
dieser  Ineinssetzung  die  Beziehung  zwischen  Empfindung  in  uns 
und  Objekt  anfser  uns  zu  einer  Beziehung  zwischen  unmittel- 
barem nnd  vermitteltem  Objekt  und  damit  zu  einer  zwischen 
Objekten  stattfindenden  kausalen  Beziehung  wird.  Damit  wird 
diese  der  kausalen  Beziehung  der  vermittelten  Objekte  unter- 
einander formal  koordiniert.  Gleichwohl  haben  wir  auf  Grund 
des  Dargelegten  das  Becht  zu  der  Behauptung,  daTs  die 
Geltung  letzterer  Art  der  Kausalbeziehung,  im  Gegensatz  zu 
der  unmittelbaren  Ableitung  bei  Kant,  bei  Schopenhauer  tat- 
sächlich erst  eine  mittelbar  abgeleitete  ist. 

Hit  diesem  hängt  ein  anderer  Unterschied  der  Lehren 
beider  zusammen.  Der  empirische  Unterscheidungsgrund  einer 
objektiven  Folge  von  Vorstellungen  von  einer  blofs  subjektiven 


»)  I.  54,  55. 

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122 

ist  bei  Kant  die  Nichtumkebrbarkeit  jener.  Diese  ist  nar  denk- 
bar unter  der  Voraussetzung  der  kausalen  Bedingtheit  der  ob- 
jektiven Folge.  Wir  fanden,  dafs  eine  nicht  umkehrbare  Folge 
von  Wahrnehmungen  nicht  notwendig  eine  unmittelbar  kansal 
verknüpfte  Folge  zu  sein  brauche.  Es  erhebt  sich  da  die 
Frage,  wie  wir  nach  Kant  eine  unmittelbar  kansal  verknüpfte 
Folge  von  Wahrnehmungen  von  einer  solchen  objektiven  Folge 
von  Wahrnehmungen  unterscheiden  können,  deren  Glieder 
zwar  jeweils  irgendwie  kausal  bedingt,  deren  Ursachen  aber 
nicht  gerade  in  der  Reihe  der  Wahrnehmungen  gegeben  sind. 
Zum  Zwecke  dieser  Unterscheidung  bedarf  es  offenbar  eines 
empirischen  Kriteriums,  da  es  sich  ja  um  die  Unterscheidong 
empirischer  Tatsachen  handelt  „Das  einzige  empirische 
Kriterium  der  Wirkung  in  Beziehung  auf  die  Kausalität  der 
Ursache,  die  vorhergeht^,  ist  nach  Kant  «die  Zeitfolge*.^) 
Hiergegen  nun  macht  Schopenhauer  folgendes  geltend:  „Wie 
läfst  sich  Kants  Behauptung,  dafs  Objektivität  der  Sukzession 
allein  erkannt  werde,  aus  der  Notwendigkeit  der  Folge 
von  Wirkung  auf  Ursache,  vereinigen  mit  jener,  dafs  das 
empirische  Kriterium,  welcher  von  zwei  Zuständen  Ursache 
und  Wirkung  sei,  blofs  die  Sukzession  sei?  Wer  sieht  hier 
nicht  den  offenbarsten  Zirkel?*^  2)  Iq  der  Tat,  auch  die 
Einschränkung,  die  wir  an  der  Kritik,  die  Schopenhauer  an 
Kant  ttbt,  dahin  vorzunehmen  hatten,  dafs  für  Kant  sehr 
wohl  auch  eine  in  der  Wahrnehmung  gegebene  nicht  umkehr- 
bare Folge  von  Zuständen  möglich  bleibt,  die  zwar  jeder  für 
sich  kausal  bedingt,  aber  nicht  unmittelbar  untereinander 
kansal  verbunden  sind,  ist  nicht  geeignet,  die  von  Schopen- 
hauer berührte  Unzulänglichkeit  im  Gedankengange  Kants  zu 
beseitigen;  denn  anch  die  Frage,  welches  der  empirische  Unter- 
scheidnngsgrund  einer  zwar  nicht  umkehrbaren  und  deshalb 
objektiven  Folge  von  Wahrnehmungen,  deren  Ursachen  in  der 
Wahrnehmung  aber  nicht  gegeben  sind,  von  einer  unmittelbar 
kausal  verknüpften  Folge  von  Wahrnehmungen  sei,  kann  durch 
den  Rekurs  auf  die  Zeitfolge  nicht  gelöst  werden. 

Wir  stehen  aber  in  der  Lehre  Schopenhauers  ganz  analogen 
Schwierigkeiten  gegenüber.   Es  erhebt  sich  zunächst  die  Frage, 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Auflage  S.  249.  •)  III,  108, 

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123 

was  für  Schopenhauer  den  empirischen  Unterscheidungsgrand 
einer  blofs  sabjektiFen  etwa  erinnerten  oder  phantasiemäfsigen 
anscbanlichen  Vorstellang  von  einer  solchen,  vorerst  gleichfalls 
blofg  subjektiven  Vorstellung  ist,  die  den  Anlafs  zu  der  denk- 
notwendigen  Forderung  eines  ihr  entsprechenden  ursächlichen 
Objektes  abgibt,  ausmache.  Die  Koordination  der  beiden 
genannten  Arten  der  Eausalbeziehung  hat  einen  Gedanken- 
gang zur  Folge,  der  auf  den  ersten  Blick  ganz  analog  der 
Ableitung  der  Apriorität  des  Kausalgesetzes  bei  Kant  zu  sein 
scheint  Er  heilst:  „Nun  aber  erhält  das  Gesetz  der  Kausalität 
seine  Bedeutung  und  Notwendigkeit  allein  dadurch,  dafs  das 
Wesen  der  Veränderung  nicht  im  blofsen  Wechsel  der  Zustände 
an  sieh,  sondern  vielmehr  darin  besteht,  dafs  an  demselben 
Ort  im  Baum  jetzt  ein  Zustand  ist,  und  darauf  ein  anderer, 
nnd  zu  einer  und  derselben  bestimmten  Zeit  hier  dieser  Zustand 
und  dort  jener:  nur  diese  gegenseitige  Beschränkung  der  Zeit  und 
des  Baumes  durcheinander  gibt  einer  Regel,  nach  der  die  Ver- 
änderung vorgehen  mufs,  Bedeutung  und  zugleich  Notwendig- 
keit **>)  Ausführlicher  noch  finden  wir  diesen  Gedanken  in 
der  «Theorie  des  gesamten  Vorstellens,  Denkens  und  Erkennens* 
entwickelt,  wo  es  ttberdies  noch  heifst:  „Der  Gehalt  dieser 
Formen  (Raum  und  Zeit)  ist  das,  was  der  Empfindung  in  uns 
korrespondiert,  was  eigentlich  in  Raum  und  Zeit  wahrgenommen 
wird,  mittelst  der  äufseren  Sinne,  die  Materie, . . .  nur  als  er- 
füllt sind  sie  wahrnehmbar.  Die  Materie  ist  also  die  Wahr- 
nehmbarkeit des  Raumes  und  der  Zeit,  und  zwar  beider  zugleich; 
denn  sie  erfttllt  beide  zugleich,  gibt  beiden  zugleich  Gehalt^^) 
„Die  Vereinigung  dieser  Formen  kann  nur  dadurch  erscheinen, 
dafs  ein  Drittes  sie  beide  zugleich  füllt,  eben  dadurch,  daTs 
es  in  einer  ist,  auch  in  der  anderen  ist,  und  wesentlich  und 
untrennbar  die  Eigenschaften  beider  an  sich  trage,  beharrlich 
und  ohne  Veränderung  sei,  wie  der  blofse  Raum,  flüchtig, 
veränderlich  und  bestandlos  wie  die  blofse  Zeit  Dieses  Dritte 
ist  nun  die  Materie.*  ^)  „Weil  aber  jeder  Raum  und  Zeit  be- 
stimmte individuelle  Teile  des  ganzen  Raumes  und  der  ganzen 

')  I,  41. 

*)  Arthur  Schopenhauers  sämtliche  Werke,  herausgegeben  von  Paul 
Dnuen  IX.  Band.  S.  146  Z.  14-22. 
>)  a.  a.  0.  S.  147  Z.  25-81. 


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124 

Zeit  Bind,  so  ist  hieraus  die  Notwendigkeit  vorherzusehen,  dafs 
es  ein  Gesetz,  eine  Regel  geben  müsse,  welcher  gemäfs  gerade 
dieser  Teil  des  ganzen  Raumes  mit  gerade  diesem  Teil  der 
ganzen  Zeit  sieh  in  einer  bestimmten  individuellen  Materie 
vereinigt,  die  eben  in  dieser  Vereinigung  ihr  Wesen  bat'^) 
.Diese  Regel  ist  das  Gesetz  der  Kausalität."  ^)  „Die  Erscheinung 
jener  ansehauliehen  Vorstellungen,  welche  man  reale  Objekte 
nennt,  steht  unter  einem  Gesetze,  welches  alle  jene  realen  Ob- 
jekte miteinander  verknüpft,  und  der  dadurch  entstehende  Zu- 
sammenhang macht  eben  das  aus,  was  man  die  Erfahrung 
überhaupt  nennt,  eine  Gesamtvorstellung,  von  der  jede  einzelne 
Erfahrung,  jedes  einzelne  Objekt,  ein  notwendiger,  damit 
verknüpfter  Teil  ist.* 3)  Das  Analoge  des  Gedankenganges  zum 
Beweise  Kants  für  die  Apriorität  des  Kausalgesetzes  liegt  darin, 
dals  auch  hier  die  Abhängigkeit  der  Erfahrung  von  dem 
Postulat  der  kausalen  Bedingtheit  des  Zusammenhanges  alles 
raumzeitlichen  Erfahrbaren  dargetan  wird.  Die  eindeutige  Zu- 
ordnung je  einer  bestimmten  Sinnesqualität  zu  je  einem  Teil 
des  Raumes  und  je  einem  Teil  der  Zeit  ist  der  Sinn  dieser 
kausalen  Bedingtheit.  Indes  kann  daraus  der  gesuchte  Unter- 
sehiedsgrund  nicht  fliefsen;  denn  die  raumzeitliche  Beziehung 
der  Sinnesempfindung  ist  für  Schopenhauer  nicht  der  Grund 
für  die  Beziehung  derselben  auf  ein  Objekt,  sondern  ein 
Sekundäres,  das  zu  der  schon  objektivierten,  weil  auf  ein 
ursächliches  Objekt  schon  bezogene  Empfindung  allererst  hin- 
zukommt. 

Der  Unterscheidungsgrund  der  objektivierbaren  von  den 
nicht  objektivierbaren  Vorstellungen  ist  für  Schopenhauer  viel- 
mehr lediglich  in  dem  Bewnistsein  der  Affektion  des  Sinnes- 
organes, das  die  von  einem  Objekte  au&er  uns  verursachte 
Empfindung  begleitet,  gegeben.  Dies  fliefst  aus  seiner  Lehre 
vom  Zustandekommen  der  empirischen  Anschauung  ohne 
weiteres  ab,  und  wird  u.  a.  durch  folgende  folgerichtige  Be- 
merkung bestätigt:  ,Im  Schlafe,  als  in  welchem  das  Gehirn 
vom  peripherischen  Nervensystem  und  dadurch  von  äuüseren 
Eindrücken    isoliert    ist,    können    wir    jene    Unterscheidung 


»)  a.  a.O.  S.  148  Z.  29— 35. 

•)  a.  a.  0.  S.  149  Z.  17—18.  •)  a.  a.  0.  S.  153  Z.  22—28. 


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125 

(zwischen  Objekten  nnd  PhanfasmeD)  nicht  machen,  daher  wir, 
während  wir  träamen,  Phantasmen  fflr  reale  Objekte  halten 
nnd  erst  beim  Erwachen  d.  h.  beim  Wiedereintritt  der  sen- 
siblen Nerven  und  dadurch  der  Anfsenwelt  ins  Bewafstsein, 
den  Irrtum  erkennen *  i) 

Auch  wenn  wir  einmal  die  Identität  von  Empfindung 
und  physiologischer  Erregung  im  Sinnesorgan  in  dem  Sinne 
als  psychologische  gelten  lassen,  dafs  wir  statt  letzterer 
den  korrespondierenden,  im  Selbstbewufstsein  irgendwie,  etwa 
nach  Analogie  zum  Erkennenwollen,  gegebenen  metaphysischen 
Willen  setzen,  gelangen  wir  nicht  zu  dem  Kriterium,  das 
wir  suchen;  denn  alsdann  müfste  die  Wirkung,  die  in  der 
Empfindung  erfolgt,  auf  den  Willen  als  Ding  an  sich  bezogen 
werden,  was  nach  Schopenhauers  Lehre  nicht  angängig  ist 

Endlich  kann  auch  eine  eigentümliche  Wendung  in  den 
Parerga  und  Paralipomena,  die  auf  den  ersten  Blick  ein  psycho- 
logisches Kriterium  für  das  Objektivierbare  an  die  Hand  gibt, 
keine  Hilfe  bieten.  Sie  lautet:  „Sobald  nun  aber  der  Intellekt, 
mittelst  dieser  Formen  [Zeit,  Baum  und  Kausalität]  und  in 
ihnen,  einen,  stets  nur  von  der  Sinnesempfindung  ausgehenden 
realen  Gehalt,  d.  h.  etwas  von  seinen  eigenen  Erkenntnisformen 
Unabhängiges  spttrt,  welches  nicht  im  Wirken  überhaupt, 
sondern  in  einer  bestimmten  Wirkungsart  sich  kundgibt,  so  ist 
es  dies,  was  er  als  Körper  . . .  setzt.^^)  Auch  diese  Unab- 
hängigkeit von  den  Erkenntnisformen  unterscheidet  die  Sinnes- 
empfindnngen  nicht  yon  anderen  materialen  Bewnlstseins- 
inhalten,  etwa  ErinnerungsForstellungen,  abgesehen  noch  von 
der  Schwierigkeit,  dafs  diese  Unabhängigkeit  als  eine  kausale 
gedacht  werden  mufs,  demnach  nicht  als  Voraussetzung  für 
die  kausale  Deutung  der  Sinnesempfindungen  gelten  kann. 

Wenn  wir  aber  auch  ein,  wenngleich  unzureichendes 
empirisches  Kriterium  für  das,  was  Wirkung  in  uns  von  einer 
Ursache  aufser  uns  ist,  im  Zusammenhange  der  Lehre  Schopen- 
hauers haben  aufweisen  können,  so  stehen  wir  nun  doch, 
ähnlich  wie  bei  Kant,  vor  der  Frage  nach  dem  Unter- 
scheidungsgmnd  einer  objektivierten  Folge  von  Wahrnehmungen, 
die  lediglich  ein  „Folgen'^  von  einer  solchen,  die  ein  „Erfolgen*^ 

>}  III,  105,  106.  3)  V,  119. 

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126 

darstellt.  Diese  Frage  aber  wird  aach  von  Schopenhauer  nicht 
gelöst;  denn  dafs  der  Verstand  auch  hier,  in  analoger  Weise 
wie  bei  dem  Übergang  yon  der  Sinnesempfindnng  zu  ihrer 
Ursache  anfser  uns,  intuitiv  die  Ursachen  erkenne,  ist,  da  er 
hierbei,  wie  wir  bei  der  Besprechung  der  Mittelbarkeit  der 
'Kausalität  der  Objekte  untereinander  fanden,  keinen  analogen 
Anhaltspunkt  mehr  in  den  Wirkungen  hat,  nicht  mehr  ver- 
ständlich. 

Die  Schopenhauer  eigentümliche  Ineinssetzung  der  Emp- 
findung mit  der  physiologischen  Erregung  im  Sinnesorgan,  in 
der  älteren  Fassung  mit  dem  unmittelbaren  Objekt,  macht 
auch  die  Kritik,  die  er  an  den  von  Kant  im  Znsammen- 
hange seines  Beweises  für  die  Apriorität  des  Kausalgesetzes 
benutzten  Beispielen  des  Hauses  und  des  den  Flnfs  hinab- 
fahrenden Schiffes  ttbt,  historisch  verständlich.  Gegen  diese 
macht  er  den  Einwand,  „dafs  beide  Fälle  gar  nicht  unter- 
schieden sind,  dafs  beides  Begebenheiten  sind,  deren  Erkenntnis 
objektiv  ist,  d.  h.  eine  Erkenntnis  von  Veränderungen  realer 
Objekte,  die  als  solche  vom  Subjekt  erkannt  werden.  Beides 
sind  Veränderungen  der  Lage  zweier  Körper  gegeneinander. 
Im  ersten  Falle  ist  einer  dieser  Körper  der  eigene  Leib  des 
Betrachters,  und  zwar  nur  ein  Teil  desselben,  nämlich  das 
Auge,  und  der  andere  ist  das  Haus,  gegen  dessen  Teile  die 
Lage  des  Auges  sukzessive  geändert  wird.  Im  zweiten  Fall 
ändert  das  Schiff  seine  Lage  gegen  den  Strom,  also  ist  die  Ver- 
änderung zwischen  zwei  Körpern". i)  Es  ist  kaum  anzunehmen, 
dafs  es  Schopenhauer  entgangen  sei,  dafs  auch  die  Bewegung 
des  Schiffes  eine  Veränderung  gegen  den  Leib  des  Betrachters 
bedeute  und  auch  in  diesem  Sinne  dem  ersten  Falle  koordiniert 
sei.  Was  ihm  als  wesentlich  zu  betonen  gilt,  ist  vielmehr, 
dafs  zwar,  entgegen  dem  zweiten,  im  ersten  Falle  „die  Ver- 
änderung ausgeht  vom  eigenen  Leib  des  Beobachters*,  dafs 
aber,  weil  auch  dieser  Leib  „ein  Objekt  unter  Objekten, 
mithin  den  Gesetzen  dieser  objektiven  Körperwelt  unterworfen 
ist",  beide  Fälle  „Begebenheiten  sind,  deren  Erkenntnis  ob- 
jektiv ist«.«) 


0  111, 103. 
«)  III,  103. 


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127 

Dafs  diese  Bemerknogen  Sehopenhaners,  für  sich  genommen 
za  Beeht  bestehen,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Nnr  treffen 
sie  nicht  die  Lehrmeinung  Kants  über  die  Apriorität  des  Kausal- 
gesetzes, sondern  lediglich  die  Unzulänglichkeit  der  von  ihm 
benutzten  Beispiele,  die  darin  liegt,  dafs  allerdings  unserem 
entwickelten  Bewufstsein  der  eigene  Leib  schon  als  reales 
Objekt  bekannt  ist,  und  wir  infolgedessen  das  Kausalverhältnis, 
io  dem  derselbe  zu  anderen  realen  Objekten  steht,  a  posteriori 
beurteilen  können.  Irreftthrend  ist  in  dem  Beispiele  des  Hauses 
zudem,  dafs  hier  die  Willkttrlichkeit  der  subjektiven  Folge  der 
Vorstellungen  an  der  Konstanz  der  Bestandteile  des  Hauses 
gemessen  wird.  Die  Beispiele  Kants  können  indes  ihren  ver* 
aDschaulichenden  Zweck  zur  Not  erfüllen,  wenn  wir  in  ihnen 
lediglich  auf  den  Gegensatz  der  nicht  umkehrbaren  Folge  der 
änlseren  Objekte  zu  der  willkürlichen  unserer  Vorstellungen 
achten. 

Die  kritischen  Ausführungen  Schopenhauers  haben  jedoch 
in  dem  Zusammenhange  seiner  Lehre  eine  schwererwiegende 
Bedeutung.  Diese  liegt  wiederum  in  der  Ineinssetzung  des 
Leibes  als  des  „unmittelbaren  Objektes*',  und  der  Empfindung, 
die  sich  uns  als  ein  Unterfliefsen  eines  metaphysisch  Identischen 
als  eines  psychologisch  Gleichbedeutenden  und  als  die  Grundlage 
der  widerspruchsvollen  Koordination  der  kausalen  Beziehung 
des  «unmittelbaren  Objektes'  zu  den  vermittelten  Objekten 
nnd  der  dieser  untereinander  erwies.  Im  Sinne  dieser  Voraus- 
setzung heifst  es  bei  Schopenhauer:  ,  Kant  würde  auch  in  dem 
von  ihm  aufgestellten  Fall  nicht  geglaubt  haben,  einen  Unter- 
schied zu  finden,  hätte  er  bedacht,  dafs  sein  Leib  ein  Objekt 
unter  Objekten  ist  und  dafs  die  Sukzession  seiner  empirischen 
Anschauungen  abhängt  von  der  Sukzession  der  Einwirkungen 
anderer  Objekte  auf  seinen  Leib,  folglich  eine  objektive  ist, 
d.  h.  unter  Objekten,  unmittelbar  (wenn  auch  nicht  mittelbar), 
unabhängig  von  der  Willkür  des  Subjektes,  statt  hat,  folglich 
sehr  wohl  erkannt  werden  kann,  ohne  dafs  die  sukzessive  auf 
seinen  Leib  einwirkenden  Objekte  in  einer  Kausalverbindung 
untereinander  stehen ^,1)  unmittelbar,  d.h.  nicht  durch  Ver- 
mittlung der  Erkenntnis  einer  Notwendigkeit  in   der  Folge 


»)  nr,  104. 

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128 

empirischer  Objekte  nntereiaander,  sondern  lediglieli  durch  den 
Kaasalschlufs  von  der  Empfindung,  als  der  Einwirkung  auf 
das  ,, unmittelbare  Objekt*,  auf  die  reale  Ursache  dieser 
Wirkung  im  Baume  aufser  uns. 

Die  kausale  Beziehung  der  Objekte  aufserhalb  unseres 
Leibes  auf  diesen  ist  nun  zwar,  obgleich  das  fUr  den  Sinn 
der  angeführten  Beispiele  Kants  nicht  in  Betracht  kommt, 
in  der  Konsequenz  der  Gedanken  Kants  eine  der  kausalen 
Beziehung  der  Objekte  aufser  unserem  Leibe  untereinander 
koordinierte,  in  demselben  Sinn,  der  für  Schopenhauer  gilt, 
wenn  der  Leib  lediglich  als  Objekt  in  der  uneingeschränkten 
Bedeutung  genommen  wird.  In  den  genannten  Ausführungen 
Schopenhauers  aber  ist  die  kausale  Beziehung  des  Leibes  zu 
den  Objekten  aufser  uns  der  dieser  untereinander  tatsächlich 
wiederum  ttbergeordnet  Die  Doppeldeutigkeit  des  „unmittel- 
baren Objekts^,  derznfolge  Schopenhauer  sagen  kann:  ,die 
Veränderungen,  welche  jeder  tierische  Leib  erfährt,  werden 
unmittelbar  erkannt,  d.h.  empfunden ^,i)  macht  die  formale 
Koordination  des  Übergeordneten  auch  hier  verständlich.  Nur 
deshalb  also  gelten  ihm  die  von  Kant  angeführten  Fälle  als 
nicht  yerschieden,  weil  die  kausale  BeziehuDg  des  unmittel- 
baren Objekts  zu  dem  yermittelten  als  eine  der  dieser  unter- 
einander koordinierte  dabei  unterfliefst 

Das  ändert  sieh  auch  dann  nicht,  wenn  wir  berttcksichtigen, 
dafs  Schopenhauer  in  seinen  späteren  Werken  den  Ausdruck 
,1  unmittelbares  Objekt*^  restringiert  oder  durch  andere  Aus- 
drücke ersetzt,  dafs  er  insbesondere  in  der  in  §  23  der  zweiten 
Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  enthalteneo  .Bestreitung  des 
von  Kant  aufgestellten  Beweises  der  Apriorität  des  Kausalitäts- 
begriffes ",  die  in  allem  Wesentlichen,  ja  fast  wörtlich  mit  der 
in  §  24  der  ersten  Auflage  gegebenen  ,  Bestreitung  von  Kants 
Beweis  dieses  Satzes  und  Aufstellung  eines  neuen,  im  gleichen 
Sinne  abgefalBten",  übereinstimmt,  der  Ausdruck  .unmittelbares 
Objekt*  z.B.  so  vermieden  wird,  dafs  statt  des  Satzes  der 
ersten  Auflage:  «Der  einzige  Unterschied  (der  Beispiele  Kants) 
ist,  dafs  im  ersten  Falle  die  Veränderung  zwischen  dem 
unmittelbaren  und  einem  yermittelten,   im  zweiten  zwischen 


')I,43. 

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129 

zwei  yermittelten  Objekten  ist",^)  in  der  zweiten  Auflage  der 
Satz  tritt:  „ . . .  dafs  im  ersten  Falle  die  Veränderung  ausgeht 
vom  eigenen  Leibe  des  Beobachters,  dessen  Empfindungen  zwar 
der  Ausgangspunkt  aller  Wahrnehmungen  desselben  sind,  der 
jedoch  nichtsdestoweniger  ein  Objekt  unter  Objekten,  mithin 
den  Gesetzen  dieser  objektiven  Körperwelt  unterworfen  ist."  2) 
Die  Vermeidung  dieses  Ausdruckes  ändert  deshalb  nichts  an 
unserer  Erklärung,  weil  sie  nicht  die  tatsächlich  bestehen- 
bleibende und  im  psychologischen  Sinne  Anspruch  behaltende 
Ineinssetzung  von  Empfindung  und  physiologischer  Erregung 
im  Sinnesorgan  aufhebt. 

Materie. 

Als  letzter  Punkt  des  Vergleiches  bleibt  uns  noch  das 
Verhältnis  der  Lehre  Schopenhauers  yon  der  Materie  zu  den 
Gedanken  Kants  einer  Betrachtung  zu  unterziehen  ttbrig. 

Wir  fanden,  dafs  die  Materie  bei  Schopenhauer  in  ihrem 
Begriff  die  Beziehungen  des  Baumes  und  der  Zeit  vereinigt, 
dafs  das  beide  vereinigende  Begriffsmerkmal  die  Wirksamkeit 
und  in  dieser  die  Bestimmung  der  objektiven  Grundlage  alles 
realen  Seins  mitgedacht  ist 

Zwei  wesentliche  Bestimmungen  in  der  Definition  der  Materie 
bei  Schopenhauer  vertragen  eine  Analogie  zu  Gedanken  Kants, 
fürs  erste  in  der  Tat  die  der  Beharrlichkeit  der  Materie  dort 
zu  der  der  Beharrlichkeit  der  Substanz  hier.  „Das  Beharrliche, 
erklärt  Kant,  womit  im  Verhältnis  alle  Zeitverhältnisse  der 
Erscheinungen  allein  bestimmt  werden  können,  ist  die  Substanz 
in  der  Erscheinung,  d.  i.  das  Reale  derselben,  was  als  Substrat 
alles  Wechsels  immer  dasselbe  bleibt."  ^^  Auch  darin  stimmt 
Schopenhauer  mit  Kant  ttberein,  dafs  die  Substanz  das  Be- 
harrende im  Wechsel  seiner  Zustände  sei;  denn  auch  fbr 
Kant  gilt:  „Entstehen  und  Vergehen  sind  nicht  Veränderungen 
desjenigen,  was  entsteht  und  vergeht.  Veränderung  ist  eine 
Art  zu  existieren,  welche  auf  eine  andere  Art  zu  existieren 


^)  1.  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde  S.  48, 49. 

»)  m,  103. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  225. 

PhUotophiache  Abhtodlungtn.    XLll.  9 


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180 

ebendesselben  Gegenstandes  erfolgt    Daher  ist  alles,  was  sich 
verändert,  bleibend,  and  nar  sein  Zastand  weebselt.*^) 

Die  Bebarrlichkeit  bei  Kant  anterscbeidet  sich  von  der 
bei  Schopenhaaer  aber  darin,  dafs  jene  im  weiteren  Sinne 
genommen  wird.  Jene  nämlich  wird  als  Zeitbestimmang  über- 
haupt gedacht,  während  diese  als  ranmzeitliche  Bestimmung 
determiniert  ist.  Diese  Abweichung  beleuchtet  Schopenhauer, 
wenn  er  sagt:  „Es  ist  falsch,  dafs  es  in  der  blofsen  Zeit  eine 
Simultaneität  und  eine  Dauer  gebe;  diese  Vorstellungen  gehen 
allererst  hervor  aus  der  Vereinigung  des  Raumes  mit  der  Zeif^') 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  ihm  dabei  nur  das  Zngleichsein 
und  die  Dauer  der  Gegenstände  der  äufseren  Wahrnehmung 
vorsehwebt.  Ein  Zugleichsein  des  in  der  inneren  Wahrnehmung 
Gegebenen  kommt  infolgedessen  für  ihn  nicht  in  Betracht 
Dafs  die  Tatsache  des  Zugleichseins  des  in  der  Selbstwahr- 
nehmung Gegebenen  von  Schopenhauer  nicht  beachtet  wurde, 
ist  vielleicht  darin  mitbegrttndet,  dafs  für  ihn  „der  alleinige 
Gegenstand  des  inneren  Sinnes  der  eigene  Wille  des  Er- 
kennenden"')  ist  Die  im  Selbstbewufstsein  gegebenen  Äufse- 
rungen  des  Willens  können  zwar  auch  nur  in  der  Form  der 
Zeit  erkannt  werden,^)  doch  scheint  es,  dafs  die  Einfachheit 
des  Willens  ein  Zugleichsein  verschiedener  Äufserungen  des- 
selben ausschliefst.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Motive  steht  dem 
nicht  entgegen;  denn  „die  Objekte  des  WoUens,  welche  eben  den 
Willensakt  bestimmen,  liegen  aufserhalb  der  Grenze  des  Selbst- 
bewufstseins  im  Bewufstsein  von  anderen  Dingen^. ^)  Indessen 
tritt  auch  schon  in  der  ersten  Auflage  des  Satzes  vom  Grunde, 
in  der  der  innere  Sinn  noch  die  weitere,  Kantische  Bedeutung 
hat,  die  Behauptung  auf,  dafs  diesem  ,nur  eine  deutliche  Vor- 
stellung, wiewohl  diese  sehr  zusammengesetzt  sein  kann,  auf 
einmal  gegenwärtig  sein  kann".*)  Diese  Lehrmeinung  geht 
vermutlich  auf  Kant  zurück,  der  sagt:  „Jede  Anschauung 
enthält  ein  Mannigfaltiges  in  sich,  welches  doch  nicht  als 
ein  solches  vorgestellt  werden  würde,  wenn  das  Gemüt  nicht 

>)  Ebenda  S.  230. 

>)  I,  601. 

»)  11,47.  Olli  47. 

»)  m,  396. 

*)  1.  Auflage  des  Sateea  Tom  Grunde  S.  82. 


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131 

die  Zeit  in  der  Folge  der  Eindrücke  aufeinander  anter- 
schiede;  denn  als  in  einem  Augenblick  enthalten,  kann  jede 
Yorstellong  niemals  etwas  anderes  als  absolute  Einheit  sein.'^i) 
Kant  aber  spricht  auch  dem  im  inneren  Sinne  Angeschauten 
Gleichzeitigkeit  zu.^)  Das  Problem  der  Gleichzeitigkeit  des 
dem  inneren  Sinne  in  der  späteren  engeren  Bedeutung 
Gegebenen  ist  von  Schopenhauer  nicht  ausdrücklich  auf- 
geworfen worden. 

Die  Beharrlichkeit  der  Materie  bei  Schopenhauer  unter- 
scheidet sich  von  der  Substanz  bei  Kant  zweitens  darin,  dafs 
sie  nicht  als  das  Substratum  der  Zeit,  sondern  des  Raumes 
abgeleitet  wird«  „Aus  dem  Anteil  also,^^  sagt  Schopenhauer, 
„den  der  Baum  an  der  Materie,  d.  i.  an  allen  Erscheinungen 
der  Wirklichkeit  hat,  ....  mufste  jener  Grundsatz  von  der  Be- 
hanlichkeit  der  Substanz  .  .  .  abgeleitet  und  erklärt  werden, 
nicht  aber  aus  der  bloüsen  Zeit,  welcher  Kant  zu  diesem  Zweck 
ganz  widersinnig  ein  Bleiben  angedichtet  hat"') 

Ein  dritter  Unterschied  der  Beharrlichkeit  der  Materie  bei 
Schopenhauer  yon  der  bei  Kant  ist  darin  gegeben,  dafs  sie 
bei  jenem  aus  der  Kausalität  abgeleitet  wird. 

Dieses  Merkmal  aber  hat  ein  Analogon  in  einem  anderen 
Pankte  der  Lehre  Kants.  Wir  fanden,  dafs  bei  Schopenhauer 
der  Gedanke,  dafs  die  Materie  das  Wirkende  überhaupt  sei, 
eine  engere  und  eine  weitere  Bedeutung  habe.  In  jener  ist  das 
Sein  der  Materie  ihr  Wirken  auf  uns,  in  dieser  ist  sie  der 
Inbegriff  alles  Wirkenden  und  deshalb  die  „keinem  Werden  und 
Vergehen  unterworfene,  mithin  immer  gewesene,  immer  bleibende 
Grundlage  aller  Dinge".  <)  Die  Ableitung  letzterer  Bedeutung 
kann  nun  in  Analogie  gesetzt  werden  zu  den  Ausführungen  Kants 
über  das  empirische  Kriterium  einer  Substanz,  sofern  sie  sich 
nicht  durch  die  Beharrlichkeit,  sondern  besser  und  leichter 
durch  Handlung  zu  offenbaren  scheint^)  „Handlung"  sagt 
Kant,  „bedeutet  schon  das  Verhältnis  des  Subjekts  der  Kausalität 
zur  Wirkung.    Weil  nun  alle  Wirkung  in  dem  besteht,  was  da 

0  1.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  99. 

*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  67. 

•)  1,602  f. 

*)  1, 602.    Sieh  S.  49  dieser  Schrift. 

^)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  249. 

9* 


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132 

geschieht,  mithin  im  Wandelbaren,  was  die  Zeit  der  Snkzession 
nach  bezeichnet,  so  ist  das  letzte  Sabjekt  desselben  das  Beharrliche 
als  das  Siibstratnm  alles  Wechselnden,  d.i.  die  Substanz.'' >)  Die 
Geltang  dieses  Eriteriums  ist  innerhalb  seines  Anwendangs- 
bereiches  eine  apodiktische,  weil  sein  Inhalt  aus  einer  a  priori 
gewissen  Voranssetzang  abgeleitet  ist;  «denn  nach  dem  Grand- 
satze der  Eaasalität  sind  Handlangen  immer  der  erste  Grand 
von  allem  Wechsel  der  Erscheinungen  and  können  also  nicht 
in  einem  Sabjekt  liegen,  was  selbst  wechselt,  weil  sonst  andere 
Handlangen  and  ein  anderes  Sabjekt,  welches  diesen  Wechsel 
bestimmte^  erforderlich  wären ''.^)  Als  a  priori  abgeleiteter 
bildet  der  hier  geltende  Begriff  der  Handlang  eines  der  Pi^- 
dikabilien  des  reinen  Verstandes,^)  and  zwar  ein  solches,  das 
der  Kategorie  der  Eaasalität  untergeordnet  ist.  Es  liegt  ihm 
der  Gedanke  unter,  dafs  die  Kausalität  immer  nur  in  Beziehung 
auf  eine  Zustandsänderung  Erkenntniswert  habe,  der  Inbegriff 
aller  Zustandsänderungen  also  auch  den  Inbegriff  alles  Wirk- 
samen im  Felde  der  Erscheinungen  umfasse.  Empirisch  ist 
dieses  Kriterium  im  Gegensatze  zu  dem  apriorischen  Grunde, 
aus  dem  die  Beharrlichkeit  der  Substanz  nach  der  ersten 
Analogie  flierst,^)  empirisch  also  in  einem  engeren  Sinne  als 
er  für  den  empirischen  im  Gegensatz  zum  transzendentalen 
Yerstandesgebrauch  gilt,  wenn  es  ron  den  Analogien  überhaupt 
heilst,  dafs  sie  als  Grundsätze  nur  des  ersteren,  nicht  des 
letzteren  ihre  alleinige  Bedeutung  und  Gültigkeit  haben.  ^)  In 
einem  weiteren  Sinne  aber  ist  es  empirisch  wie  der  Inbegriff 
der  in  den  Einzelwissenschaften  gewonnenen  Eonstanten  des 
kausalen  Geschehens,  deshalb  nämlich,  weil  diese  aus  dem 
empirischen  Inhalt  des  regelmäfsig  Aufeinanderfolgenden  in- 
duktiv gewonnen  sind,  während  jenes  „empirische  Eriterium*' 
a  priori  für  jedes  mögliche  kausale  Geschehen  gilt  Das 
genannte  Eriterium  ist,  so  dürfen  wir  interpretierend  sagen, 
deshalb  für  Eant  empirisch,  weil  der  Umfang  seines  Geltungs- 
bereiches ein  nur  empirisch  bestimmbarer  ist    Es  reicht  nämlich 

0  Ebenda  250. 
>)  Ebenda  S.  250. 
')  Ebenda  S.  108. 
*)  Ebenda  S.  282. 
>)  Ebenda  S.  223. 


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133 

nar  bo  weit,  als  die  Tatsache  des  Wandelbaren  in  der  Erscheinung 
reicht,  im  Gegensatz  zum  Grundsatze  der  Beharrlichkeit  der 
Substanz,  der  jede  mögliche  Erfahrung  umfafst.  Weil  es  die 
nach  dem  Grundsatze  der  Kausalität  schon  objektivierte  Mannig- 
faltigkeit des  Wandelbaren  der  Erscheinung  zur  Voraussetzung 
flir  seine  Anwendbarkeit  hat,  ist  die  durch  es  erschlossene 
Beharrlichkeit  der  Substanz  als  erst  „  durch  verglichene  Wahr- 
nehmung ",1)  der  Umfang  dessen,  wofttr  es,  obzwar  a  priori, 
gilt,  also  erst  durch  Induktion  gewonnen  zu  bezeichnen.  Das 
Kriterium  gewährleistet  daher,  so  haben  wir  zu  folgein,  nur 
die  Beharrlichkeit  der  Substanz  des  Wechselnden,  nicht  also 
auch  des  in  seinem  Zustand  Verharrenden,  zum  mindesten  also 
auch  nicht  des  Koexistierenden.  In  diesem  Sinne  ist  der 
Sehlnfs.  .  dafs  das  erste  Subjekt  der  Kausalität  alles  Entstehens 
und  Vergehens  selbst  nicht  (im  Feld  der  Erscheinungen)  ent- 
stehen und  vergehen  könne,  ein  sicherer  Schlufs,  der  auf 
empirische  Notwendigkeit  und  Beharrlichkeit  im  Dasein,  mithin 
aaf  den  Begriff  einer  Substanz  als  Erscheinung  ausläuft ''.3) 
Das  zu  diesem  Gedankengange  Kants  Analoge  in  der  Lehre 
Schopenhauers  von  der  Materie  3)  liegt,  von  Schopenhauer  in 
dieser  historischen  Beziehung  nicht  erkannt,  in  der  Bestimmung 
der  Materie  als  des  Trägers  aller  Veränderungen,  4)  der  selbst 
von  allem  Entstehen  und  Vergehen  ausgenommen  ist.^)  Beiden 
Theorien  liegt  der  a  priori  geltende  Gedanke  zugrunde,  dafs 
das,  was  als  den  Eintritt  der  Wirkung  notwendig  herbeiführend 
io  der  Ursache  gedacht  wird,  als  in  der  kausal  verkntlpften 
Folge  beharrend  vorausgesetzt  werden  mttsse.  Bei  Schopenhauer 
ist  dieser  Ableitungsgrund  in  der  Bestimmung  der  Materie  als 
des  Wirkenden  überhaupt,  das  selbst  der  Kausalität  nicht  unter- 
worfen sei,  gegeben.  Während  aber  der  Umfang  des  Geltungs- 
bereiches des  genannten  Kriteriums  bei  Kant  ein  nur  empirisch 
bestimmbarer  ist,  tritt  der  entsprechende  Ableitungsgrund  bei 


0  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  251. 

>)  Ebenda  S.251. 

*)  Vgl.  Ernst  Laas,  „Kants  Analogien  der  Erfahrung^,  Berlin  1876 
S.  148  f.,  wo  das  Verwandte  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  Materie  mit 
der  Kants  von  dem  empirischen  Kriterium  einer  Substanz,  allerdings  nicht 
ganz  zutreffend,  berührt  wird. 

*)ni,58.  »)m,56. 


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134 

Sebopcnhaner  als  ein  jede  mögliche  ErfabraDg  a  priori  um- 
fassender anf.  Nicht  blofs  als  die  beharrende  Grundlage  der 
Veränderungen,  sondern  als  die  „jeder  Realität",^)  „aller 
Dinge  "2)  wird  die  Materie  aus  dem  genannten  Grunde  ab- 
geleitet. Sie  wird  also,  so  dürfen  wir  schliefsen,  auch  als  die 
in  ihrer  Wirksamkeit  beharrende  Grundlage  der  im  empirischen 
Sinne  ruhenden  Materie  a  priori  gefolgert  Als  so  selbstrer- 
ständlich  gilt  letztere  in  dieser  Ableitung  für  Schopenhauer 
einbegriffen,  dafs  die  Frage,  in  welchem  Sinne  dies  geschehen 
dürfe,  keine  besondere  Behandlung  yon  ihm  erfahren  hat,  und 
dies,  trotzdem  die  Kausalität  bei  ihm  wie  bei  Kant  in  not- 
wendiger Beziehung  zur  Zeitfolge  steht 

Die  empirische  Geltung,  die  Kant  dem  genannten  Kriterium 
zuschreibt,  hat  Schopenhauer  vielleicht  im  Auge  gehabt,  wenn 
er  sagt:  ,  Auch  können  wir  die  Überzeugung  yon  der  Beharrlich- 
keit der  Substanz  gar  nicht  a  posteriori  erlangt  haben,  teils 
weil  in  den  meisten  Fällen  der  Tatbestand  empirisch  zu  kon- 
statieren unmöglich  ist,  teils  weil  jede  empirische,  blofs  durch 
Induktion  gewonnene  Erkenntnis  nur  approximative,  folglich 
prekäre,  nie  unbedingte  Gewifsheit  hat*') 

Prüfen  wir  nun,  in  welchem  Sinne  der,  empirisch  betrachtet, 
ruhenden  Materie  ein  in  seiner  Wirksamkeit  Beharrendes  im 
Zusammenhange  der  Lehre  Schopenhauers  zugrunde  gelegt 
werden  darf. 

Diesem  Zwecke  scheint  vorerst  die  Lehre  von  den  Natur- 
kräften eine  Handhabe  zu  bieten.  Von  diesen  sagt  Schopen- 
hauer: »Die  Naturkräfte  hingegen,  vermöge  welcher  alle  Ur- 
sachen wirken,  sind  von  allem  Wechsel  ausgenommen,  daher 
in  diesem  Sinne  aufser  aller  Zeit,  eben  deshalb  aber  stets  und 
überall  vorhanden,  allgegenwärtig  und  unerschöpflich,  immer 
bereit,  sich  zu  äufsern,  sobald  nur  am  Leitfaden  der  Kausalität 
die  Gelegenheit  dazu  eintritt."  *)  Es  liegt  nahe,  auch  der 
ruhenden  Materie  Natnrkräfte  zuzuschreiben,  vermöge  deren 
sie  wirksam  werden  kann.  Die  Definition  der  Materie  als 
des  Wirkenden  überhaupt  dürften  wir  dann  vielleicht  in  dem 
weitesten   Sinne   nehmen,   dafs   sie  auch  das  möglicherweise 


*)  m,  99.  «)  I,  602. 

»)  m,  57.  <)  ni,  58. 


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135 

^rksame  amfasse.  Zur  PrttAiDg  dieser  Dentang  haben  wir 
nun  vorerst  dasjenige  Merkmal  der  Natarkräfte,  das  sieh  uns 
als  ein  transzendentes  erwies,  i)  als  fUr  unsere  innerhalb  der 
Welt  der  Vorstellnng  sieh  bewegende  Frage  ansgesehlossen  zu 
bezeichnen.  Es  liegt  in  der  Bestimmnng,  dafs  die  Natnrkraft 
das  sei,  «was  der  Ursache  die  Fähigkeit  zn  wirken  allererst 
erteilt *'.3)  Ftlr  das  Gebiet  der  Vorstellnng  aber  erwies  sich 
uns  die  Natnrkraft  lediglich  als  ein  darch  Induktion  gewonnenes 
Allgemeines,  das  aus  den  a  posteriori  gegebenen  Momenten,  die 
die  einzelnen  Ursachen  als  einzelne  kennzeichnen,  abstrahiert 
ist  Wir  müssen  uns  deshalb  in  unserem  Deutungsversuch  schon 
zu  dem  Schritt  entschliefsen,  Materie  und  Naturkraft  nicht, 
wie  es  von  Schopenhauer  im  Hinblick  auf  die  transzendente 
Nebenbedeutung  letzterer  geschieht,  zu  koordinieren,  sondern 
jener,  als  dem  Wirkenden  Überhaupt,  diese  als  ein  weniger 
Allgemeines  zu  den  einzelnen  Wirkungsarten  unterzuordnen. 
Die  ruhende  Materie  dürften  wir  dann  als  den  Träger  von 
Naturkräften  im  Sinne  von  möglichen  Wirkungsweisen  auf- 
fassen. Aber  auch  so  löst  sich  unsere  Frage  noch  nicht;  denn 
die  Naturkräfte  sind  durch  Induktion  gewonnen  anzusehen. 
Ein  apriorischer  Beziehungsgrund  aber  ist  es,  den  wir  fttr  die 
Einordnung  auch  der  ruhenden  Materie  unter  die  Definition  der 
Materie  als  des  Wirkenden  ttberhaupt  suchen. 

Ein  anderer,  zu  einem  apriorischen  Beziehungsgrund 
führender  Weg  der  Erklärung  scheint  sich  uns  zu  öffnen  von 
der  Lehre  Schopenhauers  von  dem  Gesetz  der  Trägheit  aus. 
Dieses  Gesetz  stellt  nämlich  nach  ihm  eine  notwendige  Folge 
ans  dem  der  Kausalität  dar.  .Das  erstere  (das  Gesetz  der  Träg- 
heit) besagt,  dafs  jeder  Zustand,  mithin  sowohl  die  Ruhe  eines 
Korpers  als  auch  seine  Bewegung  jeder  Art,  unverändert,  unver- 
mindert, unvermehrt,  fortdauern  und  selbst  die  endlose  Zeit  hin- 
durch anhalten  müsse,  wenn  nicht  eine  Ursache  hinzutritt,  welche 
sie  verändert  oder  aufhebt. "3)  „Das  Gesetz  der  Trägheit  fliefst 
unmittelbar  aus  dem  der  Kausalität,  ja  ist  eigentlich  nur  dessen 
Kehrseite:  ,jede  Veränderung  wird  durch  eine  Ursache  herbei- 
geführt', sagt  das  Gesetz  der  Kausalität:  ,wo  keine  Ursache 
hinzukommt,  tritt  keine  Veränderung  ein',  sagt  das  Gesetz  der 


0  S.  55  dieser  SehrifL  *)  III,  58.  >)  III,  56. 

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136 

Trägheit.  Daher  würde  eine  Tatsache,  die  dem  Gesetz  der 
Trägheit  widerspräche ,  geradezu  anch  dem  der  Eansalität, 
d.  h.  dem  a  priori  Gewissen,  widersprechen  nnd  uns  eine  Wirkung 
ohne  Ursache  zeigen.'  i)  Zwar  geht  das  Gesetz  der  Trägheit 
lediglich  auf  Zustände,  entsprechend  dem  der  Kausalität,  ent- 
gegen aber  dem  der  Beharrlichkeit  der  Materie,  das  vielmehr 
auf  das  den  Zuständen  Zugrundeliegende  geht,  und  bietet  schon 
aus  diesem  Grunde  unserem  Deutungsversuch  eine  Schwierigkeit; 
trotzdem  aber  dürfte  es  den  Keim  zu  einem  Gedanken  ent- 
halten, der  alle  Wahrscheinlichkeit  fUr  sich  hat,  unsere  Frage 
zur  Lösung  zu  bringen.  Die  reale  Notwendigkeit  nämlieh,  die 
dem  Beharren  der  ruhenden  Materie  —  Beharren  und  Buhen 
vorerst  im  empirischen  Sinne  genommen  —  dadurch  anhaftet,  dafs 
sie  von  dem  Nichteintreten  einer  eine  Veränderung  bewirkenden 
Ursache  abhängig  ist,  legt  die  Auffassung  nahe,  dab  dieses 
Beharren  selbst  den  Charakter  einer  kausalen  Notwendigkeit 
trage.  In  diesem  Sinne  können  wir  auch  eine  Ausführung  in  den 
Parerga  und  Paraligomena  auffassen,  die  lautet:  ,Die  von  Kant 
entdeckte  Idealität  der  Zeit  ist  eigentlich  schon  in  dem,  der 
Mechanik  angehörenden  Gesetze  der  Trägheit  enthalten.  Denn 
was  dieses  besagt  ist  im  Grunde,  dafs  die  blolse  Zeit  keine 
physische  Wirkung  hervorzubringen  vermag;  daher  sie,  für  sich 
und  allein,  an  der  Ruhe  oder  Bewegung  eines  Körpers  nichts 
ändert.  Schon  hieraus  ergibt  sich,  dafs  sie  kein  physisch 
Reales,  sondern  ein  transzendental  Ideales  sei  ...  denn 
wirksam  sind  allein  die  Ursachen  im  Verlaufe  der  Zeit, 
keineswegs  er  selbst  .  .  .  dementsprechend  ist  die  sich 
uns  vermittelst  der  Kette  der  Ursachen  und  Wirkungen  dar- 
stellende Notwendigkeit  alles  Geschehenden,  d.  h.  in  der  Zeit 
sukzessiv  Eintretenden,  blofs  die  Art,  wie  wir,  unter  der  Form 
der  Zeit,  das  einheitlich  und  unverändert  Existierende  wahr- 
nehmen, oder  auch,  sie  ist  die  Unmöglichkeit,  dafs  das 
Existierende,  obgleich  es  von  uns  heute  als  zukünftig,  morgen 
als  gegenwärtig,  übermorgen  als  vergangen  erkannt  wird,  nicht 
dennoch  mit  sich  selbst  identisch.  Eins  und  unveränder- 
lich sei ''.2)   Wir  fanden  oben,  dafs  die  eindeutige  Zuordnung  je 


»)  III,  364. 

»)  V,  47  t.    Die  Sperrung  findet  sich  nicht  im  Text. 


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137 

einer  objektivierten  Sinnesqaalität  zn  je  einem  Teil  des  Ranmes 
nnd  je  einem  Teil  der  Zeit  den  Sinn  der  kausalen  Bedingtheit 
des  Zusammenhanges  der  Objekte  untereinander  ausmache. 
Hier  sehen  wir  überdies,  dafs  der  Sinn  dieser  Eindeutigkeit  die 
kausal  bedingte  Identität  des  Eingeordneten  sei.  In  dieser 
Allgemeinheit  ist  dies  gleichbedeutend  damit,  dafs  nicht  nur 
in  der  Aufeinanderfolge,  sondern  auch  in  der  Koexistenz  der 
Zustände  die  Identität  des  Eingeordneten  kausal  bedingt  sei. 
Eine  Weehselwirkung  des  Koexistierenden  würde  der  Sinn 
dieser  kaasalen  Notwendigkeit  sein,  so  zwar,  dafs  sie  entgegen 
Kant  als  eine  Art  der  Kausalität  überhaupt  anzusehen  wäre. 
Dieser  zwar  naheliegende,  aber  von  Schopenhauer  nicht 
Yollzogene  Gedanke  dürfte  vielleicht  zum  Zweck  einer  Über- 
sicht über  die  Problemlage,  in  die  unsere  Frage  eingebettet 
ist,  etwas  weiter  von  uns  entwickelt  werden.  Nach  Kant  „kann 
das  Zugleichsein  der  Substanzen  im  Baume  nicht  anders  in 
der  Erfahrung  erkannt  werden,  als  unter  Voraussetzung  einer 
Wechselwirkung  derselben  untereinander.  *  >)  Nicht,  dafs 
diese  im  Sinne  Kants  als  eine  selbstständige  ,  Bedingung  der 
Möglichkeit  der  Dinge  selbst  als  Gegenstände  der  Erfahrung''^) 
za  gelten  habe,  sondern  vielmehr  die  über  Kants  Voraussetzung, 
hinausführende  Annahme,  die  die  Wechselwirkung  als  eine 
Art  der  Kausalität  auffassen  läfst,^)  würde  dem  Gedanken 
Raum  geben,  auch  auf  jene  das  „empirische  Kriterium"  für 
die  Beharrlichkeit  der  Substanz  entsprechend  anzuwenden. 
Würden  wir  freilich  mit  Kant  den  Grundsatz  der  Beharrlichkeit 
der  Substanz  voraussetzen  dürfen,  so  wäre  die  Analogie  unseres 
Gedankens  müfsig.  Diese  Voraussetzung  steht  uns  jedoch 
nicht  zur  Verfügung,  weil  wir  in  unserem  Gedankengange 
lediglich  vom  Gesetze  der  Kausalität  herkommen  und  zuzu- 
sehen haben,  was  es  für  das  im  empirischen  Sinne  Ko- 
existierende bedeute.  Das  Koexistierende  nämlich  ist,  so  setzen 
wir  im  Sinne  Schopenhauers  voraus,  zwar  seiner  räumlichen 
Form  nach  a  priori  bestimmbar,  jedoch  als  ein  im  Gegensatz 
zum  Aufeinanderfolgenden  stehender  ein  vorerst  nur  empirisch 


*)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  258. 
')  Ebenda. 


')  Benno  Erdmann.  Über  Inhalt  und  Geltung  des  Kausalgesettes  S.45. 

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138 

bestimmbarer  Zustand  der  Objekte.  Ob  auch  das  ihm  wie 
allem  Realen  Zagrnndeliegende,  die  Materie,  beharre,  ist  eine 
zweite  Frage,  die  es  allererst  ans  dem  Gesetze  der  Eansalitiit 
abzuleiten  gilt. 

Wir  müssen,  um  nieht  weitläufig  zu  werden,  in  diesem 
Zusammenhange  einen  Versuch,  den  Gedankengang  der  dritten 
Analogie  Kants  im  analogen  Sinne  der  „zweiten  Analogie^ 
auszubauen,  sowie  die  Eonsequenzen,  die  sieh  aus  der  Über- 
ordnung der  Kausalität  im  weitesten  Sinne  ttber  die  an  die 
Zeitfolge  und  an  die  Koexistenz  gebundene  Kausalität  ergeben, 
zu  ziehen  unterdrücken;  auch  dürfen  wir  aufser  aeht  lassen, 
dafs  bei  einer  solchen  Betrachtungsweise  Baum  und  Zeit 
als  empirisch  ableitbare,  und  durch  ihre  Mannigfaltigkeits- 
beziehungen  unterscheidbare  Begriffe  aufgewiesen  werden 
können.  Hier  haben  wir  nur  das  beschränkte  Ziel,  auf  der 
Grundlage  bestimmter  Voraussetzungen  Schopenhauers  einen 
seinem  eigenen  analogen  Gedankengang  zu  entwickeln;  mit 
welchem  Rechte,  wird  sich  zwar  noch  erweisen. 

Im  analogen  Sinne,  wie  für  die  auf  die  Zeitfolge  bezogene 
Kausalität,  haben  wir  das  Recht  zu  sagen,  dafs  nun  nicht 
das  Subjekt  der  Handlung  als  des  «ersten  Grundes  von  allem 
Wechsel  der  Erscheinungen '',1)  sondern  die  Subjekte  der  im 
Koexistierenden  waltenden  Wirsamkeit,  als  der  Ursachen  der  Ko- 
existenz der  Erscheinungen,  dem  Wechsel  nicht  unterworfen  sein 
können,  weil  sonst  gleichfalls  auch  ein  anderes  wirksames  Subjekt, 
welches  den  dann  eintretenden  Wechsel  bestimmte,  erforderlich 
wäre.  In  analoger  Weise  wie  dort  ein  Wechsel  des  ursächlichen 
Subjekts  sich  nicht  anders  denkbar  erwies,  wie  auf  Grund  eines 
Wechsels  der  Handlung,  also  einer  Zustandsändernng  des 
einmal  gesetzten  Zustandes,  so  haben  wir  fttr  das  Koexistierende 
zu  sagen,  dafs  ein  Wechsel  der  kausalen  Subjekte  der  Koexistenz 
nicht  anders  denkbar  wäre,  als  auf  Grund  einer  Zustands- 
ändernng der  Koexistenz  der  Erscheinungen.  Nehmen  wir 
nun  fttr  einen  gegebenen  Zeitabschnitt  zu  dem  Inbegriff  alles 
Wandelbaren,  dessen  letztes  Subjekt  sich  als  beharrlich  erwies, 
den  Inbegriff  alles  nicht  wandelbaren  Koexistierenden,  dessen 
letztes  Subjekt  aus  demselben  Grunde  beharrlich  ist,  so  dürfen 


0  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  250. 

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1Ö9 

wir  folgern,  dafs  ancb  dem  Inbegriff  allee  Existierenden  ein  Be- 
Iiarrliches  als  letztes  kausales  Subjekt,  d.  i.  als  konstante  kausale 
Bedingung  zur  Voraussetzung  diene.  Dieser  Gedankengang  wird 
der  Forderung  Scbopenbauers  gerecht,  dafs  die  Annahme  einer 
Wirksamkeit  des  den  Zuständen  zugrunde  Liegenden  immer 
nur  in  Beziehung  auf  die  kausale  Bedingtheit  dieser  Zustände 
Geltung  habe,  in  dem  weiteren  Sinne  aber,  dafs  nicht  lediglich 
die  Veränderung  der  Zustände,  sondern  auch  die  Beharrlichkeit 
derselben  als  kausal  bedingt  aufgefafst  wird.  Die  Beharrlich- 
keit auch  des  den  ihren  Zustand  nicht  ändernden,  somit  auch 
des  den  ruheuden  Erscheinungen  zugrunde  Liegenden  wäre 
so  also  als  eine  Konsequenz  des  erweiterten  Kausalgesetzes 
abgeleitet  und  damit  wäre  in  formaler  Übereinstimmung  mit 
dem  Satze  Schopenhauers,  dafs  die  Materie  das  beharrende 
Wirksame  sei,  die  Möglichkeit  der  Einordnung  auch  der  im 
empirisehen  Sinne  ruhenden  Materie  unter  diesen  Satz  ge- 
wonnen. 

Nicht  nur,  dafs  Schopenhauer  die  Wechselwirkung  als 
selbständige  Kategorie  ablehnt,  als  vielmehr  die  Gründe,  aus 
denen  dies  geschieht,  lassen  jedoch  auch  unseren  letzten  Aus- 
gleiehsversuch  scheitern. 

Mit  Kant  die  gleiche  Voraussetzung  der  Zeitfolge  für 
das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  machend,  gelangt 
Schopenhauer  nicht  wie  dieser,  and  nicht  wie  die  Kant  hierin 
folgenden  Fichte,  Schelling  und  Hegel  zu  einer  kategorialen 
Trennung  von  Kausalität  und  Wechselwirkung,  sondern  zur 
Ablehnung  letzterer  als  eines  Ungedankens.  , Kausalität*, 
80  sagt  er,  ,ist  das  Gesetz,  nach  welchem  die  eintretenden 
Zustände  der  Materie  sich  ihre  Stelle  in  der  Zeit  bestimmen.  . . . 
Der  Begriff  Wechselwirkung  enthält  aber  dies,  dafs  beide 
Ursache  nnd  beide  Wirkung  voneinander  sind:  dies  heifst  aber 
ebensoviel,  als  dafs  jeder  von  beiden  der  frühere  und  aber 
auch  der  spätere  ist:  also  ein  Ungedanke.*'^)  Der  Gedanke  also 
auch,  die  Kausalität  des  gleichförmig  Koexistierenden  als  eine 
Art  der  Kausalität  aufzufassen,  liegt  Schopenhauer  völlig  fern. 

Ein  anderer  Grund  also,  als  der  auf  der  Wechselwirkung 
ruhende,  wird  es  sein,  der  für  Schopenhauer  auch  das  gleich- 


»)  I,  586. 

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140 

förmig  Koexistierende  als  in  seiner  Ableitung  der  Beharrlieli- 
keit  einbegriffen  sein  läfst  Dieser  Grand,  wenn  anders  die 
Kausalität  an  die  Zeitfolge  gebunden  und  die  Weehselwirkung 
ausgeschlossen  bleiben  soll,  ergibt  sieh  uns  erst  dann,  wenn  wir 
auch  hier  wieder  die  Gleiehordnung  der  kausalen  Beziehung, 
die  für  die  Veränderungen  der  yermittelten  Objekte  gilt,  mit 
der  kausalen  Beziehung  dieser  zum  „unmittelbaren"  Objekt 
heranziehen.  Damit  nämlich  wird  aueh  das  Koexistierende  als 
ein  Wirkendes,  nämlich  ein  auf  uns  Wirkendes,  und  deshalb 
das  ihm  zugrunde  Liegende  als  ein  beharrend  Wirksames  anf- 
fafsbar.  DafUr  sprechen  alle  diejenigen  Ausführungen,  die  die 
Materie,  weil  sie  die  Wirksamkeit  tlberhaupt  sei,  als  das 
objektive  Korrelat  des  kausal  beziehenden  Verstandes  und 
deshalb  nicht  als  einen  Gegenstand,  sondern  die  „Bedingung 
der  Erfahrung"  >)  kennzeichnen.  Wir  fanden  frtther,^)  dals  die 
erkenntnistheoretische  Bestimmung  der  Materie  als  der  Wirksam- 
keit auf  uns  bei  Schopenhauer  unbesehen  in  die  logische  des 
Inhalts  dieses  Begriffes  als  der  Wirksamkeit  überhaupt  über- 
fliefst.  Diese  prinzipiell  bedeutsame  Unzulänglichkeit,  die  auf 
der  nicht  zu  rechtfertigenden  Koordination  des  unmittelbaren 
und  der  yermittelten  Objekte  beruht,  macht  sich  auch  bei 
unserer  Prüfung  des  logischen  Verhältnisses  der  ruhenden 
Materie  zu  dem  Begriff  der  Materie  als  des  Wirkenden  über- 
haupt bemerkbar.  Erst  wenn  wir  mit  Schopenhauer  den  Wechsel 
des  Standpunktes,  nun  vom  logischen  zum  erkenntnistheore- 
tischen zurück,  vollziehen,  wird  jenes  Verhältnis  im  Zusammen- 
hange seiner  Lehre  verständlich. 

Die  Konsequenz  freilich,  die  sich  von  der  Voraussetzung 
des  Wirklichen  überhaupt  als  eines  auf  uns  Wirkenden  aus 
ergibt,  dafs  damit  die  Ursachen  der  Wirkungen  auf  uns  not- 
wendig auch  als  untereinander  kausal  verknüpft  gedacht  werden, 
dafs  also  aueh  eine  Wechselwirkung  des  Koexistierenden  schon 
damit  vorausgesetzt  ist  und  diese  prinzipiell  gleichbedeutend 
wird  mit  der  Kausalität  des  Sukzedierenden,  und  dafs  infolge- 
dessen jede  Behauptung  über  einen  unmittelbaren  kausalen 
Zusammenhang  des  Sukzedierenden  aufser  der  flir  alles 
Existierende  geltenden  Voraussetzung  seiner  kausalen  Bedingt- 


0  n,  60.  *)  S.  46  dieser  Schrift. 

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141 

heit  cichts  weiter  als  die  empirisch  gewonnene  Bebanptang 
einer  Regelmäfsigkeit  des  Geschehens  enthält,  ist  von  Schopen- 
hauer nicht  gezogen  worden,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  die 
Wirksamkeit  der  Materie  auf  uns  für  ihn  gleichbedeutend  ist 
mit  ihrer  Wirksamkeit  auf  unseren  Leib,  als  das  «unmittelbare 
Objekt '';  dadurch  wird  jede  Wirksamkeit  der  Materie  aufser 
uns  auf  unseren  Leib,  als  eine  an  Sukzession  gebundene  Wirk- 
samkeit zwischen  Objekten,  jeder  anderen  sukzessiven  Wirk- 
samkeit zwischen  Objekten  koordiniert  Die  Gleichzeitigkeit 
der  Wirkungen  der  ruhenden  Materie  auf  unseren  Leib  aber 
darf  für  ihn  zu  einer  Folgerung  auf  eine  koexistierende 
Wechselwirkung  der  ruhenden  Materie  deshalb  keinen  Anlafs 
geben,  weil  eine  solche  dem  ursprünglichen  Sinne  der  Kausalität, 
der  ftar  den  Übergang  des  kausal  beziehenden  Verstandes  rom 
«unmittelbaren  Objekt*"  zu  den  vermittelten  Objekten,  eben 
weil  diese  Beziehung  eine  Sukzession  von  Ursache  und  Wirkung 
zur  Voraussetzung  hat,  nicht  mehr  analog  wäre. 

Eine  historische  Einsicht  aber  gewinnen  wir  so  dafür, 
dab  die  Ablehnung  der  Lehre  Kants  von  der  Wechselwirkung 
neben  der  Aufrechterhaltung  der  der  Ableitung  des  «empirischen 
Kriteriums"  Kants  fttr  die  Beharrlichkeit  der  Substanz  analogen 
Ableitung  der  Beharrlichkeit  der  Materie  als  des  Wirksamen 
überhaupt,  trotz  des  Anspruches  dieser  auf  apriorische  Geltung 
für  alle  mögliche  Erfahrung,  fttr  Schopenhauer  bestehen  bleiben 
konnte. 

Gleichwohl  haben  wir  festzustellen,  dafs  die  Lehre  Schopen- 
hauers von  der  Materie  gegenüber  der  von  der  Substanz  bei 
Kant  einen  sachlichen  Fortschritt  bedeutet.  Er  liegt  in  der 
Ablehnung  der  Ableitung  der  Beharriichkeit  der  Substanz  als  des 
Substrates  in  den  Gegenständen  der  Wahrnehmung,  «welches 
die  Zeit  überhaupt  vorstellt  und  an  dem  aller  Wechsel  oder 
Zugleichsein  durch  das  Verhältnis  der  Erscheinungen  zu  dem- 
selben in  der  Apprehension  wahrgenommen  werden  kann*^.!) 
«Der  Beweis,  der  hier  für  diesen  Grundsatz  gegeben  wird", 
sagt  Schopenhauer,  «...  ist  aus  der  reinen  Anschauung  der 
Zeit  geführt'' 2)     Aus  diesem  Grunde  lehnt  er  ihn   ab  und 


^)  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  225. 
«)  I,  601. 


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142 

setzt  an  seine  Stelle  den  ans  dem  Gesetze  der  Kaosalitäi 
llDzareiehend  ist  diese  Ableitung  bei  Kant,  so  dürfen  wir 
ergänzend  bemerken,  weil,  auch  abgesehen  yon  der  Sehopen- 
haner  eigentttmliehen  Begründung,  die  Bealität  jenes  Snb- 
stratnms  in  der  Tat  erst  dareh  seine  kausale  Bedingtheit 
begreiflich  wird. 

Der  genannte  Fortschritt  Schopenhauers  hat  sachlich 
einen  ungleich  bedeutsameren  Schritt  über  Kant  hinaas  im 
Gefolge.  Er  liegt,  in  der  ZurttckfUhrung  des  Verhältnisses  yon 
Substanz  und  Akzidenz  auf  das  von  Wirksamkeit  überhaupt  und 
besonderer  Art  des  Wirkens.  In  diesem  Sinne  heifst  es:  »Sie 
(die  Materie)  ist  die  objektiv,  jedoch  ohne  nähere  Bestimmung 
aufgefafste  Wirksamkeit  überhaupt  . . .  Das  Materielle  ist  das 
Wirkende  (Wirkliche)  überhaupt  und  abgesehen  von  der  spe- 
zifischen Art  seines  Wirkens.  Daher  eben  auch  ist  die  Materie, 
blofs  als  solche  nicht  Gegenstand  der  Anschauung,  sondern 
allein  des  Denkens,  mithin  eigentlich  eine  Abstraktion;  in  der 
Anschauung  hingegen  kommt  sie  nur  in  Verbindung  mit  der 
Form  und  Qualität  vor,  als  Körper,  d.  h.  als  eine  ganz  bestimmte 
Art  des  Wirkens.  Blofs  dadurch,  dafs  wir  von  dieser  nähereu 
Bestimmung  abstrahieren,  denken  wir  die  Materie  als  solche, 
d.  h.  gesondert  von  der  Form  und  Qualität;  folglich  denken 
wir  unter  dieser  das  Wirken  schlechthin  und  überhaupt,  also 
die  Wirksamkeit  in  abstrakte.  Das  näher  bestimmte  Wirken 
fassen  wir  alsdann  als  das  Akzidenz  der  Materie  auf;  aber  erst 
mittelst  dieses  wird  dieselbe  anschaulieb,  d.  h.  stellt  sich  als 
Körper  und  Gegenstand  der  Erfahrung  dar.  Die  reine  Materie 
hingegen,  welche  allein  . . .  den  wirklichen  und  beiechtigten 
Inhalt  des  Begriffs  der  Substanz  ausmacht,  ist  die  Kausalität 
selbst,  objektiv  ....'' ^)  »Wenn  ich  sage:  dieser  Körper  ist 
schwer,  hart,  flüssig,  grün,  sauer,  alkalisch,  organisch  usw., 
so  bezeichnet  dies  immer  sein  Wirken.'' 2^  ,Da  femer  Sabstanz 
identisch  ist  mit  Materie,  so  kann  man  sagen,  Substanz  ist 
das  Wirken,  in  abstrakte  aufgefafst,  Akzidenz  die  besondere 
Art  des  Wirkens,  das  Wirken  in  concreto."  s) 

In  moderner  Wendung,  wenn  auch  unter  anderen  Voraus- 
setzungen gewonnen,  tritt  uns  die  diesem  bedeutsamen  Gedanken 


1)  U,  357,  858.  •)  1,  584.  »)  in,  99. 

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143 

Sehopenhaaers  zngrande  liegende  Einsicht  in  den  Sinn  der 
Substanzen  als  wirkender  Dinge  in  folgenden  AnsfUhmngen 
entgegen:  «Wir  finden  in  wiederholten  Sinneswahrnehmangen 
gleichförmig  koexistierende  Inbegriffe  von  Qualitäten.  Als  solche 
Inbegriffe  fassen  wir  im  entwickelten  Bewnlstsein  auf  Grand 
apperzeptiyer  Verschmelznng  in  den  sinnlichen  Wahrnehmongs- 
inhalten  die  Körper  auf.  Die  Auffassung  der  Inbegriffe  von 
beharrenden  sinnlichen  Qualitäten  als  Körper  ist  insofern  ein 
Prodakt  der  Erfahrung.  Aber  die  Körper  sind  für  uns  mehr 
als  diese  Inbegriffe  wahrnehmbarer  Inhalte.  Andere  Momente 
unserer  Erfahrung  zwingen  uns,  die  sinnlichen  Qualitäten  als 
Wirkungen  zu  denken,  die  von  den  Körpern  auf  uns  ausgeübt 
werden.  Wir  denken  die  Körper  dementsprechend  als  be- 
harrende Subjekte  koexistierender  sinnlicher  Qualitäten,  die 
wir  als  Eigenschaften  auf  diese  kausalen  Subjekte  beziehen. 
Wir  bezeichnen  diese  Beziehung  als  reale  Inhärenz  der  Eigen- 
schaften in  der  körperlichen  Substanz.  Bestandteile  unseres 
Wahmehmeos  also  sind  lediglich  die  sinnlichen  Qualitäten  und 
der  raumzeitliche  Zusammenhang  ihrer  Koexistenz.  Die  kausalen 
Sabjekte  und  demgemäfs  die  Bestimmung  der  Qualitäten  als 
Eigenschaften  dieser  Substanzen,  sind  uns  nicht  als  Bestand- 
teile des  Wahrnehmungsinhaltes  gegeben,  sondern  sind  Postulate 
nnseres  Denkens,  das  nicht  umhin  kann,  jene  beharrenden 
Inbegriffe  als  einheitliche  Ganze  zu  fassen  und  von  diesen  die 
inhärierenden  Qualitäten  als  (kausale)  Bestimmungsweisen 
aaszusagen.*  0 


Znsammenfassnng. 

Wir  sind  nun  am  Ende  unserer  Untersuchung  über  das 
Verhältnis  der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen  An- 
schauung zur  Lehre  Kants  angelangt. 

Zusammenfassend  können  wir  unsere  Ergebnisse  folgender- 
ma&en  formulieren: 

Zwei  wesentliche  Bestandteile  der  Lehre  Schopenhauers 
von  der  empirischen  Anschauung  sind  in  der  Lehre  Kants 
schon  enthalten,  die  Apriorität  von  Baum  und  Zeit  und  die 

0  Benno  Erdmann,  Logik  1.  Band  2.  Auflage  S.  94. 


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144 

Intellektoalität  der  empirisehen  AnschaniiDg.  Erstere  wird  von 
Schopenhauer  als  ihm  mit  Kant  gemeinsam  anerkannt,  letztere 
dagegen  verkannt 

Ein  wesentlicher  Unterschied  von  Kant  liegt  bei  Schopen- 
hauer in  der  Einschränkung  der  Kategorien  auf  die  eine  der 
Kausalität  und  der  Voraussetzung  einer  unmittelbaren  kausalen 
Beziehung  der  Empfindung  in  uns  auf  ein  ursächliches  Objekt 
aulser  uns. 

Die  Kritik,  die  Schopenhauer  an  Kant  ttbt,  ist  mitbestimmt 
durch  zwei  Momente  einer  irrtümlichen  Interpretation,  der 
unzulänglichen  Deutung  des  Gegenstandes,  der  durch  die 
Sinnlichkeit  gegeben  wird,  in  der  transzendentalen  Ästhetik, 
und  der  zu  engen  Auffassung  des  Grundsatzes  der  Kausalität 
Sie  ist  überdies  durchwebt  von  der  ungerechtfertigten  Ko- 
Ordination  der  kausalen  Beziehung  der  Objekte  untereinander 
zu  der  der  Objekte  zu  uns. 

Eine  eigentliche  Fortbildung  der  transzendentalen  Deduktion, 
wenn  anders  wir  mit  Kant  ,die  Erklärung  der  Art,  wie  sich 
Begriffe  a  priori  auf  Gegenstände  beziehen  können,  die  tran- 
szendentale Deduktion  derselben"  i)  nennen  wollen,  ist  in  der 
Lehre  Schopenhauers  von  der  a  priori  gewissen  ursächlichen 
Bedingtheit  der  Empfindungen  gegeben.  Sehen  wir  von  den 
Unzulänglichkeiten,  die  in  der  psychologischen  Ineinssetzung 
von  Empfindung  und  physiologischer  Erregung  im  Sinnesorgan 
und  in  dem  Ausschlnfs  der  transzendenten  Bedeutung  der 
Ursache  liegen,  einmal  ab,  so  haben  wir  überdies  festzu- 
stellen, dafs  ein  Fortschritt  über  Kant  hinaus  in  dem  Aufweis 
der  Unmittelbarkeit  des  kausalen  Beziehungsbewufstseins  und 
in  der  Zurückftthrung  des  Verhältnisses  von  Inhärenz  und 
Dependenz  auf  das  von  Wirksamkeit  überhaupt  und  Wirkungs-  ^ 
art  besteht  j 

Historisch  bedeutsam  ist  somit  die  Lehre  Schopenhauers  i 
auch  deshalb,  weil  sie  auf  den  Weg  hinweist,  der  zu  einer  I 
einheitlichen  kausalen  Deutung  des  Seins  führt 

>)  2.  Autlage  der  Kritik  der  reinen  Vemunft  S.  117. 


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145 


Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers  von 

der  empirischen  Anschauung  zur  Lehre  Gottlob 

Ernst  Schulzes. 

Von  entscheidender  Bedeatung  für  die  Entwicklung  der 
Philosophie  Schopenhauers  ist  neben  Kant,  Plato  und  der 
indischen  Philosophie  auch  Gottlob  Ernst  Schulze  gewesen, 
namentlich  ftlr  den  Anfang  der  philosophischen  Entwicklung 
Schopenhauers.  Dies  geht  aus  seinem  Briefe  an  Johann  Eduard 
Erdmann  vom  9.  April  1851  hervor,  in  dem  er  sagt:  Ich  „berichte, 
dafs  ich  1809  die  Universität  Göttingen  bezogen  habe,  wo  ich 
Naturwissenschaften  und  Geschichte  hörte,  als  ich  im  zweiten 
Semester  durch  die  Vorträge  des  G.  E.  Schulze,  Aenesidemus, 
zur  Philosophie  auferweckt  wurde.  Dieser  gab  mir  darauf  den 
weisen  Rat,  meinen  Privatfleils  fürs  Erste  aussehlielslich  dem 
Plato  und  Kanten  zuzuwenden  und  bis  ich  diese  bewältigt 
haben  würde,  keinen  andern  anzusehen,  namentlich  nicht  den 
Aristoteles  oder  den  Spinoza.  Bei  Befolgung  dieses  Rates  habe 
ich  mich  sehr  wohl  befunden.'  i) 

Von  unmittelbarem  Einfiufs  auf  die  Lehre  Schopenhauers 
ist  6.  E.  Schulze  durch  seine  Kritik  an  der  kantisohen  Philo- 
sophie, insbesondere  an  der  Lehre  Kants  vom  Ding  an  sich 
geworden.  Schopenhauer  hebt  dies  selbst  hervor,  indem  er 
sagt,  dafs  .die  UnStatthaftigkeit'  der  , Einführung  des  Dinges 
an  sich'  bei  Kant  .von  G.  E.  Schulze  im  Aenesidemus  weit- 
läufig dargetan  und  bald  als  der  unhaltbare  Punkt  seines 
Systems  anerkannt' 2)  worden  sei.  Wir  wiesen  bereits  darauf 
hin,  dafs  die  idealistische  Auffassung,  die  Schopenhauer  von 
der  Lehre  Kants  hat,  auf  Schulze  zurückzufahren  sei.  Hier  sei 
nur  noch  angemerkt,  dafs  die  von  Schulze  gezogene  und 
von  Schopenhauer  zunächst  uneingeschränkt  anerkannte  Kon- 
sequenz, dafs  unter  den  Voraussetzungen  der  transzendentalen 
Analytik  Kants  die  Dinge   an   sich   müfsten   fallen   gelassen 


0  Ludwig  Schemann,  Schopenhauer-Briefe.    Leipzig  1893.    S.  331. 
»)  I,  556. 
PbUoiopbiiohe  Abhandlungen.    XLII.  10 


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146 

werden,  in  den  Parerga  und  Paralipomena  eine  Einschränkang 
erfährt.  Hier  heifst  es  nämlich:  „Bei  allem  diesem  aber 
(dafs  die  Lockesche  objektive  Welt  von  Dingen  an  sieh 
dnrch  Kant  in  eine  Welt  von  blofsen  Erscheinungen  in 
unserm  Erkenntnisapparat  verwandelt  worden  sei)  liefs  Kant 
noch  immer,  so  gut  wie  Locke  das  Ding  an  sich  bestehen, 
d.  h.  etwas,  das  unabhängig  von  unseren  Vorstellungen, 
als  welche  uns  blofse  Erscheinungen  liefern,  vorhanden 
wäre  und  eben  diesen  Erscheinungen  zum  Grunde  läge. 
So  sehr  nun  Kant  auch  hierin  an  und  für  sich  recht  hatte,  so 
war  doch  aus  den  von  ihm  aufgestellten  Prinzipien  die  Be- 
rechtigung dazu  nicht  abzuleiten.  Hier  lag  daher  die  Achilles- 
ferse seiner  Philosophie,  und  diese  hat  durch  die  Nachweisung 
jener  Inkonsequenz,  die  schon  erlangte  Anerkennung  unbe- 
dingter Gültigkeit  und  Wahrheit  wieder  einbttfsen  mtissen: 
allein  im  letzten  Grunde  geschah  ihr  dabei  dennoch  Unrecht 
Denn  ganz  gewlTs  ist  keineswegs  die  Annahme  eines  Dinges 
an  sich  hinter  den  Erscheinungen  eines  realen  Kerns  unter  so 
vielen  Hüllen,  unwahr;  da  vielmehr  die  Ableugnung  desselben 
absurd  wäre,  sondern  nur  die  Art,  wie  Kant  ein  solches  Ding 
an  sich  einführte,  und  mit  seinen  Prinzipien  zu  vereinigen 
suchte,  war  fehlerhaft.  Im  Grunde  ist  es  demnach  nur  seine 
Darstellung  (dies  Wort  im  umfassendsten  Sinne  genommen)  der 
Sache,  nicht  diese  selbst,  welche  den  Gegnern  unterlag,  und 
in  diesem  Sinne  liefse  sich  behaupten,  dafs  die  gegen  ihn 
geltend  gemachte  Argumentation  doch  eigentlich  nur  ad 
hominem,  nicht  ad  rem  gewesen  sei.^^  Diese  realistisch 
gestimmte  Ausführung  steht  offenbar  in  einem  inneren  Zu- 
sammenhange mit  den  realistischen  Gedankenwendungen  des 
älteren  Schopenhauer,  auf  die  wir  bereits  früher  hinwiesen. 

Zu  dem  genannten  kommen  noch  einige  besondere  Be- 
rührungspunkte der  Lehre  Schopenhauers  mit  der  Schulzes. 
Fürs  Erste  ist  die  Definition,  die  Schopenhauer  vom  vor- 
stellenden Bewufstsein  gibt,  der  Sache  nach  schon  in  Schulzes 
Kritik  an  dem  „Satz  des  Bewuüstseins^,  den  Beinhold  auf- 
stellt, deutlich  angelegt   Dieser  Satz,  wie  er  in  den  „Beiträgen 


')  IV,  110. 


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147 

zar  Beriehtigang  bisheriger  MÜBverständnisse  der  Philosophen^ 
TOD  Beinhold  aufgestellt  wird,  lautet:  „Im  Bewafstsein  wird  die 
Vorstellung  darch  das  Subjekt  vom  Subjekt  und  Objekt  unter- 
schieden und  auf  beide  bezogen.^  ^)  Dementsprechend  heifst  es 
weiter:  „Das  Bewufstsein  überhaupt  besteht  im  Bezogenwerden 
der  Vorstellung  durch  das  Subjekt  auf  Objekt  und  Subjekt  und 
ist  von  der  Vorstellung  überhaupt  unzertrennlich.^  3)  Gegen 
diese  Ausführungen  macht  G.  E.  Schulze  u.  a.  folgendes  geltend: 
„Wenn  nur  dasjenige  eine  Vorstellung  ausmacht,  was  durch 
das  Subjekt  vom  Objekte  und  Subjekte  unterschieden  und  auf 
beide  bezogen  wird,  und  es  gewifs  ist,  dafs  blofs  dasjenige 
durch  das  Gemüt  voneinander  unterschieden  und  aufeinander 
bezogen  werden  kann,  was  wahrgenommen  worden  ist  . . .  so 
wäre  die  Anschauung  keine  Art  von  der  Gattung  Vorstellung, 
indem  der  Begriff  der  Gattung  gar  nicht  auf  dieselbe  pafst. 
Während  des  Anschauens  findet  nämlich  keine  Unterscheidung 
eines  Objektes  von  einer  Vorstellung  statt,  weil  so  lange,  als 
die  Anschauung  dauert,  durchaus  kein  von  ihr  verschiedenes 
Objekt  bemerkt  wird,  ja  das  Entstehen  der  Unterscheidung 
einer  Voistellung  vom  Objekte  würde  sogleich  das  Anschanen 
zernichten.^  ^)  „Doch  dies  ist  nicht  das  einzige  Beispiel,  aus 
dem  erhellet,  dafs  die  [von  Reinhold]  aufgestellte  Erklärung 
der  Vorstellung  enger  sei  als  ihr  Gegenstand  . . .  Nach  dieser 
Erklärung  ist  nämlich  der  Gebrauch  des  Wortes  Vorstellung 
blofs  auf  dasjenige,  was  im  Bewufstsein  auf  ein  Objekt  und 
Subjekt  bezogen  und  von  beiden  unterschieden  wird,  und  also 
nur  auf  einen  einzigen  Bestandteil  des  Bewufstseins  einzu- 
schränken. Unleugbar  ist  nun  aber  schon  dieses,  dafs  das 
Beziehen  der  Vorstellung  auf  Objekt  und  Subjekt  und  das 
Unterscheiden  derselben  von  beiden  . . .  ohngeachtet  damit  kein 
Beziehen  eben  desselben  auf  ein  Objekt  und  Subjekt,  und  kein 
Unterseheiden  eben  desselben  von  einem  Subjekte  und  Objekte 
verbunden  ist,  selbst  wieder  ein  Vorstellen  der  Beschaffenheiten 


1)  C&rl  Leonhard  Reinhold,  Beiträge  zur  Berichtigung  bisheriger 
HirsYerständnisse  der  Philosophen.    Jena  1790.    S.  167. 

*)  Ebenda  S.  218. 

')  G.  E.  Schulze,  Aenesidemus.  Neudrucke  seltener  philosophischer 
Werke.    Heransgegebeu  von  der  Kantgesellschaft.    Bd.  I.    1911.    S.  64f. 

10* 


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148 

eines  Etwas  sei.  . . .  Eben  so  gewifs  ist  es  femer,  dafs  der 
allgemeine  Spraehgebraach  das  Wort  Vorstellen  anch  fttr  das 
Gewahmehmen  nnd  Bemerken  des  Objektes  and  Sabjektes, 
auf  welche  die  Vorstellung  bezogen,  nnd  von  welchen  sie  im 
Bewafstsein  unterschieden  wird,  bestimmt  habe,  nnd  das  Objekt 
sowohl  als  anch  das  Subjekt  werden,  insofeme  sie  im  Bewafst- 
sein vorkommen,  auch  in  demselben  vorgestellt  . . .  Das  Oe- 
wahrnehmen  des  Objektes,  auf  welches  die  Vorstellung  im 
BewulBtsein  bezogen,  nnd  von  dem  sie  unterschieden  wird, 
besteht  . . .  nicht  wieder  in  einem  Bezogenwerden  eines  Etwas 
durch  das  Subjekt  auf  ein  Objekt  und  Subjekt  und  in  einem 
Unterschiedenwerden  desselben  von  beiden,  und  ebenso  wenig 
auch  das  Gewahrnehmen  des  Subjektes,  auf  welches  die  Vor- 
stellung bezogen  und  von  dem  sie  unterschieden  wird.^^) 

Zwei  wesentliche  Bedenken  also  hat  Schulze  gegen  Rein- 
holds  Theorie  der  Vorstellung.  Zum  ersten  stellt  er  fest,  dals 
das  Anschauen  eines  Objektes  keinen  Anhalt  zu  einer  Unter- 
scheidung des  angeschauten  Objektes  von  einer  Vorstellung 
dieses  Objektes  biete,  daüs  also  die  von  Beinhold  vertretene 
Dreiteilung  in  Vorstellendes,  Vorstellung  und  Vorgestelltes  hier 
undurchführbar  sei.  Zweitens  rügt  er  die  Einschränkung 
des  Wortes  Vorstellung  auf  nur  einen  Bestandteil  des  gegen- 
ständlichen Bewufstseins,  da  auch  die  vermeintlichen  Bestandteile 
Subjekt  und  Objekt  ebenso  wie  die  angenommenen  Beziehungen 
der  Vorstellung  im  Reinholdschen  Sinne  auf  diese  Bestandteile 
schon  als  Vorstellungen  im  landläufigen  Sinne  zu  bezeichnen  seien. 
Diese  Gedankengänge  Schulzes  geben  zu  der  Folgerung  Anlals, 
dafs  das  Bewufstsein  einer  Beziehung  eines  wahrgenommenen 
Objektes  auf  das  wahrnehmende  Subjekt  kein  konstituierendes 
Merkmal  der  Wahrnehmung  sei  und  dalis,  wenn  eine  solche 
Beziehung  zum  Bewufstsein  erhoben  werde,  lediglieh  die  des 
vorgestellten,  d.i.  angeschauten  Objektes  auf  das  vorstellende 
Subjekt,  nicht  aber  auch  die  des  Objektes  auf  eine  davon 
verschiedene  Vorstellung  statthabe.  Von  diesen  Folgerungen 
ist  die  letztgenannte  auch  von  Schopenhauer  gezogen  und  dahin 
erweitert  worden,  dafs  die  Vorstellung  überhaupt  in  Subjekt 
und  Objekt  zerfalle;  denn  er  sagt:  .Unser  erkennendes  Bewufst- 


»)  A.a.O.  S.  66f. 


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149 

sein  zerfällt  in  Subjekt  und  Objekt  nnd  enthält  nichts  anfserdem. 
Objekt  für  das  Subjekt  sein  nnd  unsere  Vorstellang  sein  ist 
dasselbe/ 1) 

Wenngleich  Schopenhauer  für  diesen  Punkt  seiner  Lehre 
an  keiner  Stelle  ausdrtteklich  auf  Schulze  verweist,  so  läfst 
doch  der  enge  sachliche  Zusammenhang  mit  dem  Gedanken- 
gange Schulzes  vermuten,  dafs  er  von  ihm  die  erste  Anregung 
zur  Ausbildung  auch  dieses  Teils  seiner  Lehre  empfangen  hat 

In  noch  einem  anderen  Punkte,  und  zwar  einem  solchen, 
der  zu  einem  spezifischen  Bestandteil  der  Lehre  Schopen- 
hauers gehört,  läfst  sich  bei  6.  E.  Schulze  eine  historische 
Grundlage  aufweisen,  nämlich  in  der  Annahme  der  Unmittel- 
barkeit des  Bewufstseins  der  kausalen  Bedingtheit  der  Sinnes- 
empfindungen. Schulze  führt  nämlich  im  Aenesidemus  aus: 
.Es  läfst  sich  ...  die  Möglichkeit,  wie  in  gewissen  Teilen 
unserer  Erkenntnis  Notwendigkeit  und  strenge  Allgemein- 
giltigkeit  vorhanden  sein  kann,  noch  auf  eine  andere  Art 
begreiflich  machen,  als  in  der  Yernunflkritik  geschehen  ist, 
und  es  läfst  sich  von  der  Notwendigkeit,  die  gewissen  synthe- 
tischen Urteilen  anklebt,  noch  ein  anderer  Grund  denken,  als 
in  dieser  angegeben  worden  ist.  Es  läfst  sich  nämlich  denken, 
dafs  alle  unsere  Erkenntnis  aus  der  Wirksamkeit  realiter  vor- 
handener Gegenstände  auf  unser  Gemüt  herrühre,  und  dafs 
auch  die  Notwendigheit,  welche  in  gewissen  Teilen  dieser 
Erkenntnis  angetroffen  wird,  durch  die  besondere  Art  und 
Weise,  wie  die  Aufsendinge  unser  Gemüt  affizieren  und  Er- 
kenntnisse in  demselben  veranlassen,  erzeugt  werde,  und  dafs 
mithin  die  notwendigen  synthetischen  Urteile,  nebst  den  in 
ihnen  vorkommenden  Vorstellungen  nicht  ans  dem  Gemttte, 
sondern  aus  den  nämlichen  Gegenständen  herrühren,  welche 
die  zufälligen  und  veränderlichen  Urteile  nach  der  kritischen 
Philosophie  in  uns  hervorbringen  sollen. 

Es  ist  nämlich  unrichtig,  dafs,  wie  in  der  Vernunftkritik 
angenommen  wird,  das  Bewufstsein  der  Notwendigkeit,  welches 
gewisse  synthetische  Sätze  begleitet,  ein  unfehlbares  Kenn- 
zeichen ihres  Ursprungs  a  priori  und  aus  dem  Gemüte  ausmache. 
Mit  den  wirklichen  Empfindungen  der  äufseren  Sinne 


»)  lU,89f. 

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150 

zam  Beispiel,  welche  aueli  nach  der  kritischen  Philosophie  in 
Ansehnng  ihrer  Materialien  insgesamt  nicht  ans  dem  Gemttte, 
sondern  von  Dingen  anfser  nns  herstammen  sollen,  ist,  ihres 
empirischen  Ursprungs  ohngeachtet,  ein  Bewnfstsein  der 
Notwendigkeit  verbanden.  Währenddessen  nämlich,  dafs 
eine  Empfindung  in  nns  gegenwärtig  ist,  mttssen  wir  sie  als 
vorhanden  erkennen.  Wir  können  es  nns  zwar  denken,  dafs 
sie  nicht  dagewesen  wäre,  oder  dafs  während  ihres  Daseins 
eine  andere  Empfindung  deren  Stelle  eingenommen  hätte:  Allein 
wir  können  diese  andere  nicht  wirklich  haben,  oder  jene  ganz 
und  gar  vertilgen,  sondern  sind  uns  vielmehr  ihres  gegen- 
wärtigen Daseins  als  etwas  Notwendigen  bewufst  Ebenso 
mttssen  wir  auch  die  Anordnung  und  Verbindung  der  Merkmale, 
die  in  einer  wirklichen  Empfindung  äufserer  Gegenstände  vor- 
kommt, lassen,  wie  sie  einmal  vorhanden  ist,  und  es  ist  not- 
wendig, dafs  wir  die  Zweige  eines  gesehenen  Baumes  in 
derjenigen  Anordnung  gewahrnehmen,  in  der  sie  einmal  unserm 
Gemttte  gegenwärtig  sind.  Hier  ist  also  wirklich  ein  Fall  da, 
in  welchem  Gegenstände  aufser  uns  durch  ihren  Einflufs  auf 
das  Gemttt  in  demselben  das  Bewufätsein  der  Notwendigkeit 
erregen,  und  es  unmöglich  machen,  etwas  auf  eine  andere  Art 
gewahr  zu  nehmen,  als  es  wahrgenommen  wird,*i) 

In  der  , Kritik  der  theoretischen  Philosophie'  finden  sich 
ähnliche  Gedanken.  Schulze  sucht  hier  u.  a.  nachzuweisen,  dafs 
«die  Verstandesbegriffe  den  Wahrnehmungen  keine  Beziehung 
auf  Objekte  erteilen  können.' 2)  Im  Verfolge  dieses  Gedankens 
heifst  es:  „Dafs  es  nicht  notwendig  sei,  die  Erfahrungskenntnis 
wegen  der  Gültigkeit  derselben  fttr  uns  selbst  und  für  andere 
Menschen  zu  allen  Zeiten,  aus  einer  notwendigen  Verbindung 
von  Vorstellungen  abzuleiten,  ist  ttbrigens  auch  leicht  ein- 
zusehen. Man  lasse  nur  das  Vorurteil  fahren,  dafs  Erfahrung 
aus  einem  Bewnfstsein  von  Vorstellungen  bestehe,  und  nehme 
dieselbe  so,  wie  sie  als  unmittelbare  Erkenntnis  von 
gegenwärtigen  Dingen  in  uns  stattfindet,  so  sieht  man 
alsdann  leicht  ein,  wie  wir  dazu  kommen,  zu  erwarten,  dafs 
lige,  was  wir  in  ihr  antreffen,  von  uns  selbst  und  auch 


0  A.  a.  0.  S.  108 f.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 

«)  G.  E.  Schulze,  Kritik  der  theoretischen  Philosophie,  IL  Bd.  S.  263. 


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151 

Yon  andern  Menseben  (wenn  anders  die  ErfahrnngBobjekte  sieb 
niebt  ändern)  jederzeit  darin  angetroffen  werden  müsse.  Weil 
wir  nns  nämÜeb  dieser  Objekte  niebt  als  subjektiver  Be- 
stimmungen unserer  Einbildangskraft,  sondern  als  realer  und 
fQr  sieb  bestebender  Saeben  bewnfst  sind,  so  nebroen  wir  mit 
Recht  an,  dafs  die  Erkenntnis  derselben,  wenn  sie  anders  riebtig 
ist,  bei  nns  selbst  sieb  immer  gleicb  bleiben,  nnd  ancb  mit  der 
Erkenntnis  aller  anderen  Menseben,  welcbe  die  Objekte  anf  eine 
riebtige  Art  wahrgenommen  baben,  übereinstimmen  werde.^^) 
„Gibt  man  ....  die  unmittelbaren  Wabmebmnngen  der 
Sinne  fttr  blolse  Vorstellungen  aus,  wie  die  Yernunftkritik  tut, 
so  fällt  aller  innerer  (im  Bewufstsein  selbst  vorkommender) 
Untersebied  zwischen  denselben  und  zwischen  den  Nach- 
bildungen  des   sinnlich   Wahrgenommenen   in    der  Phantasie 

weg Will  man  aber  gleichwohl  darauf  bestehen,  dafs  nur 

jene  Wahrnehmungen  sieh  dazu  qualifizieren,  objektiv  gültige 
Erfahrung  zu  werden,  so  ist  dies  zugleich  ein  Geständnis,  dafs 
die  objektive  Gültigkeit  der  Erfahrung  niebt  blofs  von 
den  Kategorien  abhängig  sei,  sondern,  dafs  ein  Grund  davon 
auch  noch  in  der  Beschaffenheit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen selbst  liege,  welcher  bei  den  Bildern  der 
Phantasie  mangele,  und  diese  eben  deswegen  untauglich  mache, 
durch  die  Verbindung  nach  Kategorien  eine  Erfabrungserkenntnis 

zu  werden.'^)    «Wenn die  Subsumtion  der  GefÜble  des 

Angenehmen  und  Unangenehmen  unter  die  Kategorien  diese 
Gefühle  niemals  in  Erkenntnisse  eines  vom  Subjekte  ver- 
flcbiedenen  Objekts  verwandelt,  so  kann  es  auch  wohl  niebt 
blols  den  Kategorien  und  den  ihnen  gemäfsen  Verbindungen 
der  Empfindungen  anderer  Art  zuzuschreiben  sein,  dafs  diese 
Empfindungen  den  Cbarakter  der  Erkenntnisse  eines  Objektes 
annehmen,  sondern  es  mttfste  vielmehr  angenommen  werden, 
dafs  in  dergleichen  Empfindungen  selbst  etwas,  auch 
ohne  Rücksicht  ihrer  Verbindung  nach  Kategorien  enthalten 
sei,  wodurch  sie  sich  dazu  qualifizieren,  als  Er- 
kenntnisse auf  objektiv  wirkliche  Dinge  bezogen 
werden  zu  können."») 

>)  Ebenda  S.  284  f.  Anm.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 
<)  Ebenda  S.  285  f.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 
*)  Ebenda  S.  2S8.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text 


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152 

„Das  snkzessiye  Sein  der  Zustände  objektiver 
Dinge  wird  ...  sehen  dareh  die  Wahrnehmung,  an  sich 
genommen,  nnd  ohne  alle  Rtteksieht  anf  ein  Eausalverhältnis 
derselben,  als  etwas  Objektives,  das  keine  Sukzession  blofser 
Vorstellungen  in  uns  ausmacht,  erkannt^' i)  Es  fragt  sich 
„ob  man  nicht . . .  schon  dadurch  ganz  sicher  auf  jene  Einsieht 
(dafs  alle  menschliche  Erkenntnisfähigkeit  blofs  auf  das  Gebiet 
der  Erfahrung  eingeschränkt  sei)  geftthrt  werde,  dafs  man  die 
Begriffe  in  unserm  Verstände  ...  von  den  Sachen,  die  aufser 
unserer  VorstellungskrafI;  existieren  sollen,  unterscheidet,  in 
Ansehung  der  Erkenntnis  dieser  Sachen  aber  erwägt,  dafs 
sie  nur  durch  das  als  Anschauung  des  Gegenwärtigen 
sich  äufsernde  Bewufstsein  erreichbar  sei,  und  endlich 
erforscht,  wie  weit  der  Gebrauch  des  Prinzips  der  Kausalität, 
dessen  man  sich  immer  als  eine  Brücke  bedient  hat,  um  aus 
der  sinnlichen  Welt  in  eine  Übersinnliche  zu  gelangen,  zu 
bestimmten  Einsichten  ausreiche  .  .  .^2)  Auch  in  Schulzes 
Vorlesung  über  Metaphysik,  dessen  Nachschrift  uns  in  den 
Manuskripten  Schopenhauers  vorliegt,  wird  der  Gedanke  der 
Unmittelbarkeit  der  anschaulichen  Erkenntnis  berührt  Hier 
heifst  es:  „Das  Existierende  wird  entweder  durch  eine  An- 
schauung unmittelbar  erkannt  oder  mittelbar,  z.  B.  dureh  den 
Schlufs  aus  einer  anderen  Existenz.  Die  unmittelbare  Er- 
kenntnis findet,  nach  den  Aussprüchen  des  Bewufstseins 
unleugbar  statt  und  gäbe  es  dergleichen  nicht,  so  würde  auch 
nichts  mittelbar  erkannt  werden  können.''') 

In  den  zitierten  Gedanken  ist  offenbar  die  Unmittelbarkeit 
des  Bewufstseins  von  der  Realität  und  auch  von  der  kausalen 
Bedingtheit  der  Sinnesempfindungen  sehen  angelegt  Wenngleich 
Schulze  die  Notwendigkeit  im  Dasein  und  der  Verbindung  des 
Mannigfaltigen  der  Empfindungen  auch  nicht  ausdrücklich  aki 
kausale  bezeichnet,  so  ist  sie  doch  als  kausale  der  Sache  nach 
gemeint  In  der  „Kritik  der  theoretischen  Philosophie"  und 
der  Vorlesung  über  Metaphysik  tritt  allerdings  die  Betonung 
der   Notwendigkeit    hinter   der   der   Unmittelbarkeit   unseres 

0  Ebenda  S.  430.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 
*)  Ebenda  S.  580.    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 
*)  Arthur  Schopenhauers  Nachlafs  Nr.  2,  Metaphysik  bey  Gottlob  Ernst 
Schuhe.    Bügen  5,  §  29. 


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153 

Bewülstseins   von    der  Realität   des    ansohanlich    OegebeneD 
zartick,  ja  dieses  wird  sogar  der  KaasalbeziehnDg  als  etwas 
Selbständiges  gegenübergestellt    Diese  Wendang  ist  veranlafst 
darch  Sehnlzes  Polemik  gegen  die  Bedeatang  der  Kausalität 
als  Kategorie  im  kantiscben  Sinne.    Aber  anch  in  der  Kritik 
der  theoretischen  Philosophie  ist  der  Gedanke,  „dafs  die  objektive 
Gültigkeit  der  Erfahrnng  in  der  Beschaffenheit  der  sinnlichen 
Wahrnehmangen  selbst  liege ^,  der  Sache  nach  so  genommen, 
dafs  die  Notwendigkeit  im  Dasein  und  Znsammenhange  der  Em- 
pfindungen ihre  Objektivität  verbürgt,  sie  also  kausal  bedingt  sind. 
Im  Unterschiede  von  Schopenhauer  finden  wir  bei  Schulze 
noch    nicht   die  Folgerung,    dafs    eben    diese   Notwendigkeit 
im    Dasein    der   Empfindungen    den    Sinn    ihrer   Objektivität 
ausmache.    Vielmehr    kommt   bei    Schulze,    mit   dem    bisher 
Angefbhrten  kaum  vereinbar,  zu  dem  Bewufstsein  von  dieser 
Notwendigkeit  noch  ein  besonderer  Schlufs  auf  die  reale  Existenz 
der  Dinge  aufser  uns  hinzu,  dessen  eine  Prämisse  das  unmittel- 
bare Bewufstsein  von  der  Notwendigkeit  im  Dasein  und  Zu- 
sammenhange der  Empfindungen,  dessen  andere  aber  die  Ein- 
sicht in  die  Unableitbarkeit  dieser  Notwendigkeit  aus  der  Be- 
schaffenheit des  vorstellenden  Ich  ist.    Es  heilst  nämlich  im 
Aenesidemus:   „In   gewissen  Vorstellungen,   die  wir  besitzen, 
kommt  ....  eine  doppelte  Notwendigkeit  vor,  und  zwar  teils  in 
Ansehung  des  Daseins  derselben,  teils  in  Ansehung  des  Verbindens 
des  Mannigfaltigen,  so  den  Inhalt  derselben  ausmacht.   Wenn  wir 
z.  B.  ein  Haus  sehen,  so  ist  es  uns,  so  lange  der  Zustand  des 
Sehens  dauert,   unmöglich,   das  Haus   nicht  zu   sehen.    Wir. 
können  es  zwar  denken,  dafs  an  derjenigen  Stelle,  wo  wir  das 
Haus  sehen,  ein  Mensch,  ein  Baum  oder  sonst  etwas  anderes 
stände;  aber  wir  sind  schlechterdings  unvermögend,  an  dieser 
Stelle  etwas  anderes  als   das  Haus  zu   sehen.    Wir  müssen 
femer    die  Verbindung   der  Teile,    die   zum    Haus    gehören, 
während  der  Empfindung  davon   lassen,   wie  sie  einmal  ist, 
ohne  darin  etwas  abändern   zu  können.    Wir  sind  wohl  im- 
stande zu  denken,  dafs  das  Dach  des  Hauses  unten  und  der 
Grund  davon   oben  wäre,   und   dafs  dasjenige,   was  auf  der 
rechten  Seite  an  demselben  sich  befindet,  auf  der  linken  Seite 
vorhanden  wäre.    Aber  wir  können  dies  nicht  also  empfinden, 
sondern  müssen  die  Verbindung  der  Teile  des  Hauses,  das  wir 


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154 

seheD,  während  der  Empfindnng  so  laBsen,  wie  sie  einmal  da 
ist.  Sobald  nnn  der  Mensch  diese  doppelte  Notwendigkeit  in 
gewissen  von  seinen  Vorstellnngen  kennen  gelernt  hat,  nnd 
über  den  Grund  derselben  nachzudenken  anfängt,  so  wird  er 
auch  znm  Glauben  an  die  Bealexistenz  gewisser  Dinge  aufser 
seinen  Vorstellungen  geführt  In  seinem  vorstellenden  Ich  ist 
nämlich,  so  weit  er  es  kennt,  kein  Grund  vorhanden,  warum 
zu  einer  gewissen  Zeit  nur  diese  oder  jene  Vorstellung,  nicht 
aber  eine  davon  ganz  verschiedene  andere  in  ihm  vorhanden 
sein  könnte,  und  die  Beschaffenheiten  des  vorstellenden  Ich 
machen,  so  weit  sie  uns  bekannt  sind,  in  demjenigen  Zeit- 
punkte, der  durch  die  Empfindung  eines  Baumes  oder  Hauses 
erfüllt  ist,  das  Dasein  einer  dem  Inhalt  nach  davon  ganz  ver- 
schiedenen Empfindung  nicht  unmöglich.  In  dem  vorstellenden 
Ich  und  in  der  Beschaffenheit  des  Mannigfaltigen,  das  eine 
Empfindung  ausmacht,  kann  auch  ferner  kein  Grund  ausfindig 
gemacht  werden,  warum  dieses  Mannigfaltige  gerade  in  der 
einmal  vorhandenen  Ordnung  und  Verbindung  vorkommt,  und 
nicht  vielmehr  in  einer  ganz  andern.  Die  Empfindung  eines 
Baumes,  in  welcher  die  Wurzeln  nach  oben,  und  die  Zweige 
nach  unten  zu  gerichtet  wären,  ist  weder  in  Ansehung  des 
Gemüts  und  seiner  Kräfte,  noch  auch  in  Ansehung  der  Natur 
desjenigen,  was  in  der  Empfindung  des  Baumes  enthalten  ist, 
etwas  Unmögliches.  Den  Grund  von  der  Unveränderliehkeit 
der  Verbindung  des  Mannigfaltigen,  was  zu  einer  Empfindnng 
gehört,  setzen  wir  daher  wieder  in  etwas,  so  aufser  uns  selbst 
und  aufser  unsern  Empfindungen  da  ist,  und  die  Verbindung 
der  Merkmale  in  diesen  bestimmt.  Der  erste  und  vorzüglichste 
Grund  des  Glaubens  an  realiter  existierende  Dinge  ist  also  die 
Notwendigkeit,  welche  sowohl  dem  Dasein  gewisser  Vor- 
stellungen in  unserm  Gemüte,  als  auch  dem  Zusammenhange 
der  Merkmale  dieser  Vorstellungen  untereinander  anklebt,  und 
fehlten  diese  beiden  Arten  der  Notwendigkeit  allen  Teilen 
unserer  Erkenntnis  gänzlich,  oder  liefsen  sieh  dieselben  aus 
dem  Gemüte  ableiten,  so  würde  wahrscheinlieh  der  grolse 
Haufe  allgemein  dem  Idealismus  zugetan  sein,  und  die  Beal- 
existenz gewisser  Gegenstände  vielleicht  eben  so  sehr  unbe- 
greiflich finden,  als  wie  er  jetzt  vermöge  jener  beiden  Arten 
von  Notwendigkeit  in  gewissen  Vorstellungen  die  Zweifel  an 


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155 

dem  objektiven  Dasein  des  Empfundenen  unbegreiflich  und 
widersinnig  findei^^i) 

Bei  Sehopenbaner  fällt  die  angeführte  zweite  Prämisse  fbr 
den  Scblnüs  anf  die  Ursache  der  Empfindung  fort.  Der  Eausal- 
schlnfs  anf  das  reale  Objekt  ist  ihm  yielmehr  nur  ein  Schlufs 
im  nneigentlichen  Sinne,  nämlich  die  unmittelbare,  spezifische 
Erkenntnisweise  des  Verstandes.  Dazu  kommt  als  ein  weiterer 
Unterschied,  dals  bei  Schulze  das  unmittelbare  Bewufstsein 
von  der  kausal  bedingten  Notwendigkeit  in  dem  Dasein  und 
Zusammenhange  der  Empfindungen  als  ein  lediglich  rezeptiv 
gewonnenes  angesehen  wird,  während  Schopenhauer  an  dem 
Gedanken  festhält,  dafs  es  auf  einer  a  priori  wirksamen 
Funktion  des  spontanen  Verstandes  beruhe.  Trotz  dieser 
Differenzen  aber  bleibt  der  Hinweis  auf  die  Unmittelbarkeit 
des  BewuCstseins  von  der  Notwendigkeit  im  Dasein  der  Empfin- 
dungen ein  Zug  in  der  Lehre  Schulzes,  den  er  mit  Schopenhauer 
gemeinsam  hat  Nehmen  wir  hinzu,  dafs  Schopenhauer  -mit 
Schulze  auch  in  der  Abweisung  der  Ableitung  der  Kategorien 
aus  den  von  Kant  aufgestellten  Formen  des  Urteils,  sowie  in 
der  Ablehnung  der  Anwendbarkeit  der  so  gewonncLen  Kate- 
gorien auf  das  anschanlische  Material  vermittelst  der  Schemata^) 
im  Prinzip  ttbereinstimmt,  so  wird  ersichtlich,  dafs  der  Gedanke, 
die  von  Schulze  betonte  Notwendigkeit  im  Dasein  der  Empfin- 
dungen zur  einzigen  Kategorie  zu  erheben  und  die  Unmittel- 
barkeit ihres  Erkenntnisgebrauches  gegenüber  der  undurch- 
iUhrbaren  Vermittlung  durch  ein  synthetisches  Urteil,  wie  Kant 
sie  lehrt,  prinzipiell  aufzustellen,  verhältnismäfsig  nahe  lag. 

Dafs  Schopenhauer  nicht  auch  für  die  Intellektualität  der 
empirischen  Anschauung  auf  Schulze  als  historische  Voraus- 
setzung hinweist,  ist  vielleicht  daraus  verständlich,  dafs  Schulze, 
wie  wir  fanden,  die  Notwendigkeit  im  Dasein  und  Zusammen- 
hange der  Empfindungen  zwar  als  unmittelbar  bewufst  aner- 
kennt, sie  aber  noch  nicht  dahin  deutet,  dafs  sie  allein  den  Sinn 
der  Objektivität  der  Empfindungen  ausmache.    Auch  ist  selbst 

^)  G.  E.  Schulze,  Aenesidemus,  a.  a.  0.  S.  175  f. 

')  Darüber  handelt  Schulze  eingehend  in  der  Kritik  der  theoretischen 
Philosophie.  Auch  in  seiner  Vorlesung  Über  Metaphysik  behandelt  er  diese 
kritischen  Gedanken.  Sieh  Arthur  Schopenhauers  Nachlafs  Nr.  2,  Meta- 
physik bey  Gottlob  Ernst  Schulze.    Bogen  10,  11;  §  52,  53. 


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156 

dieser  Gedanke  bei  Sehnlze  mehr  beiläufig  ausgeführt  ak 
prinzipiell  entwickelt,  und  seine  historische  Bedeutung  wird 
erst  sichtbar,  wenn  man  von  der  Lehre  Schopenhauers  her- 
kommend an  ihn  herantritt  und  an  dieser  zu  messen  sucht 

Zu  den  angeführten  kommt  noch  ein  weiteres  Moment  der 
Übereinstimmung.  Auch  die  Ineinssetzung  der  Empfindung 
mit  ihrem  physiologischen  Korrelat,  genauer  die  unmittelbare 
Gewifsheit  ihrer  Identität,  der  gemäfs  Schopenhauer  den  eigenen 
Leib  das  „anmittelbare  Objekt"  nennt,  ist  bei  Schulze,  wenn 
auch  nicht  unter  den  Schopenhauer  eigenen  metaphysischen 
Voraussetzungen,  deutlich  angelegt.  In  seiner  Vorlesung 
über  Metaphysik  sagt  nämlich  Schulze  folgendes:  «Es  ist 
aber  allerdings  sehr  auffallend,  dafs  seit  Cartesius  von 
mehreren  Philosophen  für  die  objektive  Existenz  der  äufseren 
Welt,  die  durch  unser  Bewufstsein  uns  als  existierend 
vorgehalten  wird,  so  eifrig  ein  Beweis  gesucht  wird.  Ge- 
meiniglich meint  man  diesen  Beweis  aus  der  Art  wie  Er- 
kenntnisse in  uns  entstehn  zustande  zu  bringen,  ohne  za 
bedenken,  dafs,  da  nur  bereits  fertige  Erkenntnisse  im  Be- 
wufstsein angetrofifen  werden,  nicht  aber  das  Werden  und 
Entstehen  derselben  aus  dem  was  noch  keine  Erkenntnis  ist, 
belauscht  werden  kann,  alle  jene  Erklärungen  des  Ursprungs 
der  Erkenntnis  von  realen  Dingen  nichts  weiter  als  unzu- 
verlässige Hypothesen  sind.  Und  was  gab  denn  zu  jenem 
Beweise  Anlafs?  Die  in  Gedanken  vorgenommene  Trennung 
des  Ich  oder  der  Seele  vom  Organ,  dem  Körper.  Denn  ver- 
möge dieser  Trennung  meinte  man,  es  könne  ein  Ich  ohne 
materielle  Welt  geben;  da  jenes  wegen  seiner  geistigen  Natur 
von  dieser  doch  nur  Vorstellungen  haben  kann.  Alle  diese 
Weisheit  wird  zu  Schande,  sobald  man  einen  Blick  auf  das 
Bewufstsein  des  Ich,  wie  es  in  der  Wirklichkeit  ist»  wirft. 
Dieses  ist  nämlich  zugleich  das  Bewufstsein  des 
Körpers.  Zwar  umfafst  dieses  nicht  alle  Teile  des  Körpers, 
sondern  hauptsächlich  nur  die,  deren  Bewegung  durch  die 
Willkür  der  Seele  bestimmt  wird.  Aber  das  Bewufstsein 
dieser  Teile  ist  eben  so  stark  und  evident  als  das  des 
in  uns  erkennenden,  fühlenden,  wollenden  Ich.  Nur 
eine  in  den  Grundeinrichtungen  zerrüttete  menschliche  Natur 
kann  an  dem  Dasein  ihres  Körpers  und  deren  Welt  zweifeln, 


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157 

and  kein  Idealismus,  er  sei  dogmatisch  oder  kritisch,  kann  je 
in  wahre  Überzengung  ttbergehn. 

Die  Erkenntnis,  die  jedes  Ich  vom  Dasein  seines  Körpers 
nnd  der  damit  in  Wechselwirkung  stehenden  materiellen  Welt 
hat,  mag  daher  mit  Recht  eine  Offenbarung  genannt  werden 
und  zwar  die  ursprünglich  wundervollste^  die  dem  Menschen 
zuteil  ward.  Denn  dafs  wir  jene  Erkenntnis  besitzen,  wissen 
wir,  nicht  aber,  wie  wir  dazu  gekommen,  und  dieses  Wie  wird 
so  lange  ein  Geheimnis  bleiben,  als  das  Band,  so  das  Geistige 
und  Körperliche  in  uns  verbindet,  Geheimnis  ist*"  ^ 

Dafs  auch  in  diesem  Punkte  Schopenhauer  wiederum  nicht 
auf  Schulze  verweist,  mag  darin  seinen  Grund  gehabt  haben, 
da£s  Schopenhauer  die  Identifizierung  von  Sinnesempfindung  und 
physiologischer  Erregung  metaphysisch  fundiert  und  die  in  Be- 
tracht kommenden  psychophysiologischen  Daten,  wie  wir  noch 
sehen  werden,  aus  für  die  Zeit  seiner  ersten  Entwicklungsperiode 
kompetenteren  Quellen  geschöpft  hat,  denen  gegenüber  die 
zitierten  Ausführungen  Schulzes .  allerdings  durch  ihre  psycho- 
logische Problemstellung  bedeutsam  sind.  Daher  bleibt  es 
möglich,  dafs  sie  Schopenhauer  die  Anregung  zu  weiterer 
Gedankenentwicklung  gegeben  haben. 

Auch  die  Kritik  Schopenhauers  an  der  Lehre  vom  Gegen- 
stande bei  Kant,  insbesondere  die  Behauptung,  dafs  «Kant 
eigentlich  dreierlei  unterscheide:  1.  die  Vorstellung,  2.  den 
Gegenstand  der  Vorstellung,  3.  das  Ding  an  sich^,^)  hat  in 
Gedanken  Schulzes  einen  Vorläufer.^)  Im  zweiten  Band  der 
theoretischen  Philosophie  sagt  nämlich  Schulze: 


')  Arthar  Schopenhauers  Naclilafs  Nr.  2,  Metaphysik  bey  Gottlob 
Ernst  Schulze.    Bogen  11,  §  54.    Die  Sperrung  findet  sich  nicht  im  Text. 

«)  I,  569. 

')  Darauf  weist  auch  Ernst  Fischer  hin  in  einer  eingehenden  Unter- 
suchung: Von  G.  £.  Schulze  zu  A.  Schopenhauer.  Diss.  Zürich  1901.  Der 
Ver&sser  findet  folgende  drei  Punkte  der  Kritik  Schopenhauers  an  der 
Philosophie  Kants  schon  bei  Schulze  angelegt:  1.  die  Kritik  an  Kants 
Ableitung  des  Dinges  an  sich,  2.  an  dem  Kausalgesetz  Kants  und  3.  an 
der  Vermischung  der  reflektiven  und  intuitiven  Erkenntnis  bei  Kant.  Für 
letzteren  Punkt  führt  er  u.  a.  die  Einwendungen,  die  Schulze  im  Aenesidemus 
(S.  169 f.)  gegen  das  Verhältnis  der  Kategorien  zu  den  Vernunftideen  bei 
Kant  macht.  Diese  sind  jedoch  nicht  mit  dem,  was  Schopenhauer  unter 
jener  Yermischnng  versteht,  zusammenzustellen. 


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158 

„Manchmal  seheint  sieh  ....  die  Vernnnftkritik  sehr  be- 
stimmt darüber  zu  erklären,  dafs  Erfahrung  nicht  blofs  ans 
dem  Bewnlstsein  des  erkannten  Subjekts  und  eines  davon 
verschiedenen  Objekts  (welches  nach  ihrem  System  die  Er- 
scheinung ausmacht)  bestehe,  sondern  dafs  vielmehr  in  der 
Erfahrung  aufser  dem  Bewufstsein  des  Subjekts  und  Objekts 
auch  noch  das  Bewufstsein  gewisser  von  letztern  verschiedenen 
Vorstellungen  in  einer  gewissen  Beziehung  aufeinander  ent- 
halten sei.  Nach  dem,  was  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
S.  236  vom  Verhältnis  des  Erfahrungs-Objekts  zu  den  Vor- 
stellungen der  Apprehension  gesagt  wird,  desgleichen  nach 
der  in  derselben  S.  74  vorkommenden,  sonst  aber  ziemlich 
dunkeln  Beschreibung  der  Genesis  des  Erfahrungs- Objekts 
mufs  man  wohl  annehmen,  dafs  sie  bei  der  Erfahrung  aufser 
dem  Bewufstsein  des  Subjekts  und  des  Objekts  auch  noch  das 
Bewufstsein  einer  von  beiden  verschiedenen  auf  letzteres  aber 
als  dessen  Repräsentant  bezogenen  Vorstellung  angenommen 
wissen  wolle.  Hiermit  stimmt  auch  die  in  ihr  S.  137  vor- 
kommende Erklärung  der  Erkenntnis  als  einer  bestimmten 
Beziehung  gegebener  Vorstellungen  auf  ein  Objekt  ttberein. 
Und  da  sie  ferner  die  Empfindung  von  der  Anschauung  unter- 
scheidet, von  jener  aber  lehrt,  solche  enthalte  weder  Baum 
noch  Zeit,  ob  sie  gleich  den  ihr  korrespondierenden  Gegenstand 
in  beide  setze  (Prolegommena  S.  91);  ttberdies  auch  von  den 
Wahrnehmungen,  deren  Vergleichung  und  Verbindung  ur- 
sprünglich nur  subjektiv  gttltig  sein  soll,  das  ihnen  korre- 
spondierende Objekt  (die  Erscheinung)  unterschieden  wissen 
will  (Proleg.  S.  78  u.  139),  so  ist  wohl  kaum  daran  zu  zweifeln, 
ihre  Meinung  in  Ansehung  der  Bestandteile  der  Erfahrung  sei 
eigentlich  die,  dafs  zu  denselben  aufser  dem  Bewufstsein  des 
Subjekts  und  Objekts  auch  noch  das  deutliche  Bewufstsein 
einer  vom  letztern  verschiedenen  Vorstellung  gehöre,  wobei  sie 
aber  ofifenbar  der  Erfahrung  einen  Bestandteil  andichtet,  der 
in  derselben  nicht  angetroffen  wird.  Denn  wenn  wir  Er- 
fahrungs-Objekte anschauen,  sind  wir  uns  keiner  auf  diese 
Objekte  Beziehung  habenden,  und  davon  noch  verschiedenen 
Vorstellung  bewaf st."  *) 

^)  G.  £.  Schulze,  Kritik  der  theoretischen  Philosophie,  II.  Bd.  Anm. 
zu  S.278f. 


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159 

Von  den  drei  naeh  Schopenhaner  bei  Kant  za  unter- 
scheidenden Begriffen:  Vorstellnng,  Gegenstand  der  Vorstellung 
und  Ding  an  sich,  sind  also  in  diesen  Ausführungen  Sehulzes 
die  beiden  ersten  gleichfalls  unterschieden.  Die  Unterscheidung 
dieser  vom  Ding  an  sich  weiterhin  fiiefst  aus  der  Kritik  Sehulzes 
an  der  Lehre  Kants  vom  Ding  an  sich. 

Auch  das,  was  Schopenhauer  gegen  den  Grundsatz  der 
Kausalität  bei  Kant  kritisch  ausführt  und  mittelbar  auch  seine 
Kritik  an  der  Lehre  Humes  von  der  Kausalität  ist  durch 
6.  £.  Schulze  angeregt  worden.  Schopenhauer  weist  selbst  aut 
ihn  hin,i)  indem  er  den  Leser  zu  einem  Vergleiche  mit  der 
von  Schulze  in  seiner  „Kritik  der  theoretischen  Philosophie* 
II.  Band  S.  242  f.  gegebenen  Kritik  des  Kausalgesetzes  bei 
Kaut  auffordert  Hier  heifst  es  im  Zusammenhange  einer 
Erörterung,  die  den  Titel  trägt:  «Vom  Grundsatze  der  Zeitfolge 
aller  Veränderungen  in  der  Natur  nach  dem  Gesetze  der 
Kausalität^  ^):  .Aus  dem  Beweise  der  Gttltigkeit  des  Prinzips 
der  Kausalität  von  allen  Veränderungen  in  der  Natur,  wie  ihn 
die  Vernunft-Kritik  führt,  folgt  .  .  .  zuvörderst  dieses,  dafs 
gar  keine  Erfahrung  von  etwas  möglich  sein  könne, 
dessen  Ursache  uns  noch  unbekannt  ist,  oder  dafs  Dinge, 
deren  Ursache  wii^ nicht  kennen,  so  lange  dies  der  Fall  ist, 
noch  fttr  blofse  Geschöpfe  der  Phantasie  angesehen  werden 
mttssen.  Denn  nach  der  Vernunft- Kritik  soll  ja  die  blofs 
subjektive  Gttltigkeit  der  Folge  der  Wahrnehmungen,  nach 
der  sie  lediglich  Bestimmungen  unserer  Vorstellungskraft  sind, 
nur  erst  dadurch  aufgehoben,  und  diese  Folge  in  eine  Er- 
kenntnis der  Folge  der  Zustände  an  einem  Objekte  verwandelt 
werden,  dafs  durch  den  Verstand  bestimmt  worden  ist,  was  in 
jener  Folge  notwendig  das  Vorhergehende,  und  was  hingegen  das 
Nachfolgende  sei.  Mithin  mufs  auch  angenommen  werden,  dafs 
so  lange,  als  von  einer  Wahrnehmung  dasjenige  nicht  erkannt 
worden  ist,  worauf  sie  mit  Notwendigkeit  folgt,  und  was  ihr 
jederzeit  vorhergeht  (welches  gleichfalls  eine  Wahrnehmung 
sein  muls),  einer  solchen  Wahrnehmung  auch  keine  bestimmte 


<)  I,  603  Anm.  und  III,  109. 

')  Gottlob   Ernst  Schulze,    Kritik    der    theoretischen   Philosophie, 
n.  Bd.  S.  422. 


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160 

Stelle  in  der  Zeit,  worin  sie  allemal  angetroffen  wird,  an- 
gewiesen werden,  sie  also  auch  nicht  in  die  Synthesis  der 
Apperzeption  aufgenommen  worden  sein  und  folglieh  nicht  für 
ein  Bestandteil  der  Erfahrung,  sondern  lediglich  fUr  ein  Produkt 
der  Einbildungskraft  gehalten  werden  könne  und  mUsse.'^ 
Der  Gedanke  also,  den  auch  Schopenhauer  festhält,  dafs  nach 
Kant  nur  eine  unmittelbar  in  der  Wahrnehmung  gegebene 
kausal  verknttpfte  Folge  von  Erscheinungen  erkannt  werden 
könne  und  zu  diesem  Zwecke  ein  Wissen  um  die  jeweilige 
Ursache  vorausgesetzt  werden  müsse,  wird  auch  schon  von 
Schulze  vertreten.  Er  bemerkt  zwar,  dafs  einige  Ausführungen 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zu  verstehen  geben,  „dafs 
Wahrnehmungen,  um  solche  fUr  Erkenntnisse  von  Objekten 
halten  zu  können,  nur  auf  eine  in  der  Zeit  vorhergegangene 
Ursache  überhaupt  brauchten  bezogen  zu  werden,''^)  doch 
sieht  er  hierin  nur  einen  Widerspruch  im  Gedankengange  Kants. 
Analog  den  Ausführungen  Schopenhauers  ist  auch  der 
Hinweis  auf  die  Möglichkeit  einer  unmittelbar  als  real  anf- 
gefafsten  Folge  von  Wahrnehmungen,  die  untereinander  in 
keinem  kausalen  Verhältnis  stehen.  ,Die  Folge  der  Wabr- 
nehmungen  von  den  Zuständen  realer  Dinge  enthält  viel- 
mehr .  .  .  schon  für  sich  genommen,  eine  Bestimmtheit  in 
Ansehung  dessen,  was  vorhergeht,  und  was  darauf  folgt,  welche 
ob  ihr  gleich  keine  Notwendigkeit  zukommt,  dennoch  gar 
nicht  in  unserer  Willkür  steht,  so  dafs  wir  ihr  jede  uns  be- 
liebige Abänderung  für  die  Auffassung  durch  die  Sinne  geben 
könnten.'' 3)  ,Das  sukzessive  Sein  der  Zustände  objektiver 
Dinge  wird  also  schon  durch  die  Wahrnehmung,  an  sich 
genommen,  und  ohne  alle  Rücksicht  auf  ein  Kausal- Verhältnis 
derselben,  als  etwas  Objektives,  das  keine  Sukzession  bloJser 
Vorstellungen  in  uns  ausmacht,  erkannt'^)  Wir  sehen,  dafs 
diesem  Gedanken  wieder  die  Voraussetzung  einer  unmittelbaren 
Gewifsheit  von  der  Realität  des  Wahrgenommenen  zugrunde  liegt, 
von  der  wir  bereits  oben  sprachen  und  für  die  wir  ein  Analoges 
bei  Schopenhauer  fanden.    Wir  sehen  auch,  dafs  Schulze  in 


0  Ebenda  S.  434  f    Die  Sperrung  fehlt  im  Text. 
»)  Ebenda  S.438.  »)  Ebenda  S.429. 

*)  Ebenda  S.  430. 


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161 

dem  nämlichen  Sinne  die  Lehrmeinang  Kants  verfehlt  wie 
Sehopenhanen  Die  Ableitung  der  Apriorität  des  Kausalgesetzes 
aber  ans  dem  Bewufstsein  von  der  unmittelbaren  kausalen  Be- 
ziehung zwischen  unseren  Sinnesempfindnngen  und  ihren  Ur- 
sachen aufser  uns  liegt  Schulze  noch  völlig  fem.  Einige  andere 
Differenzen  in  den  kritischen  Ausftihrungen  Schulzes  über  den 
Grundsatz  der  Kausalität  bei  Kant  können  hier  übergangen 
werden,  da  sie  fttr  Schopenhauers  Lehre   unwesentlich   sind. 

Überblicken  wir  noch  einmal  die  Beziehungen  der  Lehre 
Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung  znr  Lehre 
Schulzes  so  haben  wir  festzustellen,  dafs  diese  allerdings  in 
einem  höheren  Mafse  als  es  nach  der  Darstellung  Schopen- 
hauers den  Anschein  gewinnt,  als  historische  Voraussetzung  der 
Lehre  Schopenhauers  anzusehen  ist  Nicht  nur  die  idealistische 
Interpretation  der  Lehre  Kants,  insbesondere  die  Kritik  an  der 
Lehre  Kants  vom  Ding  an  sich  fuTst  auf  Schulze,  auch  die 
Kritik  an  der  Lehre  vom  Gegenstande,  an  der  Ableitung  der 
Kategorien,  an  dem  Beweis  der  Apriorität  des  Kausalgesetzes, 
an  der  Lehre  von  den  Schematen,  an  dem  Verhältnis  der  Ideen 
zu  den  Kategorien  u.  a.  ist  bei  Schulze  im  Wesentlichen  schon 
vorhanden.  Was  fttr  das  Bewufstsein  Schopenhauers  seine 
eigene  Kritik  an  der  Lehre  Kants  von  der  von  Schulze  ge- 
gebenen so  wesentlich  unterschied,  war  der  systematische  Aus- 
gangspunkt, von  dem  aus  er  seine  Kritik  orientierte,  und  der 
durch  die  Lehre  von  der  unmittelbaren  kausalen  Bedingtheit 
der  empirischen  Anschauung  gegeben  war. 

Dafs  femer  selbst  für  diesen  spezifischen  Bestandteil  seiner 
Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  in  den  Ausführungen 
Schulzes  über  die  unmittelbare  Notwendigkeit,  die  dem  Dasein 
der  Empfindungen  anhaftet,  ja  auch  schon  fttr  die  Annahme, 
dafs  wir  ein  unmittelbares  Bewufstsein  von  dem  Zusammen- 
hange unseres  Geistes  mit  unserem  Körper  besitzen,  bei  Schulze 
Ansätze  vorhanden  waren,  scheint  Schopenhauer  übersehen  oder 
vielleicht  deshalb  nicht  als  historische  Voraussetzung  gelten 
gelassen  zu  haben,  weil  jenen  Gedanken  bei  Schulze  noch  nicht 
die  prinzipielle  Bedeutung  zukommt,  die  er  ihnen  gegeben  hat. 


Philoiophlsche  Abhandlongeo.   XLII.  \i 

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162 


Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers  von 
der  empirischen  Anschauung  zur  Lehre  Fichtes. 

Als  ein  Gemeinsames  der  Lehre  Sehopenhaners  mit  der 
Lehre  Fichtes,  Sehellings  nnd  Hegels  fanden  wir  das  Ansgehen 
von  der  Unterscheidung,  die  Kant  zwischen  Erscheinung  and 
Ding  an  sich  macht,  ferner  auch,  dafs  sie  alle  einen  Weg 
suchen,  auf  dem  das  Ding  an  sich  seinem  Wesen  nach  er- 
fafsbar  sei.  Fichte,  Schelling  und  Hegel  finden  diesen  Weg 
in  der  intellektuellen  Anschauung,  während  Schopenhauer  in 
bewurstem  Gegensatze  zu  ihnen  und  in  konsequenterer  Fort- 
bildung kantischer  Gedanken  im  Willen  das  wiederzuerkennen 
glaubt,  was  nach  Kant  das  an  den  Dingen  ist,  was  sie  aufser 
dem,  dals  sie  Vorstellungen  sind,  noch  seien. 

.  Zu  diesen  metaphysischen  kommen  Bertthrungspunkte  auch 
in  der  Auffassung  des  Verhältnisses  zwischen  Metaphysik  und 
Ethik,  weiterhin,  zwar  nicht  bei  Fichte,  aber  bei  Schelling 
und  Hegel  Analoga  zu  Schopenhauer  in  der  metaphysisehen 
Fundierung  der  Ästhetik.  In  der  Naturauffassung  Schopen- 
hauers ferner  zeigt  sich  Analoges  zur  Potenzenlehre  Sehellings, 
im  „System  des  transzendentalen  Idealismus'^  1800.  Schelling 
wie  auch  Schopenhauer  und  Fichte  sind  entschiedene  Gegner 
der  mechanischen  Naturauffassung.  Diese  drei  stimmen  auch 
in  dem  methodischen  Momente  tiberein,  dafs  die  Philosophie 
eine  Konstruktion  der  Natur  zu  rersuchen  habe,  dals  sie  also 
eine  höhere,  deduktive  Auffassung  darstelle,  im  Gegensatz 
zu  der  Naturwissenschaft,  welche  induktiv  sei,  während  die 
Philosophie  ihre  Erkenntnisse  durch  intellektuelle  Anschauung 
gewinne.») 

^)  Aus  B.  Erdmanns  SeminartibuDgen  über  Schopenhauer.  In  der 
Literatur  finde  ich  nur  eine  nennenswerte  Spezialarbeit  über  die  Be- 
ziehungen Schopenhauers  zu  Fichte:  Rudolf  Willy  Schopenhauer  in  seinem 
Verhältnis  zu  Fichte  und  Schelling.  Diss.  Zürich  1883.  Dar  Verfittser 
unterzieht  die  methodischen,  metaphysischen  und  ethischen  Yonuui- 
setzungen  dieser  drei  PbUosophen  auf  ihr  Gemeinsames  und  Unter- 
scheidendes hin,  auch  hinsichtlich  ihrer  historischen  Stellung  zur  Lehre 
Kants,  einer  sorgiältigen,  wenn  auch  nicht  ganz  ausreichenden  Unter- 
suchung. 


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163 

Fichte  allein  kommt  neben  Sehnlze  von  den  nachkantisehen 
Philosophen  als  Vorgänger  auch  für  die  Lehre  Sehopenbaaers 
Yon  der  empirischen  Ansckanang  in  Betracht,  allerdings,  wie 
wir  sehen  werden,  nnr  in  einem  eingeschränkten  Mafse. 

Die  historisch  kritische  Forschung  über  die  spezielle 
Problemlage  der  Lehre  Fichtes  steht  noch  erst  in  den  An- 
fängen. Es  fehlt  noch  eine  Untersuchung  der  logischen  Grund- 
lagen dieser  Lehre,  insbesondere  der  mannigfaltigen  Formen, 
die  in  ihr  das  synthetische  Verfahren  annimmt;  es  fehlt  nicht 
minder  eine  Prüfung  der  psychologischen  Voraussetzungen  der 
Wissenschaftslehre.  ^)  Das  setzt  uns  in  die  Notlage,  letztere  in 
einem  etwas  ausgedehnteren  Mafse  zur  Darstellung  zu  bringen, 
als  es  für  unsern  Zweck  unmittelbar  erforderlich  ist 

Eine  Untersuchung  der  psychologischen  Voraussetzungen 
der  Lehre  Fichtes  hat  darauf  zu  achten,  dafs  dabei  drei  Gruppen 
Yon  Beziehungen  voneinander  zu  trennen  sind,  die  von  Fichte 
nicht  immer  scharf  geschieden  werden: 

1.  die  logischen  Beziehungen,  die  den  Gang  der  De- 
duktion bestimmen, 

2.  die  symbolischen,  an  denen  diese  yeranschaulicht 
werden,  und  die  zum  Teil  als  logisch  zu  nehmende 
unterfliefsen, 

3.  die  psychologischen. 

Unsere  Aufgabe  wird  es  sein,  das  Psychologische  aus  dem 
Gedankengange   Fichtes    herauszupflücken,  insbesondere   das, 
was  davon  für  die  empirische  Anschauung  Bedeutung  hat. 
Es  erhebt  sich  die  Frage,  was  dabei  als  psychologisch 


0  Wertvolle  Einzelinterpretationen  der  Gedankengange  Fichtes  ent- 
lifUt  das  Werk  von  J.  H.  Löwe:  Die  Philosophie  Fichtes  nach  dem  Gesamt- 
ergebnifl  ihrer  Entwicklung  und  in  Uirem  Verhältnis  zu  Kant  und  Spinoza. 
Stuttgart,  1862.  Von  neueren  Abhandlungen  ist  die  sehr  scharfsinnig 
interpretierende  Arbeit  von  Alfred  Menzel  zu  nennen:  Die  Grundlagen  der 
Fiehtesehen  Wissenschaftslehre  in  ihrem  Verhältnis  zum  Kantischen  Kritizis- 
mns.  Diss.  Kiel  1909,  als  Buch  erschienen  Leipzig  1909  im  Verlag  Brock- 
hana.  Wertvolle  methodologische  Erörterungen  findet  man  bei  Emil  Lask: 
Fichtes  Idealismus  und  die  Geschichte,  Tübingen  1902,  auch  in  dem  kürz- 
lich erschienen  Buche  von  Hans  Hielscher:  Das  Denksystem  Fichtes. 
Berlin  1913,  Verlag  K.  Curtius,  in  dem  auch  der  empirische  Bestand  der 
Methode  Fichtes  eingehend  behandelt  wird. 

U* 


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164  ' 

gelten  darf.   Dies  wollen  wir  an  dem  Mabstab  dessen  messen,        ' 
was  in   der  empirisehen  Psychologie  als  Bewofstseinstatsaehe        | 
gilt,   also   an  dem  Inbegriff  des   in  der  Selbstwabmehmnng        | 
gegebenen    Yorstellens,    Ftthlens    und   WoUens.     Demgem&fs 
haben  wir  bei  Fichte  zu  unterscheiden: 

1.  die  Vorstellung  des  Vorstellenden,  die  durch  absolute 
Abstraktion  von  allem  Nicht-Ich  entsteht,  als  das 
Selbstbewufstsein  im  eigentlichen  Sinne, 

2.  das  Bewufstsein,  in  dem  das  Ich  .im  (gegenstände 
sich  verliert'  weil  es  sich  seiner  Tätigkeit  unmittelbar 
nicht  bewnfst  wird,  als  das  Gegenstandsbewnlstsein,         - 

3.  das  Gefühl. 

Nicht  als  Bewulstseinstatsachen  haben  wir  dagegen  alles 
das  gelten  zu  lassen,  was  sich  lediglich  als  .etwas  einem 
gewissen  Gedanken  Entsprechendes*  im  menschlichen  Geiste 
darstellt.  Auch  Fichte  trennt  dies  im  Prinzip  von  den  Bewulst- 
seinstatsachen. Er  schildert  es  als  Tatsachen,  die  lediglich 
einem  „Anfsenbeobachter^,  wenn  er  das  „Ich''  beobachten  , 
könnte,  zugänglich  wären.  Wir  können  von  unserem  Stand- 
punkte aus  sagen:  es  sind  logische  Beziehungen,  die  von  Fichte 
gleichsam  als  unbewufst  psychische  postuliert  werden.  Aber 
nicht  einmal  dies  sind  sie  für  unsere  Betrachtung. 

Davon  zu  scheiden  sind  diejenigen  Handlungen  des  Ich 
bei  Fichte,  in  denen  es  etwas  in  sich  setzt,  gemäfs  der  Regel: 
„Nichts  ist  im  Ich,  was  es  nicht  in  sich  setzf*.  Das  so  Ge- 
setzte wird  von  Fichte  in  ausdrücklichen  Gegensatz  gestellt  zu 
dem,  was  lediglich  für  den  Aulsenbeobachter  gilt  Gleichwohl 
sind  diese  Handlungen  des  Ich  nicht  immer  als  Selbstwahr- 
nehmungen in  unserem  Sinne  gelten  zu  lassen.  Denn  es  zeigt 
sich  des  Öfteren,  dafs  das  Ich  in  Ihnen  sich  selbst  vergifst 
und  das  in  sich  Wahrgenommene  dem  Nicht- Ich  zuschreibt. 
Dieser  Eigentümlichkeit  der  Lehre  Fichtes  können  wir  dadoreh 
gerecht  werden,  dafs  wir  diese  Handlungen  des  Ich  als  unbe- 
wufst psychische  Bedingungen  des  Bewufstseins  von  den  Gegen- 
ständen aufser  uns  gelten  lassen.  Auch  noch  andere  FJUle 
werden  wir  als  unbewufst  psychische  Bedingungen  zu  denten 
haben. 

Die  Darstellung  der  psychologischen  Voraussetzungen  der 
Lehre  Fichtes  hebt  zweckmäfsig  an  mit  der  «Grundlage  der 


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165 

gesamten  WisseDBchaftslebre'  (1794)  und  wird  ergänzt  dnrch 
den  .GrundriTs  der  Eigentümlichkeiten  der  Wissenschafts- 
lehre"  (1795).  Die  übrigen  Schriften  Fiehtes  bis  auf  die 
«Tatsachen  des  Bewnfstseins*  (von  1810/11)  enthalten,  was 
unsere  Frage  angeht,  nicht  vielmehr  als  Wiederholungen  des 
dort  Gregebenen.  Letztere  Schrift  aber  ist  als  bedeutsam  mit 
heranzuziehen. 

Die  Aufgabe  der  Deduktion  der  .Grundlage  des  theo- 
retischen Wissens*  ist  kurz,  „zu  untersuchen,  ob  und  mit 
welchen  Bestimmungen  der  problematisch  aufgestellte  Satz:  das 
Ich  setzt  sich,  als  bestimmt  durch  das  Nicht-Ich  denkbar 
wäre.^1)  „Die  einzige  mögliche  Art  zu  denken,  was  gedacht  werden 
8oll',2)  Ynrä  aufgefunden,  und  das  so  Aufgestellte  gilt  zugleich 
als  .ein  ursprünglich  in  unserem  Geiste  vorkommendes  Faktum. ''s) 
Dieses  Faktum  ist  die  Vereinigung  der  in  dem  Satze:  .das  Ich 
setzt  sich  als  bestimmt  durch  das  Nicht-Ich'^)  enthaltenen 
Widerspruche  durch  die  Einbildungskraft.  „Die  Aufgabe  war 
die,  die  Entgegengesetzten,  Ich  und  Nicht-Ich  zu  vereinigen. 
Durch  die  Einbildungskraft,  welche  Widersprechendes  vereinigt, 
können  sie  vollkommen  vereinigt  werden."^)  „Das  Ich  kann 
sich  nicht  anders  setzen  als,  dafs  es  durch  das  Nicbt-Ich  be- 
stimmt sei.  (Kein  Objekt,  kein  Subjekt)  Insofern  setzt  es  sich 
als  bestimmt.  Zugleich  setzt  es  sich  auch  als  bestimmend; 
weil  das  Begrenzende  im  Nicht-Ich  sein  eigenes  Produkt  ist 
(Kein  Subjekt,  kein  Objekf")«) 

Mit  der  Ableitung  dieses  Faktums  ist  „der  theoretische 
Teil  der  Wissenschafl^lehre  vollkommen  beschlossen.'' 7)    Mit 

')  Grundlage  der  gesammtenWissenschaftslehre.  Leipzig  bei  Christian 
Ernst  Gabler  1794  S.  184.  Johann  Gottlieb  Fiehtes  sämtliche  Werke, 
heraosgegeben  von  J.  H.  Fichte  1845,  L  Bd.  S.  219.  Die  Zitate  Fiehtes 
sind  nach  den  Originalausgaben  gegeben,  weil  der  Wortlaut  der  von 
J.  H.  Fichte  besorgten  Ausgabe  sämtlicher  Werke  mit  dem  der  Original- 
ansgabe nicht  immer  übereinstimmt,  in  einigen  Fällen  anch,  wie  mir 
scheint,  nicht  ganz  den  rechten  Sinn  tri£Ft  Die  entsprechenden  Seiten- 
sahlen aus  der  G^amtansgabe  werden  jeweils  beigefügt. 

>)  Ebenda.  ')  Ebenda. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  182,  83.    Sämtl.  W.  I  S.  218. 

>)  Grundlage  Orig.  S.  182.    Sämtl.  W.  I  S.  218. 

•)  Grundlage  Orig.  S.  183.    SämtL  W.  I  S.  218. 

«)  Grundlage  Orig.  S.  183.    SämÜ.  W.  I  S.  219. 


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166 

«einer  Anfstellang  hebt  zngleieb  „die  pragmatigobe  Oesohiobte 
des  menBchliehen  Geistes^  an.  „Die  WiBsenaebaftslehre  soll 
sein  eine  pragmatisehe  Gesehiehte  des  mensehlieben  Geistes. 
Bis  jetzt  haben  wir  gearbeitet,  um  nor  erst  einen  Eingang 
in  dieselbe  zu  gewinnen;  am  nur  erst  ein  nnbezweifeltes 
Faktom  aufweisen  zu  können.  Wir  haben  dieses  Faktam,  nnd 
von  nun  an  darf  unsere,  freilich  nicht  blinde,  sondern  experi- 
mentierende Wahrnehmung  ruhig  dem  Gange  der  Begeben- 
heiten nachgehen.^  0 

Hier  also  haben  wir  für  den  Zweck  unserer  Untersuchung 
der  psychologischen  Voraussetzungen  der  Wissensehaftslehre 
anzusetzen. 

Fichte  bezeichnet  den  geschilderten  Zustand  der  Ein- 
bildungskraft als  Anschauen:  „Dieser  Znstand  heilst  der  Zu- 
stand des  Anschauens.  Das  in  ihm  tätige  Vermögen  ist  schon 
oben  produktive  Einbildungskraft  genannt  worden.^  2)  Fttr 
unsere  psychologische  Betrachtung  ist  sie  nur  insofern  in  den 
Bestand  des  Bewulstseins  zu  beziehen,  als  ihr  Produkt,  die 
Anschauung,  bewnfst  wird.  „Ferner  ist  klar,  dafs  das  Ich 
seiner  Tätigkeit  in  dieser  Produktion  des  Angeschauten  als 
eines  solchen,  sich«  nicht  bewufst  sein  könne,  darum,  weil  .sie 
nicht  reflektiert,  dem  Ich  nicht  zugesehrieben  wird.''')  Aber 
auch  das  Produkt,  das  Angeschaute,  ist  fttr  unsere  Betrachtung 
noch  kein  selbständiger  Bestandteil  des  Bewulstseins.  Es  ist,  so 
können  wir  in  moderner  Wendung  wieder  sagen,  erst  eine  mi- 
bewufste  Bedingung  des  Bewulstseins.  Das  geht  hervor  aus  der 
Bedeutung  der  zweiten  Entwicklungsstufe  des  menschUehen 
Geistes,  zu  der  wir  uns  weiter  unten  wenden.  Vorerst  ist  noch 
anzumerken,  dals  der  Zustand  der  „schwebenden''  produktiven 
Einbildungskraft  als  unbewnfste  Bedingung  nicht  nur  f&r  das 
Bewufstsein  von  der  Realität  der  Anfsendinge,  sondern  auch  der 
raumzeitlichen  Beziehungen  zu  gelten  hat  Letzteres  geht  aus 
folgenden  Bemerkungen  hervor:  „Dieses  Schweben  der  Ein- 
bildungskraft zwischen  Unvereinbarem,  dieser  Widerstreit  der- 
selben mit  sich  selbst  ist  es,  welcher,  wie  sich  in  der  Zukunft 
zeigen  wird,  den  Zustand  des  Ich  in  demselben  zu  einem  Zeit- 

»)  Grundlago  Orig.  S.  188.  Sämtl.  W.  I  S.  222. 
<)  Grundlage  Orig.  S.  193.  Samtl.  W.  I  S.  225. 
»)  Grundlage  Orig.  S.  199.    SämtL  W.  I  S.  230. 


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167 

momente  ansdehiii^O  „In  diesem  Streite  rerweilt  der  Geist, 
sehwebt  zwisehen  beiden,  sehwebt  zwischen  der  Forderang  (die 
Enlig^engesetzten  za  vereinigen)  and  der  Unmögliehkeit,  sie  zu 
erfiUlen,  nnd  in  diesem  Znstande,  aber  nnr  in  diesem,  hält  er 
beide  zugleich  fest,  oder,  was  das  Gleiohe  heilst,  macht  sie  zn 
solchen,  die  zugleich  aufgefafst,  and  festgehalten  werden  können, 
—  gibt  dadnrch,  dafs  er  sie  berührt  nnd  wieder  von  ihnen 
zorttekgetrieben  wird,  and  wieder  bertthrt,  ihnen  im  Verhältnis 
aaf  sich  einen  gewissen  Gehalt,  nnd  eine  gewisse  Ansdehnung, 
die  za  seiner  Zeit  als  Mannigfaltiges  in  der  Zeit  nnd  im  Raam 
sieh  zeigen  wird.'' 2) 

Die  zweite  Entwicklnngsstnfe  des  menschlichen  Geistes 
besteht  in  der  Fixierung  der  Anschauung.  „Zu  einem  'solchen 
Fixieren  der  Anschauung,  die  erst  dadurch  eine  Anschauung 
wird,  gehört  dreierlei:  Zuvörderst  die  Handlung  des  Fixierens 
oder  Festsetsens.  Das  ganze  Fixieren  geschieht  zum  Behuf 
der  Reflexion  durch  Spontaneität,  es  geschieht  darch  diese 
Spontaneität  der  Reflexion  selbst,  wie  sich  sogleich  zeigen  wird. 
Mithin  kommt  die  Handlang  des  Fixierens  zu  dem  schlechthin 
setzenden  Vermögen  im  Ich,  oder  der  Vernunft.  —  Dann  das 
Bestimmte,  oder  bestimmt  Werdende,  und  das  ist  bekannter* 
mafsen  die  Einbildungskraft,  deren  Tätigkeit  eine  Grenze 
gesetzt  wird.  —  Zuletzt  das  durch  die  Bestimmung  Entstandene, 
das  Produkt  der  Einbildungskraft  in  ihrem  Sehweben.  Es  ist 
kfaur,  dafs,  wenn  das  geforderte  Festhalten  möglich  sein  solle, 
es  ein  Vermögen  dieses  Festhaltens  geben  mUsse,  und  ein 
flolehes  Vermögen  ist  weder  die  bestimmende  Vernunft,  noch 
die  produzierende  Einbildungskri^ft,  mithin  ist  es  ein  Mittel- 
vennögen  zwisehen  beiden.  Es  ist  das  Vermögen,  worin  ein 
Wandelbares  besteht,  gleichsam  verständigt  wird,  und  heifst 

daher  mit  Recht  Verstand Der  Verstand  ist  ein  ruhendes, 

untätiges  Vermögen  des  Gemtttes,  der  blofse  Behälter  des 
durch  die  Einbildungskraft  Hervorgebrachten.  . . .  Nur  im  Ver- 
stände ist  Realität;  er  ist  das  Vermögen  des  Wirklichen;  in 
ihm  erst  wird  das  Ideale  zum  Realen.  (Daher  drttckt  Verstehen 
auch  eine  Beziehung  anf  etwas  ans,  das  uns  ohne  unser  Zutun 


>)  GrandUge  Orig.  S.  180/81.    Sämtl.  W.  I  S.  217. 
*)  Gmndlage  Orig.  S.  192/93.    Sämtl.  W.  I  S.  225. 


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168 

von  anfsen  kommen  soll)  Die  Einbildnngskraft  prodaziert 
Realität,  aber  es  ist  in  ihr  keine  Realität;  erst  dnreh  die 
Anffassung  nnd  das  Begreifen  im  Verstände  wird  ihr  Produkt 
etwas  Reales  •  . «  .  Es  wird  sich  zeigen,  dafs  man  in  der 
Reflexion,  vermöge  der  Gesetze  derselben,  nur  bis  auf  den 
Verstand  zurückgehen  könne,  und  in  diesem  dann  allerdings  . 
etwas  der  Reflexion  Gegebenes,  als  einen  Stoff  der  Vor- 
stellung antreffe,  der  Art  aber,  wie  dasselbe  in  den  Verstand  ^ 
gekommen,  sich  nicht  bewufst  werde.  Daher  nnsere  feste  i 
Überzeugung  von  der  Realität  der  Dinge  aulser  uns,  und  ohne 
alles  unser  Zutun,  weil  wir  uns  des  Vermögens  ihrer  Prodnktion  I 
nicht  bewufst  werden."  i) 

Die  weitere  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes,  soweit 
sie  in  der  theoretischen  Wissensehaftslehre  geschildert  wird,  ' 
untersteht,  logisch  betrachtet,  dem  Ziel  der  Auffindung  eines 
Untersoheidungsgrundes  zwischen  Angeschautem  nnd  An- 
schauendem. Für  jede  der  dabei  auftretenden  vier  Ent- 
wicklungsstufen kommt  jeweils  eine  Tätigkeit  der  anschauenden  | 
Einbildungskraft  und  des  fixierenden  Verstandes  in  Betracht 
Ffir  erstere  scheint  dabei  allgemein  zu  gelten:  .Die  Einbildungs- 
kraft in  ihrer  gegenwärtigen  Funktion  produziert  nicht,  sondern 
fafst  blofs  auf  (zum  Setzen  im  Verstände,  nicht  etwa  zum  Auf- 
behalten), das  schon  Produzierte  und  im  Verstände  Begriffene, 
und  heilst  daher  reproduktiv.*  2); 

Die  Resultate  dieser  Entwicklungsstufen  sind  kurz  folgende: 

1.  Die  Auffassung  der  Anschauung  als  unter  einer  gewissen 
Bedingung  stehend.') 

2.  Die  Auffassung  des  .Gefühls  des  Zwanges  zu  einer 
bestimmten  Handlung',  als  einer  .Notwendigkeit*.^)  Dieses 
Gefühl  selbst  tritt  nicht  etwa  erst  auf  dieser  Entwicklungsstufe 
auf,  sondern  ist,  wie  sich  aus  der  praktischen  Wissenschafts- 
lehre ergibt,  schon  eine  Vorbedingung  für  die  oben  beschriebene 
Anffassung  des  Realen  durch  den  Verstand. 

3.  Die  Auffassung  der  Tätigkeit  des  Ich  zur  Selbst- 
bestimmung als  einer  Selbstbestimmung  zum  Denken   eines 

')  Grundlage  Orig.  S.  203  f.    Sämtl.  W.  I  S.  293  f. 
«)  Grundlage  Orig.  S.  207.    Sämtl.  W.  I  S.  235. 
s)  Grundlage  Orig.  S.  211.    Slimtl.  W.  I  S.238. 
*)  Grundlage  Orig.  S.  212.    Sämtl.  W.  I  S.  238/39. 


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169 

Objekts,  als  der  Ursache  von  einem  Leidenden  im  An- 
schauenden. .Nach  obiger  Erörterung  ist  die  Tätigkeit  zur 
Selbstbestimmung,  Bestimmung  eines  fixierten  Produkts  der 
Einbildungskraft  im  Verstände  durch  die  Vernunft:  mithin  ein 
Denken.  Das  Anschauende  bestimmt  sich  selbst  zum  Denken 
eines  Objekts.    Insofern  das  Objekt  durch  das  Denken  bestimmt 

wird,  ist  es  ein  Gedachtes Das  Objekt  wird  gedacht  als 

Ursache  von  einem  Leiden  im  Anschauenden,  als  seinem 
Effekt«  1) 

4.  Die  Auffassung  des  so  Gedachten  als  eines  Denkbaren, 
oder  anderseits  die  Auffassung  der  Freiheit  des  Denkens  in 
der  Urteilskraft  „Urteilskraft  ist  das  bis  jetzt  freie  Vermögen, 
ttber  schon  im  Verstände  gesetzte  Objekte  zu  reflektieren,  oder 
von  ihnen  zu  abstrahieren  und  sie  nach  Mafsgabe  dieser 
Reflexion  oder  Abstraktion  mit  weiterer  Bestimmung  im  Ver- 
stände zu  setzen."  >)  „Nur  das  als  denkbar  beurteilte  kann 
als  Ursache  der  Anschauung  gedacht  werden."^) 

5.  Das  Selbstbewufstsein,  vermöge  des  .absoluten  Ab- 
straktionsvermögens", «von  allem  Objekte  überhaupt  zu  ab- 
strahieren."^) 

Überblicken  wir  den  Entwicklungsgang  des  menschlichen 
Geistes,  wie  er  in  der  theoretischen  Wissenschaftslehre  dar- 
gestellt wird,  so  haben  wir  fttr  die  empirische  Anschauung 
folgendes  Ergebnis:  Die  ursprüngliche  Anschauung  des  Objektes 
der  Aufsenwelt  ist  die  unmittelbare  Anschauung  desselben  als 
eines  Bealen,  Wirklichen  durch  den  Verstand.  Doch  kann 
die  Auffassung  des  realen  Objektes  als  der  Ursache  der  An- 
schauung durch  die  Urteilskraft  hinzutreten.  Letzteres  ist 
mit  ersterem  nicht  schon  gegeben.  Es  tritt  vielmehr  hinzu, 
und  zu  diesem  Zweck  bedarf  es  vorerst  einer  Reproduktion 
des  durch  den  Verstand  schon  gesetzten  Realen,  und  dann 
einer  Bestimmung  des  im  Verstände  Gesetzten  durch  die 
Vernunft  oder  genauer  die  Urteilskraft. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  .Grundlage  der  Wissenschaft  des 
Praktischen." 

>)  Grandlage  Orig.  S.  214/15.    Sämtl.  W.  I  S.  240/41. 
«)  Grundlage  Orig.  S.  216.    8ämtL  W.  I  S.  242. 
»)  Grundlage  Orig.  S.  218.    Sämtl.  W.  I  S.  243. 
')  Grundlage  Orig.  S.  218.    Sämtl.  W.  I  S.  243. 


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170 

Der  Hauptsatz  aller  praktiBchen  Wissenschaftdehre:  «Das 
Ich  setzt  sich  als  bestimmend  das  Nicht-Ich*,^)  hat  zar  Vorans- 
setzuDg,  dafs  durch  das  Nicht-Ich  «auf  die  Tätigkeit  des  Ich 
ein  Anstofs  geschehe.* 2)  „Die  Art  nnd  Weise  des  Vorstellenfl 
überhaupt  ist  allerdings  durch  das  Ich,  dals  aber  überhaupt 
das  Ich  vorstellend  sei,  ist  nicht  durch  das  Ich,  sondern  dnreli 
etwas  auTser  dem  Ich  bestimmt* 3)  .Dafs  dies  geschehe,  ab 
Faktum,  läist  ans  dem  Ich  sich  schlechterdings  nicht  abldten, 
wie  mehrmals  erinnert  worden;  aber  es  läfst  allerdings  sich 
dartun,  dafs  es  geschehen  müsse,  wenn  ein  wirkliches  Bewnlst- 
sein  möglich  sein  soU/^)  Aus  jenem  Hauptsatze  folgt:  „Das 
absolute  Ich  soll  . . .  sein  Ursache  des  Nioht-Ich  an  und  ittr 
sich,  d.  i.  nur  desjenigen  im  Nicht-Ich,  was  übrig  bleibt,  wenn 
man  von  allen  erweisbaren  Formen  der  Vorstellung  abstrahiert, 
desjenigen,  welchem  der  Anstofs  auf  die  ins  Unendliche  hinaus- 
gehende Tätigkeit  des  Ich  zugeschrieben  wird;  denn  dafs  von 
den  besonderen  Bestimmungen  des  VorgesteUten,  als  eines 
solchen  das  intelligente  Ich  nach  den  notwendigen  Oesetzen 
des  Vorstellens  Ursache  sei,  wird  in  der  theoretischen  Wissen- 
schaftslehre dargetan.*  ^) 

Weder  dieses  kausale  Verhältnis  zwischen  dem  absoluten 
Ich  und  dem  Nicht-Ich,  noch  das  zwischen  dem  Nicht-Ich  nnd 
dem  intelligenten  Ich,  kann  psychologisch  in  Betracht  kommen. 
Beide  kausalen  Verhältnisse  haben  vielmehr  als  metaphysische 
Voraussetzangen  zu  gelten. 

Gleiches  gilt  im  Prinzip  auch  für  die  genetisehe  Wuiiel 
des  intelligenten  und  des  praktischen  Ich  im  absoluten  Ich, 
jedoch  mit  einer  Einschränkung  wie  wir  noch  sehen  werden. 
„Das  Ich  fordert,  dafs  es  alle  Realität  in  sich  fasse  und 
die  Unendlichkeit  erftiUe.  Dieser  Forderung  liegt  notwendig  zum 
Grunde  die  Idee  des  schlechthin  gesetzten,  unendlichen  Ich; 
und  dieses  ist  das  absolute  Ich,  von  welchem  wir  geredet 
haben  ...  Es  ist  in  demselben  gamicht  die  Bede  von  dem  im 
wirklichen  Bewufstsein  gegebenen  Ich;  denn   dieses  ist  nie 

1)  Grundlage  Orig.  S.  227.  S&mtl.  W.  I  S.  248. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  228.  Sämtl.  W.  I  S.  248. 

>)  Grundlage  Orig.  S.  228.  SSmtl.  W.  I  S.  248. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  265.  Sämtl.  W.  I  S.  275. 

')  Grundlage  Orig.  S.  232.  Sftmtl.  W.  I  S.  251. 


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171 

sehlechthin,  sondern  Bein  Zustand  ist  immer  entweder  unmittel- 
bar oder  mittelbar  dnreh  etwas  aufser  dem  Ich  begründet, 
sondern  von  einer  Idee  des  Ich,  die  seiner  praktischen  unend- 
lichen Forderung  notwendig  zugrunde  gelegt  werden  mufs,  die 
aber  flir  unser  Bewufstsein  unerreichbar  ist  und  daher  in  dem- 
selben nie  unmittelbar  (wohl  aber  mittelbar  in  der  philosophischen 
Beflexion)  vorkommen  kann."i)  Zu  dieser  metaphysisch-gene- 
tischen Wurzel,  dafs  „das  Ich  fordert,  dafs  es  alle  Realität  in 
sich  fasse^,  kommt  als  zweite,  fttr  das  praktische  Ich  folgende: 
„Das  Ich  mufs  —  und  das  liegt  gleichfalls  in  seinem  Begriffe  — 
ttber  sich  reflektieren,  ob  es  wirklich  alle  Realität  in  sich  fasse. 
Es  legt  dieser  Reflexion  jene  Idee  zum  Grunde,  geht  demnach 
mit  derselben  in  die  Unendlichkeit  hinaus,  und  insofern  ist  es 
praktisch,  nicht  absolut,  weil  es  durch  die  Tendenz  zur  Reflexion 
eben  aus  sich  herausgeht;  ebensowenig  theoretisch,  weil  seiner 
Reflexion  nichts  zum  Grunde  liegt,  als  jene  aus  dem  Ich  selbst 
herstammende  Idee,  und  von  dem  möglichen  Anstofse  völlig 
abstrahiert  wird,  mithin  keine  wirkliche  Reflexion  vor- 
handen ist*  3) 

Beide  genetische  Wurzeln  sind  auch  nach  Fichte  im 
Prinzip  als  empirische  noch  nicht  anzusehen;  denn  „nach  der 
soeben  vorgenommenen  Erörterung  ist  das  Prinzip  des  Lebens 
oud  Bewufstseins,  der  Grund  seiner  Möglichkeit  —  allerdings 
im  Ich  enthalten,  aber  dadurch  entsteht  noch  kein  wirkliches 
Leben,  kein  empirisches  Leben  in  der  Zeit;  und  ein  anderes 
ist  fttr  uns  schlechterdings  undenkbar.  Soll  ein  solches  wirk- 
liches Leben  möglich  sein,  so  bedarf  es  dazu  noch  eines 
besonderen  Anstofses  auf  das  Ich  durch  ein  Nicht-Ich." ') 

Gleichwohl  aber  werden  die  geschilderten  metaphysisch- 
genetischen Wurzeln  zu  empirischen  in  einer  Hinsicht  doch> 
nämlich  dadurch,  dafs  sie  den  Bewufstseinsbestand,  der  durch 
den  Anstols  des  Micht-Ich  ausgelöst  wird,  in  seiner  Eigenart 
mitbestimmen.  Dieser  Bewufstseinsbestand  trägt  nämlich  den 
Charakter  eines  „Geftthls  des  Zwanges,  des  Nichtkönnens.**  ^)   In 


«)  Grundlage  Orig.  S.  268.  Saintl.  W.  I  S.  277. 

')  Grundlage  Orig.  S.  268.  Sämtl.  W.  I  S.  277. 

*)  Grandlage  Orig.  S.  271.  Sämtl.  W.  I  S.  279. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  296.  SämtL  W.  I  S.  297. 


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172 

ihm  haben  wir,  genetisch  betrachtet,  das  erste  empirische  psycho- 
logische Produkt  des  praktischen  Ich  zu  erblicken.  .Das  Ich 
strebt  die  Unendlichkeit  anszufttllen;  zugleich  hat  es  das  Gesetz 
und  die  Tendenz  über  sich  selbst  zn  reflektieren.  Es  kann 
nicht  Über  sich  reflektieren,  ohne  begrenzt  zn  sein,  und  zwar 
in  Rücksicht  des  Triebes,  durch  eine  Beziehung  auf  den 
Trieb  begrenzt  zu  sein.  Setzet,  dafs  der  Trieb  im  Punkte  C 
begrenzt  werde,  so  wird  in  G  die  Tendenz  zur  Reflexion 
befriedigt,  der  Trieb  nach  realer  Tätigkeit  aber  beschränkt 
Das  Ich  begrenzt  dann  sich  selbst  und  wird  mit  sich  selbst 
in  Wechselwirkung  gesetzt:  durch  den  Trieb  wird  es  weiter 
hinausgetrieben,  durch  die  Reflexion  wird  es  angehalten 
und  hält  sich  selbst  an.  Beides  vereinigt  gibt  die  Äufserung 
eines  Zwanges,  eines  Nichtkönnens  ....  Die  Äufserung 
des  Nichtkönnens  im  Ich  heifst  ein  Geftthl.  In  ihm  ist 
innig  vereinigt  Tätigkeit  —  ich  fbhle,  bin  das  Fühlende, 
und  diese  Tätigkeit  ist  die  der  Reflexion  —  Beschränkung 
—  ich  fühle  bin  leidend  und  nicht  tätig;  es  ist  ein  Zwang 
vorhanden.  Diese  Beschränkung  setzt  nun  notwendig  einen 
Trieb  voraus,  weiter  hinauszugehen.  Was  nichts  weiter  will, 
bedarf,  umfafst,  das  ist,  es  versteht  sich,  für  sich  selbst  —  nicht 
eingeschränkt.''  i) 

Jenes  Streben  und  jene  Tendenz  zur  Reflexion  also,  so 
haben  wir  zu  sagen,  sind,  insofern  sie  den  eigentümlichen 
Charakter  dieses  Gefühls,  als  eines  Gefühls  des  Nichtkönnens, 
ursächlich  bestimmen,  wiederum  als  unbewufst  psychische  und 
insofern  nicht  mehr  blofs  metaphysische  Bedingungen  des 
Gefühls  für  unsere  Betrachtung  zu  bezeichnen. 

Die  in  der  Grundlage  des  theoretischen  Wissens  aufge- 
deckte unbewufst  psychische  Bedingung  der  Vorstellung,  die 
in  dem  Zustand  des  Schwebens  der  Einbildungskrafl  gegeben 
war,  ist,  wie  es  scheint,  mit  dem  Gefühl  nicht  schon  gegeben; 
die  Zuordnung  des  genetischen  Ortes  des  Gefühls  zu  dem  des 
ursprünglichen  Faktums  des  theoretischen  Wissens,  ist  bei  Fichte 
nicht  deutlich  ausgeführt  Aus  folgenden  Ausführungen  scheint 
aber  hervorzugehen,  dafs  das  Gefühl  genetisch  vor  jenem 
Faktum  des  Schwebens  der  Einbildungskraft  liegt  oder  doch 

<)  Grundlage  Orig.  S.  284f.    SSmtl.  W.  I  S.  288f. 

Digitized  by  VjOOQ IC 


173 

wenigstens  unabhängig  yon  letzterem  besteht.  .Das  Geftthl  ist 
lediglich  subjektiv.  Wir  bedürfen  zwar  zur  Erklärung  des- 
selben —  welches  aber  eine  theoretische  Handlung  ist  —  eines 
Begrenzenden,  nicht  aber  zur  Deduktion  desselben,  inwiefern 
es  im  Ich  yorkommen  soll,  der  Vorstellung,  des  Setzens  eines 
solchen  im  Ich."  ^  n^^^  Wissenschaftslehre  .  •  •  .  behauptet 
nichts  weiter,  als  eine  solche  entgegengesetzte  Krall,  die  von 
dem  endlichen  Wesen  blofs  geftthlt,  aber  nicht  erkannt  wird. 
Alle  mögliche  Bestimmungen  dieser  Kraft  oder  dieses  Nicht-Ich, 
die  in  die  Unendlichkeit  hinaus  in  unserem  BewuTstsein  vor- 
kommen können,  macht  sie  sich  anheischig,  aus  dem  be- 
stimmenden Vermögen  des  Ich  abzuleiten.^  2) 

Nehmen  wir  hinzu,  dafs  überhaupt  dem  praktischen  Ver- 
mögen die  genetische  Priorität  vor  dem  theoretischen  zukommt: 
„Ist  kein  praktisches  Vermögen  im  Ich,  so  ist  keine  Intelligenz 
möglich",^)  so  werden  wir  zu  der  Auffassang  gedrängt,  dafs 
das  „Schweben  der  Einbildungskraft^  zwar  als  unbewufst 
psychische  Bedingung  jeder  möglichen  Bestimmung  der  Kraft, 
aber  nicht  auch  schon  des  Gefühls  der  Kraft  anzusehen  ist 

Wir  fanden  als  den  ersten  Schritt  der  spontanen  Reflexion 
des  empirischen  Ich  auf  den  Zustand  der  produzierenden  Ein- 
bildongskraft  das  Fixieren  derselben  durch  den  Verstand, 
woraus  die  Realität,  die  Wirklichkeit,  der  Stoff  der  Vorstellung 
für  das  Bewnfstsein  des  Ich  hervorging.  Einen  analogen  Schritt 
weist  die  „Grundlage  des  praktischen  Wissens''  auf:  „Durch 
absolute  Spontanität,  lediglich  zufolge  des  Wesens  des  Ich, 
ohne  allen  besonderen  Antrieb'^  erfolgt,  „eine  Reflexion  auf  das 
Reflektierende*  (Fühlende).^)  „Hier  geht  die  Grenze  zwischen 
blofsem  Leben  und  zwischen  Intelligenz,  wie  oben  zwischen 
Tod  und  Leben."  ^)  „Lediglich  aus  dieser  absoluten  Spontanei- 
tät erfolgt  das  Bewnfstsein  des  Ich.  Durch  kein  Naturgesetz 
und  dnrch  keine  Folge  ans  dem  Naturgesetz,  sondern  durch 
absolute  Freiheit  erheben  wir  uns  zur  Vernunft,  nicht  durch 


^)  Grundlage  Orig.  S.  285.    S&mtl.  W.  I  S.  289. 
>)  Grundlage  Orig.  S.  272.    SSmtl.  W.  I  S.  279/80. 
*)  Grundlage  Orig.  S.  269.    Sämtl.  W.  I  S.  277. 
*)  Grundlage  Orig.  S.  296  f.    Sämti.  W.  I  S.  298. 
»)  Grundlage  Orig.  S.  297.    Sämtl.  W.  I  S.  298. 


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174 

Übergang,   Bondern  dnrch  einen   Sprang."  0     ^^^  ^^^^   ^      : 
Bewnfstsein  des  Ich  erfolge,  ist  vorerst  nur  im  nneigentliehen      | 
Sinne  zu  nehmen.    Der  Effekt  dieser  spontanen  Entwieklnngs-      j 
stafe  ist  vielmehr  znnäehst  der,  dafs  die  Realität  des  Dinges      I 
geftthlt   zu    werden   seheint.      „Hier   liegt   der   Grand    aller      I 
Realität.    Lediglich  darch  die  Beziehung  des  Oefttnls  anf  das      | 
Ich.  die  wir  jetzt  nachgewiesen  haben,  wird  Realie  für  das 
Ich  möglich,  sowohl  die  des  Ich  als  die  des  Nicht-Ich.   Etwas,      ^ 
das  lediglich  darch  die  Beziehung  eines  Gefllhls  möglieh  wird, 
ohne  dafs  das  Ich  seiner  Anschauung  desselben  sich  bewuist 
wird,  noch  bewufst  werden  kann,  und  daher  gefehlt  zu  sein 
scheint,  wird  geglaubt.   An  Realität  überhaupt,  sowohl  die  des       ; 
Ich  als  des  Nicht-Ich  findet  lediglich  ein  Glaube  statt ''^) 

Auch  hier  bleibt  es  dem  Leser  der  Wissenschaftalehre 
tiberlassen,  die  Beziehungen  zwischen  der  Theorie  des  praktischen 
und  des  theoretischen  Wissens  selbst  herzustellen.  Der  Um- 
stand, dafs  die  letztgenannte  Reflexion  auf  das  Gefühl  eine 
solche  des  intelligenten  Ichs  ist,  legt  die  Deutung  nahe,  dafs 
sie  als  eben  dieselbe  Handlung  zu  gelten  habe,  die  wir  in 
der  Grundlage  des  theoretischen  Wissens,  in  der  Handlung  des 
Verstandes,  in  dem  allein  „Realität  ist",')  kennen  lernten,  in 
der  Grundlage  des  praktischen  Wissens  nur  von  einem  anderen 
Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  nämlich  unter  Mitberttcksichtignng 
des  dabei  unterfliefsenden  Geftlbls. 

Die  weitere  Schilderung  der  Entwicklung  des  menschlichen 
Geistes,  so  wie  sie  in  der  Grundlage  des  praktischen  Wissens 
gegeben  wird,  ist  der  in  der  Grundlage  des  theoretischen 
Wissens  gegebenen  im  Einzelnen  nicht  mehr  analog.  War  hier 
die  Entwicklung  betrachtet  worden,  die  zum  Selbstbewnlstsein 
im  eigentlichen  Sinne  ftthrte,  so  kommt  dort  die  Entwicklang, 
die  zum  Bewafstsein  des  Mannigfaltigen  des  äufseren  Objekts 
fuhrt,  in  Betracht. 

Aas  dem  geschilderten  Gefühl  des  Zwanges,  oder  genauer 
dem  in  ihm  enthaltenen  Streben  oder  Trieb,  entwickelt  sich 
ein  „Sehnen'',^)  das  sich  geltend  macht  als  ein  „Trieb  zum 

')  Grandlage  Orig.  S.  297.  Sämti.  W.  I  S.  298. 

>)  Grundlage  Orig.  S.  301.  SämtL  W.  I  S.  301. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  204.  SftmtL  W.  I  S.  233. 

«)  Grandlage  Orig  S.  SOJ.  SilmÜ.  W.  I  S.  302. 


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175 

BestimmeDf  zum  Modifizieren  eines  etwas  anfser  dem  leb,  der 
doroh  das  Gefühl  ttberhanpt  sehen  gegebenen  Bealität*,^)  und 
zwar  zeigt  dieses  sieh  in  den  beiden  nun  folgenden  Ent- 
wicklungsstufen. Dadurch  entsteht,  allgemein  betrachtet,  „ein 
Gefühl  der  Begrenzung  des  Ich  nicht  dnrch  den  StoiF,  sondern 
dnreh  die  Beschaffenheit  des  Stoffes'',')  dessen  beide  Arten  in 
den  beiden  folgenden  Stufen  auftreten. 

Wie  jenem  Geftthle  des  Zwanges  ein  Streben  ttberhaupt, 
so  liegt,  so  können  wir  sagen,  diesem  Gefühl  der  Begrenzung 
durch  die  Beschaffenheit  des  Stoffes  das  Sehnen  als  unbewnfst 
psychische  Bedingung  zugrunde. 

Der  spontanen  Reflexion  auf  das  Geftthl  des  Zwanges 
analog  ist  eine  spontane  Reflexion  auf  den  Trieb  zum  Bestimmen, 
die  die  erste  von  den  beiden  eben  genannten  Entwicklungsstufen 
ausmacht  So  wie  dort  ein  Geftthl  von  der  Realität  des  Nicht-Ich, 
so  entsteht  hier  ein  „Geftthl  eines  Bestimmten,  Einfachen.''  „Aber 
dieser  Freiheit  seines  Handelns  wird  das  Ich  sich  nicht  bewufst; 
daher  wird  die  Begrenzung  des  Ich  dem  Dinge  zugeschrieben. 
Es  ist  ein  Geftthl  der  Begrenzung  des  Ich  durch  die  Bestimmtheit 
des  Dinges  oder  ein  Geftthl  eines  Bestimmten,  Einfachen." 3) 
„Warum  ist  sttfs  oder  bitter,  rot  oder  gelb  usf.  eine  einfache 
Empfindung,  die  nicht  weiter  zerlegt  wird  in  mehrere,  oder 
warum  ist  es  ttberhaupt  eine  fttr  sich  bestehende  Empfindung, 
und  nicht  blofs  ein  Bestandteil  einer  anderen?  Davon  mufs 
doch  offenbar  im  Ich,  fttr  welches  es  eine  einfache  Empfindung 
ist,  der  Grund  liegen:  in  ihm  mufs  daher  a  priori  ein  Gesetz 
der  Begrenzung  ttberhaupt  sein."^) 

Eine  weitere  Entwicklungsstufe  ftthrt  zur  Unterscheidung 
eines  gegebenen  Nicht-Ich  von  einem  anderen  Nicht-Ich.  Sie 
stellt  sich  dar  als  ein  Abbrechen  oder  Begrenzen  des  in  der 
Torigen  Stufe  tttigen  Bestimmungstriebes.  Dabei  „ist  von  einer 
Begrenzung  der  Intension  [Intention]  die  Rede,  z.  B.  von  dem,  was 
das  S&fse  vom  Sauren  u.  dgl.  scheidet^.  <^)   „Man  httte  sich  aber 

^)  Grandlage  Orig.  S.  809.    SamÜ.  W.  1  S.  807. 

•)  Grandlage  Orig.  S.  312f.    Sämtl.  W.  I  S.  309. 

*)  Grandlage  Orig.  S.  323.    S&mtl.  W.  I  S.  316. 

«)  Grandlage  Orig.  S.  316.    Sämtl.  W.  I  S.  81 1. 

»)  So  in  der  Originalausgabe  der  Grundlage  S.  323.  In  der  Gesamt- 
ansgabe von  J.  H.  Fichte  steht,  wie  mir  scheint,  weniger  zutreffend,  .Unter- 
schied des  Intensiven''  statt  «Unterschied  der  Intension".   Sämtl.  W.  I S.  3 1 8. 


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176 

an  eine  Begrenzang  im  Baame  zq  denken.^  i)  Auch  in  dieser 
Entwicklungsstufe  ist  das  Sehnen  weiter  tätig  und  kann  insofern 
„Trieb  nach  Wechselbestimmung'  oder  „Trieb  nach  Wechsel  über- 
haupt'' genannt  werden:  „Er  ist  es,  der  sich  durch  das  Sebnen 
äuTsert;  das  Objekt  des  Sehnens  ist  etwas  Anderes,  dem 
Vorhandenen  Entgegengesetztes.* 2)  Die  Befriedigung  dieses 
Triebes  ist  abhängig  von  dem  Eintreten  eines  neuen,  dem 
schon  vorhandenen  entgegengesetzten  Cef  tthls.  Durch  spontane 
Reflexion  auch  auf  diesen  Zustand  entstehen  die  spezifischen 
Gefühle  von  der  Beschaffenheit  des  Stoffes,  und  zwar  jeweilfl 
nach  dem  Gesetze:  «So  gewifs . . .  eine  Handlung  eintritt,  ist  der 
Trieb  abgebrochen  oder  begrenzt.  Dadurch  ensteht  ein  Gefühl. 
Auf  den  möglichen  Grund  dieses  Gefühls  geht  die  Handlung, 
setzt,  realisiert  ihn.*')  Im  besonderen  verläuft  die  Unter- 
scheidung zweier  Stoffe  so,  dafs  jeweils  der  gegebene  Stoff 
unmittelbar  gefühlt,  der  davon  unterschiedene  aber  blols  vor- 
gestellt, in  diesem  Sinne  angeschaut  wird.  Es  sind  „im  Ich 
notwendig  immer  zugleich  vorhanden  Anschauung  nnd  Ge- 
führ'.«) Die  ideale  Tätigkeit  kann  „ihr  Objekt  nur  dadurch 
bestimmen,  dafs  es  nicht  sei  das  Gefühlte,  dafs  ihm  alle  mög- 
lichen Bestimmungen  zukommen  können  auler  der  im  Gefühl 
vorhandenen ...  So  ist  es  allerdings.  Was  heilst  z.  B.  sOfs? 
Zuvörderst  etwas,  das  sich  nicht  auf  das  Gesicht,  das  Gehör  usf., 
sondern  auf  den  Geschmack  bezieht  Was  der  Geschmack  sei, 
müfst  ihr  schon  durch  Empfindung  wissen  und  könnt  es  euch 
durch  die  Einbildungskraft,  aber  nur  dunkel  und  negativ  (in 
einer  Synthesis  alles  dessen,  was  nicht  Geschmack  ist)  ver- 
gegenwärtigen. Ferner,  unter  dem,  was  sich  auf  den  Geschmack 
bezieht,  ist  es  nicht  sauer,  bitter  usf.,  so  viele  besonderen  Be- 
stimmungen des  Geschmacks  ihr  etwa  aufzuzählen  wifst  Wenn 
ihr  aber  auch  die  euch  bekannten  Geschmacksempfindungen 
alle  aufgezählt  hättet,  so  können  eucb  doch  immer  neue,  bis 
jetzt  euch  unbekannte,  gegeben  werden,  von  denen  ihr  dann 
urteilen  werdet:  sie  sind  nicht  süfs.    Hithin  bleibt  die  Grenze 


>)  Grundlage  Orig.  S.  823.  SämtL  W.  I  S.  318. 

*)  GrundUge  Orig.  S.  32S.  SämÜ.  W.  I  S.  320. 

')  Grundlage  Orig.  S.  838.  Sämtl  W.  I  S.  328. 

*)  Grundlage  Orig.  S.  329.  Sämtl.  W.  1  S.  321. 


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177 

zwisehen  sttfs  und  allen  eueh  bekannten  Geschmacksempfin- 
dangen  noeh  immer  unendlich  ^l) 

Die  beim  Unterscheiden  jeweils  eintretende,  der  Beschaffen- 
heit des  Stoffes  entsprechende  neue  Gefllhlslage  ist  zugleich 
damit,  dafs  sie  von  früheren  Oeftthlslagen  unterschieden  wird, 
gekennzeichnet  dnrch  ein  Gefühl  der  Befriedigung.  „Inwiefern 
es  ein  Ersehntes  und  das  Ersehnte  ist,  mufs  es  sich  auf  das 
Erstere  beziehen  und  in  Rücksicht  desselben  begleitet  sein 
Yon  einem  Gefühle  der  Befriedigung/^ 2)  „Das  Gefühl  ist  von 
Beifall  begleitet";')  „das  vorhergegangene  Gefühl  ist  . . .  not- 
wendig Yon  einem  Mifsfallen  begleitet '^^) 

Die  Darstellung  der  weiteren  Entwicklung  des  menschlichen 
Geistes,  insbesondere  der  Anschauung  des  raumzeitlich  und  kausal 
Bezogenen  ist  in  der  Grundlage  der  Wissenschaftslehre  nicht 
enthalten.  Der  Leser,  will  er  sich  darüber  orientieren,  ist  auf 
den  „Grundrifs  des  Eigentümlichen  der  Wissenschaftslehre '^ 
insbesondere  auf  die  darin  gegebene  Deduktion  des  Baumes 
und  der  Zeit  angewiesen.  Auch  hier  aber  sieht  er  sich  in  die 
Notlage  versetzt,  den  gesuchten  psychologischen  Zusammen- 
hang erschliefsen  zu  müssen,  da  in  dieser  Deduktion  die  von 
Fichte  sonst  beobachtete  Scheidung  zwischen  dem,  was  im  Ich 
für  den  Aulsenbeobachter,  wir  würden  sagen  für  die  logische 
Betrachtung,  besteht,  und  dem  was  für  das  Ich,  d.  i.  an  wirk- 
lichen Bewufstseinstatsaohen  vorhanden  ist,  vernachlässigt  vrird. 

Nur  an  einer  Stelle  finden  wir  in  der  genannten  Deduktion 
einen  schwachen  Hinweis  auf  einen  Anknüpfungspunkt  in  der 
Grundlage.  Es  heifst:  „Aufser  den  inneren  Bestimmungen  der 
Dinge,  die  sieh  aber  lediglich  auf  das  Gefühl  (des  mehreren 
oder  minderen  Gefallens  oder  Mifsfallens)  beziehen,  und  dem 
theoretischen  Vermögen  des  Ich  gar  nicht  zugänglich  sind, 
z.  B.  dafs  sie  bitter  oder  süfs,  rauh  oder  glatt,  schwer  oder 
leicht,  rot  oder  weifs  usw.  sind,  ....  sind  die  Dinge  durch  gar 
nichts  zu  unterscheiden  als  durch  den  Baum,  in  welchem  sie 
sieh  befinden.  Dasjenige  also,  was  den  Dingen  so  zukommt, 
dafs  es  ihnen  und  gar  nicht  dem  Ich  zugeschrieben  wird,  aber 

1)  Onindlage  Orig.  S.  330.  Sämtl.  W.  I  S.  321  f. 

*)  Gnindlage  Orig.  S.  333.  SämtL  W.  I  S.  324. 

>)  Grandlage  Orig.  S.  334.  Sämtl.  W.  I  S.  325. 

')  Grundlage  Orig.  S.  835.  Sämtl.  W.  I  S.  325. 

PUloflophiMhe  Abhuidlaiig«n.    XLII.  12 


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178 

doch  nicht  za  ihrem  inneren  Wesen  gehört,  ist  der  Banm^  den 
sie  einnehmen/^  1)  Nehmen  wir«  dazn  folgende  Bestimmnng, 
die  fttr  die  znletzt  betrachtete  Entwicklnngsstafe  des  mensch- 
lichen Geistes  in  der  Grundlage  gilt:  „Man  • . .  httte  sich  aber, 
an  eine  Begrenzung  im  Baume  zu  denken.  Es  ist  von  einer 
Begrenzung  der  Intension  die  Rede,  z.  B.  von  dem,  was  das 
Sttfse  vom  Sauren  n.  dgl.  scheidet^^)  so  dürfen  wir  annehmen, 
dafs  zu  dem  bisher  entwickelten  Geftthl  von  einem  realen 
Stoff,  seiner  Auffassung  als  eines  Bestimmten,  Einfachen  nnd 
endlich  der  Unterscheidung  eines  gegebenen  von  einem  anderen 
Bestandteil  des  mannigfaltigen  Stoffes  das  Bewuistsein  von 
den  raumzeitlichen  Beziehungen  des  Mannigfaltigen  des  Stoffes 
erst  auf  einer  neuen  Entwicklungsstufe  hinzutritt 

Überblicken  wir  den  logischen  Znsammenhang  der  De- 
duktion des  Baumes  und  der  Zeit  bei  Fichte,  so  können  wir 
ihn  folgendermafsen  zusammenfassen:  Denken  wir  die  von- 
einander verschiedenen  Anschauungen  als  Kräftezentren,  denen 
jeweils  eine  bestimmte  Wirkungssphäre  zukommt,  so  ist  der 
Inbegriff  aller  umkehrbaren  Beziehungen  dieser  Wirkungs- 
sphären der  Baum,  der  Inbegriff  aller  nicht  umkehrbaren  die 
Zeit.  In  diesem  Sinne  heifst  es:  „Der  unendlich  kleinste  Teil 
des  Baumes  ist  immer  ein  Baum,  etwas,  das  Kontinuitilt  hat, 
nicht  aber  ein  blofser  Punkt  oder  die  Grenze  zwischen  be- 
stimmten Stellen  im  Baume;  und  dieses  darum,  weil  in  ihm  ge- 
setzt werden  kann,  und  inwiefern  er  selbst  gesetzt  wird,  wirklieh 
durch  die  Einbildungskraft  gesetzt  wird,  eine  Kraft,  die  sieb 
notwendig  äufsert;  . . .  sie  kann  sich  aber  nicht  änfsem,  ohne 
eine  Sphäre  ihrer  ÄuTserung  zu  haben/ s)  ,  Innere  Kräfte  im 
Nicht-Ich  wirken  mit  absoluter  Freiheit,  erfttUen  ihre  Wirkungs- 
sphäre, fallen  zufällig  in  einem  Punkte  zusammen  und  schliefsen 
dadurch  gegenseitig,  unbeschadet  der  Freiheit  beider,  sich  ans 
von  ihrer  Wirkungssphäre,  oder  wie  wir  jetzt  wissen,  aus  ihren 
Bäumen/'^)  Ftlr  die  Zeit  heifst  es:  „. . .  Und  so  bekommen 
wir  eine   Beihe  Punkte,   als   synthetische  Vereinigungspunkte 

^)  ,Grundri(B  des  Eigentümlichen  der  Wissenscbaftslehre*.   Jena  und 
Leipzig  bei  Ghriatian  Ernst  Gabler  1705  S.  94f.    SämtL  W.  I  S.  401. 
')  Grundlage  Orig.  S.  323.    Sämtl.  W.  I  S.  318. 
•)  Grundrils  Orig.  S.  94.    SfonU.  W.  I  S.  400/01. 
')  GrnndriTs  Orig.  S.  99.    S&mtl.  W.  I  S.  405. 


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179 

einer  Wirksamkeit  des  Ich  und  des  Nicht- leh  in  der  An- 
schauung, wo  jeder  von  einem  bestimmten  anderen  abhängig 
ist,  der  umgekehrt  von  ihm  nicht  wieder  abhängt,  und  jeder 
einen  bestimmten  anderen  hat,  der  von  ihm  abhängig  ist,  ohne 
daTs  er  selbst  hinwiederum  von  ihm  abhänge;  kurz  eine  Zeit- 
reihe.**!) 

Folgende  Bemerkung  aus  der  Grundlage  ist  geeignet,  unser 
Verständnis  des  gesuchten  psychologischen  Zusammenhanges 
weiter  zu  führen:  „Er  (der  Bestimmungstrieb)  verlangt  Be- 
stimmtheit, vollkommene  Totalität  und  Ganzheit,  welche  lediglich 
in  diesem  Merkmale  besteht  (dafs  etwas  Bestimmtes  und  Be- 
stimmendes zugleich,  oder  durch  sich  selbst  bestimmt  sei).  Was, 
inwiefern  es  Bestimmtes  ist,  nicht  auch  zugleich  das  Be- 
stimmende ist,  ist  insofern  Bewirktes,  und  dieses  Bewirkte  wird, 
als  etwas  Fremdartiges,  vom  Dinge  ausgeschlossen,  durch  die 
Grenze,  welche  die  Beflexion  zieht,  abgesondert  und  aus  etwas 
anderem  erklärt  Was,  inwiefern  es  bestimmend  ist,  nicht  zu- 
gleich das  Bestimmte  ist,  ist  insofern  Ursache,  und  das  Be- 
stimmen wird  auf  etwas  anderes  bezogen,  und  dadurch  aus 
der  dem  Dinge  durch  die  Reflexion  gesetzten  Sphäre  aus- 
geschlossen. Nur,  inwiefern  das  Ding  mit  sich  selbst  in  Wechsel- 
wirkung steht,  ist  es  ein  Ding,  und  dasselbe  Ding.  Dieses 
Merkmal  vrird  durch  den  Bestimmungstrieb  aus  dem  Ich  heraus 
übertragen  auf  die  Dinge."  2) 

In  analoger  Weise  also,  so  dürfen  wir,  im  Sinne  Fichtes 
konstruierend,  fortfahren,  wie  auf  einer  früheren  Entwicklungs- 
stufe, nämlich  der  Auffassung  der  durch  das  Gefühl  bereits 
gegebenen  Bealität  als  eines  Einfachen,  Bestimmten,  die  Wechsel- 
wirkung des  Dinges  mit  sich  selbst  durch  den  Bestimmungstrieb 
ans  dem  Ich  heraus  übertragen  wird  auf  die  Dinge,  haben  wir 
auf  der  Stufe  der  Entwicklung  der  ranmzeitlichen  Beziehungen 
anzunehmen,  dafs  auch  die  „sich  ausschlielsenden'^  kausalen 
Beziehungen  durch  den  Bestimmungstrieb  aus  dem  Ich  heraus 
auf  die  Dinge  übertragen  werden.  Diese  Handlung  des  Ich  ist 
damit,  hier  ebenso  wie  dort,  zunächst  nur  für  einen  «möglichen 
Anfsenbeobachter'  beschrieben.  Aber  sie  hat  weiterhin  als  eine 


>)  Gmndriis  Orig.  S.  104  f.    Sämtl.  W.  I  S.  408/09. 
*)  Grundlage  Orig.  S.  315f.    SSmti.  W.  I  S.  311. 

12* 


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180 

nnbewurste  Bedingung  ftir  das  ans  ihr  Tesnltierende  bewalMe 
Produkt  zu  gelten,  yom  Standpunkte  unserer  psyehologiseh  ein- 
gestellten Betrachtung  aus  gesehen;  denn  es  gilt  allgemein:  ,,Ia* 
wiefern  das  leh  reflektiert,  reflektiert  es  nicht  ttber  dieses  Beflek- 
tieren selbst;  es  kann  nicht  zugleich  auf  das  Objekt  handeln  und  auf 
dieses  sein  Handeln  handeln;  es  wird  demnach  der  aufgezeigten 
Tätigkeit  sich  nicht  bewuürt,  sondern  yergilst  sich  selbst 
gänzlich  und  verliert  sich  im  Objekt  derselben'.^)  Das  be- 
deutet also  hier,  dafs  das  Ich  die  Elemente  des  Mannigfaltigen  des 
sinnlichen  Stoffes  als  wechselseitig  oder  einseitig  kausal  bestimmt, 
d.  i.  als  räumlich  und  zeitlich  aufeinander  bezogen  auffaTst. 

Überblicken  wir  nun  auch  den  Entwicklungsgang,  den  der 
menschliche  Geist  nach  der  Darstellung  der  Grundlage  des 
praktischen  Wissens  nimmt,  so  haben  ?rir  zu  sagen:  Die 
genetisch  betrachtet  erste  Bewufstseinstatsache  ist  das  „Geftthl 
des  Zwanges*.  Es  führt  zur  Anschauung  des  Bealen  als 
des  gegebenen  Stoffes.  Unter  dem  Antrieb  des  „Sehnens" 
wird  das  Mannigfaltige  dieses  Stoffes  bestimmt,  sowohl  nach 
der  relativen  Einfachheit  seiner  Elemente  hin  als  nach  dem 
Unterscheidenden  der  Elemente  untereinander,  hier  sowohl 
ihrer  Qualität  nach,  als  auch  nach  ihren  kausalen  und  damit 
raumzeitlichen  Beziehungen. 

Dieses  Ergebnis  unserer  Prüfung  der  psychologischen  Voraus- 
setzungen der  Deduktionen  Fichtes  findet  auch  im  „Grundrifs 
des  Eigentümlichen  der  Wissensohaftslehre"  kaum  eine  Be- 
reicherung. Einiges  aus  demselben,  das  dem  Zweck  unserer 
Untersuchung  dient,  sei  noch  angeführt 

Eine  Schwierigkeit  für  das  Verständnis  des  Zusammen- 
hanges zwischen  Grundrifs  und  Grundlage  bereitet  der  eigen- 
tümliche Gebrauch  des  Wortes  Empfindung  im  Grundrifs. 
Empfindung  ist  hier  „die  Beziehung  der  im  Widerstreite  be- 
findlichen Tätigkeit  auf  das  Ich''.^)  Diese  «Beziehung  heifst 
Empfindung,  gleichsam  Insichfindung.  Nur  das  Fremdartige 
wird  gefunden  . . .  Die  aufgehobene  vernichtete  Tätigkeit  des 
Ich  ist  das  Empfundene*.')   Vergegenwärtigen  wir  uns,  dals 


1)  Grundrifs  Orig.  S.  45.  SSmtL  W.  I  8.  864. 
*)  GrundrilB  Orig.  S.  10.  SSmtL  W.  I  S.  338. 
•)  Grundrife  Orig.  S.  11.    S&mti.  W.  I  S.  339. 


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181 

die  Tätigkeit  des  Empfindens  hier  eine  solche  des  beziehenden, 
also  spontan  tätigen  Ich  ist,  nnd  dafs  das  Empfundene,  da 
das  leh  sieh  seiner  Tätigkeit  des  Empfindens  nicht  unmittelbar 
im  Empfinden  bewufst  ist,  vom  Ich  dem  Nicht-Ich  zugeschrieben 
wird,  so  kommen  wir  zu  dem,  zwar  paradox  klingenden  Er- 
gebnis, dafs  das  Empfinden  im  „Grundrisse^  analog  ist  dem 
„Verstände"  in  der  „Grundlage".  So  verstehen  wir  den  Hin- 
weis in  der  Ableitung  der  Empfindung  auf  die  Grundlage,  der 
lautet:  „Es  wurde  schon  in  der  Grundlage  erinnert,  dafs  wenn 
der  Widerstreit  je  im  Ich  gesetzt  werden  und  aus  demselben 
etwas  weiteres  folgen  solle,  durch  das  blofse  Setzen  der  Wider- 
streit, als  solcher,  das  Schweben  der  Einbildungskraft  zwischen 
den  Entgegengesetzten,  aufhören,  dennoch  aber  die  Spur 
desselben,  als  ein  etwas,  als  ein  möglicher  Stoff,  ttbrig  bleiben 
mttsse",>)  eben  das  also,  als  dessen  «Behälter''  in  der  Grundlage 
der  Verstand  genannt  wird.  Das  Paradoxklingende  wird  unserem 
Verständnis  näher  gebracht  durch  eine  Bemerkung  aus  der 
Grundlage.  Dort  heilst  es:  „Ein  Geflihl  wird  durch  ideale 
Tätigkeit  gesetzt  Dies  läfst  sich  nur  folgendermafsen  denken: 
Das  Ich  reflektiert  ohne  alles  Selbstbewufstsein  ttber  eine  Be- 
schränkung seines  Triebes.  Daraus  entsteht  zuvörderst  ein 
Selbstgefühl.  Es  reflektiert  wieder  ttber  diese  Reflexion,  oder 
setzt  sich  in  derselben  als  das  Bestimmte  und  Bestimmende 
zugleich.  Dadurch  wird  nun  das  Fühlen  selbst  eine  ideale 
Handlung,  indem  die  ideale  Tätigkeit  darauf  übertragen  wird. 
Das  Ich  fühlt,  oder  richtiger,  empfindet  etwas,  den  Stoff,  eine 
Reflexion  .  .  .  durch  welche  ,X'  erst  Objekt  wird.  Durch  die 
Reflexion  ttber  das  Geftthl  wird  dasselbe  Empfindung."^) 
Auch  hier  also  tritt  die  Empfindung  als  eine  Stufe  spontaner 
Refiexion  auf.  Nur  ist  sie  hier  im  Hinblick  auf  das  praktische 
Vermögen  des  Ich,  das  Geftthl  gekennzeichnet,  während  sie  im 
Grundrils  nach  ihrer  Beziehung  zu  dem  theoretischen  Vermögen, 
der  schwebenden  Einbildungskraft  bestimmt  wird. 

Es  liegt  deshalb  nahe  so  zu  interpretieren,  dafs  Em- 
pfindung im  weitesten  Sinne  bei  Fichte  der  Inbegriff  der 
durch  den  Verstand  vollzogenen  Anschauung  des  Realen  ist. 


>)  OnmdrilB  S.  7.    Sämtl.  W.  I  S.  335/36. 
')  Onindlage  S.  382.    S&mtl.  W.  1  S.  323. 


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182 

Damit  BÜmmt  ttbereia  eine  Bemerkung,  die  sieh  in  der 
.Zweiten  Einleitung  in  der  WisBensehaftslehre '  ans  dem 
Jahre  1797  findet,  und  die  lautet:  «Ans  der  Möglichkeit  des 
Ich  ist  die  Notwendigkeit  einer  Beschränktheit  desselben  über- 
haupt abgeleitet  worden.  Die  Bestimmtheit  derselben  aber 
kann  daher  nicht  abgeleitet  werden  .  .  .  Diese  Bestimmtheit 
erscheint  als  das  absolut  Zufällige  und  liefert  das  blofs 
Empirische  unserer  Erkenntnis, Diese  meine  Beschränkt- 
heit in  ihrer  Bestimmtheit  offenbart  sich  in  Beschränkung 
meines  praktischen  Vermögens  . . .  und  die  unmittelbare  Wahr- 
nehmung derselben  ist  ein  Gefühl,  so  nenne  ich  es  lieber,  als 
Kant  Empfindung.  Empfindung  wird  erst  durch  die 
Beziehung  auf  einen  Gegenstand  vermittelst  des 
Denkens:  das  Gefühl  des  Sttfsen,  Roten,  Kalten  und  dgl.^^) 
Vom  Standpunkt  dieser  Interpretation  aus  erweist  sich 
leichty  da£s  die  Ausdrücke  Anschauen  und  Intelligenz  im  Grund- 
rifs  in  einem  engeren  Sinne  gebraucht  werden  als  in  der 
Grundlage.  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  darauf  im  Einzelnen 
einzugehen.  Unsere  Interpretation  des  Ausdrucks  Empfindung, 
wie  er  in  den  bisher  besprochenen  Werken  Fichtes  auftritt, 
führt  uns  zu  einer  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Stelle, 
die  die  spezifischen  Sinnesempfindungen  in  seinem  System 
einnehmen.  Ist  die  Empfindung  das  auf  einen  Gegenstand 
bezogene  Gefühl,  so  fliefst  daraus,  dafs  das,  was  landläufig 
als  die  spezifischen  Unterschiede  der  Sinnesempfindungen 
bezeichnet  wird,  bei  Fichte  in  den  Unterschieden  der  Gefühle 
gegeben  ist.  Die  spezifischen  Unterschiede  der  Gefühle  aber 
werden  in  seinem  System  nicht  deduziert,  vielmehr  lediglich 
eine  Mannigfaltigkeit  der  Gefühle.  In  diese  fliefsen  ihre 
spezifischen  Unterschiede  unbesehen  mit  ein.  Folgende  Be- 
merkung zeigt  dies  im  besonderen:  «Der  Bestimmungstrieb 
hat  demnach,  so  gewifs  das  Ich  Ich  ist,  keine  KansalitiLt 
Davon  aber  kann,  ebensowenig  wie  oben  beim  Streben  über- 
haupt, der  Grund  nicht  in  ihm  selbst  liegen;  denn  dann  wäre 
er  kein  Trieb:  mithin  in  einem  Gegentriebe  des  Nicht- Ich,  sich 
selbst  zu  bestimmen,  in  einer  Wirksamkeit  desselben,  die  völlig 
unabhängig  von  dem  Ich  und  seinem  Triebe  ist,  ihren  Weg 


1)  S&mtL  W.  I  S.  489  f. 


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183 

geht,   und   nach  ihren  Gesetzen  sich  richtet,  wie  dieser  sich 
nach  den  seinigen  richtet 

Ist  demnach  ein  Objekt,  and  sind  Bestimmungen  desselben 
an  sich,  d.  i.  durch  die  eigene  innere  Wirksamkeit  der  Natur 
henrorgebrachte  ...  ist  ferner  die  ideale  (anschauende)  Tätig- 
keit des  Ich  durch  den  Trieb  hinausgetrieben,  ...  so  wird 
und  mufs  das  Ich  das  Objekt  bestimmen.  Es  wird  in  dieser 
Bestimmung  durch  den  Trieb  geleitet,  und  geht  darauf  aus,  es 
nach  ihm  zu  bestimmen.  Es  steht  aber  zugleich  unter  der  Ein- 
wirkung des  Nicht-Ich,  und  wird  durch  dasselbe,  durch  die  wirk- 
liche Beschaffenheit  des  Dinges  begrenzt,  dasselbe  in  höherem 
oder  niederem  Grade  nicht  nach  dem  Triebe  bestimmen  zu 
können. 

Durch  diese  Beschränkung  des  Triebes  wird  das  Ich 
begrenzt;  es  entsteht,  wie  bei  jeder  Begrenzung  des  Strebens 
und  auf  die  gleiche  Art  ein  Gefühl,  welches  hier  ein  Gefühl 
der  Begrenzung  des  Ich,  nicht  durch  den  Stoff,  sondern  durch 
die  Beschaffenheit  des  Stoffes  ist*0 

Diese  Ausführungen  sind  verständlich,  wenn  einer  Hehrheit 
von  Gef&hlen  eine  Mehrheit  von  Anstöfsen  des  Nicht- Ich 
korrespondierend  angenommen  wird,  wenngleich  auch  diese 
Folgerung  von  Fichte  nicht  ausdrücklich  gezogen  wird.  Un- 
verstilndlich  aber  sind  sie,  insofern  infolgedessen  die  Anstöfse 
des  Nicht-Ich  spezifisch  voneinander  verschieden  sein  mttfsten ; 
diese  Forderung  mttfste  aber  erfttllt  sein,  wenn  das  Ich  die 
ihnen  entsprechenden  spezifischen  Unterschiede  der  Geftthle 
setzen  soll 

Sehen  wir  von  dieser  Schwierigkeit  innerhalb  des  Gedanken- 
ganges Fichtes  ab,  so  können  wir  aus  dem  bisher  Dargestellten 
folgenden  Schlufs  ziehen:  Auch  bei  Fichte  ist  die  empirische 
Anschauung  nicht  sensual,  sondern  intellektuaL  Alles  dasjenige 
ist  in  ihr  Produkt  des  Intellektes  im  weiteren  Sinne,  was  in 
ihr  mehr  enthalten  ist  als  die  blofsen  Geftthle. 

Eine  etwas  mehr  auf  das  empirische  Bewufstsein  abge- 
stimmte Auspiilgung  der  Gedanken  Fichtes  ttber  den  Bestand 
^d  das  Zustandekommen  der  Wahrnehmung  findet  sich  in 
«iuem  späteren  Werke,  den  .Tatsachen   des  Bewufstseins ''• 

>)  Qnmdlage  S.  S12/13.    SämÜ.  W.  I  S.  308/09. 


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184 

Dort  heilst  es  von  dem  Bewafstsein  der  Wahmehmimg:  „Ee 
findet  in  demselben  sieh  folgendes:  Erstens  eine  Affektion  des 
äufseren  Sinnes,  welche  durch  folgende  Merkmale  aasgesprochen 

wird:  Rot,  helltOnend,  bitter,  kalt  nsw Zweitens  Ans- 

debnnng  im  Banme.*^^)  Aber  „es  wird  in  nnmittelbarer  Ver- 
einigung mit  dem,  was  in  aller  äufseren  Wahrnehmung  wir 
als  Anschauen  erkannt  haben,  auch  noch  gedacht, 
und  durch  dieses  Denken  eben  und  durch  die  unabtrenn- 
liche  Vereinigung  dieses  Denkens  mit  der  Anschauung  zu 
einem  innig  verschmolzenen  Lebensmomente  des  Anschauenden 
wird  das,  was  eigentlich  in  ihm  wäre  [Sinnesempfindung  und 
Anschauung  des  Baumes]  zu  einem  etwas  aufser  ihm,  zu  einem 
Objekte."  3)  Mit  Beziehung  auf  das  praktische  Vermögen  heiüst 
es  ferner:  „Wir  betrachteten  das,  was  wir  früher  äuisere  Wahr- 
nehmung nannten,  in  seiner  eigenen  Dreifachheit  als  ein  ftlr 
sich  Bestehendes  und  Abgesondertes.  Hier  finden  wir  es  selbst 
als  ein  bloüses  Glied  eines  grOiseren  organischen  Ganzen,  des 
Bewufstseins.  Die  synthetische  Periode  nämlich ....  besteht  aus 
folgenden  drei  Hauptbestandteilen:  1.  aus  einem  Gefühle,  des 
Triebes  nämlich,  2.  aus  einer  Anschauung,  des  realen  Ver- 
mögens nämlich,  des  Vermögens  einer  Kausalität  in  der  Sphäre 
des  Seins  (d.  i.  des  Vermögens,  durch  eine  Reihe  von  Be- 
dingungen hierdurch  in  der  Zeit  zum  beabsichtigten  Ziele 
fortzuschreiten,^)  kurz  das  Zeitbewulstsein),  3.  aus  einem  Bilde 
des  Widerstandes.  Da  dieses  Bild  entworfen  wird  durch  die 
freie  und  absolut  produktive  Einbildungskraft,  zwar  ohne 
Bewufstsein  der  Freiheit,  so  können  wir  das  ganze  Gesehäft 
in  diesem  Bilden  sehr  fttglich  nennen  ein  Denken,  indem 
durch  die  veränderte  Ansicht  selbst  dasjenige,  was  frtther  uns 
als  Affektion  durch  den  Sinn  und  als  Anschauung  erschien, 
mit  in  dieselbe  Sphäre  fällt''«)  Das  Bild  des  Widerstandes 
im  besonderen  enthält  Ausdehnung,   Materie,   die    sich   als 


1)  Johann  Goitlieb  Fichte,  Die  Tatsachen  des  BewuiatBefais,  VorlesangeD, 
fehalten  an  der  Universität  an  Berlin  im  Winterhalbjahr  1810—1 1.  Stuttgart 
und  Tübingen  in  der  Cottaiachen  Bachhandlang  1817  S.6/7.  SSmtl.W.l 
S.  {^42/48. 

*)  Die  Tatsachen  des  Bewalstseins,  Orig.  S.  1 1/12.   SftmÜ.  W.  II  S.  546. 

•)  Die  Tatsachen  des  Bewofstseins,  Orig.  S.  66.    Sämtl.  W.  II  8. 585. 

*)  Die  Tatsachen  des  Bewuiatseint,  Orig.  S.  72.    SXmtL  W.  U  S.  5&9. 


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185 

Undurelisiolitigkeit  and  UndnrchdriDglichkeit  darstellt,  and 
QaaUtäi^)  Über  die  BeBtimmang  dieses  Bildes  des  Wider- 
standes als  einer  Fnnktion  des  Denkens  heilst  es  weiter:  „Wir 
haben  die  äoisere  Wahmehmong  ttberhanpt  genannt  ein  Denken; 
früher  haben  wir  gesagt,  sie  sei  eine  Produktion  durch  absolute 
Bildungskraft.  Inwiefern  es  uns  nun  mit  beiden  rechter  Ernst 
ist,  wie  es  denn  allerdings  ist,  so  ist  uns  alles  Denken  pro- 
duzierend durch  absolute  Bildungskraft,  und  umgekehrt  .... 
Oben  beschrieben  wir  das  Denken  als  ein  Herausgehen  aus 
dem  inneren  und  unmittelbaren  Bewnfstsein.  Das  Innere  aber 
ist  Geftthl  und  Anschauung,  beides  als  unmittelbares  Sein  der 
Freiheit  und  so  unmittelbares  Bewnfstsein.  Aus  diesem  wird 
durch  Denken  herausgegangen  ...  Da  dies  aber  ein  Herans- 
gehen aus  dem  unmittelbaren  Bewnfstsein  ist,  so  mufs  es  sein 
ein  Bilden,  und  zwar  ein  absolutes  Bilden,  ein  reines  Erschaffen 
eines  neuen  Bewulstseins  .  .  .  Hier  insbesondere  wird 
gedacht  ein  Widerstand  gegen  die  produktive 
Einbildungskraft,  oder  das  Denken  selbst  in 
seiner  allgemeinsten  Form;  also  es  liegt  hier  das 
absolut  erste  Denken.  Die  produktive  Einbildungskraft 
produziert  sich  selbst,  es  versteht  sich  im  Bilde,  und  bildet 
dieser  also  produzierten  einen  Widerstand.  Dies  ist  mit 
kurzem  die  hier  vorkommende  Funktion  des  Denkens,  oder 
der  absoluten  Bildungskraft.'' ^^ 

Hier  also  tritt  als  erste  Handlung  des  Denkens  in  der 
Anschauung  das  Denken  eines  Widerstandes  aufser  uns  auf. 
Auch  hier  ttberläfst  es  Fichte  dem  mühsam  suchenden  Leser, 
einen  Anknüpfungspunkt  dieser  Wendung  des  Gedankens  an 
frühere  Darstellungen  zu  finden.  In  der  „Grundlage''  be- 
gegneten wir  schon  dem  Gedanken:  .Das  Objekt  wird  gedacht 
als  Ursache  von  einem  Leiden  im  Anschauenden  als  seinem 
Effekt*  3)  Dieses  Denken  des  Objekts  als  einer  Ursache  tritt 
aber  hier,  wie  oben  ausgeführt  wurde,  nicht  als  die  genetisch 
erste  Handlung  des  Denkens,  d.  h.  hier  «der  Bestimmung  eines 


')  Die  Tatsachen  des  BewufBtseins,  Orig.  S.  70.    Sämtl.  W.  11  S.  587. 
3)  Die  Tatsachen  des  Bewafstaeins,  Orig.  S.  78f.  Sämtl.  W.  II  S.  698/94. 
Die  leiste  Sperrung  findet  sieh  nicht  im  Originaltext 
')  Onindlage  Orig.  S.  215.    Sftma  W.  1  S.  241. 


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186 

fixierten  Produkts  der  EinbilduDgskraft  im  Verstände*  i)  auf, 
sondern  es  gehen  noch  zwei  Stufen  vorher,  nämlich  erstens  die 
Bestimmnng  dieses  Produktes  als  unter  einer  Bedingung  über- 
haupt, und  zweitens  als  unter  einer  notwendigen  Bedingung 
stehend;  an  dritter  Stelle  erst  wird  es  als  ursächliche  Bedingung 
erfafst.  Diese  Ausführungen  vndersprechen  den  in  den  „Tat- 
sachen des  Bewufstseins''  gegebenen  dann  nicht,  wenn  wir  hier 
den  Ausdruck  .das  erste  Denken'  in  dem  weiteren  Sinne 
nehmen,  dafs  es  jene  Vorstufen  mitenthalte.  Ja  sogar  dttrfen 
wir  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  auch  „das  Fixieren 
eines  Produktes  der  Einbildungskraft  im  Verstände'',  das  in 
der  Grundlage  des  theoretischen  Wissens  die  genetisch  erste 
Quelle  des  Bewnfstseins  von  etwas  Bealem  ist,  mit  hineinziehen; 
denn  auch  dieses  ist  ein  Akt  der  Spontaneität  In  gleicher 
Weise  haben  wir  in  der  Grundlage  des  praktischen  Wissens 
schon  die  Beflexion  auf  das  , Gefühl  des  Nichtkönnens",  durch 
die  der  „Glaube  an  die  Bealität''  eines  Dinges  aufser  uns  ent- 
steht, weil  auch  sie  spontan  erfolgt,  mit  in  das  Denken  hinein- 
zunehmen.  Wir  dttrfen  das  auch  deshalb,  weil  sich  nirgends 
in  den  .Tatsachen  des  Bewufstseins*  ein  Anlafs  bietet,  die 
Voraussetzungen  der  früheren  Darstellungen  fallen  zu  lassen. 
Wir  ge?rinnen  vielmehr  den  Eindruck,  dafs  die  „Tatsachen  des 
Bewnfstseins''  nur  eine  im  Hinblick  auf  das,  was  fttr  den 
„allgemeinen  Menschenverstand"  von  Bedeutung  ist,  kom- 
primierte Darstellung  dessen  enthalte,  was  in  weitläufigerer 
Weise  in  den  früheren  Werken  dargelegt  wurde.  In  diesem 
Sinne  heifst  es  z.  B.:  „Der  Ausdruck  (äufsere  Gregenstände) 
wird  hier  ganz  so  gebraucht,  wie  der  allgemeine  Menschen- 
verstand ihn  nimmt,  Gegenstände,  welche  als  aufser  uns  im 
Baume  befindlich  wahrgenommen  werden."  2)  Derjenige  Leser 
der  „Tatsachen  des  Bewufstseins"  aber,  der  auf  einen  Vergleich 
mit  den  Gedankengängen  der  früheren  Abhandlungen  Fiehtes 
nicht  eingestellt  ist,  gewinnt  leicht  den  Eindruck,  dafs  nach 
Fichte  die  an  sich  subjektiven  Sinnesempfindungen  dadurch 
den  Charakter  der  Objektivität  gewinnen,  dafs  sie  unmittelbar 
auf  eine  Ursache  im  Nicht-Ich  bezogen  werden. 


1)  Grundlage  Orig.  S.  214.    Sämti.  W.  I  S.  240. 

*)  Die  Tatsachen  des  Bewufstseins,  Orig.  S.  6.    SSmtl.  W.  II  S.  542. 


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187 

Das  aber  ist  im  Prinzip  derselbe  Gedanke,  der  bei 
Scbopenhaner  die  Intellektnalität  der  empirisehen  Ansehan- 
nng  begrttndet  Ja,  ancb  die  «Grandlage'  enthält  einen 
diesem  Gedanken  Sehopenhaners  nahe  verwandten  Gedanken, 
nämlich  in  dem  «Glauben*  an  die  Realität  desjenigen  im 
Nicht-Ich,  worauf  «das  Gefühl  des  Zwanges,  des  Nicht- 
könnens*  bezogen  wird.  Auch  hierin  zeigt  sich  eine  ursprüng- 
lich kausale  Deutung  des  aufser  uns  Wirklichen,  das  allerdings 
nur  erst  gefühlsmäfsig,  noch  nicht  vorstellungsmäfig  erfafst 
wird.  Es  sei  noch  angemerkt,  dafs  auch  in  dem  Manuskript 
Schopenhauers  zu  der  Vorlesung  Fichtes  „Über  die  Tatsachen 
des  Bewufstseins''  aus  dem  Winter  1811—1812  sich  einige 
Stellen  finden,  die  auf  den  erwähnten  verwandten  Gedanken 
hinzielen.  Es  heilst  hier:  „Das  reale  Handeln  ist  wie  die 
Beproduktion  in  der  Anschauung.  Wie  die  Reproduktion  ein 
ideales  Zusammensetzen,  Trennen  und  Vereinigen  des  im 
Raum  gegebenen  Mannigfaltigen  ist,  so  ist  das  Handeln  dies 
alles  real:  bringt  wie  jene  die  Dinge  in  eine  neue  Ordnung. 
Dabei  wird  vorausgesetzt^  das  loh  könne  in  den  Raum  ein- 
dringen. Das  Ich  in  seiner  Wirksamkeit  kann  nur  das  ordnen, 
was  in  der  Wahrnehmung  gegeben  ist,  und  das  ist  die  Materie: 
diese  ist  die  Ausgedehntheit  der  Qualität  Zu  diesen 
ihren  beiden  Bestandteilen  (Ausgedehntheit  und  Qualität),  die 
die  reproduzierten  Bilder  auch,  wiewohl  von  der  Qualität  nur 
den  Begriff,  haben,  kommt  als  von  diesen  sie  unterscheidendes 
Merkmal,  ihr  absolutes  Bestehen  der  Freiheit  des 
Ich  gegenüber,  1)  d.h.  ihre  Unyertilgbarkeit:  Die  Materie 
ist  absolut  gegeben,  es  kann  keine  Materie  im  Weltall  vertilgt, 
noch  welche  hinzugetan  werden.  Das  Ich  kann  sie  nur  trennen 
und  vereinen.  Gegen  das  Bestreben  des  Ich  dies  zu  tun,  in  sie 
einzudringen,  zieht  sich  die  Materie  zusammen  und  darum  (?1)2) 
ist  Materie  so  weit  als  die  Wahrnehmung  reicht  Durch  den 
Konflikt  des  Ich  gegen  die  widerstehende  Materie  entsteht  die 
Zeit  Der  Widerstand  der  Materie  gegen  die  trennende  Kraft 
desieh  ist  dieKohäsion:  Schwere  ist  nur  eine  Erscheinung 
derselben,  ist  Widerstand  gegen  Bewegung  überhaupt:  Kohäsion 


0  Diese  Stelle  ist  im  Originaltext  nicht  unterstrichen. 
')  Auch  im  Originaltext  sind  diese  Zeichen  vorhanden. 


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188 

ist  der  Grund  derselboD.  Beide  sind  apriorische  An- 
sehauungsformen  der  Materie,  nnd  enthalten  gar- 
nichts  Empirisches.^  0 

^Das  Handeln  wird  angeschaut  nicht  ohne  ein  ihm  Wider- 
stehendes: dies  ist  aber  eben  die  Wahmehmungswelt:  diese  ist 
also  Form  einer  Ersichtlichkeit  des  Seins.  Alles  ist  also  nur 
Anschannngsform  der  Grondanschaanng  des  Handelns.'' 2) 

Es  erhebt  sich  da  die  Frage,  ob  die  Lehre  Fichtes  als 
eine  unmittelbare  historische  Voraussetzung  für  die  Lehre 
Schopenhauers  anzusehen  sei.  Ein  äufserer  Grund  läfst  dies 
von  vornherein  wahrscheinlich  werden,  der  nämlich,  dafs 
Schopenhauer  im  Wintersemester  1811/12  in  Berlin  eben  die 
Vorlesung  Fichtes  ttber  die  Tatsachen  des  Bewufstseins  hörte, 
die  im  Wesentlichen,  wie  aus  dem  Manuskript  Schopenhauers 
zu  dieser  Vorlesung  zu  erkennen  ist,  mit  der  im  Winter  1810/11 
gehaltenen  und  im  Jahre  1817  veröffentlichten  Vorlesung  Fichtes 
Ober  denselben  Gegenstand  ttbereinstimmt  Auch  die  „Grund- 
lage'' war  Schopenhauer  bekannt  Die  Annahme  einer  Ab- 
hängigkeit aber  bedarf  einer  wesentlichen  Einschränkung.  Fttrs 
Erste  fanden  wir  im  Prinzip  schon  bei  Kant  und  in  speziellen 
Punkten  schon  bei  G.  E.  Schulze  die  Lehre  Schopenhauers  von 
der  empirischen  Anschauung  angelegt,  und  es  wurde  uns  be- 
greiflich, wie  von  hier  aus  Schopenhauers  Gedankenentwicklung 
iEren  Anfang  nehmen  konnte.  Sodann  ist  in  der  ersten  Auflage 
des  Satzes  vom  Grunde  vom  Jahre  1813  trotz  der  Kenntnis  der 
Lehre  Fichtes  der  Gedanke  der  Intellektualität  der  empirischen 
Anschauung  zwar  schon  angelegt,  aber  noch  nicht  in  der 
spezifischen  Form  der  späteren  Lehre  Schopenhauers  ausgeprägt 
Denn  in  jener  Erstlingsschrift  Schopenhauers  bleiben  der  Kausali- 
tät die  Realität  nnd  die  anderen  Kategorien  Kants  noch  gleich- 
geordnet Die  spätere  Fassung  des  Gedankens  der  Intellek- 
tualität d^r  Anschauung,   derzufolge  die  Bealitilt  der  Wahr- 


>)  Arthur  Schopenhauers  NachlftTs  Nr.  6,  Über  die  Tatsachen  des 
Bewofiitseins,  und  die  Wissenschaftalehre  bey  Fichte  im  Winter  1811 
—1812.  F.  7.  Die  gesperrten  Stellen  sind  au&er  der  einen,  von  der  es 
oben  angemerkt  ist,  im  Originaltext  unterstrichen.  Die  Unterstreichungen 
von  „EohUsion^  an  sind  mit  Bleistift  ausgeführt  und  deshalb  wahrscheinlich 
späteren  Datams  als  die  Niederschrift  des  Manuskriptes. 

s)  Ebenda  F.  9. 


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189 

nehmnog  lediglieb  kausal  za  deuten  ist,  ist  es  aber  erst,  die 
dem  erwähnten  Gedanken  Fichtes  in  den  „Tatsachen  des 
Bewoistseins^  verwandt  ist  Eine  unmittelbare  Übernahme 
dieses  Gedankens  Fichtes  durch  Schopenhauer  scheint  demnach 
ausgeschlossen.  Die  Entwicklung  der  Lehre  Schopenhauers 
von  der  empirischen  Anschauung  von  der  ersten  Auflage  des 
Satzes  vom  Grunde  zur  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und 
Vorstellung  hin  fanden  wir  aber  aus  immanenten  Grttnden 
heraus  verständlich.  Dazu  kommt  femer,  dafs  die  ganze  Ge- 
dankenrichtung Schopenhauers  in  der  Lehre  von  der  empirischen 
Anschauung  eine  so  durchaus  anders  gerichtete,  weil  psycho- 
physiologisch orientierte,  ist,  dafs  ihm  das  Interesse  an  den 
Deduktionen  Fichtes  völlig  fernliegt  Aus  diesen  Grttnden 
rnnfs,  auch  wenn  ein  anregender  Einflafs  von  Seiten  Fichtes 
angenommen  werden  darf,  die  Gedankenfllhrung  Schopenhauers 
als  selbständige  bezeichnet  werden.  Die  Selbständigkeit  der 
GedankenfUhmng  Schopenhauers  gegenüber  der  Fichtes  zeigt 
sich  auch  in  der  Lehre  von  der  Materie.  Die  zitierte  Stelle 
aas  dem  Manuskript  Schopenhauers  zu  Fichtes  Vorlesungen 
enthält  zwar  im  wesentlichen  schon  die  kausale  Deutung  der 
Materie,  jedoch  als  Deduktion  aus  der  Lehre  Fichtes  von  dem 
frei  strebenden  Ich  und  insofern  mit  einer  fttr  Schopenhauer 
unannehmbaren  Begründung.  Die  Ableitung  der  Materie  aber 
aas  der  Vereinigung  von  Raum  und  Zeit  durch  die  Kausalität 
ist  Schopenhauer  durchaas  eigentümlich.  Die  prinzipielle 
Fassung  des  Begriffs  Materie,  die  wir  bei  Schopenhauer  an- 
treffen, finden  wir  bei  Fichte  nicht  Anderseits  hat  die  Ab- 
leitung des  Baumes  und  der  Zeit  aus  den  Beziehungen  der 
Eräftesphären  zueinander  bei  Schopenhauer  kein  Analogen. 
Auch  liegen  die  feinen  und  wie  es  scheint  auch  auf  Selbst- 
beobachtung beruhenden  Unterscheidungen,  die  Fichte,  in 
modemer  Wendung  gesprochen,  für  die  Bewafstseinsstufön  ^) 
des  Wahrnehmens  macht,  das  Fühlen  eines  Zwanges,  das 
Glauben  an  etwas  Reales,  das  Sehnen,  dieses  zu  bestimmen, 
das  Erfassen  desselben  als  eines  Einfachen,  fernerhin  eines 
Unterschiedenen  bis  hin  zur  raumzeitlichen  Beziehung  des 
Mannigfaltigen,  Schopenhauer  völlig  fern. 

>)  Vgl  Ernst  Westphal,  Über  Haupt-  and  Nebenaufgaben  bei  Reaktions- 
versachen.    Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.     XXI.  Band.     S.  219  f. 


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190 

Wir  dürfen  auf  Omnd  des  Dargelegten  den  Sehlals  ziehen, 
dafs  Kant  die  gemeinsame  historische  Basis  beider  ist,  nnd 
dafs  beide  von  ihm  ans  anf  getrennten  Wegen  zn  z.  T.  formal 
ttbereinstimmenden  Ergebnissen  gelangt  sind. 


Die  Beziehungen  der  Lehre  Schopenhauers 

von  der  empirischen  Anschauung  zur  Lehre 

Thomas  Reids. 

Nicht  so  sehr  der  prinzipielle  Gehalt  der  Lehre  Schopen- 
hauers von  der  empirischen  Anschauung,  als  vielmehr  die 
methodische  Richtung,  die  Schopenhauer,  darin  über  Kant 
sowohl  als  auch  die  anf  ihn  folgenden  Metaphysiker  hinaus- 
gehend, zu  einer  psychologisch  gegliederten  Schilderung  des 
Bestandes  und  des  Zustandekommens  der  empirischen  An- 
schauung fuhrt,  lassen  ihn  einer  Gruppe  von  Philosophen 
verwandt  erscheinen,  die  auf  anderer  historischer  Grundlage 
fufsend,  und  auf  anderen  Wegen  ähnlich  gerichtete  Unter- 
suchungen unternommen  haben.  Es  sind  Thomas  Reid  und 
die  an  ihn  anknüpfenden  Philosophen,  eine  Gruppe  von  Denkern, 
deren  Lehren  in  England  und  Frankreich  als  Spiritualismns 
bezeichnet  zn  werden  pflegt,  die  W.  Dilthey^)  als  Philosophie 
der  Freiheit  oder  der  Subjektivität  charakterisiert,  und  die  nach 
der  ihnen  gemeinsamen  Methode  ihres  Denkens  wohl  nieht 
unpassend  als  phychologisierende  Erkenntnistheorie  gekenn- 
zeichnet werden  darf.  Thomas  Reid,  der  Vater  dieser  Geistes- 
richtung, ist  es,  der  zur  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen 
Anschauung  in  unmittelbare  historische  Beziehung  gesetzt  werden 
kann,  nicht  zwar  so,  als  ob  er  ftr  die  Konzeption  ihrer  Grund- 
gedanken, aber  doch  so,  dafs  er  fttr  die  Ausgestaltung  derselben 
von  einem  gewissen  Einflufs  geworden  ist. 

Wir  fanden,  dafs  die  Intellektualität  der  empirischen 
Anschauung,  insbesondere  die  Funktion,  die  der  Kausalität  in 


>)  Wilhelm  Diltbey,  Jahresbericht  über  die  nachkantische  Philosophie. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie,  Bd.  XI  S.  551. 


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191 

derselben  zukommt,  im  Prinrip  sehen  bei  Kant  vorliegt.  Die 
Unmittelbarkeit  der  kausalen  Deatnng  der  Sinnesempfindnngen 
fanden  wir  bei  Sehnlze  angelegt,  in  gewissem  Sinne  auch  bei 
Fichte.  Nicht  die  kausale  Deutung  der  Sinnesempfindungen, 
aber  ihre  unmittelbare  Erkenntnis  als  realen  Dingen  zugehörig, 
ist  angelegt  auch  in  der  Lehre  von  Thomas  Reid,  auf  den 
Schopenhauer  selbst  als  historisehe  Voraussetzung  hinweist. 

Thomas  Reid  ist  zuerst  genannt  in  der  ,, Theoria  colorum 
physiologica*  1830,i)  mit  der  Abhandlung  «Inquiry  into  the  human 
mind*.  Sachliche  Qrttnde  sprechen  dafbr,  daj[s  er  Schopenhauer  in 
seiner  ersten  Sohafifensperiode  noch  nicht  bekannt  war,  obgleich 
diese  Schrift  Reids  bereits  in  Erasmus  Darwins  „Zoonomia^ 
Bd.  I  Absohn.  16  Kap.  7  erwähnt  wird,  deren  Kenntnis  schon 
in  die  erste  Entwieklungsperiode  Schopenhauers  fällt  Die 
genannte  Schrift  Reids  ist  femer  zitiert  in  «Welt  als  Wille  und 
Vorstellung*  Bd.  II,  und  zwar  schon  in  der  ersten  Auflage  vom 
Jahre  1844.')  Aufserdem  ist  von  Reid  noch  genannt:  «Essays 
on  the  powers  of  human  mind*,  gleichfalls  schon  in  der  ersten 
Auflage  der  «Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  Bd.  IL») 

Von  Reid  sagt  Schopenhauer  folgendes:  „Von  der  Un- 
znlängliehkeit  der  Sinne  zur  Hervorbringung  der  objektiven 
Anschauung  der  Dinge,  wie  auch  vom  nichtempirischen  Ursprung 
der  Anschauung  des  Raumes  und  der  Zeit  erhält  man  als 
Bestätigung  der  kantischen  Wahrheiten,  auf  negativem  Wege 
eine  sehr  gründliche  Überzeugung  durch  Thomas  Reids  vor- 
treffliches Buch:  Inqniry  into  the  human  mind,  Ist  edition  1764, 
6th  edition  1810.  Dieser  widerlegt  die  Lockesche  Lehre,  dafs 
die  Anschauung  ein  Produkt  der  Sinne  sei,  indem  er  gründlich 
und  scharfsinnig  dartut,  dafs  sämtliche  Sinnesempfindungen 
nicht  die  mindeste  Ähnlichkeit  haben  mit  der  anschaulich 
erkannten  Welt,  besonders  aber  die  fttnf  primären  Qualitäten 
Loekes  (Ausdehnung,  Gestalt,  Solidität,  Bewegung,  Zahl)  durch- 
aus von  keiner  Sinnesempfindung  uns  geliefert  werden  können. 
Er  gibt  sonach  die  Frage  nach  der  Entstehungsart  und  dem 
Ursprung  der  Anschauung  als  völlig  unlösbar  auf.  So  liefert 
er,  obwohl  mit  Kanten  völlig  unbekannt,  gleichsam  nach  der 

0  VI,  123. 

«)  n,  SO.  »)  II,  78. 


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192 

regnla  falsi  einen  grttndlieben  Beweis  fttr  die  (eigentUch  von 
mir,  infolge  der  kantigchen  Lehre,  zuerst  dargelegte)  Intellek- 
tnalität  der  Ansehanang  nnd  fttr  den  von  Kant  entdeckten 
apriorischen  Ursprang  der  Grundbestandteile  derselben,  also 
des  Ranmes,  der  Zeit  nnd  der  Kausalität,  ans  welchen  jene 
Lockeschen  primären  Eigenschaften  allererst  herirorgehen, 
mittelst  ihrer  aber  leicht  zu  konstruieren  sind.''^) 

In  der  Tat  findet  sich  bei  Reid  ein  der  Lehre  Schopen- 
hauers analoger  Gedanke.  Zu  den  zwölf  ursprünglichen  Urteilen 
des  common  seuse  gehört  u.  a.,  „dafs  diejenigen  Dinge  wirklieb 
existieren,  welche  wir  deutlich  mit  unseren  Sinnen  wahrnehmen 
und  das  sind,  als  was  wir  sie  wahrnehmen.'^  2)  Sehen  wir  von 
letzterer  Wendung,  die  fttr  unseren  Vergleich  nicht  in  Betracht 
kommt,  ab,  so  findet  der  Gedanke  noch  folgende  Spezialisierung: 
^Wenn  wir  auf  die  Sensation  an  und  fttr  sich  selbst  acht  geben, 
und  sie  von  anderen  trennen,  die  in  der  Einbildungskraft  damit 
verbunden  sind:  so  erhellt  es,  dafs  sie  etwas  ist,  das  keine 
Existenz  als  in  einem  empfindenden  Wesen  haben  kann,  etwas, 
das  nicht  von  dem  Aktus  der  Seele,  vermöge  welchen  es 
gefühlt  wird,  verschieden  ist''  Aber:  „Perzeption,  so  wie  wir 
dieses  Wort  hier  nehmen,  hat  immer  einen  von  einem  Aktas 
der  Seele,  wodurch  die  Sache  wahrgenommen  wird,  unter- 
schiedenen Gegenstand  ...  Ich  weifs,  dafs  die  Wahrnehmung 
«Ines  Gegenstandes  sowohl  eine  Vorstellung  von  seiner  Form 
als  einen  Glauben  an  seine  gegenwärtige  Existenz  in  sich  fafst 
Und  ttberdem  ist  mir  bekannt,  dafs  dieser  Glaube  nicht  die 
Wirkung  von  Beweisen  und  Vernunftsohlüssen,  sondern  die 
unmittelbare  Wirkung  meiner  Beschaffenheit  ist"')  „Hätten 
wir  von  der  Struktur  der  sinnlichen  Organe  so  genaue  Kennt- 
nisse, um  entdecken  zu  können,  welche  Wirkung  auf  sie  von 
äuj[seren  Gegenständen  gemacht  wird,  so  würde  diese  Kenntnis 
nichts  zu  unserer  Wahrnehmung  des  Gegenstandes  beitragen; 
denn  diejenigen,  die  nicht  das  Mindeste  von  der  Art  und  Weise 
wie  wir  wahrnehmen,  verstehen,  nehmen  eben  so  deutlich  wahr 

0  II,  80  f. 

«)  The  works  of  Thomas  Reid.  Pref.  by  Sir  William  Hamilton  Voll 
6.  Edition.  Edinburgh  1863.  p.  445.  Essays  on  the  intellectoal  powers 
of  man. 

*)  A.  a.  0.  Vol.  I  p.  183  (Inqniry  Into  the  human  mind). 


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193 

als  die  gröfsten  Adepten.  Es  ist  nötig,  dafs  der  Eindraek  anf 
unsere  Organe  gemacht  werde,  aber  es  ist  nicht  nötig,  dafs 
man  das  Wie  hiervon  wisse.  DieNatar  leitet  diesen  Teil  des 
Ganges  der  Wahrnehmung  ohne  unser  Bewulstsein,  und  ohne 
nnsem  Beitritt 

Aber  des  nächsten  Schrittes  bei  diesem  Gange  der  Natur, 
der  Sensation  der  Seele,  können  wir  uns  nicht  unbewnfst  sein; 
sie  folgt  immer,  unmittelbar  auf  den  auf  den  Körper  gemachten 
Eindruck.  Es  ist  ftr  eine  Sensation  wesentlich,  dafs  sie  gefühlt 
werde,  und  sie  kann  nichts  mehr  sein,  als  was  wir  fühlen,  dafs 
sie  ist  . . .  Aber,  wie  werden  die  Sensationen  der  Seele  durch 
Eindrücke  auf  den  Körper  hervorgebracht?  Hierüber  sind  wir 
schlechterdings  in  der  Unwissenheit,  da  wir  kein  Mittel  haben, 
zu  wissen,  wie  der  Körper  auf  die  Seele  oder  die  Seele  auf 
den  Körper  wirkt  Wenn  wir  die  Natur  und  die  Eigenschaften 
beider  erwägen,  so  scheinen  sie  so  verschieden  und  so  ungleich 
zu  sein,  dafs  wir  kein  Werkzeug  zu  erdenken  vermögen, 
vermittelst  dessen  die  eine  zu  dem  andern  gleichsam  gelangen 
könne.  Ein  tiefer  und  finsterer  Abgrund  liegt  zwischen  ihnen, 
über  welchen  unser  Verstand  nicht  hinüber  kann,  und  die  Art 
und  Weise  ihrer  Korrespondenz  und  ihres  Verkehrs  miteinander 
ist  uns  schlechterdings  unbekannt  . . .  Wer  weifs,  ob  ihre  Ver- 
knüpfung nicht  ganz  willkürlich  und  blofs  der  Wille  unsers 
Urhebern  ist?  ...  Wie  indessen  auch  diese  Dinge  sein  mögen, 
so  ist  denn  doch  soviel  gewils,  dafs,  wenn  die  Natur  uns  nichts 
mehr  als  Eindrücke  auf  den  Körper  und  ihnen  entsprechende 
Sensationen  in  der  Seele  gegeben  hätte,  wir  in  diesem  Fall 
blofs  empfindende  und  nicht  wahrnehmende  Wesen  gewesen 
sein  würden.  Wir  würden  nie  fähig  gewesen  sein,  uns  nur 
eine  Vorstellung  von  irgend  einem  äufseren  Gegenstande  zu 
bilden,  viel  weniger  an  die  Existenz  desselben  zu  glauben. 
Unsere  Sensationen  haben  keine  Ähnlichkeit  mit  den  äufseren 
Gegenständen,  noch  vermögen  wir,  durch  unsere  Vernunft  irgend 
eine  notwendige  Verknüpfung  zwischen  den  ersteren  und  den 
letzteren  zu  entdecken  . . .  Durch  unbekannte  Mittel  wird  uns 
die  Sensation  und  die  derselben  entsprechende  Perzeption 
inspiriert.  Und  weil  die  Seele  unmittelbar  von  der  Sensation 
zu  der  Vorstellung  und  dem  Glauben  an  den  Gegenstand, 
welchen  wir  wahrnehmen,  aut  eben  dieselbe  Art  übergeht,  wie 

PhUotopUsohe  Abhandlungm.    XLU.  13 


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194 

von  dem  Zeichen  zn  dem  dadurch  angezeigten  Dinge,  so  haben 
wir  ans  diesem  Grunde  die  Sensationen  Zeichen  von  äaüseren 
Gegenständen  genannt''^) 

Gemeinsam  also  mit  Schopenhauer  ist  Reid  der  Gedanke, 
dafs  das  Übergehen  von  der  blofsen,  subjektiven  Empfindung 
zu  einem  gegenständlichen  Bewulstsein  nicht  als  ein  Resultat 
des  diskursiven,  sondern  des  intuitiven  Denkens  anzusehen  sei; 
denn  unmittelbar  gibt  (suggests)  uns  nach  Reid  die  Empfindung 
die  Gewifsheit  von  einem  ihm  entsprechenden  Objekt  aulser 
uns,  die  deshalb  als  „belief  ^  zu  bezeichnen  ist,  in  analoger 
Weise  wie  bei  Schopenhauer  der  Verstand  unmittelbar  und 
intuitiv  von  der  Empfindung  als  Wirkung  zur  Ursache  aulser 
uns  übergeht  Im  Unterschiede  von  Schopenhauer  ist  bei  Reid 
der  Sinn  dieses  Überganges  nicht  der  einer  kausalen  Beziehung, 
sondern  der  des  Verhältnisses  von  Zeichen  zum  Bezeichneten,  und 
es  kommt  demgemäfs  für  Reid  ein  unmittelbares  Bewulstsein  von 
den  Wirkungen  in  dem  Sinnesorgane  nicht  als  notwendige  Be- 
dingung fttr  die  Perzeption  eines  Objektes  aufser  uns  in  Betracht 

In  noch  einem  anderen  Punkte  wird  Reid  von  Schopen- 
hauer als  mit  ihm  übereinstimmend  genannt,  in  der  Annahme 
der  Apriorität  des  Kausalgesetzes.  Er  sagt:  .In  England  hat 
schon  Th.  Reid  (On  the  principles  of  contingent  truths.  £ss.  VI 
c.  5)  ausgesprochen,  dafs  die  Erkenntnis  des  Eausalitätsver- 
hältnisses  in  der  Beschafifenheit  unseres  Erkenntnisverm^ns 
selbst  ihren  Grund  habe.'' 2)  Dieser  Hinweis  bezieht  sich 
offenbar  darauf,  dafs  Reid  als  letztes  der  Prinzipien  des 
common  sense  nennt,  dafs  in  den  Erscheinungen  der  Natur 
dasjenige,  „was  sein  wird,  wahrscheinlich  gleich  dem  sein  wird, 
was  unter  ähnlichen  Umständen  gewesen  ist",^)  und  dann  fort- 
fährt, dafs  »wir  diese  Überzeugung  haben  müssen,  sobald  wir 
fähig  sind,  irgend  etwas  aus  der  Erfahrung  zu  lernen*'/)  dafs 
«dieses  Prinzip  notwendig  fttr  uns  ist,  bevor  wir  fähig  sind,  es 
durch  Überlegungen  zu  entdecken,  deshalb  einen  Teil  unserer 
Konstitution  ausmacht  nnd  seine  Wirkungen  vor  dem  Gebrauch 
der  Vernunft  zeigt*  ^)    Dieses  Prinzip  ist  also,  so  können  wir 

>)  A.  ».  0.  Vol.  I  p.  187  f.  (Inqniiy). 

«)  II,  49. 

*)  A.  a.  0.  Vol.  I  p.  451  (Essays  on  the  intell.  powers). 

«)  Ebenda.  ^)  Ebenda' 


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195 

sagen,  auch  fttr  Beid  eine  im  Intellekt  liegende  Bedingung  fttr 
die  Möglichkeit  der  Erfahrung.  Indes  bedarf  die  Analogie  zu 
Schopenhauer  einer  gewissen  Einschränkung.  Nicht  deutlich 
nämlich  kommt  bei  Reid  die  Notwendigkeit  des  Kausal- 
zusammenhanges, genauer  seiner  Geltung  zum  Ausdruck.  Es 
bleibt  ihm  vielmehr  immer  noch  ein  gewisser  Grad  von  blofser 
Wahrscheinlichkeit  anhaften,  wenngleich  der  Glaube  an  das 
wahrscheinliche  Eintretende  ein  Grundprinzip  des  common  sense 
ist  Das  geht  n.  a.  aus  folgendem  Gedankengange  hervor: 
«Alle  unsere  Kenntnis  von  der  Natur  anfser  nnsern  ursprüng- 
lichen Perzeptionen,  wird  durch  Erfahrung  erlangt  und  besteht 
in  der  Auslegung  der  natürlichen  Zeichen.  Die  Stetigkeit  der 
Naturgesetze  verknüpft  das  Zeichen  mit  dem  angezeigten 
Dinge,  nnd  vermöge  des  eben  erklärten  natürlichen  Prinzipiums 
verlassen  wir  uns  auf  die  Fortdauer  dieser  Verknüpfung,  welche 
die  Natur  entdeckt  hat,  und  diesem  gemäfs  folgt  auf  die  Er- 
scheinung des  Zeichens  der  Glaube  an  das  angezeigte  Ding. 
Auf  dieses  Prinzipium  unserer  Beschaffenheit  gründen  sich 
nicht  allein  unsere  erworbenen  Perzeptionen,  sondern  alles 
induktive  Raisonnement  und  alle  unsere  Analogieschlüsse,  und 
also  erbitten  wir  uns  die  Erlaubnis  aus,  es  aus  Mangel  eines 
anderen  Namens  das  Prinzipium  der  Induktion  nennen  zu 
dürfen.  Vermöge  der  Stärke  dieses  Prinzipiums  geschieht  es, 
dafs  wir  demjenigen  Axiom,  auf  welches  alle  unsere  Kenntnis 
von  der  Natur  aufgebaut  ist,  dafs  nämlich  Wirkungen  gleicher 
Art  gleiche  Ursachen  haben  müssen,  sogleich  beistimmen. 
Denn  Wirkungen  und  Ursachen  bedeuten  in  den  Operationen 
der  Natur  nichts  als  Zeichen  und  die  von  diesen  Zeichen 
angezeigten  Dinge.  Wir  nehmen  in  keiner  natürlichen  Ursache 
eine  eigentliche  Kausalität  oder  wirkende  Kraft  wahr,  sondern 
nur  eine  durch  den  Lauf  der  Natur  zwischen  derselben  und 
dem,  was  wir  Wirkung  nennen,  eingeführte  Verknüpfung  .... 
Wenn  solch  eine  Verbindung  öfters  bemerkt  worden  ist,  so 
stellen  wir  uns  die  Dinge  als  natürlich  miteinander  verknüpft 
vor,  nnd  die  Erscheinung  des  einen  führt  uns  ohne  alles 
Nachdenken  oder  Vernnnftschlüsse  auf  den  Glauben  an  das 
andere.*  i) 


»)  A.  a.  0.  Vol.  I  p.  199  (laquiry). 

13* 


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196 

Nur  mit  der  Einschränkung  also,  dafs  bei  Reid  dem  Kausal- 
gesetz eine  nnr  assertorische  Gewifsheit  zukomme,  kann  sich 
Schopenhauer  in  der  Annahme  der  Apriorität  des  Kausalgesetzes 
auf  Reid  berufen. 

Was  wird  nun,  so  drängt  es  zu  fragen,  der  Beweggrund 
gewesen  sein,  der  Schopenhauer  veranlafste,  gerade  Th.  Seid 
als  historische  Voraussetzung  ftr  seine  Lehre,  insbesondere  von 
der  Intellektualität  der  empirischen  Anschauung  zu  nennen, 
wo  doch  die  kausale  Deutung  der  empirischen  Anschauung 
gerade  Reid  nicht  eigentümlich  ist,  während  er  Kant,  ftr  den 
sie  doch,  wie  wir  fanden,  im  Prinzip  gilt,  nicht  oder  doch  als 
nicht  im  strengen  Sinne  in  Frage  kommelnd  nennt?  Offenbar 
wird  er  es  getan  haben  im  Hinblick  auf  die  Unmittelbarkeit 
des  Überganges  von  der  blofsen  Empfindung  auf  das  ihr 
entsprechende  Objekt,  das  wir  als  Reid,  nicht  aber  Kant 
eigentümlich  fanden,  bei  dem  die  kausale  Bestimmung  des 
Mannigfaltigen  der  Empfindungen  vielmehr  in  der  Weise  eines 
synthetischen  Urteils  sich  vollzieht  So  wird  es  auch  historisch 
verständlich,  dafs  Schopenhauer  sich  als  den  ersten  Vertreter  der 
Intellektualität  der  empirischen  Anschauung  im  strengea  Sinne 
ansieht;  er  ist  in  der  Tat  der  erste,  bei  dem  die  beiden  Momente 
der  kausalen  Deutung  der  empirischen  Anschauung  und  der  Un- 
mittelbarkeit der  Erkenntnis  desselben  prinzipiell  betont  werden. 

Auf  einige  sinnespsyohologische  Berührungspunkte  Schopen- 
hauers mit  Reid  kommen  wir  zweckmSfsig  erst  im  Zusammen- 
hange des  folgenden  Abschnittes  zu  sprechen. 


Die  historischen  Grundlagen  der  speziellen  Aus- 
gestaltung der  Lehre  Schopenhauers  von  der 
empirischen  Anschauung. 

Im  aUgemeinen. 

Die  Konzeption  der  Grundgedanken  Schopenhauers  ttber  die 
empirische  Anschauung  fiel  in  eine  Zeit,  in  der  die  empirisch- 
psychologische  Forschung  in  Deutschland  in  eine  gewisse 
Stagnation  geraten  war.  Das  erste  Viertel  des  19.  Jahrhunderts 
war  so  sehr   von  Gedanken   erfUllt,   die  eine  metaphysische 


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197 

Reaktion  gegen  die  kantisehe  Philosophie  darstellen,  dafs  nnr 
noch  in  einer  schwachen  Unterströmnng  die  Nachwirkung  jener 
ersten  Welle  des  erwachenden  Interesses  an  der  empirischen 
Psychologie  sich  geltend  machte,  die  im  18.  Jahrhundert  den 
Fortsehritten  der  Natarwissenschaft  ihren  mittelbaren  oder  nn- 
mittelbaren  Ursprung  zu  verdanken  hatte.    Jenes  Aufblühen 
empirisch-psychologischer  Untersuchungen   hatte  vornehmlich 
mit  der  empiristischen  Strömung  in  der  Philosophie,   die  in 
England  mit  Hobbes  einsetzte,  im  Zusammenhang  gestanden. 
Unter  dem  Einflufs  der  naturwissenschaftlichen  Methode  eines 
Newton   hatte   sich   die   vorwiegend   auf  eine  Erklärung  des 
Zusammenhanges  des  psychischen  Geschehens  gerichtete  Asso- 
ziationspsychologie, insbesondere   bei  Hartley,   Priestley   und 
Hnme    entwickelt.     In    Reaktion    dagegen,    besonders   gegen 
letzteren,  war  die  schottische  Schule,  an  ihrer  Spitze  Thomas 
Reid,  mehr  nach  einer  beschreibenden  Methode  verfahren.    Jene 
Richtung  hatte  sieh  in  Frankreich  im  Sensualismus,  besonders 
bei  Condillac  fortgebildet,  diese  im  sogenannten  Spiritualismus 
eines  Maine  de  Siran.    In  Deutschland  hatte  sich  in  der  Zeit 
der  Aufklärung  eine  zwar  vorwiegend  rationalistisch  gerichtete 
Psychologie  entfaltet,  es  waren  aber  auch  selbständige  Ansätze  zu 
einer  empirischen  Psychologie  vorhanden,  und  zwar  neben  einer 
nur  unbedeutsamen  Unterströmung  assoziationspsychologischer 
Gedanken,  vornehmlich  in  der  nach  der  beschreibenden  Methode 
verfahrenden,  unabhängig  von  Reid  entstandenen  sogenannten 
«Erfahrungsseelenlehre',  die  sich  späterhin  zur  «Vermögens- 
theorie*^  fortbildete,  dann  aber,  zum  Teil  in  Reaktion  gegen 
letztere,  aber  doch  als  Erfahrungsseelenlehre  im  Prinzip  bestehen 
bleibend,  in  l'etens  einen  bedeutenden  Vertreter  fand.    Auch 
Kant  bewegt  sich  mit  einigen  seiner  Gedanken  in  dieser  Richtung, 
und  zwar  nicht  allein  mit  seiner  Annahme  gewisser  Vermögen 
des  Gemütes,  sondern  auch  mit  manchen  psychologischen  Ein- 
sichten, z.  B.  der  Unterscheidung  von  Apprehension,  Reproduktion 
undRekognition.  Auch  Fichte  scheint  noch  unter  dem  Einflufs  der 
Erfahrungsscelenlehre  gestanden  zu  haben.    Wir  können  es  u.  a. 
an  der  feinsinnigen  Unterscheidung  der  Bewufstseinsstufen  sehen, 
deren  tatsächliche  Unterlagen  aus  dem  Gange  seiner  Deduktionen 
nicht  notwendig  abfliefsen.    Eine  ähnliche  Unterscheidung  von 
Bewufstseinsstufen  finden  wir  schon  bei  Tiedemann.    Es  bleibt 


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198 

nebenbei  bemerkt  eine  dankenswerte  Aufgabe,  den  nnter- 
flielsenden  Einflafs  der  Erfahrangsseelenlohre  bei  Kant  and 
der  nachkantischen  Spekulation,  bier  anfser  bei  Fichte  anch 
in  den  z.  T.  psychologisch  gerichteten  Erörterungen  der  Schelling- 
schen  Schnle,  so  bei  Troxler  n.  a.,  einer  zusammenhängenden 
Darstellung  zu  unterziehen. 

Zu  den  genannten  Richtungen  und  Ansätzen  kam  eine  Reihe 
der  von  der  fortschreitenden  Physiologie  des  Nervensystems 
unmittelbar  ausgebenden  Anregungen  zu  psychologischen  Frage- 
stellungen. Die  gehimanatomischen  und  neurologischen  Ent- 
deckungen eines  Hall,  Dntrochet,  Magendie,  Bichat,  Gabanis, 
Flourens,  Bemard,  Bourdach,  Treviranus  u.  a.  erheischten 
dringend  auch  eine  Orientierung  über  ihre  psychologische 
Bedeutung.  Sinnesphysiologische  Untersuchungen  hatten  schon 
seit  Kepler  und  später  u.  a.  durch  Cheselden  und  Erasmus 
Darwin  psychologische  Erwägungen  angeregt  Die  Zeit  war 
allerdings  fttr  eine  exakte  Inangriffnahme  der  bier  auftauchen- 
den psychophysiologischen  Probleme  noch  nicht  reif.  Doch 
darf  gesagt  werden,  dafs  gerade  diese  latent  bleibenden 
Anregungen  von  Seiten  der  Physiologie  des  18.  Jahrhunderts 
aus  es  waren,  die  in  erster  Linie  den  Anstofs  zu  der  um  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  einsetzenden  zweiten,  ungleich 
kräftigeren  Welle  des  Auflebens  der  empirisch -psychologischen 
Forschung  gaben,  der  bekanntlich  erst  die  Leistungen  eines 
Johannes  Müller,  E.  H.  Weber,  Brewster  und  Helmholtz  die 
Wege  bahnten. 

Wie  stand  nun  Schopenhauer  zu  der  mehr  ttberlieferten 
als  aktuellen  psychologischen  Problemlage  seiner  Zeit,  ins- 
besondere in  seiner  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung? 

Fttr  die  Grundgedanken  dieser  Lehre  fanden  wir  in  erster 
Linie  Kant,  dann  Schulze  und  vielleicht  auch  Fichte  wirksam. 
In  der  zweiten  Entwicklungsperiode  dieser  Lehre  trat,  wie  wir 
sahen,  Thomas  Reid  bestätigend  hinzu.  Fttr  die  spezielle  Aus- 
gestaltong  und  die  physiologische  Grnndlage  der  Lehre 
Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung  aber  waren 
grundlegend  wohl  schon  Kepler,  sicher  aber  Cheselden,  Robert 
Smith,  Erasmus  Darwin  und  in  geringerem  Mause  Troxler. 
Dazu  kamen  in  der  zweiten  Entwieklungsperiode  auch  hier 
Thomas  Reid,  ferner  Bichat,  Gabanis  und  Flourens. 


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199 

Wir  sehen  also,  dafs  ftlr  die  speziellen  Punkte  der  Lehre 
Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung  vorwiegend 
Physiologen  es  sind,  die  ihn  fesseln,  und  zwar  die  Engländer 
Cheselden,  Robert  Smith  und  Erasmus  Darwin  mehr  mit  sinnes- 
physiologisehen,  die  Franzosen  Bichat,  Gabanis  und  Flourens 
mehr  mit  nerven-  und  gehirnphysiologischen  Untersuchungen. 
Letzteren,  besonders  denjenigen  von  Cabanis,  entnimmt  Schopen- 
hauer vorwiegend  Belege  fttr  seine  voluntaristische  Deutung 
des  organischen  Lebens;  doch  kommen  sie  auch  fttr  seine 
Theorie  von  der  empirischen  Anschauung  in  Betracht.  Fern 
aber  steht  Schopenhauer  der  Assoziationspsychologie,  sich  hierin 
und  in  dem  Fehlen  mathematischer  Formulierungsversuche 
ftlr  das  psychische  Geschehen  von  Herbart  unterscheidend. 
Auch  die  beschreibende  Methode  der  Erfahrungsseelenlebre 
befolgt  er  nicht  prinzipiell,  wenngleich  er  in  demselben  Sinne 
wie  Kant  zu  den  Vermögenspsychologen  zu  rechnen  ist,  er 
bedeutsame,  auf  subtiler  Beobachtung  beruhende  beschreibende 
Darstellungen,  insbesondere  auf  ethischem  und  ästhetischem 
Gebiete  gegeben  und  er  der  die  beschreibende  Methode  bevor- 
zugenden Lehre  Thomas  Reids  einige  Bestandteile  fUr  die  Ausge- 
staltung auch  seiner  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  ent- 
lehnt hat.  In  seinen  wahmehmnngspsychologischen  Erörterungen 
aber  kommt  die  besehreibende  Methode  selbst  so  wenig  zur 
Anwendung,  dafs  dem  gänzlieben  Mangel  derselben  gerade  die 
folgenschweren  Irrtümer  der  Ineinssetznng  physiologischer  und 
psychologischer  Tatsachen  methodologisch  zuzuschreiben  sind. 

Fttr  den  älteren  Schopenhauer  ist  noch  anzumerken,  dafs 
er  dem  bereits  einsetzenden  neuen  Aufschwung  der  psycho- 
logischen Forschung,  der  in  den  ihm  bekannt  werdenden  Unter- 
saehungen  von  Johannes  MttUer  und  Helmholtz  gegeben  war, 
ohne  hinreichendes  Verständnis  gegenüberstand. 

Von  den  genannten  Autoren  werden  von  Schopenhauer  in 
den  Schriften  seiner  ersten  Entwicklungsperiode  folgende  Werke 
genannt:  Von  Cheselden  wird  ein  Aufsatz  in  den  Philos.  Transact., 
noch  nicht  aber  dessen  „Anatomy**  genannt  Dieses  Werk  wird 
erst  in  der  zweiten  Auflage  von  Sehen  und  Farben  erwähnt  >) 
Sonst  findet  es  keine  Erwähnung.   Schopenhauer  konnte  es  aber 

")  VI,  31. 


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200 

Bchon  vorher  kennen  gelernt  haben,  nämlich  von  seinem  Lehrer 
der  Physiologie  in  Göttingen,  Blamenbaeh,  her,  der  eine 
Übersetzung  der  Anatomie  besorgen  liefs  und  dazu  ein  Vorwort 
yerfaTste.  Auch  konnte  Schopenhauer  es  ans  Smiths  »Optica" 
kennen,  wo  es  §§  133  und  324  genannt  wird.  Sachliche 
Übereinstimmung  in  einigen  heryorstechenden  Punkten  macht 
die  Annahme  wahrscheinlich,  dafs  Schopenhauer  von  jenem 
Hauptwerk  Gheseldens  schon  vor  1816  Kenntnis  gehabt  habe. 
Es  wird  deshalb  im  folgenden  als  unmittelbare  historische 
Grundlage  angenommen. 

Von  Robert  Smith  wird  ein  vorwiegend  physikalisch 
gerichtetes,  aber  auch  psychophysiologisch  interessiertes  Werk: 
.Optics^  aus  dem  Jahre  1788,  deutsch  herausgegeben  von 
Kästner  1755,  i)  von  Erasmus  Darwin:  „Zoonomie,  oder  die 
Gesetze  des  organischen  Lebens*,  1794-98  englisch,  1795—99 
deutsch  erschienen,^)  und  von  Troxler  werden  einige  Schriften 
aus  der  ophthalmologischen  Bibliothek,  herausgegeben  von 
Himly  1803,  18u4  und  1805,  von  Schopenhauer  herangezogen. 

Für  die  zweite  Entwicklungsstufe  kommen  die  bereits  oben') 
angeführten  Werke  von  Thomas  Reid  in  Betracht  Weiter  war 
von  Einflufs  Gabanis  mit  seinem  Hauptwerk:  „Rapports  du 
physique  au  moral*.  Dieses  lernte  Schopenhauer  im  Jahre  1824 
kennen,  wie  aus  einer  Aufzeichnung  im  Quartant^)  zu  erkennen 
ist.  Es  ist  zitiert  in  der  «Theoria  colorum  physiologica*  ^)  und 
in  Sehen  und  Farben,  2.  Aufl.^)  Sonst  ist  keine  Schrift  von 
Gabanis  genannt 

In  die  Zeit  um  das  Jahr  1838  fällt  die  Kenntnis  von 
Bichats  «Recherches  physiologiques  sur  la  vie  et  la  mort*,  wie 
aus  einem  Briefe  Schopenhauers  an  Jul.  Frauenstädt  vom 
12.  Oktober  1852  hervorzugehen  scheint,  in  dem  es  heifst: 
„Mein  Zusammentreffen  mit  Bichat  im  bekannten  Resultat, 
nachdem  wir  auf  so  höchst  verschiedenen  Wegen  dahingelangt 


1)  m,  75. 

')  Die  Schrift  seines  Sohnes  Robert  Waring  Darwin  „New  experiments 
on  the  ocular  spectra  of  light  and  coloors*  1786  (sieh  die  bibliogr.  Anmerk. 
von  Qrisebach  VI,  378)  kommt  für  unsere  Zwecke  nicht  in  Betracht. 

•)  Sieh  S.  191  dieser  Schrift 

*)  Arthur  Schopenbaners  Nachlafs  Nr.  13.    Quartant  S.  82. 

»)  VI,  120.  •)  VI,  23. 


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201 

Bind,  ist  eine  der  sehönsten  Bestätigungen  meiner  Wahrheit 
und  war  mir,  als  ich  es  erst  1838  entdeckte,  eine  nnendliche 
Herzstärknng.*  ^)  Genannt  ist  Bichat  schon  in  dem  Manaskript- 
bach  Schopenhauers,  das  Adversaria  genannt  ist  und  aus  dem 
Jahre  1828  stammt^)  Genanntes  Werk  wird  von  Schopenhauer 
zweimal  zitiert  in  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  2.  Band, 
und  zwar  schon  in  der  ersten  Auflage  dieses  Bandes.') 

Flourens  wird  zuerst  erwähnt  in  dem  Exordinm  zur 
Dianoiologie,^)  das  nach  Mockrauers  Untersuchung^)  nach  1823, 
sogar  wohl  erst  fttr  das  Wintersemester  1826/27  anzusetzen  ist  In 
diesem  Exordium  wird  ein  von  Cuvier  yerfafster  Bericht  über  die 
Untersuchungen  Flourens'  genannt,  welcher  in  den  ,Memoires 
de  Tacademie  des  sciences*"  der  Jahre  1821  und  1822  steht.  Da 
fttr  diesen  Bericht  als  Erscheinungsjahr  1826  angegeben  wird, 
so  steht  zu  vermuten,  dafs  der  von  Mockrauer  angegebene 
spätere  Termin  fttr  das  Erscheinungsjahr  des  Exordiums  der 
richtige  ist.  Die  diesen  M^moires  entnommene  und  im  ge- 
nannten Exordium  angeftthrte  Lehre  Flourens'  über  das  Klein- 
hirn findet  sich  in  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  II.  Band.«) 
Sodann  wird  Flourens  erwähnt  in  dem  Manuskriptbuch,  das 
AdYcrsaria^)  betitelt  ist,  und  zwar  wird  hier  wieder  der  schon 
genannte  Aufsatz  von  Cuvier  ttber  Flourens  und  ein  Akademie- 
bericht von  Cuvier  aus  dem  Jahre  1823  genannt :  M^moires  de 
FAcad^mie  des  sciences,  Vol.  6  1823.  Hist  de  l'acad.  p.  Cuvier 
p.  CXXX.®)  Flourens  wird  ferner  erwähnt  in  der  zweiten  Auflage 
des  ersten  Bandes  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung®)  und  der 
ersten  Auflage  des  zweiten  Bandes  ^o)  vom  Jahre  1844.  Hier 
werden  genannt:  Eine  von  Flourens  verfafste  Rezension  der 
Historie  naturelle  von  Fr.  Cuvier,  die  sich  im  Septemberheft 

>)  £d.  Grisebach,  Schopenhauers  Briefe,  S.  222.  —  Vgl.  Ed.  Grisebach, 
Schopenhauer:  Geschichte  seines  Lebens,  S.  189f 

>)  Arthur  Schopenhauers  Nachlafs  Nr.  7,  Adversaria,  S.  4. 

")  H,  288  u.  305. 

*)  Grisebach,  Schopenhauers  Nachlals  2,  S,  54. 

')  Arthur  Schopenhauers  sämtliche  Werke.  Herausgegeben  von  Paul 
Deusseu.    IX.  Band.    Vorrede  der  Herausgeber  S.  XIX. 

•)  n,  287. 

Ö  Arthur  Schopenhauers  Nachlals  Nr.  7,  Advorsarla,  angefangen 
März  1828.    Berlin,    p.  151  f.,  p.  211  und  p.  221. 

•)  Ebenda  p.  221.  •)  I,  652.  »)  n,  237,  288,  296,  467. 


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202 

des  Journal  des  sayants  von  1839  befindet  nnd  mit  einigen 
Zasätzen  versehen  nnter  dem  Titel  R^snmä  analytiqae  des 
observations  de  Fr.  Cuvier  snr  Tinstinct  et  I'intelligenee  des 
animanx  im  Jahre  1841  gesondert  erschienen  isi^)  Ferner 
wird  im  zweiten  Bande  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellang 
aus  dem  Jahre  1844  ein  Aufsatz  Flonrens'  genannt,  der 
in  den  Annales  des  seienees  natorelles  par  Andonio  et 
Brongniard  1828  Vol.  13  steht.^)  Eine  andere  Stelle,  an  der 
Flonrens  noch  in  dem  zweiten  Band  der  Welt  als  Wille  und 
Vorstellang  genannt  wird,  ist  in  der  späteren  Auflage  hinzn- 
gefttgt  worden.  Aufser  den  genannten  Schriften  von  Flonrens 
führt  Schopenhaner  überhaupt  nur  noch  eine  an:  Buffon. 
Historie  de  ses  travaux  et  de  ses  idees  par  Flonrens  1844.  s) 
Es  scheint  aber  angenommen  werden  zu  müssen,  dafs 
Schopenhauer  vor  1844  auch  noch  andere  als  die  bisher  ange- 
führten von  ihm  selbst  genannten  Schriften  von  Flonrens  kennen 
gelernt  habe.  Dafür  sprechen  folgende  Umstände:  Die  Stelle 
in  dem  zweiten  Bande  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellang  ans 
dem  Jahre  1844/)  an  der  Schopenhauer  den  Versuch  Flourens^ 
mit  einer  Henne,  der  das  Grofshirn  eskarpiert  wurde,  erwähnt, 
ist  in  keiner  der  bisher  genannten  Schriften  von  Flourens 
enthalten.  In  dem  Aufsatz  in  den  «Annales  des  seienees 
naturelles*  sind  wohl  Versuche  mit  Hennen  besprochen,  aber 
nicht  der  oben  angeführte.  Dieser  ist  vielmehr  in  den  „Becher- 
ches  expärimentales  sur  les  propriötäs  et  les  fonctions  du  systöme 
nerveux,  dans  les  animaux  vert^bräs.*  Paris  1.  Auflage  1824, 
2.  Auflage  1842,  besprochen.  Dieses  Werk  von  Flourens  wird 
nun  zwar  auch  in  den  späteren  Schriften  Schopenhauers 
nirgends  erwähnt;  es  findet  sich  aber  in  zweiter  Auflage  in 
der  von  ihm  hinterlassenen  Bibliothek.^)  Dieses,  bis  zu  dem 
erwähnten  Zeitpunkte  bedeutendste  Werk  Flourens'  ist  in  den 
„Annales  des  seienees  naturelles^  des  öfteren  zitiert  Im  Hinblick 
auf  die  Bedeutung,  die  Schopenhauer  den  Untersuchungen  von 
Flourens  zuschreibt,  darf  wohl  vermutet  werden,  dafs  er,  nach- 
dem er  von  diesem  Werke  Kunde  erhalten,  sich  mit  dem  Inhalte 
desselben  bekannt  gemacht  habe.     In  diesem  Werke  ist  die 


0  II,  467,  auch  III,  248.  «)  H,  20«.  »)  V,  174.         *)  II,  3lOf, 

')  Grisebacb,  .Scbopenhauerita«''. 


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203 

von  Sehopenhaner  ans  Flonrens'  Sehrift  „De  la  vie  et  de 
rintelligence''  zitierte  Stelle  schon  fast  wörtlieb  enthalten.  Dafs 
Schopenhauer  dieses  Werk  statt  jenes  gröfsern  zitiert,  kann 
daranf  zurückgeführt  werden,  dafs  die  genannte  Lehre  in  ihm 
reicher  entwickelt  ist  als  in  jenem.  Das  Zitat  der  Schrift  „De 
la  vie  et  de  Tintelligence''  1.  Auflage  1857,  2.  Anflage  1859 
warde  von  Grisebach  dem  Handexemplar  Schopenhauers  ent- 
nommen  und  der  von  ihm  besorgten  dritten  Auflage  des  Satzes 
vom  Grunde  hinzngefUgtJ)  Ebenso  verhält  es  sich  mit  einer 
Anmerkung  im  ersten  Bande  der  Parerga  und  Paralipomena.^) 
Diese  Schrift  von  Flourens  kann  schon  ihres  späten  Er- 
scheinungsjahres wegen  für  die  Entwicklung  der  Lehre 
Schopenhauers  vor  1844  nicht  in  Betracht  kommen. 

Für  den  Zweck  unserer  Untersuchung  sei  festgestellt,  dafs 
der  Einflufs  Flourens'  auf  Schopenhauer  zwar  noch  nicht  ftlr 
die  erste  Entwicklungsperiode  Schopenhauers  geltend  gemacht 
werden  darf,  dafs  Schopenhauer  aber,  wie  aus  den  Adversaria 
hervorgeht,  die  von  Flourens  gemachte  Unterscheidung  zwischen 
Irritabilität  und  Sensibilität  schon  von  1826  an  bekannt  war. 

Die  physiologischeii  Annahmen. 

Es  wird  sich,  um  den  zu  behandelnden  Stoff  nicht  zu  sehr 
zu  zersplittern,  als  zweckmäfsig  erweisen,  nicht  die  in  Betracht 
kommenden  Autoren  jeden  für  sich  zu  behandeln,  was  auch 
schon  wegen  des  Mangels  an  innerem  Zusammenhang  des  in 
Frage  kommenden  Tatsachenmaterials  mit  ihren  jeweiligen 
allgemeinen  theoretischen  Ansichten  kaum  von  Gewinn  sein 
dürfte,  sondern  die  speziellen  Punkte  in  der  Ausgestaltung 
der  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung 
jeden  für  sich  vorzunehmen  und  zuzusehen,  woher  er  sie  ge- 
nommen hat,  da  er  selbständige  Prüfungen  darüber  nicht  vor- 
genommen hat.  Wir  wollen  also  zuerst  die  physiologische 
Annahme  der  Lokalisation  der  Sinnesempfindungen  in  den 
Nervenenden  und  dann  die  vier  Data,  die  der  Verstand  beim 
Übergange  von  der  Sinnesempfindung  zu  ihrer  Ursache  im  Raum 
benutzt,  nebst  dem  Umstände,  dafs  er  dazu  eines  Erlernens 
bedarf,   auf   ihre   historischen   Grundlagen    hin    untersuchen. 

»)  III,  90  f.  «)  IV,  88. 

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204 

Bei  der  eingehenden  Kenntnis,  die  Schopenhauer  von  der 
griechischen  Philosophie  besafs,  erscheint  es  nicht  unangebracht, 
auch  auf  sie,  wenigstens  hinsichtlich  der  Lokalisation  der 
Empfindungen,  kurz  einzugehen. 

Bei  den  yorsokratischen  Philosophen  sind  es  zwar  nicht  die 
Nervenenden,  die  für  die  Lokalisation  der  Empfindungen  in  Frage 
kommen,  da  ihnen  die  Kenntnis  der  Nerven  noch  fehlte,  sondern 
die  Sinnesorgane  schlechthin.  Auch  wird  nicht  deutlieh  der 
Bewufstseinsgehalt  der  Empfindungen  dorthin  gelegt.  Vielmehr 
heifst  es  fast  durchgängig,  dafs  die  Empfindungen  von  den 
Organen  zum  Gehirn  oder  in  das  Innere  des  Körpers  geleitet 
und  dort  der  Seele  zugeführt  werden,  so  auch  noch  bei  Plato. 
Wir  finden  aber  doch  wenigstens  den  Gedanken  vor,  dais  die 
einzelnen  Organe  dem  Hervorbringen  der  besonderen  Sinnes- 
qualitäten dienen,  so  bei  Alkmaeon,^)  femer  in  der  Abhandlung 
IleQl  öaQxtov^y  bei  Empedokles,  Demokrit,  Anaxagoras,  Diogenes 
von  Apollonia  und  auch  bei  Plato. 

Etwas  ausgeprägter  gestaltet  sich  die  Lokalisation  der 
Empfindungen  in  den  Sinnesorganen  bei  Aristoteles.  Die  Seele 
wirkt  bei  ihm,  so  kann  man  sagen.  Überall  im  Organismus 
mit  je  einer  bestimmten  Funktion;  sie  ist  in  gewissem  Sinne 
im  ganzen  Organismus  lokalisiert;  ihre  Affektionen  sind  immer 
zugleich  auch  solche  des  Leibes.  So  auch  verhält  es  sich  mit 
der  Empfindung  im  Sinnesorgan.  Sie  ist,  wie  Siebeck  es  aus- 
drückt, physiologisch  eine  Art  der  Bewegung,  eine  qualitati?e 
Veränderung  des  empfindenden  Organs,  wodurch  der  Eindruck, 
modern  ausgedrückt,  der  Seele  zu  Bewufstsein  kommt:  Das 
Organ  ist  vorher  schon  dwafiet  empfindend,  und  diese  Mög- 
lichkeit geht  mit  dem  Eintreten  des  Eindrucks  in  Wirklichkeit 
über.  «Die  Seele  verhält  sich  zum  Leibe,  wie  die  Sehkraft 
zum  Auge."^) 

Diese  Gedanken  des  Aristoteles  zeigen  sowohl  in  der 
Lokalisation  der  Empfindungen  in  den  Sinnesorganen  als  auch 
insbesondere   darin,   dafs   sie   eine  metaphysische   Grundlage 


0  Theopbr.  De  sena,  S.  25,  und  Stob.  flor.  IV,  176. 
«)  Verfasser  unbekannt.    Sieb  Siebeck,  „GescWcbte  der  Psychologie 
vor  Aristoteles',  1880,  S.  105. 

»)  Siebeck,  „Aristoteles**,  1899,  S.  70f. 


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205 

haben,  eine  Verwandtschaft  mit  der  Lehrmeinang  Schopen- 
hauers, insofern  nämlich  auch  hier  die  Sinnesempfindnngen  and 
ihre  Lokalisation,  wenn  auch  in  einem  anderen  Sinne,  meta- 
physisch gedeutet  werden.  Ob  Aristoteles  hierin  anregend  auf 
Schopenhauer  eingewirkt  hat,  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  fest- 
zustellen. 

Die  Annahme,  dals  die  Sinnesempfindungen  in  den  Sinnes- 
organen lokalisiert  seien,  scheint  in  der  modernen  Wissenschaft 
zuerst  von  Kepler  vertreten  zu  sein.  Kepler  nimmt  an,  dals 
das  Bild  auf  der  Netzhaut,  indem  es  die  vom  Gehirn  herab- 
steigenden Nervengeister  in  Bewegung  setzt,  unmittelbar  die 
Gesichtsvorstellungen  hervorrufe. 

Über  Descartes  möge  hier  kurz  bemerkt  werden,  dafs  er 
die  Bewegungsvorgänge,  die  in  den  Sinnesorganen  ausgelöst 
und  durch  die  Nerven,  genauer  die  darin  enthaltenen  und  auch 
die  Gehimhöhlen  erfüllenden  Lebensgeister  bis  zur  glandula 
pinealis  fortgepflanzt  und  dort  als  bestimmter  Bewegungseffekt 
abgesetzt  werden,  prinzipiell  unterscheidet  von  den  Sinnes- 
empfindungen, die  vermittels  der  glandula  pinealis  auf  eine  hier 
nicht  näher  zu  erörternde  Weise  in  der  Seele  ausgelöst  werden.  ^) 
Bei  Descartes  also  findet  eine  Lokalisation  der  Sinnesempfin- 
dungen in  den  Sinnesorganen  im  Prinzip  nicht  statt 

Beide  Gedanken,  so  können  wir  also  sagen,  sowohl  der, 
dals  die  Empfindungen  unmittelbar  in  den  Sinnesorganen  be- 
wufst  werden,  als  auch,  dafs  sie  erst  im  Zentralnervensystem 
zum  Bewufstsein  gelangen,  gehören  der  älteren  Überlieferung 
und  daher  dem  allgemeinen  Wissensbestande  der  Zeit  des 
lungeren  Schopenhauer  an.  Für  diesen  können  aber  vielleicht 
auch  einige  unmittelbare  Quellen  aufgewiesen  werden. 

Von  den  Autoren,  die  in  der  ersten  Auflage  von  Sehen 
und  Farben,  in  der  die  Lokalisation  der  Sinnesempfindungen 
in  den  Nervenenden  schon  ausgesprochen  wird,  genannt  werden, 
sind  Cheselden,  Smith,  Buffon  und  Home  nicht  heranzuziehen, 
da  bei  ihnen  die  Frage  der  Lokalisation  der  Empfindungen 
entweder  gar  nicht  berührt  wird,  oder  unbestimmt  bleibt. 
Dagegen  finden  wir  sie  deutlich  und  in  ähnlichem  Sinne  wie 


0  „De  sensibus  in  genere'',  d.  i.  das  Kap.  IV  der  „Dioptrik*;  cf.  «Priu- 
cipia  PhUos/  IV,  189f. 


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206 

bei  Sehopenhaaer  beantwortet  von  Erasmas  Darwin  in  seiner 
„Zoonomia*.  Hier  heifst  es,  zunäehst  im  allgemeinen:  „Das 
Wort  Idee  ...  ist  hier  blofs  f  tlr  diejenige  Kenntnis  der  änlsereD 
Dinge  gebraaeht,  womit  uns  nnsere  Sinnesorgane  ursprünglich 
bekannt  maehen,  und  ist  definiert  als  eine  Zasammenziehnng 
oder  Bewegung  oder  Konfiguration  der  Fibern,  welche  die  un- 
mittelbaren Sinnesorgane  aasmaehen.  Als  synonym  mit  dem 
Worte  Idee  gilt  sinnliehe  Bewegung. ""  <)  .Die  tierischen  Be- 
wegungen oder  Konfigurationen  unserer  Sinnesorgane  maeben 
unsere  Ideen  aus.^  ^)  Es  sei  nebenher  bemerkt,  daf s  die  Gedanken- 
gänge Erasmus  Darwins  nicht  prinzipiell  materialistisch  gerichtet 
sind.  Im  einzelnen  sagt  er  nooh:  .Die  Netzhaut  und  andere 
unmittelbare  Sinneswerkzenge  besitzen  Bewegungs vermögen , 
und  diese  Bewegungen  machen  unsere  Ideen  aus.*')  .Weder 
meehanische  Eindrücke,  noch  chemische  Verbindungen  des 
Lichtes,  sondern  blofs  die  tierische  Tätigkeit  der  Netzhaut 
macht  das  Sehen  aas.^^} 

Sodann  ist  hier  noch  Trox  1er  zu  nennen.  Er  erklärt: 
„Ihren  höchsten  Oipfel  erreicht  die  Sensibilität  da,  wo  sie, 
wirklich  Sinn,  den  leisesten  Einflüssen  der  Auisenwelt  sich 
entgegenriohtet,  weswegen  wir  denn  auch  in  allen  diesen 
Organen  ein  unschätzbares  Verzweigen  und  Verfeinem  der 
Nerven  finden  .  .  .  sowie  auch  alle  äulseren  Eindrücke  hier 
zur  Konszienz  oder  Einheit  gelangen.  Das  Organ  des  Gesichts 
wird  also  als  solches  in  seiner  höchsten  Potenz  da  sich  kon- 
stituieren, wo  es  selbst  zutage  bricht  .  .  .  Aus  dieser  Ansicht 
folgt  nun,  dafs  der  optische  Nerv,  um  so  weniger  er  sich  schon 
zur  Retina  entfaltet  hat,  um  so  weniger  den  individuellen  Sinn 
des  Sehens  in  sich  tragen  könne  ...  So  vne  wir  demnach 
die  feine  Netzhaut  als  Antenne  für  Farbe  und  Licht  ansehen 
müssen,  so  ist  uns  der  Nerv  selbst  nur  das  Assimilationsorgan, 
welches  durch  seine  Energie  die  schon  geschaffenen  Sensationen 
sich  unterwirft,  festhält  und  fortpflanzt*»)  „Alle  Strahlen, 
welche  die  Retina  treffen,  werden  hier  zum  Bilde  der  Objektivität, 


1)  „Zoonomia'',  Abschn.  II,  Kap.  II,  §  7. 
«)  „  „      III,    ,    m,Einleit. 

»)        r,  .     ni,   ,     I. 

*)  ,  ,      lU,    „    IV,  Einlelt. 

*)  .Ophthal.  Bibl.",  B.  II,  St  2,  S.  15,  16. 


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207 

Yon  welcher  sie  aasgingen,  während  der  Sehnerv  in  seiner 
ganzen  Länge,  noch  za  sehr  in  sich  selbst  yerschlossen,  als 
allgemeiner  Empfindangsnerv  nichts  als  die  Reflexe,  welche  von 
seinen  sehenden  Filamenten  ausgehen,  perzipieren  kann.  Es 
ruht  der  Sinn  in  der  ganzen  inneren,  sich  dem  Aulseren  ent- 
gegenwölbenden Fläche;  und  die  Strahlen  von  diesem  gehen 
nun  durch  Vermittelung  des  durch  die  Siebplatte  dringenden 
Teils  des  Sehnerven  in  den  massiven  Teil  desselben  über, 
dem  wieder,  als  der  reinen  Länge,  blofs  die  Fortbildung  der 
geschehenen  Sensationen  übertragen  werden  kann.*  <)  Die  Lehr- 
meinung Troxlers  in  diesem  Punkte  ist  jedoch  nicht  konsequent 
festgehalten.  Er  führt  im  Widerspruch  zu  dem  Zitierten  an 
anderer  Stelle,  beeinflufst  von  im  Sinne  Schellings  gehaltenen, 
metaphysischen  Erwägungen,  folgendes  aus:  „Es  ist  der  Physio- 
logie leicht,  darzutun,  dafs  das  Auge  nur  ein  Vermittlungsorgan 
des  Änfseren  mit  dem  Innern  ist,  welches  durch  sein  eigentüm- 
liches Leben  die  Aufsenwelt  mit  unserem  Geiste  so  verknüpft, 
daij9  die  optische  Erscheinung,  wie  sie  sich  uns  darstellt,  nicht 
etwa  aniser  uns,  wie  der  blofs  sinnliche  Mensch  wähnt,  aber 
auch  nicht  auf  der  Fläche  der  Retina,  wie  der  blofs  reflek- 
tierende Optiker  träumt,  entsteht,  sondern  in  unserem  tiefer 
liegenden  Innern  durch  die  Einwirkung  von  aufsen  und  die 
Vermittlung  des  Auges  nach  innen  erzeugt  wird."  3)  ,Dafs  das 
Sehen  wirklich  eine  höhere  Funktion  ist  als  die,  welche  im 
Boden  des  Auges  geschieht  .  .  ,''^)  .Infolge  von  all  diesem 
Vorausgesetzten  behaupten  wir  nun  mit  Grund:  Erstens  kein 
Auge  sieht,  und  folglich  zweitens  kein  Auge  sieht  für  sich 
besonders,  und  drittens,  daher  hat  die  Frage,  warum  wir  mit 
zwei  Augen  nicht  doppelt  sehen,  nur  für  denjenigen  Sinn, 
welcher  von  falschen  Hypothesen  ausgeht  und  dadurch  zu  un- 
richtigen Folgerungen  geführt  wird.*^) 

Von  den  übrigen,  in  der  ersten  Auflage  von  Sehen  und 
Farben  genannten  Autoren  kommt  in  dem  besprochenen  Punkte 
keiner  mehr  in  Betracht. 

Ein  Rückblick  auf  das  Dargelegte  ergibt,  dais  Schopenhauer 
in  der  Annahme  der  Lokalisation  der  Sinnesempfindungen  in 


0  Ebenda  B.  II,  St.  2,  S.  17,  18.  ')  Ebenda  B.  III,  St.  3,  S.  7. 

*)  Ebenda  B.  III,  St  3,  S.  8.  *)  Ebenda  B.  UI,  St.  8,  S.  9. 


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208 

den  Nervenenden  möglicherweise  durch  verwandte  Gedanken 
in  der  griechischen  Philosophie,  insbesondere  bei  Aristoteles, 
wahrscheinlicher  aber,  entgegen  den  im  Prinzip  deduktiv  ge- 
richteten Annahmen  eines  Descartes,  durch  die  mehr  empirisch 
Aindierten  des  Zoologen  Erasmus  Darwin  entscheidend  bestimmt 
worden  ist  Auch  ein  Einflufs  von  Seiten  Troxlers  wird  an- 
genommen werden  dürfen. 

Für  die  psychologische  Wendung  aber,  dafs  mit  dem  Be- 
wufstsein  der  Sinnesempfindungen  zugleich  ein  BewuTstsein  Tom 
„unmittelbaren  Objekt*  gegeben  sei,  fanden  wir  bereits  bei 
G.  E.  Schulze  eine  historische  Grundlage. 

In  der  zweiten  Entwicklnngsperiode  Schopenhauers  wird  die 
Lokalisation  der  Empfindungen  in  den  Nervenenden  beibehalten. 
Dies  mufs  einigermafsen  auffallend  erseheinen,  da  in  einer  Reihe 
der  damals  mafsgebenden  physiologischen  Untersuchungen  der 
Bewufstseinsgehalt  der  Empfindungen  in  der  Grofshimrinde 
lokalisiert  wird,  so  dafs  ihnen  gegenüber  die  ungeprüften 
Meinungen  einiger  anderer  sachlich  kaum  ins  Gewicht  fallen. 

Sehen  wir  nun  zu,  welches  die  Meinungen  der  über  diesen 
Punkt  sich  äufsernden  Autoren  waren,  die  bis  1844  auf  Schopen- 
hauer eingewirkt  haben  können.  Sie  mögen  in  der  historischen 
Reihenfolge  ihrer  Hauptwerke  zur  Sprache  gebracht  werden. 

Thomas  Reid  nimmt  an,  dafs  «die  Bilder  auf  der  Netz- 
haut vermöge  der  Gesetze  der  Natur  die  Mittel  zum  Sehen 
sind,  aber  auf  welche  Art  sie  ihre  Bestimmung  erfüllen,  uns 
gänzlich  unbekannt  ist*^  ,Es  ist  nicht  im  geringsten  wahr- 
scheinlich", sagt  er,  „dafs  in  den  Sehnerven,  noch  im  Gehirn, 
irgend  ein  Abbild  oder  Gemälde  von  dem  Gegenstande  sein 
sollte.  Und  ebenso  unwahrscheinlich  ist  es,  dafs  die  Seele 
die  Bilder  auf  de):  Netzhaut  wahrnehmen  sollte.  Diese  Bilder 
sind  ebensowenig  die  Gegenstände  unserer  Wahrnehmung, 
als  es  Gehirn  und  Sehnerv  sind.^^)  ,Wir  müssen  uns  damit 
begnügen  .  .  .  dafs  gewisse  Dinge  miteinander  verknüpft  sind 
und  unveränderlich  aufeinander  folgen,  ohne  dals  wir  fähig 
wären,  die  Kette  zu  entdecken,  die  sie  aneinanderreiht*'  ^)  Aus 
diesen  und  anderen  Ausführungen  ist  ersichtlich,  dafs  die  Lokali- 
sation der  Empfindungen  bei  Reid  unbestimmt  bleibt 

»)  A.  a.  0.  Vol.  1  ^Inquiry«  Abscbu.  VI,  §  12.         «)  Ebenda  und  §  21. 

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209 

Bei  Bichat  herrscht  die  Meinung  vor,  dafs  die  Sinnes* 
Organe  empfinden  und  das  Gehirn  die  Sensationen  perzipiere: 
,Die  Haut,  die  Augen,  die  Obren,  die  Membrane  der  Nase, 
des  Mundes,  alle  Sohleimhäute  bei  ihrem  Entstehen,  die 
Nerven  usw.  empfinden  den  Eindruck  der  Körper,  die  sie 
bertthren,  und  leiten  ihn  dann  zum  Gehirn  hin,  welches  das 
Hanptzentrum  der  Sensibilität  dieser  Tcrschiedenen  Organe 
isf^^)  .Die  Sensationen,  zuerst  verwirrt,  zeigen  dem  Kinde 
nur  allgemeine  Bilder.  Das  Auge  hat  nur  die  Empfindung  des 
Lichtes,  daa  Ohr  nur  die  des  Tones,  das  Organ  des  Geschmacks 
nur  die  der  Schmackhafdgkeit,  die  Nase  nur  die  des  Geruches*.^) 
Offenbar  denkt  Bichat,  wenn  er  hier  von  Sensationen  spricht, 
an  den  Bewufstseinsgehalt  der  Sinnesempfindungen,  die  er  in 
die  Organe  verlegt  Bichats  Lehre  konnte  also  in  diesem  Punkte 
sehr  wohl  als  Bestätigung  der  Lehre  Schopenhauers  gelten, 
obgleich  die  Scheidung  von  vie  animale  und  vie  organique  bei 
Biehat,  die  Schopenhauer  als  der  Sache  nach  mit  seiner  Scheidung 
von  Intellekt  und  Willen  Übereinstimmend  anspricht,  hinsichtlieh 
der  Einordnung  der  Empfindungen  zu  einer  Abweichung  ftthrt. 
Bichat  nämlich  rechnet  dieselben  zur  vie  animale,  während  vom 
Standpunkte  Schopenhauers  eher  erwartet  werden  mttfste,  dafs 
sie,  weil  sie  in  das  Gebiet  des  Vorstellens  nicht  hineingehören, 
zur  vie  organique  zu  zählen  seien. 

Die  physiologischen  Annahmen  von  Cabanis  über  die 
Lokalisation  der  Sinnesempfindungen  mögen  aus  folgenden  Aus- 
führungen ersehen  werden:  .Unmittelbare  Erfahrungen  .... 
haben  gelehrt,  dafs  die  Empfindung  oder  wenigstens  ihre  Wahr- 
nehmung (la  Sensation,  ou  moins  sa  perception)  nicht  am 
äufseren  Ende  des  Nerven,  und  in  dem  Organe  vor  sich  geht, 
wo  die  Ursache,  welche  die  Empfindung  bestimmt,  unmittelbar 
hinwirkt,  sondern  in  denjenigen  Vereinigungspunkten,  wo  alle 
Nerven  ihren  Anfang  nehmen,  und  wo  die  Eindrücke  sich 
vereinigen  .  .  .  Die  Nerven  sind  es,  die  empfinden,  und  im 
Gehirn,  in  dem  verlängerten  Mark  und  wahrscheinlich  auch  in 


1)  Biohat,  „Recherches  physiologiqaes  aar  la  vie  et  la  mort'',  4™«. 
Edit  Paris  1822,  S.  107. 
*)  Ebenda  S.  202/03. 

PUloioplüiohe  Abbandlnngfln.    XLII.  14 


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210 

dem  Bttckenmark  geht  die  Wahrnehmung  vor  gicb.*^)  Die 
Empfindangsfähigkeit  der  Nerven  ist  nach  Gabanis  eine  „aen- 
sibiiitö  Sans  Sensation,  e*est-ä,dire,  sans  impressions  per^aes".^) 
,Da  wir  blofs  eine  wahrgenommene  Impression  (impression 
per^ne)  Empfindung  (sensation)  nennen,  so  gibt  es  in  der  Tat 
eine  sensibilitä  sans  Sensation/^)  „Es  gehen  also  viele  Be- 
wegungen in  der  tierischen  Oekonomie  vor  sich,  ohne  dals 
das  Ich  davon  etwas  weifs  (k  Hnsn  da  moi),  wobei  denooeh 
das  Empfindnngsorgan  von  Einflals  ist  Man  mnfs  also  die 
Nerven  als  Organe  ansehen,  welche  Impressionen  empfaogen 
können,  die  gewisse  Bewegungen  bestimmen,  ohne  dafs  der  Zen- 
tralpunkt des  Gehirns,  wo  die  Ideen  und  Willensbestimmungen 
sich  bilden,  diese  Bewegungen  und  Impressionen  gewahr  wird."^) 
Das  Wort  ,id^e*  umfafst  bei  Cabanis  auch  die  Sensation  per^oe.^) 
.Mehrere  Philosophen  und  selbst  mehrere  Physiologen  erkennen 
die  Sensibilität  nur  dort  an,  wo  das  Bevnifstsein  der  Eindr&eke 
stattfindet:  Dieses  Bewufstsein  ist  in  ihren  Augen  der  aos- 
schlielsliche  und  bestimmte  Charakter  der  Sensibilität  Indessen, 
nichts  widerspricht  den  wohlverstandenen  physiologischen  Tat- 
sachen mehr;  nichts  ist  unzureichender  zur  Erklärung  der 
ideologischen  Phänomene."  <^)  Aus  diesen  Ausführungen  geht 
hervor,  dafs  Cabanis  den  Bewufstseinsgehalt  der  Empfindungen 
nicht  in  den  Nervenenden,  sondern  in  dem  Zentralorgan 
lokalisiert  In  diesem  Sinne  sind  bei  Cabanis  Wendungen  za 
interpretieren,  wie  dafs  „die  Nerven  die  Organe  der  Sensibilität 
iseien''.  Es  findet  jedoch  bei  Cabanis  eine  reinliche  Scheidung 
des  Psychischen  vom  Physischen  nicht  statt  und  eine  Ver- 
mischung derselben  gibt  sich  gelegentlich  auch  in  dem  Ge- 
brauche des  Wortes  sensibilitö  sans  Sensation  kund,  was  ans 
seinen  in  anderem  Zusammenhange  stärker  hervortretenden 
materialistisch  gerichteten  Lehrmeinungen  verständlich  wird. 
Die  Annahmen  von  Flourens  in  diesem  Punkte  wider- 
sprechen denen  Schopenhauers  gleichfalls,  wenngleich  sie,  wie 
wir   sehen   werden,   bei   einer   geringen   Wendung  geeignet 

^)  Cabanis,  «Rapports  da  physique  et  da  moral  de  rhomme",  T.  I, 
2««.  Edit.  Paris  1805,  S.  64f. 

>)  Ebenda  T.  II,  S.  338.  ')  Ebenda  T.  II,  S.  839. 

*)  Ebenda  T.  II,  S.  339  f.  *)  Ebenda  T.  I,  S.  74. 

«)  Ebenda  T.  U,  S.  335. 


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211 

sein  können,  die  Oedapkengänge  Sehopenhauers  zu  stützen. 
Floatens  bildet  die  Untersnehangen  Galls  über  die  BewnlBtseins- 
fnnktion  der  Grof  shirnrinde  in  bestimmter  Weise  um  and  kommt 
dabei  za  folgender  Annahme  Über  die  Lokalisation  der  Sinnes- 
empfindangen:  „Die  intellektaellen  and  perzeptiven  Fähigkeiten 
haben  ihren  Sitz  in  den  Gehimlappen,  die  Koordination  der 
Ortsbewegangen  in  dem  Kleinhirn,  die  anmittelbare  Erregang 
der  Maskelzasammenziehang  in  dem  Bttckenmark  and  seinen 
Nerven.^  ^)  .Endlich",  sagt  er  weiter,  .ist  nicht  nar  der  Ursprang 
der  Bewegangen  in  der  Gehimmasse  verschieden  von  dem  der 
Perzeptionen,  sondern  selbst  der  der  Sinne  nnterscheidet  sich 
noch  von  dem  der  Perzeptionen.  Die  Wegnahme  der  Gehirnlappen 
z.  B.  bewirkt  aagenblicklich  den  Verlast  des  Sehens,  aber  die 
Iris  bleibt  dabei  nicht  weniger  beweglich,  der  optische  Nerv 
erregbar,  die  Retina  sensibel.  Die  Wegnahme  aber  der  tabercales 
bijamaax  oder  qaadrijamaax  zerstört  aaf  der  Stelle  die  Kon- 
traktilität  der  Iris,  die  Aktion  der  Betina  and  des  optischen 
Nervs.  Im  ersten  Falle  hat  man  nar  die  Perzeption  des  Sehens 
(la  pereeption  de  la  vae)  zerstört,  im  zweiten  zerstört  man  den 
Gesichtssinn  (le  sens  de  la  vae).  Es  gibt  also  als  letztes  Er- 
gebnis der  Analyse  in  der  Gehimmasse  Organe,  die  ftlr  die 
Sinne  (les  sens),  für  die  Wahrnehmong  (la  pereeption]  and  die 
Bewegangen  (les  monvements)  bestimmt  sind."  2)  fjber  den 
Gegensatz  von  sens  oder  Sensation  and  pereeption  erfahren 
wir  folgendes:  .Die  Sensation  im  eigentlichen  Sinne,  die  sen- 
sibilit6  Überhaupt,  ist  verschieden  von  der  pereeption  oder 
intelligenee  ....  Wenn  man  das  Gehirn  im  eigentlichen 
Sinne  oder  die  Gehirnlappen  bei  einem  Tier  wegnimmt,  so 
verliert  das  Tier  alle  intelligenee  and  folglich  jede  pereeption. 
Aber  mit  Beziehang  aaf  das  Aage  ist  nichts  geändert:  Die 
Objekte  fahren  fort,  sich  der  Betina  einzudrucken,  die  Iris 
bleibt  zasammenziehbar,  der  optische  Nerv  erregbar.  Die  Betina 
bleibt  lichtempfindlich;  denn  die  Iris  schliefst  and  öffnet  sich 
gemäfs  dem  Lichte  mehr  oder  weniger  lebhaft    Also  ist  das 


1)  Fiourens,  „RachercheB  exp^rimentales  sar  les  propri6t6s  et  les 
fonctions  du  systöme  nenreux  dans  les  animanz  vert^br^s*',  2.  Auflage, 
Paris  1842,  S.  XIII  der  Einleitung. 

>)  Ebenda  S.  XY/XVI  der  Einleitung. 

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212 

Ange  sensibel,  und  doch  sieht  das  Tier  nicht  mehr.  Die  Sensation 
ist  also  nicht  die  vision;  die  vision  ist  nar  die  perception  de 
la  Sensation.*' 1)  Ans  diesen  Ansftthrangen  geht  hervor,  daä 
die  sensibilitö  der  Sinnesorgane  bei  Flonrens  nur  die  ihnen 
eigenen  Bewegnngsvorgänge  bedeuten,  und  dafs  der  Bewofst- 
seinsgehalt  der  Sinnesempfindungen  erst  der  perception  eigen 
und  somit  in  der  Grofshirnrinde  lokalisiert  ist  Selbst  die  un- 
bewnfste  sensibilitö  ist  durch  Vorgänge  in  der  Grofshirnrinde 
mitbedingt. 

Die  Übrigen  in  den  späteren  Schriften  Schopenhauers  er- 
wähnten Physiologen  kommen  fbr  die  Lokalisation  der  Sinnes- 
empfindungen teils  nicht  in  Betracht,  teils  setzt  ihre  Kenntnis, 
wie  z.  B.  die  von  Johannes  MttUer  und  Helmholtz,  die  in  den 
Schriften  von  1854  erwähnt  werden,  zu  einer  Zeit  ein,  wo  sie 
auf  die  Bildung  der  Annahmen  Schopenhauer  in  diesem  Punkte 
keinen  Einfiufs  mehr  hatten. 

Ein  Rückblick  auf  das  bisher  Ausgeführte  ergibt,  dafs  die 
Beibehaltung  der  Annahme,  die  Empfindungen  seien  in  den 
Nervenenden  lokalisiert,  in  der  zweiten  Entwicklungsperiode 
Schopenhauers  entgegen  den  Lehrmeinungen  eines  Cabanis  und 
Flourens  erfolgt.  Gegenüber  dem  Gewicht  der  Untersuchungen 
dieser  Forscher  wird  man  nicht  fehlgehen  zu  vermuten,  dab 
Schopenhauers  Festhalten  an  jener  Annahme  nicht  allein  in 
der  Übereinstimmung  mit  den  älteren  Anatomen  und  Physiologen 
Erasmus  Darwin  und  Bichat  seinen  Grund  hat,  sondern  znm 
nicht  geringen  Teil  auch  darin,  dafs  vom  Standpunkte  seiner 
Lehre  über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Wille  aus,  in  den 
ihm  widersprechenden  physiologischen  Untersuchungen  kein 
zwingender  Grund  für  ihn  gegeben  war,  die  sensibilit6  sans 
Sensation,  um  mit  Gabanis,  und  die  Sensation  pas  per^ues,  um 
mit  Flourens  zu  reden,  lediglich  als  Bewegungsvorgänge  auf- 
zufassen. Flourens  lieferte,  wenigstens  in  den  Augen  Schopen- 
hauers, den  physiologischen  Nachweis  dafür,  dafs  Sensation  und 
Perzeption  zu  scheiden  seien.  Dieser  Unterschied  ist  nun  zwar 
in  Wirklichkeit  bei  Flourens  nicht  gleichbedeutend  mit  dem 
der  blofsen  Empfindung  und  der  objektiven  Wahrnehmung  bei 
Schopenhauer,  denn  den  Sensationen  ist  bei  Flourens,  wie  wir 


<)  Ebenda  S.  24. 

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213 

sahen,  ttberhanpt  kein  Bewafstseinscharakter  eigen,  nicht  also 
blofs  kein  Bewafstseinscharakter  im  Sinne  Schopenhauers,  d.  i. 
kein  Vorstellnngscharakter.  Dafs  jedoch  Schopenhauer  Flonrens' 
Sensationen  mit  seinen  blofsen  Sinnesempfindungen  gleichgesetzt 
habe,  geht  daraus  hervor,  dafs  er  die  Ergebnisse  der  Unter- 
suchungen von  Flourens  als  eine  Bestätigung  seiner  Lehre  von 
der  Intellektualität  der  Anschauung  auffafst.  Diese  Interpretation 
ist  vom  Standpunkte  Schopenhauers  aus  verständlich.  Er  kann 
nämlich  die  Sensationen  zwar  als  ein  ünbewufstes,  d.  i.  Vor- 
stellnngsloses,  aber  doch  zum  Willen  Gehöriges  deuten.  Diese 
Auffassung  findet  tatsächlich  einen  Anhalt  in  einem  Gedanken- 
gange von  Gabanis.  Cabanis  lokalisiert,  wie  oben  ausgeführt 
wurde,  den  Bewuf  stseinsgehalt  der  Empfindungen  in  dem  Zentral- 
nervensystem und  unterscheidet  von  den  bewufsten  Empfin- 
dungen die  sensibilitö  sans  Sensation  in  den  Sinnesorganen. 
Nun  führt  er  ttber  diese  sensibilitä  noch  folgendes  aus: 
„Man  mufs  das  Nervensystem  fttr  geeignet  halten,  sich  in 
mehrere  besondere  Systeme  niederer  Art  zu  teilen,  welche  alle 
ihre  Zentren  haben,  ihren  Punkt  der  besonderen  Reaktion,  wo 
die  Eindrücke  zusammenlaufen,  und  von  wo  Bewegungs- 
bestimmungen ausgehen  . . .  Vielleicht,  wie  es  sich  Van  Helmont 
hinsichtlich  der  verschiedenen  Organe  dachte,  bildet  sich  in 
jedem  System  und  in  jedem  Zentrum  eine  Art  von  besonderem 
Ich  (moi  partiel)  aus,  partiell  in  Hinsicht  auf  die  Eindrücke, 
von  denen  dieses  Zentrum  der  Sammelplatz  ist,  und  auf  die 
Bewegungen,  welche  sein  System  bestimmt  und  leitet  Die 
Analogien  zeigen,  dafs  es  in  der  Tat  etwas  derartiges  gibt. 
Aber  vrir  können  uns  keine  deutliche  Vorstellung  von  diesen 
volontäs  partielles  machen,  da  alle  unsere  Empfindungen  vom 
Ich  sich  ausschliefslich  auf  das  Hauptzentrum  beziehen  .... 
Diese  Art  der  Betrachtung  aber  könnte  uns  dazu  führen,  jedes 
Reaktionszentrum  als  irgend  eine  Art  von  moi  väritable  zu 
betrachten."  ^)  Die  Auffassung  der  blofsen  Sensibilität  als  einer 
Art  von  Streben  oder  Wollen  klingt  auch  aus  folgender  Stelle 
heraus:  «Wir  können  vermuten,  dafs  einige  Analogie  zwischen 

1)  Cabaois'  „Rapports"  T.  II,  S.  340  f.  —  Vgl.  „Revue  des  deux 
mondes"  1.  Mai  1880,  S.  46,  einen  Aufsatz  von  Paul  Janet:  „Schopenhauer 
et  la  Physiologie  fran^aise",  in  dem  die  hier  besprochene  Parallele  zwischen 
Cabanis  and  Schopenhauer  in  diesem  Punkte  gleichfalls  hervorgehoben  wird. 


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214 

der  animalen  Sensibilität,  dem  Instinkte  der  Pflanzen,  der 
(chemisohen)  Affinität  und  der  einfachen  Schwerkraft  bestehe. 
Soviel  ist  gewifs,  dafs,  der  wesentlichen  Unterschiede  uoge- 
achtet,  doch  alle  drei  Arten  der  Phänomene  ein  gewisses 
unmittelbares  Streben  (tendence  directe)  der  Körper  g^eneio- 
ander  zeigen.^  i)  Im  Anschlafs  daran  wirft  Cabanis  das  Problem 
aaf,  ob  dieses  Streben  nicht  eine  Art  „instinct  nniyerselle' 
sei,  der  sich  Ton  der  Schwerkraft  an  aufwärts  bis  znletzt  zur 
Sensibilität  und  der  Intelligenz  entwickle. 

Schopenhaner  hat  von  diesen  Gedanken  Cabanis'  Kenntnis 
genommen  und  bespricht  sie  ansftthrlich  in  seinem  Mannskript- 
bnch  Qnartant  ans  dem  Jahre  1824.  Diese  Ansftlhningen  seien 
in  dem  Zusammenhange,  in  dem  sie  stehen,  angeführt  Es 
heifst:  „Cabanis'  rapports  du  physique  et  du  moral  de  Iliomme 
(Am  Rande:  Paris  1805,  2.  Auflage,  1824,  also  nach  19  Jahren!) 
ist  ein  sehr  gehaltvolles  Buch,  dessen  Inhalt  ein  Hauptteil  einer 
echten  Anthropologie  ausmachen  mttfste,  welche  bisher  vemaeh- 
lässigt  ist  Seine  allgemeine  Tendenz  ist,  alle  sogenannten 
geistigen  Äufserungen  des  Menschen  von  der  physischen  Seite 
zu  betrachten,  zu  zeigen,  welchen  Anteil  daran  erstlich  das 
Nervensystem  überhaupt  hat  und  wie  sie  alle  nur  als  Änilse- 
rnngen  desselben  physiologisch  zu  betrachten  sind;  sodann 
welchen  Einflnfs  das  ganze  somatische  System,  die  Tempera- 
mente, Alter,  Geschlecht,  Krankheit  usw.  darauf  haben. 

Das  Wichtigste  im  Buch  ist  die  eigentliche  Physiologie 
des  Nervensystems.  Er  unterscheidet  die  plastischen  und 
animalischen  Nerven,  das  Hanptzentrum  (Gehirn),  die  unter- 
geordneten Zentren  (Ganglien,  sympathischer  Nerv),  wie  ich 
davon  das  Wesentliche  beigeschrieben  zu  p.  175  meines  Werks. 
Sein  Hauptsatz  aber  ist  dieser:  Das  Nervensystem  hat  nicht 
blofs  ein  Ende,  sondern  zwei,  und  die  Einwirkungen,  welche 
beide  erhalten,  haben  Einflufs  auf  unsere  Vorstellungen  und 
unser  Wollen.  Bisher  hat  man  eigentlich  nur  das  eine  Ende 
in  dieser  Hinsicht  beachtet,  das  äufsere,  die  Nervenenden,  welche 
an  den  Sinnesorganen  und  unter  der  ganzen  äufseren  Haut 
dem  Einfluls  von  aulisen  offenstehen  und  deren  Affektionen  die 
offenbare  Grundlage  der  Vorstellungen  und  dadurch  der  Ent- 

»)  Ebenda  T.  U,  S.  324. 


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215 

schlief  sangen  sind,  wie  dieses  Locke  and  Condillac  gezeigt  haben. 
Das  andere  Ende  des  Nervensystems  sind  die  Nerven,  welche 
sich  in  den  Eingeweiden  and  Gef&fsen  aller  Art  verbreiten, 
dort  mancherlei  Reize  vom  Blnt,  dem  eingebrachten  Nahrangs- 
stoff, den  schon  bereiteten  besonderen  Säften  nsw.  erhalten  and 
daraof  eine  angemessene  Reaktion  ansttben,  welche  nicht  vom 
Gehirn,  sondern  von  den  antergeordneten  Nervenzentris  geleitet 
wird,  wie  es  diese  aach  sind,  die  besagte  Reize  anmittelbar  von 
den  Nerven  empfangen.  Allein  mittelbar  haben  diese  Reize  and 
Affektionen  der  Nervenenden  des  Innern  dennoch  Einflafs  aaf 
das  Zentralsystem,  and  folglich  aach  die  Vorstellangen  and  Ent- 
schUefsnngen,  nar  dafs  sie  nicht  so  dentlieh  and  klar  empfanden 
werden,  wie  die  Affektionen  der  äofseren  Nervenenden  .... 

Anfser  den  Affektionen,  die  das  Haaptzentrnm  des  Nerven« 
Systems  von  jenen  beiden  Enden  erhält,  entstehen  ihm  aach 
welche  in  seinem  Innern:  das  Gehirn  wirkt  aaf  sich  selbst  mit 
Spontaneität  Er  erläatert  dies  darch  die  Analogie  damit,  dafs 
der  erste  Sinneseindrack,  den  wir  anerwartet  dorch  Aage,  Ohr 
erhalten,  nicht  dentlieh  perzipiert  wird,  sondern  blofs  die  Aaf- 
merksamkeit  weckt;  diese  mafs  nan  vom  Gehirn  ans  erst  in 
einem  zweiten  Akt  aaf  das  Sinnesorgan  gerichtet  werden,  also 
[mofs]  ein  spontaner  Akt  vom  Zentro  nach  der  Peripherie  gehn 
(ein  absichtliches  Sehen,  Hören),  damit  dort  der  Eindrnck  rein 
gefühlt  werde:  Dem  analog  wirkt  das  Gehirn  aaf  sich  selbst  and 
sein  ganzes  System;  dies  geschieht  bei  allem  Denken,  Phanta- 
sieren, Erinnern,  im  Tranme,  geschieht  übertrieben  in  Ekstasen, 
im  Wahnsinn.  —  Ich  erinnere  dabei,  dafs  diese  Operationen  des 
Gehirns  nicht  ohne  Grand  and  Zasammenhang  vor  sich  gehen, 
sondern  entweder  nach  dem  Gesetz  der  Motivation,  oder  dem 
des  Erkenntnisgrandes  (letzteres  verbessert  Schopenhauer  in 
einer  späteren  Übersehrift  wie  folgt:  oder  dem  der  Ideen- 
assoziation nach  dem  Erkenntnisgrande  der  Analogie  and  der 
Gleichzeitigkeit),  and  dafs  der  Stoff  za  denselben  vom  äafseren 
Nervenende  geliefert  ist,  die  Yerarbeitang  desselben  aber  wohl 
oft  vom  inneren  Nervenende  Einflafs  erftlhri 

Cabanis  behauptet,  dafs  es  Sensibilität  ohne  Empfindung 
gibt:  nämlich  die  inneren  Funktionen  des  vegetativen  Lebens 
stehen  unter  Leitung  des  Nervensystems  der  Ganglien:  der  Nerv 
empfängt  im  Innern  Reize  und  leitet  auf  dieselben  die  Ab- 


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BonderoDgen,  Verdauang,  ZirknlatioD  usw.,  wählt  ans  dem  Blut 
die  abzasondernden  Teile  ans;  dies  ist  efiPet  de  la  sensibilite 
k  rinsfu  dn  moi;  einmal  sagt  er  aach:  seroit-ce  nn  eommence- 
ment  de  Tolontö  par  des  ehoix  constants?  Dals  ein  Wille  hier 
wirkt,  ist  richtiger,  als  dafs  es  Sensibilität  ohne  Empfindnog 
sei,  was  fast  ein  Widersprach  ist:  das  Wahre  ist,  dafs  die 
Nervenenden  des  Innern  anter  der  Leitung  ihrer  Ganglien  bei 
jenen  Operationen  Willensakte  üben,  so  gut  wie  die  Glieder 
anter  Leitung  des  Gehirns;  dafs  aber  jene  Willensakte  onbewafst 
geschehen,  weil  die  Nerven  dort  nicht  direkt  mit  dem  Gehirn 
kommanizieren,  sondern  blofs  mit  den  Ganglien,  welche  vom 
Gehirn,  wie  Reil  sagt,  isoliert  sind,  höchstens  eine  Halbleitong 
zu  ihm  haben,  die  der  Magnetismas  zu  einer  ganzen  macht 
Dafs  die  Nerven,  welche  zu  den  beweglichen  äafseren  Gliedern 
gehen,  nach  Gh.  Bell  and  Magendie  nnr  die  vordem,  die  Leiter 
des  Willens  sind,  der  diese  Glieder  bewegt ,  dies  ist  doch 
wohl  anfser  Zweifel  Nan  bedenke  man,  dafs  ebensolche  dieser 
der  Substanz  nach  homogene  Nerven  in  die  Wände  aller  Gefälse 
and  Eingeweide  laafen  and  dafs  für  die  dort  vor  sich  gehenden 
Operationen  kein  anderes  Agens  sichtbar  ist,  als  eben  dieses, 
welches  wir  schon  als  Organ  des  Willens  kennen,  dafs  femer 
anderseits  fbr  die  Gegenwart  der  Nerven  daselbst  kein  anderer 
Zweck  za  finden  ist,  nicht  einmal  der,  welcher  bei  den  äafseren 
Gliedern  nebenbei  statthat,  Empfindung  hervorzubringen,  denn 
diese  fehlt  hier  (eine  Randbemerkung  kann  hier  ttbergangen 
werden),  so  wird  es  wohl  ziemlich  gewifs  werden,  da&  eben 
auch  alle  vitalen  und  vegetativen  Verrichtungen 
durch  den  Willen  geleitet  werden,  der  die  äufseren 
Aktionen  leitet  (am  Rande:  und  der  Unterschied  blofs  in  der 
Beschaffenheit  des  Gentri  liegt,  welches  sie  vermittelt  und  darch 
welches  sie  gehen).  Sie  kommen  inzwischen  nicht  ins  Be?nifst- 
sein,  d.  h.  das  Gehirn  (der  Ort  der  Vorstellungen)  erhält  keine 
direkte  Notiz  von  ihnen:  dies  erklärt  sich  genugsam  daraus, 
dafs  es  untergeordnete  Nervenzentra  gibt  usw.  (wie  zu  p.  175 
meines  Werks  beigeschrieben)  .  .  .  Die  Affektionen  der  inneren 
Nervenenden  scheinen  nicht,  wie  die  der  äufseren,  unmittelbar 
auf  das  Vorstellungsvermögen  zu  wirken,  sondern  unmittelbar 
auf  die  Neigungen  (also  den  Willen)  und  nur  mittelbar  durch 
diese  auf  die  Vorstellungen  (am  Rande:  indem  sie  sie  modi- 


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fizieren,  ihnen  eine  besondere  Farbe  leihen),  während  die 
Affektionen  der  äafseren  Nervenenden  (Sinnesorgane)  zunächst 
die  Vorstellungen  veranlassen  und  diese  den  Willen  bestimmen. 
Die  Reize  der  inneren  Nervenenden  wirken  (am  Rande:  beim 
Instinkt  und  instinktiven  Trieben)  auf  das  Gehirn,  und  von  da, 
mittels  bewulsten  Willensaktes,  auf  die  Bewegungen,  nicht 
aber  unmittelbar,  sonst  wären  diese  Bewegungen  Krämpfe  oder 
antomatisch  .  .  :  .^i) 

Aus  diesen  Ausführungen  geht  hervor,  dais  Schopenhauer 
Cabanis'  sensibilitö  sans  Sensation  in  der  Tat  als  etwas  Willens- 
mäfsiges  aufgefafst  hat 

Zusammenfassend  können  wir  somit  feststellen:  Ähnlich 
wie  Flourens  scheidet  Schopenhauer  die  Sensibilität  von  der 
Intelligenz  und  ähnlich  wie  Gabanis  fafst  er  sie  als  in  das 
Gebiet  des  Willens  gehörend  auf.  Dals  letztgenannte  Deutung  von 
ihm  nicht  streng  durchgefnhrt  wird,  kann  hier  übersehen  werden. 
Schopenhauers  Kenntnis  der  Untersuchungen  von  Cabanis  kann 
auf  1824,  wie  aus  dem  „Quartant",  die  von  Flourens  auf  1826 
angesetzt  werden,  wie  aus  den  „Adversaria^  hervorgeht.  In 
diese  Zeit  aber  fUUt  auch  die  Wandlung  in  der  Auffassung 
der  blofsen  Sionesempfindungen,  die  wir  bei  Schopenhauer 
nachwiesen.  Wir  fanden  nämlich,^)  dafs  in  den  Schriften  und 
Ausgaben,  die  nach  der  ersten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und 
Vorstellung  Band  I  liegen,  deutlieh  erkennbar  zuerst  aus  der 
zweiten  Auflage  der  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  vom  Jahre 
1844,  die  blofsen  Sinnesempfindungen  nicht  mehr  als  Vor- 
stellungen genommen  werden.  Die  Untersuchungen  von  Gabanis 
und  Flourens  können  somit  als  Quellen  der  Anregung  fllr  diesen 
Wandel  in  der  Lehre  Schopenhauers  von  den  Sinnesempfindungen 
angesehen  werden. 

Rückblickend  gewinnen  wir  aus  der  Stellungnahme  Schopen- 
hauers zu  den  Lehrmeinungen  von  Cabanis  und  Flourens  auch 
ein  besseres  Verständnis  fttr  die  Art,  wie  er  sich  in  seiner  ersten 
Entwicklungsperiode  die  Ansichten  Erasmus  Darwins  zurecht- 
gelegt haben  wird.  Die  naiv  materialistischen  Gedanken  dieses 
Physiologen  verlieren,  von  dem  metaphysischen  Gesichtspunkte 


1)  Arthur  Schopenhauers  Nachlars  Nr.  13.    Qaartant  S.  82—92. 
*)  Sieh  S.  34  dieser  Schrift. 


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218 

SehopenhauerB  aas  geseheo,  ihre  materialistigche  Färbung,  in- 
sofern die  Ineinssetzang  von  Empfindung  and  physiologisehem 
Vorgange  in  dem  Sinnesorgan  für  ihn  als  eine  metaphysisch 
fandierte  fafsbar  wird. 

Aach  die  Gedanken  Troxlers,  der  in  der  Weise  der  Schelling- 
schen  Naturphilosophie  spekulierend,  mit  dem  Gedanken  spielt, 
dafs  den  anatomischen  und  physiologischen  Verhältnissen  der 
Retina  und  des  Sehnerren  gewisse  psychologische  Tatsachen 
des  Sehens  gleichzusetzen  seien,  werden,  weil  sie,  Tom  Stand- 
punkte Schopenhauers  aus  gesehen,  in  ihrer  metaphysischen 
Fundierung  leicht  umdeutbar  erscheinen,  auf  Schopenhauer  einen 
besonderen  Beiz  ausgeübt  haben.  ^) 

Anmerkung. 
Die  Lokalisation  der  Sinnesempfindungen  in  den  Sinnes- 
organen und  die  Annahme,  dafs  wir  durch  die  Sinnesempfindongen 
unmittelbar  von  bestimmten  Zuständen  in  den  Sinnesorganen 
wissen,  findet  sich  auch  bei  K.  Ch.  F.  Krause.  In  den  „Vor- 
lesungen tlber  die  Grundwahrheiten  der  Wissenschaft^*,  Göttingen 
1829,  fahrt  er  in  dem  Kapitel  von  der  .leiblich-sinnlichen 
Wahrnehmung*"  aus,  „dafs  wir  nicht  die  leiblichen  Dinge  selbst 
als  aufser  uns  seiend  wahrnehmen,  sondern  nur  die  Sinne 
unseres  Leibes,  und  dafs  alle  einzelnen  Empfindungen  und 
Vorstellungen  der  Sinne,  als  da  ist  Farbe,  Umrifs,  Ton,  Gernch, 
Geschmack,  Anflihlen  usw.,  eigentlich  blofs  Bestimmungen, 
bestimmte  Zustände  in  unseren  Sinnen  sind,  dafs  wir  also 
eigentlich  und  ursprünglich  nur  unsem  Leib  sinnlich  erkennen, 
auf  Aufsendinge  aber  nur  gemäfs  der  Grundlage  des  in  unsem 
leiblichen  Sinnen  Wahrgenommenen  schliefsen."  ^)   Wie  ersicht- 

>)  Dafs  Schopenhaner  sich  mit  den  psychophysiologischen  BrOrteraagen 
Troxlers  eingehend  befafst  habe,  geht  auch  aus  einer  in  anderem  ZusammeD- 
hange  auftretenden  kritischen  Bemerkung  in  den  Adversaria,  p.  2S4,  hervor, 
wo  er  die  Unterscheidung,  die  Troxler  zwischen  übersinnlichem  und  unter- 
sinnlichem Bewufstsein  macht,  im  Prinzip  anerkennt.  Auch  im  Qnsrttnt, 
p.  85,  steht  ein  Hinweis  darauf. 

^)  Karl  Christian  Friedrich  Krause,  Vorlesungen  über  die  Grund- 
wahrheiten der  Wissenschaft,  zugleich  in  ihrer  Beziehung  zu  dem  Leben. 
1.  Aufl.  Güttingen  1829,  S.  34f.  2.  Aufl.  Prag  1868,  S.  40.  Ähnlich  bo 
Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie,  L  Band,  2.  Aufl.  Prag  1869, 
S.  76  ff.  und  S.  234  f.  (die  1.  Aufl.  erschien  1828)  und  Grundrifs  der  historischen 
Logik.    Jena  und  Leipzig  1803,  S.  17f. 


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219 

lieh,  ist  die  Lokalisation  der  SinnesempfinduDgen  in  den  Sinnes- 
organen aneh  hier  vorausgesetzt  Krause  kann  aber  fttr  Sobopen- 
bauer  niebt  als  historische  Voraussetzung  angenommen  werden; 
denn  nicht  nur  läfst  sieh  die  Annahme  der  Lokalisation  der 
Sinnesempfindungen  in  den  Sinnesorganen  für  Schopenhauer 
nngezwnngener  aus  seiner  Kenntnis  der  einseblägigen  physio- 
logischen Literatur  herleiten,  sondern  es  findet  sich  auch 
nirgends  bei  Schopenhauer  ein  Hinweis  auf  K.  Chr.  Fr.  Krause. 
Auch  den  Gedanken,  dafs  wir  ein  unmittelbares  Bewufstsein  von 
den  Teilen  der  Sinnesorgane  haben,  in  denen  die  Empfindungen 
erregt  werden,  fanden  wir  schon  aus  den  metaphysischen,  im 
Znsammenhange  mit  den  psychophysiologischen  Voraussetzungen 
Schopenhauers  heraus  verständlich,  auch  wenn  wir  nicht  erst  auf 
G.  E.  Schulze  verweisen.  Auch  die  Intellektualität  der  empirischen 
Anschauung  finden  wir  im  Prinzip  bei  Krause,  der  hierin  mit 
Schopenhauer  auf  Kant  fufst,  aber  fUr  Krause  kommen  gerade 
diejenigen  Merkmale  der  Intellektualität  der  empirischen  An- 
schauung, auf  die  Schopenhauer  das  meiste  Gewicht  legt,  nämlich 
ihr  aussehliefslicb  kausaler  Sinn  und  die  Unmittelbarkeit  des 
diesen  hervorbringenden  intellektuellen  Prozesses,  nicht  in  Frage; 
denn  er  sagt:  „Da  aber,  um  inmittelst  der  einfachen  Wahr- 
nehmung des  Tastgeftthls  auf  Gestalten,  Stellungen  und  Be- 
wegungen zu  schliefsen,  der  Gedanke  vorausgehen  muTs,  dals 
etwas  SelbwesenUches,  nämlich  Körper,  da  seien,  welche  jene 
einfache  Empfindung  verursachen,  und  da  diese  Körper  selbst, 
so  wenig  als  die  Eigenschaft  des  Verursachens,  und  die  Not- 
wendigkeit, eine  Ursache  vorauszusetzen,  sinnlich  empfunden 
werden,  sondern  lediglich  die  bestimmte  Beschaffenheit  des 
Nerven,  so  ist  offenbar,  dafs  wir,  um  durch  den  Tastsinn  Ge- 
stalten, Stellungen  und  Bewegungen  kennen  zu  lernen,  noch  aufser 
den  Vorstellungen  von  Raum,  Zeit  und  Bewegung,  auch  andere 
Begriffe,  Urteile  und  Schlüsse  hinzubringen  müssen,  welche  wir 
auf  die  einfache  Empfindung  unseres  Gef  tthlsorganes  anwenden, 
ob  selbige  gleich  durch  keinen  Sinn,  weder  im  Geiste  noch  im 
Leibe  können  wahrgenommen   werden.'' i)     Diesen   Begriffen, 


^)  Krause,  Vorlesangen  über  die  Grandwahrheiten  der  Wissenschaft, 
l.Aufl.,  S.  43.  2.  Anfl.,  S.  49.  Ähnlich  so  Vorlesungen  über  das  System 
der  PhUosophie,  I.  Band,  2.  Aufl.,  S.  89  f. 


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220 

Uiieilen  und  Schlttssen  liegt  bei  Krause  letzterdings  die  Annahme 
zugrunde,  dafs  unsere  sinnlichen  Anschauungen  von  unseren 
Phantasiebildern  darin  unterschieden  sind,  dafs  der  Verlauf 
dieser  als  von  uns  verursacht  bewnist  wird,  der  jener  aber 
nicht,  ein  Gedanke,  der  nicht  dem  Schopenhauerschen  von  dem 
unmittelbaren  Bewulstsein,  das  wir  von  dem  Bewirktsein  einer 
einzelnen  Sinnesempfindung  haben,  analog  ist,  sondern  eher 
dem  kantischen  Gedanken,  dafs  wir  von  einer  umkehrbares 
Folge  unserer  Vorstellungen  eine  nicht  umkehrbare  als  durch 
eine  Ursache  aufser  uns  bedingt  unterscheiden. 

Ähnlich  wie  bei  Fichte  finden  wir  auch  bei  Krause  eine 
Unterscheidung  von  Bewulstseinsstufen  der  Wahrnehmung.  Ab 
Grundtätigkeiten  oder  Grundfunktionen  des  Denkens  nennt  er 
nämlich: 

1.  das  Hinschauen,  Hinsehen,  Hinmerken  (Reflektieren,  die 
Reflexion), 

2.  das  Erschauen  oder  Erfassen  (Perzipieren,  Apperzipieren] 
und  3.  das  Weiterbestimmen  des  Schauens,  das  Schaubestimmen 
(Determinieren).  In  diesem  Schaubestimmen  unterscheidet  er 
weiterhin  drei  Teiltätigkeiten  oder  Momente,  nämlich 

1.  die  Ableitung  (Deduktion), 

2.  die  Selbeigensehauung  (Intuition)  und 

3.  die  Vereinbildung  der  Ableitung  und  Selbeigensohauang 
als  Schauvereinbildung  (Konstruktion),  i) 

Auch  hierin  zeigt  sich  die  von  der  Schopenhauers  gänzlich 
abweichende  Richtung  der  Gedankenentwicklung  Krauses. 

Die  speziellen  psychologischen  Annahmen. 

Von  den  vier  Momenten,  die  Schopenhauer  in  der  Tätigkeit 
des  Verstandes  bei  der  Konstruktion  der  empirischen  Anschauung 
unterscheidet,  ist  das  erste,  dafs  „der  Verstand  den  Eindruck 
des  Objekts,  welcher  verkehrt,  das  Unterste  oben,  auf  die  Retina 
eintrifft,  wieder  aufrecht  stelle".  Dieses  Problem  beschäftigte 
schon  Kepler.  Er  schrieb  der  Seele  die  Fähigkeit  zu,  den 
Eindruck,  der  etwa  auf  einen  unteren  Teil  der  Netzhaut  gemacht 
werde,  sich  so  vorzustellen,  als  wenn  er  von  den  Strahlen  eines 

^)  Krause,  Vorlesungen  über  das  System  der  Philosophie.  I.  Band. 
S.  371—416. 


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221 

höheren  Fanktes  der  Sache  entstände. i)  Descartes  erläutert 
die  natttrliche  Methode,  die  Gröfse,  Lage  nnd  Entfernung  der 
Gegenstände  aus  der  Richtung  der  Augenachsen  zu  beurteilen, 
indem  er  sie  vergleicht  mit  der  Art,  wie  ein  Blinder  von  der 
Gröfse  und  Entfernung  einer  Sache  vermittels  zweier  Stäbe, 
selbst  von  unbekannter  Länge,  urteilt,  wenn  seine  Hände,  worin 
er  die  Stäbe  hält,  in  einer  bekannten  Entfernung  und  Lage 
gegeneinander  sind.^)  Gegen  diese  Ansicht  wendet  sich  Berke- 
ley, der  zur  Erklärung  des  Problems  ein  Vergleichen  der 
Gesichts-  und  Tastempfindungen  in  Anspruch  nimmt.') 

Schopenhauer,  der  das  genannte  Moment  zuerst  in  der 
Theoria  eolorum  physiologica  erwähnt,  wird  dasselbe  wahr- 
scheinlich näherliegenden  Quellen  entnommen  haben.  Die 
optischen  Annahmen  Schopenhauers,  die  diesem  Funkte  seiner 
Lehre  zugrunde  liegen,  gehen  in  der  Hauptsache  auf  Robert 
Smith  zurück.  Allerdings  stimmen  dessen  psychologische  An- 
sichten hierbei  mit  denen  Schopenhauers  nicht  überein,  wie 
aus  folgender  Stelle  ersichtlich  wird:  „Wenn  es  nun  die  Er- 
innerung an  ebendieselben,  auf  ebenderselben  Stelle  der  Netzhaut 
erregten  Empfindungen  sind,  die  unser  Urteil  über  die  Stelle  einer 
Sache  veranlaTst,  obwohl  wir  uns  dieser  Empfindungen  selbst 
nicht  bewufst  sind, ...  so  werden  die  verkehrten  Bilder  auf  der 
Netzhaut  ebensogut  dienen,  diese  Begriffe  zu  erregen,  als  wenn 
sie  aufgerichtet,  oder  in  einer  jeden  anderen  schiefen  Lage 
stünden.  Nur  das  wird  erfordert,  dafs  Bild  und  Sache  allemal 
ihre  Stellung  zugleich  nach  einem  gewissen  beständigen  Gesetze 
ändern.''^)  Eine  Hinzuziehung  reproduktiver  Bedingungen  zur 
Erklärung  des  Zustandekommens  der  empirischen  Anschauung 
liegt  Schopenhauer  völlig  fern,  auch  dafs  wir  uns  der  Empfin- 
dungen auf  der  Netzhaut  nicht  bewufst  seien,  stimmt  nicht  mit 
Schopenhauers  Meinung  überein. 

1)  Kepler,  „Parallpomena"  S.  169;  darUber  Smith,  „Optica"  Rem.  p.  4 
und  Helmholtz,  „Phys.  Opt."  §  29,  8.  Aufl.,  S.  224. 

')  Descartes,  „Dioptrice"  p.  68  a.  „De  homine"  p.  66;  darUber  Helm- 
holtz, „Phys.  Optik"  §  29,  3.  AufL,  S.  224. 

•)  Berkeley,  ,An  Essay  towards  a  New  Theory  of  Vision"  §  97  f. 

*)  Bobert  Smith,  A  compleat  System  of  Optics  in  four  books. 
Cambridge  17S8,  Buch  I,  Kap.  V,  §  136.  Vollständiger  Lehrbegriff  der 
Optik  nach  Herrn  Robert  Smiths  Englischen  mit  Änderungen  und  Zusätzen 
ausgearbeitet  von  Abraham  Gotthelf  Kästner.    Altenbnrg  1755.    S.  43. 


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Eine  auffallende  Übereinstimmung  aber  mit  Sehopenhaner 
ist  bei  Cheselden  festzustellen.  Cheselden  gibt  folgende  Er- 
klärung: „Sollten  wir  nieht,  wenn  wir  untersuchen,  warum  ein 
im  Auge  umgekehrtes  Bild  der  Seele  anders  erscheint,  die 
wahre  Ursache  in  der  Betrachtung  der  Richtungen,  in  welchen 
die  Lichtstrahlen  auf  die  Netzhaut  fallen,  finden,  so  wie  wir, 
durch  eine  gleiche  Erfahrung,  wenn  irgend  etwas  einen  Teil 
unseres  Körpers  trifft,  urteilen,  ob  es  von  oben  oder  von  unten 
kommt?"  1)  Besonders  bemerkenswert  ist  hier  die  Überein- 
stimmung mit  Schopenhauer  in  dem  Gedanken,  dafs  ein 
Betrachten  der  Richtung  der  Sehstrahlen  stattfinde.  Überein- 
stimmend mit  Schopenhauer  sagt  Cheselden  auch,  dals  wir, 
„wenn  wir  auf  dem  Kopf  stehen,  den  Gegenstand  nicht  in  der- 
selben, sondern  in  der  gerade  umgekehrten  Lage  wahrnehmen".^) 
Gemeint  ist  hier,  wie  aus  dem  Zusammenhang  hervorgeht,  d&b 
wir  auch  in  dieser  besonderen  Lage  den  Gegenstand  richtig 
beurteilen,  indem  wir  auch  dann  die  Lichtstrahlen  verfolgen. 

Die  Umkehrung  des  Ketzhautbildes  und  die  Beurteilung 
der  Richtung,  in  der  die  Gegenstände  liegen,  unterzieht  aneh 
Thomas  Reid  einer  Erörterung,  allerdings  ohne  eine  Erklärung 
zu  geben.  Er  sagt:  „Es  ist  augenscheinlich,  dafs  die  Bilder 
auf  der  Netzbaut  vermöge  der  Gesetze  der  Natur  die  Mittel 
zum  Sehen  sind,  aber  auf  welche  Art  sie  ihre  Bestimmung  er- 
füllen, ist  uns  gänzlich  unbekannt"^)  Dafs  er  aber  geneigt 
ist,  das  Unbekannte  als  etwas  Apriorisches  zu  bestimmen,  klingt 
aus  folgenden  Bemerkungen  heraus:  «Wir  stimmen  mit  Porter- 
field^)  ttberein,  dafs  wir  vermöge  eines  natttrliohen  und  an- 
geborenen Prinzips  sichtbare  Gegenstände  in  einer  gewissen 
Richtung  vom  Auge  sehen."  (^)  „Der  materielle,  auf  einen 
besonderen  Punkt  der  Netzhaut  gemachte  Eindruck  ftthrt  ver- 
möge der  Beschaffenheit  unserer  Natur  die  Seele  auf  zwei 

>)  W.  Cheselden,  The  Anatomy  of  tbe  Human  Body.  London  1741. 
Buch  IV,  Kap.  IV.  W.  Cheseldens  Anatomie  des  menschlichen  Körpen. 
Aus  dem  Englischen  übersetzt  von  A.  F.  Wolff  nebst  einer  Vorrede  von 
Fr.  Blumenbach.    Göttbgen  1790.    S.  288. 

>)  Ebenda.    Übers.  S.  289  (vgl.  Schopenhauer  III,  7S). 

•)  Reid  a.  a.  0.  Vol.  I,  S.  166  (Inqniry). 

«)  Porterfield,  ,,0n  the  eye"  B.  II,  S.  285.  Darüber  Helmholtx,  „Phys. 
Opt."  §  29,  8.  Aufl.,  S.  224. 

»)  Beld  a.a.O.  Vol.  I,  S.  177  (Inquiry). 


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228 

Dinge,  nämlieli  anf  die  Farbe  and  auf  die  Stellung  irgend  eines 
äofseren  Gegenstandes.^  i) 

Die  spezielle  Begründung,  die  Schopenhauer  dafttr,  dafs 
die  Retina  die  Fähigkeit  besitze,  die  Richtung,  in  der  sie  vom 
Lichtstrahl  getroffen  wird,  mitzuempfinden,  anführt,  dafs  nämlich 
„wahrscheinlich  der  Lichtstrahl  in  die  Dicke  der  Retina  ein- 
dringe^, ist  ein  Gedanke,  der  der  damals  noch  geltenden 
Emissionstheorie  des  Lichtes  entspringt.  Er  verband  sich  viel- 
fach mit  der  Annahme  hohler,  von  Lebensgeistern  ansgefttUten 
Nervenröhrchen,  die  in  der  Retina  endigen  und  in  die  die 
Lichtstrahlen  eindringen  sollten.  Diese  Annahme  war  gegen  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  wohl  unter  dem  Einflufs  von  Descartes')  in 
der  Physiologie  ziemlieh  allgemein  geworden.  „Die  am  meisten 
angenommene  Meinung^,  sagt  Cheselden,  «ist,  dafs  die  Ner?en 
hohle  Rohrchen  seien,  die  die  Lebensgeister  enthalten,  durch 
deren  Bewegungen  die  Empfindungen  geleitet  würden.'  ^)  Thomas 
Reid  n.  a.  sagt:  „Warum  können  denn  die  Sehnerven  z.  B.  nicht 
aus  leeren  Röhrchen  bestehen,  deren  Mund  weit  genug  geöffnet 
ist,  um  die  Lichtstrahlen,  durch  die  das  Gemälde  auf  der  Netz- 
haut gebildet  wird,  aufzunehmen  und  sie  sanft  und  sicher  .  .  • 
in  den  Sitz  der  Seele  zu  bringen?"^)  Die  Annahme  von  von 
Lebensgeistern  ausgefüllten  Nervenröhrchen  wurde  aber  haupt- 
sächlich durch  die  Untersuchungen  Charles  Beils  als  falsch 
erwiesen.  Sie  findet  sich  auch  nicht  mehr  bei  Schopenhauer. 
Dafs  Schopenhauer  von  den  Entdeckungen  Beils  wenigstens 
in  seinen  späteren  Jahren  Kenntnis  erlangte,  geht  aus  folgender 
Stelle  hervor:  „Es  ist  doch  ein  hübsches  Stück  Weges, 
welches  binnen  200  Jahren  Philosophie  und  Physiologie  zu- 
rückgelegt haben,  von  des  Cartesius  glandula  pinealis  und 
den  sie  bewegenden  oder  auch  von  ihr  bewegten  spiritibus 
animalibus  zu  den  motorischen  und  sensibeln  Rückenmarksnerven 
des  Charles  Bell  und  den  Reflexbewegungen  Marshall  Hall's.^  ^) 
Indes  ist  der  Gedanke  des  Eindringens  der  Lichtstrahlen  in 
die  Retina  in  der  Fassung,  wie  er  bei  Schopenhauer  auftaucht, 
bei  den  bekannteren  Physiologen  seiner  Zeit  nicht  zu  finden. 

1)  Ebenda  S.  146. 

>)  Desctrtes,  „Dioptrik''  Kap.  IV,  a,;  cf.  Princip.  Philos.  lY,  189. 
^  Cheselden,  „Anatomy"  Bach  III,  Kap.  XIY.    Übers,  a.  a.  0.  S.  239. 
*)  Reid  a.  a.  0.  Vol  I,  S.  179  (Inqalry).  »)  V,  183. 


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224 

Das  Zweite,  was  der  Verstand  bei  seiner  Umarbeitang  der 
EmpfinduDg  in  Anschaünng  leistet,  dafs  er  „das  zweimal 
Empfundene  za  einem  einfach  Angescbanten  macht**,  ist  gleich- 
falls Gegenstand  eines  alten  Problems.  Schon  Galenus,  113—200 
n.  Chr.,  machte  zur  Erklärung  des  Einfachsehens  die  Annahme, 
dafs  sich  die  Sehnervenfasern  im  Ghiasma  der  Sehnerven  ver- 
bänden. Diese  anatomische  Hypothese  findet  bei  Descartes 
eine  andere  Gestaltung  in  der  Form,  dafs  die  Zirbeldrttse 
der  Yereinigungspunkt  fttr  die  doppelten  Eindrücke  des 
rechten  und  linken  Auges  und  Ohres  sei,  ohne  welchen  wir 
die  Gegenstände  statt  einfach  doppelt  wahrnehmen  würden. 
Der  Hypothese  des  Galenus  schlofs  sich  später  Newton  an. 
Eine  zweite  Ansicht  suchte  die  Schwierigkeit  durch  die  An- 
nahme zu  beseitigen,  dafs  wir  immer  nur  mit  einem  Ange 
auf  einmal  sähen.  Dieser  Meinung  war  Porta.  Ihm  schlössen 
sich  Gassendi,  Tacqnet,  Gall  und  Du  Tours  an.  Die  dritte 
Ansicht  war  die  sogenannte  Projektionshypothese,  wobei  das 
Einfaehsehen  fttr  einen  Akt  unseres  Verständnisses  der  Gesiehts- 
empfindungen  erklärt  wurde.  In  ihrem  Sinne  äufserte  sieb 
fichon  Kepler.^)  An  Keplers  Ansicht  schlofs  sich  Porterfield 
an,  indem  er  meinte,  wir  sähen  die  Objekte  nicht  doppelt, 
weil  jedes  Auge  sie  an  ihren  richtigen  Platz  verlegt,  was  später 
dann  so  formuliert  wurde,  dafs  wir  sie  an  den  Kreuzungspnnkt 
der  Visierlinien  verlegen.^) 

Da  Schopenhauer  das  zweite  Moment  in  der  Verstandes- 
tätigkeit  schon  in  der  ersten  Auflage  von  Sehen  und  Farben 
bespricht,  so  wird  es  auf  einen  fttr  diese  in  Betracht  kommenden 
Autor  zurückzuführen  sein.  Gheselden  bereits  führt  zur  Er- 
klärung die  Intellektualität  dieses  Vorganges  an:  «Das  Einfach- 
sehen eines  Gegenstandes  scheint  nicht  von  der  Vereinigung 
der  beiden  Sehncrvenstrahlen,  noch  davon  abzuhängen,  daä 
das  Licht  auf  korrespondierende  Nervenfasern  auffällt,  sondern 
von  einem  auf  Erfahrung  gegründeten  Urteil."') 

Bei  Robert  Smith,  dessen  Ausführungen  über  diesen  Fnnkt 


»)  Kepler,  „Dioptrlce"  Propos.  LXII. 

*)  Vorstehendes  entnommen  aus:  Helmholtz'  „Pbys.  Optik"  §  31, 
3.  Aufl.,  S.  394. 

•)  Gheselden,  „Anatomy"  Buch  IV,  Kap.  IV.    Übers,  a.  a.  0.  S.  286. 


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225 

Schopenhauer  in  der  ersten  Auflage  von  Sehen  und  Farben  i)  als 
die  ihm  am  meisten  zusagende  kennzeichnet,  ist  gleichfalls  eine 
intellektualistisehe  Erklärung  angelegt;  auf  ihn  ist  auch  Schopen- 
hauers Annahme  der  pnncta  eorrespondentia  zurttckzuftthren: 
„Die  Erfahrung  lehrt  uns,  dafs  eine  Sache  oder  ein  Punkt 
einer  Sache  einfach  erscheint,  wenn  seine  beiden  Bilder  aut 
ttbereinstimmende  Punkte  der  Netzhäute  fallen,  doppelt  aber, 
wenn  dieses  nicht  geschieht^  ^)  Abweichend  aber  von  Schopen- 
hauer sagt  Smith,  dafs  die  Kenntnis  von  den  übereinstimmenden 
Punkten  auf  einem  Vergleichen  des  Gesichts  mit  den  Tast- 
wahmehmungen  beruhe:  „Fragt  man  nun,  weswegen  die  doppelte 
Empfindung,  wenn  man  mit  beiden  Augen  sieht,  nicht  allemal 
doppeltes  Sehen  verursacht,  so  ist  die  Antwort,  dafs  bei  dem 
ordentlichen  Gebrauch  unserer  Augen,  wo  beide  Bilder  auf  zu- 
sammenstimmende  Punkte  fallen,  die  Empfindung  des  Gefühls, 
nach  der  wir  uns  allezeit  richten,  uns  gelehrt  hat,  dafs  die 
Sache  nur  einzeln  ist^^)  Auch  die  Ausführungen  Schopen- 
hauers über  das  Doppeltsehen  haben  bei  Smith  ihre  hauptsäch- 
liche Quelle. 

Die  metaphysisch  fundierte  Theorie  Troxlers  in  diesem 
Punkte  und  die  physiologische  Webers  über  das  Einfachsehen 
verwirft  Schopenhauer  in  einer  Anmerkung  zur  ersten  Auflage 
von  Sehen  und  Farben,  die  er  in  der  zweiten  Auflage  dieser 
Schrift  ausgelassen  hat,  ausdrücklich. 

Das  was  Home,  von  dem  in  der  ersten  Auflage  von  Sehen 
und  Farben  ein  Aufsatz  in  den  ,  Philosophical  Transact,^  er- 
wähnt wird,  welcher  den  Titel  „On  ihuscular  motion'  trägt, 
über  das  Schielen  und  überhaupt  das  Sehen  sagt,  ist  haupt- 
sächlich physiologischer  Art  und  kommt  hier  kaum  in  Betracht 

Von  den  Autoren  der  zweiten  Entwicklungsperiode  Schopen- 
hauers ist  in  betreff  des  Einfachsehens  nur  Th.  Beid  zu  nennen, 
der  gleichfalls  die  Annahme  von  puncta  eorrespondentia  vertritt, 
ohne  aber  hierfür  eine  Erklärung  zu  geben.  Zusammen- 
fassend sagt  Beid:  «Aus  diesen  Phänomenen  und  aus  allen 
Versuchen,  die  ich  anzustellen  fähig  gewesen  bin,  erhellt  es 


0  1.  Anfl.  von  Sehen  und  Farben,  S.  18. 
«)  Smith,  „Optica"  Buch  I,  Kap.  V,  §  137.    Übers,  a.  a.  0.  S.  43. 
»)  Smith,  „Optica",  Buch  I,  Kap.  V.    Übers.  a.a.O.  S.  45,  §  137. 
Plulofophlaehe  Abhandloogen.    XLII.  15 

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226 

augenscheinlich,  dafs  bei  vollkommen  gesunden  Aagen  die 
Mittelpunkte  der  beiden  Netzhäute  miteinander  korrespondieren 
und  übereinstimmen,  und  dafs  jeder  andere  Punkt  in  der  einen 
Netzhaut  mit  demjenigen  Punkte  der  anderen  korrespondiert 
und  übereinstimmt,  welcher  mit  ihm  eine  ähnliehe  Lage  bat, 
dergestalt,  dafs  Abbildungen,  welche  auf  die  zusammen- 
stimmenden Punkte  der  beiden  Netzhäute  fallen,  nur  einen 
Gegenstand  und  sogar  dann  nur  zeigen,  wenn  deren  wirklieh 
zwei  sind,  und  Abbildungen,  welche  auf  Punkte  der  Netzhäute 
fallen,  die  nicht  zusammenstimmen,  uns  zwei  sichtliehe  Er- 
scheinungen zeigen,  obgleich  nur  ein  Gegenstand  da  isi^O 
„Dieses  Verhältnis  und  diese  Sympathie  zwischen  den  zu- 
sammenstimmenden Paukten  der  beiden  Netzhäute  ist  keine 
Hypothese,  die  ich  erfinde,  sondern  eine  allgemeine  Tatsache 
oder  ein  Phänomen  des  Gesichtssinns."  2) 

„Das  Dritte,  wodurch  der  Verstand  die  Empfindung  in 
Anschauung  umarbeitet,  dals  er  aus  den  bisher  gewonnenen 
blofsen  Flächen  Körper  konstruiert,  also  die  dritte  Dimension 
hinzufügt*',  ist  in  früheren  Untersuchungen  über  diese  Frage 
mit  der  Frage  der  Bestimmung  der  Entfernung  der  gesehenen 
Objekte  sachlich  meist  zusammengenommen;  Schopenhauers 
Annahme  dieses  dritten  Momentes  kann  auf  Th.  Beid  zurück- 
geführt werden.  Es  ist  bei  Smith  und  den  andern  für  die 
erste  Auflage  von  Sehen  und  Farben  in  Betracht  kommenden 
Autoren  noch  nicht  deutlich  ausgesprochen  und  yermutlioh  eben 
deshalb  auch  in  dieser  Schrift  Schopenhauers  noch  nicht  erwähnt 
Bei  Th.  Reid  heilst  es:  ,'Die  sichtbare  Figur  hat  keine  Entfernung 
vom  Auge,  keine  Wölbung,  noch  hat  sie  drei  Dimensionen  .  .  . 
Aber  wenn  ich  gelernt  habe,  die  Entfernung  eines  jeden  Teiles 
dieses  Gegenstandes  von  dem  Auge  wahrzunehmen,  so  gibt  diese 
Perzeption  ihm  Wölbung  und  eme  sphärische  Figur  und  fügt 
den  zwei  Dimensionen  ...  die  dritte  hinzu.*  ^) 

Die  vierte  Verstandesoperation,  die  im  Erkennen  der  Ent- 
fernung der  Objekte  von  uns  besteht,  ist  der  Sache  nach  schon 
in  den  älteren  Ansichten  über  die  Tiefenwahmehmung  enthalten, 


»)  Reid  a.a.  0.  Vol.  I,  S.  166  (Inquiry). 

<)  Ebenda. 

»)  Reid  a.  a.  0.  Vol.  I,  S.  198  (Inquliy). 


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227 

die  sich  an  die  Frage  ttber  die  scheinbar  verschiedene  Orölse 
des  Mondes  anschlössen,  bei  Ptolemäns,  Alhazen,  Roger  Baco 
und  Vitellio.  Ptolemäns  (150  n.  Chr.)  sagt  schon,  dafs  die  Seele 
von  der  Gröfse  der  Gegenstände  nach  einer  vorgefafsten 
Schätzung  ihrer  Entfernung  urteilt.  Diese  scheine  gröiSser,  wenn 
viele  Gegenstände  zwischen  dem  Auge  und  der  betrachteten 
Sache  liegen,  wie  es  der  Fall  ist,  wenn  die  Himmelskörper 
nahe  beim  Horizont  sind.  An  einer  anderen  Stelle  freilich 
schreibt  er  die  Vergröfserung  einer  Brechung  der  Strahlen 
durch  die  Dünste  zu.i) 

Kepler  sagt  ttber  die  Beurteilung  der  Entfernung  schon, 
die  Entfernung  der  beiden  Augen  sei  die  Grundlinie,  deren 
man  sich  zur  Messung  der  Entfernung  der  gesehenen  Objekte 
bediene.  Ähnlich  so  Gassendi,  Hobbes  und  andere,  i)  Kepler 
stellt  den  Satz  auf,  dafs,  wenn  uns  die  Entfernung  eines  Gegen- 
standes bekannt  ist,  wir  die  Grölse  desselben  dem  Gesichts- 
winkel, unter  dem  er  erscheint,  proportional  setzen. 

Descartes,  der  sich  im  Wesentlichen  an  Kepler  anschliefst, 
nimmt  für  die  Bestimmung  der  Entfernung  der  Gegenstände  in 
Anspruch:  1.  die  verschiedene  Form  des  Auges  —  und  dem- 
entsprechend einer  gewissen  Partie  des  Gehirns  — ,  je  nachdem 
die  Objekte  näher  oder  entfernter  sind,  und  2.  den  Konvergenz- 
winkel der  beiden  Augenachsen.  Nach  Descartes  schätzen  wir 
die  Grölse  der  Gegenstände  aus  ihrer  Entfernung,  verglichen 
mit  der  Gröfse  der  Bilder,  die  sie  im  Grunde  des  Auges 
entwerfen. 

Von  den  für  Schopenhauer  näherliegenden  Autoren  wird 
die  vierte  Yerstandesoperation  schon  in  eingehender  Weise  von 
Smith  erörtert.  Von  den  vier  Data,  die  Schopenhauer  anführt, 
macht  Smith  im  wesentlichen  nur  eins  geltend:  das  Erkennen  der 
Entfernung  aus  der  scheinbaren  Gröfse  bekannter  Gegenstände: 
„Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  wir  die  Entfernungen  der  Sachen  von- 
einander und  von  uns  selbst  nach  den  Begriffen  schätzen,  die  wir 
von  den  Gröfsen  der  zwischen  ihnen  und  dem  Auge  liegenden 
Sachen  haben,  auch  zuweilen  die  Annäherung  eines  Körpers  aus 
dem  Zunehmen  seiner  scheinbaren  Gröfse  und  umgekehrt . . .  Dafs 
die  Strahlen  ans  einem  gewissen  Punkte  ausgehen,  verursacht 


1)  Helmholtz,  „Phys.  Opt."  §  30,  3.  Aufl.,  S.  300. 

15* 


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228 

noch  nicht,  dafs  die  Sache  an  demselben  Ort  erscheinen  rnttsse. 
Aach  die  Malerknnst  nnd  die  Perspektive  zeigen,  dafs  unsere 
sinnlichen  Vorstellungen  von  den  Örtem  der  Sache  mit  den 
Begrififen,  die  sich  der  Verstand  von  den  Funkten  maeht,  Yon 
denen  die  Strahlen  ausgehen,  gar  nicht  einerlei  sind,  und  dafs 
die  Verschiedenheit  dieser  Begriffe  von  den  yerschiedenen 
scheinbaren  Gröfsen  bekannter  Sachen  herrühret,  die  das  Ge- 
mälde vorstellet '  i)  Den  optischen  Winkel  und  die  mutationes 
oculi  lehnt  Smith  als  zur  Beurteilung  der  Entfernung  unzuläoglich 
ausdrücklich  ab.  Über  das,  was  Schopenhauer  Luftperspektive 
nennt,  spricht  er  gelegentlich  und  polemisiert  gegen  Berkeleys 
Annahme  der  Luftperspektive  zur  Erklärung  der  Beurteilung 
der  Entfernung. 

Für  die  vier  Data  zu  der  vierten  Verstandestätigkeit  weist 
Schopenhauer  in  der  ersten  Auflage  des  zweiten  Bandes  der 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung^)  selbst  auf  Tb.  Reid  als  Quelle 
hiu.  Bei  diesem  heifst  es:  „1.  Um  Gegenstände  in  verschiedenen 
Entfernungen  deutlich  zu  sehen,  mufs  die  Form  des  Auges  eine 
kleine  Änderung  erfahren  .  .  .  Hätten  wir  kein  anderes  Mittel 
als  dieses,  um  die  Entfernung  sichtbarer  Gegenstände  wahr- 
zunehmen, so  würde  der  entlegenste  nicht  über  zwanzig  oder 
dreifsig  Fufs  (bei  Schopenhauer  7  Zoll  bis  16  Fufs)  vom  Auge 
entfernt  sein  .  .  . 

2.  Um  beide  Augen  auf  einen  Gegenstand  zu  richten,  müssen 
die  optischen  Achsen,  je  nachdem  der  Gegenstand  näher  oder 
entfernter  ist,  mehr  oder  weniger  gegeneinander  hinübergebogen 
sein  . . .  Aber  auch  das  hat  seine  Grenzen  (von  Sehopenhaner 
auf  200  Fufs  veranschlagt),  über  welche  hinaus  es  von  keinem 
Nutzen  sein  kann.') 

3.  Die  Farben  der  Gegenstände,  je  nachdem  diese  mehr 
entfernt  sind,  werden  schwächer  und  matter  und  sind  mehr  von 
dem  Azur  der  zwischen  uns  und  ihnen  liegenden  Atmosphäre 
tiberdeckt.*) 

4.  Wir  nehmen  öfters  die  Entfernung  von  Gegenstönden 
vermittels  dazwischenkommender  oder  daranstolisender  Gegen- 


>)  Smith,  „Opiics"  Buch  I,  Kap.  V,  §  138.    Übers.  a.a.O.  S.  46fl 

«)  II,  84  f. 

')  Beid  a.  a.  0.  Vol.  I,  S.  189f.  (Inqniry).  «)  Ebenda  S.  190. 


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229 

stände  wahr,  deren  Entfernung  oder  Grölse  uns  Bonst  schon  be- 
kannt isi^) 

5.  Noch  ein  anderes  Mittel,  durch  welches  wir  die  Ent- 
fernung sichtbarer  Gegenstände  wahrnehmen  können,  ist  die 
Verminderung  ihrer  sichtbaren  oder  scheinbaren  Gröfse/'^) 

Der  fünfte  der  von  Keid  angeführten  Punkte  ist  von 
Schopenhauer  nicht  als  ein  besonderer  angeführt  Man  kann 
annehmen,  dafs  er  ihn,  wenn  nicht  deutlich  ausgesprochen,  so 
doch  sachlich  mit  dem  vierten  Punkte  zusammengenommen  hat. 

Die  Theorie  von  der  Akkomodation  der  Linse  führt  Schopen- 
hauer auf  Kepler  zurück.  Ferner  weist  er  auf  A.  Huecks  Ab- 
handlung „Die  Bewegung  der  Kiystallinse',  1841,  bin.  In  betreff 
der  Luftperspektiye  nennt  Schopenhauer  auch  Goethes  „Farben- 
lehre" als  Bestätigung. 

Das  was  Schopenhauer  über  die  Perspektive  sagt,  geht 
z.  T.  auf  R.  Smith  zurück.  Die  Lehre  von  den  mutationes  oculi  wird 
eingehender  als  von  Reid  in  dem  von  Schopenhauer  zitierten 
Aufsatz  von  Henry  Home  in  den  «Philos.  Transact',  der  den 
Titel  führt:  „On  muscular  motions  of  the  eyes",  behandelt 

Das,  was  Schopenhauer  über  die  Data  sagt,  die  bei  der  Kon- 
struktion der  empirischen  Anschauung  die  Tastwahrnehmungen 
liefern,  führt  im  wesentlichen  auf  die  Sensualphilosophie  des 
18.  Jahrhunderts  und  z.  T.  schon  auf  Locke  zurück.  Eine  un- 
mittelbare Quelle  ist  in  Th.  Reids  «Inqniry*  gegeben,  wo  es 
heilst:  „Die  Perzeption,  welche  ich  durch  das  Gefühl  von  der 
Unebenheit  oder  Glattheit  der  Körper,  von  ihrer  Ausdehnung, 
Figur  und  Bewegung  habe,  ist  nicht  erworben,  sondern  ich 
habe  sie  von  Natur.^  s)  Schopenhauer  sagt  entsprechend:  «Das 
Getast  liefert  ganz  unmittelbar  die  Data  zur  Erkenntnis  der 
Gröfse,  Gestalt,  Härte,  Weiche,  Trockenheit,  Nässe,  Glätte, 
Temperatur  usw.'^)  Für  die  Beihilfen,  die  zu  den  Tastwahr- 
nehmungen teils  Gestalt,  Beweglichkeit  und  Stellung  der  Arme, 
Hände  und  Finger  liefern,  ist  es  mir  nicht  gelungen,  eine  un- 
mittelbare Quelle  zu  finden,  obgleich  das  Vorhandensein  einer 
solchen  wahrscheinlich  ist.  Für  die  Beihilfe,  die  die  Muskelkraft 


0  Ebenda  S.  192.  *)  Ebenda  S.  192. 

»)  Reid  a.a.O.  Vol.  I,  S.  184  (Inquiry)j  ähnlich  so  S.  188. 
*)  in,  69. 


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230 

liefert,  scheint  eine  unmittelbare  Quelle  in  Erasmas  Darwins 
«Zoonomia'^  gegeben  zn  sein:  „Das  Organ  des  Geftthls*,  heifst 
es  hier,  „ist  eigentlich  der  Sinn  des  Dmcks,  aber  die  Mnskel- 
fibern  selbst  machen  das  Sinnesorgan  ans,  welches  die  Aus- 
dehnung empfindet  Der  Sinn  des  Drucks  ist  immer  mit  den 
Ideen  von  der  Solidität  und  Figur  der  Gegenstände  begleitet; 
keines  von  beiden  begleitet  unsere  Perzeption  der  Ausdehnung.'  >} 

Die  Frage,  ob  der  Verstand  die  Ausübung  seiner  Funktion 
erst  erlernen  mttsse,  im  besonderen,  ob  die  Kenntnis  der  Aus- 
messungen des  Gesichtsfeldes  erworben  sei,  wurde  schon  von 
Locke  ins  Auge  gefafst  und  bejaht  Der  Gedanke,  dafs  die 
empirische  Anschauung  erlernt  werde,  wurde  von  fast  allen 
Physiologen  und  Psychologen  des  18.  Jahrhunderts  erörtert,  so 
auch  von  Robert  Smith,^)  Thomas  Reid,')  Bichat«)  und  Cabanis.^) 
Dem  englischen  Empirismus  entsprungen,  einseitig  weitergebildet 
durch  den  französischen  Sensualismus,  flofs  dieser  Gedanke  in 
Deutschland  zusammen  mit  rationalen  Gedanken,  und  in  dieser 
Verbindung  treffen  wir  ihn  auch  bei  Schopenhauer  an. 

Ein  Rückblick  auf  unsere  Ausführungen  lälst  erkennen, 
dafs  die  Annahmen  Schopenhauers  über  die  speziellen  Be- 
dingungen des  Zustandekommens  der  empirischen  Anschauung 
in  fast  allen  Details  bei  den  von  Schopenhauer  genannten 
Autoren  ihre  historische  Grundlage  haben. 

Für  die  erste  Entwicklungsperiode  Schopenhauers,  also 
hier  bis  zur  ersten  Auflage  von  Sehen  und  Farben,  fanden  wir, 


1)  Erasmas  Darwin,  „Zoonomia  or  the  laws  of  Organic  life'S  1794—98. 
Band  I,  Abt  1,  Abschn.  XIV,  Kap.  VIL  „Zoonomie  oder  Gesetze  des 
organischen  Lebens**  yon  Erasmus  Darwin.  Aus  dem  Englischen  fibersetst 
und  mit  einigen  Anmerknngen  begleitet  yon  J.  D.  Brandis.  Hannover 
1795-99.    I,  1.    S.223. 

*)  Smith,  „Optica"  Bach  I,  Kap.  V,  §  135.    Übers,  a.  a.  0.  S.  41  f. 

•)  Reid  a.a.O.  Voll,  S.  182 f. 

4)  Bichat,  „Recherches  physiologiqnes  sur  la  yie  et  la  mort*'  S.  202f. 
Panl  Janet  vertritt  in  seinem  Aufsatze  „Schopenhauer  et  la  Physiologie 
fran^ise"  die  Ansicht,  dafs  Bichat  der  erste  sei,  der  das  Gesetz  formuliert 
habe,  dafs  die  Gewohnheit  ihre  Macht  an  den  animalen  Funktionen  geltend 
mache,  während  ihr  Einflufs  auf  die  organischen  Funktionen  fast  gleich 
Null  sei.  Der  Aufsatz  von  Panl  Jannet  ist  erschienen  in  der  „Revue  dea 
deux  mondes"  1.  Mai  1880,  S.  46. 

«)  Cabanis,  „Rapports"  T.  I,  S.  9  u.  a.  m. 


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231 

dals  die  Lokalisation  der  Empfiiidnngen  in  den  Sinnesorganen 
bereits  bei  Aristoteles  nnd  weiterhin  bei  Kepler  gegeben  ist, 
der  aber  fttr  diesen  Punkt  von  Schopenhauer  noch  nieht 
erwähnt  wird.  Unter  den  von  ihm  genannten  Quellen  fanden 
wir  diesen  Gedanken  von  Erasmus  Darwin  und  in  gewissem 
Sinne  auch  von  Troxler  vertreten. 

Das  Einfachsehen,  das  vor  den  vier  in  den  späteren 
Schriften  Schopenhauers  genannten  speziellen  Funktionen  in 
der  ersten  Entwicklungsperiode  allein  in  Betracht  kommt,  ist 
gleichfalls  schon  bei  Kepler  angelegt  Von  den  Schopenhauer 
näherstehenden  Autoren  fanden  wir  es  bei  Cheselden  und  Smith. 

Das  in  der  Theoria  colorum  hinzukommende  Moment  des 
Aufreehtsehens,  gleichfalls  schon  von  Kepler  berührt,  wird  für 
Schopenhauer  in  erster  Linie  auf  Cheselden,  vielleicht  auch 
schon  auf  Thomas  Reid  zurückzuführen  sein.  Letzteres  ist  nicht 
ganz  wahrscheinlich,  da  Reid  hier  zwar  schon  genannt,  eine 
eingehende  Berücksichtigung  seiner  Theorie  aber  vermutlich 
hier  schon  zu  der  weiteren  Ausgestaltung  geführt  haben  würde, 
die  die  Lehrmeinung  Schopenhauers  mit  ausdrücklicher  Bezug- 
nahme auf  Reid  in  den  späteren  Schriften  genommen  hat. 

Auffallend  ist,  dafs  Schopenhauer  einen  Gedanken  von  Robert 
Smith,  der  schon  von  Berkeley  entwickelt  wurde,  dafs  wir  uns  der 
Empfindungen  auf  der  Netzhaut  selbst  nicht  bewufst  seien,  nicht 
beachtet  hat  Fast  möchte  man  vermuten,  dafs  er  diesen  Ge- 
danken zufolge  seiner  metaphysisch  eingestellten  psychophysio- 
logischen Betrachtungsweise  absichtlich  gemieden  habe. 

In  den  späteren  Schriften  Schopenhauers  erwies  sich  der  Ein- 
fluls  der  französischen  Physiologen  Bichat,  Cabanis  und  Flourens 
und  der  Thomas  Reids  als  bedeutsam.  Die  Lokalisation  der 
Empfindungen  in  den  Sinnesorganen  findet  bei  Bichat,  die 
Trennung  von  Empfindung  nnd  Vorstellung  wahrscheinlich  in 
den  in  der  Weise  Schopenhauers  aufgefafsten  Lehren  von 
Cabanis  und  Flourens  eine  Bestätigung. 

Für  die  weitere  Ausgestaltung  der  Theorie  von  der  em- 
pirischen Anschauung  fanden  wir  Thomas  Reid  als  die  Haupt- 
qnelle. 

Anmerkung. 

Einige  Bemerkungen  seien  noch  angebracht  über  Schopen- 
hauers Verhältnis  zu  Berkeley.    Der  Name  Berkeleys  wird 


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232 

Bchon  in  Welt  als  Wille  and  Vorstellnng,  Band  1, 1819,^)  genannt 
nnd  dessen  metaphysische  Lehre  einer  Kritik  unterzogen.  Merk- 
würdigerweise ist  nun  dessen  Abhandlung  ttber  das  Sehen:  .An 
Essay  towards  a  New  Theory  of  Vision',  1709,  von  Schopenhauer 
nirgends  erwähnt  Gleichwohl  ist  zu  vermuten,  dafs  Sehopen- 
hauer  sie  wenigstens  dem  Namen  nach  gekannt  habe:  sie  ist  in 
Robert  Smiths  „Optics''^)  und  in  Erasmus  Darwins  ,Zoonomia''>) 
erwähnt  Auch  ist  sie  bei  Thomas  Reid  an  verschiedenen  Stellen  . 
genannt  (Diese  Schrift  Berkeleys  findet  sich  nicht  in  der  von 
Schopenhauer  hinterlassenen  Bibliothek.)  Es  bleibt  daher  un- 
gewils,  ob  Schopenhauer  diese  Schrift  Berkeleys  auch  dem 
Inhalte  nach  gekannt  habe. 

Berkeley  beschäftigt  sieh  in  dem  «Essay  towards  a  New 
Theory  of  Vision''  n.  a.  mit  dem  Problem  der  Beurteilung  der  Ent- 
fernung. Er  wendet  sich  gegen  diejenigen,  die  die  Gröfse  des 
Winkels,  der  durch  das  Sichschneiden  der  beiden  optischen 
Achsen  gebildet  wird,  oder  die  gröfsere  oder  geringere  Divei^nz 
der  Strahlen,  die  von  einem  Punkte  aus  auf  die  Papille  treffen, 
zur  Erklärung  heranziehen  wollen,  weil  es  vollkommen  unmög- 
lich sei,  die  verschiedenen  Winkel  durch  das  Gesicht  wahrzn* 
nehmen.^)  Zur  Beurteilung  der  Entfernung  nimmt  er  vielmehr 
in  Anspruch:  1.  die  Empfindungen,  die  vom  Rollen  der  Augen 
entstehen,  je  nachdem  wir  sie  auf  nähere  oder  entferntere 
Gegenstände  richten,^) 

2.  die  mehr  oder  weniger  grofse  Verworrenheit  der  Gesichts- 
bilder bei  konstant  angenommener  PupillenOfihung,*) 

3.  die  Empfindangen,  die  durch  die  Anstrengung  der  Augen 
entstehen,  wenn  wir  bei  Annäherung  eines  Gegenstandes  an 
die  Augen  verhindern  wollen,  dafs  er  verworrener  werdet 

Nebenher  erwähnt  werden  als  mittelbar,  nämlich  zufolge  der 
schon  vorhergegangenen  Erfahrungen  wirksam,  4.  die  besondere 


»)  I,  34  und  555. 

>)  Smitb,  „Optica"  Buch  I,  Eap.V,  §  135.    Übers.  a.a.  0.  S.  43. 
*)  Erasmus  DarwiD,  „Zoonomia",  I.  Teil,  1.  Abt.,  14.  Abschn.,  S.Abs. 
Übers.  a.a.O.  S.  212. 

*)  Berkeley,  „An  Essay  towards  a  New  Theory  of  Vision",  1732,  §  12. 
*)  Ebenda  §  16f. 
«)  Ebenda  §21  f. 
')  Ebenda  §  27  f. 


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283 

Zahl,  Gestalt,  Beschaffenheit  der  Teile  der  gesehenen  Dinge.  0 
Zu  den  genannten  tritt  als  5.  ein  Vergleichen  der  Gesichts- 
empfindnngen  mit  den  Tastwahmehmungen,  das  bei  ihm  für 
die  ränmliche  Anordnung  der  Gesiehtsempfindnngen  von  prin- 
zipieller Bedentnng  ist.') 

In  dem  ersten  Punkte  stimmen  Schopenhauer  und  Berkeley 
überein,  mit  dem  Unterschied  allerdings,  dals  Berkeley  eine 
mit  diesen  Empfindnngen  verbundene  Kenntnis  des  Winkels 
der  optischen  Achen  für  ausgeschlossen  hält,  während  Schopen- 
hauer eine  solche,  wenn  auch  intuitive,  nur  für  den  Verstand 
vorhandene  Kenntnis  annimmt  Der  zweite  Punkt  dient  Berkeley 
auch  zur  Erklärung  der  Erscheinungen,  die  Schopenhauer  auf 
die  Luftperspektive  zurückführt,  so  z.  B.  des  Gröfserwerdens 
des  Mondbildes  nach  dem  Horizont  zu.  Diese  besondere  Er- 
klärungsweise Berkeleys  findet  sich  bei  Schopenhauer  nicht, 
auch  der  dritte  Punkt  nicht,  und  der  vierte  nicht  in  der  bei 
Berkeley  auftretenden  Fassung.  Der  fünfte,  von  Berkeley  in 
erster  Linie  betonte  und  am  weitesten  ausgeführte  Punkt  ist 
gleichfalls  in  seinem  wesentlichen  Bestände  bei  Schopenhauer 
nicht  gegeben.  Auch  Schopenhauer  spricht  zwar  von  einem  Ver- 
gleichen der  Gesichts-  und  Tastempfindungen,  wo  er  von  dem  Er- 
lernen der  Verstandestätigkeit  spricht  Die  Ausführungen  Berke- 
leys in  diesem  Punkte  unterscheiden  sich  aber  sachlich  von  denen 
Schopenhauers  in  dem  Moment,  dafs  die  Tastwahmehmungen  bei 
Berkeley  das  Primäre  und  die  für  die  Gesiehtswahrnehmungen 
notwendig  vorhergehende  Bedingung  sind,  während  bei  Schopen- 
hauer das  Vergleichen  der  Gesichts-  und  Tastempfindungen  dem 
Vergleichen  der  Empfindungen  eines  und  desselben  Sinnes  unter- 
einander koordiniert  ist;  es  hat  bei  ihm  für  die  Baumordnung 
nicht  die  prinzipielle  Bedeutung  wie  bei  Berkeley,  weil  die 
Lokalisation  der  Gesichtsempfindungen  in  den  Baum  bei 
Schopenhauer  das  unmittelbare  Resultat  der  Tätigkeit  des 
Verstandes  ist  Dies  ist  einer  der  Gründe  dafür,  dafs  die 
Untersuchung  Berkeleys  auch  sachlich  nicht  als  unmittelbare 
historische  Grundlage  für  die  spezielle  Ausgestaltung  der  Lehre 
Schopenhauers  von  der  empirischen  Anschauung  zu  betrachten 
ist  Die  zweite  wesentliche  Abweichung  ist  gegeben  in  Berkeleys 


0  Ebenda  §  28.  ^)  Ebenda  §  45  f.  u.  a.  m. 


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234 

BebauptnDg,  dafs  der  optische  Winkel  der  in  das  Auge  ein- 
treffenden Strahlen  zar  Erklärung  des  Tiefensehens  nieht  her- 
angezogen werden  dttrfe,  weil  dieser  Winkel  nicht  zum  Bewolst- 
sein  komme,  eine  Einsicht,  die  der  Lehre  Schopenhauers,  in  der 
das  nicht  berücksichtigt  wird,  entschieden  überlegen  ist  Für 
das  aber,  was  Schopenhauer  mit  Berkeley  gemeinsam  ht^  fanden 
wir  bereits  in  Thomas  Reid  eine  zureichende  Quelle,  da  Sehopen- 
hauer  für  diese  Punkte  selbst  auf  Reid  hinweist 


Zusammenfassnng. 

Das  Ergebnis  unserer  historischen  Erörterung  ist  kurz 
folgendes: 

Die  Lehre  Schopenhauers  von  der  empirisehen  Anschauung 
nimmt  in  ihrem  erkenntnistheoretisehen  Bestände  ihren  un- 
mittelbaren Ausgang  von  der  Lehre  Kants.  Die  im  Prinzip 
schon  bei  Kant  vorhandene  Intellektualität  der  empirischen 
Anschauung  erfährt  von  Schopenhauer  die  eigentümliche 
Umgestaltung,  dafs  der  Verstand  unmittelbar  die  einzelne 
Sinnesempfindung  als  Wirkung  auffasse  und  von  ihr  aus  zur 
Ursache  im  Baume  übergehe.  Die  Unmittelbarkeit  des  kausalen 
Beziehungsbewufstseins  und  die  Zurückftthrung  des  Verhältnisses 
von  Inhärenz  und  Dependenz  auf  das  von  Wirksamkeit  über- 
haupt und  Wirkungsart  erwies  sich  uns  als  Fortschritt  gegen- 
über Kant. 

Den  Gedanken  der  Unmittelbarkeit  der  kausalen  Bedingt- 
heit der  Empfindungen  fanden  wir  schon  bei  Schulze  angelegt, 
hier  auch  den  Gedanken  von  dem  unmittelbaren  Bewuistsein 
von  dem  eigenen  Leibe. 

Auch  Fichtes  Ausführungen  über  die  Tatsachen  des  Be- 
wufstseins  enthalten,  wenn  auch  im  Prinzip  anders  entwickelte, 
so  doch  dem  Resultat  nach  verwandte  Gedanken. 

In  seiner  zweiten  Entwicklungsperiode  erhält  Schopenhaner 
für  die  Intuitivität  der  Verstandeserkenntnis  eine  Bestätigung 
in  der  Lehre  von  Thomas  Reid. 


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285 

Die  Lokalisation  der  Sinnesempfindungen  in  den  Sinnes- 
organen seheint  im  wesentlichen  von  Erasmns  Darwin  herzu- 
rühren.   Bei  Troxler  fanden  wir  verwandte  Gedanken. 

Für  die  Trennung  von  blofser  Sinnesempfindang  nnd  Vor- 
Stellung  sieht  Schopenhauer  in  den  psychophysiologischen  Er- 
gebnissen der  Untersuchungen  von  Cabanis  und  Flourens  eine 
Bestätigung. 

Die  spezielle  psychologische  Ausgestaltung  der  Lehre  von 
der  empirischen  Anschauung  fanden  wir  in  fast  allen  Einzel- 
heiten in  der  ihm  bekannten  psychophysiologischen  Literatur 
wurzelnd,  in  der  Hauptsache  bei  Robert  Smith,  Cheselden  und 
Thomas  Beid. 

Dies  macht,  historisch  betrachtet,  die  Lehre  Schopenhauers 
von  der  empirischen  Anschauung  nicht  minderwertig;  denn  es 
kommt  ihm  das  besondere  Verdienst  zu,  den  von  anderen  gefun- 
denen psychophysiologischen  Tatsachen  durch  ihre  gemeinsame 
Beziehung  auf  die  kausale  Funktion  des  Verstandes  einen  ein- 
heitlichen Zusammenhang  gegeben  zu  haben.  Anderseits  hat 
er  gegenflber  der  allgemein  gehaltenen  Lehre  Kants  von  der 
empirischen  Anschauung  das  Verdienst,  diese  auf  den  Boden 
der  empirischen  Forschung  zu  bringen  versucht  zu  haben. 


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Anhang. 

Das  Verhältnis  der  Lehre  Schopenhauers  von 

der  empirischen  Anschauung  zur  Lehre  von 

y.  Helmholtz. 

Die  schon  wiederholt  erörterte  Frage  nach  dem  AbhäDgig- 
keitsyerhältnis  der  Lehre  von  v.  Helmholtz  von  der  Lehre 
Schopenhauers  ist  in  einem  wesentlichen  Punkte  bisher  noch 
nicht  hinreichend  geprüft  worden,  nämlich  hinsichtlieh  der 
Frage,  in  welchem  Sinne  ein  Gemeinsames  in  dem  Bestände 
der  Lehren  beider  von  der  kausalen  Deutung  der  empirischen 
Anschauung  angenommen  werden  darf. 

In  dem  am  27.  Februar  1855  anlälslich  der  Einweihung 
des  Eantdenkmals  zu  Königsberg  gehaltenen  Vortrage  von 
y.  Uelmholtz:  Über  das  Sehen  des  Menschen,  der  durch  den 
Bericht  Franenstädts  zum  Anlafs  für  die  Behauptung  Schopen- 
hauers wurde,  dafs  Helmholtz  einen  wesentlichen  Bestandteil 
seiner  Lehre,  nämlich  die  Behauptung  flber  die  Funktion  der 
Kausalität  in  der  Wahrnehmung,  seinem  System  entlehnt  habe, 
spricht  Helmholtz  im  Anschlnfs  an  eine  Darlegung  der  Lehre 
Johannes  Mflllers  von  den  spezifischen  Sinnesenergieen  auch 
ttber  die  erkenntnistheoretischen  Folgen,  die  sich  ans  dieser 
Lehre  entwickeln  lassen. 

Er  fUhrt  u.  a.  folgendes  ans:  „Wenn  eine  Verbindung 
zwischen  der  Vorstellung  eines  Körpers  von  gewissem  Aussehen 
und  gewisser  Lage  und  unseren  Sinnesempfindungen  entstehen 
soll,  so  mttssen  wir  doch  erst  die  Vorstellung  von  solchen 
Körpern  haben.  Wie  es  aber  mit  dem  Auge  ist,  so  ist  es  auch 
mit  den  anderen  Sinnen;  wir  nehmep  nie  die  Gegenstände 
der  Aulsenwelt  unmittelbar  wahr,  sondern  wir  nehmen  nur 


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237 

WirkuDgen  dieser  Gegenstände  auf  nnsere  Nervenapparate 
wahr,  and  das  ist  vom  ersten  Augenblicke  unseres  Lebens  an 
so  gewesen.  Auf  welche  Weise  sind  wir  denn  nun  zuerst  aus 
der  Welt  der  Empfindungen  unserer  Nerven  hinflbergelangt  in 
die  Welt  der  Wirklichkeit?  Offenbar  nur  durch  einen  Schlufs; 
wir  mflssen  die  Gegenwart  äufserer  Objekte  als  Ursache  unserer 
Nervenerregung  voraussetzen;  denn  es  kann  keine  Wirkung 
ohne  Ursache  sein.  Woher  vnssen  wir,  dafs  keine  Wirkung 
ohne  Ursache  sein  kOnne?  Ist  das  ein  Erfahrungssatz?  Man 
hat  ihn  dafUr  ausgeben  wollen,  aber  wie  man  sieht,  brauchen 
wir  diesen  Satz,  ehß  wir  noch  irgend  eine  Kenntnis  von  den 
Dingen  der  Aufsenwelt  haben;  wir  brauchen  ihn,  um  nur  Über- 
haupt zu  der  Erkenntnis  zu  kommen,  dafs  es  Objekte  im 
Baume  um  uns  gibt,  zwischen  denen  ein  Verhältnis  von  Ursache 
und  Wirkung  bestehen  kann.  KOnnen  wir  ihn  aus  der  inneren 
Erfahrung  unseres  Selbstbewufstseins  hernehmen?  Nein,  denn 
die  selbstbewufsten  Akte  unseres  Willens  und  Denkens  betrachten 
wir  gerade  als  frei;  d.  h.  wir  leugnen,  dals  sie  notwendige 
Wirkungen  ausreichender  Ursachen  seien.  Also  führt  uns  die 
Untersuchung  der  Sinneswahrnehmungen  auch  noch  zu  der 
schon  von  Kant  gefundenen  Erkenntnis,  dafs  der  Satz:  „Keine 
Wirkung  ohne  Ursache^,  ein  vor  aller  Erfahrung  gegebenes 
Gesetz  unseres  Denkens  sei.^0  Schopenhauer  hat  aus  diesen 
Ausführungen  den  Sinn  der  von  ihm  selbst  vertretenen  Lehre 
herausgelesen,  dafs  die  Apriorität  des  Kausalgesetzes  aus  dem 
kausalen  Verhältnis  der  blofsen  Sinnesempfindung  als  Wirkung 
zu  ihrer  Ursache  im  Baume  aufser  uns  abzuleiten  sei.^)  In 
der  Tat  sind  die  Ausführungen  von  v.  Helmholtz  wohl  geeignet, 
einen  solchen,  wie  wir  finden  werden,  irrtümlichen  Sinn  in 
sie  hineinzulesen;  denn  der  Sinn,  in  dem  hier  von  einem 
Schlüsse  auf  die  Ursache  unserer  Nervenerregung  die  Bede  ist. 


*)  Vorträge  und  Beden  von  Hermann  von  Helmholtz,  5.  Auflage, 
1.  Band.    Braanschweig  1903.    S.  115f. 

*)  Schopenhauers  Briefe,  herausgegeben  von  Eduard  Grisebach.  Leipzig, 
Ph.  Reclam.  S.  337.  Sieh  darüber  Friedrich  Gonrat,  Hermann  von  Helmholtz' 
psychologische  Anschauungen.  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer 
Geschichte.  Herausgegeben  von  Benno  Erdmann.  18.  Heft  Halle  a.  d.  S., 
Max  Niemeyer,  1904;  insbesondere  Kap.  13:  Die  Prioritäts-  und  Plagiats- 
fr^e  gegenüber  Schopenhauer,  S.  229  f. 


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2S8 

bleibt  innerhalb  des  Oedankengangea  dieses  Vortrags  dnnkel. 
Er  unterscheidet  sich  zwar  der  Sache  nach  wesentlich  von 
denjenigen  Schlüssen,  die  uns  von  gewissen  Sinnesempfindnngen 
als  Wirkungen  anf  gewisse  durch  andere  Sinnesempfindungen 
uns  schon  bekannte  Körper  als  die  Ursachen  jener  führen; 
diese  Schlüsse  nämlich  haben  die  Vorstellung  Yon  Körpern 
aulser  uns  schon  zur  Voraussetzung,  jener  Schluls  aber  soll 
allererst  auf  diese  Vorstellung  führen.  Helmholtz  geht  aber  auf 
diesen  Unterschied  in  dem  genannten  Vortrage  nicht  näher  ein. 
Trotzdem  aber  flielst  aus  den  Ausführungen  von  v.  Helmholtz 
nicht  notwendig  der  Sinn,  den  ihnen  Schopenhauer  beilegt; 
denn  es  bleibt  auch  die  Deutung  mOglich,  die  der  Lehre  Kants, 
auf  die  sich  Helmholtz  beruft,  analog  ist,  dafs  wir  aus  einer 
bestimmten  Gesetzmälsigkeit  in  der  Folge  unserer  Empfindungen 
auf  Grund  der  empirischen  Einsicht,  dafs  diese  Gesetzmäfsigkeit 
aus  den  uns  bekannten  subjektiven  Kausalfaktoren,  die  sieh  in 
der  willkürlichen  Folge  unserer  Vorstellungen  wirksam  erweisen, 
nicht  hinreichend  ableitbar  sei,  auf  eine  Ursache  aulser  uns 
für  diese  Gesetzmäfsigkeit  schliefsen  and  uns  dadurch  die 
Vorstellung  von  einem  Körper  aufser  uns  entstehe.  Dafs  ein 
Gedanke  in  diesem  Sinne  Helmholtz  vorgeschwebt  habe,  ergibt 
sich  aus  den  späteren  Ausführungen,  in  denen  er  diesen 
Gedanken  ausgeführt  hat  Hier,  insbesondere  in  dem  im 
Jahre  1878  gehaltenen  Vortrage:  Die  Tatsachen  in  der  Wahr- 
nehmung entwickelt  er  im  Anschlufs  an  eine  empirische 
Ableitung  der  Raumanschauung  auch  eine  solche  des  Bewufst- 
seins  von  der  Aufsenwelt.  Es  ist  zum  Verständnisse  dieser  Ent- 
wicklung nötig  die  etwas  längere  Ausführung  im  Zusammenhange 
anzuführen.  Er  sagt:  „Wenn  wir . . .  fragen,  ob  es  ein  gemein- 
sames und  in  unmittelbarer  Empfindung  wahrnehmbares  Kenn- 
zeichen gibt,  durch  welches  sich  für  uns  jede  auf  Gegenstiinde 
im  Baum  bezügliche  Wahrnehmung  charakterisiert:  so  finden 
wir  in  der  Tat  ein  solches  in  dem  Umstände,  dafs  Bewegung 
unseres  Körpers  uns  in  andere  räumliche  Beziehungen  zu  den 
wahrgenommenen  Objekten  setzt  und  dadurch  auch  den  Ein- 
druck, den  sie  auf  uns  machen,  verändert  Der  Impuls  zur 
Bewegung  aber,  den  wir  durch  Innervation  unserer  motorischen 
Nerven  geben,  ist  etwas  unmittelbar  Wahrnehmbares.  Dafs 
wir  etwas  tun,  indem  wir  einen  solchen  Impuls  geben,  fühlen 


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239 

wir.  Was  wir  tan,  wissen  wir  nioht  anmittelbar.  Dafs  wir 
die  motorisehen  Nerven  in  Erregungszustand  versetzen  oder 
innervieren,  dafs  deren  Reizung  auf  die  Muskeln  übergeleitet 
wird,  diese  sieh  infolgedessen  zusammenziehen  und  die  Glieder 
bewegen,  lehrt  uns  erst  die  Physiologie.  Wiederum  aber  wissen 
wir  aoch  ohne  wissensehaftliehes  Studium,  welehe  wahrnehm- 
bare Wirkung  jeder  versehiedenen  Innervation  folgt,  die  wir 
einzuleiten  imstande  sind  ....  Wir  wissen  von  diesen  Impulsen 
unter  keiner  anderen  Form  nnd  dureh  kein  anderes  definierbares 
Merkmal  als  dadurch,  dafs  sie  eben  die  beabsiehtigte  beob- 
achtbare Wirkung  hervorbringen;  diese  letztere  dient  also  aneh 
allein  zur  Unterscheidung  der  verschiedenen  Impulse  in  unserem 
eigenen  Vorstellen. 

Wenn  wir  nun  Impulse  solcher  Art  geben  (den  Blick 
wenden,  die  Hände  bewegen,  hin-  und  hergehen),  so  finden 
wir,  dafs  die  gewissen  Qualitätenkreisen  angehörigen  Empfin- 
dungen (nämlich  die  auf  räumliche  Objekte  bezüglichen), 
dadurch  geändert  werden  kOnnen ;  andere  psychische  Zustände, 
deren  wir  uns  bewufst  sind,  Erinnerungen,  Absichten,  Wünsche, 
Stimmungen  durchaus  nicht  Dadurch  ist  in  unmittelbarer 
Wahrnehmung  ein  durchgreifender  Unterschied  zwischen  den 
ersteren  und  letzteren  gesetzt.  Wenn  wir  also  dasjenige  Ver- 
hältnis, welches  wir  durch  unsere  Willensimpnlse  unmittelbar 
ändern,  dessen  Art  uns  übrigens  noch  ganz  nnbekannt  sein 
könnte,  ein  räumliches  nennen  wollen,  so  treten  die  Wahr- 
nehmungen psychischer  Tätigkeiten  gar  nicht  in  ein  solches 
ein;  wohl  aber  müssen  alle  Empfindungen  der  äufseren  Sinne 
anter  irgend  welcher  Art  der  Innervation  vor  sich  gehen,  d.  h. 
räumlich  bestimmt  sein.  Demnach  wird  nns  der  Baum  auch 
sinnlich  erscheinen,  behaftet  mit  den  Qualitäten  unserer  Be- 
wegungsempfindungen, als  das,  durch  welches  hin  wir  uns 
bewegen,  durch  welches  hin  wir  blicken  kOnnen.  Die  Raum- 
anschauung würde  also  in  diesem  Sinne  eine  subjektive 
Anschauungsform  sein,  wie  die  Empfindungsqualitäten  Rot, 
Sttfs,  Kalt  .  .  . 

Als  die  notwendige  Form  der  äufseren  Anschauung 
aber  würde  der  Raum  von  diesem  Standpunkt  aus  erscheinen, 
weil  wir  eben  das,  was  wir  als  räumlich  bestimmt  wahrnehmen, 
als  Aufsenwelt  zusammenfassen  .  .  . 


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240 

Und  eine  gegebene,  vor  aller  Erfahrung  mitge- 
braehte  Form  der  Anschanuog  würde  der  Raum  sein,  insofern 
seine  Wahrnehmnng  an  die  Möglichkeit  motorischer  Willens- 
impulse geknüpft  wäre  .  .  . 

Suchen  wir  uns  auf  den  Standpunkt  eines  Menschen  ohne 
alle  Erfahrung  zurückzuversetzen.  Um  ohne  Baumanschannng 
zu  beginnen,  müssen  wir  annehmen,  dafs  ein  solcher  Mensch 
auch  die  Wirkungen  seiner  Innervationen  nicht  weiter  kenne, 
als  insofern  er  gelernt  habe,  wie  er  durch  Naehlafs  einer  ersten 
Innervation  oder  durch  Ausführung  eines  zweiten  Gegenimpulses 
sich  in  den  Zustand  wieder  zurückversetzen  kOnne,  aas  dem 
er  durch  den  ersten  Impuls  sich  entfernt  hat  Da  dieses  gegen- 
seitige Sichaufheben  verschiedener  Innervationen  ganz  unab- 
hängig ist  von  dem,  was  dabei  wahrgenommen  wird,  so  kann 
der  Beobachter  finden,  wie  er  das  zu  machen  hat,  ohne  noch 
irgend  ein  Verständnis  der  Aufsenwelt  vorher  erlangt  zu  haben. 

Ein  solcher  Beobachter  befinde  sich  zunächst  einmal  einer 
Umgebung  von  ruhenden  Objekten  gegenüber.  Dies  wird  sich 
ihm  erstens  dadurch  zu  erkennen  geben,  dals,  solange  er  keinen 
motorischen  Impuls  gibt,  seine  Empfindungen  unvei&ndert 
bleiben.  Gibt  er  einen  solchen  (bewegt  er  zum  Beispiel  die 
Augen  oder  die  Hände,  schreitet  er  fort),  so  ändern  sich  die 
Empfindungen;  und  kehrt  er  dann  durch  Nachlals  oder  den 
zugehörigen  Gegenimpuls  in  den  früheren  Zustand  zurück,  so 
werden  sämtliche  Empfindungen  wieder  die  früheren. 

Nennen  wir  die  ganze  Gruppe  von  Empfindungsaggregaten, 
welche  während  der  besprochenen  Zeitperiode  durch  eine  gewisse 
bestimmte  und  begrenzte  Gruppe  von  Wiliensimpulsen  herbei- 
zuführen sind,  die  zeitweiligen  Präsentabilien,  dagegen 
präsent  dasjenige  Empfindungsaggregat  aus  dieser  Gruppe, 
was  gerade  zur  Perzeption  kommt:  so  ist  unser  Beobachter 
zurzeit  an  einen  gewissen  Kreis  von  Präsentabilien  gebunden, 
aus  dem  er  aber  jedes  einzelne  in  jedem  ihm  beliebigen  Augen- 
blicke durch  Ausführung  der  betreffenden  Bewegung  priisent 
machen  kann.  Dadurch  erscheint  ihm  jedes  einzelne  aus  dieser 
Gruppe  der  Präsentabilien  als  bestehend  in  jedem  Angen- 
blick  dieser  Zeitperiode.  Er  hat  es  beobachtet  in  jedem  einzelnen 
Augenblicke,  wo  er  es  gewollt  hat  Die  Behauptung,  dafs  er 
es  auch  in  jedem  anderen  zwischenliegenden  Augenblicke  würde 


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241 

haben  beobachten  kOnnen,  wo  er  es  gewollt  haben  wflrde,  ist 
als  ein  Indaktionsschlnfs  anzusehen,  der  von  jedem  Angenblicke 
eines  gelungenen  Versnehes  aaf  jeden  Aagenbliek  der  betreffenden 
Zeitperiode  sehleehthin  gesogen  wird.  So  wird  also  die  Vorstellang 
von  einem  dauernden  Bestehen  von  Verschiedenem 
gleichzeitig  nebeneinander  gewonnen  werden  können.  Das 
«Nebeneinander*  ist  eine  Baumbezeichnung;  aber  sie  ist  gerecht- 
fertigt, da  wir  das  durch  Willensimpnlse  geänderte  Yerhältnia 
als  „räumlich^  definiert  haben.  Bei  dem,  was  da  als  neben- 
einander bestehend  gesetzt  wird,  braucht  man  noch  nicht  an 
substantielle  Dinge  zu  denken.  „Rechts  ist  es  hell,  links  ist 
es  dunkel;  vorn  ist  Widerstand,  hinten  nicht"  könnte  zum  Bei- 
spiel auf  dieser  Erkenntnisstufe  gesagt  werden,  wobei  das 
Rechts  und  Links  nur  Namen  für  bestimmte  Augenbewegungen, 
Vorn  und  Hinten  für  bestimmte  Handbewegungen  sind. 

Zu  anderen  Zeiten  nun  ist  der  Kreis  der  Präsentabilien 
für  dieselbe  Gruppe  von  Willensimpulsen  ein  anderer  geworden. 
Dadurch  tritt  uns  dieser  Kreis  mit  dem  einzelnen,  was  er  ent- 
hält, als  ein  Gegebenes,  ein  „objectum'^  entgegen.  Es  scheiden 
sich  diejenigen  Veränderungen,  die  wir  durch  bewufste  Willens- 
impulse hervorbringen  und  rückgängig  machen  können,  von 
solchen,  die  nicht  Folge  von  Willensimpulsen  sind  und  durch 
solche  nicht  beseitigt  werden  können.  Die  letztere  Bestimmung 
ist  negativ.  Fiehtes  passender  Ausdruck  dafür  ist,  dafs  sich 
ein  „Nicht-Ich"  dem  »Ich"  gegenüber  Anerkennung  erzwingt*^) 

Wir  dürfen  für  unseren  Zweck  davon  absehen,  dafs  auch 
schon  der  Annahme  eines  gleichzeitigen  Bestehens  von  Präsen- 
tabilien mit  bestimmten  Präsenten  die  Voraussetzung  eines  un- 
abhängig von  ihrem  Präsentsein  oder  Repräsentsein  bestehenden 
Wirklichen  zugrunde  liegt,  und  dafs  selbst  der  Gedanke  einer 
Reihe  von  an  einem  präsent  bleibenden  ruhenden  Gegenstande 
hin-  und  hergleitenden  Bewegungsimpulsen  in  der  Konstanz  der 
Beziehung  der  präsenten  Elemente  ebensowohl  ein  von  den 
subjektiven  Bedingungen  der  Sukzession  der  Willensimpulse 
unabhängiges  Moment  verrät,  wie  eine  der  subjektiven  Folge  der 
Willensimpulse  nicht  parallel  gehende  Folge  von  Veränderungen 


')  Vorträge  und  Reden  von  Hermann  von  Helmboltz,  II.  Band,  S.  223  ff. 

Pblloflopbiwhe  Abhitndlangen.    XLII.  ]6 


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242 

der  Sinnesempfindangen,  es  genOgt  vielmehr  für  unsere  Zweeke, 
darauf  hinzuweisen,  dafs  fttr  Helmholtz  das  entscheidende 
empirische  Kriterium  für  die  Existenz  einer  Aufsenwelt  in  der 
Unabhängigkeit  gewisser  Veränderungen  unserer  Sinnesempfin- 
dungen  von  einer  subjektiv  bedingten  Folge  von  Willensimpulsen 
gegeben  ist,  ein  Kriterium,  das  dem  von  Kant  aufgestellten  der 
Niehtumkehrbarkeit  obiektiver  Folgen  unserer  VorBtellungen 
analog  ist  Dies  gilt  auch  dann  noch,  wenn  wir  berücksichtigen, 
dafs  die  psychophysiologische  Problemstellung  Helmholtzens  in 
der  Frage  nach  dem  Zustandekommen  einer  Vorstellung  von 
einem  aufser  uns  Wirklichen  von  der  transzendentalen  Problem- 
stellang  Kants  in  der  Frage  nach  dem  Grunde  der  objektiven 
Gültigkeit  unserer  Erkenntnisse  wesentlich  verschieden  isi^) 
Wenn  es  bereits  in  der  Einleitung  zur  „Erhaltung  der 
Kraft"  (1848)  heilst,  dafs  wir  znr  Kenntnis  der  Gegenstände  der 
Natur  „nur  durch  die  Wirkungen  kommen,  welche  von  ihnen 
aus  auf  unsere  Sinnesorgane  erfolgen,  indem  wir  aus  diesen 
Wirkungen  auf  einwirkendes  schliefsen",^)  so  kann  auch  dieser 
Satz  zwar  leicht  zum  Anlafs  einer  Deutung  im  Sinne  der  Lehre 
Schopenhauers  werden,  doch  ist  auch  er  mühelos  vom  Stand- 
punkt der  späteren  Ausgestaltung  der  Lehre  Helmholtzens  ans 
zu  verstehen.  Nicht,  dafs  uns  die  Wirkungen  in  den  Sinnes- 
organen als  solche  bewulst  würden,  was  Helmholtz,  wie  wir 
sehen  werden,  ablehnt,  noch  auch,  dafs  wir  diese  Wirkungen  als 
unbewufste  Prämissen  gleichsam  zu  einem  Schlüsse  auf  ihre 
Ursachen  in  dem  Sinne  benutzten,  dafs  wir  ihren  Charakter  des 
Bewirktseins  unmittelbar  dabei  in  Anschlag  brächten,  braucht 
notwendig  der  Sinn  dieses  Satzes  zu  sein,  sondern  so  ist  er  zu 
verstehen,  dafs  wir  dasjenige,  was  sich  uns  nachträglich  bei 
einer  physikalischen  Betrachtungsweise  als  ein  auf  unsere 
Sinnesorgane  Wirkendes  darstellt,  als  ein  selbständiges  Ursäch- 
liches gegenüber  den  von  uns  verorsachten  Bewegungsimpnlsen 
auffassen,  welche  Selbständigkeit  wir  bei  dem  Zustandekommen 
unserer  Vorstellung  von  einer  Aufsenwelt  aus  der  mit  der  Folge 


0  Sieh  darüber  Alois  Riehl,  Hermann  von  Helmbolts  in  seinem  Ver- 
hältniB  zu  Kant.  Kantstudien,  IX.  Band.  Sonderabdruck.  Berlin,  Bentber 
u.  Rictiard,  1904,  S.  14. 

«)  H.  V.  Helmholtz,  Wissen scbaftliche  Abhandlungen,  I.  Band,  S.  14. 


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243 

ungerer  Bewegangsimpalse  nicht  parallel  gehenden  Folge  in 
den  Veränderungen  der  Empfindangen,  nicht  aber  ans  dem 
Eaasalzuflammenhange  zwischen  ursächlichem  Objekt  und 
Wirkung  in  unserem  Sinnesorgan  erschliefsen. 

Keine  Spur  also  zeigt  sich  bei  Helmholtz  von  dem  Gedanken, 
der,  wenn  wir  einmal  den  schopenhauerschen  im  streng  psycho- 
logischen Sinne  nehmen,  schon  der  einzelnen  Sinnesempfindung 
ein  unmittelbares  Bewufstsein  ihres  Bewirktseins  von  einer  Ur- 
sache auTser  uns  zuschreibt,  i)  Die  Lehre  Uelmholtzens  yerhält 
sich  vielmehr  zu  dieser  Annahme  von  apriorischen  Eausalzeichen 
der  Sinnesempfindungen,  so  können  wir  die  Annahme  Schopen- 
hauers kurz  kennzeichnen,  ganz  analog  wie  etwa  seine  em- 
pirische Raumtbeorie  zur  Annahme  augeborener  Lokalzeichen. 

Reproduktive  Bedingungen  sind  es  vielmehr,  die  aufser 
dem  Postulat  des  Kausalgesetzes  als  psychologische  Bedingungen 
für  das  Zustandekommen  der  Wahrnehmungen  bei  Helmholtz 
in  Betracht  kommen:  .Wenn  sich  die  gleichartigen  Spuren^, 
sagt  er,  .welche  oft  wiederholte  Wahrnehmungen  in  unserem 
Gedächtnisse  zurücklassen,  verstärken:  so  ist  es  gerade  das 
Gesetzmäfsige,  was  sich  am  regelmäfsigsten  gleichartig  wieder- 
holt, während  das  zufällig  Wechselnde  verwischt  wird."^) 

Dafs  hierbei  die  Gültigkeit  des  Kausalgesetzes  zur  Voraus- 
setzung diene,  bleibt  auch  für  die  späteren  Schriften  Helmholtzens 
bestehen.     Inwiefern  seine  Auffassung  von  der  Geltung  des 

>)  Dies  wurde  aufser  von  Schopenbauer  und  seinen  Schülern  Frauen- 
Btädt  und  Becker  neuerdings  u.  a.  auch  übersehen  von  Jobann  Czermak, 
der  in  seinem  Aufsatze  «Über  Schopenbaners  Tbeorie  der  Farbe*,  Sitzungs- 
berichte der  E.  K.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien,  62.  Band, 
II.  Abteilung,  Jahrgang  1870,  Heft  VI  bis  X,  S.  397  die  Bemerkung  macht, 
dab  die  moderne  Physiologie  der  Sinne  in  ihrer  Theorie  dos  gegenständ- 
lichen Sehens  und  der  Farbe  mit  den  Anschauungen  Schopenhauers  über- 
einstimme, was  aber  hinsichtlich  des  gegenständlichen  Sehens,  wie  wir 
fanden,  einer  Einschränkung  bedarf,  durch  die  freilich  der  von  Czermak 
angestrebte  Nachweis  der  Selbständigkeit  der  physiologischen  Forscher 
nur  noch  bekräftigt  wird;  ferner  wurde  es  übersehen  von  Johann  Carl 
Friedrich  Zöllner,  „Über  die  Natur  der  Kometen",  3.  Aufl.,  Leipzig  18S3, 
S.  189  f.,  von  Paul  Schultz,  „Arthur  Schopenhauers  Abhandlung  Über  das 
Sehen  und  die  Farben",  Archiv  fllr  Physiologie,  herausg.  von  Engelmann, 
1899,  Supplementband  S.  515f.,  und  von  Amoldt  Kowalcwski,  „Arthur 
Schopenhauer  und  seine  Weltanschauung",  Halle  a.  d.  S.  190S,  S.  65  f. 

')  Vorträge  und  Beden  von  Hermann  v.  Helmholtz,  II.  Band,  S.  232. 

16* 


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214 

Kausalgesetzes  hier  eine  gewisse  WandluDg  zeigt,  indem  das 
hypothetische  Moment  jedes  Eausalschlasses  mehr  hervortritt, 
ohne  dafs  doch  eine  reinliehe  Scheidung  zwischen  Inhalt  nnd 
Geltung  des  Kausalgesetzes  erreicht  wird,  näher  zu  untersuehen, 
ist  für  unseren  Zweck  nicht  erforderlich. 

Nur  einige  besondere  Bemerkungen  über  das  Verhältnis 
seiner  Lehre  zu  der  Schopenhauers  sind  noch  beizufflgen. 
Helmholtz  setzt  die  Ursachen  aufser  uns  als  von  ihrem  Vor- 
gestelltwerden  unabhängig  existierend,  also  als  transzendent 
voraus.  Die  Schopenhauer  eigentümliche  Verdoppelung  der 
Sinnesempfindung,  die  ebendieselbe  Sinnesempfindung  das  eine 
Mal  als  Wirkung,  das  andere  Mal  als  Ursache  auffassen  läfst 
ohne  dals  damit  die  Welt  als  Vorstellung  verlassen  werde,  so 
dafs  die  als  Wirkung  von  der  als  Ursache  aufgefalsten  Empfin- 
dung nicht  anders  ihrem  Inhalte  nach  unterschieden  werden 
kann  als  dadurch,  dafs  diese  raumzeitlich  bezogen  ist,  jene 
aber  noch  nicht,  fällt  für  Helmholtz  gänzlich  fort 

Auch  die  Ineinssetznng  von  Sinnesempfindung  nnd 
physiologischer  Erregung  im  Sinnesorgan  und  vollends  ein 
Wissen  um  die  spezifische  Beschaffenheit  letzterer  sind 
für  Helmholtz  Ungedanken;  denn  er  sagt:  «Indem  wir 
sehen  gelernt  haben,  haben  wir  eben  nur  gelernt,  die  Vor- 
stellung eines  gewissen  Gegenstandes  mit  gewissen  Empfin- 
dungen zu  verknüpfen,  welche  wir  wahrnehmen.  Die  Mittel- 
glieder, durch  welche  die  Empfindungen  zustande  kommen, 
interessieren  uns  dabei  gar  nicht;  ohne  wissenschaftliche  Unter- 
suchung lernen  wir  sie  auch  gar  nicht  kennen.  Zu  diesen 
Mittelgliedern  gehört  auch  das  optische  Bild  auf  der  Netzhaut. 
Der  Umstand,  dafs  es  auf  dem  Kopfe  steht,  und  wir  die  Gegen- 
stände doch  aufrecht  sehen,  hat  viele  Verwunderung  und  eine 
unendliche  Menge  unnützer  Erklärungsversuche  hervorgerufen. 
Wir  haben  durch  Erfahrung  gelernt:  Lichtempfindung  in  ge- 
wissen Fasern  des  Sehnerven  bezeichnet  helle  Gegenstande 
oben  im  Gesichtsfelde,  Lichtempfindnng  in  gewissen  anderen 
Fasern  bezeichnet  sie  unten.  Wo  diese  Fasern  in  der  Netzhaut, 
im  Sehnerven  liegen,  ist  dabei  ganz  einerlei,  wenn  wir  nur 
imstande  sind,  den  Eindruck  der  einen  Faser  von  dem  der 
andern  zu  unterscheiden.  Dafs  es  eine  Netzhaut  und  optische 
Bilder  darauf  gebe,  weifs  ja  der  natürliche  Mensch  gar  nicht 


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245 

Wie  soll  ibn  da  die  Lage  des  optischen  Bildes  auf  der  Netz- 
Laut  irre  machen  können  V'^) 

So  ist  denn  ans  dem  Inhalte  der  Lehren  beider  voUant 
verständlich,  dafs  Helmholtz  in  Schopenhauer  keinen  Vorgänger 
seiner  Gedanken  über  die  Tatsachen  in  der  Wahrnehmung,  es 
sei  denn  in  den  Punkten,  die  er  mit  Kant  gemeinsam  hat, 
sehen  konnte,  und  dafs  er  sachlich  berechtigt  war,  in  einem 
an  seinen  Vater  gerichteten  Briefe  vom  17.  Dezember  1857,  im 
Anschlufs  an  eine  Erwähnung  der  Stellungoahme  Frauenstädts, 
der  ihm  Abhängigkeit  von  den  Gedanken  Schopenhauers 
nachgesagt  hatte,  zu  behaupten:  „Dabei  handelt  es  sich  nur 
um  Sätze,  die  im  Wesentlichen  schon  Kant  hatte  • .  .'^  2) 

Der  Grund  aber,  aus  dem  er  an  einer  Stelle  in  dem  Vor- 
trage: Die  Tatsachen  in  der  Wahrnehmung  Schopenhauer 
abweist,  ist  nicht  ganz  zutreffend;  denn  er  sagt  dort:  „Ich 
habe  später  jenen  Namen  der  unbewufsten  Schlüsse  vermieden, 
um  der  Verwechslung  mit  der,  wie  mir  scheint,  gänzlich  un- 
klaren und  ungerechtfertigten  Vorstellung  zu  entgehen,  die 
Schopenhauer  und  seine  Nachfolger  mit  diesem  Namen  be- 
zeichnen; aber  offenbar  haben  wir  es  hier  mit  einem  elemen- 
taren Prozesse  zu  tun,  der  allem  eigentlich  sogenannten  Denken 
zugrnnde  liegt,  wenn  dabei  auch  noch  die  kritische  Sichtung 
und  Vervollständigung  der  einzelnen  Schritte  fehlt,  wie  sie  in 
der  wissenschaftlichen  Bildung  der  Begriffe  und  Schlüsse  ein- 
tritt^ 3^  Wir  fanden  aber,  dafs  auch  bei  Schopenhauer  der 
KausalschlulB  auf  die  Ursache  der  Empfindung  nur  im  un- 
eigentlichen Sinne  als  Schluls  gilt;  denn  er  ist  fUr  ihn  nicht 
diskursiv,  sondern  intuitiv,  er  bildet  die  spezifische  Erkenntnis- 
weise des  Verstandes.  Schopenhauer  sagt  ähnlich  wie  Helm- 
holtz, dafs  „wir  so  sehr  gewohnt  sind  von  der  Empfindung 
sogleich  zu  ihrer  Ursache  überzugehen,  dafs  diese  sich  uns 
darstellt,  ohne  dafs  wir  die  Empfindung,  welche  hier  gleichsam 
die  Prämissen  zu  jenem  Schlüsse  des  Verstandes  liefert,  an 
und  für  sich  beachten."  *)    Dafs  aber  gerade  in  diesem  Punkte 

^)  Vortrüge  und  Reden  von  Hermann  von  Helmholtz,  I.  Band,  S.  lUf. 
*)  Leo  Koenigsberger,  Hermann  v.  Helmholtz,  1.  Band,  Brannschweig 
1902,  S.  285. 

*)  Vorträge  und  Reden  von  Hermann  von  Helmholtz,  IL  Band,  S.  233. 
*)  UI,  68. 


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246 

Helmholtz  SchopenhaneTS  Lehre  mifsverstanden  hat,  beweist 
anderseits  die  Selbständigkeit  seiner  eigenen  GedankeDf&hniDg.i) 

In  noeh  einem  anderen  Punkte  ist  Helmholtz  ein  bedeut- 
sames Moment  der  Lehre  Schopenhauers  verborgen  geblieben, 
nämlich  in  der  Lehre  von  der  Materie.  Dals  Materie  und 
Substanz  gleichbedeutend  mit  Wirksamkeit  sei,  liegt  Helmholtz 
fem,  anzunehmen.  „Wir  haben  in  unserer  Sprache",  so  heilst 
es  auch  bei  ihm,  „eine  sehr  glückliche  Bezeichnung  fttr  dieses, 
was  hinter  dem  Wechsel  der  Erscheinungen  stehend  auf  uns 
einwirkt,  nämlich:  »Das  Wirkliche".  Hierin  ist  nur  das  Wirken 
ausgesagt;  es  fehlt  die  Nebenbeziehung  auf  das  Bestehen  als 
Substanz,  welche  der  Begriff  des  Reellen,  d.  h.  des  Sachlichen, 
einschliefst."  2)  Fast  möchte  man  im  Hinblick  auf  den  mit 
Schopenhauer')  gemeinsamen  Hinweis  auf  den  zutreffenden 
Sprachgebrauch  des  Wortes  «Wirkliches",  in  diesen  Aus- 
führungen Helmholtzens  eine  versteckte  Polemik  gegen  Schopen- 
hauer vermuten. 

Zusammenfassend  dürfen  wir  also  auch  hier,  ähnlieh  wie 
für  das  Verhältnis  Schopenhauers  zu  Fichte,  anerkennen,  dals 
Kant  die  gemeinsame  Grundlage  bildet,  von  der  ans  beide 
selbständig  ihre  Gedanken  entwickelten. 

Wenn  aufser  Kant  für  Helmholtz  noch  andere  Philosophen 
als  historische  Grundlagen  heranzuziehen  sind,  so  ist  es  nicht 
Schopenhauer,  sondern  sind  es  vor  allem  Mill  und  Fichte,  jener 
in  der  Theorie  der  Induktionsschlüsse,  dieser  in  mehreren 
Punkten,  in  denen  allerdings  kaum  ein  direkter  Einflnfs  Fichtes 
auf  die  Gedankenentwicklung  Helmholtzens  anzunehmen  ist, 
in  denen  vielmehr  Helmholtz  nur  auf  Analogien  in  der  Lehre 
Fichtes  hinweist,  nämlich  hinsichtlich  des  .Qualitätenkreises* 
der  Empfindungen,  hinsichtlich  der  Deutung  der  Empfindungen, 
wenn  nicht  als  „Bilder  des  Widerstandes",  wie  bei  Fichte,  so 
doch  als  Zeichen  ftlr  die  sie  bewirkenden  Ursachen,  und  endlich 
hinsichtlich  der  Art  wie,  bei  Helmholtz  allerdings  nicht  a  priori 


>)  Sieh  Gar]  Stampf,  Hermann  von  Helmholtz  und  die  neuere  Psycho- 
logie. Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.  Neue  Folge.  VUI.  Band, 
1895,  S.  303. 

')  Vorträge  und  Reden  von  Hermann  von  Helmholtz,  II.  Band,  S.  241. 

»)  I,  40. 


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247 

dedaziert,  «ein  Nicht-Ieh  dem  Ich  gegenüber  sich  AnerkennnDg 
erzwingt*  *) 

Dals  aber  Schopenhauer  die  Lehre  Helmholtzens  anbillig 
beurteilte,  hat  wohl  auch  eine  tieferliegende  Ursache.  Sie  liegt 
in  der  Abneigung  Schopenhauers  gegen  die  auf  naturwissen- 
schaftlichem Boden,  also  induktiv  gewonnene  philosophische 
Einsicht  ttberhaupt.  Mit  Fichte  und  Schelling  ist  er  der  Über- 
zeugung, dafs  im  Gegensatz  zur  Naturwissenschaft  die  Philosophie 
imstande  sei,  eine  höhere,  deduktive  Einsicht  in  die  Zusammen- 
hänge der  Natur,  nämlich  vermittelst  der  intellektuellen  An- 
schauung zu  gewinnen.  Deshalb  will  er  die  Scheidung  zwischen 
Philosophie  und  Naturwissenschaft  streng  gewahrt  wissen. 
Daher  auch  stammt  seine  Abneigung  gegen  die  mechanische 
Naturauffassung  und  vielleicht  auch  das  Vorurteil,  daXs  auf 
naturwissenschaftlichem  Wege  eine  Einsicht  in  die  Intellektualität 
der  empirischen  Anschauung  nicht  zu  gewinnen  sei. 


Druckfehler  und  Ergänzungen. 

S.  11  Z.  3  ▼.  n.  lies:  entstehn  statt  enstebn. 
S.  13  Z.  14  y.  o.  lies:  konstrulrt  statt  konstruiert. 
S.  13  Z.  19  V.  0.  lies   konstruiren  statt  konstruieren. 
S.  19  Z.  6  y.  u.  lies:  bedeutungsleerer  statt  bedeutungleerer. 
S.  44  Z.  3  V.  u  lies:  ist  noch  keine  statt  ist  keine. 
S.  47  Z.  12  V.  a.  lies:  zuerkennen  statt  zu  ererkennen. 
S.  76  Z.  16  V.  u.  lies:  Lockes  statt  Lecks. 
S.  109  Z.  25  y.  o.  streiche  das  Anführungszeichen  vor  *). 
S.  133  Z.  9  V.  0.  lies:  erst  als  durch  statt  erst  durch. 
S.  136  Z.  18  y.  0.  lies:  Paralipomena  statt  Paraligomena. 
S.  144  Z.  17  y.  0.  lies:  eigentümliche  Weiterbildung  statt  eigentliche  Fort- 
bildung. 
S.  145  Z.  2  y.  u.  lies:  der  Voraussetzung  statt  den  Voraussetzungen. 
S.  164  Z.  18  v.  n.  lies:  unbewufst  psychische  statt  dies. 
S.  165  Z.  2  y.  o.  lies:  des  Eigentümlichen  statt  der  Eigentümlichkeiten. 
B.  184  Anmerkung  1  lies:  U  statt  I. 
S.  187  Z.  9  y.  0.  lies:  yorstellungsmäfsig  statt  yorstellungsmäsig. 


*)  Vorträge  und  Reden  von  Hermann  y.  Helmholtz,  II.  Band,  S.  227. 

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248 

8. 191  Z.  13  ▼.  0.  ergänze:  Bd.  I.    Abt.  l.    Abschn.  16.    Kap.  7. 

S.  192  Z.  10  y.  0.  lies:  sense  statt  seuse. 

S.  200  Z.  5  y.  o.  lies:  Buch  I.    Kap.  III.    §  84  (Übers,  a.  a.  O.  S.  24)  statt 

§§  133  und  324. 
S.  200  Z.  22 f.  V.  o.  lies:  et  da  moral  de  rhomme  statt  au  mond. 
S.  201  Anmerkung  2  lies:  S.  37  statt  S.  4. 
S.  201  Anmerkung  7  lies:  153  f.  sUtt  151  f. 
S.  206  Z.  23  f.  y.  o.:  „sowie*  bis  „gelangen''  ist  zu  streichen. 
S.  206  Anmerkung  1  lies:  Erasmus  Darwin  Zoonomia  or  the  laws  of  Organie 

lifo.   Bd.l.  Abt.I.   Abschn.  U.   Kap.  II.  §7.   Zoonomie  oderGesetie 

des  organischen  Lebens  yon  Erasmus  Darwin.    Aus  dem  EngUscbea 

übersetzt  und  mit  einigen  Anmerkungen  begleitet  yon  J.  D.  Brandia 

Hannover  1795—99.    1, 1.    S.  14  f.    Ähnlich  so  ebenda  Bd.  I.    AbtL 

Abschn.  V.    Übers,  a.  a.  0.  1, 1.    S.  50  ff. 
S.  206  Anmerkung  2  lies:  Ebenda  Bd.  I.    Abt.  I.    Abschn.  III.    Kap.  IV. 

Einleit.    Übers,  a.  a.  0.  1, 1.    S.  32. 
S.  206  Anmerkung  8  lies:  Ebenda  Bd.  I.    Abt.  I.    Abschn.  III.    Ksp.  I. 

Übers,  a.  a.  0.  1, 1.    S.  20. 
S.  206  Anmerkung  4  lies:  Ebenda  Bd.  I.    Abt  I.    Abschn.  IIL    Kap.  IlL 

Einleit.    Übers,  a.  a.  0.  I,  1.    S.  26. 
S.  206  Anmerkung  5  lies:  Ophthalmologische  Bibliothek,  herausgegeben 

yon  Carl  Himly  und  Adam  Schmidt.  Jena  1804.   Bd.  II.   St  2.  S.15,16. 
S.  207  Anmerkung  2  lies:  Ebenda.    Jena  1807.    Bd.  III.    St  3.    S.  7. 
S.  208  Anmerkung  1  ergSnze:  Vol.  L    S.  156. 
S.  208  Anmerkung  2  lies:  Ebenda  S.  157  und  §  21.    S.  186f. 


Drnok  Ton  Ehrhardt  Kanu  Ot,  m.  b.  H.  In  Hall«  (SmI«), 

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Verlag  von  Max  Nlemeyer  in  Halle  a.  8. 

Bergmann,  Hugo,  Das  Unendliche  und  die  Zahl.  1913.  8.  VII, 
88  S.  Jt  2,50 

Eisenmeier,  Josef,  Die  Psychologie  nnd  ihre  zentrale  Stellung  in  der 
Philosophie.  Eine  Einführung  in  die  wissenschaftliche  Philo- 
sophie.    1914.     8.     VIII,  1118.  .^3,20 

Gallinger,  August,  Zur  Grundlegung  einer  Lehre  von  der  Erinnerung. 
1914.     8.     IV,  149  8.  Jt  4,— 

Goedeckemeyer,  Albert,  Die  Gliederung  der  aristotelischen  Philosophie. 
1912.     8.     VI,  144  8.  Ji  4,— 

Husserl,  Edmund,  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie  und  phänomeno- 
logischen Philosophie.  I.  Buch:  Allgemeine  Einführung  in  die 
reine  Phänomenologie.     1913.    kl.  4.     VIII,  324  S. 

geh.  Jh  10, — ;    gebd.  Jt  11, — 

Leyendecker,  Herbert,  Zur  Phänomenologie  der  Täuschungen.  I.  Teil: 
Wesensanalyse  der  Illusionstäuschungen.    kl.  4.    189  8.    Jt  5, — 

Losskij,  Nikoltj,  Die  Grundlegung  des  Intuitivismus.  Eine  pro- 
pädeutische Erkenntnistheorie.  Uebersetzt  von  Johann  Strauch. 
1908.     8.    IV,  350  8.  Jt  8,- 

Mill,  John  Stuart,  Eine  Prüfung  der  Philosophie  Sir  William  Hamiltons. 
Deutsch  von   Hilmar  Wilmanns.     1908.     gr.  8.     XH,  709  S. 

geh.  Jt  18,—;   gebd.  Jt  20,— 

Pariser,  Ernst,  Einführung  in  die  Religionspsychologie.  Beiträge  zu 
einer  kritischen  Methodenlehre  der  Religionswissenschaft  1914. 
8.     V,  56  8.  geh.  Jt  1,50;    gebd.  Jt  2,20 

Pfänder,  Alexander,  Zur  Psychologie  der  Gesinnungen.  I.  Teil.  1913. 
kl.  4.     IV,  80  S.  Jt  2,50 

Scheler,  Max,  Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wert- 
ethik (mit  besonderer  Berficksichtigung  der  Ethik  Immanuel 
Kants).     I.  Teil.     1913.     kl.  4.     IV,  162  8.  Jt  5,— 

—  Znr  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegeftlhle  und  von 
Liebe  und  Hass.  Mit  einem  Anhang  über  den  Grund  «ur  Annahme 
der  Existenz  des  fremden  Ich.     1913.     8.     VI,  154  S.     Jt  3,60 

V.  Sydow,  E.,  Kritischer  Kant-Kommentar.  Zusammengestellt  aus  den 
Kritiken  Fichtes,  Schell ings,  Hegels  und  mit  einer  Einleitong 
versehen.     1913.     8.     VII,  91  S.  Jt  2,40 


Druck  von  Ehrhardt  Karras  G.  m.  b.  H.  in  Halle  <Saale>. 


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iiJHANDLÜNGEN 

ZUR  PHILOSOPHIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAÜSOEOEBEN  VON  BENNO  EBDMANN 

xLin 


# 


w^ 


DIE  ANGRIFFE  GEGEN 

DESCARTES  UND  MALEBRANCHE 

IM  JOURNAL  DE  TRfiVOÜX 

1701-1715 


VON 


EMUTY  ALLARD 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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1, 


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ABHANDLUNGEN 

ZUR 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

BENNO   ERDMANN 


DREIUNDYIERZIGSTES  HEFT 

EMMY  ALLARD 

DIE   ANGRIFFE   GEGEN   DESGABTES   UND   MALBBBANCHE 
IM  JOURNAL   DE  TEBVOUX    1701—1715 


HALLE  A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

19U 


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DIE  ANGRIFFE  GEGEN 

DESCAKTES  UND  MALEBRANCHE 

IM  JOURNAL  DE  TRfiVOÜX 

1701-1715 


VON 


EMIÜY  ALLABD 


HALLE  A.  a 

VERLAG  VON  MAX  NIEMETER 

1914 


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Inhaltsyerzeichnis. 


8«lto 

Litentarreneichiiis vn 

Einleitang.  Die  Jesuiten  and  der  Gartesianismus.  Die  GrUndang  des 
Jonrnai  de  Trövoux  (1701).  Der  Geist  der  Zeitochrift.  Metho- 
disches   1 

Kapitel  I.  Die  cartesianischen  Beweise  fttr  das  Dasein  Gottes.  Die 
Verteidigung  eines  cartesianischen  Gottesbeweises  von  dem  Bene- 
diktiner P.  Fr.  Lamy.  Eine  Antwort  von  Leibniz.  Der  Beweis 
des  Jesniten  Toomemine.  Die  Ablehnung  dieses  Beweises  im 
Journal  de  Tr^vonz  1742.  Eine  Verteidigung  des  Gottesbeweises 
im  Geiste  der  Malebrancheschen  Philosophie 7 

Kapitel  IL  Das  Journal  de  Tr^vonx  und  PEntretien  d'un  Philosophe 
chr6tlen  et  d'un  Philosophe  chinois  sur  l'ezistence  et  la  nature 
de  Dieu  (1708).  Die  Antwort  des  P.  Malebranche.  Veröffent- 
lichung eines  Auszuges  derselben  im  Journal  de  Trövouz.  Ein- 
gehendere Kritik  seines  Systems.  Die  Kritik  der  Demonstration 
de  Fexistenee  de  Dieu  von  F^nelon.  Das  Vorwort  von  Tonrne- 
mine.    Erklärung  des  Journals 15 

Kapitel  III.  Das  Problem  der  Verbindung  von  Körper  und  Seele.  Die 
Hypothese  des  Jesuiten  Toumemine  und  ihre  Widerlegungen. 
Brief  des  P.  Sarrabat  an  den  Jesuiten  P.  Castel  (1730)     ....    31 

Kapitel  IV.  Die  Frage  nach  der  Realität  der  Aufsenwelt  Zwei  anti- 
cartesianische  Antworten  aus  den  Jahren  1704/05.  Die  Erzählung 
von  einem  angeblichen  Solipsisten  (1713).  Ihre  Verbreitung  und 
Beurteilung 39 

Kapitel  V.  Gartesianismus  und  Theologie.  Die  religiöse  Gefuhr  im 
Gartesianismus.  Die  Ck>nversations  chrötiennes  von  Malebranche. 
Die  Promotion  physique  von  Boursier.  Die  Erwiderung  des 
P.  Malebranche .    48 

Kapitel  VL  (Jartesianiscbe  Physik.  Die  Qualitäten  der  Körper.  Das 
Problem  der  Bewegung.    Allgemeine  Bemerkungen 53 


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Literaturverzeichnis. 


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in^dite.    Paris  1862. 
Boaillier:  Histoire  de  la  Philosophie  Cart^ienne.    2  vol.   Paris  1854. 
Gharma  et  Mancel:  Le  Pore  Andr^,  J^saite,  Docaments  in^dits 

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da  XVnp  sifecle.     2  vol.     Caön  1844/1857. 
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F^nelon:   (Eavres  philosophiqaes  oa  d^monstration  de  l'existence 

de  Dien.    Ed.  nonvelle.    Amsterdam  1721. 
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zur  Erkenntnistheorie  des  Descartes.    Zeitschrift  für  Philosophie 

and  philos.  Kritik.    Neae  Folge.    70.  Bd,  p.  15  ff.    Halle  1877. 
Hatin:  Bibliographie  Historiqae  et  Critiqae  de  la  Presse  Pdriodiqae 

Fran^aise.    Paris  1866. 
Haaräaa:  Histoire  de  la  Philosophie  Scolastiqae.    Paris  1880. 
Haber:    Die    cartesischen    Beweise    vom    Dasein    Gottes.     Aags- 

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VIII 

J.  Janitsch:    Kants   urteile   Aber   Berkeley.     Dissertation   Strafe- 
bnrgr  1879. 

6.  Lyon:  Uld^alisme  en  Angleterre  an  XVIII **  si^cle.    Paris  1888. 
Malebranche:  (Eavres  p.  p.  Jules  Simon  II  vol.     Paris  1846. 
—  (Eavres  complötes  p.  p.  de  Genonde  et  de  Lonrdoneiz. 
M.  Novaro:  Die  Philosophie  des  Nikolaus  Malebranche.   Berlin  1893. 
OU^-Laprune:  La  philosophie  de  Malebranche.    2  7ol.    Paris  1870. 
Pichler:  Die  Theologie  des  Leibniz.     2  Teile.     Mfinchen  1869. 
Saisset:  Präcurseurs  et  disciples  de  Descartes.     Paris  1862. 
Siebeck:  Aristoteles.     Frommanns  Klassiker  der  Philosophie  VIU. 

Stuttgart  1902. 
Sommervogel   (le  P^re  P.  C.  Sommer vogel  de  la  Compagnie  de 

J^sus):    Table   m^thodique    des  Mämoires  de  Tr^voux  (1701 

— 1715)   Premiere   partie.     Paris  1864.     Bibliographie  Tome 

L  IL     1865. 
Vaihinger:   Zu  Kants  Widerlegung   des  Idealismus.     8trafi«bnrger 

Abhandlungen  zur  Philosophie.    Freibnrg  und  Tfibingen  1884. 


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Einleitung. 

Im  Jahre  1745  schrieb  Descartes  an  den  Jesniten  Dinet: 
„M'ötant  m616  d'äcrire  nne  pbilosophie,  je  sais  qne  votre  Com- 
pagnie  pent  plus  qne  tout  le  reste  du  monde  pour  la  faire 
valoir  ou  mäpriser^.i)  Es  ist  bekannt,  daJDs  alle  BemühuDgen 
des  Philosophen  nm  die  Gunst  seiner  alten  Lehrer  erfolglos 
blieben,  und  dafs  die  freundliehe  Haltung  des  Ordens  bei  Leb- 
zeiten seines  ergebenen  Schülers^)  bald  nach  dem  Tode  des- 
selben in  einen  fast  ein  Jahrhundert  hindurch  mit  Gewalt  und 
List  geführten  Kampf  umschlug. 

Im  Jahre  1662  erlangt  der  Jesuitenpater  Fabri,  dafs  die 
Werke  Descartes'  auf  den  Index  gesetzt  werden.  Zu  gleicher 
Zeit  klagt  der  apostolische  Bevollmächtigte  in  Belgien  J6röme 
Vecchio,  aufgereizt  durch  die  Jesuiten,  in  der  Universität  von 
Louvain  den  Cartesianismus  an  „comme  pernicieux  ä  la  jeunesse 
chretienne^.  Damit  gewinnt  er  das  berühmte  Dekret  gegen  die 
neue  Philosophie.*)  Als  1667  den  sterblichen  Überresten  Des- 
cartes' in  der  Kirche  Sainte-Genevi^ve  eine  letzte  Ehrung 
erwiesen  werden  soll,  verbietet  ein  Hof  befehl,  den  der  P.  Annat 
erwirkt  hatte,  die  Lobrede  auf  den  Toten  öffentlich  zu  halten. 
Im  Jahre  1670  hätten  sie  ohne  Boileau  und  Arnauld  beinahe 
das  Parlament  von  Paris  zu  einer  Parteinahme  gegen  Descartes 
verleitet;  als  Ersatz  dafür  erlangen  sie  vom  Könige  wenigstens 
das  Lehrverbot  fllr  die  neue  Philosophie  in  der  Universität  von 
PariSy  in  allen  Universitäten  des  Reiches  und  im  Oratorium. 
1680  klagt  der  Jesuit  P.  Valois  die  cartesianische  Philosophie 
vor  dem  französischen  Klerus  an:  „Messeigneurs,  je  cite  devant 


1)  Descartes,  (Euvres,  ML  Adam  et  Tannery  IV  p.  158. 
>)  Ibid.  XII:  Vie  et  oenvres  de  Descartes.    i^tade   historique  par 
Gh.  Adam. 

*)  Cf.  p.  48  dieser  Arbeit. 

FhUoiophiicbe  Abhandlangtu.    XLUI.  X 


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Yons  Mr.  Descartes  et  ses  plus  fameux  sectateurs,  je  les  aecnse 
d'Stre  d'aceord  avec  Calvin". 

Zu  diesen  berühmten  Sektierern  geborte  als  erster  Male- 
brancbe,  gegen  den  sieh  seit  dem  Erseheinen  der  Reeberefae 
de  la  V6ritä  (1674)  die  Angriffe  der  Societas  Jesu  besonders 
richteten.  Schonten  sie  den  grofsen  Oratorianer  während  seines 
Streites  mit  dem  Jansenisten  Arnanld^)  nnd  verschmähten  sie 
es  sogar  nicht,  ihn  znm  Kampf  anznfenern,  so  setzten  sie  nach 
dem  Tode  ihres  gefttrchtetsten  Feindes  jede  Rttcksiebt  nnd  jedes 
Mafs  beiseite.  Schlimmer  als  je  bebandelten  sie  ihn  in  ihren 
Beden,  ihrem  Unterricht,  in  den  Konferenzen,  die  in  Paris  znr 
Prttfong  seiner  Lehre  gehalten  wurden.  >) 

Im  Innern  des  Ordens  wurde  der  Kampf  mit  unbarmherziger 
Härte  geführt  Die  Korrespondenz  des  F.  Andrä,  der  überzeugter 
Gartesianer  und  Malebranchist  war,  gestattet  uns  einen  tiefen  Ein- 
blick in  diese  Art  jesuitischer  Verfolgung.  Eine  Generalversamm- 
lung des  Ordens  in  Rom  fafste  im  Jahre  1706  den  Beschlufs,  die 
neue  Lehre  in  Frankreich  aufs  Äulserste  zu  verfolgen  und  „aus- 
zurotten^.') „La  compagnie  pretend  non  seulement  qu'on  ne 
l'approuve  point  mais  encore  qu'on  la  combatte,  ainsi  que  Ton 
combattoit  celle  de  Calvin  avant  le  concile  ...  On  est  resolu 
de  ne  point  souffrir  dans  la  compagnie  non  seulement  eenx 
qui  suivent  ces  auteurs,  ou  qui  les  lottent,  mais  eeux  qui  ne 
les  blasment  pas,  et  qui  n'ont  pas  de  zele  contre  leur  doetrine.''^) 

Die  jesuitische  Streitschrift  gegen  den  Cartesianismus  datiert 
vom  Jahre  1712;^)  sie  wurde  Andrä  unterbreitet  als  das  Formular 
eines  mündlichen  und  schriftlichen  Widerrufs  seiner  Lehre.  „Gar 
il  est  k  propoB  que  les  Supärieurs  s(achent  s'il  est  un  väritable 
j6suite.«6) 

Der  Malebranchist  P.  du  Tertre  bricht  unter  der  Verfolgung 
zusammen,  bekehrt  sich  zum  Peripatetismus  des  Ordens  zurück  7) 


^)  Job.  Ed.  Erdmann  II  p.  41. 
>)  Andr6  p.  334 

')  Cf.  Cbarina  et  llancel  p.  105,  115,  218,  228. 
*)  Ibid.  p.  160,  Lettre  du  F.  Gaymond  au  P.  Andr6.   (9.  JaQlet  1707). 
^)  Cf.  Gharma  et  Mancel  p.  291:  Extrait  d'nn  6crit  fait  pour  röpondre 
k  ma  lettre  aa  F.  Fr.  1.  D6cembre  1712. 
>)  Gbarma  et  Mancel  p.  71. 
f)  Ibid.  266,  356. 


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und  sehreibt  gegen  seinen  alten  Meister:  Refutation  d'nn  nonvean 
Systöme  de  Mitaphysiqne,  proposö  par  le  P.  Malebranche.  Es 
erseheint  im  Jahre  1715,  im  Todesjahr  des  grofsen  Oratörianers. 

So  hat  das  nene  Jahrhundert  mit  einer  Periode  leiden- 
schaftlichster Angriffe  gegen  die  nene  Philosophie  im  Bereich 
der  Societas  Jesn  begonnen. 

Sie  fällt  zusammen  mit  einer  ftir  den  Orden  bedeutsamen 
Machterweiterung,  der  Gründung  einer  eigenen  Zeitschrift,  die 
alle  Wissensgebiete  in  den  Bereich  ihres  Interesses  ziehen 
sollte. 

Louis  Auguste  de  Bourbon,  Herzog  von  Maine,  hatte  in 
der  kleinen  Stadt  Trävoux,  wohin  er  als  Souverain  de  Dombes 
sein  Parlament  verlegt  hatte,  (1696)  eine  grofse  Druckerei 
gegründet  Im  Jahre  1701  stellte  er  diese  in  den  Dienst  eines 
literarischen  Journals,  dessen  Vorteile  die  Jesuitenpatres  Michel 
Le  Tellier  und  Philippe  Lallemant  dem  jungen  Fürsten  vor- 
zustellen wnfsten.i)  Die  Initiative  wurde,  wie  es  sich  ziemte, 
dem  Prinzen  zugeschrieben  in  der  Widmung,  welche  der  Drucker 
oder  vielmehr  die  Redakteure  unter  seinem  Namen  an  die 
Spitze  stellten:  .Vons  avez  jugi,  Monseigneur,  qne  Timprimerie 
que  vous  venez  d'itablir  .  .  .  ne  pouvait  d'abord  etre  mieux 
employöe  qvük  donner  au  public  un  ätat  fidöle  de  tout  ce  qui 
paratt  de  curieux  tous  los  jours  dans  le  monde,  en  quelque 
genre  de  science  que  ce  soit.''^)  Danach  hätte  das  Journal 
einen  rein  literarischen  und  wissenschaftlichen  Charakter  tragen 
sollen;  aber  im  Jahre  1712  enthüllen  die  Journalisten  einen 
anderen  Gesichtspunkt:  ,Le  grand  cours  des  journaux  häräti- 
ques  fit  nattre  k  Monseigneur  le  Duc  du  Maine  Tid^e  d'nn 
Journal  oü  Ton  eüt  principalement  en  vne  la  defense  de  la 
religion.*')  Die  Jesuiten  sind  ihrerseits  fest  entschlossen: 
„d'attaquer  sans  mönagements  les  ennemis  döclar^s  de  la  religion 
et  de  dömasquer  ses  ennemis  Caches:  rien  ne  nous  dötournera 
de  notre  dessein.^^) 

>)  Hatin  p.  85. 

*)  Die  Orthographie  des  Journal  de  Tr^TOux  ist  in  dieser  Arbeit 
modernisiert  und  regularbiert  worden  mit  Ausnahme  der  Eigennamen 
nnd  Büchertitel. 

•)  Journal  do  Tr^voux,  f^vrier  1712  p.  222. 

*)  Ibid. 


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4 

Mit  der  Leitung  eines  Jonmals  beauftragt,  gründen  sie  ein 
Redaktionskomitee  in  dem  berühmten  CoUöge  Louis-le- Grand 
mit  seiner  gewaltigen  und  bedeutenden  Bibliothek  und  seinen 
ständigen  Beziehungen  zum  literarischen  und  wissensehafUiehen 
Leben  der  Zeit.  Vier  Jesuiten  werden  offiziell  ernannt  und 
speziell  mit  der  Redaktion  beschäftigt.  Zwei  derselben  waren 
der  P.  Catrou  und  der  bekannte  P.  Toumemine,  welcher  auf 
den  verschiedensten  Gebieten  arbeitete  und  kurze  Zeit  Biblio- 
thekar am  GoUöge  gewesen  war.^)  Er  war  bis  1719  dauernd 
am  Jonmal  tätig.  Männer  wie  Buffier,  Hardonin,  Daniel,  Le 
Tellier,  Marquer,  Bonhours  standen  ihnen  zur  Seite.  Ein 
mächtiger  Orden,  dessen  Beziehungen  in  alle  Länder  reichten, 
konnte  reichliches  Material  bieten;  und  die  Jesuiten  vergafsen 
nicht,  das  zu  betonen. 

Im  Monat  März  1701  gaben  die  neuen  Jonrnalisten  die 
erste  Nummer  heraus.  Sie  war  betitelt:  „Mömoires  pour 
THistoire  des  scienees  et  des  beaux-arts  Recneillis  par  FOrdre 
de  Son  Altesse  S^ränissim^  Monseigneur  Prince  Souyerain  de 
Dombes.^  Sie  sind  in  der  Folgezeit  bekannter  geworden  unter 
dem  Namen  „Joumal  de  Trivoux".*) 

Ein  Vorwort  von  idealster  Auffassung  der  Journalistik 
unterrichtete  den  Leserkreis  über  Plan  und  Absicht  der 
Redakteure.  Die  neuen  Memoiren  wollten  Rezensionen  oder, 
wie  man  damals  sagte,  „Extraits^  ans  allen  wissenschaftlichen 
Büchern  bringen,  die  in  Frankreich  oder  im  Auslande  seit 
Beginn  des  neuen  Jahrhunderts  gedrackt  worden  waren  oder 
weiterhin  gedruckt  werden  würden.  Man  bittet  die  Autoren, 
die  Auszüge  aus  ihren  Büchern  selbst  zu  liefern  und  verspricht, 
dieselben  nach  einem  Vergleich  mit  dem  Werke  selbst  getreu 
zu  veröffentlichen.  Die  Praxis  ändert  diese  Absicht  schnell, 
und  im  Jahre  1712  widerrufen  die  Herausgeber  selbst  ihre 
eigenartige  Mafsnahme:  „Nulle  considöration  ne  nous  fera  ins6rer 
dans  nos  Mämoires  des  extraits  faits  par  l'auteur  m§me:  c'est 
une  fid61it6,  que  nous  devons  au  public,  notre  jnge;  un  rappor- 


1)  Sommervogel,  I:  Essai  historique  sur  les  H^moires  de  Tr^vooz. 
>)  Im  Verlaufe  der  Arbeit  wird  die  Zeitschrift  als  Journal  de  Tr^TOUx 
zitiert. 


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tenr  manqne  k  son  devoir,  qnand  il  se  fie  anx  parties  de  Textrait 
d'ane  cause."  0 

Wiederholt  weisen  die  Journalisten  in  den  ersten  Jahr- 
gängen darauf  hin,  dafs  sie  sich  nicht  verbürgen  fHr  die 
Meinungen  der  besprochenen  Autoren,  und  sie  damit  nicht  zu 
den  ihrigen  machen.^) 

Mit  allen  (belehrten  Europas  wttnscht  man  Beziehungen 
anzuknüpfen  und  bittet  um  Beiträge  in  allen  Sprachen  und  aus 
allen  Wissensgebieten.  „Un  lectenr,  k  quelque  ötude  qu'il 
s'applique,  trouvera  de  quoi  s'occnper  dans  chaque  tome  de 
nos  Mömoires."') 

Die  Journalisten  verpflichten  sich  zu  strikter  Neutralität 
in  den  wissenschaftlichen  und  literarischen  Streitigkeiten,  d.  h. 
in  jeder  Frage  überhaupt  „exceptä  quand  il  s'agira  de  la 
religion,  des  bonnes  moeurs,  de  T^tat,  en  quoi  il  n'est  jamais 
permis  d'Stre  neutre."  Diese  Neutralität  blieb  eine  Utopie. 
Sie  selbst  kündigten  1712  das  Ende  dieses  Verfahrens  an  oder 
suchten  sich  vielmehr  zu  rechtfertigen,  dafs  es  nicht  eingehalten 
worden  war.  ,Nous  ne  pouvons  nous  dispenser  de  m61er  de 
la  critiquedans  nos  extraits:  agir  autrement  ce  serait  manquer 
k  nos  devoirs  les  plus  essentiels;  ce  serait  trahir  les  Lecteurs 
qui  nous  prennent  pour  guides  dans  la  connaissance  des  livres, 
que  de  les  laisser  säduire  par  des  titres  imposants,  que  de  leur 
cacher  les  öcueils  oü  ils  donneront  infailliblement  .  .  .  Nous 
mettons  notre  application  k  temp^rer  une  critique  n6cessaire, 
par  tout  ce  qui  la  peut  rendre  moins  sensible  aux  Auteurs, 
nous  joignons  si  souvent  les  louanges  aux  reproches,  que  nos 
^loges  les  plus  sincöres  en  sont  devenus  suspects.'^) 

Berechtigt  einerseits  die  feindliche  Haltung  des  Jesuiten- 
ordens gegen  den  Cartesianismns  überhaupt  und  gegen  Male- 
branche speziell  zu  der  Erwartung,  dafs  die  Jesuiten  die 
Gründung  einer  eigenen  Zeitschrift  als  eine  vnllkommene 
Gelegenheit  ansehen  werden,  sie  in  den  Dienst  eines  offenen 
Kampfes  gegen  die  neue  Philosophie  zu  stellen,  so  dürfen  wir 


*)  Journal  de  Tr^yonx  1712:  Ayertlssement  p.  5. 

«)  Cf.  u.  a.  1701  janvier  p.  116. 

*)  Journal  de  Tr^voux  1708  janvier:  Avertissement 

*)  Joomal  de  Tr^vonx  1712  janvier:  Ayertissement  p.  3. 


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andererseits  dabei  den  Weg  nieht  nnbertteksiehtigt  lassen,  den 
sie  sieh  als  Journalisten  Torgezeicbnet  hatten.  Er  hat  in  der 
Tat,  selbst  in  einer  Periode  der  erbittertsten  Angriffe  gegen 
die  nene  Philosophie  im  Innern  des  Ordens,  dem  persönlichen 
Hals  naeh  anfsen  hin  die  Richtung  gegeben,  umsonst  suchen 
wir  im  Journal  die  Spuren  eines  grundsätzlichen  und  syste- 
matischen Kampfes.  Nur  einzelne  Fragen  werden  diskutiert, 
oft  wird  die  gegnerische  Ansicht  nur  gelegentlich  anderer 
Erörterungen  nebenbei  abgelehnt,  und  die  einschlägigen  Re- 
zensionen zeigen  wiederholt  auffallende  Objektivität 

Durch  diese  Haltung  der  Jesuiten,  die  als  Journalisten 
aus  taktischen  Gründen  ihre  wahre  Gesinnung  verschleiern,  ist 
die  Methode  der  vorliegenden  Arbeit  bedingt  Es  konnte  sich 
nieht  sowohl  darum  handeln,  eine  zusammenhängende  Reihe 
von  Angriffen  nachzuweisen,  die  sieh  vielleicht  zu  einer  syste- 
matischen Widerlegung  gestaltet  hätten,  als  vielmehr  darum, 
die  Stellungnahme  des  Journals  zu  einzelnen  Problemen  zu 
charakterisieren,  die  durch  den  Cartesianismus  in  die  allgemeine 
philosophische  Diskussion  der  Zeit  getragen  worden  waren. 
Nur  einmal  bietet  das  Journal  eine  eingehendere  Widerlegung 
der  Philosophie  des  P.  Malebranche;  sie  ist  zusammenhängend 
behandelt  worden. 


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Kapitel  L 

Es  gehört  znr  Tradition  der  eartesianisehen  Sehale,  sobald 
die  Untersnehnng  bis  znm  reinen  Denken  gelangt  ist,  zuerst 
den  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aufzunehmen.  Die  Gottes- 
idee tritt  zwischen  dem  Selbstbewofstsein  nnd  der  objektiven 
Welt  yermittelnd  ein:  aber  es  ist  nicht  die  Idee  Gottes  als 
solche  an  and  für  sich,  sondern  die  Idee  Gottes  in  nns,  worauf 
sich  das  ganze  weitere  System  Deseartes'  anfbaat.  «Daraus, 
dafs  ich  existiere  and  dafs  ich  die  Idee  eines  vollkommensten 
Wesens  habe,  folgt  ganz  einlenchtend,  dafs  Gott  existiert' 
Neben  diesem  echt  eartesianisehen  Beweis  der  dritten  Meditation 
steht  dann  in  der  fünften  Meditation  der  altscholastische,  onto- 
logische,  den  Anselm  im  Proslogium  entwickelt  hatte,  nnd 
welchen  Deseartes  nur  in  der  Modifikation  des  heiligen  Thomas 
gekannt  za  haben  scheint.  Dens  est  suam  esse:  ans  dem 
bloJGsen  Begriff  Gottes  wird  seine  Existenz  bewiesen.  ^  Male- 
branche modifiziert  den  Beweis  Deseartes'  aaf  Grandlage  seiner 
Ideentheorie:  Das  unendlich  vollkommene  Wesen  kann  nur  in 
sich  selbst  gesehen  werden  und  nicht  durch  seine  Idee,  denn 
nichts  Endliches  kann  das  Unendliche  repräsentieren.  „Si  donc 
on  y  pense,  il  faut  qu'il  seit"  2) 

Die  Idee  der  Unendlichkeit  und  der  cartesianische  Beweis, 
der  seine  Kraft  aus  dieser  einzigen  Idee  der  Unendlichkeit 
herleitet,  sind  der  grofse  Zielpunkt  aller  Gegner  der  earte- 
sianisehen Philosophie  gewesen.  3)    ,0n  se  fait  une  märite  dans 


0  Gf.  Haber,  Die  cartesiBchen  Beweise  vom  Dasein  Gottes. 
*)  Malebimche,  Recherche  IV  eh.  2,  eh.  11;  VI  part.  II  eh.  6;  En- 
tretien  mötaph.  2.    Entretien  mötaph.  8. 

')  BouiUier,  Bist,  de  la  PhU.  Cart^s.  I  p.  78. 


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8 

leg  ^coles,  d'attaqner  les  dömonstrations  de  Descartes*,    be- 
richtet Bayle.O 

Die  hervorragendste  katholisch-theologisohe  Zeitschrift,  das 
Jonrnal  de  Trävoüx,  scheint  a  priori  die  geeignetste  Stelle  za 
sein  für  eine  derartige  Polemik,  nnd  zwar  nmsomehr  als  es 
das  Organ  des  Jesuitenordens  ist,  dessen  Vemonfttheologie 
stark  empiristischen  Charakter  trägt,  deren  Mitglieder  alles, 
was  Gassendi  gegen  die  Idee  des  Unendlichen  ausgedacht 
hatte,  wiederholten.2)  Im  ersten  Heft  des  ersten  Jahrgangs 
finden  wir  die  «Verteidigung  eines  cartesianischen  Gottes- 
beweises* von  dem  Benediktiner  FranQois  Lamy,')  Schiller  des 
P.  Malebranche  und  ein  Freund  von  Kontroversen  nnd  philo- 
sophischen Debatten/)  Dieselbe  war  gegen  einen  Doktor  der 
Sorbonne  namens  Brillon  gerichtet,  dessen  Angriffe  das  Journal 
des  Savants  im  Januar  1701  veröffentlicht  hatte.^)  £s  handelte 
sich  um  den  alten  ontologischen  Gottesbeweis,  der  im  all- 
gemeinen am  wenigsten  angegriffen  zu  werden  pflegte,*)  der 
aber  von  Brillon  in  der  Art,  .wie  die  Schule  ihn  gebe'',  ftlr 
einen  Paralogismns  und  Sophismus  erklärt  worden  war. 

Brillon  stellt  folgende  hypothetische  und  absolute  Be- 
hauptung des  Beweises  einander  gegenüber,  um  ihren  Wert  zu 
beleuchten:  1.  Ein  Wesen,  das  alle  erdenklichen  Vollkommen- 
heiten hat,  hat  Existenz.  —  2.  Es  existiert  tatsächlich  ein 
Wesen,  welches  alle  erdenklichen  Vollkommenheiten  hat  — 
Es  folge  augenscheinlich  aus  der  Voraussetzung  eines  voll- 
kommensten Wesens,  dafs  es  auch  Existenz  haben  mttsse,  da 
dieselbe  die  erste  aller  Vollkommenheiten  sei;  es  folge  aber 
keineswegs  aus  dieser  letzten  Tatsache,  dafs  nun  in  der  Natur 
wirklich  ein  vollkommenstes  Wesen  existiere.  Der  Beweis  vom 
Dasein  Gottes  klammere  sich  an  die  niemals  und  von  niemandem 


0  Journal  de  Tr6voux  1705  jutn  p.  921. 

«)  Boaillier  I  p.  565,  558. 

")  Journal  de  TrSvoux  1701,  janv.  f^vr.  Lettre  du  Pore  Lamy  B6n6- 
dictin  de  la  Congr^tion  de  Saint  Maur  k  Mr.  Tabb^  Brillon  pour  la  defense 
d'une  d^monstration  cart^sienne  de  l'existence  de  Dieu. 

*)  Oil6-Laprane  II  p.  179.    Damiron  II  p.  597. 

>)  Journal  des  Savants  1701  janv.  p.  18. 

•)  Damfron  I  p.  245. 


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9 

bezweifelte  erste  Behauptung  und  habe  nichts  mit  der  von  allen 
Atheisten  bestrittenen  absolnten  zn  tun. 

Demgegenüber  bemüht  sich  Lamy  nnn  klarzulegen,  dafs 
Brillon  von  einer  falschen  Annahme  ausgehe,  weil  Descartes 
die  Existenz  aus  der  Notwendigkeit,  der  Unveränderlichkeit, 
der  Allgemeinheit  und  Unendlichkeit  der  Gottesidee  erschlossen 
habe  und  sie  nicht  als  die  Basis  aller  Vollkommenheiten  zu 
Gott  hinzufingiere.  Seine  eingehende  Widerlegung  gibt  er  im 
engen  Anschlufs  an  die  fünfte  Meditation  und  die  Einwendungen 
der  Gegner  und  Antworten  Descartes'.^)  Folgende  Wiedergabe 
des  cartesianischen  Beweises  schickt  er  voran:  „Ce  que  Ton 
conQoit  clairement  Stre  enfermö  dans  Tidäe  claire,  distincte, 
simple,  naturelle,  nöcessaire  et  immuable  de  quelque  chose 
peut  gtre  avec  v6rit6  et  süret6  attribu6  k  cette  chose.  Or  on 
eon^oit  clairement  que  Texistence  n^cessaire  et  äternelle  est 
renfermäe  dans  Fidöe  de  Dieu  et  cette  id6e  est  claire,  distincte, 
simple,  naturelle,  näcessaire  et  immuable.  On  peut  donc  avec 
sftretS  et  veritö  attribuer  k  Dieu  Texistence  nöcessaire  et  6ter- 
nelle,  on  peut  sans  crainte  de  se  tromper  assurer  quHl  existe 
de  toute  6ternit6.  —  Was  die  Einwendungen  Brillons  im 
einzelnen  angehe,  so  sei  der  hypothetische  Satz  in  diesem 
Beweis  überhaupt  nicht  enthalten.  Um  die  absolute  Be- 
hauptung zu  beweisen  (nämlich,  dafs  die  Existenz  in  der  Idee 
eingeschlossen  liegt),  habe  er  sich  der  Idee  des  unendlich  voll- 
kommenen Wesens  bedient,  welche  die  ganze  Welt  mit  dem 
Wort  «Gott*  verbinde,  und  in  welcher  die  Existenz  ein- 
geschlossen liege.  „Elle  marque  ce  que  renferme  sa  nature 
sons  cette  pr6cision  et  en  taut  seulement  que  con^ue  par  Fesprit.'' 
Eäne  petitio  principii  sei  damit  ausgeschlossen.  Auch  könne 
man  alle  erdenklichen  Vollkommenheiten  in  der  Idee  Gottes 
nicht  mehr  für  eine  yrillkttrliche  Annahme  halten,  sobald  er- 
wiesen sei,  dafs  wir  keine  andere  Gottesidee  haben  als  die 
eines  unendlich  vollkommenen  Wesens. 

Lamy  beruft  sich  dabei  auf  Descartes,  der  diese  sich  selbst 


1)  Cf.  M6dtt.  V;  Raisons  qui  proavent  rexistence  de  Dien  dispoBÖes 
d'une  fa^on  g^om^trique.  Ed.  Cousin  I  p.  309,  460.  Objection  XIV  sur 
la  V«  M6dit.  p.  498  u.  a. 


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10 

gemachte  Einwendung  ebenso  abgelehnt  habe,^)  nnd  venreist 
naehdrttcklieh  auf  die  Lehre  von  den  eingeborenen  Ideen, 
deren  erste  nnd  hauptsächlichste  die  Idee  von  Gott  sei,  in 
welcher  man  nicht  den  geringsten  Zug  einer  willkttrliehen 
Vermutung  aufweiBcn  könne:  „Simple,  indivisible,  pleine  et 
parfaite  eile  se  präsente  d'elle-m6me  toute  formöe  k  Tesprit 
Durch  eine  eingehende  Parallele  zwischen  der  Idee  eines  voll- 
kommensten Körpers  2)  (id6e  forg6e  k  plaisir)  und  der  Idee 
eines  unendlich  vollkommenen  Wesens  (Image  d'une  vraie  et 
immuable  nature)  wird  die  Kluft  zwischen  solchen  Fiktionen 
des  Geistes  und  einer  eingeborenen  Idee  scharf  beleuchtet  nnd 
klargelegt.  Mein  Denken  legt  den  Dingen  keine  Notwendigkeit 
auf.  Ich  kann  mir  ein  Flülgelpferd  denken,  obwohl  kern  Pferd 
Flttgel  hat  Aber  die  Notwendigkeit  liegt  hier  in  der  Sache 
selbst:  Es  ist  die  Notwendigkeit  in  der  Existenz  Gottes,  welche 
uns  zwingt,  diesen  Gedanken  zu  haben.  Denn  keineswegs 
steht  es  mir  frei,  Gott  ohne  Existenz,  d.  h.  das  höchst  voll- 
kommene Wesen  ohne  die  höchste  Vollkommenheit  zu  denken, 
wie  ich  z.  B.  ein  Pferd  mit  oder  ohne  Flttgel  fingieren  kann. 
Im  Begriff  des  beschränkten  Seins  liegt  nur  die  mögliche  oder 
zufällige  Existenz,  die  notwendige  und  vollkommene  aber  im 
Begriff  des  höchsten  Wesens.  „Die  Kraft  dieses  Argumentes 
beruht  demnach  nicht  auf  dem  allgemeinen  Wesen  der  Idee, 
sondern  auf  der  besonderen  Eigenschaft  der  Gottesidee,  in  der 
die  Notwendigkeit  der  Existenz  liegL^ 

Rtthmend  hebt  das  Journal  bei  der  Rezension  der  .Premiers 
öläments  des  sciences'"  von  Lamy  hervor,  dafs  er  in  dem  4.  Ein- 
tretien  den  ersten  Beweis  vom  Dasein  Gottes  auf  die  Existenz 
der  Seele  und  die  der  anderen  endlichen,  nicht  aus  sich 
selbst  existierenden  Wesen  gegründet  habe,  um  dann  erst  zum 
cartesianischen  zu  greifen:  „Ceux  qui  n'ont  pas  encore  rcfu  tous 
les  principes  de  la  philosophie  de  Mr.  Descartes  sauront  hon 
grö  au  P.  Lamy  de  ne  s'6tre  point  bom6  k  cette  seconde  dömon- 
stration,  comme  fönt  maintenant  plusieurs  Cartösiens,  mais  de 
s'etre  encore  appliqu6  k  d^velopper  la  premiöre  qui  parait  k  bien 
des  gens  incomparablement  plus  solide  que  Tautre.''') 

0  Cf.  M6dit  V. 

*)  Cf.  Descartes,  R6p.  aux  premieres  objectioDS. 

")  Journal  de  Tr^voux  1707  janv.  p.  43. 


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n 

Eine  bedeutendere  Persönlichkeit  als  der  widerlegte  Doktor 
der  Sorbonne  antwortet  im  Journal  anf  die  Darlegungen  Lamys. 
Die  Journalisten  hatten  ihre  besonderen  Absichten  mit  Leibniz 
und  Übersandten  ihm  gleich  die  ersten  Nummern  ihrer  Zeit- 
schrift, i)  Mit  seinem  Dank  schickte  Leibniz  einige  Reflexionen 
über  zwei  ihrer  Artikel,  in  welchen  er  vor  allem  Bezug  nahm 
auf  den  cartesianischen  Gottesbeweis.  «Pour  faire  plaisir  aux 
sayants"  und  weil  ,,tout  ce  qui  sort  de  sa  plume  est  si  digne 
de  paraitre'^  wurden  dieselben  im  Oktoberheft  gedruckt 2) 
Leibniz,  der  darauf  hinweist,  dals  er  bereits  an  anderen  Stellen 
darüber  gesprochen,')  nimmt  eine  mittlere  Stellung  ein,  indem 
er  den  Beweis  zwar  nicht  für  einen  Paralogismus,  aber  für 
unvollkommen  erklärt.  Aus  der  cartesianischen  Deduktion  gehe 
nur  soviel  hervor,  dals  Gott  notwendig  existiert,  wenn  man  an- 
nimmt, dafs  er  möglich  ist.  Diese  Möglichkeit  sei  aber  bei 
Descartes  eine  stillschweigende  Voraussetzung  und  der  Beweis 
enthalte  nur  insofern  eine  Wahrscheinlichkeit,  als  jedes  Wesen 
für  möglich  gehalten  werden  müsse,  bis  seine  Unmöglichkeit 
bewiesen  sei.  Eine  einfachere  Form  des  Arguments  glaubt 
Leibniz  zu  gewinnen,  wenn  er  statt  vom  ens  perfectissimum 
einfach  vom  ens  a  se  aus  schliefse.  „II  est  ais6''  sagt  er,  „de 
condure  de  cette  döfinition,  qu'un  tel  £tre,  s'il  est  possible,  existe.^ 
Nun  fallen  Wesenheit  und  Möglichkeit  einer  Sache  zusammen, 
so  dafs  durch  seine  Wesenheit  existieren  durch  seine  Möglich* 
keit  existieren  heifsi  Und  wenn  das  ens  a  se  noch  näher 
bestimmt  würde  als  das  Wesen,  das  existieren  mufs,  weil  es 
möglich  ist,  so  würde  sich  offenbar  alles,  was  man  gegen  die 
Existenz  eines  solchen  Wesens  vorbringen  könnte,  auf  die  Ver- 
neinung seiner  Möglichkeit  beschränken.  Das  ens  a  se  und  das 
notwendige  Wesen  sind  aber  nur  ein  und  dasselbe.  Wenn  also 
das  ens  a  se  unmöglich  ist,  so  sind  es  die  £tres  par  autrui 
ebenfalls,  da  sie  nur  durch  das  ens  a  se  sind.  Es  könnte  also 
überhaupt  nichts  existieren. 

Hatte  sich  Lamy  darauf  berufen,  dafs  sich  selbst  die  Schul- 
philosophie trotz  ihrer  Vorurteile  gegen  alles,  was  von  Descartes 


0  Pichler  I  p.  488 ff.;  Leibnizens  Benrteilung  der  Jesuiten. 
«)  Journal  de  Tr^voux  1701  oct.  p.  200. 
•)  Cf.  ed.  Erdm&nn,  Leipzig  1840  p.  177. 


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herrühre,  von  dieser  DemooBtration  habe  einnehmen  lassen,  so 
verweist  Leibniz  nachdrtteklieh  und  zustimmend  auf  die  Fofs- 
note,  dnreh  welche  die  Redaktion  die  obige  Stelle  ergänzt  hatte: 
„On  ne  convient  pas  qae  tonte  ll^eole  alt  adoptö  cette  dämon- 
stration  qm  a  6t€  rejet6  par  Saint  Thomas.  0 

Das  Leibnizsehe  Argument  yeranlafst  im  Juni  1702  einen 
ungenannten  Verfasser  —  es  ist  der  Jesuit  und  Redakteur 
Toumemine*)  —  seinen  „nur  methodisch"  von  dem  des 
«grofsen  Mannes"  abweichenden  Beweis  zu  entwickeln.  Er 
will  ihn  bereits  vor  neun  Jahren  in  der  Philosophie  gelehrt 
haben.  3)  „Je  suis  heureux  de  m'gtre  renconträ  avec  lui,  et  je 
regarde  conime  une  marque  certaine  de  la  justesse  de  mes 
pensöes  le  rapport  qu'elles  ont  avec  les  pensöes  de  ce  grand 
homme."  Wie  Leibniz  will  auch  Tournemine  nicht  eher  aus 
der  Gottesidee  einen  Schlufs  ziehen,  bevor  er  nicht  ihrer 
Realität  sicher  ist,  das  heifst,  nachgewiesen  hat,  dafs  sie 
keinen  Widerspruch  enthält.  Denn  alles,  was  keinen  Wider- 
spruch enthält,  ist  möglich,  das  heifst:  denkbar  nach  der  nega- 
tiven Form  des  ersten  Denkgesetzes,  dem  principium  contra- 
dictionis.  Von  diesem  Prinzip  der  Möglichkeit  aus  wird^  nun 
die  Bezeichnung  «etre  entiörement  parfait*'  geprüft  und  Über- 
einstimmung und  Beziehung  nachgewiesen  1.  zwischen  der 
Vollkommenheit  und  dem  Sein,  2.  zwischen  der  Vollkommenheit 
und  ihrer  Unbegrenztheit  1.  Die  Vollkommenheit  setzt  das 
Sein  voraus  und  kann  nicht  ohne  dasselbe  bestehen.  Das  Sein 
schliefst  notwendige  einige  Grade  von  Vollkommenheit  ein. 
Die  Vollkommenheit  ist  nichts  als  der  Ausschlufs  des  Nicht- 
seins und  die  unendliche  Vollkommenheit  die  Erfüllung,  sozu- 
sagen die  letzte  Ausdehnung  des  Seins.  2.  Die  Vollkommenheit 
schliefst  die  Einschränkung  aus,  denn  Einschränkung  ist  Un- 
voUkommenheit.  Damit  ist  die  Evidenz  der  Möglichkeit  des  £tre 
entiärement  parfait  gewonnen,  und  Tournemine  schliefst  aus 
der  Möglichkeit  unmittelbar  auf  die  Wirklichkeit:  „II  est  ävident 
que  r£tre  entiörement  parfait  est  possible:  il  serait  impossible,  sll 
n'existait  pas  actuellement:  donc  il  existe  actuellement"    Sollte 


1)  Jounial  de  Tr6voux  1701  janv.  i^vt.  p.  188. 

>)  Gf  Sommervogel  Table  I  p.  25. 

>)  Journal  de  Tr6youx  1702,  juillet  p.  108. 


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13 

ein  Atheist  bezüglich  der  zweiten  Behauptung  noch  Schwierig- 
keiten machen,  so  würde  er  durch  ein  Zurückgreifen  auf  die 
vorher  gewonnene  Bedentang  des  «entiörement  parfait*  leicht 
ad  absurdum  geführt. 

Diese  Modifikation  des  ontologischen  Argumentes  findet  noch 
im  Jahre  1742  an  gleicher  Stelle  eine  verspätete  Ablehnung,  i) 
Wenn  es  sieh  um  ein  Wesen  handle,  das  von  keinem  anderen 
seine  Existenz  empfangen  könne,  also  um  das  unendlich  voll- 
kommene Wesen,  so  gelinge  es  nicht,  seine  Möglichkeit  einfach 
aus  dem  Satz  des  Widerspruchs  zu  beweisen,  man  müsse  viel- 
mehr noch  einen  Beweis  seiner  tatsächlichen  und  ewigen  Existenz 
geben.  „L'fitre  infiniment  parfait  n'est  plus  possible,  nonobstant 
la  eonvenance  des  termes,  s'il  n^existe  actuellement,  et  s'il  n'a 
toujours  existä.^  Die  Möglichkeit  sei,  wenn  es  sich  um  das 
unendlich  vollkommene  Wesen  handle,  von  der  ewigen  Existenz 
selbst  untrennbar  und  könne  nur  in  engster  Verbindung  mit 
ihr  bewiesen  werden.  Da  nun  in  dem  Beweis  Toumemines 
die  Möglichkeit  Gottes  von  seiner  Existenz  abhinge  und  doch 
getrennt  von  der  Existenz  betrachtet  worden  sei,  so  wäre  sie 
nicht  gründlich  bewiesen  worden. 

Von  weit  gröfserem  Interesse  ist  es,  dafs  derselbe  Verfasser 
in  einem  vorangehenden  Artikel  den  Beweis  nach  ausführlicher 
Widerlegung  auf  dem  Boden  der  Malebrancheschen  Philosophie 
neu  begründet  und  ihn  wie  sein  grofser  Meister  ,den  einfachsten, 
klarsten  und  gründlichsten  aller  metaphysischen  Begriffe"  nennt: 
Der  Beweis  der  Existenz  aus  der  Idee  Gottes  ist  nur  begründet, 
wenn  man  mit  dem  Philosophen  der  Ideentheorie  anerkennt, 
dafs  wir  das  Unendliche  nur  in  dem  Unendlichen  selbst  wahr- 
nehmen, da  nichts  Endliches  das  Unendliche  repräsentieren 
kann.  Nach  diesem  Prinzip  heilst  die  Idee  von  Gott  oder  dem 
Unendlichen  haben),  Gott  selbst,  das  Unendliche  selbst  erkennen. 
„Donc  si  Ton  pense  ä  Dien,  il  faut  qu'il  soit''^)  einerseits  kann 
das  Nichts  nicht  wahrgenommen,  andrerseits  nichts  Endliches  das 
Unendliche  repräsentieren.  „Si  j'aper^ois  Dieu,  Dieu  existe."^) 
Der  ungenannte  Malebranchist  sieht  keine  andere  Rettung  für 


1)  Journal  de  Trövouz  oct.  1742  p.  1745. 

«)  Rech.  V  p.IV  eh.  11  u.a. 

')  Cf.  Entret  m^Uph.  II,  2, 3,  4, 5.   Rech.  III  pari.  II  eh.  7;  IV  eh.  11. 


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den  cartesianischen  Beweis:  „Poar  d^fendre  la  dömonstration 
prise  de  Tidöe  et  rösoadre  robjection,  e'est  done  ane  Döcessitä 
de  sontenir  avec  le  P.  Malebranehe,  ee  qae  je  erois  ineontestable- 
ment  vrai  et  qni  paraitra  tel  k  tont  esprit  non  pr^yena  qne  doob 
ne  poQYOos  apereevoir  Tlnfini  qne  dans  rinfini  mgme."  Die 
Redaktion  schlierst  diese  AnsfUhrnngen,  die  man  an  solcher 
Stelle  nicht  ohne  Verwnndem  liest,  mit  einer  yorsichtigen  Be- 
merkung: „Cet  äelaircissement  qni  poi-te  snr  nn  principe  jnste- 
ment  contestö  ne  conyaincra  sürement  pas  tons  les  Philosophes.^ 

Vergeblich  snchen  wir  in  diesen  Yeröffentlichnngen  der 
Memoiren  eine  stärkere  persönliche  Note,  die  uns  den  wahren 
Geist  der  jesaitischen  Philosophie  yerraten  könnte,  welche 
die  cartesianischen  Gottesbeweise  fttr  „Paralogismen*"  nnd 
„Chimären*  hielt  nnd  sich  nnr  durch  die  natürlichen  Beweise 
Yon  der  Existenz  Gottes  befriedigt  fühlte,  i)  Der  Jesuit  Toume- 
mine  yerteidigt  den  ontologischen  Beweis  und  bekennt  sich 
(1703)  zu  den  eingeborenen  Ideen  des  Selbstbewnfstseins,  der 
Vollkommenheit  und  der  Idee  von  Gott,  wobei  er  sich  natürlich 
auf  die  Kirchenväter  beruft  und  gegen  die  Cartesianer  erklärt, 
dafs  sie  dieselben  schlecht  bewiesen  hätten.  3)  An  weniger  auf- 
fallender Stelle  als  in  einem  einschlägigen  Separatartikel  wird 
gelegentlich  auch  in  dieser  Frage  die  tatsächliche  Lehre  der 
Jesuiten  greifbar.  In  der  Besprechung  eines  cartesianisch 
inspirierten  Buches^)  erklärt  der  Referent:  „Pour  la  dämon- 
stration  qne  TAuteur  6tablit  snr  ses  pr6tendues  idäes  innres, 
de  fort  bons  Philosophes  ont  jugä  que  plus  on  se  consulte  soi- 
mgme  et  moins  on  la  trouve  solide.^  Aus  der  Natur  gewinne 
man  allein  ,un  detail  qui  contente  et  qui  persuade.' 

Das  wird  yon  dem  Jesuiten  rein  nach  Gassendi  mit  der 
sukzessiyen  Bildung  dieser  Ideen  bewiesen.^)  Da  unser  Geist 
das  Vermögen  hat  zu  erkennen  und  über  seine  Gedanken  za 
reflektieren,  yon  wo  dieselben  auch  immer  kommen  mögen  und 


0  Cf.  Joamal  de  Tr^youx  1705  II  p.  919,  1706  U  p.  776  folgende 
Vertetdignng  gegen  Bayle:  le  consentement  des  peuples  k  reconnaitre  un 
Dieu  est  une  preuve  certaine  qu'il  y  a  un  Dieu.  —  Cf.  J.  d.  Tr.  1714  11 
p.  244;  1712  f^vr.  p.  238. 

»)  Ibid.  1708  m  p.  1074. 

•)  Ibid.  1702  IV  p.  3. 

4)  Of.  Descartes  ed.  Cousin  p.  400  Secondes  ofajections. 


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sei  es  ans  den  nnyoUkommensten  Dingen,  so  ist  es  evident, 
dafs  er  sieh  dnrch  Abstraktion  reine  Ideen  von  Vollkommenheit 
bilden  nnd  bis  znm  Unendlichen  vermehren  kann,  indem  er  die 
Grade  multipliziert  nnd  summiert  Anf  diese  Weise  könne  er 
sich  wenigstens  eine  dunkle  Idee  des  unendlich  vollkommenen 
Wesens  selbst  machen.  Man  könne  sich  genau  so  die  Idee 
eines  vollkommenen  Körpers  bilden,  ohne  dals  derselbe  wirk- 
lich existiere.    Nicht  anders  sei  es  mit  der  Ewigkeit 


Kapitel  IL 


Im  Jahre  1708  verlieren  die  Jesuiten  im  Eifer  fllr  die 
Nationalreligion  Chinas,  die  sie  vom  Verdacht  des  Atheismus 
reinigen  zu  müssen  glauben,  und  weil  sie  seit  dem  noch  un- 
vergessenen und  weltbertthmten  Streit  über  ihre  Missionstätigkeit 
in  China  1)  in  jeder  einschlägigen  Frage  eine  tendenziöse  Ab- 
sicht vermuteten  auch  als  Joumalisten  ihre  scheinbare  Objek- 
tivität und  die  auffallende  Zurückhaltung,  welche  sie  sich  in 
ihrer  Zeitschrift  gegen  die  cartesianische  Philosophie  im  all- 
gemeinen und  gegen  Malebranche  im  besonderen  bis  jetzt 
auferlegt  hatten.  Zugleich  verwickeln  sie  sich  dabei  in  eine 
eingehendere  Kritik  gewisser  Lehren  des  neuen  Philosophen, 
welchen  sie  im  Innern  ihres  Ordens  mit  fanatischem  Hafs 
bekämpften.  Das  Juliheft  des  genannten  Jahres^)  brachte 
einen  Auszug  aus  der  soeben  erschienenen  Schrift  von  Male 
branche:  Entretien  d'un  Philosophe  Chrätien  et  d'un  Philosophe 
Chinois  sur  Fexistence  et  la  nature  de  Dieu.  Im  Anschlnfs 
daran  wurden  der  Gottesbeweis,  die  Definitionen  Gottes,  die 
Vision  en  Dieu  und  die  Lehre  von  der  Vorsehung  mit  mehr 
Heftigkeit  als  vnssenschaftlichem  Ernst  und  Verständnis  ober- 
flächlich besprochen  und  abgelehnt 

Mit  Nachdruck  wird  Gott  als  determiniertes  Wesen,  un  tel 
£tre,  un  £tre  particulier,  dem  £tre  universel,  dem  £tre  der 


>)  Cf.  Andr^  p.  319;  Charma  et  Mancel  p.  60  Anm.  3. 
')  Journal  de  Tr^yonx  1708  III  p.  1134ff. 


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16 

Malebranchesehen  Gk>tteBlehre  schlechthin  entgegengestellt  Der 
Rezensent  zitiert  bewnist  nngenan.  In  folgender  Bestiminnng 
des  unendlichen  Wesens:  II  renferme  en  lm-m6nie  d'une  mani^re 
incompröhensibie  k  tont  esprit  fini  {toutes  les  perfedians)^  tont 
ee  qn'il  y  a  de  räalitä  vöritable  dans  tons  les  Stres  et  cr^ös  et 
possibles,  läfst  er  (toutes  les  perfectians)  fort,  nm  über  das 
Wort  Realität  streiten  nnd  einen  leichten  Verdacht  von  Spino- 
zismns  anfwerfen  zn  können.  Das  ist  nmso  anffäUigerf  als 
dann  mit  dem  Anschein  von  Objektivität  nnd  Gerechtigkeit 
die  vergessenen  Worte  als  eine  Folgerung  des  Kritikers 
gegeben  werden,  was  den  Charakter  ihrer  unbedingten  Not- 
wendigkeit untergräbt  :i)  ,,Mai8  il  faut  croire  que  le  mot  de 
r6alit6  est  ici  mis  ponr  celui  de  perfection;  eomme  il  7  a  liea 
de  rinf6rer  de  ce  que  dit  Tauteur,  que  les  6tres  cr66s  ne  sont 
pas  des  parties  de  Dien,  mais  des  imitations  de  son  essence 
seulement''  Die  Gefährlichkeit  dieser  Gottesbezeiehnungen  wird 
stark  betont;  sie  seien  doppelt  zu  vermeiden  in  einer  Zeit,  „oü 
Timpie  systöme  de  Spinoza  fait  de  secrets  ravages."^) 

Die  Solidität  des  Beweises:  Je  pense  k  Tlnfini,  donc  il  est, 
wird  in  Frage  gestellt  Wenn  es  nur  ein  Unendliches  sei,  das 
in  sich  die  Realität  einer  Unendlichkeit  von  Dingen  nmfasse, 
welche  unser  Geist  erkennt,  so  wäre  fttr  die  Existenz  Gottes 
nicht  viel  gewonnen;  man  mttsse  also  sagen,  dals  wir  das 
Unendliche  in  allen  Vollkommenheiten  erkennen  und  infolge- 
dessen «unendlich  in  der  Existenz'  und  durch  eben  diese 
Unendlichkeit  unterschieden  von  allem  Übrigen.  Er  wird  mit 
dem  Hinweis  auf  die  Behauptung  des  P.  Malebranche  bekämpft, 
die  Perzeption  des  Unendlichen  sei  die  schwächste  aller  Wahr- 
nehmungen, „infiniment  lagere,  parce  qu'elle  est  infinie." ')  Der 
Zusatz,  dafs  wir  über  die  Existenz  oder  den  Grad  von  Realität 
der  Dinge  nicht  urteilen  dürfen  nach  dem  gröfseren  oder 
kleineren  Eindruck  derselben  auf  un?,^)  wird  vergessen. 

Für  die  Ideentheorie  ^)  hat  der  Referent  neben  ober- 
flächlichen und  ungenügend  ausführlichen  Bemerkungen    den 


^)  Die  angefochtenen  Stellen  der  jesuitischen  Kritik  beruhen  auf 
Malebranches  Erwiderung:  Avis  touchant  TEntretien.  Cf.  p.  18,  19  dieser 
Arbeit. 

«)  Cf.  p.  19  f.  dieser  Arbeit  «)  Cf.  ibid. 

*)  Rech.  lY  eh.  11.  *)  Cf.  p.  20  dieser  Arbeit 


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leichten  und  wegwerfenden  Spott,  dem  man  in  der  Kritik  der 
Jesuiten  wiederholt  begegnet:  ,,Un  sage  lectenr  qai  ne  tronve 
point  en  lai  de  telles  Inmiöres  plas  ötendaes  qae  eelles  de  la 
b^atitude,  se  r^dnira  k  se  dire  k  lui-m6me,  qa'il  n'est  pas 
toujonrs  d'an  bon  esprit  de  comprendre  tout  antenr.^  Und  so 
wird  er  getrost  gestehen,  nicht  in  solche  M^^sterien  eingeweiht 
zn  sein,  wie  etwa  die  Trennung  von  Idee  und  Vorstellung,  von 
der  Idee  als  Substanz  Gottes,  der  Realität  der  Dinge  in  Gott, 
der  Substanz  Gottes,  welche  den  Geist  des  Menschen  af&ziere. 

Das  «Schauen  in  Gott*,  die  Vision  en  Dieu,^)  wird  so 
dargestellt,  als  hätte  Malebranche  behauptet,  dafs  wir  die 
Substanz  Gottes  absolut  und  nicht  nur  relativ  d.  h.  in  ihrer 
Beziehung  zu  den  geschaffenen  und  möglichen  Wesen  sehen. ^) 

Es  wird  femer  ein  leiser  Zweifel  aufgeworfen,  ob  in  der 
Meinung  des  P.  Malebranche  die  göttliche  Substanz  ihre  eigene 
Realität  habe  und  somit  ynrklich  von  der  «Vereinigung  aller 
Wesen'  verschieden  sei. 

Die  Auffassung  von  der  göttlichen  Vorsehung')  stehe  im 
Gegensatz  zu  dem  «bon  sens*  und  der  Religion,  die  ihren 
Ausdruck  in  der  Lehre  der  Kirchenväter  gefunden  hätten:  Die 
Welt  mit  ihren  vermeintlichen  Fehlern  ist  vollkommen,  sie  trägt 
die  Züge  einer  unendlichen  Weisheit  und  Macht,  denn  sonst 
hätte  Gott  in  seiner  Weisheit  eine  andere  vollkommenere  Welt 
geschaffen:  „Si  Ton  fait  attention  que  des  principes  ne  sont 
appeläs  simples  ou  compos^s  que  par  rapport  k  ce  qui  en  doit 
r^snlter,  on  comprendra  aisöment  qu'il  eüt  6t6  de  la  mSme 
Sagesse,  de  mettre  en  OBuvre  d'autres  principes  pour  former  un 
autre  monde,  et  plus  de  principes  pour  un  monde  plus  parfait.^  ^) 
Die  «Unbequemlichkeiten*  haben  einen  erzieherischen  Wert, 
überdies  weifs  Gott  Gutes  zu  gewinnen  aus  dem,  was  wir  für 

»)  Rech.  1.  m  p.  II  eh.  6. 

*)  Cf.  a.  a.  Vons  ne  la  voyez  que  selon  le  rapport  qu'elle  a  aux 
cr^atares  materielles,  que  selon  qu'elle  est  participable  par  elles,  ou  qu'elle 
en  est  repräsentative.  Et  par  consSquent  ce  n'est  point  Dien,  k  proprement 
parier,  que  vons  voyez  mais  seulement  la  matiöre  quMl  peut  produire  . . . 
Entret.  U. 

')  Cf.  Einwendungen  und  Entgegnungen  zn  dem  Entret.  IL 

*)  Cf.  Entret.  IX,  12.  Dieu  ne  forme  point  aveuglöment  ses  desseins 
Sans  les  comparer  avec  les  moyens.  li  est  sage  dans  la  formation  de  ses 
d^creta  aussi  bien  que  dans  leur  ex6cntion. 

FUloMphüehe  Abhandlangen.    XLIH.  2 


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ein  Uebel  halten.  Malebranche  hatte  nicht  gezögert,  «gegen 
den  eigentlichen  Gttist  des  Christentams  die  Gleichförmigkeit, 
Beständigkeit  und  Einfachheit  des  Wirkens  Gottes  höher  za 
stellen  als  dessen  GUte.*^  Seine  Weisheit  verlangt  einfache, 
nniverselle,  unveränderliche  mechanische  Gesetze.  Einmal  ent- 
schlossen zn  schaffen,  hätte  Gott,  ohne  die  Ordnnng  zn  verletzen, 
d.  h.  ohne  anfznhören  Gott  za  sein,  keine  anderen  Kombinationen 
nnd  Wege  wählen,  kurz,  kein  anderes  Werk  machen  können.') 
Er  hat  anch  die  wirklichen  Mängel  in  der  Welt  nicht  vermeiden 
können,  „&  cause  qu'ils  sont  nne  suite  naturelle  de  ses  lois.'' ') 
Dafs  schon  diese  ganze  Art  der  verstandesmäfsigen  Erklärung 
der  Vorsehung  den  Jesuiten  zuwiderlief,  sehen  wir  gelegentlich 
in  einer  Kritik:  „Ge  serait  une  prösomption  insupportable  et  nne 
extreme  folie  de  eroire  que  Tesprit  humain  puisse  p^nitrer  tous 
les  ressorts  de  la  Providence  et  toutes  les  raisons  que  Dieu 
a  de  faire  ou  de  permettre  les  choses."^) 

Die  ruhige  Darlegung  seines  Systems,  welche  der  Chinese 
in  der  Malebrancheschen  Schrift  gleich  zu  Anfang  des  Dialogs 
gibt,  stellt  der  Journalist  an  das  Ende  seiner  Ausführungen, 
um  folgendes  bemerken  zu  können:  „Au  reste  le  Philosophe 
Ghinois,  moins  par  le  gönie  propre  de  sa  nation  que  par  Fad- 
miration  de  tant  de  subtilitäs,  no  se  rend  point  contentieux. 

Diese  Kritik  der  Jesuiten  erregte  in  allen  Kreisen,  nament- 
lich aber  unter  den  Cartesianem,  lebhaftes  Aufsehen  nnd  starkes 
Mifsfallen.  ^)  Malebranche  sah  sich  zu  einer  Erwiderung 
gezwungen.  Im  Journal  selbst  können  wir  seine  Gründe  dafür 
lesen:  „Car  il  täche,  ce  semble,  de  faire  nattre  des  soupfons,  snr 
lesquels  il  n'est  pas  permis  de  se  taire;  vn  prineipalement  la 
qualitö  des  Auteurs  et  la  multiplicitö  des  exemplaires  de  leurs 
Mömoires  qui  se  röpandent  partout  et  qui  passeront  au  temps 
k  venir."«) 


^)  Novaro  p.  82. 

')  Gf.  Malebranche,  Entret  IX,9;  X,  10—13;  M6d.  chr6t  VH;  £cfauzc 
1,  II,  m. 

>)  Entret  IX;  cf.  ^dairo.  XV,  preave  IV. 

«)  Journal  de  Tr^voox  1706  mai  p.  728. 

»)  Cf.  Andr6,  Vie  de  Haiebranche  p.  322. 

")  Ay\B  tonchant  FEntretien  d'nn  Philosophe  Ghrtden  avec  nn  Philo- 
sophe Ghinois  par  le  P.  Malebranche.  Journal  de  Tr^youz  1708  d6c.  p.  1979. 


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Dieselbe  wurde  überall  sehr  günstig  aufgenommen,  umso- 
mehr,  da  Malebranche  die  besondere  Gelegenheit  erzählte, 
welcher  die  Schrift  ihr  Entstehen  yerdankte:  sie  war  auf 
dringenden  Wunsch  und  wiederholte  Bitten  eines  mit  der  Philo- 
sophie und  Religion  Chinas  vertrauten  Batgebers  (Mr.  de  Lyonne, 
Bischof  von  Bosalie)0  zu  dem  Zweck  gesehrieben,  den  Missio- 
naren und  selbst  den  Jesuiten  zu  nützen;  um  so  mehr,  da  er 
erfahren  hatte,  dafs  die  Chinesen  seiner  Lehre  sehr  günstig 
gegenüberstanden  und  ein  Missionar  des  Jesuitenordens  gebeten 
hatte,  Philosophen  zu  schicken,  welche  in  der  Mathematik  und 
den  Werken  des  P.  Malebranche  unterrichtet  seien.^)  Diese 
Erklärung  ist  im  Journal  de  Trövoux  selbst  zu  lesen,  denn  im 
Dezember  sahen  sich  die  Journalisten  gezwungen,  Malebranche 
die  verlangte  Genugtuung  einer  Veröffentliehung  seines  „Avis'' 
gegen  ihre  „ungerechte  Rezension^  und  die  ^grausamen  Ver- 
dächtigungen" wenigstens  zum  Teil  zu  gewähren.  Sie  liefsen 
sich  zu  einem  Auszug  aus  demselben  herbei.  3)  Da  die  Ein- 
wendungen der  Übersicht  wegen  in  allem  Wesentlichen  bereits 
in  die  erste  Kritik  eiugefiochten  worden  sind,^)  wende  ich 
mich  sofort  zu  den  anschließenden  „Röflexions  sur  les  Avis 
pricödents  du  R.  P.  Malebranche." 

Der  Journalist  rüstet  diesmal  zu  einer  eingehenden  Kritik, 
die  er  mit  den  höflichsten  Versicherungen  seiner  aufrichtigen 
Achtung  für  die  „Tugend*  und  „den  seltenen  und  bedeutenden 
Geist  des  P.  Malebranche"  einleitet  Trotzdem  ist  der  Ton  oft 
schärfer,  sind  die  Vorwürfe  und  Widerlegungen  deutlicher  formu- 
liert als  in  dem  ersten  Auszug,  und  wenn  er  die  Ideentheorie 
jetzt  ein  „geistreiches  System"  nennt,  so  ist  das  eine  Vorsicht, 
welche  bei  dieser  Gelegenheit  ratsam  erscheinen  mochte. 

Um  die  Malebranscheschen  Definitionen  von  Gott  anzu- 
greifen,^) ist  dem  Jesuiten  der  gröfste  Feind  seines  Ordens,  der 
Jansenist  Amanld,  als  Stütze  willkommen  genug.  Das  ist  um 
so  bedenklicher,  als  wir  noch  im  Juliheft  1705  folgendes  lesen 
können:  „Le  P.  Malebranche  d^montre  en  effet,  que  l'Auteur  du 

1)  Cf.  Andr6  p.  308  Anm.  II  Joarnal  de  Trövoux  1708  d^.  p.  1978. 

>)  Andr^  p.  805. 

•)  Journal  de  Trövonx  1708  d6c.  1977—2009. 

*)  Cf.  p.  16  Anm.  1  dieser  Arbeit. 

0  Cf.  p.  15  f.  dieser  Arbeit 

2* 


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Livre  des  vraies  et  des  fansses  idöes  n'a  pas  eu  un  vnu  d^sir 
de  bien  prendre  les  sentimentB  de  son  adversaire,  et  qu'il  a 
employä  des  artifiees  pour  tromper  le  monde.^^) 

Der  gefährliche  Ausdrack  «Gott  sehliefst  in  sich  selbst  die 
Bealität  oder  Vollkommenheit  aller  Dinge  ein^,  sei  dem  P.  Male- 
branehe  noch  nicht  einmal  entschlttpft  gewesen,  als  er  sich 
bereits  den  schrecklichen  Vorwarf  zugezogen  habe,  „d'admettre 
Dien  corporel''.^)  Er  sei  trotzdem  nicht  yorsichtiger  geworden, 
obschon  er  gezwangen  gewesen  sei,  einzagestehen,  daf  s  folgende 
Bezeiehnnngen  wohl  dunkel  erscheinen  könnten:  Dien  renferme 
en  soi  Tötendae  intelligible.  Dien  est  an  et  toutes  choses.  Um 
nicht  „verhafste  Namen^  wie  den  Spinozas  za  nennen,  weist 
die  Kritik  auf  die  Parallele  za  Plotin»)  and  die  Worte  des 
Plinias,  die  Welt  betreffend,  hin:  „Sacer  est,  aetemas,  immensos, 
totas  in  toto  immo  vero  ipse  totnm."^) 

Wie  hier  Amaald,  so  wird  bei  den  Gottesbeweisen  ^)  der 
sonst  ebenfalls  verbalste  Descartes  gegen  Haiebranche  aas- 
gespielt 0  Descartes  habe  den  Beweis  von  der  Existenz  Gottes 
aaf  die  eingeborene  Idee  von  Gott  anter  ausdrücklicher  Be* 
merkung  gegründet,  dafs  diese  Idee  von  einem  jeden  bei 
vorausgesetzter  Aufmerksamkeit  lebhaft  wahrzunehmen  sei, 
während  Malebranche  den  Beweis  auf  die  schwächste  aller 
Perzeptionen  stelle.  Wenn  aber  klare  und  deutliche  Begriffe 
die  Basis  und  Sicherheit  der  Wahrheit  seien,  so  könne  man 
sich  nichts  versprechen  von  einer  „perception  trös  16göre,  teile 
quMl  semble  que  qaand  on  y  pense,  on  ne  pense  k  rien.^  Der 
Zusatz,  es  sei  gegen  die  Vernunft  zu  denken,  dafs  das  Unend- 
liche weniger  Bealität  habe  als  das  Endliche,  könne  ohne  weiteres 
zugegeben  werden. 

Bedeutend  aggressiver  als  die  ersten  oberflächlichen  und 
spöttischen  Bemerkungen  zu  der  Ideentheorie'')  ist  die  eingehende 

0  Journal  de  Tr6vonx  1705  JuilL  p.  1144;   cf.  p.  26  dieiier  Arbeit 

')  Des  vraies  et  des  fausses  idöes  chap.  14.  Defense  de  Mr.  Arnaold 
contre  la  Röponse  4  ce  Livre. 

•)  Plotinas,  Enneades  V  1. 1  eh.  1,  3;  1.  III  eh.  V;  1.  V  eh.  DL 

4)  Plinios,  Bist  nat  1.  II  eh.  1. 

>)  Cf.  p.  16  dieser  Arbeit 

•)  Cf.  Journal  de  Tr6voux  170S  IV  p.  2003:  II  se  met  par  tont  aossi 
loin  de  M.  Descartes  que  des  Saints  Pöres. 

')  Cf.  p.  16f.  dieser  Arbeit. 


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BesprechoDg  derselben  in  der  S.  Reflexion.  Sie  hat  niehts 
von  dem  immerhin  yorsichtigen  Ton  der  übrigen,  vielleicht  weil 
sich  der  Verfasser  im  Schatten  des  grofsen  Arnanld  fühlte,  denn 
er  gibt  im  wesentlichen  nur  einen  Anszng  ans  dem  Livre  des 
vraies  et  des  fansses  idäes.^)  Andri  nennt  sie  mit  Recht  «un 
rechanffä  des  objections  de  Hr.  Arnanld.'^)  Darüber  tänscht  auch 
folgende  Bemerkung  nicht  hinweg:  ,,11  faudrait  sur  ce  sujet  un 
livre,  mais  diffärent  de  celui  des  vraies  et  des  fausses  id^es 
ponr  le  raisonnement  et  surtout  pour  le  style.^ 

Der  Vision  en  Dien  werden  1.  Dunkelheit,  2.  Paradoxie 
und  3.  Paralogismen  vorgeworfen. 

1.  Die  „geheimnisvollen*  Redewendungen  werden  zitiert 
aus  der  «R^ponse  aux  livres  des  vraies  et  des  fausses  id^es, 
Ghap.  XIII:  ,Je  connais  dans  l'Esprit  archätype,  sur  lequel  j'ai 
6i&  forma,  en  qui  je  suis  lumiöre;  sans  la  vue  de  cet  esprit 
intelligible  on  ne  peut  savoir  qu'on  soit  capable  d'avoir  le  goüt 
d'nn  melon;  esprit  intelligible,  ätendne  intelligible,  monde  in- 
telligible; Dien  touche  Täme  par  ses  r^alitäs/ 

2.  Folgende  Lehren  stellt  die  Kritik  als  paradox  zusammen: 
Unsere  Erkenntnisse  können  keine  Modifikationen  unserer  Seele 
sein,')  weil  daraus  folgen  würde,  dafs  unsere  Seelen  zum  Teil 
für  etwas  anderes  als  für  Gott  geschaffen  sind,  dafs  die  Wahr- 
heit nicht  bestehen  kann,  dafs  Gott  nicht  unser  Licht  ist,  dafs 
Wissenschaft  und  Moral  sich  verwischen  und  absolut  untergehen . 
müssen.^)  Unsere  Seele  kann  nur  das  erkennen,  was  sie  wirk- 
lich affiziert:  sie  erkennt  sich  nicht  selbst,  sie  hat  nur  ein 
dunkles  Gefühl  von  sich  und  ihrer  eigenen  Existenz.^)  „Die 
Existenz  der  Welt  erkennt  man  nur  aus  der  Offenbarung  und 


0  Cf.  0116-Laprane  II  p.  7ff.:  Arnauld  et  la  critique  de  la  throne  des 
id^es;  Bouillier  II  eh.  6,  7. 

>)  Andr^  p.  330. 

*}  Gf.  Rech.  1.  III  p.  II  eh.  7.  Les  id6es  qai  nons  repr6sentent  qael- 
que  chose  hors  de  neos  ne  sont  point  des  modifications  de  notre  äme. 
Cf.  ibid.  IV  eh.  11. 

4)  Cf.  Rech.  1.  III  p.  II  eh.  1—6;  Eclairciss.  X;  Entret.  mdtaph.  V,  4. 

^)  Die  Jesuiten  stimmten  mit  Malebranche  gegen  Descartes  gerade 
darin  überein,  dafe  wir  keine  klare  Idee  von  der  Natur  unserer  Seele 
haben,  betonten  aber  im  Gegensatz  dazu,  dals  wir  eine  noch  dunklere  Idee 
von  der  Substanz  der  Eürper  haben.  Cf.  Journal  de  Tr^voux  1707  janv. 
p.  45. 


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folglich  ans  dem  Glanben.'^)  Damit  seien  alle  Ungläabigen 
Yöliiger  UDgewifsheit  über  die  Existenz  der  Welt  anheimgegeben. 

3.  An  Paralogismen  scheint  ebenfalls  kein  Mangel  in  dem 
System  zn  herrschen.  Der  Journalist  bezieht  sich  auf  die 
Einwendungen  von  Rigis.^)  Unsere  Seele  ist  unfähig  eine 
unendliche  Modifikation  zu  empfangen,  sie  empfängt  aueh  keine 
allgemeinen:')  also  ist  die  Erkenntnis  des  Unendlichen  (=  infini 
en  perfection)  und  sind  die  allgemeinen  Begriffe  keineswegs 
Modifikationen  unserer  Seele.  Die  Ausdehnung  ist  nieht  in 
unserer  Seele:  sie  kann  also  auch  nicht  durch  eine  Modifikation 
unserer  Seele  erkannt  werden.^) 

Darauf  wird  die  Ideentheorie  von  yerschiedenen  Gesichts- 
punkten aus  positiv  bekämpft  und  zwar  erstens  von  Seiten  der 
Dinge,  zweitens  der  Begriffe,  drittens  des  Geistes,  viertens  von 
Seiten  Gottes. 

1.  Die  Jesuiten  haben  überall  festgehalten,  dals  wir  die 
Objekte,  welche  unsere  Sinnesorgane  affizieren,  ganz  unmittelbar 
empfinden.  Der  Journalist  hält  in  demselben  Geist  gegen 
Malebranche  das  Prinzip  fest:  Kein  Mittelglied  zwischen  dem 
Geist  und  dem  Objekt  1  Sein  und  Erkennbarsein  ist  ein  und 
dasselbe.  „Alle  objektive  Wahrheit  kann  sich  dem  Geist  als 
unmittelbares  und  formelles  Objekt  seiner  Erkenntnis  darbieten. 
Alle  Dinge  haben  ihre  objektive  Wahrheit;  also  können  sie 
das  unmittelbare  Objekt  meiner  Erkenntnis  werden.^  Es  gibt 
keine  andere  intelligible  Welt  als  die  Welt  selbst 

2.  Malebranche  unterscheidet  Erkenntnis  und  Empfindung. 
Die  erstere  geht  auf  das  Objekt  und  ist  keine  Modifikation 
unserer  Seele,  die  letztere  bezieht  sich  auf  unseren  Geist  und 
ist  eine  Modifikation  desselben.  Demgegenüber  hält  der  Jesuit 
folgendes  aufrecht:  Es  gibt  Wahrnehmungen,  Modifikationen 
des  Geistes  und  Ideen,  welche  nichts  anderes  sind  als  diese 
Wahrnehmungen  selbst  mit  dem  einzigen  Unterschied,  dab  das 
Wort  Perzeption  mehr  die  Seele  bezeichnet,  insofern  sie  das 

')  Cf.  p.  39f.  dieser  Arbeit 

>)  Cf.  R6p.  i  Mr.  R^gis  eh.  11,21. 

*)  Ibid.  Malebr.:  11  me  paratt  Evident  que  les  idöes  gönörales  ne 
peavent  8tre  des  modificatioDS  particuUöres.  Cf.  Rech.  lY  eh.  11.  Entret 
II,  9, 10. 

«)  R6p.  ä  Regia,  eh.  U. 


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Objekt  erkennt,  nnd  das  Wort  Idee  das  erkannte  Ding,  insofern 
es  objektiv  im  Geist  ist^)  Erkenntnis  nnd  Wabrnebmnng  sind 
also  nicht  dem  Wesen  nach  verschieden,  sie  sind  vielmehr  ein 
nnd  dieselbe  Modifikation  der  Seele.  2)  Ohne  Modifikation  keine 
Impression!    Ohne  Impression  keine  Erkenntnis! 

3.  Hier  wird  das  beliebte  Argument  herangezogen,  dals 
alles,  was  von  einem  Geist  gilt,  auf  Gott  anwendbar  sein 
mnfs.^)  Wenn  der  Geist  nnr  von  den  Objekten,  die  wirklich 
in  ihm  sind,  Erkenntnis  empfängt,  so  müsse  Gott  die  Aas- 
dehnung nnd  alle  Dinge,  nm  sie  erkennen  zn  können,  not- 
wendigerweise in  sieh  umfassen.  Damit  komme  man  auf  die 
von  Arnauld  erhobene  Anschuldigung^)  zurttck,  von  der  man 
hier  gegen  die  Person  des  P.  Malebranche  absolut  abstehen 
wolle.  ^)  Diese  bildet  auch  den  Brennpunkt  der  vierten  Ein- 
wendung. 

4.  Es  liege  ein  ofiFenkundiger  Widerspruch  darin,  dafs  Gott 
unseren  Geist  durch  seine  Substanz,  insofern  dieselbe  repräsen- 
tativ sei,  affiziere  und  sich  in  diesem  Sinne  zum  unmittelbaren 
Objekt  aller  unserer  Erkenntnisse  mache.  Denn  es  sei  evident, 
dafs  Gott  nicht  repräsentativ  sein  könne  fttr  etwas,  was  er 
nicht  (formellement)  wirklich  enthalte.^)    Es  würde  also  damit 


^)  Dieselbe  Erkenntnistheorie  verteidigt  Arnauld,  der  empirische 
Neigungen  hat,  gegen  Malebranche.    Cf.  0116-Laprune  II  p.  22. 

>)  Cf.  Journal  de  Tr6voux  1706  I  p.  277:  „Ces  Messieurs  se  donnent 
la  libert6  de  chaoger  la  plupart  des  notions,  qu'on  avait  attachdes  ä  cer- 
tains  termes:  d'oü  il  arrive  qae  ceux  qai  ne  savent  que  lenr  Philosophie, 
se  trouvent  sonvent  fort  embarrass^s,  lorsqu'ils  viennent  a  6tudier  St. 
Thomas  et  les  autres  th^ologiens ** 

»)  Cf.  Rech.  1.  ra  p.  U  eh.  9. 

*)  Cf.  p.  20  dieser  Arbeit 

^)  et  Malebranche,  Lettre  du  7.  Juillet  1694:  Anatheme  ä  qoiconqae 
met  en  Dieu  l'ötendue  formelle,  je  le  prononce  du  fond  de  mon  coeur. 
Bouillier  II  p.  172. 

*)  Nach  Malebranche  ist  die  Aasdehnung  in  Gott  nicht  nur  „iddale- 
ment*  oder  „objectivement*'  in  dem  Sinne,  dafs  Gott  sie  erkennt,  sondern 
.6minemment*  in  dem  Sinne,  daCs  Gott  das  Muster,  die  Quelle,  das  Prinzip 
derselben  ist,  indem  er  eine  Yollkommenhoit  besitzt,  welcher  die  KOrper 
oder  ausgedehnten  Dinge  nur  sehr  unvollkommen  entsprechen.  Es  be- 
deutet nicht,  dals  die  Ausdehnung  «formellement''  in  Gott  ist,  d.  h.  dafs 
Gott  selbst  ausgedehnt  ist  nach  Art  der  Körper  und  dals  diese  KOrper 
Teile  seiner  Substanz  sind.    Cf.  Oll^Laprune  II  p.  21  Anm.  i. 


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21 

gefordert,  dafs  die  Sabstaaz  Gottes  wirklich  die  AnsdelinüDg, 
die  Gestalten  und  geschaffenen  Dinge  umfasse:  Hier  wird  du 
einst  von  Arnauldi)  auf  die  intelligible  Ausdehnung  angewandte 
Gleichnis  vom  Marmorblock  herangezogen,  der  im  unbearbeiteten 
Zustande  keineswegs  das  Gesicht  des  heiligen  Augustinus  dai- 
stellen  und  erkennen  lassen  könne. 

Enthalte  Gott  in  seiner  Substanz  die  Realität  aller  Wesen, 
so  folge  weiter  daraus,  dafs  dieselben  sich  sämtlich  in  unserer 
Erkenntnis  finden  mttfsten,  da  Gott  unseren  Geist  durch  seine 
Substanz  affiziere.  Gott  zur  objektiven  Ursache  unserer  parti- 
kulären Erkenntnisse  machen,  hiefse  ferner  alle  unsere  Er- 
kenntnisse verdoppeln;  erstens  würden  wir  Gott  sehen,  (denn 
die  objektive  Ursache  gibt  sich  zu  erkennen,  ehe  sie  etwas 
erkennen  läfst)  und  zweitens  würden  wir  alles  in  Gott  sehen. 
Damit  glaubt  der  Verfasser  zur  Genüge  auf  ^ein  Heer  von 
Widersprüchen'  in  diesem  , geistreichen  System*  hingewiesen 
zu  haben. 

Es  bliebe  noch  zu  zeigen,  dafs  ein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  der  Meinnng  des  heiligen  Aagnstinus  und  der 
des  P.  Malebranche  bestehe.')  Dabei  würde  sich  im  Vorbei- 
gehen feststellen  lassen,  dafs  Malebranche  nicht  denselben 
Glauben  an  den  Augustinus  der  letzten  Lebensperiode  habe. 

Mit  der  vierten  Reflexion,  die  in  der  Behandlung  der 
«Vorsehung*  nicht  über  die  ursprüngliche  Kritik  hinauskommt, 
sind  die  Widerlegungen  abgeschlossen. 

Malebranche  antwortete  auf  diese  Kritik  des  Journals  nicht 
mehr.  Es  waren  alte,  längst  von  ihm  zurückgewiesene  Ein- 
wände; er  beschränkte  sich  darauf,  denselben  seine  alten 
Erwiderungen  entgegenzustellen.  Er  vereinigte  die  Antworten 
an  Arnauld  zu  einer  Sammlung  von  vier  Bänden.  „Sie  waren 
durch  ein  seltsames  Geschick  zu  einer  Antwort  an  die  Jesuiten 
geworden.*  ^) 


1)  Arnauld,  Le  livre  des  vraies  et  des  faasses  idöes,  eh.  15. 

*)  Das  geschab  ausführlich  innerhalb  der  Gesellschaft  zur  Widerlegung 
des  Malebranchisten  Andr6.  Cf.  Charma  et  Mancel  p.  338  ff.  Hier  wird 
von  den  Jesuiten  die  Philosophie  des  heiligen  Augasttnus  geradezu  ab- 
gelehnt, cf.  p.  350. 

•)  Andr6  p.  331. 


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25 

Als  Verfasser  der  Kritik  nennt  Ingold  den  P.  Louis  Marqnet.^) 
£in  Vergleieh  seiner  Ansftlhrangen  mit  dem  äofsert  interessanten 
Auszug  einer  an  den  Jesuiten  und  Malebranchisten  P.  Andrö 
gerichteten  Widerlegung  der  neuen  Philosophie,  welche  dieser 
in  dem  philosophischen  Unterricht  lehren,  und  auf  welche  er 
sich  schriftlieh  verpflichten  sollte,^)  zeigt,  wie  wenig  Namen 
hier  bedeuten.  Der  Geist  des  Ordens  ist  es,  der  hier  wie  dort 
die  Feder  ftlhrt,  nur  dafs  er  sich  dem  Bahmen  einer  Zeitschrift 
wesentlich  anbequemt.  Das  «Systeme  spirituel*  wird  da  zum 
«fanatisme  erronö,  extravagant,  dangereux",  zu  einem  «tissu  de 
yisions  absurdes',  der  P.  Malebranche  selbst,  ftlr  den  ein  Jesuit 
als  Journalist  ,une  sincöre  estime  autant  pour  sa  vertu  que 
pour  son  esprit  rare  et  &\6y6'^  vorgibt,  zu  einem  «vision- 
naire  qui  entraine  de  petits  gänies  dans  son  sentiment*,  von 
dem  Faydit  «sehr  weise*  sagte:  ,Lui  qui  voit  tout  en  Dien, 
n'y  voit  pas,  qu'il  est  fou," 

Verschiedentlich  hatten  die  Journalisten  eine  günstige  Ge- 
legenheit zu  einer  ähnlichen  ofiFenen  Kritik  der  Ideentheorie  nicht 
ausgenutzt.  Im  Jahre  1701  war  in  einer  Besprechung  der  Neu- 
ausgabe der  Becherche^)  ohne  jede  persönliche  Note  auf  die 
Bedeutung  und  Notwendigkeit  der  Lehre  in  den  Augen  ihres 
Erfinders  hingewiesen.  Tournemine  hatte  (1703)^)  mit  Achtung 
von  Malebranche  gesprochen,  wenn  er  auch  die  Meinung  des 
Philosophen  der  Vision  en  Dieu  nicht  teilte:  «Quelque  respect 
que  j'ai  pour  Texcellent  philosophe  qui  a  donnä  cours  k  cette 
opinion,  il  me  pardonnera,  si  je  ne  puis  croire  que  dös  cette 
vie  nous  voyons  Dieu  intuitivement  et  les  corps  en  Dieu.*  Die 
augenblickliche  „Mode  der  Ideentheorie'  fttbrte  er  dabei  zum 
gröfsten  Teil  auf  Arnauld  zurück,  welcher  das  System  sehr 
schlecht^  und  mehr  mit  Beleidigungen  als  Gründen  bekämpft 
habe.  Ahnlichen  Gedanken  begegnen  wir  im  Juli  1705  in  einer 
durchaus  sachlichen  Bezension^)  der  «Böponse  du  P.  Male- 
branche &  la  troisiöme  Lettre  de  M.  Arnauld  touchant  les  idies 


^)  ADdr6  p.  319,  Marqner  (sie)  war  Redakteur  am  Journal  de  Tr^vonx, 
cf.  Sommervogel  1  p.  42. 

*)  Charma  et  Maucel  I  p.  291  ff. 

»)  Journal  de  Tr^voux  1701  II  p.  3ff. 

*)  Cf.  p.  32  dieser  Arbeit. 

»)  Journal  de  Tr^voux  1705  juillet  p.  1138£f. 


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26 

et  les  plaisirg.'  >)  Die  Theorie  des  P.  Malebranche  wird  kkr 
and  Bchlicht  der  gewöhnliehen  Auffassung  entgegengestellt,  die 
Amauld  in  dem  bertthmten  Streit  vertreten  hatte,  dais  nämlich 
die  Ideen,  die  Bilder  und  die  Wahrheiten,  welche  unser  Geist 
wahrnimmt,  wirklich  in  unserer  Seele  seien.  Der  Beasensent 
urteilt  zugunsten  des  P.  Malebranehe  und  mit  demselben  dahin, 
dafs  Amauld  seine  ganze  Widerlegung  auf  dieses  von  ihm  ab 
unbestreitbar  und  evident  erklärte  Prinzip  grttnde,  ohne  seiner 
ersten  Aufgabe  nachzukommen,  dasselbe  gegen  Malebranche  zn 
beweisen.  „Ainsi  eeux  qui  sont  du  sentiment  de  M.  Amauld 
sont  Obligos  d'avouer  qu'en  oette  oecasion  il  a  mal  döfenda  une 
bonne  cause  et  qu'il  y  a  fait  paraltre  plus  d'äloquence  qae  de 
soliditö.'^  Die  Verteidigung  der  Sinnesfreuden  als  wirklicher 
Outer  findet  sogar  besonderes  Lob.  Sie  habe  gezeigt,  dals  diese 
Ansicht  mit  der  Religion  sehr  gut  zu  vereinbaren  sei,  wenn 
man  in  ihrem  Geist  glaube,  dafs  SinnenglUck  zwar  ein  tat- 
sächliches aber  täuschendes  Gut  sei,  das  nur  einen  Augenblick 
währe  und  uns  in  die  Gefahr  bringe,  das  höchste  Gnt  ftlr 
immer  zu  verlieren.  In  demselben  Sinn  könne  man  den  Schmerz 
ein  wirkliches  und  wahrhaftiges  Übel  nennen,  vorausgesetzt, 
dafs  man  zu  gleicher  Zeit  glaube,  ein  ewiges  Glück  durch 
geduldiges  Ertragen  desselben  verdienen  zu  können.^)  Male- 
branche hatte  seiner  Antwort  eine  eigentümlich  paradoxe 
Schrift  angehängt,  in  welcher  er  die  gegen  ihn  gerichteten 
Bücher  ihrem  Verfasser  Amauld  absprach,  einerseits,  weil  der 
Verfasser  derselben  keine  Sorge  getragen,  sich  über  die 
Meinungen  seines  Gegners  genügend  zu  informieren  and 
schlechte  Kunstgriffe  angewandt  habe,  um  ihn  verhalst  zu 
machen;  andrerseits,  weil  man  Amauld  eines  solchen  Voi^hens 
nicht  fähig  glauben  dürfe.  Der  Rezensent  hält  die  erste  Be- 
hauptung für  bewiesen,^)  .d'nne  maniöre  qui  ne  laisse  rien 
ä  d^sirer;"  zu  der  zweiten  bemerkt  er  boshaft:  .il  ne  Tappuie 
d'aucune  preuve:  mais  les  amis  de  M.  Arnauld  voudraient-  ils 
la  contester?**) 


^)  Cf.  zu  der  Entwicklangsgeschichte  dieser  Schrift  Andr6  p.  219ff. 
>)  Cf.  Malebranche  Rech.  IV  eh.  10;  R^ponse  ä  R^gis.  eh.  3. 
*)  Cf.  p.  19,  20  dieser  Arbeit. 
*)  Ibid. 


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27 

Noch  im  Jahre  1707  (Janyier  p.  48)  finden  wir  eine  kurze 
Skizziemng  der  Vision  en  Dien  des  .berühmten  Cartesianers* 
ohne  persönliche  Note.  Es  wird  als  ein  System  bezeichnet, 
.dont  on  yoit  les  simences  dans  le  Platonicien  anteur  des 
14  liyres  intital6s  les  „Seorets  de  la  Sagesse  divine  selon  les 
^gyptiens*. 

Um  so  anffallender  erscheint  der  ofiFenkundig  feindselige 
Artikel  der  Zeitschrift  vom  Jahre  1708.  Ist  es  nicht  letzten 
Grundes  der  im  Innern  des  Ordens  gerade  jetzt  erbittert  ein- 
setzende Kampf  gegen  den  Gartesianismus  im  allgemeinen  und 
gegen  den  grolsen  Oratorianer  im  besonderen,  der  auch  die 
vorsichtig  gezogenen  Grenzen  des  Jesnitenjoumals  einmal  durch- 
brochen hat?i)  Aber  die  Redakteure  besinnen  sich  alsbald  auf 
ihre  alte  Taktik.  Einige  Jahre  hindurch  scheinen  sie  sich 
kanm  des  P.  Malebranche  zu  erinnern,  und  dann  tragen  ihre 
Angriffe  eine  versteckte,  indirekte  Form,  so  dafs  die  Be- 
merkungen an  einer  anderen  Stelle  harmlos  erscheinen  würden. 

Im  November  1712  wird  die  Aufmerksamkeit  der  Leser 
endlich  wieder  einmal  auf  die  Vision  en  Dien  gelenkt.  Die 
Nouvelles  littöraires  der  Zeitschrift  annoncieren  folgendes  Buch 
des  Greifswalder  Theologieprofessors  Pritius:  Viri  Cl.  P.  Francisci 
Malebranchi  ....  enthusiasmus  excussus  et  reprobatus.  Mit 
seiner  altgewohnten  Höflichkeit  bemerkt  das  Journal,  dafs  der 
Verfasser  schon  durch  den  Titel  gegen  die  Rücksichten  ver- 
stofse,  die  man  dem  P.  Malebranche  schulde,  und  dafs  man  im 
Verlaufe  der  Schrift  noch  schlechter  mit  ihm  verfahre,  verfehlt 
aber  nicht,  eine  genaue  Liste  der  ans  der  Bibel  gezogenen 
Widerlegungen  zusammenzustellen  und  weist  ausdrücklich  daraut 
bin,  die  Lehre  des  P.  Malebrancho  sei  hier  bekämpft,  weil  sie 
der  Einfachheit  und  Vollkommenheit  Gottes  zuwiderlaufe  und 
zum  Spinozismus  ftlhre.^) 

Man  weifs  auch  dem  Publikum  zu  erzählen,  dafs  die 
y  Vision  en  Dien*  in  England  als  eine  den  Quäkern  zuneigende 
Lehre  angesehen  würde  und  zitiert  dabei  ausführlich  den 
Gewährsmann  für  diese  Nachricht  Ein  Gelehrter  und  Anhänger 
des  P.  Malebranche  (es  handelt  sich  um  John  Norris)  habe  sich 


1)  Cf.  Channa  et  Mancel  I  p.  160  und  Einleitung  dieser  Arbeit. 
*)  Journal  de  Tr6voux  1712  mal  p.  749. 


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28 

za  einer  Abwehr  gezwangen  gesehen,  dabei  aber  nicht  amhin 
gekonnt,  zu  gestehen:  ,Si  les  Tremblenrs  entendaient  lenr 
doctrine,  s'ils  sayaient  Fexpliquer  et  la  rMnire  en  systöme,  ils 
ne  seraient  pas  fort  äloignäs  de  ses  sentiments.^) 

Besonders  schmerzlieh  war  es  für  die  Jesaiten,  Ansichten 
der  neuen  Philosophie  bei  Freunden  nnd  Bundesgenossea  ihres 
Ordens  feststellen  zu  müssen.  Die  Art  und  Weise,  wie  sie  die 
Bedeutung  einer  solchen  Tatsache  abzuschwächen  suchten,  findet 
im  folgenden  eine  eigenartige  Beleuchtung.  Das  Härzheft  des 
Jahres  1713  2)  brachte  eine  ausführliche  undänfserst  schmeichel- 
hafte Kritik  der  „Demonstration  de  Fexistence  de  Dieu^^  von  Fine- 
lon.  Der  Verfasser  war  mit  den  Jesuiten  seit  dem  Quietismusstreit 
eng  Ycrbunden,  sie  konnten  seine  Freundschaft  nicht  entbehren. 
Das  Buch  war  cartesianischen  Geistes,  «vom  reinsten  Carteaia- 
nismns  geht  Föneion  unmerklich  zum  System  des  Autors  der 
Recherche  de  la  Yäritä  ttber.*')  Behandelt  er  auch  in  einem 
ersten  Teil  die  natürlichen  Gottesbeweise,  die  der  jesuitischen 
Doktrin  entsprachen,^)  so  spricht  er  doch  von  der  Superiorität 
und  Bedeutung  der  metaphysischen  Beweise  in  Worten,  wie 
Malebranche  sie  nie  schärfer  formuliert  haben  würde:  ^CTest  une 
dömonstration  si  simple  qu'elle  6chappe  par  sa  simplieit6  aux 
esprits  incapables  des  Operations  purement  intellectuelles  . . .  .^ 

Der  Rezensent  kann  bei  den  metaphysischen  Beweisen 
nicht  umhin,  zu  gestehen,  dafs  hier  Meinungen  entlehnt  seien 
,qui  ne  sont  pas  les  plus  communes''.  Er  verweist  dabei  auf 
die  Lehre  von  der  universellen  Vernunft,^)  die  unseren  Verstand 
auf  ein  der  Erleuchtung  fähiges  Vermögen  reduziere.  Aber  er 
wagt  hier  den  bitteren  Spott  nicht,  den  das  Journal  an  unge- 
fährlicherer Stelle  um  fast  dieselbe  Zeit  findet,^)  auch  hütet  er 
sich,  den  Erzbischof  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dafs  diese 
Lehre  durchaus  nicht  originell  sei,  wie  man  z.  B.  bereits  im 
folgenden  Monatsheft  lesen  kann:   .11  y  a  dans  le  discouis 


0  Jonmal  de  Trövcux,  1712  p.  749,  cf.  Lyon  p.  200. 
«)  Journal  de  Tr6voux  1713  mars  p.  459. 
»)  Damiron  11  p.  712-751,  eh.  4:  F6nelon. 
*)  Cf.  Recb.  l.IV  eh.  11. 

B)  C'est  la  v^rit^  primitive  elle-meine  qiü  6claire  tous  los  esprits,  en 
se  eommuniquant  a  eux.    F6nelon  eh.  58. 

*)  Cf.  p.  47  dieser  Arbeit   Journal  de  Tr6voaz  d6eembre  1713  p.  219S. 


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29 

präliminaire  (za  der  Thöodicöe  yonLeibniz)  ane  digression  cnrieuB^ 
sur  Fentendement  passif  et  reotendement  aetif  des  Pöripatöticiens 
et  snr  la  prötendne  äme  du  monde.  Les  Malebranchistes  y 
apprendront,  qn'AriBtote  oa  platdt  Averroäs,  son  eommenta- 
teur,  a  le  premier  imaginä  la  raison  universelle  qui  agit  snr 
noB  raisons  particuliöres.  Ne  se  dägoüteront-ils  point  de  ce 
sentiment  quand  ils  sanront  qn'il  n'est  pas  noayean?^^)  Es  tritt 
im  Gegenteil  das  auffallende  Bemühen  hervor,  das  vom  Male- 
branchismus Abweichende  zur  Geltung  zu  bringen.  Wenn 
Föneion  annehme  (comme  un  pröjugö  et  sans  le  prouver),  dafs 
Gott  allein  die  unmittelbare  Ursache  aller  Modifikationen  in 
den  Geschöpfen  sei,')  so  erblicke  sein  Scharfsinn  doch  die 
gefährlichen  Eonsequenzen  des  Prinzips  und  gebe  darum  für 
die  Freiheit  des  Menschen  solche  ttberzeugenden  Beweise,  dafs 
er  daraus  sogar  ein  Argument  für  die  Existenz  Gottes  gewinne. 

Das  Publikum  mufste  bei  der  ersten  Lektüre  des  schnell 
vergriffenen  Buches  sehen,  dafs  der  Verfasser  die  Meinungen 
des  P.  Malebranche  teilte.  Es  stand  zu  befürchten,  dafs  die 
Anhänger  des  Philosophen  zugunsten  ihres  Meisters  die  Autorität 
F6nelons  gegen  die  Jesuiten  ins  Feld  führen  würden.')  Mit 
unendlich  feiner  Kasuistik  arbeiteten  diese  nun  daran,  die 
gefährlichen  Stellen  unschädlich  zu  machen,  indem  sie  ihnen 
den  Wert  einer  persönlichen  Überzeugung  des  Erzbischofs  zu 
nehmen  suchten.^)  Der  P.  Tournemine^)  schickte  der  zweiten 
Auflage  des  Buches  ohne  Yorwissen  des  Verfassers  eine  Ein- 
leitung voraus,  die  den  metaphysischen  Gottesbeweisen  cartesia- 
nischer  Herkunft,  welche  F6nelon  im  Anschlufs  an  die  natür- 
lichen, allgemein  anerkannten  gegeben  hatte,  nur  relative 
Bedeutung  einräumte.  Die  angebliche  Einwendung:  ,rauteur 
appuie  quelquefois  sur  des  opinions  nouyelles  fort  contest^es 
et  fort  äloignöes  de  la  certitude  des  principes,*  beantwortet 
Tournemine  dahin:  „On  peut  dire  que  Tauteur,  ayant  propos6 
dans  les  articles  präcMents  des  preuves  universelles  et  propres 


1)  Journal  de  TrSvouz  1713  jaillet  p.  1183. 

^  F^nelon  eh.  65. 

•)  AndrS  p.  360. 

*)  Ibid. 

>)  Cf.  p.  12,  32  dieser  Arbeit 


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so 

k  tout  le  monde  en  propose  dans  ses  artides  de  particali^res, 
de  respectiyes,  de  ees  argnments  ad  hominem  fondös  sar  les 
prineipes  refos  par  les  adyersaires  contre  qai  on  dispute.  Ce 
sont  des  dömonstrations  poar  les  Cartäsiens  et  poar  les  Male- 
brauehistes:  Tantenr  n'a  pas  du  les  onblier.'^) 

Der  wahre  Sinn  dieser  Worte  konnte  nicht  zweifelhaft 
sein.  Sie  stellten  die  Gartesianer  nnd  Malebranehisten  als 
Gottlose  hin,  denen  man  das  Dasein  Gottes  anf  Grnnd  ihrer 
eigenen  Prinzipien  hatte  beweisen  wollen. 

Der  tief  entrüstete  alte  P.  Haiebranche  erlangte  dnreh 
Yermittlnng  des  Kardinals  Polignac')  nnd  anf  Befehl  des 
gefttrchteten  Jesuiten  Le  Tellier,')  der  es  fttr  gut  halten  mochte, 
dem  Orden  neue  Feinde  zu  ersparen,  eine  zweifelhafte  Genug- 
tuung  im  No?emberheft  der  Zeitschrift:«)  ,En  effet,  on  a  Jamals 
pensi  ä  jeter  sur  ce  yertueux  pretre  aueun  soup^on  d'Athöisme. 
On  dit  qu'il  y  a  de  pr6tendus  Ath^es  Cart^siens  et  Malebran- 
chistes;  e'est  uu  fait  et  de  le  dire  ce  n'est  pas  attaquer  le 
R.  P.  Malebranche.  On  ajoute,  et  il  ne  peut  pas  s'en  offenser, 
qu'il  devait  renoncer  k  des  expressions  qui  les  favorisent*  ^)  Es 
wird  dabei  wieder  auf  Spinoza  yerwiesen,  in  dessen  System 
allein  Gott  das  „£tre  en  gänäral^  sei.  Malebranche,  welcher  die 
Religion  liebe,  könne  sicherlich  keine  Mühe  haben,  ihr  solche 
Bezeichnungen  zu  opfern,  da  er  bereit  sein  wttrde,  ihr  gröbere 
Opfer  zu  bringen. 


0  Die  Vorrede  findet  sich  im  Anhang  der  CEuvres  phQosopbiqnes 
ou  dömonstrations  de  Pexistence  de  Dieu  par  F6nelon.  Nouyelie  Edition 
Amsterdam  1721  p.  301. 

')  F6nelon  schrieb  an  den  Kardinal  de  Polignac,  .que  les  prenvea  de 
l'existence  de  Dieu  qa'il  avait  puisöes  dans  la  Rech,  de  la  V6rit£  Im 
paraissaient  solides  et  qu'il  ne  s'en  6tait  servi  que  parceqn'U  les  eroyah 
telles;*'  cf.  Andrö  p.372. 

*)  II  est  entiörement  opposö  i  ce  qn'on  appelle  nonveUe  Philosophie. 
Blampignon,  Corr.  in6d.  p.  24. 

*)  Journal  de  Tr^yonz  1718  novembre  p.  2029. 

•)  Cf.  p.  17f.  dieser  Arbeit 


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81 


Kapitel  IIL 

Eine  der  grofsen  Fragen,  welche  die  cartesianiBche  Philo- 
sophie anregte,  betraf  die  Beziehungen  der  geschaffenen  Sub- 
stanzen zueinander.  „Descartes  hatte  ihre  volle  Aussohliefs- 
licbkelt  ihrer  Existenz  nach  betont  und  weiterhin  doch  auch 
ihrer  Funktion  nach  angelegt.^  Mit  seinem  persönlichen  Glauben 
an  eine  wirkliche  Verbindung  von  Seele  und  Körper,  i)  die  er 
gelegentlich  in  kirchlich  sanktionierte  Worte  kleidete,')  blieb 
das  Problem  ungelöst.  Eine  von  den  Prinzipien  des  Meisters 
aus  konsequente  Lösung  versuchten  die  Occasionalisten,  indem 
sie  jede  Möglichkeit  eines  Einflusses  leugneten  und  den  schein- 
baren Zusammenhang  durch  die  stetige  Einwirkung  Gottes 
vermittelt  sein  liefsen.  Malebranche  leugnet  jede  Kausalitäts- 
beziehung  zwischen  den  geschaffenen  Substanzen  und  erklärt 
auf  dem  Boden  seines  Systems:  „dans  Tunion  de  Väme  et  du 
Corps  il  n'y  a  point  d'autre  lien  qne  Tefficace  des  däcrets  divins.') 

In  den  Augen  der  katholischen  Philosophen^)  begründeten 
die  im  Cartesianismus  zugelassenen  Beziehungen  zwischen 
Körper  und  Seele  nicht  zur  Oenttge  die  Einheit  des  Menschen, 
denn  da  die  Seele  den  Modifikationen  des  Körpers  vollständig 
fremd  blieb,  konnte  sie  nicht  mehr  die  Form  des  letzteren 
genannt  werden,  wie  die  KonzilbeschlUsse  von  Vienne  und  vom 
Lateran  ausdrücklich  festgelegt  hatten.^)  Die  Jesuiten  standen 
einmal  deswegen,  dann  aber  ihrer  ganzen  Richtung  nach  dem 
idealistischen  Bestreben,  das  Gefühl  unserer  Aktivität  in  uns 
zu  verringern  und  in  Gott  die  Weisheit  auf  Kosten  unserer 
Freiheit  zu  erheben,  diametral  gegenüber.*)  Geschöpfe  zu  occa- 


0  Cf.  Descurtes,  dd.  Cousin  X  p.  161;  Meditation  I  p.  336. 

*)  Sdendam  itaque  humanam  animam,  etai  totom  corpus  „informet''. 
Princ.  phUos.  IV  p.  189. 

s)  Entret.  m6taph.  IV,  XI. 

«)  Cf.  Charma  et  Maacel  I  p.  224  Anm.  23. 

^)  Cf.  Journal  de  Tr^vonz  1706  I  p.  282.  On  devait  regarder  comme 
h^r^tique  qnieonque  aurait  la  pr^somption  d'affirmer,  de  sontenir  et  de 
croire  avec  opiniatretö  qne  Vkme  raisonnable  et  intelligente  n'est  pas  par 
elle-m@me  et  par  son  essence  la  forme  du  corps  humain. 

•)  Cf.  0116-Laprune  II  p.  91. 


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S2 

flionellen  Ursachen  machen,  heifst  aber  nnsere  Passivität  auf 
die  schärfste  Formel  bringen  und  die  Persönlichkeit  yemiehten. 
£s  ist  nicht  zu  verwundern,  wenn  diese  Lehre  sieh  unter  den 
30  Punkten  befindet,  die  den  Mitgliedern  des  Ordens  za  lehren 
verboten  waren,  i) 

Als  sich  das  Jonmal  de  Trivonx  seinerseits  im  Jahre  1703 
dem  Problem  der  Verbindung  von  Leib  und  Seele  zuwandte, 
beteiligte  es  sich  damit  offenbar  an  einer,  gerade  am  diese 
Zeit  wieder  lebhaft  geftthrten  Diskussion  desselben. >)  Der  auf 
den  verschiedensten  Gebieten  arbeitende  Jesuit  und  Redakteur 
Tournemine^)  veröffentlichte  im  Jahr  1703  seine  „Conjectures 
sur  Tnnion  de  Täme  et  du  corps".^)  Er  polemisiert  dabei  gegen 
die  Schulpbiiosophen,  welche  die  Verbindung  herstellen  durch 
ein  besonderes  Wesen,  dessen  Eigenart  es  sei,  zu  verbinden, 
das  weder  Körper  noch  Geist  und  obgleich  unteilbar,  doch 
zum  Teil  körperlich  und  zum  Teil  geistig  sei.  Mit  einigem 
Erstaunen  stellt  man  diesen  Angriff  eines  Jesuiten  gegen  die 
substantiellen  Formen  fest,  welche  dem  Orden  geläufig  waren, 
um  die  Tierseele  zu  erklären,  &)  und  die  sie  gegen  den  Gartesia- 
nismus  verteidigten.^)  Tourncmine  findet  die  cartesianiscbe 
Theorie  der  Wechselwirkung  (,les  Cartteiens  ont  beaucoup 
raffinö  sur  la  Philosophie  de  l'^cole'')  ebensowenig  befriedigend, 
da  sie  die  Folge  der  Verbindung  und  nicht  diese  selbst  erkläre. 
Wenn  darauf  die  Gartesianer  „qui  ne  demeurent  pas  k  Töcorce 
des  difficultes,  qui  p6nötrent  tout^  Gott  als  die  nächste  Ursache 
einsetzten,  so  sei  das  eine  «sehr  fromme''  und  ^wenig  philo- 
sophische^ Antwort  Es  bliebe  zu  erfragen  übrig,  wie  Gott 
seinen  Beschlufs  ausführe.  Die  allgemeinen  Gesetze  der  Ver- 
bindung, durch  welche  Malebranche  dieses  Überspringen  der 
Kausalität  von  Gott  auf  die  Welt  erklären  wollte,  finden  eben- 
falls keine  Anerkennung.  Das  «Lächerliche  der  cartesianischen 
Meinung"  wird  für  Tournemine  am  besten  zum  Ausdruck 
gebracht  durch   den  Vergleich  von  zwei  Uhren,  deren  stets 


1)  Charma  et  Mancel  I  p.  222. 

>)  Gf.  Archimbaud  III  p.  164. 

>)  Gf.  p.  12,  29  dieser  Arbeit 

0  Journal  de  Trövonz  1703  n  p.  864;  1703;  1068. 

B)  Gf.  Gharma  et  Mancel  I  p.  227. 

•)  Ibid.  p.  226- 


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83 

ttbereinstimmender  Gang  infolge  einer  ständigen  Regulierung 
durch  den  Mechaniker  keine  grofse  Gesehicklichkeit  und  Fein- 
heit des  letzteren  voraussetze.  Diese  Einwendung  von  Leibniz 
zerstöre  den  Occasionalismus  als  eine  mögliche  Verbindung 
von  Körper  und  Seele  vollständig,  und  obschon  es  sich  in 
seinem  System  der  prästabilierten  Harmonie  auch  nicht  um  eine 
essentielle  Verbindung  handle,  so  sei  dasselbe  doch  besser  er- 
dacht und  Oottes  würdiger,  i) 

Lob  und  Ablehnung  kommen  Leibniz  erst  i.  J.  1708  zu 
Gesicht,  und  er  beeilt  sieh,  eine  Einwendung  gegen  die 
Cartesianer,  auf  die  er  sich  angeblich  nicht  mehr  besinnt, 2) 
zurückzunehmen,  da  man  sie  offenbar  gegen  ihn  selbst  richten 
könne:')  «J'aurai  eu  grand  tort  d'objecter  aux  Cartäsiens  que 
Taccord  que  Dien  entretient  immödiatement,  selon  enx,  entre 
Täme  et  le  eorps  ne  fait  pas  une  v6ritable  union:  puisque 
assuräment  mon  harmonie  präätablie  ne  saurait  en  faire 
davantage."  ^)  Er  habe  nur  das  perpetuelle  Wunder,  das  der 
Occasionalismus  nötig  mache,  zurttckweisen  und  natürlich  er- 
klären wollen. 

Von  den  Vorurteilen  der  Sehulphilosophie  befreit,  „wie 
die  Cartesianer  es  so  ausdrücklieh  anempfehlen',  und  nicht 
weniger  losgelöst  von  allen  denen,  womit  die  Philosophie  Des- 
eartes'  die  Köpfe  erfüllt  habe,  macht  sich  der  Jesuit  seinerseits 
daran,  das  Prinzip  einer  „natürlichen,  wesentlichen  und  not- 
wendigen Verbindung^  von  Körper  und  Seele  nachzuweisen 
und  es  in  der  Seele  selbst  zu  begründen.  Tournemine  macht 
aus  der  Seele  die  Form  des  Körpers,^)  wie  es  der  Konzil- 


*)  Das  Journal  de  Tr^vcoz  1713  jaulet  p.  1189  spendet  ihm  folgendes 
Lob:  Son  Systeme  mg^nieox  de  l'harmonie  pr66tablie  ...  est trds  favorable 
ä  U  libert6. 

')  Cf.  Toamemine,  Journal  de  Tr6vonx  1708  I  p.  496:  A  Tögard  de 
Fobjection  contre  les  Cartösiens  qa'U  döaavoue,  je  consens  qu'U  soit  ora, 
quoiqne  ma  memoire  me  repr^sente  encore  cette  objection  comme  lue  ü 
y  a  plusieors  annöes  dans  quelqu'an  des  Berits  dont  M.  de  L.  a  enrichi  le 
Journal  de  Tr6voaz. 

■)  Journal  de  Tr6voux  1708  mars  p.  492. 

*)  Cf.  Novaro  p.  62. 

>)  Cf.  BouUlier  1  p.  564:  le  F.  Toarnemine  paratt  incliner  a  faire  de 
Farne  la  forme  da  corps. 

PhUofophiiolio  Abhmndlnniren.    XLIII,  3 


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84 

beschlnls  von  Vienne  festgelegt  hatte,  i)    Man  kann  aoeh  bd 
ihm  die  Seele  im  Sinne  deg  Aristoteles  definieren   „als  die 
Fanktionsverwirklichnng  eines  organischen  Körpers,  d.  h.  eines 
Körpers,  dessen  Bestandteile  sich  als  Werkzeuge  der  in  ihm 
liegenden  Fanktionsweise  darstellen-*.^)  Das  yerbindende  Prinzip 
ist  für  Toumemine  eine  der  menschlichen  Seele  natürliche,  mit 
ihr  geschaffene  Kraft,  die  Teile  des  Körpers,  fttr  den  sie  be- 
stimmt ist,  in  einer  den  menschlichen  Funktionen  günstigen 
Lage  ZQ  halten.   Diese  Kraft  einer  jeden  Seele  ist  dem  Körper 
den  sie  beleben  soll,  relativ;  da  sie  mit  der  Natur  der  Seele 
identisch  ist,  so  macht  sie  die  eigentliche  Verschiedenheit  der 
Seelen  aus;  somit  sind  die  für  verschiedene  Körper  bestimmteo 
Seelen  ebenso  verschieden  wie  die  Körper  es  sind,  für  die  sie 
bestimmt  sind.   Die  Verbindung  besteht  also  in  einer  Wirkung 
der  Seele  auf  den  Körper.    Sie  ist  für  den  Körper  wesentlieh 
notwendig,  damit  er  ein  menschlicher  Körper  sei,  und  ebenso 
notwendig  fttr  die  Seele,  die  ihrer  Natur  nach  dafür  bestimmt 
ist  3)    Sie  wirkt  unmittelbar,   unabhängig  vom  erkennenden 
Wollen  auf  die  Lebensgeister  und  kraft  ihrer  auf  die  anderen 
Teile  des  Körpers.    „Die  Struktur,  die  Lage,  der  Zustand  des 
Körpers  modifiziert  die  Wirkung  der  Seele  auf  den  Körper  und 
gestaltet  sie  leichter  oder  schwieriger."  ^)   Daraus  leitet  Tonrne- 
mine  die  Verschiedenheit  der  Gefühle  und  Wahrnehmungen 
ab.^)    Er  unterscheidet  die  unvermeidlichen  .natürlichen^  oder 
„zuvorkommenden^  Gefühle  (z.  B.  das  Fieber),  welche  der  Er- 
kenntnis vorangehen,*)  von  den  freien  Gefühlen,  welche  aus 
der  Reflexion  stammen  und  von  uns  abhängen  und  versucht 
die  Entstehung  der  ersteren  zu  erklären:  Auf  den  menschlichen 

0  Cf.  p.  31  Anm.  5  dieser  Arbeit 

')  Siebeck,  Aristoteles,  Stuttgart  1902. 

*)  Cf.  Malebranche,  Pr^face  de  Is  Rech.  id.  Simon  p.  2.  Ge  lapport 
qu'elle  a  k  sou  corps  pourrait  n'dtre  pas.  Dien  a  pu  ne  pas  unir  i  des  eorpi 
les  esprits  qui  y  sont  maintenant  anis  . . .  le  rapport  de  notre  esprit  i 
notre  corps  . . .  n'est  point  absolument  nöcessaire  ni  indispensable. 

*)  Journal  de  Tr^vonx  1710,  juin  p,  992. 

«)  Ibid.  1703 III  p.  1065  ff.  Suite  des  oonjectores  sur  l'nnion  de  Hüne 
et  du  corps  par  le  P.  Toumemine,  J^snite.  •  i 

*)  Cf.  Rech.  1.  II  p.  I  cb.  5:  le  corps  ne  devieat  point  capable  de  seati- 
ment  par  Tanion  qn'il  a  avec  Tesprit . . .  Le  oorps  n'est  point  capable  de 
sentiment 


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0 

Körper  wirken  nnendlieh  viele  andere  Körper  fortwährend  ein, 
und  einige  dringen  bis  in  seine  innersten  Teile.  Wenn  nnn 
ihre  Eindrtleke  die  vollkommenste  Lage  der  Teile  des  Körpers 
UDterstützen,  so  erleichtem  sie  die  Wirkung  der  Seele;  stören 
sie  diese  Lage,  so  erschweren  sie  dieselbe.  Die  Seele  empfindet 
die  Leichtigkeit  ihrer  Tätigkeit  als  Freude,  die  Hemmung  der- 
selben als  Sehmerz;  die  Gradunterschiede  ergeben  sich  dabei 
von  selbst,  und  ihre  Dauer  hängt  von  der  Daner  des  sie  ver- 
ursachenden Eindrucks  ab. 

Die  Gartesianer  hatten  das  Gefühl  in  die  Seele  verlegt 
und  es  unabhängig  vom  Körper  gefafst.  Aber  für  Aristoteles 
gehört  unter  anderem  das  Geftthlsvermögen  nicht  wesentlich 
zu  unserer  geistigen  Natur;  es  ist  vielmehr  das  Ergebnis  der 
tatsächlichen  Verbindung  von  Seele  und  Körper.  Auch  hier 
zeigt  sich  Tournemine,  der  sich  für  sein  System  auf  Aristoteles 
und  den  heiligen  Thomas  beruft,  als  echter  Peripatetiker.  Die 
drei  Vermögen  der  Seele  sind  für  ihn  Verstand,  Wille,  Bewegung, 
wie  es  später  noch  schärfer  hervortreten  wird,^)  und  wie  es 
einem  Jesuiten  ziemte.^) 

Eine  gleiche  Einteilung  und  Erklärung  wie  die  Gefühle 
finden  die  Leidenschaften.  Die  verschiedenen  Dispositionen  des 
Körpers,  bedingt  durch  die  Ungleichheit  der  Säfte,  diversifizieren 
die  Tätigkeit  der  Seele  gelegentlich  der  «prävenierenden  Leiden- 
schaften* (z.  B.  Melancholie),  während  bei  den  „reflektierten* 
die  Seele  nicht  mehr  imstande  ist,  ihrer  Aufgabe  gerecht  zu 
werden  und  überdies  dem  Körper  ihre  eigene  Erregung  nach 
MafBgabe  seiner  Empfänglichkeit  mitteilt.  Tournemine  hält  im 
ausdrücklichen  Gegensatz  zu  Descartes  das  Herz  als  den  Haupt- 
sitz  der  Leidenschaften  fest') 

1)  Gf.  p.  37  dieser  Arbeit 

*)  Gharma  et  Mancel  I  p.  2S4.  Proposition  que  le  professeur  ne  doit 
plns  avancer:  tres  in  ea  distingnimus  facaltates,  intellectum  rationalem, 
▼olnntatem  vere  activam,  et  censum  vere  passivum.  On  ne  parle  point 
U  de  paissance  poor  monvoir. 

*)  Gf.  Journal  de  Tr^voux  1709  p.  614.  Si  M.  Descartes  avait  su  que 
Ton  tronve  quelques  fois  la  glande  pinSale  absc^d^e  ou  sqnirrease  dans 
des  Sujets  dont  le  raisonnement  n'a  Jamals  6t6  affaibli,  11  n'aurait  eu  garde 
de  choisir  cette  glande  ponr  y  ^tablir  le  siöge  de  Farne.  On  doit  blen 
augnrer  d'on  Systeme  de  physique  qui  ne  doit  dtre  6tabli  que  sur  des 
d^monstrations  anatomiques  qu'il  n'est  pas  permis  de  r^voqaer  en  doute. 

8* 


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86 

Was  die  Ideen  anbetrifft,  so  yerwirft  er  die  Bildertheorie 
der  Peripatetiker  ebensogut  wie  die  Vision  en  Dien^  ni^d  die 
Erkenntnis  der  Dinge  an  sich.  ,,L'äme,  k  proprement  parier, 
ne  eonuatt,  ne  voit  qae  soi-m6me;  et  tont  ce  qn'elle  connait, 
nW  eonnn  d'elle  qae  par  Timpression  qu'il  fait  snr  eUe.*  Die 
Ideen  erklärt  Tonrnemine  ebenfalls  aus  der  Verbindung  heraus 
dnrch  einen  Schlafs  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache;  indem 
die  Seele  ihr  Wesen,  ihre  Eigenschaften,  ihre  Veränderangeo 
erkennt,  erkennt  sie  die  verschiedenen  Ursachen  aller  dieser 
Wirkungen  in  den  Wirkungen  selbst,  d.  h.  in  sich,  in  ihrer 
jeweiligen  Affektion  und  zwar  im  Verhältnis  ihrer  Aufmerksam- 
keit. Er  tritt,  wie  schon  früher  erwähnt,  >)  fttr  die  angeborenen 
Ideen  des  Selbstbewufstseins,  der  darin  eingeschlossenen  Idee 
von  Gott  und  der  Vollkommenheit  ein.  Er  gibt  auch  bedingungs- 
weise eine  klare  Erkenntnis  dieser  Ideen  zo. 

Die  Idee  eines  Körpers  ist  nichts  anderes  als  die  wahrge- 
nommene Beziehung  zwischen  der  Hemmung  oder  der  Leichtig- 
keit, welche  die  Seele  in  ihrer  Wirkung  auf  den  Körper  findet 
und  der  Ursache  dieser  Hemmung  oder  Leichtigkeit  Geister 
kann  die  Seele  in  diesem  Leben  nur  mit  Hilfe  der  Körper 
erkennen.^)  Zu  den  angeborenen  Ideen,  den  Ideen  aus  der 
stetigen  Wirkung  der  Seele  auf  den  Körper,  und  den  Ideen 
aus  einer  unmittelbaren  und  aufsergewöhnlichen  Einwirkung 
Gottes  treten  hinzu  diejenigen  aus  den  freien,  vom  Willen  ab- 
hängigen Bewegungen,  welche  die  Seele  den  unendlich  zarten 
Organen  des  Gehirns  mitteilt.  Wenn  sie  dabei  diesen  Organen 
durch  eine  freie  Bewegung  dieselbe  Lage  gibt,  die  sie  gelegent- 
lich dieser  Ideen  bereits  früher  hatten,  so  sprechen  wir  von 
Gedächtnis.«) 

Ans  der  Verschiedenheit  der  Organe  des  Gehirns  erklärt 
Tonrnemine  die  verschiedenen  Eigenschaften  des  Geistes,  anf 
die  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden  soll,  weil  Tonrnemine 


0  Gf.  p.  25  dieser  Arbeit 

«)  Ibid.  14. 

*)  Gf.  Malebranche  Rech.  1.  ni,  pari.  11,  eh.  7.  II  y  manifeste  qoe 
noas  ne  les  connaissons  qae  par  conjectore  . . .  mais  lorsque  le  oorps 
a  quelqae  part  k  ce  qui  se  passe  en  moi,  Je  me  trompe  presque  tonjonrs, 
si  je  jnge  des  autres  par  moi-mSme.    Entret.  sur  la  M^taphys.  VI,  3. 

*)  Gf.  Malebranche,  Rech.  eh.  5. 


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87 

selbst  sagt,  dafs  in  den  anderen  Systemen  eine  ähnliche  Er- 
klärung möglich  sei.^) 

Die  zahlreichen,  in  vielfachen  Punkten  ttbereinstimmenden 
Einwendnngen  gegen  den  Artikel  Tournemines,  die  mit  seinen 
Antworten  veröffentlicht  wurden,  sind  hier  nur  insofern  berück- 
sichtigt, als  sie  cartesianische  Anschauungen  gegen  den  Jesuiten 
ins  Feld  führen. 

Ein  ungenannter  Gegner  —  er  wird  im  Journal  als  Freund 
eines  Abb6  de  Belmont^)  eingeführt  —  ist  offenbar  Cartesianer. 
Er  betont  die  scharfe  Trennung  der  geschaffenen  Substanzen, 
die  eine  Wirkung  der  Seele  auf  den  Körper  ebenso  unmöglich 
mache,  wie  die  von  Toumemine  zugegebene  Wirkung  des 
Körpers  auf  die  Seele  es  sei.  Infolgedessen  operiere  Tourne- 
mine  in  seinem  ganzen  System  mit  der  zu  lösenden  Schwierig- 
keit als  einem  Hauptfaktor  und  könne  nicht  überzeugen.  Die 
Verbindung  sei  letzten  Grundes  ein  Geheimnis  und  die  beste 
Lösung  eine  Vermittelung  durch  den  Willen  Gottes,  der  die 
Vereinigung  zu  einem  Gesetz  erhoben  habe.') 

Demgegenüber  weist  Toumemine^)  vor  allem  den  Vorwurf 
der  petitio  principii  zurück.  Die  Verschiedenheit  der  Substanzen 
schliefst  die  behauptete  Einwirkung  der  Seele  auf  den  Körper 
nicht  aus.  Das  beweise  die  von  den  Gartesianem  selbst  heran- 
gezogene Wirkung  Gottes  auf  den  Körper.  Die  Unendlichkeit 
hebe  die  Verschiedenheit  der  Substanzen  nicht  auf.  Wenn  nur 
ein  Körper  auf  Körper  wirken  könne,  so  könne  ein  unendlicher 
Geist  auch  nicht  auf  Körper  wirken.^)  Er  habe  die  Wirkung 
des  Körpers  auf  die  Seele  verneint,  weil  derselbe  nur  eine  Tätig- 
keitsart, nämlich  den  Stofs,  habe,  also  die  Seele  nicht  bewegen 
könne.  Dieser  als  einer  von  Natur  ganz  aktiven  Substanz 
müsse  vielmehr  neben  ihren  bereits  verschiedeneu  Tätigkeits- 
arten  des  Denkens  und  WoUens  die  dritte  der  Bewegung  des 


0  Cf.  a.  a.  Rech.  1.  U  pari  I  eh.  1. 

*)  Joumal  de  Tr6voax  1703  septembre  p.  1661  ff. 

*)  Dieselbe  Ansicht  vertritt  M.  l'Abbd  Languet  de  Montigny,  Journal 
de  Tr6voux  1708  IV  p.  1S52. 

*)  Journal  de  Tr^voux  1703  octobre  p.  1S60. 

*)  Dasselbe  Argument  finden  wir  in  Buffier  S.  J^  Les  principes  du 
raisonnement.  Cf.  Joumal  de  Trövonx  1714  septembre  p.  1550ff.;  cf.  p.  23 
dieser  Arbeit, 


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Körpers  znerkannt  werden,  da  dieselbe  nieht  darch  einen  EOrper 
beginnen  könne.  Es  ist  also  eine  Eigenschaft  des  Geistes,  auf 
den  Körper  zu  wirken,  und  der  Körper  seinerseits  ist  für  die 
Tätigkeit  des  Geistes  empfänglieb.  Dem  cartesianischen  Ein- 
wand gegenüber,  dalB  das  Vermögen  zu  bewegen  keineswegs 
in  der  Idee  der  Seele  enthalten  sei,i)  beruft  er  sich  anf  die  Er- 
fahrung: „L'expörience  vous  apprend  qne  l'äme  agit  sur  le  Corps 
comme  eile  vous  apprend  qne  vous  pensez,  que  vous  yonlez.'' 
Im  Namen  aller  Forscher  weist  Tournemine  die  YermitÜang 
durch  die  Gottheit  zurück  als  „un  expödient  commode*,  das 
alle  Forscherarbeit  unnötig  mache. 

Dafs  man  das  System  des  P.  Tournemine  als  eine  Wider- 
legung der  cartesianischen  Auffassung  angesehen  wissen  wollte, 
geht  aus  folgenden  Zeilen  hervor,  die  in  dem  Bericht  Aber 
eine  Analyse  der  Philosophie  Descartes'  von  Parent  zu  lesen 
sind:  „Une  piöce  qne  nous  avons  ins6räe  ...  sur  runion  de 
Täme  et  du  corps  röfute  tont  ce  que  dit  ici  M.  Parent  sor  le 
m§me  sujet^^)  Die  einfachste  Ablehnung  der  cartesianischen 
Theorie  finden  wir  im  Journal  de  TrÄvoux,  janvier  1707  (p.  45): 
„Ne  connaissant  donc  clairement  ni  la  substance  du  corps,  ni 
mSme  Celle  de  l'äme,  comment  peut-il  assurer  qu'ii  est  im- 
possible  que  ces  deux  substances  agissent  l'une  sur  Tautre.'' 

Über  den  in  dieser  Arbeit  behandelten  Zeitabschnitt  hin- 
ausgreifend,  finde  ich  im  Dezember  1730  einen  «Essai  sur  l'union 
de  Tarne  et  du  corps"  von  einem  Jesuiten  P.  Sarrabat*) 

Derselbe  will  eine  notwendige  Verbindung  zwischen  Körper 
und  Seele  aus  einer  „Analyse  der  Modifikationen  der  Seele'' 
gewinnen.  Im  Denken  und  Wollen  findet  er  dieselbe  nicht,  da 
beide  keine  wesentliche,  unmittelbare  Beziehung  zu  irgend 
einem  existierenden  Körper  enthalten.  „La  pensäe  meme  que 
j'ai  du  Corps  peut  6tre  sans  qull  en  existe  aucun.*  Nach  dieser 
cartesianischen  Behauptung  fährt  er  fort  als  echter  Sensualist, 


*)  Cf.  Journal  de  Tr6voux  1703  111  p.  1064. 

')  Journal  de  Trövoux  1703  Ul  p.  1108.  1741  liefii  ehi  Professor  der 
Logik  an  der  Universität  Freiburg  i.  B.,  der  Jesuit  Daniel  Stadler  folgende 
Schrift  erscheinen:  Commercium  fnter  corpus  et  animam  potissimnm  joxta 
mentem  R  P.  Tournemine  S.  J.  explicatum.    Gf.  Sommervogel  I  p.  28. 

>)  Journal  de  Tr^voux  1730  IV  p.  2201.  Lettre  du  R.  P.  Sarrabat 
J^suite  au  R.  P.  Castel. 


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welcher  der  SinneswahmehmaDg  als  solcher  nnmittelbare  Wahr- 
heit znschreibt  und  in  ihr  die  gesuchte  wesentliche  und  un- 
mittelbare Beziehung  zu  existierenden  EOrpem  findet  «In  den 
Sinnesempfindnngen,  im  Sehen,  Hören  usw.,  nimmt  die  Seele 
die  Beziehung  wahr,  welche  die  körperlichen  Objekte  mit  einem 
gewissen  anderen  Körper  haben,  den  sie  ihm  zu  innerst 
als  gegenwärtig  darstellen.^  Aufser  diesen  universellen  Be- 
ziehungen der  Sensationen  mit  dem  Körper  im  allgemeinen, 
gibt  es  besondere  mit  seinen  verschiedenen  Organen,  aus 
welcher  die  Unterscheidungsmöglichkeit  der  einzelnen  Sinnes- 
wahrnehmungen resultiert:  „Seele  und  Körper  sind  also  nicht 
so  ungleiche  Substanzen,  wie  die  moderne  Philosophie  hat 
behaupten  wollen.''  «L'union  de  Täme  et  du  corps  ne 
consiste  quo  dans  la  Sensation  actuelle.'' 


Kapitel  IV. 


Descartes  führt  für  das  Dasein  der  Körperwelt  Beweise, 
welche  zeigep,  dafs  das  eigentliche  Problem  der  Realität  der 
Aufsenwelt  für  ihn  noch  vollkommen  fehlt  Aber  indem  er 
seinen  ontologischen  Beweis  entwickelt,  ist  das  Dasein  der 
Körperwelt  nicht  mehr  als  unmittelbar  sicher  gesetzt.^) 

Für  Haiebranche,  der  keine  Kausalität  zwischen  physischer 
und  psychischer  Welt  bestehen  läfst,  bleibt  nur  der  Begriff 
Gottes  übrig,  um  die  reale  Existenz  der  Körper  zu  begründen. 
Er  hält  es  für  unmöglich,  einen  rationalen  Beweis  zu  geben, 
da  sich  kein  notwendiger  Zusammenhang  nachweisen  läfst 
zwischen  der  Vorstellung  der  Idee,  die  in  Gott  ist,  und  der 
Existenz  eines  entsprechenden  Dinges.^)  Nur  der  Glaube  kann 
uns  hier  absolute  Sicherheit  geben.  Der  Zweifel  an  der  Existenz 
der  Auisenwelt  ist  nach  ihm  zwar  unbegründet,')  läfst  sich 
aber  wissenschaftlich  nicht  widerlegen. 


1)  Descartes,  M6dit  VI,  4.    Gf.  Discours  IV  6d.  Cousin  I  p.  114. 
*)  Cf.  Malebrsnche,  Entret  m6taph.  VI;  I,  5;  Eclairciss.  VI;  Rech.  1. 1 
cb.  10;  Trait^  de  morale  I  eh.  I,  5. 
•)  ELtret  VI,  7. 


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40 

«Malebranehe  nnd  seine  Anhänger  hatten  das  ideaUstiselie 
Problem  in  Flnls  gebracht/ 1)  Das  Journal  de  Trävonx  bringt  im 
November  1704  den  ersten  eingehenden  Artikel  zn  der  Frage.^) 
Es  ist  eine  Widerlegung  der  cartesianisehen  Ansicht,  naefa 
welcher  das  Dasein  der  räumlichen  Aufsenwelt  nicht  als  un- 
mittelbar gewifs  gilt  und  erst  auf  mittelbare  Weise  bewiesen 
werden  mufs.  Nach  einer  resümierenden  Darlegung  der 
Fragestellung  und  ihrer  Lösung,  die  sich  auf  die  6.  Meditation 
Descartes'  gründet,  werden  die  Vertreter  .dieser  seltsamsten 
aller  Paradoxen*^  darauf  verwiesen,  dals  sie  damit  den  Pyrrho- 
nismus  wieder  herstellten,  da  sie  von  den  Qrundprinxipien  ihrer 
Philosophie  nur  das  Gogito  ergo  sum  gegen  einen  Skeptik» 
aufrecht  erhalten  könnten.  Mit  dem  Beweis  von  der  Existeia 
der  Seele  seien  sie  am  Ende  ihrer  Erkenntnis  angelangt,  denn 
alle  weitere  hänge  an  dem  Beweis  vom  Dasein  Gottes.  Derselbe 
setze  aber  den  Nachweis  voraus,  dafs  die  Idee  von  Gott  kein 
Traum  sei,  dafs  ich,  der  ich  über  die  Frage  nachdenke,  nicht 
tatsächlich  träume.  Es  sei  unmöglich,  dafUr  ein  Argument  zu 
erbringen,  das  mich  nicht  zugleich  von  der  Existenz  meines 
Körpers  überzeuge.  Der  so  von  den  Skeptikern  in  die  Enge 
getriebene  Cartesianer  würde  darauf  ohne  Zweifel  seine  Zuflaeht 
zu  der  „unmittelbaren  Gewifsheit''  der  Schulphilosophie  nehmen: 
„II  mW  si  Evident,  dira-t-il,  que  je  veille  et  que  je  ne  dors 
pas  actuellement,  qu'il  ne  faut  point  de  preuve  pour  m'en  eon- 
vaincre  et  qu'il  ne  m'est  pas  meme  libre  d'en  douter.*  Diese 
Antwort  genüge  aber,  um  seine  Zweifel  an  der  Existenz  der 
Körper  zu  zerstören,  denn  es  ist  mir  ebenso  evident,  dals  ich 
schreibe,  spreche,  gehe,  wie  es  mir  klar  ist,  dafs  ich  wache.') 

Der  cartesianische  Hinweis  auf  die  geringe  Wahrhaftigkeit 
unserer  äufseren  und  inneren  Sinne  sei  nicht  stichhaltig. <) 
Wenn  Menschen  mit  einem  amputierten  Glied  zuweilen  noch 
die  Empfindungen  desselben  haben,  so  beruhe  das  auf  einer 


1)  Vaihinger  p.  95. 

*)  Journal  de  Tr6youx  1704  novembre  p.  1945—51:  B6flexions  aar  U 
question  si  l'ün  est  certain  d'avoir  un  corps  et  qu'il  y  alt  d'autres  eorps 
que  le  ndtre. 

»)  Cf.  Descutes  M6d.  VI. 

*)  Cf.  Descartcs  M^dit.  VI;  Malebranche,  Entret  m6taph.  VL 
Eclairciss.  VL 


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41 

wirklichen  and  nicht  illasorisehen  Ursache,  sei  es  auf  der  Er- 
innernng  an  die  vergangenen  Gefühle  mit  ihrer  langen  Gewohn- 
heit, sei  es  auf  der  Wirknng  von  Lnftreiznngen  an  dem  Ende 
der  noch  vorhandenen  Teile.  Das  stärkste  Argument  der 
Cartesianer  verweise  auf  Gott  als  die  mögliche  nnd  einzige 
Ursache  aller  der  Veränderungen  in  meiner  Seele,  die  ein 
Körper  dort  hervorbringen  würde.  «Gott  kann  ans  sich  nnd 
ohne  Hilfe  von  Geschöpfen  alles  tun,  was  diese  tun.*^  Mit 
diesem  Paralogismus  hätten  sie  viele  Köpfe  geblendet.  Sicher- 
lich könne  mir  Gott  viele  Dinge  vorstellen,  die  aufserhalb  ihres 
Yorgestelltwerdens  keine  Existenz  haben,  aber  dieser  anmittel- 
bare Eindruck  auf  unsere  Seele  sei  verschieden  von  dem  mittel- 
baren, den  Gott  dnrch  sekundäre  Ursachen  hervorrufe:  Jede 
Verschiedenheit  in  der  Ursache  trägt  eine  Veränderung  in  die 
Wirkung  hinein  1  Nach  diesem  unleugbaren  Prinzip  müssen 
sich  alle  durch  die  unmittelbare  Tätigkeit  Gottes  erzeugten 
Vorstellnngen  von  den  auf  wirklich  existierenden  Objekten 
beruhenden  Vorstellungen  unterscheiden.  Die  „aufmerksame 
Seele*  kann  diesen  Unterschied  erkennen.  Damit  sei  der  Macht 
Gottes  keine  andere  Schranke  gesetzt,  als  die,  welcher  sie 
bedürfe,  damit  Gott  ganz  vollkommen  sei.  Es  folge  daraus, 
dafs  Gott  das  intelligente  Geschöpf  nicht  täuschen  könne,  wenn 
es  sich  aller  von  Gott  verliehenen  Erleuchtungen  bediene. 

Diese  Reflexion,  deren  Kernpunkt  die  nachgewiesene  Un- 
möglichkeit ist,  eine  sichere  Unterscheidung  von  Träumen  und 
Wachen  zu  geben,  die  nicht  zugleich  die  Existenz  der  Körper  fest- 
stellt, findet  im  Juniheft  des  nächsten  Jahres  (1705)  ein  religiös 
orientiertes  Seitenstück.^)  Hier  wird  die  malebranchistische  Form 
des  problematischen  Idealismus  bekämpft,  wonach  das  Dasein 
der  räumlichen  Äufsenwelt  zweifelhaft  ist,  nnd  es  keine  Mög- 
lichkeit einer  wissenschaftlichen  Erkenntnis  derselben  gibt.  Der 
unbekannte  Verfasser,  der  im  Namen  der  Religion  und  des 
gesunden  Menschenverstandes  polemisiert,  erzählt,  dafs  es  Ein- 
wendungen 2)  seien,  welche  er  um  die  Zeit  des  Erscheinens  der 
Entretiens  mötaphysiques^)  durch  Vermittlung  eines  Freundes 

>)  Joum&l  de  Trövoax  1705  juin  p.  1058—70.   Lettre  k  an  des  anteurs 
des  M^moires  aar  le  deute  de  Pexistenee  des  corps. 
*)  Eclairciss.  VI  enthält  im  weBentlichen  dMselbe. 
*)  Die  erste  Auflage  erschien  1688,  die  zweite  Auflage  1696. 


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42 

und  ohne  sich  zu  nennen  an  Malebranehe  (er  sagt  „an  P/ 
ohne  Namensnennung)  geschickt  nnd  von  diesem  erhalten 
habeJ)  «Comme  j'ai  yn  qn'on  commen^ait  k  n^gtre  pas  tont 
k  fait  81  entgtä  de  eette  philosophie,  j'ai  cru  qn'on  ponvait  les 
faire  paraltre.*  Wer  dieser  Bekannte  des  P.  Malebranehe  (Je 
Tai  antrefois  beanconp  connn^)  gewesen  ist,  liefs  sich  nicht 
ermitteln,  trotz  folgenden  Fingerzeiges  der  Redaktion:  .Nons 
craignons  que  la  soliditö,  la  justesse  des  raisonnements  et  la 
dälieatesse  de  Fexpression  ne  d<§conyrent  malgr^  lui  Taateur, 
connn  da  public  par  d'aatres  onvragea  fort  CHtimös.'' 

Er  greift  diese  „Paradoxie'',  den  cartesianischen  Zweifel 
an  der  Existenz  der  Körperwelt,  an  als  einen  ^scandale  poor 
le  Ghristianisme:  il  sape  tons  les  fondements  de  la  retigion. 
Si  on  peut  donter  qnll  y  ait  des  corps,  on  pent  donter  de  la 
cr^ation  du  monde,  de  celle  d'Adam  et  de  sa  chnte,  de  Fexi- 
stence  des  prophötes  et  de  J6sas- Christ,  enfin  de  celle  des 
Apötres  et  des  ^critures.  Äprös  cela,  snr  quoi  sera  fondöe  la 
Religion?*  Er  sacht  den  Gartesianem  za  beweisen,  dals  sie 
sich  trotz  ihrer  Bemtthnngen  vor  den  «fächenx  inconyönients* 
ihres  Zweifels  nicht  retten  können.  Wenn  dio  Gartesianer  der 
Religion  moralische  Beweise  für  die  tatsächliche  Existenz  der 
Körper  als  eine  hinlängliche  Sicherheit  bieten,  so  yergessen 
sie,  dafs  ihr  eigenes  Sjetem  die  metaphysischen  Wahrheiten 
nnr  beweist,  am  die  moralischen  zn  begründen,  so  dafs  alle 
moralische  Gewif sheit  nar  aaf  der  metaphysischen  bemht  Die 
Eyidenz  als  ein  cartesianisches  Kriterinm  der  Wahrheit  liegt 
nnr  in  den  metaphysischen  Beweisen,  die  eben  yon  der  Existenz 
der  Körper  angeblieh  nicht  gegeben  werden  können.  Es  wird 
also  yerlangt,  dafs  ich  den  Glaaben  wie  ein  grandloses  Gebäude 
aufrichte.  —  Ebensowenig  stichhaltig  wie  der  Hinweis  auf  die 
Ungefährlichkeit  dieses  Zweifels  sei  die  Behauptung,  für  den 
Glauben  genüge  unsere  Sensation  yon  Körpern.  Die  Be- 
gründung des  P.  Malebranehe  wird  resümiert:  Indem  ieh  den- 
selben Regeln  folge,  welche  mich  bei  Voraussetzung  yon  Körpern 
yeranlafsten,  an  das  Eyangelium  zu  glauben,  werde  ich  auch 


^)  Es  yerdient  bemerkt  zu  werden,  dafs  im  ganzen  VerUmf  des 
Artikels  auch  bei  so  spezifisch  malebranchistischen  Lehren  wie  die  Ideen- 
theorie  nur  yon  Gartesianem  im  allgemeinen  gesprochen  wird. 


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43 

ohne  diese  Voraassetzang  doch  dahin  geführt  zn  glauben,  dafs 
alles,  was  das  EvaDgeliam  lehrt,  wahr  ist.  Nun'  lehrt  mich 
,^die  ErseheinaDg  des  EvaDgelinms^,  dafs  Gott  Himmel  nnd 
Erde  geschaffen  hat.  Es  gibt  also  Körper.  So  hebt  der  Glanbe 
die  Zweifel,  nnd  die  ErscheinuDgen  von  EOrpern  werden 
Realitäten.  1)  Abgesehen  davon,  dafs  die  Regel,  die  mich  zam 
Glanben  an  das  Evangelinm  führt,  znr  reinen  Illasion  werden 
müsse  fttr  den,  der  an  der  Realität  dieses  Baches  zweifelt,  so 
könnten  die  Cartesianer  aus  dem  „Schein  des  Evangeliums" 
doch  auch  nur  auf  den  „Schein  von  Wahrheit'*  nnd  niemals 
auf  eine  Realität  schliefsen. 

Der  cartesianischen  Forderung  eines  metaphysischen  Be- 
weises stellt  auch  dieser  Gegner  die  unmittelbare  Gewifsheit 
gegenüber.^)  ,G'est  comme  si  on  me  demandait  que  je  prou- 
vasse  qu'il  fit  jour  lorsqu'il  est  midi  ....  Ges  Messieurs  . . . 
ont  trop  d'esprit  pour  se  contenter  de  cefte  ävidence.'^) 

Der  Beweis  aus  der  Sinnesempfindung  aber  ist  flir  ihn  so 
überzeugend  wie  der  Beweis  Gottes  aus  seiner  Idee.  .Sentir 
c'est  apercevoir  par  le  Corps.  "^  Aus  der  Wahrnehmung  durch 
den  Körper,  schliefse  ich  auf  die  Existenz  derselben,  weil  die 
Idee  dieser  Wahrnehmung  die  Körper  einschliefst.  4)  Auch  die 
Traamhypothese  kann  hier  nur  ein  Beweis  fttr  die  Existenz 
sein,  denn  ich  träume  nur,  weil  ich  einen  Körper  und  in  diesem 
gewisse  Bilder  von  anderen  Körpern  habe.  Die  Antwort,  dafs 
die  Sensation  nicht  den  Körper,  sondern  seine  Idee  einsehliefse, 
wird  aus  zwei  Gründen  fttr  offenkundig  illusorisch  erklärt. 
Erstens,  weil  die  Idee  die  Seele  nicht  afSzieren  könne;  zweitens, 
weil  damit  die  Intellektion  mit  der  Sensation  verwechselt  werde. 
Das  reine  Denken  habe  die  Idee  der  Körper,  mit  der  sich  die 
Mathematik  beschäftigt,  zum  Gegenstand,  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung aber  die  Körper  selbst 

Die  Kausalität  zwischen  Körper  und  Seele  aufheben  und 
in  Gott  verlegen,  ist  fttr  den  Verfasser  eine  willkürliche  An- 
nahme, denn  wir  können  weder  vom  Geist  noch  von  der  Materie 


0  Gf.  Malebranche,  Eclairciss.  VI. 

')  Cf.  p.  40  dieser  Arbeit 

•)  Ibid.  und  p.  39. 

*)  Cf  Malebranche,  Eclairciss.  VI. 


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44 

eine  klare  Idee  haben.  0  Da  die  Cartesianer  eine  solche  in 
bezng  anf  den  Geist  verneinen,  beleuchteten  sie  damit  nnr  um 
so  schärfer  ihre  Inkonsequenz.  Es  genüge,  einen  der  Haupt- 
teile  einer  Maschine  nicht  zu  kennen,  um  keine  Rechensebaft 
über  die  Bewegungen  dieser  Maschine  geben  zu  können.  Ihren 
Zweifel  wissen  die  Cartesianer  in  folgenden  schönen  Vorwand 
zu  kleiden:  „CTest  nne  excellente  disposition  d'esprit  d'Stre  plus 
persuad^  de  Texistence  et  de  la  prösence  de  Dieu  que  de  oelle 
des  Corps.""  Zahlreiche  andere  Philosophen  aber  kennen  keine 
bessere  Richtung  des  Geistes  als  zu  urteilen,  wie  die  Propheten 
und  Apostel  geurteilt  haben  1  Zum  Schluls  wird  die  Nutz- 
losigkeit und  Unfruchtbarkeit^)  ähnlich  gezwungener  und  weit- 
schweifiger Erwägungen  betont:  ,0n  ne  gagne  pas  le  coeur  en 
fatiguant  resprit.*"  Es  müsse  jeden  Menschen  empören,  wenn 
man  ihm  einreden,  wollte,  dafs  er  nicht  wirklich  das  sieht, 
was  nach  seiner  festen  Überzeugung  nicht  nur  von  ihm  selbst, 
sondern  auch  von  allen  andern  wahrgenommen  wird. 

Es  sind  nicht  solche  eingehenden  Widerlegungen  des 
Zweifels  an  der  Realität  der  Aufsenwelt,  die  den  M^moires  de 
Trövoux  eine  besondere  Stellung  in  der  Frage  des  Idealismus 
eingeräumt  haben.  Diese  Ehre  verdanken  sie  einer  kleinen 
unbewiesenen  Erzählung,  die  mit  anscheinender  Harmlosigkeit 
an  einer  wenig  auffälligen  Stelle  der  Zeitschrift  steht  Es 
handelt  sich  um  die  Ankündigung  des  Buches  von  Berkeley 
„Traitä  des  principes  de  la  connoissance  de  Fhomme,  premiöre 
partie  .  .  .  ."  im  Mai  1713*)  unter  den  üblichen  Noavelles 
littöraires,  die  am  Schlufs  eines  jeden  Heftes  die  Ken- 
erscheinungen des  In-  und  Auslandes  anzuzeigen  pflegten: 

De  Dublin. 

„Mr.  Berkley  (sie),  Malbranchiste  de  bonne  foi,  k  pousse 

Sans  m^nagement  les  principes  de  sa  secte  fort  au  delä  du  sens 

commun,  et  il  en  a  conclu,  qull  n'y  a  ni  corps,  ni  matiöre,  et 

que  les  esprits  seuls  existent 


1)  Gf.  p.  21  Anm.  5  dieser  Arbeit. 
«)  Cf.  Malebranche,  Eclairciss.  VI. 
')  Journal  de  Tr6voux  1713  mal  p.  921. 


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45 

Un  de  noiiB  oonnalt  dans  Paris  an  Malbranohiste  qai  va  plns 
loin  qne  Mr.  Berkley,  il  lai  a  soutenn  fort  sörieasement  dans 
nne  loDgae  dispute,  qn'il  est  trös  probable,  qn'il  soit  le  senl 
gtre  0x66  qai  existe  et  qae  neu  sealement  il  n'y  ait  point  de 
eorps,  mais  qa'il  n'y  ait  point  d'aatre  esprit  erii  qae  lai;  e'est 
k  ceox  qai  eroient  qae  nous  ne  voyans  qu'un  monde  intelligibk 
ä  proaver  qa'on  porte  trop  loin  lenrs  principes.'^ 

Obschon  die  Bestimmangen  hier  keineswegs  so  sind,  dafs 
man  aaf  eine  Sekte  von  Malebranehisten  schliefsen  dürfte,  die 
den  Idealismus  bis  zam  Solipsismas  (Egoismus)  steigerten,  haben 
sieh  nichtsdestoweniger  die  Historiker  der  Philosophie  im 
18.  und  noch  im  19.  Jahrhundert  auf  diese  Stelle  berufen,  um 
die  tatsächliche  Existenz  einer  solchen  historisch  zu  belegen. 
Speziell  in  Deutschland  haben  die  Jesuiten  mit  ihrer  Erzählung 
bald  Erfolg  gehabt 

Bereits  im  Jahre  1719  erwähnt  Wolf  (Vernünftige  Ge- 
danken von  Oott  1.  Aufl.  §  2,  §  944)  schon  die  «allerseltzsamste 
Seete  der  Egoisten,  die  vor  weniger  Zeit  in  Paris  entstanden*. 
Kurze  Zeit  darauf,  1722,  hielt  der  Tübinger  Kanzler  Chr. 
Math.  Pfaff  eine  «Oratio  de  Egoismo  nova  Philosophica 
Haeresi',  in  welcher  es  zum  Schlufs  heifst:  „Et  primum  qui- 
dem  observamus,  Egoistas  libris  editis  sententiam  suam  nondum 
exposuisse.  Malebranchistarum  illa  species  est,  qnae  per 
traditionem  saltem  sua  propagat.  Nee  est  quidquam  hactenus, 
quod  de  Egoistis  legerimus,  nisi*  und  da  zitiert  er  die  Stelle 
ans  den  «M^moires  de  Tröveux**.^) 

Welche  Übertreibungen  die  Überlieferung  zeitigte,  veran- 
schaulicht am  besten  Hennings  in  seiner  «Geschichte  von  den 
Seelen  der  Menschen  und  Tiere''  (Halle  1774  p.  144ff.).2)  «Man 
hat  zwar  sehr  gezweifelt,  ob  dergleichen  Egoisten  in  der  Welt 
vorhanden  gewesen,  dennoch  finden  sich  in  den  Mömoires  de 
Trövoux  (1718)  verschiedene  Erzählungen  von  solchen 
Menschen.' 

Lange  in  seiner  Geschichte  des  Materialismus').und  Hamil- 
ton in  seiner  Ausgabe  von  Reids  Werken  (p.  269,  293)  verweisen 


1}  Vaibinger  p.  93  ff.  *)  Janitsch  p.  53. 

*)  Lange  I  p.  '220,  Anm.  63.     Er  weist  darauf  hin,  dais  der  Male- 
branchiat  .ohne  Nennung  des  Namens"  erwähnt  wird. 


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46 

ebenfalls  anf  das  Journal  de  Trävonx,  doch  hat  schon  letzterer 
„mit  Recht  die  Existenz  solcher  Egoisten  in  das  Gebiet  des 
Mythus  getan **•  Janitsch  0  endlich  nennt  in  seiner  Dissertation 
«Kants  Urteile  ttber  Berkeley'  die  Erzählung  „von  so  frag- 
würdigem Charakter,  dafs  schon  ein  starker  Glaube  an  die  sn 
bestätigende  Tatsache  dazu  gehörte,  sie  in  Hennings  Sinne  za 
verwerten '.  Dieselbe  Auffassung  hält  J.KErdmann  fiir  m6g- 
lich,2)  Vaihinger  teilt  sie  unbedingt')  Er  glaubt  an  jesnitiscbe 
Verleumdung:  „Was  bei  Cartesius  und  den  Gartesianem  ncr 
methodische  Fiktion  für  den  Anfang  des  Philosophierens  war  — 
die  alleinige  Existenz  des  selbstgewissen  Ich  auf  Grund  des 
Gogito  ergo  sum  —  das  verwandelten  die  Gegner  in  eine 
systematische  Behauptung  und  erdichteten  die  Existenz  solcher 
,Egoisten'.^ 

Ist  dem  sens  commun  der  Jesuiten  schon  an  und  für  sieh 
die  SteigeruLg  des  eartesianischen  Grandprinzips  zum  Solipsis- 
mus nicht  ohne  weiteres  zuzutrauen,  so  erscheint  es  doch  auch 
weiterhin  verwunderlich,  dafs  sie  gerade  im  Jahre  1713  nach 
jahrzehntelaagem  Kampfe  gegen  den  Gartesianismus  darauf 
verfallen  sein  sollen.  Es  ist  durchaus  möglich  und  wahrschein- 
lich, dals  sie  dem  problematisch  ausgesprochenen  Egoismus 
auf  cartesianisehem  Boden  begegnet  sind,  so  wie  er  sieh  z.  B. 
in  dem  posthum  veröffentlichten  zweiten  Teil  des  Jugendwerkes 
von  F6nelon  «Dämonstration  de  Fexistence  de  Dieu'^)  findet: 
«Non  seulement  tous  ces  corps  qu'il  me  semble  apereevoir  tant 
le  mien  que  les  autres,  mais  encore  tous  les  esprits  qui  me 
paraissent  en  Bodiii  avee  moi  .  .  .  tous  ces  Stres  .  .  .  peuvent 
n'avoir  rien  de  röel  et  n'Stre  qu'une  pure  Illusion  qui  ge  passe 
tonte  entiöre  en  dedans  de  moi  seul:  peut-etre  suis -je  moi 
seul  tonte  la  nature/^) 

In  Verbindung  mit  der  kurzen  Notiz  über  den  immateriellen 
Spiritualismus  Berkeleys,  der  gleich  zu  Anfang  als  überzeugter 


^)  Janitsch  p.  55. 
s)  Erdmuiii  1896  II  p.  48. 
•)  Ibid.  p.  03. 

*)  et  p.  28  f.  dieser  Arbeit. 

*)  Föneion  Oeuvres  phiiosophiques  ou  dömonstration  de  IVxisteiice 
de  Dieu  ....  Ed.  nouvelle  Amsterdam  1721  p.  181. 


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47 

Malebranchist  vorgestellt  wird,  wirkt  sie  gleichsam  wie^eine 
beigefügte  Illnstration  der  letzten  Mögliehkeiten  des  Idealismas, 
woblgeeignet,  denselben  läeherlich  zu  machen  oder  vor  ihm 
zu  warnen,  je  nach  Veranlagung  des  Lesers.  Berkeley,  der 
sMalebranchiste  de  bonne  foi*,  nnd  der  angebliche  Solipsist 
aas  der  gleichen  Sekte  sind  lebendige  Zeugen  für  die  ebenso 
gefährliche  als  absurde  Philosophie  des  P.  Malebranche.  Dieser 
wird  yerantwortlich  gemacht:  „Cest  k  ceux  qui  croient  que 
nous  ne  voyons  qu'un  monde  intelligible  ä  prouver  qu'on  porte 
trop  loin  leurs  principes."  In  frivoler  Art  finden  wir  das  einige 
Monate  später  wiederholt  (d^cembre  1713  p.2198):  Mr.  Berkley 
n'a-t-il  pas  fait  un  hon  usage  de  ses  möditations  et  de  son 
attention  ä  la  raison  universelle?' 0 

Kritik  und  Erzählung  sind  tendenziös. 

Die  Erzählung  erscheint  in  einer  Zeit  erbitterten  Kampfes 
gegen  Malebranche  im  Innern  des  Ordens.  2)  Andrä  schreibt 
am  25.  April  desselben  Jahres  an  seinen  Meister:  „Le  mal 
augmente  tous  les  jours.  Les  amateurs  de  la  Väritö  sont  flötris 
et  persöcutös;  ses  ennemis  triomphent  et  envoient  de  tous  cötös 
les  Berits  injurieux  qu'ils  fönt  ou  qu'ils  fönt  faire  contre  eile  et 
contre  ses  döfenseurs:  on  la  rend  suspecte  et  on  les  rend 
odieux.""^)  In  eben  diesen  Monaten  schreibt  der  Redakteur 
Tournemine  sein  bereits  erwähntes  Vorwort^)  zu  der  2.  Auflage 
des  Baches  von  Fönelon.  Vielleicht  hielt  er  gerade  jetzt 
auch  ein  Gegengift  in  dem  weitverbreiteten  Journal  fttr  an- 
gebracht 

Rahmen  und  Zeit  der  unbewiesenen  Erzählung  geben 
berechtigtes  Mifstrauen  gegen  ihre  Glaubwürdigkeit 


0  Cf.  p.  28  dieser  Arbeit 
s)  Cf.  Einleitung  dieser  Arbeit 
*)  ChArma  et  Mancel  I  p.  74. 
')  Cf.  p.  29  dieser  Arbeit 


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48 


Kapitel  V. 

„Toat  le  monde  sait  qne  le  nouvean  systöme  des  Cart^iens 
les  ODgage  h  sontenir  diverses  opinions  qu'il  est  diffieile 
d'accorder  avee  les  mystöres  de  la  Religion/  Diesen  bekannfeD 
theologischen  Vorwarf  gegen  den  Gartesianismos^)  finden  wir 
im  Jonrnal  de  Trövoax  (17U6  p.  277)  in  einer  änfserst  lobenden 
Kritik  der  Philosophia  universalis  von  Dnhamel,^)  der  seine 
Lehrbücher  im  Sinne  der  scholastischen  Peripatetiker  fflr  die- 
jenigen schrieb,  „qai  ne  regardent  la  philosophie  qne  eomme 
nne  pröparation  ä  la  Theologie*.  Im  Änschlnis  daran  wird 
die  religiöse  Gefahr  im  Gartesianismus  schärfer  belenchtet  dnreh 
die  Anfzählnng  der  fdnf  Thesen,  welche  von  der  theologischeD 
Fakultät  zu  Lonvain  anf  Betreiben  der  Gesellschaft  Jesu  ver- 
urteilt wurden')  und  durch  einen  Hinweis  darauf,  dafs  es 
Sr.  Majestät  immer  sehr  am  Herzen  gelegen  habe,  die  Philo- 
sophie Descartes'  aus  den  Schulen  zu  verbannen.  Die  Vorsiefats- 
mafsregeln,  welche  die  Universitäten  von  Paris,  Angers  und  Cafn, 
die  Benediktiner  von  St  Maure  und  die  regulierten  Chorherren 
ergriffen  hätten,  damit  keines  ihrer  Mitglieder  diese  Philosophie 
lehre,  seien  ein  weiterer  Beweis  fUr  die  Schädlichkeit  derselben. 

In  den  einschlägigen  Artikeln  der  polemischen  Theologie 
des  Journals  sucht  man  vergeblich  nach  positivem  Material. 
Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Transsubstantiation  unter 
oartesianischen  Voraussetzungen,  die  von  den  Theologen  be- 
stritten, von  Descartes  aber  behauptet  worden  war,  hat  die 
Zeit   stark   interessiert.     Von  Descartes^)  bis  Malebranche ^) 


0  Gf.  Cbarma  p.  291:  „Le  F.  Malebrancbe  adopte,  et  agg^ave,  tont 
ce  qu'il  y  a  d'erronö  en  mati^re  de  religion  dans  le  cart^stanisme:  U  y 
ajoute  an  grand  nombre  d'autres  erreurs  . . .  ancuD  thöologien  savant  et 
orthodoxe  ne  peut  e^rcuser  cet  ^crivain,  que  sur  son  extreme  ignonoce 
en  tont  ce  qni  regarde  Pilcriture  et  la  tradition.  V6ritableinent  eile  v»  u 
loin  que  poar  cet  auteur  citer  an  pasRage  de  l'Ecriture  oa  an  endroit  des 
P^res,  et  le  prendre  4  contre-sens,  c'est  4  peu  prös  la  m^me  chose." 

s)  Gf.  Andr6  p.  223;  Gharma  I  p.  56  Anm.  6. 

•)  Gf.  Einleitung  dieser  Arbeit  p.  1. 

*)  Gf.  Descartes,  R^ponse  aux  IV««  Objections,  6d.  Goosin  11  p  79. 

'^)  Gf.  Malebranche,  Memoire  pour  expliquer  la  possibilit^  de  la  tno^' 
BubBtantiatioD,  cf.  p.  77  Anm.  1. 


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49 

haben  sieh  die  Cartesianer  auf  eine  Erklärung  dieses  Mysteriums 
eingelassen.  Über  eine  einfache  Ablehnung  solcher  Versuche 
und  eine  kurze  unbewiesene  Behauptung,  daCs  die  cartesianische 
Auffassung  vom  Wesen  der  Körper  (d.  h.  also  die  cartesianische 
Behauptung,  dafs  ein  Körper  nichts  ist  als  der  von  ihm  ein- 
genommene Raum),  mit  der  körperlichen  Gegenwart  Christi  in 
der  Eucharistie  unvereinbar  sei,  geht  das  Journal  nicht  hinaus. i) 
Es  ist  bedeutungslos,  wenn  es  einmal  da3  Buch  des  Jesuiten- 
paters Le  Valois  .Sentiments  de  Mr.  Descartes  touchant  les  sens 
et  les  propri6t6s  du  corps,  opposäs  ä  la  doctrine  de  l'Eglise  et 
conformes  aux  erreurs  de  Calvin  sur  le  sujet  de  l'Eucharistie 
(1680)*  charakterisiert  als  einen  schweren  Schlag  gegen  die 
neue  Philosophie,  dessen  tiefen  Eindruck  die  Antworten,  welche 
die  Häupter  der  cartesianischen  Philosophie  erscheinen  lielsen,^) 
nicht  hätten  verwischen  können. 

Wie  man  im  allgemeinen  den  Versuch  bewertet,  carte- 
sianische Prinzipien  mit  der  Religion  in  Einklang  zu  bringen, 
die  letztere  metaphysisch  zu  begründen,  wie  es  vor  allem 
Malebranche  aus  innerstem  Bedürfnis  heraus  getan  hatte,  zeigen 
die  geschickten  Bemerkungen  zu  der  Neuauflage  der  „Conver- 
sations  chr^tiennes,  dans  lesquelles  on  justifie  la  väritö  de  la 
Religion  et  de  la  morale  de  J6sus-Christ,  avec  quelques  Mödi- 
tations  sur  FHumilitö  et  la  P6nitence.  Par  le  P.  Malebranche 
1702.*3)  Inhaltlich  erfahren  wir  über  das  Buch  dabei  nichts, 
weil  der  Journalist  die  Kenntnis  «der  sehr  geschätzten'  Werke 
des  P.  Malebranehe  bei  seinen  Lesern  voraussetzen  zu  müssen 
glaubt  Er  beschränkt  sich  darauf,  wiederholt  hervorzuheben, 
dafs  es  nur  zu  Cartesianern  spreche  und  von  ihren  Prinzipien 
aus,  die  als  wahr  vorausgesetzt  seien,  die  christliche  Religion 
und  Moral  rechtfertigen  wolle.  «Ceux  qni  sont  encore  attachäs 
a  la  Philosophie  d'Aristote  ou  qui  croient  que  la  Mätaphysique 
de  Descartes  n'est  pas  fort  solide,  ne  doivent  pas  s'attendre  de 
trouver  ici  rien  qui  les  convainque.     Ce  n'est  pas  pour  eux 

0  Gf.  Journ&l  de  Tr^voux  1715  mal  p.  830,  1707  janvier  p.  44. 

«)  Journal  de  Tr6voux  1706  d^cembre  p.  2037;  cf.  Andr6  p.  52  gibt 
Auskunft  über  die  zwei  anonymen  Schriften  von  Malebranche  und  die 
Defense  de  l'autcur  de  la  Rech,  de  la  Yörit^  contre  l'accnsation  de  Mr.  de 
la  VUle  16S2. 

'}  Journal  de  Tr6vouz  1703  janvier  p.  69;  cf.  Andr6  p.  29. 

Plülo8opbl««he  Abhandlungen.    XLIII.  4 


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50 

qa'a  6t6  fait  ce  livre.**  Es  wäre  infolgedessen  nngereebt,  wollte 
man  die  in  dem  Boche  enthaltenen  Beweise  von  den  Prinzipien 
der  Sehulphilosophie  ans  einfach  für  falsch  erklären;  es  könne 
sieh  nar  nm  die  Frage  handeln,  ob  die  Konsequenzen  aus  den 
cartesianischen  Prinzipien  richtig  gezogen  seien.  Es  sei  kein 
Ornnd  zu  bezweifeln,  dafs  die  Mehrzahl  dieser  Philosophen 
das  bejahen  würde.  Za  den  Betrachtangen  über  die  Demut 
und  Boise  wird  bemerkt,  dafs  Malebranehe  das  Oeheimnis 
gefanden  habe,  die  neae  Philosophie  bis  in  seine  Andacbts- 
übongen  und  Gebete  dringen  zo  lassen. 

Ebensowenig  wie  in  der  Philosophie  wollte  man  in  der 
Theologie  den  neoen  Grundsätzen  begegnen:  ,Les  thäologiens 
s'en  offensent'i)  Aber  die  Jesaiten  hatten  in  ihrem  Kampf 
gegen  den  grofsen  Jansenisten  Arnauld  erfahren,  dafs  man  die 
yerhafsten  neuen  Philosophen  gelegentlich  in  einem  theologischen 
Kampf  gut  brauchen  konnte.  Malebranche,  den  Amaold  einmal 
den  „protecteur  de  la  gräce  molinienne'^  genannt  hat,  worde 
während  seiner  Streitigkeiten  mit  dem  letzteren  von  ihnen  mit 
Höflichkeiten  überhäuft;,^)  und  ein  anerkannter  Feind  des  Carte- 
sianismus,  wie  der  P.  Le  Tellier,  lieferte  ihm  Beiträge.  Ein  Gegen- 
stück dazu  liefert  das  Journal  im  Jahre  1714/15.^)  Die  Gemüter 
waren  durch  die  Prämotion  physique  von  Boursier  und  durch 
die  von  den  Jesuiten  in  Kom  erlangte  Bulle  Unigenitas  von 
der  alten  Streitfrage  der  Gratia  efßcax  wieder  heftig  bewegt 
Der  Verfasser  des  Baches  war  ein  Theologe  aus  der  Sehule 
Amaulds,  der  in  der  Philosophie  eine  Art  Stütze,  eine  rationelle 
Begründung  seiner  theologischen  Doktrinen  suchte,  und  diese 
in  dem  System  des  P.  Malebranche  gefunden  hatte.  Er  über- 
nimmt u.  a.  die  Vision  en  Dien,  stimmt  mit  Malebranche  darin 
überein,  dafs  Gott  die  spekulativen  Wahrheiten  in  seiner  un- 
endlichen Substanz  einschliefse,  und  vertritt  im  wesentlichen 
die  Theorie  der  occasionellen  Ursachen.  Nach  der  ganzen 
Richtung  der  Jesuiten  und  ihrer  Stimmung  gegen  Malebranche 
stände  es  zu  erwarten,  dafs  sie  diese  Gelegenheit  benatzen 
werden,  um  die  grofse  Gefährlichkeit  eines  Systems  zu  zeigen, 


1)  Journal  de  Tr^vouz  1710  octobre  p.  1716. 

«)  Cf.  Andr6  p.  204. 

*)  Journal  de  Tr6vouz  1714  mars  p.  573,  1715  janvier  p.  19. 


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in  welehem  ein  Jansenist  wie  Bonrsier  seine  letzte  Bestätigung 
gesehen  hatte.  Die  lange  Besprechung  des  Baches  im  März 
1714  und  im  Januar  1715  enttäuscht  diese  berechtigten  Er- 
wartungen. Sie  erwähnt  alle  Parallelen,  sie  weist  darauf  hin, 
dafs  der  Verfasser  die  Prinzipien  der  neuen  Philosophie  den 
Prinzipien  der  praedeterminierenden  Schule  substitutiere,  ver- 
meidet es  aber,  den  geistigen  Schöpfer  derselben  zu  nennen, 
geschweige  denn  zur  Verantwortung  zu  ziehen.  Da,  wo  Bonrsier 
gelegentlich  gegen  Malebranche  spricht,  findet  man,  dafs  es 
„fort  durement*  und  ,sans  mönagement*  geschehe. 

Erscheint  diese  mafsvoUe  Haltung  des  Journals  im  März 
1714  auffallend,  so  ist  es  umsomehr  der  im  Oktober  1715 1) 
mit  lobenden  Worten  veröffentlichte  Auszug  aus  der  Wider- 
legung, die  der  alte  Malebranche  auf  Drängen  seiner  Freunde 
unternommen  hatte.  Schon  die  Einleitung  verrät  eine  neue 
Wendung  in  der  Haltung  gegen  den  Philosophen,  dessen  An- 
schauungen über  die  Promotion  physique  das  Journal  seinen 
Lesern  ausführlich  vermittelt.  «Si  les  raisons  du  R.  P.  Male- 
branehe  sont  solides,  elles  sont  aussi  exposäes  avec  une  doucenr 
de  style  qui  les  rend  insinuantes  et  qui  gagnent  Taffection  du 
lecteur.  GTest  un  grand  art  en  de  pareilles  disputes  de  savoir 
le  mettre  de  son  cöt6  et  de  lui  faire  sonhaiter  que  la  värit6 
y  soit  aussi,  comme  on  croit  qu'elle  est  ici.*  Dann  verwahrt 
sich  der  Journalist  nach  allen  Seiten  mit  der  nötigen  Vorsicht 
gegen  die  besonderen  Meinungen,  ,les  sentiments  particuliers 
des  Auteurs.* 

Das  Journal  bekennt  sich  also  zu  Malebranche's  Auf- 
fassung von  der  wirksamen  Gnade.  Sie  soll  darum  an 
dieser  Stelle  kurz  skizziert  werden:  Die  physische  oder 
natttrliche  Determination,  welche  Gott  zum  Urheber  hat,  ist 
wohl  zu  unterscheiden  von  der  moralischen  Determination,  die 
von  uns  abhängt  Die  verschiedenen  Einwilligungen,  welche 
wir  den  Beweggründen  von  Seiten  Gottes  geben,  gehören  uns 
selbst  an.  Wir  können  sie  geben  oder  nicht,  wählen  oder 
nicht,  ihnen  widerstehen  oder  nachgeben.  Das  gibt  uns  die 
Fähigkeit  zu  verdienstlichen  Handlungen  und  spricht  den 
Schöpfer  frei  von  unseren  freiwilligen  Irrtümern  und  Sünden 


1)  Journal  de  Tr6vouz  1615  octobre  p.  1669ff. 


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52 

und  reohtfertigt  Gottes  Weisheit  nnd  Gate.  Unsere  Ent- 
scbeiduDgen  sind  aber  keine  neuen  Grade  des  Seins,  die  dem 
nrsprttngliehen  Sein  hinzngefHgt  werden;  die  Seele  übt  damit 
keine  sehöpferische  Maeht  ans,  wenn  man  sie  aneh  zor  Herrin 
ihrer  freien  moralischen  Akte  macht J)  —  Nur  ganz  vereinzelt 
nnd  bedeutungslos  schiebt  sich  eine  persönliche  Bemerkung  in 
das  Referat  ein.  Wenn  aber  besonders  darauf  hingewiesen 
wird,  dafs  Malebranohe  sehr  viel  SehOnes  sage  ttber  die 
unendliche  Weisheit  Gottes,  infolge  deren  die  Vorsehang,  die 
Gnadenwahl,  die  Seligkeit  und  der  göttliche  Wille  nach  einer 
unveränderlichen  Ordnung  geregelt  seien,  so  kann  man  nicht 
umhin,  an  weniger  wohlwollende,  ja  widersprechende  Kritiken 
aus  vergangenen  Jahren  >)  und  an  die  Ordenslehre  der  Soeietas 
Jesu  zu  denken.*) 

Malebranche  hat  wohl  Recht,  wenn  er  in  seiner  Beschwerde- 
Schrift  an  Fänelon  im  Juni  1715  berichtet,^)  er  sei  zu  Lebzeiten 
Amaulds  fttr  die  Jesuiten  ein  sehr  guter  Katholik  gewesen, 
der  mit  ihnen  die  Sache  der  Kirche  gegen  diesen  bertthmten 
Verteidiger  des  Jansenins  geführt  habe.  Nach  Arnaulds  Tod 
sei  alles  anders  geworden:  er  selbst  sei  fttr  sie  nur  noch  ein 
wahrer  Jansenist  und  alles,  was  daraus  folge. 

Im  Jahre  1715  verdankt  er  demselben  jesuitischen  Oppor- 
tunismus eine  wohl  nicht  dauerhaftere  Wendung  zum  Guten. 


>)  Cf.  0116-Lapruiic  II  p.  191;  Andr6  p.  377  flf. 

*)  Cf.  p.  21,  25,  44  dieser  Arbeit;  Jonmal  de  Tr6voux  1708  d^cembre 
2003:  On  se  soaviont  que  le  P.  Malebranche  interrog^  par  M.  Anauld 
pourquoi  aar  le  cbapitre  de  la  Providence  il  parlait  un  langage  si  ^loigsc 
de  ceiui  des  Saints  Pöres,  ii  r6pondit . . .  que  pour  lai  11  parle  en  Gartesien 
a  des  Cart^siens  ...  II  se  met  partout  aussi  loin  de  Mr.  Descartes  que  des 
Saints  Pöres. 

')  Cf.  Cbarma  p.  231,  245,  206  (decembre  1712):  En  mati^re  de  theo- 
logie  c'est  bleu  pis;  on  ne  le  peut  ezcusor  d'avoir  vonlu  8*en  mSler,  lai 
qui  n'eut  jamais  la  moindre  teinture  d'^rudition  eccl^siastique. 

«)  Cf.  Andr6  p.  868  flf. 


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53 


Kapitel  VI. 

Die  Physik  ist  mit  der  Metaphysik  in  der  Geschichte  der 
Schicksale  nnd  Kämpfe  des  Cartesianismas  eng  verbanden. 
Deseartes  hatte  die  phantastische  Welt  der  alten  Physik  in 
einen  grofsen  Mechanismus  verwandelt:  ans  Materie  nnd  Be- 
wegung konstruierte  er  a  priori  die  ganze  Natur. 

Das  Wesen  der  Materie  aber  ist  im  Cartesianismus  die 
Ausdehnung,  und  es  kommen  ihr  keine  anderen  Eigenschaften 
zu  als  diejenigen,  welche  zur  Fundamentaleigenschaft  der  Aus- 
dehnung gehören.  Dadurch  werden  alle  die  geheimen  Kräfte 
und  Eigenschaften,  von  denen  die  scholastische  Philosophie  so 
reichlich  Gebrauch  gemacht  hatte,  aus  der  Physik  verbannt 
Es  wird  alles  unterdrückt,  was  John  Locke  zuerst  im  neuen 
Sinn  „sekundäre  Qualitäten"  genannt  hat.^)  Deseartes  reduziert 
sie  auf  Perzeptionen  der  Seele. >)  Er  steht  damit  in  scharfem 
Gegensatz  zu  der  Philosophie  der  Jesuiten,  welche  nach 
scholastischem  Vorgang  sämtliche  Qualitäten  der  Körper  — 
Härte,  Wärme,  Ton,  Farbe,  Bewegung,  Gestalt  —  in  Wesenheiten 
verwandelte,  die  von  der  Materie  verschieden  waren. s)  Die 
Doktrin  verbot  zu  lehren:  „Color,  lumen,  frigus,  sonus  et  aliae 
quae  vocantur  qualitates  sensibiles,  affectiones  sunt,  sive  modi- 
ficationes  ipsius  mentis  non  corporum  ipsorum  quae  dicuntur 
calida,  frigida  ct''^)  Im  Journal  wird  gelegentlich  einer 
Rezension  die  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten  entschieden 
abgelehnt:  „Was  die  sinnlichen  Qualitäten  anbetrifft,  die 
nach  dem  Verfasser  in  uns  und  nicht  in  den  Objekten  sind, 
so  werden  sich  die  philosophierenden  Leser  nicht  entschliefsen 
können,  damit  übereinzustimmen,  dafs  die  Himmelskörper  ihr 
glänzendes  Licht  nur  geborgt  besitzen;  sie  werden  nicht  glauben 
können,  dafs  der  Geschmack  nicht  in  den  Nahrungsmitteln, 
der  Geruch  nicht  in  den  Blumen  und  Essenzen  ist;  sie  werden 
niemals  sagen,  dafs  Stimme  und  Instrumente  ...  der  Luft  wohl 


1)  Baenmker  p.  510. 

')  Cf.  Deseartes,  M6dit  VI;   Prineipes  I  et  III.     Cf.  Malebrancbe 
Rech.  1. 1  eh.  10;  Eelaireiss.  VI. 

«)  Cf.  Journal  de  Tr^voux  1704  II  p.  822. 
*)  Gharma  et  Mancel  I  p.  225. 


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einige  gemessene  Bewegungen  geben  können,  aber  nieht 
wirklieb  die  Töne  hervorbringen  .  .  .  .'^i)  Unter  sinnliehen 
Qualitäten  versteht  man  die  nattlrliehen  Eigensehaften  —  Gestalt, 
Bewegung  z.  B.  —  welche  den  Körper  befähigen,  durch  sich 
selbst  oder  die  erregte  Luft  einen  gewissen  Eindruck  auf  unsere 
Sinnesorgane  zu  machen.  Behaupten,  daä  diese  Eigenschaften, 
diese  Anlage  nicht  in  den  Objekten,  sondern  in  uns  seien, 
heifse  so  viel  als  wolle  man  sagen,  das  Vermögen  zu  dureh- 
bohren  sei  in  der  Haut  und  nicht  in  der  Spitze  des  Degens. 
Die  Empfindung  ist  in  uns;  wir  empfangen  den  Eindruck 
des  Objektes  mittelbar  oder  unmittelbar;  aber  die  Ursache  des 
Eindruckes  ist  anfserhalb  unser.  „CTest  nous  qui  sentons,  c'est 
l'objet  qui  est  senti  de  teile  maniöre  parce  qu'il  est  tel.'^ 

Ihren  eigentlichen  Ausgangspunkt  hat  die  cartesianisehe 
Physik  in  der  Bewegung,  welche  in  diesem  System  von  auTsen 
durch  eine  immaterielle  Kraft  zur  Materie  hinzugekommen  ist, 
und  welche  von  Descartes  definiert  wird  als  die  Überft&hrong 
eines  Körpers  in  eine  andere  Nachbarschaft  Das  Journal 
de  Trövoux  bringt  gleich  im  ersten  Jahrgang  versehiedene 
Artikel  zu  diesem  Problem.  Seine  erste  einschlägige  Ver- 
öffentlichung steht  im  Gegensatz  zu  der  cartesianischen  Theorie. 
Es  ist  das  „Examen  des  pröjugäs  des  Cartisiens  sur  la  cause 
de  la  continnation  du  mouvement''  von  einem  ungenannten 
Verfasser.^)  Ihm  liegt  daran  zu  beweisen,  dafs  die  Bewegung 
der  Körper  nicht  fortdauern  kann,  ohne  dafs  eine  Ursache 
dieser  Fortdauer  von  Seiten  der  Geschöpfe  eingreife.  Die 
cartesianisehe  Regel,  dafs  man  nach  der  Ursache  nicht  fragen 
dürfe,  weil  eine  einmal  angefangene  Bewegung  aus  sich  selbst 
fortdauere,  bis  sie  durch  eine  fremde  Ursache  zerstört  würde, 
wird  als  eine  bequeme  Umgehung  der  wesentlichsten  Schwierig- 
keit abgetan.3)    Sie  beruhe  auf  dem  Prinzip,  „dafs  die  Dinge 


^)  Journal  de  Tr^vouz  1709  janvier  p.  53:  Systeme  du  c<Bur  ou  la 
connaiBsance  du  ccBur  humain  von  Mr.  de  Glarigny. 

*)  Journal  de  Tr^vouz  1701  mal,  jain  p.  158. 

*)  Der  Verfasser  des  Artikels  zitiert  nach  Robault,  Traitö  de  Phytique. 
Im  Journal  de  Tr^voux  1713  avril  p.  721  findet  dieser  Physiker  der  carte- 
sianischen Schule  folgendes  Lob:  On  a  Mr.  Bohault  entre  les  mains  qui  se 
fera  lire  avec  infiniment  plus  de  plaisir  et  qui  servira  incomparablemeiit 
davantage. 


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in  demselben  Znetand  bleiben  mttggen,  es  sei  denn,  dafs  irgend 
eine  änfsere  Ursache  denselben  ändere.''  Die  lokale  Bewegung 
sei  hier  also  offenbar  eine  Zastandsverändemng  nnd  nicht  ein 
Zustand,  wie  die  €artesianer  es  wollten,  sie  fordere  damit 
augenscheinlich  eine  äufsere  Ursache,  nicht  nur  fttr  ihre  Ent- 
stehung, sondern  auch  fttr  ihre  Fortdauer.  Die  Frage,  ob  diese 
Ursachen  »efficientes*  oder  «occasionales*  seien,  komme  dabei 
nicht  in  Betracht.^)  Die  ganze  Polemik  dreht  sich  nun  um 
die  Frage,  ob  die  lokale  Bewegung  —  sie  wird  als  snkzessire 
Ortsveränderung  definiert  —  ein  Zustand  des  Körpers  ist  oder 
eine  Zustandsverändernng.  Es  handelt  sich  zunächst  um  den 
Beweis,  dafs  für  die  Fortdauer  der  Bewegung  mehr  als  die 
eine  von  den  Cartesianern  gesetzte  äufsere  Ursache,  welche  die 
Bewegung  beginne,  erforderlich  sei;  weiterhin  darum,  dafs  die 
Cartesianer  die  Veränderung  des  Ortes  von  allen  anderen  Ver- 
änderungen wie  die  der  Farben,  des  Geschmackes,  des  Geruchs^) 
usw.  unterscheiden  und  mit  einem  besonderen  Privileg  aus- 
statten wollten.  In  der  Tat  sei  eine  solche  Isolierung  derselben 
rein  willkürlich.  Der  Gegner  insistiert  besonders  auf  den  Ver- 
gleich mit  der  Veränderung  der  Gestalt,  die  nur  eine  Art  der 
Veränderung  des  Ortes  sei,  mit  dem  einzigen  Unterschied,  dafs 
hier  der  Körper  das  Verhältnis  der  Entfernung  oder  Nähe 
zu  den  anderen  Körpern  im  Universum  ändere,  dort  aber  eine 
Änderung  gegenüber  den  verschiedenen  Teilen  desselben  Körpers 
stattfinde.  Die  Beziehungen  zwischen  ihnen  werden  eingehend 
entwickelt  und  fttr  beide  vnrd  die  gleiche  Beurteilung  verlangt 
Da  die  Cartesianer  zugeben,  dafs  die  Veränderung  der  Gestalt 
kein  Zustand  sei  und  von  der  Dauer  der  änfseren  Einwirkung 
abhänge,  so  mttfsten  sie  ebenso  erklären,  dafs  die  Orts- 
yerftnderung  ihrerseits  kein  Zustand  sei  und  ihre  Dauer  von 
der  Wirkung  der  äufseren  Ursache  abhänge.  Die  Unkenntnis 
dieser  Ursache  sei  kein  Grund,  dieselbe  abzulehnen. 


0  In  den  Jesaitenkollegs  war  es  verboten  zu  lehren:  Solas  Dens 
est,  qni  movere  possit  corpora:  Angeli  vero,  anima  raüonalis,  ipsaqne 
Corpora  non  sunt  causae  motus  efficientes,  sed  occasionales  tantum. 
Charma  et  Mancel  p.  222. 

*)  Lamy  betont  demgegenüber,  dafs  Farben  usw.  nicht  Seinsarten 
des  Körpers,  sondern  der  Seele  seien.  Journal  de  Tr^voaz  1704  aoüt 
p.  1384. 


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56 

Im  September/Oktober  1701  gibt  das  Jonrnal  die  Antworten 
von  MiroD,!)  „qai  est  anssi  distingnä  par  son  esprit  et  par  sa 
yerta  qae  par  sa  naissance"  and  yon  Cordemoj,-)  „fils  d'aii 
des  meilleurs  philosophes  et  des  plas  beaux  esprits  de  ces 
deruiers  temps.  II  est  iai-m6me  excellent  philosophe  et  Mi 
bei  esprit." 

Miron  betont,  dafs  die  Ursache  der  Bewegung,  nämlich 
Gott,  nicht  ohne  Grand  aaf hören  könne  za  wollen,  and  der 
Körper  deswegen  in  der  Bewegnng  verharren  mttsse,  bis  ein 
Grand  nicht  mehr  za  wollen  für  Gott  vorhanden  sei  Es  handle 
sich  also  nicht  am  die  Frage  nach  der  Fortdaaer  der  Be- 
wegang,  sondern  am  die  Frage  nach  dem  Grand  ihres  Aaf 
hörens.  Miron  verweist  dafttr  aaf  das  7.  Kapitel  des  „Monde^ 
von  Descartes:  „Si  ane  partie  de  la  mati^re  a  ane  fois  com- 
mencö  k  se  moavoir,  eile  continaera  toajoars  aveo  une  egale 
force  jasqa'ä.  ce  qae  les  aatres  Tarr^tent  oa  la  retardent* 
Wenn  der  bewegte  Teil  der  Materie  einen  anderen  tri£Ft,  wird 
Gott  beginnen  diese  za  bewegen,  indem  er  den  erateren  in 
demselben  Verhältnis  retardiert  oder  vollständig  anfhebt  nach 
den  allgemeinen  Gesetzen  von  der  Mitteilang  der  Bewegnng. 
Die  Veränderang  der  Gestalt  hingegen  rtthrt  von  einer  Fort- 
daaer des  Willens  in  Gott  her,  infolge  deren  die  zusammen- 
gefügten  Teile  der  Materie,  d.  h.  der  Körper  dauernd  bewegt 
werden,  so  dafs  eine  fortwährende  Änderang  der  Gestalt 
resnltiert  So  sind  alle  anderen  Veränderangen  mit  Beziehang 
aaf  den  Körper  nar  Veränderangen  seiner  Oberfläche  oder 
äafseren  Gestalt 

Cordemoy  sacht  die  Natar  der  Bewegung  zu  erklären. 
Er  geht  von  dem  Grundprinzip  aus:  „Produire  ou  conserver 
les  Corps  et  les  situer  n'est  qu'une  seule  et  meme  action."^] 
Eben  die  Handlung,  die  im  ersten  Augenblick  Schaffen  ist,  ist 
in  allen  folgenden  Erhaltung:   Damit  ist  die  Lage  gegeben, 


^)  R^ponse  a  r£zamen  des  sentiments  des  Gartöslens  bot  1a  eins« 
de  la  continuation  du  mouvement.  Journal  de  Tr^vouz  1701  sept.oct 
p.  320. 

')  Explication  du  mouvement  p.  325. 

3)  Unter  den  80  verbotenen  Lehren  der  Jesuitenschulen:  Gorpos 
moveri  nihil  est  aliud  quam  iliud  a  Deo  conservari  aliis,  atque  alüs  in 
locis  successive.  Charma  et  Mancel  p.  221 ;  cf.  Malebranche  M6d.  chr6t  Y,  S. 


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denn  es  können  nicht  mehrere  Körper  geschaffen  oder  erhalten 
werden,  ohne  in  einer  bestimmten  Lage  zueinander  zu  sein, 
d.  h.  jeder  Körper  hat  einen  Ort,  eine  Beziehung  zu  anderen 
Körpern.  Ein  Körper  ist  in  Bewegung,  d.  h.  ändert  seinen  Ort, 
wenn  er  diese  Beziehung  ändert;  er  ist  in  Ruhe,  wenn  er  sie 
innehält  1)  Beide  können  also  auch  nur  von  derselben  Macht 
abhängen.  Die  Bewegung  ist  nach  dem  Willen  Gottes  in  der 
Natur  sukzessiv,  d.  h.  derselbe  Körper  befindet  sich  nach- 
einander an  allen  denkbaren  Stellen  zwischen  allen  Funkten 
einer  bestimmten  Linie. 

An  diese  Ausführungen  reiht  sich  eine  Abhandlung 
aber  die  Ursache  der  Fortdauer  der  Bewegung  in  geworfenen 
Körpern,^)  welche  die  Notwendigkeit  sekundär  wirkender 
Ursachen  behauptet,  und  in  diesem  Spezialfall  die  Luft  als 
die  Ursache  hinstellt 

„Damit  der  Leser  sich  sein  eigenes  Urteil  bilden  könne'', 
bringt  1701  das  Novemberheft  einen  cartesianischen  und  einen 
anticartesianischen  Artikel  zur  vierten  Bewegnngsregel  von 
Descartes.  Verfasser  sind  zwei  Universitätsprofessoren  aus 
Bordeaux.') 

Dafs  die  Zeitschrift  selbst  auf  dem  Boden  des  eingangs 
besprochenen,  wohl  auch  von  einem  Jesuiten  verfafsten  Artikels 
steht,  ersieht  man  gelegentlieh  aus  einer  kurzen  Verteidigung 
derselben  Ansicht  gegen  Lamy.^) 

Die  durchaus  objektive  Haltung  des  Journals  in  dieser 
Frage,  die  mit  der  cartesianischen  Metaphysik  so  eng  verknüpft 
ist,  kann  als  Musterbeispiel  gelten  fttr  seine  Stellung  in  natur- 
wissenschaftliehen Artikeln  und  Rezensionen,  denen  ein  über- 
aus weiter  Raum  gegönnt  wird.  —  Auch  die  Auswahl  derselben 
könnte  eine  Tendenz  erweisen,  es  werden  aber  die  ver- 
schiedensten Hypothesen  dem  Leserkreis  übermittelt  Man 
gibt  die  Licht-  und  Farbentheorie  des  P.  Malebranche  ^)  ebenso- 
gut, wie  zahlreiche  andere  Hypothesen,  und  man  läfst  über 


1)  Cf.  MalebraDche  Entret.  m^taphys.  VII,  6. 

*)  Journal  de  Tr^voux  1701  oct  p.  834;  cf.  ibid.  1702  fövrier  p.  46. 
•)  Ibid.  novembre  1701  p.  274. 
«)  Ibid.  acut  1704  p.  1385. 

»)  Jonmal  de  Tr^vonz  1702  avril  p.  175;  1701  III  p.  7;  cf  Malebranohe 
Eclairciss.  16. 


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Schwere  nnd  Leichtigkeit  der  Körper  und  zahlreiche  andere 
Fragen  von  den  verschiedensten  Standpunkten  aus  referieren. 

Sehr  oft  bot  sich  den  Journalisten  Gelegenheit,  za  dem 
cartesianischen  Weltsystem,  das  ihren  persönlichen  Ober- 
zeugungen zuwiderlief  und  innerhalb  des  Jesuitenordens  ver- 
urteilt wurde,  1)  Stellung  zu  nehmen.  Es  wird  durchaus  ver- 
mieden und  der  Streit  den  Leuten  vom  Fach  ttberlassen:  «Cest 
le  sort  d'un  physicien  de  n'6tre  pas  content  des  autres  et  h  son 
tour  de  ne  les  pas  contenter,  et  en  ce  genre  dötude  antant 
qu'en  aucun  autre  il  est  vrai  de  dire:  mihi  meum  plaeebat; 
illi  suum.**) 

Das  Überhandnehmen  der  „Modewissenschaft "  verurteilt 
man  bei  alldem  ebenso  wie  der  Mystiker  Foiret  es  tat,  dem 
man  in  diesem  einen  Punkt  Recht  gibt:  „Algebra,  die  Wissen- 
schaft der  Kurven,  die  Forschung  nach  zentripetalen  und 
zentrifugalen  Kräften  usw.  sind  zu  solchem  Raffinement  gesteigert, 
dafs  man  nicht  weit  von  ihrer  Nutzlosigkeit  entfernt  ist"  Und 
man  prophezeit  ein  schlechtes  Ende:  „Ce  qui  est  arriv6  k  la 
Philosophie  de  rj^eole  arrivera  k  la  nouvelle  Philosophie  et 
aux  Math^matiques,  qui  ont  pris  sa  place  dans  Festime  da 
public."») 


Im  Oktober  1715  stirbt  Malebranche.  Vergeblich  suchen 
wir  nach  einem  Nachwort  im  Jonmal  de  Trövoux,  das  es 
wiederholt  als  seine  besondere  Pflicht  betont  hatte,  Gedenk- 
reden auf  hervorragende  Persönlichkeiten,  insbesondere  Männer 
der  Wissenschaft,  zu  veröffentlichen.  Auch  die  Akademie- 
berichte der  Zeitschrift  erwähnen  nicht  den  Nachruf,  den 
Fontenelle  im  Auftrage  der  Akademie  auf  das  verstorbene 
Ehrenmitglied  vor  einer  zahlreichen  Hörerschaft  gehalten  hatte. 

0  Gf.  Cbarma  et  Mancel  p.  28Sff.,  244  n.  &. 
»)  Journal  de  Tr6voux  1712  III  p.  1415. 
*)  Journal  de  Tr^voax  1710  f^vrier  p.  356. 


Drnok  von  Bhrhardt  Karru  G.  m.  b.  H.  In  Halle  (SmIs). 


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Verlag  von  Max  Niemeyer  in  Halle  a.  S. 

Bergmann,  Hugo,  Das  Unendliche  und  die  Zahl.  1913.  8.  VU, 
88  S.  Jb  9,50 

—  Das  philosophische  Werk  Bemard  Bolzanos.    Mit  Benntsimg  un- 

gedruckter  Quellen  kritisch  untersucht.  Nebst  einem  Anhange: 
Bolzanos  Beiträge  zur  philosophischen  Grundlegung  der  Mathe- 
matik.    1909.     8.    XIV,  230  8.  Jb  7,— 

Eisenmeier,  Josef,  Die  Psychologie  und  ihre  zentrale  Stellung  in  der 
Philosophie.  Eine  Einführung  in  die  wissenschaftliche  Philo- 
sophie.    1914.     8.     VIII,  1118.  ^3,20 

Festschrift  fOr  Alois  Riehi.  Von  Freunden  und  Schülern  zu  seinem 
70.  Geburtstage  dargebracht     1914.     8.     Vn,  522  S.     Jt  14,— 

Galiinger,  August,  Zur  Grundlegung  einer  Lehre  von  der  Erinnerung. 
1914.     8.     IV,  149  8.  Jt\,— 

Goedecicemeyer,  Aibert,  Die  Gliederung  der  aristotelischen  Philosophie. 

1912.  8.     VI,  144  S.  Ul  4,— 
Husserl,   Edmund,   Logische  Untersuchungen.     2  Bände  in  3  Teilen. 

2.  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage.     1913.     8. 

1.  Prolegomena  zur  reinen  Logik.    1913.    XII,  257  8. 

geh.  Ji  6,—:  gebd.  Jk  8,25 

2.  Untersuchungen  zur  Phänomenolone  und  Theorie  aer  Erkenntnis. 
2  Teile.   I.  Hälfte.    1913.    XI,  508  8.    geh.  Jk  14,—  ;  gebd.  Jk  16,50 

Jahrbucli  fOr  Phiiosophie  und  pliänomenoiogisohe  Forschung.  In  Gemein- 
schaft mit  M.  Geiger,  A.  Pfänder,  A.  Reinach,  M.  Scheler 
herausgegeben  von  Edmund  HuBserl.  Band  I.  2  Teile.  1913. 
kl.  4.    XII,  847  8.     geh.  Ji  22,—;   gebd.  in  Halbfra,  jü  27,— 

L088l(ij,  Nil(Oiaj,  Die  Grundlegung  des  Intuitivismus.  Eine  pro- 
pädeutische Erkenntnistheorie.  Uebersetzt  von  Johann  Strauch. 
1908.     8.     IV,  350  S.  Jt  8,— 

Pariser,  Ernst,  Einführung  in  die  Religionspsychologie.  Beitrftge  lu 
einer  kritischen  Methodenlehre  der  Religionswissenschaft  1914. 
8.    V,  56  S.  geh.  Ji  1,50;   gebd.  Jk  2,20 

Pfänder,  Alexander,  Zur  Psychologie  der  Gesinnungen.  I.  TeiL  1913. 
kl.  4.     IV,  80  S.  Jt  2,50 

Reinacll,  Adolf,  Die  apriorischen  Grundlagen  des  bürgerlichen  Rechtes. 

1913.  8.     IV,  164  S.  ^5,— 
Scheler,  Max,  Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  materiale  Wert- 
ethik   (mit    besonderer    Berücksichtigung   der   Ethik   Immanuel 
Kants).     I.  Teil.     1913.     kl.  4.     IV,  162  8.  Jth,— 

—  Zur  Phiinomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefflhle  und  von 

Liebe  und  Hass.    Mit  einem  Anhang  über  den  Grund  zur  Annahme 

der  Existenz  des  fremden  Ich.     1913.     8.     VI,  154  S.     Jt  3,60 

Spranger,  Eduard,  Lebensformen.  Ein  Entwurf.  1914.  8.  110  8.  U(  2,40 


Druck  von  Ehrhardt  Karras  G.m.b.H.  in  Halle  (Saale). 


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(ABHANDLUNGEN 
ZUR  PHILOSOPHIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN  VON  BENNO  EBDUANN 
XLIV 


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LEHRE  VON  DER  ABSTRAKTION 

BEI 

PLATO  UND  ARISTOTELES 


VON 


PAUL   GOHLKE 


HALLE  A.  S. 
VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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ABHANDLUNGEN 

ZUR 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

BENNO   ERDMANN 


TIERÜNDTIERZIGSTES  HEFT 

PAUL  GOHLKE 

DIE   LEHBE  YON  BEB   ABSTBAKTION  BEI  PLATO  UND  ARISTOTELES 


HALLE   A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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DIE 

LEHRE  VON  DER  ABSTRAKTION 

BEI 

PLATO  UND  ARISTOTELES 


VON 


PAUL   OOHLEE 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  HAX  NIEHEYER 

1914 


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Inhalt 

Seite 

Eioleitmig 1 

I.  Die  Sophisten  und  Sokrates 6 

n.  Plato IS 

Vorbemerkaog  über  die  Reihenfolge  einiger  Dialoge  ....  13 

Ober  die  Beziehang  zwischen  Wort  nnd  Ding 16 

A.  Erste  Periode  der  platonischen  Philosophie 20 

1.  Nachweis  der  Wirklichkeit  allgemeiner  Begriffe     ....  20 

2.  Anwendung  des  Begriffs  in  den  Wissenschaften     ....  24 

3.  Die  Dialektik  als  logische  Lehre  von  der  Abstraktion   .    .  26 

4.  Die  Lehre  von  der  Wiedererinnerung  als  psychologische 
Theorie  der  Abstraktion 31 

5.  Die  Existenzart  der  Ideen 33 

Bekapitulation 36 

B.  Zweite  Periode  der  platonischen  Philosophie 37 

1.  Die  veränderte  Problemlage 37 

2.  Wahrnehmung  und  Urteil;  aneiQov  und  nigaq 40 

3.  Weiterbildung  der  Lehre  von  der  Dialektik 47 

4.  Die  metaphysischen  Beziehungen  zwischen  Idee,  Individuum 
und  Erkenntnis 48 

5.  Psychologische  Theorie  über  das  Zustandekommen  der  Ideen  56 

Bekapitulation 57 

III.  Aristoteles , 59 

1.  Philologische  Vorbemerkungen 61 

2.  Wahrnehmung  und  Wissenscbaft 68 

3.  Logische  Lehre  vom  Allgemeinen 71 

4.  Verhältnis  des  Allgemeinen  und  Einzelnen  zu  Snbstan^ialität 
nnd  Erkenntnis 78 

5.  Psychologische  Theorie  der  Abstraktion 99 

Rekapitulation 108 

Anhang  1  —  7 111 


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Einleitong. 


1.  Das  Problem  der  Abstraktion  ist  im  Anfang  des  18.  Jahr* 
hunderts  in  ein  ganz  nenes  Lieht  gerückt,  als  Bischof  Berkeley 
Loekes  general  idea  in  der  Einleitung  za  seinen  Principles  of 
Hnman  Knowledge  einer  eingehenden  Kritik  unterzog  und  eine 
psychologische  Analyse  des  Wesens  der  Abstraktion  zu  geben 
suchte.  In  der  Folgezeit  führte  dann  die  Frage  nach  dem  Sinne, 
der  Existenz,  dem  Zustandekommen  der  allgemeinen  Begriffe 
zu  lebhaften  und  grundlegenden  Auseinandersetzungen  bei 
J.  St.  Mill  und  neuerdings  E.  Husser],  in  die  besonders  noch  die 
Untersuchung  der  allgemeinen  Namen  hineinbezogen  wurde.  Ist 
es  nun  nicht  yon  vornherein  verkehrt,  eine  so  spezifisch  moderne 
Fragestellung  an  die  Erforschung  der  Geschichte  der  alten 
Philosophie  heranzubringen? 

Doch  ich  meine,  alles  Forschen  in  der  Geschichte  der  Ver- 
gangenheit hat  nur  Sinn,  wenn  wir  dabei  auf  die  Fragen:  „was 
hat  diese  uns  gegeben,  was  können  wir  fttr  uns  daraus  lernen?^ 
eine  befriedigende  positive  Antwort  erwarten.  Natürlich  soll 
diese  der  Wahrheit  entsprechen,  und  sie  wird  falsch,  wenn  wir 
die  Quellen  nicht  so  verstehen,  wie  sie  nach  Absicht  des  Autors 
aufgefafst  werden  sollten.  Aber  diese  Gefahr  des  Hinein- 
deutens  ist  verhältnismälsig  gering:  alles  unberechtigte  Moderni« 
sieren  beruht  auf  einem  philologischen  Interpretationsfehler  (im 
weitesten  Sinne  des  Wortes),  der  früher  oder  später  doch  be- 
merkt werden  mufs.  Wo  aber  wirklich  etwas  zu  deuten  übrig 
bleibt,  da  kann  dies  jeder  wieder  nur  nach  Analogie  dessen 
tun,  was  er  selber  als  moderner  Mensch  gelernt  hat  und  ver- 
steht.   Auf  philosophischem  Gebiete  nun  sind  die  Zusammen** 

PbiloMphische  Abhandlungen.    XXXjCIV.  1 


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hänge  enger  als  anf  jedem  anderen;  denn  hier  sind  die  Lehren 
der  Alten  von  nachhaltigster  Wirkung  gewesen,  nnd  solange 
man  sieh  dieses  Znsammenhanges  bewnist  bleibt,  wird  daher 
aneh   nie  eine  „abschliefsende^  Geschichte   der  griechisehen 
Philosophie  geschrieben   werden.    Speziell   das  von   nns  be- 
handelte Thema  bietet  sehr  viele  Bertthrnngspnnkte.    Durch 
die  Hineinbeziehung  der  allgemeinen  Namen  berühren  sieh  die 
Millschen  Untersuchungen  vielfach  mit  denen  der  Scholastik, 
und  der  Philosoph  selber  zieht  im  Streite  mit  Hamilton  als 
Parallele  den  Kampf  zwischen  Realismus,  Nominalismns  und 
Konzeptualismus  heran,  i)   Diese  Richtungen  pflegten  sich  aber 
entweder  an  Plato  oder  an  Aristoteles  anzulehnen,  so  dafs  hier 
die  Frage  sich  erhebt:  wieweit  waren  sie  dazu  berechtigt,  wie- 
weit sind  die  Probleme  wirklich  schon  ähnlich  bei  diesen  alten 
Philosophen  behandelt?    Ferner  hat  gerade  in  der  Lehre  vom 
Begriff  Locke   mit    seiner   allgemeinen    Idee   das   Erbe   der 
Tradition  angetreten,   durch  seine  scharfe  Formulierung  den 
Anstofs  zu  deren  Kritik  gebend.    Wieder  können  wir  fragen: 
konnte  Locke  sich  für  seine  Darstellung  auf  die  Alten  berufen? 
Treffen  die  Einwände  Berkeleys  auch  auf  jene  zu,  oder  hatten 
sie  diese,  eigentlich  sehr  auf  der  Hand  liegenden  Betraehtungen 
wohl  überdacht,  aber  geglaubt,  nicht  durch  sie  behindert  zu 
werden?    Weder  Locke  noch  Berkeley  waren  in  den  Schriften 
des  Plato  und  Aristoteles  so  bewandert,  um  auf  solche  Fragen 
eine  sichere  Antwort  haben  zu  kOnnen.   Und  in  der  Tat  finden 
wir  in  Aristoteles'  „Topik^  Ausführungen^  die  genau  den  Be- 
denken entsprechen,  welche  Berkeley  gegen  die  general  idea 
vorbringt,  und   die   dort  gegen  Piatos   Ideen  gerichtet  sind 
(s.  u.  §  35  Abs.  3);  also  mufs  doch  Aristoteles  selber  seine  eigenen 
Bestimmungen  so  getroffen  haben,  dafs  sie  von  diesen  Ein- 
wendungen nicht   berührt  werden.     Husserl  zieht  die  Alten 
nicht  in  Betracht;  Plato  wird  bei  ihm  mit  dem  Hinweis  auf 
dessen  metaphysiche  Hypostasiernng  der  Ideen  rasch  abgetan.  >) 


0  An  Extmination  of  Sir  W.  Hamiltoii's  Phüosophy  cap,  17. 

')  Logische  Untersuchungen  *U.  1,  S.  123:  ,,Die  Middeutungen  des 
platonisiereDden  Realismus*'  (d.  i.  „Die  metaphysische  Hypostasierung  des 
Allgemeiaen',  §  7  Aofg.)  „kOanen  wir  als  langst  erledigt  auf  sich  bemhea 
lassen.**  Husserl  selbst  I&Gst  die  Frage,  ob  Plato  wirklich  jenen  RealisBUS 
lehre,  anscheinend  offen. 


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Aber  nm  die  Berechtigung  gerade  dieses  Vorwurfes  wird  beute 
lebhaft  gekämpft,  so  dafs  auch  hier  weiterer  Forschung  das 
Feld  offen  steht. 

Selbst  wenn  wir  jedoch  von  allen  diesen  Beziehungen  zu 
modernen  Problemstellungen  absehen,  so  bleiben  auf  dem  von 
uns  betretenen  Gebiete  auch  innerhalb  der  Gedankenkreise  der 
alten  Philosophen  selber  noch  soviele  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden, daüs  eine  Spezialuntersuchung  wohl  lohnt.  Nachdem 
durch  die  neueren  Untersuchungen  sich  immer  deutlicher  zwei 
verschiedene  Phasen,  die  gerade  die  Ideenlehre  betreffen,  in  der 
platonischen  Philosophie  voneinander  abgehoben  haben,  mufs 
die  Frage  genau  beantwortet  werden:  welche  bestimmten 
Änderungen  sind  in  den  Anschauungen  des  Philosophen  über 
das  Wesen  des  Allgemeinen  und  sein  Verhältnis  zum  Sinnliehen 
vom  Theätet  ab  zu  bemerken?  Welche  Überlegung  gab  wohl 
den  Anstofs  zu  einer  solchen  Wandlung  der  Gedanken?  Bei 
Aristoteles  vollends  gehört  die  Frage,  die  einfach  gelöst  werden 
mufs,  ganz  offenbar  zu  unserem  Thema;  es  werden  nämlich 
dem  „Vater  der  Logik^  in  seiner  Lehre  vom  Allgemeinen  in 
seinen  Beziehungen  zum  Begriff  der  Wissenschaft,  der  Substanz 
und  des  Einzelnen  so  krasse  Widersprüche  vorgerechnet,  dafs 
auch  ein  Tertianer  sie  durchschauen  könnte.  Jeder,  der  sieh 
einmal  unter  den  Eindruck  der  erhabenen  Ruhe  und  Sicher- 
heit der  Gedankenarbeit  dieses  wunderbaren  Mannes  gestellt 
hat,  wird  den  Wunsch  empfinden,  ihn  hier  zu  verteidigen. 
Schlieüslich  bleibt  auch  sein  Verhältnis  zu  Plato  zu  unter- 
suchen^ das  sich  uns  natürlich  ganz  anders  darstellen  mufs,  als 
ihm  selber.  Er  hat  die  Ideenlehre  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
kämpft; aber  dem  Femerstehenden  scheinen  die  Unterschiede 
geringer,  und  der  Umstand,  dafs  er  20  Jahre  lang  Mitglied 
der  Akademie  war,  kommt  stärker  zur  Geltung.  Nehmen  wir, 
nm  die  Problemlage  richtig  zu  erfassen,  Piatos  Lehrer  und 
Gegner  —  Sokrates  und  die  Sophisten  —  hinzu,  so  haben  wir 
im  Altertum  selber  eine  Entwicklung  von  beinahe  hundert- 
jähriger Dauer  zu  verfolgen,  hundert  Jahre  voll  der  intensivsten 
geistigen  Arbeit,  denen  die  abendländische  Welt  bis  heute 
Ungeheueres  zu  danken  hat. 

2.  Wir  wollen  im  folgenden  nur  die  Fragen  behandeln, 
die  sich  auf  Plato  und  Aristoteles  unmittelbar  beziehen.  Jedoch 


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werden  wir  dem  ZuBammenhaDge  der  Probleme  mit  den  modemei 
Fragestellnngen  dadurch  Reehnnng  tragen,  dafs  wir  sie  naek 
Gesiehtspnnkten  nntersnchen,  die  der  Fortschritt  der  Foraebniig 
als  der  Sache   entsprechend  herausgearbeitet  hat     So   wird 
auch  eine  Geschichte  der  Mathematik  z.  B.  die  nns  ja  ebenfalh 
bekannten  sachlichen  Znsammenhänge  benutzen,  um  ao  diesem 
Faden  den  Weg  durch  die  Schriften  der  Alten  leichter  zu  finden. 
Wie  dort,  so  ist  auch  fttr  die  philosophische  Betrachtung  das 
Objekt,  nämlich  die  menschliche  Seele  mit  ihren  Funktionen, 
dasselbe  geblieben;  das  müssen  wir  wenigstens  voraussetzen, 
wenn  wir  überhaupt  jene  Vergangenheit  noch  versteheo  wollen. 
Weshalb  sollen  wir  da  nicht  die  verschiedenen  Seiten  dieses 
Gegenstandes,  die  sich  uns  nicht  anders  darbieten,  als  sie  sich 
den  Griechen  dargeboten  haben  müssen,  benutzen,  um  die  viel- 
fach durcheinander  laufenden  Fäden  ihrer  Darstellungen  za 
entwirren?     Der  von  jenen  Männern  selber  eingeschlagenen 
Bahn,  der  in  ihren  Werken  niedergelegten  Art  der  Gedanken- 
entwicklung,  dürfen    wir   sowieso    nicht    folgen,    wenn    die 
historischen  Entwicklnngslinien  klar  hervortreten  sollen;  denn 
in  dieser  Form  steckt  ja  ihre  Persönlichkeit,  also  gerade  das, 
was  den  rein  geschichtlichen  Fortgang  durchkreuzt;  und  der 
historische  Zusammenhang  ist  dem  Denker  selber  zudem  gar 
nicht  in  dem  Mafse  bewnfst,  wie  den  späteren  Generationen. 
Bei  Plato  hindert  schon  die  dialogische  Form,  seine  eigenen 
Werke  als  Leitfaden  der  Untersuchung  zu  benutzen,  und  für 
Aristoteles  stehen   nns   überhaupt  keine   Schriften    zur   Ver- 
fügung,  die  für   die   Publikation    bestimmt  und  fertig  au^ 
gearbeitet  gewesen  wären.    Was  uns  erhalten  ist,  stellt  die 
Aufzeichnungen  zu  seinen  Vorlesungen  dar,  die  natürlich  nicht 
in  jedem  Semester  wieder  wörtlich  abgelesen,  sondern  erweitert, 
geklärt,  miteinander  in  Zusammenhang  gebracht  wurden«  Welche 
Stufe  der  Bearbeitung  uns  vorliegt,  ist  dabei  nicht  einnml  sicher, 
vermutlich  aber  doch  die  letzte.   Gerade  die  „Metaphysik'^  zer- 
fällt nach  den  neuesten  Forschungen  in  mehrere  Abhandlungen, 
die  voneinander  unabhängig  sind.    Wir  wollen  uns  also  nach 
sachlichen  Dispositionsgründen  das  Material  überallher  zusammen- 
suchen. 

Jede  psychische  Funktion  kann  nach  fünf  verschiedenen 
Seiten  betrachtet  werden.    Man  kann  zunächst  ihr  Vorhanden- 


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sein  beobachteD,  ihre  wirkliche  Betätignog  verfolgeD.  Man 
kann  ferner  festzustellen  suchen,  welchen  Sinn  sie  oder  ihre 
Objekte  haben  sollen,  wie  dieser  znm  Ansdrnck  kommt^  was 
fiie  im  Zasammenhange  der  Funktionen  und  Gegenstände  leisten 
soll,  alles  unter  der  Voraussetzung,  dafs  das  mit  ihr  Gemeinte 
wirklich  richtig  erreicht  werde.  Drittens  erhebt  sich  die  Frage, 
wie  dies  psychische  Faktum  zu  erklären  sei,  welche  Annahmen 
seine  Genesis  im  Zusammenhange  des  Seelenlebens  am  be- 
greiflichsten machen,  welche  Gesetee  über  diesen  aufgestellt 
werden  können.  Viertens  mnJb  die  Existenzart  der  Objekte 
jener  Funktion  sowie  deren  Beziehungen  zu  ihr  selber  ins  Auge 
gefafst  werden,  die  Art  der  Abhäogigkeit  oder  Selbständigkeit. 
Endlich  kOnnte  man  noch,  unter  Berttcksichtigung  des  also  fest- 
gestellten psychischen  Verlaufes,  praktische  Regeln  aufstellen, 
nach  denen  die  gemeinte  Wirkung  kunstgemäfs  erreicht  werden 
könnte.  Die  erste  und  dritte  dieser  Betrachtungsweisen  würden 
der  Psychologie  zuzuweisen  sein;  sie  unterscheiden  sich  jedoch 
etwa  wie  Zoologie  und  Biologie,  und  besonders  ftlr  unsere 
historische  Untersuchung  ist  es  vorteilhaft,  beides  zu  trennen, 
znmal  da  wir  am  Anfang  der  Begriffsforschung  einsetzen, 
wo  noch  Beobachtung  und  Erklärung  deutlicher  auseinander- 
gehen. Die  zweite  Seite  des  Problems  gehört  der  Logik,  die 
vierte  der  Metaphysik  oder  Erkenntnistheorie,  die  letzte  der 
Logik  als  Kunstlehre  an.  Die  grölsten  Fortschritte  hat  die 
Psychologie  gemacht,  wie  alle  empirische  Forschung,  die  aus 
der  reicheren,  immer  besser  instrumentierten  Erfahrung  der 
Jahrhunderte  hat  Nutzen  ziehen  können.  Aber  es  ist  gar  nicht 
gesagt,  dalj9  unzureichende  genetische  Erklärung  einer  Tatsache 
des  Seelenlebens  auch  die  logische  Behandlung  beeinträchtigen 
müsse,  da  beides  durchaus  selbständig  nebeneinander  hergeht. 
Nach  diesen  verschiedenen  Gesichtspunkten  wollen  wir  also 
nunmehr  unsere  Untersuchung  anstellen. 


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I.  Die  Sophisten  und  Sokrates. 


3.  Id  jeDen  Zeiten  des  6.  Jahrhunderts,  als  KolonisatioDS- 
arbeit  und  Handelsverkehr  den  Griechen  ans  seiner  engeren 
Heimat  herausgeführt  nnd  eine  neue  Welt  vor  seinen  staooeih 
den  Augen  entrollt  hatten,  die  die  mannigfachsten  Fragen  an 
seinen  wachen  Gkist  richtete,  da  entstand  in  dem  nenerworbeneo 
Lande  die  Naturphilosophie.  Der  Blick  war  naturgemäCs  zuerst 
nach  aufsen  gewendet.  Aber  als  dann  die  alten  ständiseheo 
Schranken,  auch  im  Mutterlande,  immer  mehr  fielen  und  die 
politische  Verfassung  derKräfteentfaltnng  des  einzelnen  Menseheo 
einen  bis  dahin  nicht  gekannten  Spielraum  liels,  da  wurde 
dieses  Individuum,  auf  das  sich  nun  alles  einstellte,  zum  Lieb- 
lingsgegenstande der  Forschung.  Man  verlangte  nach  Lehren, 
mit  deren  Hilfe  man  den  jetzt  offenstehenden  Weg  nach  Macht 
finden  konnte,  nach  einer  Erziehung  zur  politischen  Tätigkeit 
die  Erfolg  und  Einflu£i9gewinnung  garantierte.  Diesem  Bedfirfnis 
trug  die  sogenannte  Sophistik  Rechnung.  Obwohl  sie  jenes  rein 
praktische  Ziel,  dem  sie  ihre  Entstehung  verdankte,  niemab 
aus  dem  Auge  verlor,  so  mufste  sie  doch  zu  dessen  kaost- 
gemäfser  Erreichung  zwei  Dinge  vor  allem  auch  theoretisch 
erforschen:  die  menschliche  Seele,  auf  die  man  wirken  wollte. 
und  die  Sprache,  die  man  dazu  als  Organ  benutzen  molste; 
Psychologie  und  Grammatik  verdanken  wesentlich  den  alten 
Sophisten  ihre  Entstehung.  Die  Bedeutendsten  waren  Protagoras 
und  Gorgias;  doch  machte  schon  auf  die  Zeitgenossen  die  ganze 
Bewegung  den  Eindruck  einer  geschlossenen  Einheit,  die  sich 
um  so  bemerkbarer  machte,  als  ihre  Vertreter  mit  dem  ihren 
politischen  Absichten  eigenen  Radikalismus  vor  den  äufseraten 


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KoDBequenzen  ihrer  Annahmen  nicht  zurückschreckten.  Diese 
mündeten  in  einen  schroffen  Relativismus,  der  ja  das  Resultat 
psychologisch  orientierter  Betrachtungsweise  zu  sein  pflegt 
Ausgeprägt  ist  er  in  Protagoras'  berühmten  Worten,  dem  Motto 
der  Sophistik: 

ndvrwv  %Qriiiaxo}V  iiirQOv  iörlv  avd-Qwnoq,  tcov  fikv  6vx(ov 
<bq  S0TIV,  t(ov  6h  ox*x  ovTOJV,  cog  ovx  Jsöriv  (536, 11.)  0 
Protagoras  fand  nämlich,  dafs  der  einzige  Weg  in  das  Innere 
der  Seele  die  Wahrnehmung  sei,  und  so  folgert  er:  (irj^ev  slvai 
ywx^v  otagä  xaq  alö&fjösig  (525,25).  Die  Gegenstände  der 
WahmehmuDg  befänden  sieh  nun  aber  in  beständigem  „Flusse^, 
und  aufserdem  werde  durch  Alter,  Eörperbeschaffenheit  und 
Stimmung  das  Wahrgenommene  beeinflulst;  da  jedoch  für  den 
Menschen  nichts  anderes  existiere,  als  eben  diese  seine  augen- 
blicklichen Sinneserscheinungen,  so  sei  er  das  einzige  Kriterium 
der  Wahrheit;  so  kommt  der  bekannte  Ausspruch  zustande 
(531,  7 — 30  nach  Sextus  Empirikus).  Die  beiden  wichtigsten 
Ergebnisse  sind  also:  alles  Seiende  ist  Beziehung,  und  ferner: 
alles  „ist"  nur  als  Wahrgenommenes.  Solche  Lehren  machen 
aber  jede  Wissenschaft,  insbesondere  die  Logik,  unmöglich. 
Denn  nicht  einmal  die  Voraussetzung,  die  auch  eine  psycho- 
logisierende  Logik  braucht,  die  (empirische)  Gleichartigkeit  der 
Konstitution  der  menschlichen  Seelenkräfte,  ja  sogar  nicht  die  des- 
selben Individuums  zu  verschiedenen  Zeiten  läfst  Protagoras  be- 
stehen. Wie  gründlich  man  sich  auch  in  der  Praxis  in  Sophisten- 
kreisen über  die  Logik  hinwegsetzte,  zeigen  die  erhaltenen  Aiccol 
Zojoi  (635  ff).  Vor  allem  aber  benahmen  jene  Voraussetzungen  jede 
Möglichkeit,  auf  die  Tatsache  der  Abstraktion  irgendwie  ein- 
zugehen. Hier  war  eine  so  offensichtliche  Lttcke,  dafs  man 
schon  erwarten  wird,  dort  werde  der  Widerspruch  einsetzen; 
denn  dalis  wir  abstrakte  Begriffe  bilden,  mehrere  Gegenstände 
in  mannigfachster  Hinsicht  und  zu  verschiedenen  Zeiten  als 
dieselben  betrachten,  dies  ist  eine  offenbare  Tatsache  unseres 
Seelenlebens,  die  schon  in  der  Bildung  allgemeiner  Namen  ftlr 
jeden  sieh  wirksam  zeigt.  Dies  mufste  also  erklärt,  nicht 
verschwiegen  werden.    Bemerkt  sei  noch,  dafs  Protagoras  sich 

^)  Zitiert  ist  in  diesem  Paragraphen  nach  Seiten  und  Zeilen  von 
H.  DielB,  Fragmente  der  Voisokiatiker,  Band  II,  1>,  Berlhi  1907. 


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8 

offenbar  «d  Heraklit  anlehnte,  der  ja  ebenfalk  für  die  Objekte 
der  Wahrnehmnng  die  Einheit  lengnete:  g)fiolp  ovv  6  dvi^n 
trjv  vXtjv  QBVörijv  slvai,  Qeovötjq  dh  avztJQ...  (531,14). 
Ferner  polemisierte  er  gegen  die  Eleaten,  die  Leute,  „die  das 
Seiende  als  Einheit  einführten^  (537,10). 

Namentlich  diesen  letzten  Gegensatz  zur  eleatischen  Philo- 
sophie müssen  wir  im  Auge  behalten,  wenn  wir  die  bei  Sextus 
dem  Empiriker  ausführlich  erhaltene  GedankenfÜhmng  des 
Gorgias  verstehen  wollen  (552,13—555,21).  Wahrscheinlich 
enthielt  dieselbe  Schrift  auch  seine  an  Empedokles  angeknüpfte 
Theorie  der  Wahrnehmung  (555,22—25),  und  da  das  Ganze 
nach  den  Worten  des  Berichterstatters  auf  das  Ergebnis  des 
Frotagoras  zusteuerte  —  nur  auf  anderem  Wege  (552,13 — 15)  — ^ 
so  sehen  wir  schon:  es  herrscht  derselbe  Geist.  Jener  „andere" 
Weg  wird  sogleich  klar,  wenn  wir  das  in  dem  Bericht  auf« 
tretende  oV  und  /i^  ov  als  die  eleatischen  Begriffe  auffassen, 
die  hier  bekämpft  werden  sollen.  Ein  absolutes,  unabhängiges 
Sein,  heilst  es,  ist  unmöglich,  da  alle  Bestimmungen,  die  wir 
ihm  beilegen  könnten,  zu  Widersprüchen  führen,  da  ihm  also 
keine  einzige  zukommen  kann  (ort  ovöhv  bOxlv  552, 19 — 554, 2). 
Wenn  aber  auch  zweitens  ein  absolutes  Sein  existierte,  so  könnte 
es  doch  nie  erkannt  werden;  denn  das  Gredachte  ist  kein 
absolutes  Sein  (554,  3 — 32).  Drittens  aber,  selbst  wenn  ein 
solches  Erfassen  irgendwie  möglich  wäre,  so  wäre  immer  noch 
ein  Mitteilen  an  einen  anderen  ausgeschlossen,  da  die  Sprache 
nicht  das  absolute  Sein  wiedergibt,  noch  überhaupt  ihm  ähnlich 
ist  (554, 33 — 555, 18).  Folglich  entbehren  wir  jedes  Kriteriums 
der  Wahrheit,  jedes  Wissens  über  das  absolute  Sein,  womit 
denn  der  Satz  des  Frotagoras  erreicht  ist^)  —  Die  Art  der 
Ausführungen  hat  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  platonischen 
Farmenides,  wo  ebenfalls  die  Ausdrücke  ov  und  n^  or  bald 
das  absolute,  bald  das  beziehentliche  Sein  meinen.  Wider- 
sprüche waren  freilich  für  Gorgias  unvermeidlich;  es  liegt  nun 
einmal  in  der  Natur  der  Sache,  dafs  jeder,  der  solche  aensua- 
listischen  Positionen  streng  beweisen  wiU,  mit  den  Mitteln 

*)  555,18:  xoiovxfov  olv  naga  ry  Pogym  i^ogrjfiivwv  cSx^^'^  oaot 
in  avzolq  rb  zijq  icXr^d-glag  xgnijQiov '  xov  yaQ  fiijxc  ovzo^  fnize  /ropc- 
)^ed-ai  dvvafjiivov   ujjxe  aXXtjf   nagaaraO^vai    nttpvxoxoq  ovöhv  av  fttj 

XQlXl^QlOVk 


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9 

arbeitet,  die  durch  Beine  VorauBsetzangeD  eigentlich  aufgehoben 
sind;!)  so  heifst  es  ganz  ernsthaft  (552,26):  jtaifzsXoyq  de 
äxojcov  rö  slval  vi  Sfia  xal  fi?j  slvai.  Wir  werden  erwarten, 
dafs  auch  diese  Selbstvernichtung  des  sophistischen  Denkens 
sehr  bald  zur  Kritik  herausgefordert  habe. 

Noch  ein  dritter  Punkt  ist  jedoch  von  grofsera  Interesse, 
er  spielt  eigentlich  schon  in  das  zweite  Forschungsgebiet  der 
Sophisten,  die  Grammatik,  hinüber.  Auf  die  Beziehungen 
zwischen  Wort  und  Gedanken  wurden  wir  schon  hingewiesen, 
und  zwar  hat  in  diesen  Überlegungen  der  dogmatisch-positive 
Charakter  ihrer  grammatischen  rex^rj  offenbar  die  philosophische 
Betrachtung  beeinflufst.  Protagoras  schrieb  über  den  „richtigen^ 
Gebrauch  der  Worte,  Prodikus  eine  Synonymik;  dabei  ging  er 
von  dem  Grundsatze  aus  (566;  30),  es  mttfsten  verschiedene 
Namen  auch  verschiedene  Bedeutung  haben.  Die  Namen  also 
waren  dafür  das  Primäre.  Noch  deutlicher  tritt  dieselbe  An-« 
schauung  in  der  Lehre  eines  nicht  genannten  Sophisten  hervor, 
die  uns  durch  die  Bekämpfung  bei  dem  Hippokrateer  de  arte 
erhalten  ist  (592,8),  und  die  sagen  liefs:  die  eUij  seien  nur 
auf  Grund  der  Worte,  nicht  aber  aus  der  Natur  heraus  ent* 
standen;  dann  antwortet  der  Hippokrateer : 

olfiai  61  eyoYS  xal  rä  örofdara  avtäg  (seil  rag  xixvao)  6id 
r«  eiöea  Xaßetv '  äXoyov  yaQ  djto  rwv  dvoiiazwv  ^yelod-ai  rä 
ecöea  ßXaoxdveiv  xal  ddvvaxov  '  rä  fdhp  yäg  orofiaza  vo/io- 
d-errjuaxd  iöxiv,  xd  6e  ecöea  ov  vofdo&ex^fiaxa  dXXd  ßXa* 
öxfjfiaxa  (vgl,  3.  Aufl.  II,  293, 2). 

Hier  wird  genau  das  bekämpft;  was  uns  aus  dem  Mittel- 
alter als  Nominalismus  bekannt  ist.  Es  ist  ein,  wenn  auch 
anscheinend  vereinzelt  gebliebener  Versuch,  von  sophistischer 
Grundlage  aus  die  Tatsache  der  Abstraktion  irgendwie  zu 
bewältigen.     Die   allgemeinen  Namen    sollten  alles  erklären. 

^)  Ich  k&nn  mich  nicht;  mit  Windelband  (Lehrbaeh  der  Geschichte 
der  Philosophie  *1913,  S.  74),  davon  ttberzeugen,  dals  Gorgias  mit  der 
Schrift  nur  einen  Spafs  hätte  machen  wollen.  Es  ist  eine  dorchaos  ernst- 
hafte Polemik  gegen  die  Eleaten,  keine  Spur  von  „grotesker  Farce^  oder 
Ironie.  Ebenso  wenig  kann  ich  H.  Gomperz  beistimmen,  nach  dem  (Sophistik 
und  Bhetorik  1912,  S.  24  f)  die  Schrift  eine  Probe  dafür  sein  soll,  wie  man 
„auch  das  Absurdeste  mit  dem  Schehie  der  Plausibilität  au  nmgeben  ver- 
möge." Wir  haben  zwar  nicht  einen  „philosophischen  Nihilismus**  vor  uns, 
aber  dooh  ^ine  Ablehnung  des  starren  eleatischen  Seinsbegriffes.. 


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10 

Dals  sich  die  Sophisten  der  Konsequenz  ihrer  Lehren,  der 
Aufhebung  nämlich  der  Wissenschaft,  bewnfst  waren,  zeigen 
ihre  Anpreisungen,  sie  konnten  ihre  Schttier  ohne  UbermitUiing 
der  Sachkunde  zu  allen  Dingen  geschickt  machen  (528,27). 
AuTserdem  aber  stellte  Protagoras  zusammen  (yermutlich  in 
den  „Widerreden**  [538]),  was  man  gegen  jede  einzelne  Wissen- 
schaft einwenden  könne.  Ein  lehrreiches  Beispiel  hat  uns 
Aristoteles  erhalten  (538, 19):  die  Geometrie  sei  anmOglich; 
denn  ihre  Bestimmungen  kämen  in  der  Wirklichkeit  gar  nicht 
vor;  keine  Linie  sei  gerade,  keine  Tangente  habe  wirklieh  nur 
einen  Punkt  mit  dem  Kreise  gemeinsam.  In  der  Wahmehmnng 
gewifs  nicht,  und  wenn  die  ganze  Seele  nur  Wahmehmung  ist, 
so  ist  die  Bestreitung  der  Geometrie  durchaus  konsequent 

Betrachten  wir  nun  die  sophistischen  Lehren  nach  den  in 
der  Einleitung  skizzierten  Gesichtspunkten,  so  werden  wir 
sagen  müssen:  sie  übersahen,  dafs  wir  nicht  nur  Wahr- 
nehmungen erleben,  sondern  auch  einen  ganz  bestimmten  Sinn 
in  sie  hineinlegen,  dafs  wir  z.  B.  in  der  Geometrie  nicht  die 
vorliegende  Figur  meinen  bei  unseren  Ableitungen  —  und  man 
mufste  das  übersehen,  wenn  man  eine  Moral  begründen  wollte, 
die  sich  lediglich  von  den  augenblicklichen  Erfordernissen  der 
Situation,  dem  Streben  nach  Macht  um  jeden  Preis  leiten  liels. 
So  mufste  man  aber  weiter  zur  Leugnung  der  logischen 
Betrachtungsart  kommen  und  glauben,  man  habe  mit  der 
physiologisch-psychologischen  Erklärung  der  Wahrnehmung, 
wie  sie  Gorgias  versuchte,  alles  geleistet  Erkenntnistheoretisch 
ergab  sich  daraus  der  Zweifel  an  der  Existenz  alles  dessen, 
was  über  die  augenblicklichen  Wahrnehmungsinhalte  hinaus- 
ging, und  praktisch  eine  antilogische  Kunstlehre  des  Denkens, 
eine  Anweisung  zur  Auffindung  von  Widersprüchen  und 
„Sophismen^:  alles  durchaus  folgerichtig. 

4.  Man  siebt,  das  Pendel  der  Entwicklung  war  nach  der 
einen  Seite  weit  genug  ausgeschlagen,  um  mit  vollem  Schwung 
nach  der  entgegengesetzten  sich  wenden  zu  können.  Die 
Reaktion  blieb  denn  auch  nicht  lange  aus.  Jede  schon  einiger- 
mafsen  gefestigte  Wissenschaft  mulste  gegen  die  Sophistik 
protestieren.  Als  erste  trat  sehr  bald  die  Medizin  auf  den 
Plan.  Wir  haben  die  Schrift  des  Hippokrateers  schon  kennen 
gelernt;  es  ist  besonders  bemerkenswert,  dals  er  gleich  die 


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11 

wnnde  Stelle  in  der  gegneriBchen  GedankenfÜhrang  trifft:  die 
Nichtachtang  der  slöf]^  die  nach  ihm  „heryorwaehsen  ans 
der  Natnr  selbst '^  (s.  o.  S.  9).  Der  Mann  aber,  der  den 
Sophisten  anf  ihrem  eigenen  Gebiete  entgegentrat,  ihre  sozialen 
und  politischen  Bestrebungen  aufnahm,  war  Sokrates.  Anch  er 
ist  nnr  als  Bttrger  eines  freien  Staates  denkbar;  auch  ihm  ist 
der  Menseh  das  einzig  würdige  Objekt  der  Forschung  (Xeno- 
phon,  Memorabilia  1,110 — 15)^),  ebenso  wie  jenen  stand  ihm 
dabei  sein  Verhältnis  zu  Staat  und  Gesellschaft  im  Mittel- 
paukte. 2)  Er  macht  es  sich  zur  Aufgabe,  zu  sorgen,  da£s 
möglichst  yiele  zu  tttchtigen  „Politikern**  werden  (I,YI15). 
Aber  seine  Bemühungen  stellt  er  von  vornherein  auf  eine  ganz 
andere  Grundlage.  Die  Hauptforderung  ist  ihm  das  Fvcid^i 
oavxov  (IV,  II 24):  wer  sein  Können  und  Wissen  selber  nicht 
kennt,  ist  nahezu  wahnsinnig.  3)  So  gilt  es  denn,  auf  jedem 
Gebiet  wirkliche  Sachkunde  zu  erwerben,  ^)  auch  auf  dem  des 
Sittlichen :  wer  das  Gerechte  kennt,  ist  unter  allen  Umständen 
gerechter  als  der,  der  es  nicht  kennt  (IV,  II 20).  Gerechtigkeit 
nnd  alle  Tugend  ist  Wissen,  da  jeder  das  tut,  was  er  als  das 
Bessere  erkannt  hat.^)  Um  dies  zu  erreichen,  ist  vor  allem 
notwendig,    das   bleibende    Wesen    der    einzelnen   Dinge   zu 


^)  Benutzt  ist  im  folgeaden  nur  Xenophon,  und  nur  f&r  solche  Ge- 
danken, die  auch  durch  Piato  allgemein  als  sokratisch  bekannt  sind;  vgl. 
H.  Maier,  SokrateSi  Tübingen  1913.  Dieser  hat,  wie  ich  meine,  über- 
zeugend dargetan,  dafs  auch  Aristoteles  nicht  als  ungetrübte  Quelle  fdr 
Sokrates  gelten  kann,  vielmehr  den  Xenophon  benutzt  habe:  S.  94— 102. 

•)  I,  I,  H :  oiSl  yoLQ  itBQl  Ttjg  T(ov  ndi^twv  (pvaaaiq,  in^Q  twv  aXXwv 
Ol  nXeiatoi,  öieXiyeto  oxomäv  onioq  b  xaXovfjievog  inb  tdiv  ootpiordiv 
xooßoq  ^x^t  xal  xiaiv  dvdyxaig  ^xaara  yiyvetai^jiüv  ovQaviatv,  akXd  xal 
zovg  tpQOvxil^ovrag  ta  roiavra  (i<oQalvovxaq  dnedslxyve. 

1,1,16:  avtbq  Öh  neQl  zwv  dvO^Qomeiwv  atl  öieXiyexo  oxonwv  xi 
evaeßiq,  xi  doeßag,  xL  xakovy  xl  cdaxQov,  xi  dixaiov,  xi  aöixov,  xi  aw' 
ipQOOvvri,  xi  (lavla,  xi  dvögtia,  xi  ösiXia,  xi  noXiq,  xi  noXixixog,  xi  oqx^ 
dvd-Qwnwv,  xi  d^ixog  dv^Qwnoiv  ... 

•)  III,  IX,  6:  xa  di  dyvoeXv  havxbv  Tcal  S  (iri  olös  6oSdt,eiv  xe  xal 
oho^ai  yiyvwüxetv  iyyvvdxm  fzavia^  ikoyi^axo  elvai. 

*)  III,  VI,  bes.  16 — 18:  el  oiv  imS^v/jielg  evöoxifjteiv  xe  xal  ^avfAa- 
^ea^ai,  nsigca  xaxsQydaaod-ai  wg  fidXicxa  xb  elöivai  a  ßovXsi  TCQdxxsiv. 

*)  III,  IX,  4 :  ndvxäq  yaQ  ol,uai  nQoaiQOvidvovq  ix  xäv  höfx^fiivwv 
a  oiovvai  avfKpoQwxava  avxolq  elvat,  xavxa  ngdixeiv  •  vofii^o)  ovv  xovg 
fiTj  o^d-wg  TtQdxxovzag  ovxs  aotpovg  oixB  a(o<pQovag  slvat. 


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12 

erforscheD,  sie  durch  Definition  festzulegen,  i)  Um  dahin  zu 
gelangen,  sehen  wir  Sokrates  zwei  Wege  einschlagen:  entweder 
stellt  er  nach  Möglichkeit  alles  zusammen,  was  unter  einen 
Begrift  fällt, ')  oder  aber  —  und  das  scheint  die  Regel  gewesen 
zu  sein  (IV,  VI  15)  —  er  ging  von  dem  allgemein  Angenommenen 
ans,  um  es  zu  analysieren  (z.  B.  IV,  VI  2—4).  Dieses  alles 
durchziehende  Grundmotiv,  die  Forderung  der  Sachkunde,  macht 
Sokrates  zum  offenen  Gegner  der  Sophisten,  wenn  auch  Xeno- 
phon  diesen  Gegensatz  nicht  so  betont  hat,  wie  Plato. ')  Über 
die  Methoden  der  Begriffsbestimmung  und  ihre  theoretischen 
Grundlagen  scheint  Sokrates  nicht  reflektiert  zu  haben:  ihm 
war  die  praktische  Austtbnng  das  Wichtigste»  Jedenfalls  hat 
er  die  beiden  Grundirrtttmer  der  Sophisten  zu  beseitigen 
gesucht:  er  wollte  die  politische  Erziehung  und  Betätigung 
auf  eine  Grundlage  stellen,  die  sich  nicht  selbst  und  alles 
darauf  Erbaute  zerstörte,  nämlich  auf  das  Wissen,  und  er  ging 
dazu  aus  dem  sensnalistischen  Relativismus  seiner  Gegner  heraus 
zur  Aufstellung  des  sich  gleichbleibenden  allgemeinen  Begriffs. 
Damit  war  die  Grundlage  gegeben,  auf  der  eine  Beachtung 
und  Erforschung  der  Abstraktionstätigkeit  möglich  und  not- 
wendig wurde. 

*)  IV,  IV,  l :  cSv  ^vexa  cxonwv  xL  ^xacxov  ciiy  xtbv  ovxofv,  ovdixox' 
iXrjys  .ndvxa  ßlv  olv  |  Si<aQlt,£xo,  noXv  iQyov  av  etij  Sie^eX&siv. 

•)  IV,  II,  13:  y^dxpcDfiev  ivxav^ot  fiiv  SiXxa,  ivxavO^oZSh  aXipa,  elxa 
oxi  fjilv  av  öoxy  ^fxly  xi^q  ÖLxaioavvriq  BQyov  elvai  UQoq  x6  dikxa  xid^wfiBv, 
oxi  6t  av  xrjq  döixlaq  ngbq  x6  aX<pa  .  .  . 

•)  Doch  vgl.  B.  B.  I,IV,1. 


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IL  Plato. 


Plato  setzte  die  LebeDsarbeit  des  Sokrates  fort  und  machte 
sich  deBsen  Bestrebnngen  so  sehr  zu  eigen,  dals  wir  in  seinen 
Schriften  vielfach  Sokratisches  und  Eigenes  nicht  mehr  zu 
scheiden  vermögen.  Auch  er  wollte  die  Menschen  zu  rechter 
Betätigung  in  Staat  und  Gesellschaft  erziehen:  diesem  Gegen- 
stand ist  dem  Umfange  nach  die  Hälfte  aller  seiner  Schriften 
gewidmet  Auch  er  suchte  fUr  diese  Lehren  nach  fester  Be- 
gründung, nach  dem  Rahmen  einer  einheitlichen  Weltanschauung, 
so  dals  jeder  durch  seine  Vernunft  an  sie  gebunden,  alle  Will- 
kür ausgeschlossen  würde.  Der  theoretische  Ausbau  jener 
Grundlage  ergab  das  Hauptstttck  seiner  Philosophie,  die  Ideen- 
lehre, die  wesentlich  aus  der  sokratischen  Begriffsbestimmung 
erwachsen  ist  und  also  mit  dem  Problem  der  Abstraktion  sich 
abfinden  muTs. 

Yorbemerkang  über  die  Reihenfolge  einiger  Dialoge. 

5.  Ehe  wir  aber  an  die  Sache  selber  herangehen,  ist  es 
notwendig,  einige  philologische  Bemerkungen  über  die  Reihen- 
folge einzelner  Dialoge  vorauszuschicken,  da  die  Auffassung 
der  platonischen  Gedanken  wesentlich  abhängt  von  der  Zeit- 
folge, die  man  fUr  die  Entstehung  der  Dialoge  annimmt.  Die 
Darstellung  der  Ideenlehre  durch  P.  Natorp  beruht  zum  nicht 
geringen  Teile  auf  einer  sehr  frühen  Ansetzung  des  Phädrus 
und  Theätet  —  vor  Phädon,  Gastmahl,  Staat,  die  so  als  Zwischen- 
glieder zwischen  dem  Phädrus  und  den  von  ihm  so  erheblich 
abweichenden  Dialogen  Parmenides,  Sophistes  gedeutet  werden 
können.  Man  ist  aber  jetzt  offenbar  gezwungen,  jene  beiden 
Dialogo  nach  dem  Staate  anzusetzen;  allein  die  Methode  der 


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14 

Spracbfttatistik,  die  nach  der  neuerliehen  Darcharbeitung  ihrer 
logischen  Grandlage  niemand  mehr  wird  abweisen  wollen,') 
würde  hier  entscheiden  können.   Dazu  treten  aber  Gründe  ans 
dem  Inhalte  der  Dialoge,  ans  der  Vergleichnng  des  eseh&to- 
logiscben  Mythos  Phädrns  245  ff.  mit  dem  am  Schiasse  des  Staates 
and  die  kurze,  ohne  Staat  II — IV  unverständliche  Darstellang 
der  Dreiteilung  unserer  Seele.  >)     Da  aber  alle  diese  Gründe 
noch  immer  nicht  allgemein  ttberzeagend  gewirkt  haben,  so  sei 
mir  gestattet,  anf  einen  weiteren  Umstand  aufmerksam  zu  machen, 
der  von  der  späteren  Abfassung  des  Phädrus  Zeugnis  ablegt 
Am  Schlüsse  seiner   zweiten   Bede   bringt  Sokrates   die 
Seelen  je  nach  ihrem  Verhalten  dem  Geliebten  gegenüber  in 
eine  ge^fisse  Rangordnung,  und  die  Beschreibung  der  besten 
Klasse  läfst  noch  deutlich  erkennen,  daüs  das  Gleichnis  vom 
Seelenwagen  berufen  war,  diese  Stufenfolge  und  die  Charak- 
terisierung im  einzelnen  zu  erläutern.     Die  Bezeichnung  des 
besten  Eros,  der  ja  in  der  Beherrschung  des  Wagens  durch 
seinen  Lenker,  den  rovg,  sein  Wesen  haben  soll,  ist  durchaus 
angemessen.      Aber    beim    zweitbesten    Zustande,    dem    des 
g)iX6ti(£og  256  c  1,  versagt  das  Bild,  und  auch  dieser  Name 
palst  nicht:  er  müfste  durch  die  Vorherrschaft  des  besseren 
Pferdes  hervorgerufen  sein,  das  ja  in  der  Tat  als  rififjg  igaarjjg 
geschildert  wurde  253  d  6.    Da  aber  Plato  mit  dem  Begriffe 
der  Ehre  bei  der  Charakterisierung  des  zweitbesten  Eros  in 
Wirklichkeit  nichts  anzufangen  weifs,  so  sieht  man,  dafs  diese 
Wendung  des  Gedankens  nicht   ursprünglich  für  diesen  Zu- 
sammenhang bestimmt  war.    Ganz  dasselbe  ergibt  sich,  wenn 
wir  den  drittbesten  Zustand  ins  Auge  fassen.    Dieser  wird  als 
q)£iöa)Z6g  256  e  5  bezeichnet;   die  om^ffocvvri  ^vffnj  lälst  in 
einem  solchen  keine  Liebe  aufkommen.    Hier  versagt  das  Bild 
vom  Seelen  wagen  also  völlig;  der  Begriff  der  ca^Qoovnj  d^i^/rij 
statt   der  erwarteten   völligen   Zügellosigkeit   des  schlechten 
Pferdes  mufs  überraschen.    Alle  diese  Schwierigkeiten  finden 
mit  einem  Sehlage  ihre  Erklärung,  wenn  wir  die  Ausdrücke 
^iXötifiog  und  ^siöcoXog,  ebenso  auch  ^il6(Sog>og,  als  Hinweise      ' 

>)  H.  V.  Arnim,  Sprachliche  Forschungen  zur  Chronologie  d.  pUton.       i 
Dialoge.    Wien  1912.  I 

*)  Zasammengestellt  bei  H.  Raeder,  Piatos  philosoph.  Entwickl.  Lpz. 
1905,  8.  260—258. 


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15 

auf  das  YIIL  Btteh  des  Staates  fassen  können,  in  dem  diese  drei 
Worte  bei  voller  Verständlichkeit  und  unter  Wahrung  ihres 
gewöhnliehen  Sinnes  ganz  allgemein  auf  die  drei  besten  Seelen- 
znstände  angewendet  werden;  vgl.  fttr  g>cX6Tiiiog,  545  a  3,  b5; 
548  0  5—7;  550  b  7,  fttr  g>€i6(oX6g  554  a  5,  e  7;  555  a  9;  558  c  11; 
560  e  7.  Dort  passen  sie,  zur  Bezeichnung  speziell  der  erotischen 
Zustände  jedoch  durchaus  nicht:  kann  es  einem  Zweifel  unter- 
liegen, in  welchem  Zusammenhange  sie  zuerst  gebraucht  worden 
sind?  Auch  die  acDg>Qoavpri  Ovr/tf}  kehrt  im  Staat  beim  dritt- 
besten Zustande  wieder;  vgl.  559b  11;  560 dB.  Sie  läfst  nur 
aus  (xrttnden  der  „  Sparsamkeit '^  die  ttberflttssigen  Begierden 
unterdrücken.  Deshalb  also,  weil  jener  fiij  iQwv  des  Phädrus 
nur  ans  kleinlichen  Ängsten,  aus  unedlen  Motiven  sich  vor 
sinnlichen  Ausschreitungen  zurückhält,  mufs  er  an  Wert  hinter 
dem  g>iX6Tifiog  zurückstehen.  So  erst  wird  diese  Reihenfolge 
verständlich,  auf  die  doch  nach  jener  verfehlten  Lobrede  auf 
den  fiTj  iQ(5v  alles  ankam.  Man  sieht,  der  Verfasser  des  Phädrus 
ist  noch  ganz  beherrscht  von  den  Gedanken  des  Staates,  und 
die  Sprachstatistik,  die  eine  entsprechende  Beihenfolge  der 
Dialoge  fordert,  hat  gewifs  das  Richtige  getroffen,  i)  Dann  mufs 
aber  der  Natorpschen  Darstellung  ein  bedeutsamer  philologischer 
Interpretationsfehler  zur  Last  gelegt  werden,  was  ihre  Position 
in  dem  Kampfe,  den  sie  sowieso  zu  bestehen  hat,  nicht  gerade 
erleichtert  —  Der  Theätet  soll  auch  nach  Natorp  dem  Phädrus 
folgen.  Er  weist  meiner  Ansicht  nach  S.  176  e  3  auf  Staat  472  c  4 
deutlich  genug  zurück. 

6.  Die  Dialoge  vom  Theätet  ab  sind  nun  dadurch  zu  einer 
Einheit  verbunden,  dafs  in  ihnen  die  Frage  nach  dem  Zusammen- 
hange zwischen  Idee  und  sinnlichem  Ding  ganz  auffallend  in 
den  Vordergrund  tritt  Um  zu  einem  befriedigenden  Ergebnis 
zu  kommen,  stellt  Plato  das  „beziehentliche"  Sein  als  das- 
jenige hin,  was  unserer  Erkenntnis  eigentlich  allein  zugänglich 
sei:  Theät  186  a 9  öaxel  (seil.  ?)  tpvxfj)  iv  rolq  fidZiöra  jtQog 
äXXfjXa  CxojceZad-at  rfjv  ovölav;  vgl.  b  8.   Parmenides  im  Unter- 

0  Im  Übrigen  ist  die  VerteUung  der  Eigenschafteo  an  die  beiden 
Pferde  nur  mit  Hilfe  des  Staates  verBtändltob,  wo  sie  sich  genau  bei  den 
StÜDden  wiederfinden.  Ein  Beispiel:  Das  bessere  Pferd  ist  aXri&ivtiq 
66^fl(;  ixal^q  253 d 7;  genau  dasselbe  galt  im  Staat  von  den  Wächtern, 
und  zwar  nur  von  diesen  430 a,  b. 


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16 

schiede  der  ersten  und  zweiten  Hypothese  sl  tv  iotiv  (sbßolnies 
Sein)  and  ^v  sl  eövtv  (bezogenes  Sein).  Soph.  z.  B.  255  c  12 
rcov  ovT(DV  ra  fikv  aira  xa^^  avrd,  rä  Sh  jtgbq  äXXa  del  XiytTau 
Dem  entspricht  weiterhin  jene  „Mischnng'^  ans  Werdendem  und 
Seiendem,  die  yiveoiq  Blq  ovclav:  Politik.  283  d  8  t6  ök  xara 
r^  rfjq  yevioswg  ävayxalav  otLölav,  PhiL  xqItov  ^d&i  §ia 
Xi^siv  . .  .  yivBCiv  elg  ovölav  (gemeint  ist  das  fisixrov  yeinx;) 
26  d  7.  Tim.  ebenfalls  die  fisZ^ig  ans  vot/töv  nnd  alo&r^6»% 
auch  dort  genannt  ovala  35a4,  b3;  37a3.  In  diese  Beihe 
pafst  nnn  aber  der  Phädrus  auf  keinen  Fall  hinein;  denn  er 
ist  es  gerade,  der  allein  das  absolute  Sein  kennt,  dem  Werden 
schroff  entgegensetzt  nnd  als  alleinigen  Gegenstand  der  wahren 
Erkenntnis  betrachtet  (vgl.  247  c— e;  250  a— b).  An  diesen 
Dialog  Yornehmlich  pflegt  man  ja  zn  denken,  wenn  man  Ton 
Piatos  Hypostasiernng  der  Begriffe  im  „Reiche  der  Ideen** 
spricht;  er  fällt  also  ganz  gewifs  vor  jene  nene  Problem- 
stellung, nnd  in  dieser  Meinung  wird  uns  auch  die  bisher  auf 
rein  stilistische  Gründe  basierte  Ansetzung  nach  dem  Parmenides 
bei  H.  V.  Arnim  nicht  wankend  machen. 

Da  nun  als  Zwischenglieder  zwischen  Phädrns  und  The&tet 
weiter  keine  Schriften  in  Betracht  kommen,  so  stehen  diese 
beiden  Dialoge  am  Ende  nnd  Anfang  zweier  yersehiedener 
Perioden  in  Piatos  philosophischer  Entwicklung.  In  jenem  ist 
der  Bruch  noch  mit  keinem  Worte  angedeutet,  in  diesem  ist 
er  vollzogen.  Eine  so  scharf  sich  abhebende  Neuerung  wird 
gewifs  auch  ihre  äufseren  Orttnde  haben,  und  gerade  fttr  die 
Zeit  um  470  läfst  sich  da  mancherlei  ausdenken.  Da  nun  die 
Umbildung  gerade  das  von  uns  untersuchte  Problem  mitbetrifft, 
so  wird  es  auch  fttr  uns  nötig  sein,  nach  diesen  beiden  Perioden 
zn  disponieren,  um  die  Änderungen  im  einzelnen  feststellen  zu 
können.  Nur  für  eine  Vorfrage,  nämlich  die  Beziehung  zwisehen 
Namen  und  Dingen,  wollen  wir  die  Zeugnisse  aus  der  zweiten 
Periode  gleich  mit  anführen,  da  in  dieser  Lehre  keine  Unter- 
schiede zu  finden  sind. 

Über  die  Beziehung  zwischen  Wort  nnd  Bing. 

7.  Am  sichtbarsten  ist  die  Abstraktionstätigkeit  in  der 
Sprache  zu  erkennen,  in  der  Schaffung  allgemeiner  Namen. 
Auch  für  Plato  bilden  diese  öfter  den  Ausgangspunkt  seines 


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17 

Nachdenkens:  wie  kommt  es  nnr,  dafs  wir  viele  verschiedene 
Dinge  mit  demselben  Worte  bezeichnen?  Es  mnfs  doch  etwas 
in  ihnen  sein,  was  uns  die  Berechtigung  dazu  gibt.  (Men.  74  d 5; 
Hipp.  mai.  288  a  8  *)  Staat  596  a  6—8.)  Wir  können  nichts  richtig 
benennen,  ja  auch  nicht  einmal  denken,  wenn  nicht  dem  gleichen 
Namen  auf  Seiten  des  damit  Gemeinten  etwas  auch  zu  ver- 
schiedenen  Zeiten  Gleiches  entspräche  (Krat439d — 140  d)^). 
Dieser  Znsanmienhang  zwischen  Sprechen  und  Denken  wird 
noch  dadurch  um  so  enger,  als  ja  das  Denken  ein  Unterhalten, 
ein  Fragen  und  Antworten  ist,  dem  die  Dialogform  Rechnung 
tragen  soll  (Phädon  75 d,  78 dl,  2;  Krat.  890o  10-11;  Staat 
534  dS),  nur  dafs  eben  in  der  zweiten  Periode,  als  auch  die 
äufsere  Lebendigkeit  der  Dialogform  erstarrte,  das  Denken  zu 
einem  inneren,  stillen  Sprechen  wird  (Theät  189e6f.;  Soph. 
263  e  3—5;  Phil.  38  d -39  a).  Dennoch  aber  war  Plato  weit 
davon  entfernt,  im  Zusammenwirken  von  Wort  und  Begriff 
jenem  irgend  welche  bestimmende  Bedeutung  einzuräumen: 
im  Gegenteil,  die  Sprache  ist,  als  Werkzeug  des  Mitteilens 
und  Unterscheidens  (Krat.  388  b  13),  nur  eine  notwendige  Fessel. 
Das  Wort  ist  eine  Nachahmung  des  Gegenstandes  (Krat  423  b  9; 
Soph.  267  d  4);  daher  wird  das  Sprechen  mit  dem  Malen  ver- 
glichen (Krat  430b  ff.;  Staat601a4;  Phil.  36  d— 39  e).  Da  jedoch 
aufser  diesem  Verhältnis  zu  den  Dingen  die  Sprachgewohnheit 
zum  Verständnisse  mitwirkt  (Krat.  434  e)')  und  ferner  sich  in 
den  Worten  die,  womöglich  falsche,  Weltanschauung  des  Wort- 
prägenden widerspiegelt  (Krat.  436  b  5  —  11)*),  so  sind  sie  die 
Ursache  manchen  Irrtums,  der  nur  vermieden  wird,  wenn  wir 


^)  rccvxa  navza,  &  ^f  c  xaXä  Bivai,  d  xL  icxiv  avxh  xo  xaXov,  tovt' 
av  ff^  xaXa; 

')  J4(>*  ovv  olov  xe  ngoaeineiv  avxh  Sq&wq,  ü  ael  ine^i^x^rai, 
ngdizov  filv  oxi  ixetvo  iaxiv,  ^netxa  dxi  xotovxov,  rj  dvdyxri  a/na  rjfiwv 
Xeyoviofv  aXko  avxh  ev&vg  yiyvea^ai  xal  vne^dvai  xal  (xrix^xi  ovxmq 
ex^tv;  —  dvdyxrj  (d8 — 12)...  ÄXX^  ov6h  yvwaiv  elvai  fpavai  eixoQt  d 
fiExaninxei  navxa  xQ^f^c^'^o^  xal  fiijöhv  fxivti . . .  (440  a  6 — 8). 

•)  6—7 :  rl  aXXo  xi  XiyeiQ  x6  ^d^og  ^  oxi  iya),  oxav  xovxo  ip&iyycofiai, 
öiavoovptai  ixetvo,  ah  6h  yiyvdtoxeiq  oxi  ixetvo  diavoovfjiai; 

*)  JfiXov^oxt  6  ^ifievoq  riQwxog  xa  Svofxaxa,   ola  r^yelxo  elvai  xa 

ngayfiaxa  xoiavxa  itld'BXo  xal  xa  ovofiaxa et  ovv  ixelvoq  /iij  og&wg 

iiyüxo,ed^€to  6t  ola  Tjytlxo,  xl  oiei  rjiiäg  xovg  dxoXovB^ovvxaqavxw  nelaeaS^ai ; 
üXXo  XI  ij  iianaxri&^ota^au 

PhUoMpbiMhe  AbluuidlnBgeii.    XXXXIV.  2 


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18 

aaf  die  bezeichneten  Dinge  selber  zurttekgehen  (Krat  439  a  5  ff.)  ^  - . 
deren  nnvollkommenes  (Krat  432  a  8  ff.)  Abbild  die  Namen  sind 
Ein  aus  dieser  Ansicht  fliefsendes  Bestreben,  ttber  die  „blolsen* 
Worte  hinauszukommen,  findet  sich  hänfig  ausgesprochen  (Charm. 
163d5;  175b4;  Staat454a7;  509d3;  533d6;  Theätl77el: 
Soph.  218c5).')  Was  Plato  zu  solcher  Meinung  drängte,  ist 
unschwer  zu  erkennen.  Einmal  hatte  er  selbst  oft  Gelegenheit 
sich  als  Wortpräger  zu  betätigen,  wenn  in  seinen  Einteilungen 
f ttr  einen  ganz  bestimmt  umrissenen  Begriff  der  Ausdruck  fehlte 
(z.  B.  Gorg.  464  b  4—6;  Soph.  267  d  9;  Polit  302  d  7).  Ferner 
waren  die  meisten  Sophismen  durch  unvollkommene  Bezeichnung 
entstanden  (Euthyd.  277  e  3  f.;  Staat454a  4— 9;  Theät  184c  1— 7^l 
Aber  das  wichtigste  ist  doch  dies,  dafs  seine  Gegner,  Herakliteer 
und  die  mit  ihnen  gleichgewerteten  (Krat  440  c  2)  Sophisten, 
aus  der  entgegengesetzten  Lehre,  dafs  nämlich  im  Worte  das 
ursprüngliche  Wesen  des  Gegenstandes  zu  erkennen  sei,  hatten 

')  b6  — 8:  0V9C  iS  ovofiaz(ov  dkXä  noXh  ß&XXov  aita  (wXLxa  orta) 
iS  avrtiv  xal  fia^z^ov  xal  gi/ri^r^ov  rj  ix  twv  ovo/xatapv. 

*)  In  den  „Gesetzen''  finden  wir  eine  gewisse  Erweitenmg  dieses  Ge- 
dankeDS,  indem  zwischen  Name  und  damit  bezeichnetem  Wesen  noch  die 
in  Sätzen  aosgeführte  Definition  (Xoyoq)  hinzutritt,  so  jedoch,  dals  Name 
und  Definitionssatz  gleichbedeutend  für  einander  eintreten  können,  wenn 
das  Wesen  einer  Sache  (z.  B.  des  Ereiaes)  bezeichnet  werden  soll  (S95  d— e). 
Im  7.  Briefe  kehrt  dieselbe  Ansicht  wieder,  nur  dais  jene  Dreiheit  su  fUnf 
Stufen  ausgebildet  ist:  Svofia,  Xoyoq,  €i6wXov,  hctaxrffiti,  vovq  (342  a  7  f.). 
Darin  braucht  kern  Beweis  einer  Weiterentwicklung  zu  liegen,  als  wenn 
nicht  Plato  auch  früher  schon  das  etdofXov  und  ferner  imotijfiii  und  vot^ 
von  den  andern  Stufen  und  unter  sich  geschieden  hätte.  Es  kommt  auf 
den  Zusammenhang  an,  und  da  dieser  in  beiden  Fällen  nicht  eine  Gliederung 
der  Erkenutnisarten  bezweckt,  sondern  nur  andere  Probleme  dadurch  auf- 
lösen wQl,  so  war  Plato  znr  Vollstiindigkeit  gar  nicht  verpflichtet  (gegea 
Räder,  a.  a.  0.  S.  297).  ~  Übrigens  glaube  ich  nicht,  dafo  mit  Hilfe  jener 
philosophischen  Bemerkungen  des  7.  Briefes  über  seine  Echtheit  entschledeo 
werden  könne:  Das  könnte  alles  sehr  gut  platonisch  sein,  selbst  wenn 
niemals  sonst  jene  fünf  Stufen  auftreten.  Der  Verfasser  wiU  ja  ausdrücklich 
kein  Lehrbuch  schreiben.  Erstannlich  wäre  es  immerhin,  dafii  ein  Falscher, 
nm  die  Unzulänglichkeit  alles  Büoherschreibens  zu  erweisen,  gerade  auf 
jene  verlorene  Notiz  der  Gesetze  zurückzugreifen  sich  entschlois,  und  nicht 
lieber  jene  berühmte  Stelle  des  Phädrus  benutzte,  wo  Plato  diesen  s^bea 
Gedanken  begründet  (275  d  — 276  e).  Man  mttfste  Uin  schon  unter  Piatos 
persönlichen  Schülern  suchen,  etwa  in  Herakleides.  Doch  möchte  ich  lu 
dem  Problem  hier  keine  Stellung  nehmen,  und  ich  werde  daher  den  Brief 
nicht  weiter  heranziehen. 


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19 

Nutzen  ziehen  wollen  (Krat.  436  e  2  ~  6;  Beispiele  Erat.  412—427) 
Das  mttssen  die  gleichen  Leute  gewesen  sein,  die  wir  oben 
(S.  9)  schon  einmal  durch  die  Schrift  des  Hippokrateers  kennen 
lernten.  Auch  dieser  wollte  die  primäre  Bedeutung  der  Blörj 
retten  und  tat  dies  mit  der  auch  im  Ausdruck  bei  Plato  an- 
klingenden Behauptung,  die  Worte  seien  vo/iod-sTJJfiata  und 
nicht,  wie  die  Dinge,  ßXaönjfiara  (ygL  den  vofio&htig  Krat 
388  e  1;  431  e  4;  Charm.  175  b  4).  Es  handelt  sich  also  um  eine 
Rettung  der  Ideen,  der  allgemeinen  Begriffe.  Nicht  umsonst 
und  gedanklich  durchaus  nicht  uuTermittelt  treten  diese  am 
Schlüsse  des  Eratjlus  auf  als  das,  worauf  sich  in  erster  Linie 
die  Forschung  zu  richten  habe.  Hinter  dem  anscheinend 
grammatischen  Problem:  sind  die  Worte  d^iasi  oder  g)vostf 
steckt  mithin  das  metaphysische:  sind  die  slöij  (pvöBt  oder 
HcBLi'^  also  der  Gegensatz  des  scholastischen  Realismus  und 
Nominalismus  l:ttndigt  sich  schon  damals  an.  Die  Ansicht 
des  Herakliteers  ist:  oq  av  rä  ovofiata  kjcloravai,  hclorazai 
xäi  jtä  jtQayitaxa  (Erat.  435  d  5).  Diese  Meinung  kommt  da- 
durch zustande,  dals  der  psychologische  Vorgang  der  Be- 
nennung mit  der  Wahrheit  des  damit  Gemeinten  gleichgesetzt 
wird.  Genau  ebenso  erklärt  sich  ein  anderer  Irrtum,  der  von 
Plato  demselben  Gegner  vorgeworfen  wird;  Eratylus  behauptet, 
es  gebe  kein  falsches  Urteil;  ein  solches  bedeute  doch:  etwas 
NichtSeiendes  ausdrucken  und  das  ginge  natürlich  nicht  (Erat. 
429  d  4 — 6;  vgl  Euthyd.  284).  Auch  hier  ist  der  psychologische 
Urteilsvorgang  in  seiner  Existenz  mit  dem  „Sein",  also  der 
Wahrheit,  von  dessen  Inhalt,  verwechselt.  Es  zeigt  sich  somit 
wieder,  dafs  ftlr  die  Sophistik  nur  die  psychologische  Be- 
trachtungsweise mafsgebend  war.  Plato  tritt  ihr  hier  energisch 
entgegen.  Seine  Polemik  und  seine  gegenteilige  Behauptung, 
der  benannte  Gegenstand  müsse  auch  ftlr  die  Erkenntnis  immer 
das  Primäre  bleiben,  beweisen  klar,  dals  für  ihn  niemals  die 
Tatsache  der  Abstraktion  mit  dem  Hinweis  auf  die  Existenz 
allgemeiner  Namen  abgetan  sein  konnte.  Freilich  hat  ihm  die 
damit  zngegebene  Möglichkeit  des  falschen  Urteilens  viel  zu 
schaffen  gemacht;  gerade  ihre  Erörterung  bildet  im  Theätet 
und  Sophistes  den  Ausgangspunkt  der  Untersuchung.  Wir  sind 
also  an  der  Stelle  angelangt,  von  der  aus  die  beiden  Perioden 
in  Piatos  Entwicklung  gesondert  zu  behandeln  sind. 

2* 


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20 
A.  Erste  Periode  der  platonischen  Philosophie. 

1.  Nachweis  der  Wirklichkeit  allgemeiner  Begriffe« 

8.  Wie  Sokrates,  so  ging  auch  Plato  yod  der  Erkeimtiiis 
ans,  dafs  alles,  was  die  Sophisten  trieben,  keine  Wissenschaft 
sei:  einmal  erklärten  ihre  berufensten  Vertreter  selber  (Protsg. 
318  e;  Gorg.  459  c  3),  die  Sachkunde  anf  den  einzelnen  Gebieten 
durch  ihre  „  Kunst  ^  ttberflttssig  machen  zu  können.  Sie  werden 
daher  auch  dvrlxsxvoL  genannt  (Staat  493  a  7).  Nun  hatten 
sich  aber  damals  schon  mehrere  Wissenschaften  entwickelt: 
Medizin  vor  allem,  auf  die  Plato  immer  und  immer  wieder 
hinweist,  aber  auch  Mathematik,  Baukunst,  Schiffsbau;  sie  alle 
verlangten  ein  nicht  leicht  zu  erwerbendes  Wissen,  forderten 
einen  Befähiguogsnachweis  durch  Angabe  des  Lehrers  oder 
eigener  Leistungen  (Gorg.  514  d — e;  Men.  90  b— c;  Staat  488  b  4). 
Eine  schon  ziemlich  weitgehende  Arbeitsteilung  hatte  sieh 
daraus  ergeben:  eine  und  dieselbe  rix^ri  konnte  nicht  alles 
Wissen  umfassen  (Jon  538  a;  Staat  346  a;  374  a  5;  423  d  3). 
Da  die  Sophisten  dies  Wissen  nun  nicht  besitzen,  so  sind  ihnen 
auf  allen  Gebieten  die  Sachkundigen  vorzuziehen.  Diese  For- 
derung der  Sachkunde  bildet  so  recht  das  Grundthema  der 
kleineren  sogenannten  sokratischen  Dialoge  (vgl.  noch  Staat 
332  c  5  ff.;  599  c). 

Aber  gerade  das  Aufkommen  der  Sophistik,  obwohl  jene 
Wissenschaften  blühten,  bewies,  dafs  die  philosophischen  Grund- 
lagen der  Wissenschaft  als  solcher,  das  also,  was  sie  von 
anderer  Betrachtungsweise  unterschied,  nicht  hinreichend  unter- 
sucht waren.  Worauf  fulsten  jene  falschen  Lehren  und  wo- 
durch konnte  die  Sachkunde  gegen  sie  verteidigt  werdend 
Auch  hier  hatte  Sokrates  schon  den  Weg  gewiesen  durch  die 
Forderung  begrifflicher  Bestimmung.  Plato  weist  nun  den 
Fehler  der  Sophisten  im  einzelnen  nach:  er  besteht  haupt- 
sächlich darin,  dals  sie  nur  die  Wahrnehmung  als  Erkenntnis- 
quelle kennen.  Diese  ist  aber  durchaus  relativ,  das  stand  nach 
all  den  Forschungen  früherer  Denker  unumstöfslich  fest.  Sie 
bietet  nach  keiner  Seite  hin  eine  absolute  Bestimmtheit:  in  ihr 
kann  das  Gleiche  auch  ungleich  (Phädon74cl),  das  Schöne 
schlecht,  das  Grolse  klein,  das  Schwere  leicht  und  umgekehrt 
sein  (Staat  479  a  5  ff.),  und  es  gibt  für  sie  daher  eigentlich  nur 


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21 

ein  Gröfser,  Kleiner  usw.,  welches  in  ihr  durcheinander  gemengt 
ist  {cvy^Eyvfi^va  Staat  524  bes.  c  3—4).  Darauf  läfst  sich  in  der 
Tat  keine  Wissenschaft  aufbauen.  Die  Dinge  der  Wahrnehmung 
schwanken  beständig  hin  und  her  zwischen  Werden  und  Ver- 
gehen (Staat  485  b  2),  sind  vielgestaltig  und  bleiben  sich  selber 
niemals  gleich  (Phädon  80  b  4):  Die  Objekte  der  Wahrnehmung 
stehen  zwischen  dem  vollkommen  Seienden  und  dem  voll- 
kommen Nichtseienden,  da  sie  sind  und  auch  nicht  sind  (Staat 
479  b  9),  und  als  entsprechendes  Erkenntnisvermögen  mufs  ihnen 
die  66^a  zugesellt  werden,  die  an  Deutlichkeit  ebenfalls  zwischen 
Wissen  und  Nichtwissen  steht,  die  wahr  und  falsch  sein  kann 
(Staat  479  e  1—5;  Gastm.  202  a  5—10).  Das  beste  also,  was  sich 
ohne  Wissen  mit  Hilfe  der  Wahrnehmung  gewinnen  läfst,  sind 
oQd-ai  66§ai.  Aber  auch  diese  besten  sind  blind:  kann  ja  auch 
ein  Blinder  den  Weg  einmal  richtig  gehen  (Staat  506  c  7).  0 

9.  So  mufs  Plato  in  der  Beurteilung  der  wahrgenommenen 
Welt  den  Sophisten  und  Herakliteern  zustimmen.  Aber  damit 
ist  die  Möglichkeit  des  Wissens  so  wenig  aufgehoben,  dafs 
vielmehr  dessen  Existenz  zeigt:  es  ist  noch  etwas  nicht  in 
Ordnung,  es  gibt  noch  aufser  der  Wahrnehmung  Objekte  der 
Erkenntnis.  Gewifs,  die  vielen  schönen  Dinge,  frommen  Hand- 
lungen usw.  sind  bunt  verschieden;  aber  weshalb  nennen  wir 
etwas  schön,  welchen  Sinn  hat  ein  solches  immer  wieder- 
kehrendes Prädikat?  Fragt  man  einen  Sophisten,  was  dies 
Schöne,  Fromme  usw.  sei,  so  nennt  er  entweder  einen  schönen 
Gegenstand  (Hipp.  maj.  287  e),  eine  fromme  Handlung  (Euthy- 
phron  5  d  8),  oder  auch  wohl  mehrere  (Men.  71  e;  74  a  4),  immer 
aber  besondere  Fälle;  aber  man  muls  doch  den  Sinn  jenes 
Prädikates  für  alle  Fälle  erklären  können,  und  das  kann  der 
individuelle  Fall  niemals  leisten,  so  setzt  dann  Plato  jedesmal 
auseinander.  Es  wird  also  eine  allgemeine  eindeutige  Bestimmt- 
heit dessen  verlangt,  was  man  den  vielen  Dingen  als  Prädikate 
beilegt,  wenn  man  überhaupt  einen  Grund  haben  will,  diese 
Behauptung  zu  tun.  Ja  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  selber 
hängt  daran;   denn   sie   ist  eben  nur  bestimmte,  sich  gleich- 


*)  ovx  ia^ijcai  rag  avev  iniori^fiTjg  öo^ag,  wg  näaai  aloxQai;  <bv 
«i  ßkXxtaxat  xv<pXal  —  §  öoxovoi  xi  ooi  xv<pXd}v  öia<p^QEiv  oöbv  OQ^wg 
noQevofiivwv  ol  ccvbv  vou  aXrjB-ig  xi  So^d^ovxeg; 


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22 

bleibeade  Erkenntnis,  oder  ttberhanpt  keine,  and  sie  kann  das 
nur  sein,  wenn  ihr  Inhalt,  das  Erkannte,  ein  so  Bestimmtes  ist 
(Krat.  440  a  6  ff.).  0  Dieser  Forderung  entspricht  die  Idee,  als 
der  Begriff  selbst,  der  sich  immer  und  in  jeder  Beziehung 
gleichbleibt,  „durch  den^  in  den  einzelnen  Fällen  dem  sinn- 
liehen  Individuum  jene  Eigenschaft,  überhaupt  jenes  Prädikat 
zukommt  (Phädon  lOOcS);')  er  steckt  in  den  vielen  Dingen 
(Cbarm.  159  a  1 ;  Phädon  100  d  5),  sie  haben  an  ihm  Teil  (Phädon 
101  c;  Staat  476  d).  Diese  Idee  ist  als  wirklich  unmittelbar 
zu  beobachten.  Einmal  nämlich  „rufen  die  Sinne  sie  herbei"^; 
jede  noch  so  geringe  Bestimmtheit  ist  ihr  Werk,  da  sie  in  der 
ungeordneten  Empfindung  noch  nicht  vorhanden  ist  (Staat 
523  e— 524  d),  vielmehr  in  sie  hinein  „gedeutet '^  wird.  Und 
dann  kommt  es  ja  häufig  genug  vor,  dals  wir  nach  jenen  Ideen 
die  Wahrnehmung  beurteilen  und  behaupten,  sie  seien  in  ihr 
nicht  völlig  erreicht,  jene  bemühe  sich  nur  so  zu  sein,  wie  die 
Ideen  (Phädon  74  d— e).  Diese  beiden  Umstände  zeigen  aber 
ebenso  deutlich,  dafs  die  Wahrnehmung  selber  nicht  das  Mittel 
sein  kann,  sie  zu  erfassen.  Dies  ist  vielmehr  allein  möglich 
durch  das  Denken:  avr^  rfj  öiavola  (Phädon  65  e  7),  öia%H>iaq 
Zoyiö(i(p  (Phädon  79  a  3),  ävev  Jtac<5v  ro5r  atcd^'CBwv  öia  rov 
Xoyov  oder  To3  ötaUysod^at^)  (Staat  534  b  3),  ganz  rein  ako 
erst  nach  dem  Tode,  der  endgültigen  Beifreiung  von  der  Sinn- 
lichkeit (Phädon  68  a  9).  Plato  wird  nicht  müde,  diese  beiden 
Gegenstände  unserer  Erkenntnis  einander  gegenüberzustellen, 
das  wandelbare,  nie  bestimmte,  viele  Sinnliche,  dem  immer  sich 
gleichbleibenden,  allseitig  bestimmten  einen,  nur  durch  den 
Xoyoq  erfafsbaren  Begriffe  (besonders  Phädon  80  b;  Staat  485  b 
1—3;  490  b;  493  e;  508  d  5;  509  d  6  ff.;  Phädrus  247  c  3  ff.).  Nur 
wer  dies  beides  auseinanderhalten  kann,  ist  ein  Philosoph 
(Staat  476  b  2)',  hat  den  rechten  eQwq  (Staat  490  b  2),  ist  ein 


')  d  fihv  yaQ  avtb  xovxo,  jj  yvdSaiq,  rov  yvwoiq  elvai  fitj  fieja- 
nlmei,  ßivoi  zt  av  del  rj  yv(äotq  xal  sttj  yvwatq .  ei  6h  xal  avto  tb 
eldoq  fjtezanlTiTec  yviaqewq  . . .  ovx  av  elrj  yvoioiq  , , .  ei  dh  laxi  filv  del  x6 
yiyvcjaxov,  sazt  6h  zo  yiyvwoxopievov,  iazi  6h  x6  xaXov,  tazi  6h  x6 
dya&ov,  Mazi  6h  tv  ^xaazov  ztüv  ovzatv,  ov  fioi  <palvezai  xavza  Spiota 
ovza  ^oy  ov6hv  ov6h  <poQä, 

*)  <palvexai  yag  fxoi,  et  xi  iaziv  aXXo  xaXov  nX^v  ävzo  xb  xaXor^ 
ov6h  6i  tv  aXXo  xaXov  elvat  rj  6i6zi  /lezixei  ixeivov  zov  xaXov, 

^)  vgl.  511  hAol  avxog  6  ?.6yog  anxezai  x^  xov  6iaXayeo9'ai  6vvan(L 


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28 

öiaXsxTix6g  (Staat  534  b  8).  Aasdrtleklich  wird  hervorgehoben, 
dafs  die  Sophisten  von  diesen  Ideen  nichts  wissen,  sondern 
nur  Vermutungen  haben  {öo§d^ovOi  Staat  493  a 6);  natürlich: 
denn  ihre  einzige  Erkenntnisquelle  war,  wie  wir  oben  sahen, 
die  Wahrnehmung.  Sie  Übersahen  den  Xoyia/iog,  der  die  do'ga 
6q&ij  allererst  „bindet''  und  so  aus  unsicherem  Besitze,  der 
bald  kommt,  bald  geht,  eine  bleibende  ijnörfjfifi  macht  (Men. 

97  d — 98  b);  sie  übersahen  also  den  Charakter  der  Allgemein- 
heit und  Notwendigkeit  —  dies  liegt  doch  in  fiovifiog  und 
öeöfiog  der  Menoustelle  — ,  den  die  ejciöT7Jfiri  hat  und  daher 
auch  für  ihre  Objekte  verlangt,  weswegen  sie  sich  nur  auf 
die  Ideen  richten  kann  (Staat  478  a  6).  Dafs  solcher  Unter- 
schied aber  etwas  ausmache,  das  ist  eines  von  den  wenigen 
Dingen,  die  „Sokrates''  mit  Sicherheit  behaupten  will  (Men. 

98  b  1 — 5).  Und  so  preist  Plato  das  Wissen,  das  alles  beherrscht, 
das  schönste  Besitztum  der  Menschen  (Prot.  352  e  3— d  3);  ja 
derjenige,  der  das  Gute  weifs,  ist  besser,  als  jeder  andere,  ist 
der  Gute  selbst,  auch  wenn  er  sohlecht  handelt  —  falls  das 
nämlich  möglich  ist  (Hipp.  min.  376  b  4);  so  preist  er  den 
Wissenden,  der  aliein  allen  anderen  die  Stirn  bieten,  nie 
majorisiert  werden  kann  (Eriton  47  b  10;  Lacht.  184  e  8;  Krat. 
437  d  3). 

Die  allgemeinen  Begriffe  —  das  sind  doch  die  Ideen  — 
zeigten  sich  also  notwendig  zur  Fundierung  des  Begriffs  der 
Erkenntnis,  die  nun  einmal  eine  wirklich  vorhandene  övva/iig 
y^vx^jg  ist  (Staat  477  dl — 4),*)  ferner  überhaupt  einer  bestimmten 
Aussage,  in  der  sie  die  identischen  Prädikate  abgeben.  Die 
„Abstraktion"  wird  demnach  im  weitesten  Sinne  das  Verfahren 
sein,  jene  Ideen  zu  bestimmen.  Dafs  es  so  etwas  gibt,  das  hat 
die  einfache  Beobachtung  der  Denkvorgänge,  die  mannigfach 
über  die  blofse  Wahrnehmung  hinausgreifen,  dargetan.  Zugleich 
mulste  sich  dabei  der  Charakter  dieser  Tätigkeit  als  ein 
Erfassen  unwandelbarer,  vollständig  bestimmter  Gegenstände 
(wie  wir  vorläufig  sagen  wollen)  offenbaren.  Die  bisher 
besprochenen  Gedanken  Piatos   entsprechen   also   dem   ersten 

0  Sie  gehört  zum  psychischen  Erleben:  Gastmahl  207  e 5  ff.:  noXv  6h 
Tovttov  axonwtfQov  eti,  ozi  xal  «V  iniaxfjfiai  fitj  oti  al  fuhv  yiyvovtai  ai 
61  dnoXXwTai  rjfjilv  xal  ov6inoxe  ol  avxoL  iofisv  ov6e  xaxa  xdg  im- 
axi^fxag .... 


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24 

der  in  der  Einleitung  genannten  Gesiclit^pankte.  Der  Sini^ 
der  sich  dabei  für  die  allgemeinen  Begriffe  ergeben  bat,  wird 
uns  im  folgenden  weiter  beschäftigen. 


3.  Anwendnng  des  Begriff8  in  den  Wissenschaften. 

10.  Ehe  wir  den  weiteren  Erörterungen,  die  das  Abstraktions- 
problem bei  Plato  findet,  nachgehen,  wollen  wir  an  einigen 
Beispielen  sehen,  wie  den  Wissenschaften  die  im  vorigen  Ab- 
schnitt wiedergegebenen  Gedanken  gegen  die  sensualistischen 
Angriffe  der  Sophistik  zugute  kommen.  Die  Lehre  mufs  sieh 
an  ihnen  praktisch  fruchtbar  erweisen.  Am  lehrreichsten  ist 
das  Beispiel  der  Geometrie,  *  da  wir  hier  im  einzelnen  die 
Gründe  kennen,  mit  denen  Protagoras  ihren  Wissenschaflswert 
abstreiten  wollte  (oben  S.  10).  Er  meinte,  von  all  den  strengen 
Bestimmungen,  die  nach  Absicht  der  Geometer  gelten  sollten, 
fände  sich  an  ihren  Figuren  aber  auch  nichts  bestätigt  Darauf 
ist  nun  Piatos  Antwort  dies  (Staat  510  b  4— e;  527  a  — b): 
freilich  mufs  der  Geometer  Figuren  haben,  er  mufs  so  sprechen, 
als  ob  er  an  ihnen  augenblickliche  Handlungen  vornehme,  aber 
er  meint  doch  keineswegs  dies  gezeichnete  Quadrat,  von  dem 
er  zu  sprechen  scheint,  sondern  er  denkt  an  den  aUgemeinen 
Begriff  des  Quadrates,  der  Diagonale.  Um  dessentwillen  stellt 
er  die  ganze  Untersuchung  an;  die  sinnlich  erfafsbaren  Figuren 
gebraucht  er  nur  als  das  Gleichnis,  um  das  zu  schauen,  was 
nur  das  Denken,  die  öidpout,  erblicken  kann,  niemals  aber  die 
Sinne.  Und  das  werde  jeder,  meint  Plato,  der  auch  nur  ein 
bif sehen  Ahnung  von  dieser  Wissenschaft  habe,  aus  seiner 
Praxis  heraus  bestätigen:  eine  yvöjötq  will  er  erzielen;  eine 
solche  richtet  sich  aber  nicht  auf  das  vergängliche,  hier 
oder  dort,  mehr  oder  weniger  treu  Gezeichnete,  sondern  auf 
das  immer  Seiende.  Mit  Recht  kann  man  also  sagen,  dals 
jemand,  der  sich  mit  dieser  Wissenschaft  befafst  habe,  gut 
vorbereitet  sei,  das  Wesen  der  Idee  zu  begreifen:  denn  er 
spricht  dvayxalcog  (527  a  6)  und  über  das  del  ov  (527  b  5),  und 
das  kann  er  nur,  weil  er  eben  lernt,  vom  Sinnlichen  zu  abstra- 
hieren, welches  die  wichtigste  Vorbedingung  fUr  den  Dialektiker 
ist.  Wieso  ihn  jene  notwendigen  „Gleichnisse"  noch  vom  Ideal 
herabziehen  (510  b  4, 5),  davon  später. 


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25 

Ganz  ebenso  verhält  es  sieh  bei  anderen  Wissenschaften. 
Die  Arithmetik  hat  eine  Eins  zum  Gegenstande,  die  so  nirgends 
sinnlieh  fafsbar  ist,  nämlich  vollständig  identisch,  vollkommen 
unteilbar  (526  a).  In  der  Astronomie  bildet  nicht  die  Beobachtung 
des  Himmels  den  Kern  der  Wissenschaft:  so  vollkommen  die 
Bewegungen  der  Sterne  ihren  Gesetzen  gehorchen,  so  schön 
nnd  geordnet  das  Ganze  ist,  völlig  anveränderlich  ist  auch  der 
Himmel  nicht;  die  wahre  Bewegung,  die  wahren  Zahlen-  und 
Schnelligkeitsverhältnisse  sind  auch  an  ihm  nicht  sinnlieh 
fafsbar,  sie  verbleiben  vielmehr  dem  Xöyog  und  der  öidvoia 
(529  d).  Zwar  ist  hier  wiederum  die  sinnliche  Betrachtung 
nicht  ttberflttssig:  sie  stellt  uns  erst  die  Frage,  den  Antrieb  zur 
Forschung;  aber  wirkliche  Wissenschaft  kann  auch  die  genaueste 
Wahrnehmung  nicht  geben  (580  b  5).  Sie  kann  das  auch  da 
nicht,  wo  sie  als  Experiment  auftritt,  z.  B.  in  der  Akustik; 
denn  selbst  dieses  bleibt  vom  Zeugnis  der  Sinne  abhängig 
(531a).  Nein,  hier  mufs  man  die  gehörten  Harmonien  eben- 
falls nur  als  Probleme  betrachten,  die  die  Aufgabe  stellen,  die 
harmonischen  und  disharmonischen  Eigenschaften  der  wirklichen 
Zahlen  zu  erforschen:  dann  erst  kommt  ein  Nutzen  heraus  für 
die  Erkenntnis  des  Guten  und  Schönen,  d.  h.  der  vollkommenen 
Gesetzmäfsigkeit  und  Harmonie. 

Mit  grofser  Schärfe  ist  hier  das  Gebiet  des  Denkens  von 
dem  des  Wahrnehmens  geschieden,  aber  auch  der  Zusammen- 
hang zwischen  beiden  angegeben.  Klar  tritt  die  Forderung 
hervor:  Wissenschaft  ist  nur  möglich  nach  Abstraktion  von 
allem  Sinnlichen.  Sie  ist  nicht  das  Resultat  grundloser  Speku- 
lation, sondern,  wie  auch  gesagt  wird,  das  Ergebnis  der  Be- 
obachtung dessen,  was  die  Geometer  wirklich  meinen  und  schon 
lange  gemeint  haben,  wenn  sie  von  ihren  Figureu,  ihrem  Kon- 
struieren sprachen,  einerlei  ob  sie  von  der  tiefen,  logischen 
Bedeutung  dieses  ihres  Verfahrens  wnfsten  oder  nicht. 

Aber  alle  diese  einzelnen  Wissenschaften  übergeben  ihre 
Resultate  der  Dialektik,  da  sie  weiter  nichts  mit  ihnen 
anzufangen  wissen  (Euthyd.  290  o).  Diese  ist  die  Zinne  aller 
Wissenschaft,  da  sie  eben  den  Weg  zu  den  Ideen  darstellt, 
sich  mit  ihnen  beschäftigt,  ihr  Wesen  zu  ergründen  sucht: 
^H  rovtcov  JtdvTco^f  mv  öuXfjkvd-afier  /iid-oöog  6«r  (lev  ijtl 
T7IV  dXXrjXmv  xoivcovlav  ä(plxijxai  xai  Cvyyivuav  xal  ovXXo- 


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yiö&TJ  ravra  ^  iöriv  äXXTJZoig  [olxeta,  ipigtiv  ri  avzcir  sh 
ä  ßovXofibd-a  TTjv  XQayiiaxelav  xaX  ovx  ävorrira  jioviiod^ai, 
d  6b  (17],  dvovTfta  (Staat  531  c  9  f.;  vgl  511  b  3  ff.). 

3.  Die  Dialektik  als  logische  Lehre  Ton  der  AbstraktJon. 

11.  Im  Grande  bat  die  Dialektik  eine  doppelte  Bedeatnog: 
erstens  ist  sie  eine  Kunst,  nämlich  sich  so  mit  jemandem  sii 
unterhalten,  da£s  etwas  dabei  herauskommt,  im  GegenBatze  zur 
blofsen  Wortklopferei  (Staat  454  a),  auch  wohl  die  gesellschaft- 
liche Rücksichtnahme  dabei  auf  die  Meinung  des  Gegners 
(Men.  75  d  4),  die  Kunst  des  Fragens  und  Antwortens  (s.  o.  17). 
Sodann  aber  ist  sie  die  höchste  Wissenschaft,  wie  wir  sahen. 
Beides  liegt  nicht  weit  voneinander,  wenn  das  Denken  selber 
in  Fragen  und  Antworten  besteht.  Als  Wissenschaft  bedeutet 
die  Dialektik  den  Weg  (jiid^oöog),  die  Ideen,  die  allgemein  be- 
stimmten Begriffe  zu  finden. 

Die  Methode  der  Begriffsbestimmung  wird  schon  frtth  be- 
zeicbnet  als  ein  {öi')6Ql^sod'ai  (z.  B.  Lach.  194  c  8;  Gorg.  475  a  3) 
und  es  handelt  sich  dabei  entweder  darum,  aus  vielen  ver- 
schiedenen einzelnen  Fällen,  in  denen  eine  gevrisse  Bestimmung 
auftritt,  diese  als  das  Gemeinsame  klar  herauszuschälen,  ihr 
Wesen  auszudrücken,  oder  aber  diese  Bestimmung  von  mehreren 
verwandten  abzugrenzen  und  also  zusammenzufassen,  was  ihr 
den  anderen  gegenüber  eigentümlich  sei.  Ferner  wird  sehr 
bald  nicht  nur  die  Definition  praktisch  versucht,  sondern  auch 
über  die  Methode  selber  nachgedacht.  Für  die  zweite  der 
genannten  Arten  zu  definieren,  mag  der  Gorgias  das  Beispiel 
liefern,  indem  es  sich  um  die  Frage  handelt:  Was  ist  ein 
Bhetor?  Es  werden  für  ihn  verschiedene  Merkmale  angegeben, 
die  sich  aber  immer  wieder  als  ungenügend  zur  Festlegung 
des  Begriffes  ^rjrwg  erweisen,  da  sie  auch  anderen  Tätigkeiten 
zukommen,  bis  schliefslich  der  Kreis  so  eng  gezogen  ist,  dafs 
nur  das  Gesuchte  in  ihm  beschlossen  ist.  So  nacheinander 
(449  e  — 455  a):  rexv^j  jcbqI  Xoyovg  —  öiä  Xoyov  xäv  jteQah^voa 
(d.  i.  ov  jrQaxTixf/)  —  jcsid-ovg  Ö7]/iiovQy6g  —  jtsQl  dlxaia  xal 
äötxa  —  (jceid^oig)  jnöTBvrixTjg  (ov  ÖLÖaoxaXtxf^g),  Der  Fort- 
gang geschieht  hier  von  weiteren  zu  engeren  Begriffen  durch 
Einteilung  des  Umfanges,  d.  h.  durch  Zufttgung  neuer  Merkmale. 


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Werden  die  aasgeschlosseDen  Arten  des  zu  weiten  Begriffes 
ebenfalls  beachtet,  so  mufs  auf  diese  Weise  ein  ganzes  System 
von  Begriffen  entstehen,  nnd  das  Mnster  eines  solchen  findet  sich 
ebenfalls  im  Gtorgias  in  der  Einteilung  der  xix^ai  (464  b — 465  e). 
Dort  wird  immer  sehr  genau  die  Bestimmung  angegeben,  die 
zur  Bildung  des  niederen  Begriffes  hinzutreten  mufs,  um  ihn 
von  den  ttbrigen  ihm  gleichgeordneten  zu  unterscheiden. 

Das  andere  Verfahren  finden  wir  im  Henon.  Es  gibt,  wie 
sich  zeigt,  viele  verschiedene  Weisen  der  Tüchtigkeit;  nun  soll 
aber  das  angegeben  werden,  worin  sich  alle  nicht  unterscheiden, 
ja  sogar  identisch  sind:  IV  yi  ti  eiöog  tavrbv  ajtaöai  ixovöiv 
6C  o  slölv  dgeral,  elg  o  xajid5g  nov  J^x^t  äjtoßXitpavra  rbv  djco- 
XQtvö/isvov  reo  igarcrjoavTL  bcsTvo  öijJicSöai,  6  rvyx^'ree  ovöa 
agsTfl.  (72  c  3  f.;  vgl.  75  a  5, 8  raiköv  ijcl  xäöi)  Hier  besteht 
also  die  Aufgabe,  alle  möglichen  Fälle  zusammenzufassen; 
es  werden  verschiedene  Bestimmungen  versucht,  und  jedesmal 
zeigt  es  sieh,  daüs  Arten  der  Tüchtigkeit  angegeben  werden 
können,  die  durch  jene  Definition  noch  nicht  ausgedrückt 
werden.  Diesmal  gilt  es  demnach,  die  Kreise  so  weit  zu  ziehen, 
dafs  das  Gesuchte  ganz  in  ihnen  enthalten  ist.  Der  Ausdruck 
xa9^  oXov  shtBtv,  der  für  diese  Tätigkeit  später  bei  Aristo- 
teles stehend  wird,  kommt  auch  hier  schon  vor  (77  a  6). 

In  beiden  Verfahrungsweisen  erreichen  wir  also  den  All- 
gemeinbegriff, aber  von  entgegengesetzten  Seiten  aus  und 
demnach  durch  verschiedene  Methoden.  Praktisch  freilich  sind 
beide  nicht  zu  trennen:  schiefst  man  auf  dem  einen  Wege  über 
das  Ziel  hinaus,  so  mufs  man  auf  dem  anderen  wieder  zurück- 
gehen —  und  das  kommt  sowohl  im  Menon  als  auch  im  Gorgias 
im  Laufe  der  GesprächsfUhrung  vor.  Es  sind  dies  also  die 
zusammengehörenden  Grundmethoden  der  dialektischen  Wissen- 
schaft, so  lehrt  der  Phädrus:  dg  (ilav  re  löeav  övvoQwvra 
ayuv  xä  JtoXXaxV  ^t^OJtüQfitva,  Iva  txaörov  ogi^ofispog  öijXov 
ütoii]  jtBQi  ov  äv  dal  öiödöxtiv  kMX^  (265  d  3)  oder  einfach 
ausgedrückt  Sgl^eaB^ai  öwarog  ylyvsöd^ai  (277  b  6).  Dies  ist 
das  erste;  daraus  ergibt  sich  Klarheit  uud  Einstimmigkeit  des 
Gedankens  mit  sich  selbst  (265  d  6).  Und  zum  andern:  xb  jtdXiv 
xax'  eldfj  övvaad-ai  öuxxdfit'stv  xax*  ägd-ga  fj  jtitpvxev  (265  e) 
oder:  dgiödfisvog  TcdXip  xat*  eWf]  iitxQt  tov  dxfifjtov  xifeveiv 
hlcxaöd^ai  (247  b  7).     Daraus  ergibt  sich  der  natürliche  Zu- 


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sammeDhang  zwischen  den  Arten  desselben  Dinges  nnd  die 
Möglichkeit  des  genauen  Unterscheidens  (266  a).  Beides  ist  nicht 
voneinander  zn  trennen  nnd  war,  wie  Plato  auch  hervorhebt, 
gleich  nötig,  um  im  Vorangehenden  das  Wesen  des  Eros  zu 
bestimmen  und  die  Frage  nach  seinem  Werte  beantworten  zu 
können.  Jener  Xoyiöfidq  öiavolag,  mittelst  dessen  die  Jdeen 
erfa£sbar  sein  sollten,  besteht  also  in  Definition  und  Gliederung. 
Jene  gibt  in  ihrer  Weise  wieder,  was  das  geistige  Auge 
gleichsam  sieht,  was  man  eigentlich  meint,  wenn  man  einem 
sinnlichen  Gegenstande  ein  bestimmtes  Prädikat  beilegt ,  diese 
gibt  den  Zusammenhang  der  Ideen  unter  sich  als  den  zwischen 
Gattung  und  Arten. 

12.  Damit  ist  jedoch  das  Wesen  der  Dialektik  noch  nicht 
ganz  erschöpft.  Bei  jeder  Definition  ist  man  gezwungen,  von 
irgend  etwas  Bekanntem  auszugehen  (Men.  75  c  4  f.;  d  5—7);  man 
kann  wenigstens  ttber  einen  gewissen  Anfang  nie  hinauskommen, 
und  dieser  Anfang  ist  je  nach  den  Bedürfnissen  der  betreffenden 
Wissenschaft  verschieden,  ist  aber  in  ihnen  allen  vorhanden 
und  bildet  dort  etwas,  was  notwendig  ungeprüft  bleiben  muls. 
Als  Beispiel  dafür  ist  im  Staate  die  Arithmetik  und  Geometrie 
herangezogen  (511  c  ff.).  Indem  man  aber  so  eine  Definition 
au  den  Anfang  „setzt^  (Phädon  93  e  8;  94  b  1),  bekommt  sie 
etwas  Hypothetisches;  man  setzt  eben  nur  die  brauchbarste 
Definition  an,  und  so  ist  der  Ausspruch  im  Phädon  verständlich: 
vjtod-ifievog  txdarore  Xoyov,  ov  Sv  xqIvco  kQQo?(isveOTccTor 
eh'ai,  a  fisv  Sv  fioi  doxg  tovtoj  övfupcüvtTt^  rld^fii  ojg  dh/f^Ff 
ovra  . . .  «  d'äv  fi?j,  cog  ovx  dZr/d-fj.  Zwar  wird  dadurch  der 
logische  Charakter  des  Begriffs  nicht  berührt:  er  bleibt  es, 
der  allem  aus  ihm  Abgeleiteten  Einstimmigkeit  verleiht;  gerade 
diese  Eigenschaft  der  Hypothese  wird  im  Menon  ansf&hrlich 
(86eff.)  auseinandergesetzt,  und  im  Staate  wird  öfter  darauf 
verwiesen  (437  a  6—9;  458  a  5;  510  d  1—3;  vgl.  Phädon  92  d  6). 
Aber  doch  fehlt  allen  jenen  Wissenschaften  etwas,  so  dafs 
Plato  sagt:  „sie  sehen  die  Wahrheit  nicht  ganz  klar,  solange 
sie  noch  auf  ungeprüft  bleibenden  Hypothesen  bauen,  von  denen 
sie  keine  Rechenschaft  geben  können"  (Staat  533  b  6  ff.).  Wieder- 
holt wird  eingeschärft,  man  müsse  bis  zum  allerersten  Anfang 
zurückgehen  (Krat.  436  d  4;  Phädon  107  b  4;  Staat  610  b  ff.),  und 
da  eben  diese  Aufgabe  die  Dialektik  erfüllt,  ist  sie  die  Krönung 


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des  Baues  der  Wissenschaften:  sie  soll  sich  mit  dem  obersten 
Sein,  dem  dvaneQco  xmv  vjtod-aöscov,  dem  äwjtö&ezov  befassen, 
indem  sie  eben  jene  „Hypothesen"  zu  „Sprungbrettern"  macht, 
„um  bis  zum  Anfang  des  Alls  zu  gelangen"  (Staat  511  b  6). 
So  scheint  aber  die  Dialektik,  die  eben  nur  die  Form,  die 
Methode  des  wissenschaftlichen  Denkens  war,  plötzlich  eine  Auf- 
gabe bekommen  zu  haben,  die  sie  zur  Metaphysik  stempeln 
würde.  Aus  der  Abstraktionsmethode  wäre  eine  Wissenschaft 
von  den  höchsten  Abstraktionen  geworden. 

Sieht  man  jedoch  genauer  zu,  so  ist  das  nicht  der  Fall; 
jene  höchste  Wissenschaft,  die  gefordert  wird,  hat  nie  den 
Namen  öiaXexvixjj,  aufser  an  der  einen  Stelle  Staat  534  e  3, 
und  diese  ist  als  Schluffi  der  eindringenden  Erörterung  über 
die  Methoden  der  Wissenschaften  nicht  mifszuverstehen.  Es 
heilst  vielmehr  durchweg,  die  Dialektik  sei  der  Weg^  die 
Methode  zum  höchsten  Ziel,  das  Mittel  der  l3tL6x'^fir)\  nach 
wie  vor  ist  sie  die  Kunst  des  Abstrahierens  (Staat  533  a  7; 
532  a  6;  511  b  4);  sie  ist  parallel  zum  hellsten  Sinne  des  Körpers 
das  Sehen  des  Geistes,  seine  Art,  die  ihm  eigentümlichen  Gegen- 
stände zu  erfassen;  dies  ist  aber  nur  möglich:  ävsv  Jtaöc5p  rSv 
alö^öscov,  also  durch  Abstraktion  (Staat  532  a).  Soweit  also 
eine  Wissenschaft  diesen  Weg  beschreitet,  ist  sie  Dialektik, 
soweit  es  ihr  also  gelingt,  vom  Sinnlichen,  Individuellen  sich 
loszumachen.  Kur  liegt  es  eigentlich  im  ganzen  Wesen  dieser 
Methode,  die  ein  vollkommenes  Bestimmen,  ein  lückenloses 
Rechenschaftgeben  verlangt,  nirgends  Halt  zu  machen:  denn 
damit  gibt  man  sogleich  ihr  Wesen  auf  So  kommt  es,  dafs 
die  Vertreter  der  Einzelwissenschaften  nicht  Dialektiker  sein 
können,  dafs  dieser  Name  vielmehr  der  einen  Wissenschaft 
vorbehalten  bleibt,  die  die  Forderung  der  Methode  wirklich 
durchführt,  ja  dafs  diese  höchste  sjtiöri^fiTj  selber  einmal  Dialektik 
genannt  werden  kann,  da  in  diesem  ihren  Verfahren  zugleich 
ihr  eigentümliches  Wesen  getroffen  ist.  Genau  genommen  aber 
ist  sie  die  Wissenschaft  vom  Gnten,  darüber  läfst  Plato  keinen 
Zweifel  (532  b  1).  Die  letzte  Bestimmung,  bei  der  allererst  die 
Dialektik  sich  zufrieden  geben  darf,  kann  aber  nur  die  oberste 
Voraussetzung  sein,  auf  der  sie  gelber  beruht,  die  sie  deshalb 
nicht  untersuchen  kann.  Und  welches  ist  diese?  Das  ist 
nicht  schwer  zu  sagen :  es  ist  die  Möglichkeit  alles  endgültigen 


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so 

Definierenfl,  Bestimmens,  die  Existenz  von  Unwandelbarkeit  und 
vollendeter  Gesetzmäfsigkeit:  avrdqSvöfiog,  (Staat  532  a  1;  d  6). 
Wenn  dennoch  Plato  die  höchste  Idee  das  Gute  nennt,  so  mfissen 
wir  TO  dyad-ov  verstehen  als  avzdg  6  v6f/og,  als  rd  dsl  xara 
ravtä  (DöavToq  ex^iv,  als  die  Gesetzmäfsigkeit  der  Vernunft*) 
Nur  so  können  wir  verstehen,  wieso  die  Idee  des  Gnten  allen 
anderen  erst  ihr  Wesen  geben,  sie  erfafsbar  machen  boII,  wie 
das  Licht  die  Welt  sichtbar  mache:  sie  macht  eben  die  Ideen 
definierbar  und  damit  zu  eindeutig  bestimmten  Objekten  des 
Denkens,  der  -/tmöLq,  Als  Voraussetzung  aber  des  definier- 
baren Seins  ist  sie  über  dieses  selber  erhaben:  Ixixsiva  rfjg 
ovolag  (Staat  509  b  9). 

Fassen  wir  das  Resultat  dieses  'Abschnittes  zusammen,  so 
ergibt  sich:  die  Dialektik  ist  die  Kunst  des  Definierens,  und 
somit  des  Abstrahierens  vom  Sinnlichen.  Die  damit  zu  ver- 
einigende Tätigkeit  des  Einteilens  zeigt  die  verschiedenen 
Stufen  der  Abstraktionen  an.  Völlig  rein  ttbt  diese  Methode 
nur  die  ijtiöTTJfiTj,  die  Wissenschaft  der  Prinzipien,  die 
somit  bis  zur  Voraussetzung  aller  Abstraktionsmöglichkeit  ge- 
langen muls. 

13.  Wenn  wir  von  einer  Kunst  des  Definierens  sprachen, 
so  sollte  damit  nicht  gesagt  sein:  praktische  Fertigkeit;  viel- 
mehr ist  bisher  erst  die  eine  der  im  Eingang  dieses  Abschnittes 
bezeichneten  Seiten  der  Dialektik  dargestellt;  nach  dieser 
bringt  sie  das  logisch  zum  Ausdruck,  was  aus  dem  frtther  fest- 
gestellten Wesen  der  Begriffe  für  deren  gesetzmäfsige  Be- 
stimmung und  ihren  Zusammenhang  untereinander  gefolgert 
werden  mufs.  Die  praktischen  Anweisungen,  die  die  Dialektik 
auf  der  anderen  Seite  als  Kunst  der  Gesprächsftthrung  ver- 
mittelt, haben  demgegenttber  keine  eigentlich  logische  Be- 
deutung und  werden  auch  später  nicht  mehr  als  Dialektik  be- 
zeichnet, so  dafs  deren  Gegensatz  zur  Eristik  mehr  und  mehr 
zurücktritt.     Jene  Anweisungen   enthalten   das,  was  bei  der 


0  DalB  das  Gate  im  Gesetzmifoigen  bestehen  sollte,  lehrt  schon  der 
Gorgias  506  d  5 :  ^  ye  agstfj  hxaotov  xal  axevov^  xcd  aw/iazo^  xcü  yfvzf,Q 
ov  xal  ^<6ov  navTo^,  ov  T<f  dxj  xaXktaxa  naQayfyvszai,  dXXa  taSei  xat 
0(f&6xrjti  xcd  r^X^t  V'^'Q  hxdorqf  Siöozai  aixwv  —  raffi  aQa  xexayfiiror 
xal  xexoofjirifjiivov  iaxlv  rj  aQexij  kxaoxov;  —  x6o/4oq  aQa  iyyeyo/jietH}^ . . 
dyaO'Ov  na^ixsi  kxaoxov  xwv  ovxtov. 


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31 

praktischen  Verwirkliehnng  der  logischen  Forderungen  beachtet 
werden  mufs,  weisen  also  insbesondere  auf  die  Fehlerquellen 
hin  und  können  daher  der  Psychologie  nicht  entraten.  Da  die 
Gesprächspersonen  der  Dialoge  die  mannigfachsten  Irrttimer 
begehen,  so  bilden  die  Dialoge  schon  in  ihrer  äufseren  Führung, 
namentlich  die  frttheren,  eine  solche  logische  „Eunstlehre". 
Aufserdem  wird  aber  öfter  die  Art  des  Fehlers  eingehend  be- 
schrieben, so  die  zu  grofse  Weite  des  Begriffs  Gorg.  453  c,  dessen 
zu  grofse  Enge  im  Menon  am  Beispiel  des  cx^fia  (74  b  f.);  mehr- 
mals wird  gewarnt  vor  der  Verwechslung  von  Begriffs-  und 
Wertbestimmung  (Gorg.  448 e 6  f.;  468  c  3;  Men.  71  b;  Staat  354  b); 
Bohliefslich  kommt  noch  der  Fehler  der  Diallele  zur  Sprache 
(Menon  79c).  Bemerkt  sei  noch,  dafs  gerade  für  diese  Seite 
der  Dialektik  der  Name  sich  gehalten  hat,  z.  B.  bei  Aristoteles, 
der  in  seiner  Topik  diese  rein  praktischen  Anweisungen  sehr 
bereichert  hat  Sie  gehören,  wie  gesagt,  nur  indirekt  zur 
Logik,  und  daher  wollen  wir  auch  im  folgenden  nicht  wieder 
auf  sie  zurückkommen. 


4.  Die  Lehre  von  der  Wiedererlnnernng  als  psychologische 
Theorie  der  Abstraktion. 

14.  Hatte  sich  in  der  Fähigkeit  des  Menschen,  begrifflich 
zu  erkennen,  eine  ganz" einzigartige  Gabe  entpuppt,  und  stand 
anderseits  fest,  dafs  dazu  von  aller  Sinnlichkeit  grundsätzlich 
abgesehen  werden  mufste,  so  erhob  sich  wie  von  selbst  die 
Frage:  woher  kommen  dann  aber  die  Begriffe?  Es  galt  also, 
eine  psychologische  Erklärung  für  die  Genesis  des  Begriffes 
oder  vielmehr  der  Begriffsvorstellung  zu  geben.  Piatos  Ant- 
wort auf  diese  Frage  drücken  wir  am  besten  mit  einer  Stelle 
des  Fhädrus  aus  (249b6— c4): 

öel  yäg  ävO-QWJtov  öwiivai  xor'  elöoq  Xeyöfievov,  ix  JtoXXdiv 
Ibv  alod^CBwv  etg  tv  XoycOfjKp  övvaigovfisvov  '  xovxo  Ö*Ioxlv 
dvdfivrjöig  Ixbiv(ov  a  jror'  elö^v  r/ficov  ?)  ipvx^  övfutogsvO^eTca 
d-B<p  xäl  ijtEQidovöa  ä  vvv  slval  tpafisv  xal  dvaxvtpaöa  slg 
ro  ov  ovTcag. 

Hier  wird  zuerst  der  logische  Charakter  der  Begriffs- 
bestimmung als  einer  Abstraktion,  ein  Fortschreiten  aus  der 


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32 

Menge  des  Sinnlichen  zur  Einheit  des  Denkens  schön  beschrieben, 
und  dann  wird  die  psychologische  Erklärung  einfach  mit  „dies 
ist'^  angeschlossen.  Sie  sucht  die  Idee  als  eine  Erinnerung 
hinzustellen  an  das,  was  die  Seele  früher  einmal  ohne  die 
Sinne  geschaut  hat.  Wie  Plato  zu  dieser  Lehre  kam,  zeigt 
der  Phädon  (74  f.).  Einerseits  war  z.  B.  die  Idee  des  Gleichen 
in  keinem  sinnlichen  Individuum  vollständig  verkörpert;  wir 
besitzen  sie  nun  aber  vollkommen;  also  kann  sie  aus  keiner 
Wahrnehmung  jemals  abgeleitet  werden.  Anderseits  aber 
würden  wir  nie  auf  den  Begriff  der  Gleichheit  verfallen,  wenn 
wir  nicht  gleiche  Dinge  wahrgenommen  hätten.  Diese  streben 
darnach,  gleich  zu  sein  und  wenn  sie  es  nicht  erreichen,  so 
sind  sie  doch  der  Gleichheit  an  sich  ähnlich;  so  können  sie 
als  Grundlage  einer  Assoziation  fungieren.  Also  psychologisch 
betrachtet  kommt  die  Vorstellung  des  Begriffs  weder  aus  noch 
ohne  Wahrnehmung,  sondern  bei  Gelegenheit  individueller 
Vorstellungen.  Wenn  dieser  Vorgang  als  Erinnerung  charakteri- 
siert und  ein  ursprüngliches  Schauen  der  Ideen  vor  dem  leib- 
lichen Leben  daraus  gefolgert  wird,  so  ist  das  eben  Theorie, 
die  aber  nur  erklären  soll,  wie  hier  auf  Erden  die  Idee  unserer 
menschlichen  Seele  zum  Bewufstsein  kommt  Im  Henon  rettet 
die  Anamnesis  die  Möglichkeit,  nach  Dingen  zu  forschen,  die 
man  nicht  kennt,  und  die  auch  durch  die  Wahrnehmung  des 
Einzelnen  nicht  gegeben  werden  (81 — 86).  Wie  aber  die  Idee 
überhaupt  vom  Denken  erfafst  werde  und  wie  sie  damals  bei 
lener  ursprünglichen  Schau  erfafst  wurde,  darüber  kann  die 
Wiedererinnerung  nichts  lehren.  Auf  keinen  Fall  aber  kann 
man  sagen,  Plato  habe  diese  seine  psychologische  Theorie 
irgendwo  mit  den  logischen  Ausführungen  vermischt;  denn  das, 
was  wir  mit  der  Idee  meinen  und  die  Art,  wie  sie  uns  zu 
BewuTstsein  kommt,  ist  durchaus  voneinander  verschieden. 
Im  Phädon  könnte  es  noch  am  ehesten  so  scheinen,  als  sei 
beides  nicht  reinlich  geschieden,  weil  hier  in  dem  eben  wieder- 
gegebenen Zusammenhange  die  Dialektik  unnötig  zu  sein  scheint, 
da  nur  von  Wiedererinnerung,  nicht  aber  von  Abstraktion  und 
Definition  die  Rede  ist  Aber  dafür  geschieht  der  Anamnesis 
später,  als  das  logische  Wesen  der  Ideen  charakterisiert  wird, 
gar  keine  Erwähnung  (99  d  f.),  was  doch  sehr  auffallen  mufs; 
dort  heilst  es  vielmehr:  arxi^  ?)  ovola  f)q  Xoyov  ölöofiep  xov 


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88 

elvai  xal  kgcorcavtsQ  xal  djtoxQtv6(iBvoiA)  Ferner  aber  kommt 
in  all  den  Erörternogen  des  Staates  jene  psychologische  Theorie 
der  Wahrnehmung  gar  nicht  vor.  Dagegen  erscheint  sie  ganz 
naturgemäfs  wieder  im  Phädros,  wo  es  sich  ebenfalls  am  die 
Schicksale  der  Seele  mehr  als  nm  logische  Dinge  handelt. 
Aber  gerade  hier  werden  ja,  wie  wir  sahen,  logischer  Sinn 
und  psychologische  Erklärung  der  Abstraktion  direkt  neben- 
einander gesetzt  Plato  kann  aber  mit  jenem  xoiko  d^eöriv 
nicht  haben  sagen  wollen,  daCs  Definieren  und  Sicheriunern 
dasselbe  wären,  sondern  man  mnfs  etwa  ttbersetzen:  „das 
bedeutet  psychologisch  gesprochen  eine  Wiedererinnerung . . /^ 
Für  die  Dialektik  ist  die  Lehre  von  der  Anamnesis  jedenfalls 
völlig  bedeutungslos,  wichtig  dagegen  als  Ansatzpunkt,  an  dem 
die  orphischen  Unsterbliehkeitsgedanken  an  die  Ideenlehre 
angeknüpft  werden  konnten. 

Für  uns  bleiben  an  der  ganzen  Lehre  das  Wichtigste  die 
beiden  Beobachtungen,  die  sie  veranlafst  haben,  dafs  nämlich 
einmal  immer  ein  sinnliches  Individuum  gegeben  sein  müsse, 
welches  dem  Begriffe  ähnlich  ist,  und  dafs  es  femer  in  diesem 
Leben  niemals  gelingt,  ganz  jene  Beimischung  der  Sinnlichkeit 
loszuwerden  (Phädon  68  a  7  f;  66  b  3;  68  d  3  f) ''),  wenn  wir  den 
Begriff  nun  wirklich  rein  abstrakt  vorzustellen  uns  bemühen. 
Diese  beiden  Tatsachen  müssen  immer  als  Ausgangspunkt  einer 
psychologischen  Theorie  der  Abstraktion  angesehen  werden. 
Den  logischen  Charakter  der  Idee,  das  sei  nochmals  betont, 
beeinflussen  sie  bei  Plato  in  keiner  Weise. 


5.  Die  Existenzart  der  Ideen. 

15.  Eine  letzte  Frage  wäre  noch  zu  erledigen,  nämlich 
die  nach  der  Existenzart  der  Ideen,  der  allgemeinen  Begriffe, 
und  ihrem  Verhältnis  zur  Erkenntnis.  Auch  dies  Problem  hat 
Plato  wohl  gesehen,  und  seine  Lösung  kann  nicht  zweifelhaft 

1)  78  dl,  vgl.  75  d  3.  Wenn  wir  also  dies  als  UmsohreibaDg  der 
Dialektik  fassen,  so  ist  auf  diese  auch  im  eisten  Teile  schon  hingewiesen 
und  ist  es  die  yolle  Absicht  des  Philosophen,  dafs  sie  dort  noch  keine 
BoUe  spielen  soll. 

»)  e2— 4  xcd  Tore  if^iv  ^arai  ov  iniS'Vfiovfiiv  te  xal  ^afxev  igaaral 
Bivai,  <pQOvriCB<oq,  ineiöav  reXevti^aaffieVf  liq  b  koyog  arjfxalvsi,  ^(Satv  S'oi, 
Philosophische  Abhandluniren.    XXXXIV.  3 


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84 

eeiD.  Der  Schlnfs  des  fünften  BneheB  des  Staates  ist  der 
Untersnohnng  unserer  yersehiedenen  Erkenntnis  „kräfte*  ge- 
widmet Es  werden  drei  Arten  des  Seins  genannt:  ro  ottck 
Sp,  t6  iiri  6v  nnd  ro  ftera^v  rov  ovrog  xal  lifj  wnoQ,  und 
genau  parallel  werden  auf  der  Seite  des  Erkennens  ihnen  bei- 
gegeben :  die  yvmöiqy  die  ayvota  und  die  66^a.  Es  wird  nämlich 
zuerst  festgestellt,  dafs  yvcSatg  und  ö6§a  verschieden  seien^ 
dafs  sie  aber  beide  als  Kräfte  gelten  müTsten.  Solche  können 
sieh  nun  allein  durch  ihre  Wirkungen,  also  die  Objekte,  auf 
die  sie  sich  richten,  unterscheiden,  und  so  wird  dann  geschlossen, 
daüs  YV(oöcg  und  öö^a  auf  ein  anderes  Sein  gehen  mtLbten. 
(477  c — 478  b).  Plato  mufs  also,  um  die  Verschiedenheit  der 
Gegenstände  zu  beweisen,  auf  die  Yerschiedenartigkeit  des 
Denkyorgangs  zurttckgehen,  der  sie  erfafst,  offenbar  doch,  weil 
die  Gegenstände  selber  nicht  unmittelbar  verglichen  werden 
können.  Niemals  aber  wird  auch  nur  angedeutet,  dafs  des- 
wegen die  Objekte  abhängig  seien  vom  erkennenden  Subjekt, 
oder  gar,  dafs  eigentlich  nichts  da  sei  als  dessen  psycho- 
logisches Erlebnis.  Nein,  die  Gegenstände,  sowohl  die  Ideen, 
als  anch  die  äufsere  Welt,  existieren  unabhängig  von  der  sie 
erfassenden  Kraft  unserer  Seele.  Wird  doch  auch  an  jener 
Stelle  des  Staates  erst  die  Verschiedenheit  des  begrifflichen 
und  sinnlichen  Seins  auseinandergesetzt  und  dann  erst  der 
Beweis  davon  durch  die  Ungleichartigkeit  von  ixianfftri  nnd 
d6§a  angetreten  (476  a — d).  Ganz  besonders  aber  jene  ewigen, 
immer  sich  gleichbleibenden  Ideen  mufsten  unabhängig  sein 
von  dem  psychologischen  Akte,  der  sich  ihrer  bemächtigt: 
sonst  wären  sie  nicht  mehr  ewig.  Denn  Plato  setzt,  bei  aller 
Erhabenheit,  die  nach  seiner  Lehre  der  ixiarfffirj  wegen  ihres 
Inhalts  zukommt,  doch  klar  ai)seinander,  dafs  jene  nicht  anders 
wie  ö6§a,  ijtid^vfila,  tj&og  als  psychologisches  Erlebnis  ver- 
gänglich sei:  sie  kann  verschwinden,  kann  vergessen  werden 
(Gastm.  207  e— 208  a).  Wir  sehen  also:  auch  diese  Überlegung 
der  Verschiedenheit  des  logischen  Wesens  der  Idee  von  dem 
psychologischen  des  ihr  korrespondierenden  Seelenvermögens 
mufste  zur  Annahme  eines  eigenen,  unabhängigen  „Reiches'' 
der  Ideen  führen,  nicht  nur  die  Theorie  der  Anamnesis  nnd 
eine  dadurch  vielleicht  entstandene  Verquiokung  mit  psycho- 
logischer Betrachtung,  wie  man  es  gewöhnlieh  darstellt  Daher 


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35 

kommt  der  Ansdrnek  rö^tog  vot/tög  aueh  im  Staate  vor,  der 
doch  yon  jener  Lehre  nichts  enthält  Aber  er  ist  ganz  offen- 
bar ttberall,  wo  er  auftritt,  nnr  ein  Bild,  das  durch  eine  gewisse 
Analogie  von  Sinnlichem  und  Begrifflichem  Piatos  erkenntnis- 
theoretische Qedanken  erläutern  soll.  Im  Staate  ist  er  hervor- 
gerufen durch  das  Gleichnis  zwischen  der  Sonne  und  der  Idee 
des  Guten,  im  Phädrus  durch  die  Wanderung  der  Seele:  wie 
sollte  er  ohne  eine  Analogie  zum  sinnlichen  Baume  auskdhim^? 
(Vgl.  Staat  507  ff.  bes.  508  c  1.)  Dals  der  Ausdruck  tojcog 
nicht  ernst  gemeint  ist,  auch  nicht  vjtsgovQavcog  rdjtog,  das 
kann  eine  Stelle  des  Gastmahls  mit  voller  Deutlichkeit  zeigen; 
es  heilst  dort:  die  Idee  des  Schönen  sei  unabhängig  von  jeder 
Beziehung  (211a  8 — 4),  auch  der  des  Wann?  und  Wo?,  sie  sei 
überhaupt  nicht  irgendwo,  selbst  nicht  im  Himmel,  i)  Auüser- 
dem  berichtet  Aristoteles,  Plato^)  habe  die  Seele  den  rojtog 
döwv  genannt  Da  ist  also  an  eine  wörtliche  Auslegung  gar 
nicht  zu  denken.  Ist  aber  alles  Bäumlich-Zeitliche  von  der 
Idee  ausgeschlossen,  so  damit  auch  alles  Individuelle;  und  wie 
sollte  sie  auch  nur  irgendwie  ein  Individuum  sein  können,  wo 
sie  doch  ihre  Existenz  sozusagen  der  Entdeckung  verdankte, 
dafs  es  noch  eine  andere  Art  des  Seins  gebe,  als  die  des 
Sinnliehen,  Einzelnen.  Im  Timäus  werden  wir  erfahren,  dafs 
gerade  der  Baum  es  ist,  der  das  Wesen  sinnlicher  Gegenstände 
ausmacht 

Man  sagt,  Plato  habe  den  Fehler  begangen,  die  allgemeinen 
Begriffe  in  den  Ideen  metaphysisch  zu  hypostasieren;  man 
kann  damit  doch  nur  meinen,  was  Aristoteles  schon  den  Ideen 
vorgeworfen  hat:  es  werde  ihnen  eine  irgendwie  individuelle 
Existenz  zugeschrieben  {ägid^iim  tv  Met.  B  6,  1002  b  30,  töv  yaQ 
xa&^  txactov  fj  löia,  cog  ^aöl,  xal  x<^Q^<^'^^  Z  15,  1040  a  8). 
Diese  sei  aber  doch  nicht  sinnlich  fafsbar,  sondern  lediglich 
durch  eine  entsprechende  unmittelbare,  sinnenfreie  Anschauung. 
Wer  aber  so  spricht,  kann  sich  doch  nur  auf  die  genannten 
bildlichen  Ausführungen,  und  zwar  auf  ihre  rein  wörtliche 
Auslegung  berufen.    Wo  immer  Plato  ohne  Gleichnis  spricht, 

*)  a5f.:  oi)<r  al  tpavxao^aBxai  xh  xaXov  olov  ngoaionov  xl  . .  ovdl 
aXXo  ovölv  &V  OQ/(jia  fxevixei  . .  ovSi  nov  ov  iv  ixi^qt  xivi  olov  iv  l^wg} 
1^  iy  yS  V  ^^  ovQavip  ^  Iv  xtp  aXX(p 

*)  de  anlmft  429  &  27.    Plato  ist  freilich  nicht  aosdrücklich  genannt 

8* 


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86 

da  ist  es  das  Definieren,  dnrch  das  wir  Ideen  gewinnen,  die 
dcaXexTiXTJ  also;  sie  wird  nnr  verglichen  mit  dem  agäv  des 
Auges,  als  das  ögäv  des  Geistes.  Das  einzige,  was  von  dem 
Bilde  ernst  genommen  sein  will,  ist  offenbar  dies,  dals  die 
Objekte  der  imör7Jf4ri  von  dieser  genau  so  unabhängig  sind^ 
wie  die  Objekte  des  Wahrnehmens  von  diesem  selber.  Dab 
aber  dieses  unabhängig  „für  sich ''-Sein  nur  nach  Art  des 
io^iyiduellen  behauptet  werden  könne,  das  ist  etwas,  was  man 
in  die  platonischen  Ausführungen  hineindeutet  uod  bei  ihm 
nicht  belegen  kann. 

Wie  in  diesem  Lande  der  Ideen  nun  als  dessen  Sonne  die 
Idee  des  Outen  allen  anderen  ihr  Wesen  gibt,  das  haben  wir 
schon  gesehen.  Wohl  kann  man  also  nach  Plato  einen  Menschen 
denken,  der  die  Ideen  nicht  kennt  —  und  solche  Leute  sind 
ja  die  Sophisten  — ,  auch  kann  man  sie  wieder  vergessen; 
aber  nie  kann  der  Verstand  sie  anders  erfassen,  sie  verändert 
finden;  in  diesem  Sinne  sind  sie  im  höchsten  Mafse  unabhängig 
und  „für  sich.'' 

Freilich  das  Verhältnis  dieser  Ideen  zum  Sinntiehen  ist 
nirgends  weiter  behandelt  Plato  hebt  nur  immer  wieder 
hervor,  dafs  beides  verschieden  sei,  und  begnügt  sieh  ina 
übrigen  mit  Bildern,  deren  Undeutlichkeit  schon  Aristoteles 
beklagt.  Das  Einzelding  soll  an  der  Idee  „teilhaben",  soll 
nach  ihr  „ hinstreben ",  diese  soll  sein  „Vorbild"  sein.  Aber 
eben  diesen  Mangel  fühlte  der  Philosoph  selber,  und  der 
Versuch,  ihm  abzuhelfen,  ist  es  gerade,  der  die  zweite  Periode 
seiner  Philosophie  charakterisiert.  Ehe  wir  jedoch  zu  dieser 
übergehen,  fassen  wir  kurz  die  Ergebnisse  der  ersten  Periode 
zusammen. 


Bekapitalation. 

16.  Die  Beobachtung  des  menschlichen  Geistes,  insbesondere 
die  Tatsache  der  Sachkunde  und  des  Wissens,  fbhrt  darauf, 
dafs  es  nicht  allein  das  durch  die  Sinne  vermittelte  Sein  gebe, 
sondern  daneben  ein  allgemeines,  das  in  all  jenem  Einzelnen 
wiederkehrt  und  sich  stets  identisch  bleibt  Vor  allem  die 
Mathematik,  Astronomie,  Akustik  können  als  Wissenschaften 
gar   nicht    ohne  jene   Begriffe  als    möglieh   erklärt  werden. 


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87 

Logisch  genommen  ist  jene  Allgemeinheit  nnd  absolute  Identität 
nnr  durch  den  Inhalt  einer  Definition  zu  erreichen;  die  logische 
Funktion  des  Einteilens  zeigt  die  Stufen  der  so  gewonnenen 
Abstraktionen  auf,  die  vom  ärfifjroi^  bis  zum  jtQcarov  äwjtoß-erov 
reichen  mttssen.  Psychologisch  mufs  stets  ein  sinnlich  gegebenes, 
dem  ähnliches  Einzelding  vorhanden  sein,  bei  dessen  Erfassung 
auch  der  Begriff  sich  einstellt;  ferner  kann  dieser  wenigstens 
während  dieses  Lebens  sich  niemals  ganz  von  jenem  ablösen. 
Dies  Verhältnis  von  Begriff  und  sinnlicher  Anschauung  wird 
als  ein  assoziatives,  als  Wiedererinnerung  aufgefafst.  Erkenntnis- 
theoretisch mufs  zwar  der  Beweis  der  Verschiedenheit  des 
abstrakten  und  individuellen  Gegenstandes  durch  die  Ver- 
schiedenartigkeit der  entsprechenden  Erkenntniskraft  geführt 
werden;  dennoch  aber  kommt  beiden,  besonders  aber  dem 
Begriffe,  ein  vom  Erkennen  als  psychologischem  Akte  unab- 
hängiges Sein  zu.  Das  der  Ideen  ist  charakterisiert  als  ewig 
unabänderlich,  absolut,  „fttr  sich^. 


B.  Zweite  Periode  der  platonisohen  Philosophie. 

1.  Die  veränderte  Problemlage. 

17.  Es  wäre  verkehrt,  von  einer  Änderung  der  Ideenlehre 
zu  reden;  denn  eine  solche  ist  nicht  nachweisbar.  Einmal 
müfste  Aristoteles  darum  wissen,  der  doch  in  seiner  ziemlich 
ausgebreiteten  Polemik  niemals  etwas  Derartiges  auch  nur  an- 
deutet,^) und  dann  lesen  wir  auch  in  Piatos  späteren  Schriften, 
im  Timäus  (27  dff.)  und  Philebus  (58  a  ff.),  die  Gegenüberstellung 
von  Sinnlichem  und  Ideellem  genau  so,  wie  wir  es  gewohnt 
sind,  ohne  dafs  an  dieser  Schroffheit  die  dazwischenliegenden 
Dialoge  etwas  geändert  hätten.  Das  wäre  doch  sehr  merk- 
würdig, wenn  diese  Schriften  (Theät.,  Parmen.,  Soph.)  wirklich, 
wie  man  neuerdings^)  behauptet  hat,  eine  Selbstkritik  Piatos 
darstellen,  die  jene  QegenUbersetzung  zu  mildern  suche.  Aber 
allerdings  sehen  wir  Plato  von  nun  ab  in  vieler  Hinsicht  über 


0  Abgesehen  von  der  Umdeutuog  der  Ideen  in  Zahlen,  die  wir  hier 
beiseite  lassen,  da  wir  uns  aaf  Piatos  Schriften  beschränken  wollen. 

<)  Vgl.  Räder  a.  a.  0.  (S.  15  A.  2)  S.  281,  290/1,  305,  328 ff.;  Literatar 
S.  328  A.  2;  ferner  Windelband-BonhOffer,  Gesch.  d.  antiken Philos.  *16i,  168. 


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88 

seine  früheren  Ansichten  hinaufgehen;  nene  Fragen  werden 
behandelt,  and  weil  damit  die  Ideenlehre  sieh  von  einem 
anderen  Hintergründe  abhebt,  macht  sie  einen  fremderen  Ein- 
druck. Die  Problemlage  in  der  philosophischen  Disknssion 
hatte  sich  geändert,  and  dies  war  hauptsächlich  auf  Piatos 
eigene  Wirksamkeit,  anf  den  Erfolg  seiner  Schriften  zarllek- 
zufuhren.  Spät  lernte,  als  Greis,  sogar  Antisthenes  noch  yon 
ihm  (Soph.  251  b,  c):  Die  Ideen  hatten  sich  Freunde  erworben 
und  hatten  auch  auf  die  Lehren  der  Gegner  ihren  Einflofs 
nicht  verfehlt.  Aber  man  hatte  Plato  nicht  yerstanden,  alles 
zu  grob  aufgefafst;  er  mufs  sich  gegen  die  Benutzung  seiner 
eigenen  Gedanken  ebenso  wehren,  wie  frtther  gegen  die  Sophisten. 
Charakteristisch  ist  es,  dals  er  die  neu  entstandenen  Auf- 
fassungen auf  den  Geist  der  eleatischen  Philosophie,  auf  das 
unbewegliche  Sein  des  Parmenides  zurtlckfbhrt.  Dieses  wird 
ausführlich  erörtert,  und  eben  diese  Untersuchung,  diese  Kritik 
des  Eleatismus,  ist  etwas  Neues,  was  vom  Theätet  ab  sofort 
auffällt.  Es  kommt  hier  wenig  darauf  an,  die  Vertreter  der 
bekämpften  Richtungen  festzustellen.  Immerhin  hat  Plato  zwei 
verschiedene  Ansichten  deutlich  genug  auseinandergehalten: 
Die  eine  war  nach  dem  Urteil  der  Interpreten  die  des  Antisthenes; 
sie  war  die  radikalere;  denn  sie  machte  jede  Aussage  unmöglich, 
da  .nach  ihr  die  Begriffe  soweit  voneinander  und  von  den  Dingen 
unterschieden  waren,  dafs  man  ihnen  lediglich  ihren  eigenen 
Namen  beilegen  dürfe  (Soph.  251  b,  c;  252  c;  vgl.  Aristoteles 
Met.  129, 1024  b  81  f.;  Theät.  201  e  f.),  sonst  aber  weder  das  „Sein"" 
noch  irgend  etwas  anderes.  Die  andere  hatten  die  „Freunde 
der  Ideen^  (Soph.  248  a  4)  aufgestellt,  und  ihre  Darstellung  be- 
wegt sich  allerdings  in  den  Ausdrücken,  die  Plato  frtther  für 
seine  Ideenlehre  verwendet  hatte,  die  er  aber  auch  im  Timäus 
(28  a  2)  noch  festhält:  sie  lehrten  nämlich,  ein  wirkliches  Sein 
käme  nur  den  unsichtbaren,  ewig  gleichbleibenden  Ideen  zu, 
während  sie  sich  um  die  stets  werdende  Eörperwelt  wenig 
kümmerten  (Soph.  246  b  c;  248  a  10  ff.;  252  a,  b).  Schwerlieh 
aber  hat  Plato  hiermit  seine  eigenen  Dialoge,  Staat  und  Phädms, 
zu  treffen  gemeint;  sonst  könnte  er  nicht  kurz  darauf  (Soph.  253  b) 
allen  jenen  Philosophen  gegenüber  so  nachdrücklich  auf  die 
Wissenschaft  der  Dialektik  verweisen,  die  für  alle  ihre  Irr- 
tümer das  Heilmittel  darstelle:  dieselbe  Dialektik,  die  doch 


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89 

gerade  in  jenen  Dialogen  den  höchsten  Platz  einnehmen  sollte. 
Nein,  hier  eben  hatten  jene  Ideenfreonde  die  Ausführungen 
Piatos  nieht  ganz  verstanden,  und  hier  konnte  also,  ganz  auf 
dem  Boden  der  alten  Lehre,  die  Kritik  einsetzen.  Welchen 
Bttckscblag  diese  auf  die  von  uns  behandelten  Fragen  aus- 
geübt hat,  das  gilt  es  nunmehr  festzustellen. 

Von  den  Schriften,  die  in  dieser  Zeit  erschienen  sind,  be- 
schäftigt sich  die  erste,  der  Theätet,  nur  mit  Antisthenes.  Im 
ersten  Teile  (bis  187  a)  wird  gezeigt,  dafs  dessen  Polemik  gegen 
die  Sophisten  nicht  genüge,  diese  ans  dem  Felde  zu  schlagen, 
und  bei  der  Gelegenheit  finden  wir  eine  letzte,  sehr  scharfe 
und  vertiefte  Widerlegung  des  Sensualismus,  wie  sie  nach 
Flato  selber  zu  führen  sei.  Insofern  zeitigt  der  Dialog  einen 
positiven  Ertrag,  der  hauptsächlich  S.  184—187  steht.  Dann 
aber  werden  die  positiven  Aufstellungen  des  Antisthenes  be- 
handelt und  die  in  ihnen  steckenden  Widersprüche  aufgedeckt. 
Ihre  Lösung  jedoch  konnte  Plato  noch  nicht  geben,  weil  er, 
wie  er  ausdrücklich  sagt  (183  e  f.),  die  Lehre  des  Parmenides 
in  einer  besonderen  Schrift  untersuchen  will;  auf  diese  sind 
aber,  wie  wir  im  Sophistes  erfahren,  Antisthenes'  Irrtümer 
zurückzuführen,  und  so  mufste  der  Theätet  anscheinend  resultatlos 
sehliefsen.^)  Der  Parmenides  war  aber  schon  in  Angriff  ge- 
nommen, als  der  Theätet  erschien;  auf  die  dortige  Situation 
spielt  Theät  183  e  5  an,  und  auch  die  so  verwickelte  Ein- 
kleidung jenes  Dialogs  mufs  dem  Schriftsteller  schon  unbequem 
geworden  sein,  wie  die  Einleitung  zum  Theätet  beweist.  Der 
Sophistes  gibt  sieh  schon  änfserlich  als  Fortsetzung  des  Theätet, 
und  damit  wollte  Plato  offenbar  andeuten,  dafs  nunmehr  die 
dort  offen  gelassenen  Fragen  ihre  Erledigung  finden  sollten.  In 
der  Tat  wird  ja  das  Problem  der  öo^a  tpsvÖTJg  zu  Ende  ge- 
führt. Dieser  Dialog  geb($rt  also  ebenfalls  mit  dem  Theätet 
zeitlich  und  sachlich  aufs  engste  zusammen.  Die  übrigen 
Schriften  (Politikus,  Philebus,  Timäus)  reihen  sich  ohne  Schwierig- 
keit an;  am  wichtigsten  ist  für  uns  der  Timäus,  da  in  ihm  die 
Polemik  fast  ganz  zurücktritt  und  einer  zusammenhängenden 
Darstellung  des  platonischen  Systems  Platz  macht 


0  Auf  die  Partie  201—210,  die  vor  allen  anderen  eine  Selbstkritik 
darstellen  soll,  kommen  wir  noch  zurück  (S.  44). 


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40 

Wir  wollen  nun  die  BehandluDg,  die  die  versehiedenen 
Seiten  des  Abstraktionsproblems  in  dieser  späteren  Zeit  finden, 
prttfen.  Dabei  wird  sich  zeigen,  dafs  die  Grandlinien  überall 
dieselben  geblieben  sind,  dafs  aber  in  den  Erörterangen  insofern 
eine  Vertiefung  eingetreten  ist,  als  jetzt  das  Urteil  schärfer 
als  das  eigentliche  Feld  des  Denkens  in  den  Vordergrand  tritt; 
und  diese  Wandlung  wird  fllr  jeden  der  aufgestellten  Gesichts- 
punkte von  Bedeutung. 


2.  Wahrnehmnng  und  Urteil;  SbteiQoy  und  nigag* 

18.  Die  Behauptung  des  Protagoras,  es  gebe  keine  Er- 
kenntnisquelle aufser  der  Sinnlichkeit  und  alles  Wissen  er- 
schöpfe sich  mit  der  Wahrnehmung,  finden  wir  mit  den  uns 
bekannten  Gründen  abgewiesen;  einmal  nämlich,  so  zeigt  Plato, 
hebt  sie  alle  objektive  Wahrheit  und  damit  sich  selber  auf 
(Theät.  170  e  — 171  c),  und  zum  andern  macht  sie  alles  Urteilen, 
alle  Erkenntnis  unmöglich,  da  kein  Wort,  das  man  anwendete, 
seinen  identischen  Sinn  behielte  (183  a — c).  Und  wieder  wird, 
zum  Beweise,  dafs  nicht  alles  durch  die  Wahrnehmung  erklärt 
sei,  auf  die  Mathematik  hingewiesen.  Diese  zwingt,  einen 
anderen  Weg  einzuschlagen  (163  a  4 — 5),  da  es  fttr  Protagoras 
weder  Beweis  noch  Notwendigkeit  geben  kann  (162  e  4 — 5)/) 
Ferner  führt  die  Existenz  der  Sachkunde,  die  ein  Wissen  um 
die  Zukunft  darstellt,  auf  denselben  Weg  (178  b  — 179  b).') 
Endlich  wird  ausdrücklich  zugegeben,  dafisProtagorasim  Gebiete 
des  rein  Sinnlichen  durchaus  Recht  behält  (171  e  1—3).*)  Aber 
nun  wird  der  Hauptnachdruck  nicht  auf  die  Verschiedenheit 
der  Gegenstände,  der  sinnlich  erfafsbaren  und  der  von  der 
Mathematik  geforderten,  gelegt,  sondern  auf  die  der  Vorgänge, 
durch  die  sie  uns  zugänglich  werden.  Die  sinnliche  Wahr- 
nehmung auf  der  einen  Seite  ist  ein  Ergebnis,  zu  dessen  Zu- 

*)  dnoSsiSiv  ih  xal  dvayxrjv  ov6*  ^vrivovv  Xiyete,  dXka  x^  tlxou 
XQ^o&s  c^  bI  id^iXoi  ßeoSwQog  ^  akXog  riq  rwv  yeioiABXQwv  x^iabi^ 
yecjfiSTQHv,  a^tot;  ovS^  av  ivog  fjcovov  av  ety, 

>)  al  vofioS-saiai  xal  to  citpeXifiov  nsQl  xh  fiiXXov  icxiv  179  a  5. 

•)  ^fislg  vTtEyQatpafisv  ßorjB^ovvxeg  ÜQWxayoQa,  wq  xd  fihv  noXXa 
i  Soxet,  xavxy  xal  foxiv  kxdox(p,  d^egfid,  SvQ^f  yXvxia,  ndvxa  oaa  xov 
xvnov  xovxov '  si  6i  nov  .... 


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41 

standekommen  sowobl  Subjekt  wie  Objekt  mitwirken;  von 
beiden  also  ist  es  abhängig  (156  e — 157  c;  182  a  f.),  nnd  somit 
ist  alles  Wahrgenommene  relativ.  Diese  Theorie  der  Wahr- 
nehmung wird  überzengnngsvoU  entwickelt,  ja  sogar  bei  der 
Widerlegang  des  Sensaalismns  voransgesetzt  (182  a  f.).  Immer 
wieder  wird  jedoch  eingeschärft,  dafs  durch  das  Zusammen- 
wirken von  gesehenem  Gegenstand  und  sehendem  Auge  nicht 
die  Xsvx&vrjg  z.  B.  entspringe  (also  kein  Begriff),  sondern  immer 
nur  ein  bestimmter  individueller  Fall  des  Weiüsen  (156  d  8  ff.,  M 
besonders  182  a  6  f.),  eine  ^lyrofievi]  xal  q>eQOfiivi]  jLsvxortjg 
(159  e).  Wenn  man  das  festhält,  kann  Plato  für  das  also  ab- 
gesonderte rein  Sinnliche  die  These  des  Protagoras  zugeben. 
Nur  darf  die  XsvxoTtjg  selber  nicht  in  den  Strudel  des  Werdens 
hineingezogen  werden,  da  die  Möglichkeit  des  Aussagens 
{jcQoöayogex'eiv)  an  deren  steter  Identität  hängt  (182  d).  Auf 
der  anderen  Seite  wird  nicht,  wie  früher,  sogleich  auf  den 
Begriff,  die  Idee  losgesteuert,  als  den  Retter  in  der  Kot,  der 
den  Schlüssel  zu  objektiver  Wahrheit  abgebe,  sondern  auf  die 
innerseelische  Funktion,  die  zu  der  sinnlichen  hinzukommen 
müsse,  nämlich  das  Urteilen  (184—187).^  Zu  den  durch  die 
Sinnesorgane  vermittelten  Empfindungen  tut  die  Seele  etwas 
aus  sich  heraus  hinzu:  sie  urteilt  (6o§d^erac  187  a  7 — ^8)  und 
bringt  in  dieser  Tätigkeit  die  Begriffe  des  Seins,  des  Nicht- 
seins, der  Indentität,  der  Verschiedenheit,  der  Zahl  usw.  an 
die  Empfindungskomplexe  heran.  Diese  eigene  Arbeit,  die  ohne 
irgend  welches  Organ  vor  sich  geht,  wird  charakterisiert  als 
T«  xoivä  jtegl  jtdvrcov  kjciöxojtelv  (185  d,e),  als  CvfißdXXovöa 
jcQog  äXXr/Xa  xqIvbiv  jtecgäö&^ai  (186  b  7).  Damit  ist  aber  die 
Abstraktionstätigkeit  deutlich  genug  bezeichnet.    Während  bei 

0  tb  d^  avyysw^aav  ro  XQ^(^  Xtvxoxi^xoq  itBQisnXija^ij  xal  iyivtro 
ov  XevxoTijq  av  dXka  Xevxov,  dxs  ^vXov  sixe  XLd^oq  elxt  oxfpovv  avveßrj 
X(»7A(a  XQ^^^^^^*-  ^^  xoiovx(p  X9<'t/^cixi  (e  4  f.). 

*)  Ich  werde  im  folgenden  die  Ansicht  entwickeln,  dals  das  Problem 
des  Urteils  vom  Theätet  an  Plato  vor  allem  beschäftigt  habe.  Den 
wesentlichsten  Beweis  dafür  sehe  ich  darin,  dafs  nnter  dieser  Voraus- 
Betznng  sich  alle  Differenzen  gegenüber  der  früheren  Darstellung  der  Ideen- 
lehre leicht  begreifen  lassen:  dies  werde  ich  also  za  zeigen  haben  (vgl.  die 
Rekapitolation).  Zur  vorläufigen  Orientierung  diene  Anhang  1.  —  Wie- 
viel ich  übrigens  für  die  Interpretation  dieser  Dialoge  dem  genannten 
Buche  von  Paul  Natorp  verdanke,  Uegt  auf  der  Hand. 


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^     I 


42 

den  Empfindungen  von  Wahrheit  (und  natürlich  auch  Fabeh- 
hoit)  nicht  geredet  werden  kann^^)  steckt  in  diesem  avlloyicfio; 
alles  Wissen,  da  dies  mit  dem  ,,Sein^,  welches  jene  Beorteiluog 
ausspricht,  zusammenhängt  (186  e  4 — 7).  Dals  auch  alle  anderen 
Begriffe,  z.  B.  die  XsvxotijQj  die,  wie  früher  gezeigt  wurde; 
nicht  durchs  Auge  geschaut  wird,  unter  Mitwirkung  dieser 
Urteilsbegriffe  zustande  kommen,  das  wird  im  Theätet  nicht 
ausdrücklich  gesagt,  da  die  polemische  Absicht  des  Dialogs 
dies  nicht  verlangte.  Klar  ausgesprochen  jedoch  ist  dieser 
Gedanke  im  Parmenides.  In  diesem  Dialoge  werden  zum  ersten 
Male  die  durch  die  Empfindung  vermittelten  Gegenstände  als 
äjtsiQOP  bezeichnet,  die  begriffliche  Bestimmtheit  demgegenüber 
als  jctgag;  in  diesem  Sinne  sollen  sich  tv  und  äXXa  gegenttber- 
stehen,  wobei  das  letzte  auch  wohl  ro  irsQov  genannt  wird 
(164  b  8).  Der  Urteilszusammenhang  tritt  als  fiEttxstv  auf,  wie 
er  ja  schon  im  Phädon  bezeichnet  wurde.  Es  wird  nun  ge- 
zeigt, dals  ein  solcher  stattfinden  kann  sowohl  zwischen  den 
Begriffen  (142  e — 155  e),  als  auch  zwischen  Begriff  and  Sinn- 
lichem (157  b—  159  b),  wobei  das  jtigag  die  äutugla  verdrängt 
(158  d  3).  In  diesen  Fällen  findet  die  Urteilsfunktion  in  eigent- 
lichem und  strengem  Sinne  statt:  sie  braucht  ja,  wie  wir  sahen, 
ein  eindeutig  bestimmtes  Prädikat,  ohne  welches  sie  unmöglich 
wird  (Theätet  183  a — c),  und  das  ist  in  den  genannten  Fällen 
der  Begriff.  Aber  auch  ein  nrteilsähnlicher  Zusammenhang  im 
rein  Sinnlichen  ist  möglich,  nur  dals  dann  die  Urteilsbegriffe 
Sein,  Nichtsein,  Identität,  Zahl  usw.  nicht  in  eigentlichem  Sinne 
angewendet,  sondern  gewissermaJsen  nur  nachgeahmt  werden 
(164  b— 165  d).  Sieht  man  nämlich  von  allem  Begrifflichen 
ab,  so  bleiben  nur  Empfindungskomplexe  {pyxoi  „Haufen^)  — 
eben  das  aneigov  —  übrig.  Trifft  man  zwischen  solchen  eine 
urteilsmälsige  Bestimmung,  so  mufs  sie  sich  bei  näherem  Zu- 
sehen stets  als  ungenau  herausstellen.  Daher  kann  man  nur 
sagen:  sie  „erschienen^  als  Einheit,  als  identisch,  als  Vielheit  usw. 
Auch  Werden  und  Bewegung  ist  eine  Bestimmtheit,  die  ihnen 
zuzukommen  nur  scheint  (165  d  6 — 7).    Diese  fpavxaola,  dies 


0  186d:  iv  fikv  aga  xolq  na^fjiaaiv  ovx  Ivx  imax^ixti,  iv  6l  r^ 
negi  ixelviov  avXXoyioßqi  *  ovaiaq  yaQ  xal  d^ffMag  ivtav^a  fihv  wq  louts 
övvatbv  atpand-ai,  ixeZ  6h  Aövvaxov, 


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„g>alvsTai^  wird  geradezu  als  eine  Mischang  von  Empfindang 
und  Urteil  bezeichnet  (Soph.  264  b  1—2).*) 

Hier  haben  wir  nun  wieder  den  alten  Gegensatz:  auf  der 
einen  Seite  das  ytigag,  volle  begriffliehe  Bestimmtheit,  auf  der 
Seite  der  Wahrnehmung  dagegen  alle  Unbestimmtheit  Dals 
nämlich  mit  dem  IV  des  Parmenides  die  Idee  gemeiot  sei,  daran 
kann  man  nicht  zweifeln,  wenn  man  nur  nicht  jtoXXd  und  rdXXa 
verwechselt:  jtoXXd  ist  selbstverständlich  auch  auf  die  Seite 
des  Begrifflichen  zu  setzen,  während  rdXXa  gleich  dxstQla  ist. 
Man  vergleiche  aulserdem  S.  129;  dort  wird  als  Beispiel  für 
das  £/do$  aufgeführt:  o(ioiov  und  dvonotov^  ferner  bald  darauf 
hv  und  jtoXXd.  An  diesen  allen  nimmt  das  „Andere^  teil. 
Auch  im  Fhilebus  (15  a,  b)  werden  die  Ausdrücke  %v  und  elöoq 
als  gleichbedeutend  gebraucht,  während  sinnlich  Individuelles 
als  ytyv6(iBva  und  äjteiQa  auftritt  (15  b  5).  Plato  selbst  warnt 
vor  einer  Verwechselung  von  jcoXXd  und  ansiga  nachdrücklich 
als  einer  der  wichtigsten  Quellen  alles  Irrtums  (Phil.  17  a). 
Der  Gegensatz  von  Abstraktem  und  Individuellem,  der  im 
Philebus  durch  die  Termini  äjteiQov  und  jtiQag  bezeichnet  wird, 
tritt  dann  im  Timäus,  aber  auch  schon  im  letzten  Teile  des 
Philebns,  wieder  in  den  alten  Ausdrücken  auf  —  nur  die  Be- 
zeichnung rdXXa  oder  d-dxBQov  ist  geblieben  (z.  B.Tim.  35  a  5,  b  3). 
Der  Zusammenhang  zwischen  beiden,  der  im  Parmenides  157  b  bis 
159  b  behandelt  war,  wird  im  Philebus  und  Timäus  als  iiBl^tg 
bezeichnet.  Wir  werden  über  seine  Natur  noch  zu  handeln 
haben.  Plato  hatte  ihn  niemals  geleugnet,  denn  das  (isxix'^iv 
des  Phädon  setzte  ihn  ebenfalls  schon  voraus.  Aber  eine  falsche 
Auffassung  der  Ideenlehre  hatte  ihn  wieder  in  Frage  gestellt, 
und  daher  geht  Plato  jetzt  mehr  als  früher  auf  ihn  ein.  In 
der  logischen  Charakterisierung  der  beiden  Gegensätze  hat  sich 
nichts  geändert;  auch  hat  das  Begriffliche  sein  Übergewicht 
durchaus  behalten.  Wie  selbstverständlich  sind  die  Ausdrücke 
xigaq  —  cbtBiQov  von  seiner  Seite  aus  gewählt. 

3.  Weiterbildung  der  Lehre  von  der  Dialektik. 

19.  Fragen  wir  wieder  nach  den  Mitteln  und  Wegen,  die 
dem  Geiste  zu  Gebote  stehen,  um  die  Begriffe  zu  erfassen,  so 


*)  „^aivexai**  dh,  o  IfyofiBv,  ovfi/xBtit^  ala^aeof^  xal  do|i7$. 

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44 

fällt  auch  hier  die  Antwort  zunächst  nicht  andere  ans,  als 
früher.  Es  ist  die  öiaXBTtxtxtj.  Die  beiden  verschiedenen 
Wege  der  Begriffsbestimmung,  Definition  und  Einteilung  werden 
in  grofser  Reinheit  beschritten  und  untereucht.  Beispiele  des 
Zusammennehmens  vieler  Gegenstände  unter  einen  Begriff 
liefert  der  Theätet  (147  d— 148  b)  oder  Philebus  (27  f^  bes. 
24  e  7  f ),  Beispiele  der  anderen  Methode  die  „  Einteilungen*^ 
des  Sophistes  und  Politikus.  Einen  Augenblick  könnte  man 
vielleicht  daran  zweifeln,  dafs  die  Kunst  des  Definierens 
wirklich  ihre  alte  überragende  Stellung  noch  innehabe.  Diese 
sollte,  da  allein  sie  befähigte,  von  allem  Rechenschaft  abzulegen, 
die  ijtiöTfjfii]  begründen,  die  dann  auch  wohl  als  oqB^  66sa 
fjsrä  Xoyov  charakterisiert  ward.  Und  eben  diese  Bestimmung 
der  ijtiöTfjfiT]  wird  im  Theätet  angegriffen,  ohne  dafs  sie 
scheinbar  das  Feld  behaupten  könnte.  Ich  würde  dies  gar 
nicht  erwähnen,  wenn  man  nicht  wirklich  geglaubt  hätte,  in 
jener  Partie  des  Theätet  (201—210)  eine  Selbstkritik  Piatos 
vor  sich  zu  haben.  Aber  wenn  irgendwo,  so  ist  es  doch  in  diesem 
Falle  deutlich,  daüis  er  eine  fremde  Lehre  bekämpft,  die  nur 
seiner  inzwischen  berühmt  gewordenen  Terminologie  sich 
bediente.  Ein  dreifacher  Sinn  soll  nämlich  mit  jenem  fiera 
Xoyov  sich  verbinden  können:  1.  die  Fassung  der  Gedanken  in 
Worte  (206  d),  2.  die  Aufzählung  der  Teile  eines  Dinges 
(206  e),  8.  die  Angabe  des  Unterschiedes  von  den  anderen 
Dingen  (208  c  5).  Alle  drei  Bedeutungen  sind  unplatoniseh; 
namentlich  die  letzte  Forderung  würde  ja  nicht  zum  Allgemein- 
begriff führen,  sondern  zum  undefinierbaren  Individuum,  wie 
auch  klar  gesagt  wird  (209  b,  c).  Dagegen  wird  bei  Bekämpfung 
der  mittleren  Auffassung  auf  die  richtige  echtplatonische  Be- 
deutung des  (lerä  Xoyov  ausdrücklich  hingewiesen:  nämlich  die 
Aufzählung  der  Merkmale  des  Begriffes,  nicht  der  Teile  des 
Dinges  (207  a  5—7)  0.  Diese  Auslegung  wird  natürlich  nicht 
bekämpft;  denn  mit  einer  solchen  Lehre  hätte  sich  Antisthenes 
vollkommen  auf  Platonischen  Boden  gestellt;  überhaupt  brauchte 
darauf  nicht  eingegangen  werden,  da  es  sich  im  Theätet  lediglich 
um  eine  Analyse  der  Ansichten  des  Antisthenes  handelt 

*)  a  iyo)  ovx  av  Svvaifitjv  einelv  olfiat  6h  ov6h  av  '  aAA'  dycat^fier 
av  i^wrij^ivreg  ort  iaxlv  a^a^a^  ü  exoifiev  elneZv  tqoxoL,  vne^f^ic, 
&vTvyei,  ^vyov. 


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4$ 

Bedentend  sehwieriger  ist  die  AuseinandersetznDg  mit  den 
Ideenfrennden.  So  nahe  sie  aber,  namentlich  in  der  Termino- 
logie, der  platonischen  Lehre  gekommen  sein  mochten:  ein 
Unterschied  trennte  sie  von  jener  doch  dentiich  genng,  nnd 
das  war  die  Lehre  von  der  Dialektik.  So  mnis  Plato  das 
Verhältnis  anfgefafst  haben;  denn  sonst  könnte  er  nicht  als 
Ausweg  ans  allen  Schwierigkeiten,  welche  der  Lehre  jener 
Philosophen  entgegenstehen,  schliefslich  die  Dialektik  preisen, 
die  hier  genau  so  charakterisiert  wird  wie  im  Phädrus  (Soph. 
253  d),  als  ein  öiaigetöB-ai  xarä  yivi]  nnd  wiederum  filav  löiav 
6ta  jtoXXcov  öuxverafiivTiv  öiatcB'dvBCd-ai.  Dasselbe  Spiel  wieder- 
holt sieh  im  Parmenides;  gegen  eine  Ideenlehre,  die  von  jener 
Dialektik  nichts  weif s,  werden  schwerwiegende  Angriffe  gerichtet, 
die  sich  als  durchaus  siegreich  herausstellen,  und  znm  Schlnfs 
wird  wieder  auf  die  Dialektik  hingewiesen,  die  es  nicht  zulasse, 
iene  Ideen  ganz  und  gar  abzuweisen  (135  b— d).  Das  soll  doch 
heifsen,  dafs  der  Sinn  der  echten  Ideenlehre  durch  die  Dialektik 
bestimmt  werden  müsse,  und  so  hätten  wir  wieder  den  Unter- 
schied der  beiden  verwandten  Lehren.  Zugleich  aber  sehen 
wir,  wie  sehr  der  Gegner,  gegen  den  Plato  streitet,  sein  Antlitz 
geändert  hat;  denn  wenn  auch  Antisthenes,  wie  sich  zeigte, 
von  der  wahren  Definition  nichts  wufste,  so  konnten  doch  jene 
Ideenfreunde  dieser  Methode,  also  der  einen  Seite  wenigstens, 
der  Dialektik  kaum  entraten,  um. zu  den  Ideen  zu  gelangen. 
So  ist  es  ganz  natürlich,  dafs  Plato  nunmehr  den  Hauptnach- 
drnck  auf  deren  andere  Seite  legte  und  von  nun  ab,  während 
früher  das  Aufsuchen  der  fila  löia  die  Hauptrolle  spielte,  diese 
vielmehr  der  öialgecig  zuweist:  das  konnte  er  mit  um  so  grOfserem 
Bechte,  als  diese  ja  auch  früher  schon  jenen  Zusammenhang 
der  Ideen  untereinander  zum  Ausdruck  bringen  sollte,  den  die 
neuen  Ideenfreunde  leugneten.  Ja,  so  weit  geht  Plato,  dafs 
er  die  Leute,  die  nur  das  Zusammenfassen  in  Allgemeinbegriffe 
verstehen  und  üben,  mit  demselben  Ausdrucke  abweist,  mit 
dem  er  früher  diejenigen  abgetan  hatte,  die  aller  Dialektik 
bar  waren:  er  bezeichnet  nämlich  ihr  Verfahren  als  ein  iQiorixcjg 
jiGisTod-ai  tovq  Xöyovq,  und  nur  eine  Verbindung  beider  Methoden 
als  öiaXexTix(5g  jioutod-at  tovq  Xoyovq  (Phil.  17  a  4). 

20.  In  einer  Hinsicht  jedoch  erscheint  die  Dialektik  in 
einem  völlig  neuen  Lichte:  sie  soll  jetzt  auch  die  „Sachkunde^ 


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46 

von  der  richtigen  Mischnng  der  Ideen  selber  sein  (Sopb. 
253  b— d).0  Wie  reimt  sich  das  mit  den  bisher  betrachteten 
Bestimmungen?  Nur  eine  Folge  davon  ist  es,  wenn  es  heilst, 
die  Dialektik  mtlsse  anch  die  Begriffe  anfisnohen,  die  diese 
Mischnng  und  eventuell  Trennung  mOglieh  machten  (253  el — 3).") 
Zum  Verständnis  dieses  Gedankens  mtlssen  wir  uns  erinnern, 
dafs  mit  der  Möglichkeit  jener  Mischung  die  Möglichkeit  des 
Urteils  stehen  und  fallen  soll  (Soph.  259  e  4 — 6)') :  Dieses  besteht 
ja  in  einer  Mischung  der  Ideen,  und  fllr  deren  Richtigkeit  oder 
Falschheit  soll  also  die  Dialektik  den  Prüfstein  abgeben.  Und 
wieder  ist  hier  vorzugsweise  an  die  Methode  des  Einteilens  zu 
denken.  Weifs  ich  z.  B.,  dafs  alles  Seiende  einzuteilen  ist  in 
Bewegtes  und  Stillstehendes,  so  ist  das  Seiende  mit  Bewegung 
und  Buhe  mischbar,  Bewegung  jedoch  mit  Buhe  nieht  Voraus- 
gesetzt ist  dabei,  dafs  das  Prädikat  zum  Subjekt  im  Verhältnis 
von  Gh&ttung  und  Art  stehe,  welches  eben  durch  das  Einteilen 
gefunden  wird.  Und  die  Begriffe,  welche  Mischung  wie  Trennung 
ermöglichen,  damit  sind  darnach  jene  Urteilsbegriffe  gemeint, 
die  vom  Theätet  an  so  hervortreten:  Sein,  Nichtsein,  Identität, 
Verschiedenheit,  Zahl  usw.  Ei  sind  die  Arten  auszusagen,  die 
Weisen,  in  denen  die  Seele  spricht,  d.  h.  denkt  Deshalb  heifst 
es  völlig  korrekt  an  einer  schon  im  Altertum  angezweifelten 
und  korrigierten  Stelle  des  Timäus  (37  a  6):  Uyu  (sciL  f^  ^^-jafi) 
xivovfiivfj  öiä  jtdöTjg  kavr^^  oxco  r*  av  ri  xavtbv  y  xal  arov 
av  irsQov,  ^tgög  ort  re  (idXiöra  xal  oxy  xal  ojtog  xal  oxon 
avfißalvei . .  ixaöra  elvai  xal  xäöxBiv,  Diese  Begriffe  wurden 
später  von  Aristoteles  unter  dem  Namen  xavfiyoQlai  über- 
nommen.^)   Vielleicht  stammt  aber  auch  der  Name  schon  yod 

*)  'Eneidij  xal  ra  yiinj  n^b^  a^Xa  xaxa  xavxk  fteiSBrng  ^fir 
a  fiokoy^xafieVf  clq'  ov  fiet  imarijßr]^  rivbq  avayxalov  6ia  XiBv  X6y»r 
noQevea^at  rov  oq&wq  /xikXovza  delSBiv  nola  noloiq  avfiipnvcl  rcvr 
yBvdiv  xal  nola  akXtiXa  ov  öixBzai;  . 

*)  xal  ÖTj  xal  6iä  navxcDv  sl  avvixoiT'  avxa  avr'  iazi,  w<ne  avfi* 
fidywa^ai  dvvara  elvai,  xal  ndXiv  iv  ralq  Siaigiaeaiv,  il  Si  oXmr  ?rf(« 
r^C  ÖiaiQiaemq  afria;  —  nwq  yag  ovx  ^untifiiiq  Sei,  xal  axMv  ye 
tawq  r^C  f^yi<ftfl^,'  —  (II):  tb  xata  yivTj  öiaigetcd^i .... 

')  reXeiwiarri  navxiov  Xoywv  ^axlv  d^äviaiq  vo  ÖiaXveiv  Hxacror 
ano  navTwv  •  6ik  yag  trjv  aXXijXcav  xciv  üöfov  avfjmXoxijv  o  Xoyo^ 
yiyovsv  rifilv, 

0  Tgl.  A.  Gercke,  Arch.  f.  Gesch.  d.  PhUos.  IV,  424  f. 


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47 

Plato,  wie  man  ans  jenem  XiyzL  sehliefsen  kann.  Es  ist  somit 
klar,  dafs  die  nenen  Seiten,  die  der  Dialektik  abgewonnen 
werden,  ihre  Charakteristik  als  Wissenschaft  von  der  rechten 
Mischung  der  Ideen  nnd  ihre  Anfgabe,  die  Urteilsbegriffe,  die 
Vokale  gleichsam  des  Denkens^),  zn  finden,  miteinander  nnd 
mit  der  Hervorhebung  des  öiaiQStod^ai  xarä  yevT]  eng  zusammen- 
hängen. Sie  beruhen  auf  einer  schärferen  Fassung  des  Urteils 
als  desjenigen,  was  zur  rein  sinnlichen  Wahrnehmung  hinzu- 
kommt, als  der  eigentlichen  Funktion  des  Denkens;  eben  dies 
ist  ja  das  Neue,  was  die  zweite  Periode  der  platonischen  Ent- 
wicklung bringt.  Es  ist  eine  Weiterentwicklung  im  alten 
Sinne  unter  dem  Eindruck  einer  neuen  gegnerischen  Philosophie, 
die  Beine  Gedanken  so  gewendet  hatte,  dafs  die  Möglichkeit 
des  Urteils  doch  wieder  gefährdet  wurde. 

21.  Im  übrigen  behält  die  Dialektik  durchaus  ihre  oberste 
Stellung  als  die  höchste  IjactruiTj  (Soph.  253o4,5);  sie  krönt 
den  Bau  der  Wissenschaften  (Phil.  57  e  6).  Am  nächsten  stehen 
ihr  aQid'/jiijTixi],  fiSTQTjTix^,  aratixrj  (Phil.  55  e).  Nur  soweit 
ihre  Methode  reicht,  soweit  reicht  wahre  Wissenschaft;  was 
ttbrig  bleibt,  ist  das  Gebiet  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  der 
i/ijteiQla  (55  e  6).  Damit  treten  sich  aber  deutlich  Deduktion 
und  Induktion  gegenüber.  Die  Dialektik  als  das  Vermögen 
{övrafitg  57  e  7),  Gattungen  und  Arten  aufzufinden,  ist  zwar 
nicht  selber  Beweis,  wie  Aristoteles  in  seinen  Analytiken  öfter 
betont;  aber  sie  ist  doch  die  wesentliche  Voraussetzung  der 
Deduktion,  da  diese  nur  eine,  wie  immer  modifizierte  Beziehung 
herstellt  zwischen  dem,  was  von  der  Gattung  gilt,  zu  dem, 
was  von  der  Art  gilt.  Und  wenn  auch  Plato  dies  Verhältnis 
von  Dialektik  und  Deduktion  nirgends  klar  herausschält,  so 
ist  er  doch  in  dieser  Zeit,  da  er  auf  die  ötalQeöcg  ein  so 
grofses  Gewicht  legt,  einer  Theorie  des  Beweises  näher  als 
früher.  Praktisch  wird  ja  das  Einteilen  im  Sophistes  und 
Politikus  auffallend  geübt,  und  zwar  sollen  für  die  Art  die 
Eigenschaften  der  Gattung  gefolgert  werden;  so  soll  der  Sophist 
durch  die  Stellung  unter  den  Begriffen,  die  Reihe,  in  die  er 
hineingehört,  diskreditiert  werden.  Wir  müssen  darauf  noch 
etwas  eingehen,  weil  Aristoteles  mehrmals  darauf  zu  sprechen 

0  Dies  schöne  Bild  braucht  Plato  selbst  Soph.  253  a-c. 

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48 

kommt;  er  bekämpft  eiire  Lehre,  die  die  EintdluDg  ram  Beweise 
der  Definition  zn  stempeln  sich  bemühe  (An.  pr.  I  cap.  31;  AnaL 
poBt  II  cap.  5).  Die  aas  dem  Politikus  9  entnommenen  Beispiele 
lassen  keinen  Zweifel,  dals  er  Plato  meint  Demgegenfiber 
müssen  wir  feststellen,  dafs  Plato  überall  beide  Seiten  der 
Dialektik,  Definition  und  Einteilung,  gleichwertig  und  selbständig 
nebeneinandersetzt  Nie  wird  davon  gesprochen,  dafs  eine 
Definition  überhaupt  oder  gar  durch  die  Einteilung  bewiesen 
werden  solle;  aber  es  wird  gefordert,  dafs  die  blolse  Definition 
durch  das  Verfahren  der  Einteilung  ergänzt  «und  fruchtbar 
gemacht  werde.  Allerdings  soll  diese  die  Deduktion  ennög- 
liehen,  und  insofern  stellt  sie  den  Ersatz  und  die  Vorbereitung 
dessen  dar,  was  Aristoteles  später  in  seinen  Analytiken  ent- 
wickelt hat  Beide  Methoden  haben  gleich  hohen  logiseheo 
Wert,  beide  beschäftigen  sich  ja  als  Dialektik  mit  dem  dtt 
xatä  tä  avrä  (DOammq  exovra  (Phil.  59  c  4).  Man  kann  dem- 
nach nicht  sagen,  dafs  nach  Plato  die  deduktive  Methode 
alles  gelte;  im  Gegenteil:  am  Anfang  steht  die  von  ihr 
unabhängige  Begriffsbestimmung,  diese  ist  natürlich  auch  nichts 
Induktives:  dagegen  hätte  Plato  wohl  den  schärfsten  Protest 
erhoben.  Sie  ist  und  bleibt  vielmehr  die  dem  Geiste  eigen- 
tümliche Art  zu  schauen  (nicht  zu  schiielsen).  Wie  die  Seele 
mittelst  der  Sinne  mit  der  realen  Welt  in  Berührung  kommt 
so  kommt  sie  es  auch  mit  den  Ideen  durch  die  Definition 
(e^djczerat  Tim.  37  a  6);  oder  es  heifst,  sie  „trifft"  auf  beides 
{jceQiTvxcoöcv  Tim.  44  a  2).  Wieso  dies  möglich  sei,  das  fest- 
zustellen ist  Sache  der  psychologischen  Untersuchung  und 
berührt  den  logischen  Charakter  weder  des  einen  noch  des 
anderen. 

4«  Die  metaphysischen  Beziehungen  zwischen  Idee, 
Individuum  und  Erkenntnis. 

22.  Am  stärksten  mufste  die  schon  mehrfach  erwähnte 
Weiterbildung  der  Gedanken  die  erkenntnistheoretische  Seite 
des  Abstraktionsproblems  treffen.  Wir  stellten  schon  am  Ehide 
des  entsprechenden  Abschnittes  der  ersten  Periode  fest,  dafs 

1)  Gemeint  ist  S.  264  f.,  eine  Stelle,  auf  die  Aristoteles  sehr  liäofig 
znrlickkommt,  nunentlich  auch  Metaph.  Z12  und  negi  g^a»v  fjio^wy  A  2,3. 


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4d 

in  der  Darlegung  des  Yerhältniflses  von  Ding  nnd  Idee  eine 
Lücke  anzutreffen  sei.  Ansdrücklieli  wird  daranf  im  Parmenides 
der  Finger  gelegt,  ebenso  Soph.  248  b,  PhiL  14  e  7  f.  Jener  Zn- 
gammenhang  mafs  aber  vor  allen  Dingen  geklärt  werden,  nnd 
zwar  meint  Plato,  sich  zwischen  die  Spiritnalisten,  die  nur  das 
Beich  der  Ideen  wollen  gelten  lassen,  nnd  die  Sensnalisten, 
die  nur  die  wahrgenommene  Welt  kennen  wollen,  mitten  inne- 
Btellen  zn  müssen  (SopL  246  c  2).  Beide  Gegner  nämlich  werden 
der  Eigentümlichkeit  des  Urteils  nicht  gerecht;  den  Fehler  der 
Sophisten  haben  wir  schon  näher  besprochen;  aber  auch  ihre 
Gc^er,  die  Ideenfrennde,  können  das  Urteil  nicht  erklären,  da 
sie  die  Ideen  als  vollständig  für  sich  seiend,  ohne  die  Möglichkeit, 
miteinander  „vermischt^  zn  werden,  annehmen  (Soph.  259  d  9  f.). 
Schon  dadurch,  dals  sie  überhaupt  von  jemandem  erkannt  werden, 
verändern  sich  die  Ideen  und  treten  aus  dem  Zustande  des 
vollkommen  Absoluten  heraus  (Soph.  248  d  4  f.).  Die  Mischbar- 
keit ist  daher  die  Bedingung  für  das  Zustandekommen  aller 
Erkenntnis  (Soph.  260  b  1—2).  Um  diese  Verhältnisse  zum  Aus- 
druck zu  bringen,  lehrt  Plato,  es  gebe  zwei  Arten  des  Seins, 
das  absolute  und  das  auf  etwas  anderes  bezogene  (Soph.  255  c 
12 — 13),  0  nämlich  dasjenige,  was  jene  Ideenfreunde  ihren 
Ideen  beilegten,  und  das,  welches  im  Urteil  gemeint  sei.  Dies 
letzte  bedeutet  eigentlich  nicht  „sein^,  sondern  „teilhaben^: 
die  Bewegung  z.  B.  kann  identisch  sein,  d.  h.  im  Urteil  mit 
dem  Begriff  der  Identität  verbunden  werden;  sie  kann  aber 
nicht  Identität  selber  sein  (Soph.  256  a  10  f.).  Und  ebenso  sagt 
das  Nichtsein  nicht  ein  absolutes  Fehlen  von  Sein  aus  —  so 
etwas  ist  unmöglich,  da  die  Aussage,  die  das  feststellte,  selber 
schon  ein  Sein  herstellen  wtürde  — ,  sondern  es  soll  nur  aus- 
drücken, dafs  zwei  Dinge  nicht  im  Urteil  verbunden,  sondern 
nur  getrennt  werden  können:  „Das  ,Sein'  und  das  ,Andere' 
lanfen  über  alles  und  übereinander  hin^  (Soph.  259  a  5),  das 
heilst:  alle  Verbindung  im  Urteil  setzt  irgendwie  eine  Ver- 
schiedenheit voraus  und  alle  Trennung  ein  Verbundensein. 

Genau  dieser  selbe  Unterschied  von  zwei  Arten  des  Seins 
and  auch  des  Nichtseins  kommt  zum  Ausdruck  in  der  ersten 


*)  kXX^  olfjial  ÜB  avyx<»Qeiv  xmv  ovxiov  xa  ixlv  avxa  xad^  avta,  xa  Sh 
PbUoiopliiache  AbhaiuUiuigoa.    XXXXI7  4 


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50 

und  zweiten  bezw.  fttnften  und  sechsten  vjtod-ecig  des  Parmenide& 
Auch  dort  wird  gezeigt,  dafs,  wenn  das  Sein  ein  absolates  sein 
soll,  ein  Urteilen,  Erkennen,  überhaupt  Denken  unmöglich  ge- 
macht werde,  vielmehr  völlig  zerrinne  und  unfalsbar  werde 
(142  a,  für  das  Nichtsein  164  a  7  f.),  da£s  aber  alle  Urteils- 
verhältnisse logisch  möglich  werden,  sobald  man  das  Sein  als 
jenes  bezogene,  urteilsmäfsige  auffällst  (155  d,  vgl.  163  d.  Hier 
beim  Nichtsein  ist  der  Beweis  abgekürzt,  nicht  f&r  alle 
Kategorien  durchgefllhrt).^ 

Erkenntnistheoretisch  sind  diese  Gedanken  von  allerhöchster 
Wichtigkeit;  wie  nämlich  die  Dinge  der  äuTseren  Welt  uns 
nicht  selber  gegenwärtig  sind,  sondern  durch  die  Beschaffen- 
heit des  wahrnehmenden  Sinnesorganes  in  ihrem  Erscheinen 
mit  beeinflufst  werden,  genau  so  können  auch  die  Begriffe,  die 
Ideen,  nicht  als  selbständige  Dinge  in  die  Seele  hineingelangen, 
sondern  sie  werden  bei  der  Auffassung  abhängig  von  dem 
Organ  des  Denkens,  dem  Urteil,  d.  h.  sie  werden  „vermischbar" 
und  müssen  sich  den  Urteilsbegriffen  anbequemen.  Aber  — 
und  nun  kommt  das  Entscheidende  —  wie  Plato  niemals  die 
Existenz  der  in  den  Erscheinungen  gar  nicht  rein  wieder- 
gegebenen Aufsenwelt  geleugnet  hat,  so  führte  ihn  die  Einsicht, 
dafs  die  Begriffe  für  uns  doch  nur  als  Bestandteile  des  Urteils, 
also  als  Begriffsvorstellungen  fafsbar  sind,  ebenfalls  nicht  zur 
Leugnung  einer  selbständigen  Welt  der  Begriffe,  die  ganz  so 
charakterisiert  werden,  wie  früher  (vgl.  §15).  Ausdrücklieh 
wird  ja  rä  avrä  xaB^  avrä  ovza  als  eine  Art  des  Seins  auch 
im  Sophisten  anerkannt  (255  b  12).  Unter  diesen  Voraus- 
setzungen allein  können  wir  auch  den  Timäus  verstehen,  auf 
den  wir  nun  noch  eingehen  müssen. 

Ehe  der  Demiurgos,  der  vovg  (39  e  7),  ans  Werk  geht, 
findet  er  fertig  vor  zwei  Welten,  die  der  alcd-rjCiq  und  die 
^&t  yorjci^  (27d5f.).  Diese  existieren  also  unabhängig  von 
ihm;  was  er  aus  ihnen  macht,  erst  das  ist  lediglich  sein  Werk. 
Nun  stellt  er  eine  Mischung  her,  aber  diese  kann  demnach 


^)  Sehr  Bch($n  kommt  der  Unterschied  Pann.  158  zur  Geltung  (5  f.): 
vvv  61  ivl  fihv  elvat  nkijv  avx^  t<p  iii  iöivaxov  nov,  Metix^iv  6e  yc 
xov  hvoq  ivayxfi  xtp  xb  oX<p  xal  Xip  fjtoQlt^.  Ovxovv  ^xe^a  ovxa  xov  hro^ 
(ibH^bi  xa  fiixi^ovxa  avxov;  xa  Öh  üxsQa  xov  ivog  noXXa  nav  iv  cfiy. 


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51 

nicht  wirklich  so  existiereD,  Bondern  bleibt  sein  Geschöpf;  sie 
wird  daher  ohne  weiteres  später  ignoriert,  als  wieder  das 
selbständig  vom  vovg  Existierende  aufgezählt  wird  (49  a  1 
tqIzov  6h  xote  iilv  ov  6i6iX6fia&-a).  Da  die  Seele  nun  die- 
selben Bestandteile  enthält,  wie  jene  beiden  Welten,  so  kann 
sie  mit  ihnen  in  Verbindung  treten  (37  a),  offenbar  nach  dem 
uralten  Grundsätze,  dafs  Gleiches  nur  von  Gleichem  erkannt 
werde  (z.  B.  Aristoteles  de  auima  409  b  26  ff).  Wie  reagiert 
die  Seele  bei  dieser  „Berührung^?  Sie  spricht,  sie  sagt  nach 
ganz  bestimmten  Formen  Beziehungen  aus  sowohl  zwischen 
Gegenständen  beider  Welten  unter  sich,  als  auch  zwischen 
solchen  der  einen  und  solchen  der  anderen;  solche  Beziehungen 
oder  Mischungen  existieren  also  objektiv  nicht;  sie  werden 
vielmehr  erst  in  der  Seele,  also  vom  vovgy  der  ja  immer  etwas 
Innerseelisches  ist  (30  b  3),  spontan  hergestellt.  Etwas  ganz 
besonders  Originelles  ist  dabei  die  Yerkntlpfung  von  alaß^ov 
und  vofiTov,  und  deshalb  wohl  soll  die  Seele  nicht  einfach  eine 
Mischung  von  ideellem  und  sinnlichem  Stoffe  sein,  sondern  ge- 
mischt sein  aus  Begrifflichem,  Körperlichem  und  einer  Mischung 
beider.  Man  darf  aber  nicht  vergessen,  dafs  die  Seele,  wenn 
sie  auf  ein  dfiiQiörov  stöfst,  dies  auch  in  Beziehung  setzen 
kann  zu  einem  anderen  xarä  xavxbv  dsl  sxov  und  ebenso  die 
ovcla  cxsdaCTijg  zu  einem  anderen  yiyvofiBvov.  Wenn  jene 
Mischung  dreimal  ovöla  genannt  wird  (35  a  3,  b  3,  37  a  3),  so 
ist  damit  dasselbe  gemeint,  wie  mit  dem  ovza  ngbq  aXXa  des 
Sophistes,  der  yivsöig  slg  ovalav  des  Philebus,  das  „Sein^  des 
Urteils,  die  Kopula.  Hat  ein  Begriff  zu  diesem  Urteil  die  An- 
regung gegeben,  so  entwickelt  sich  daraus  vovg  und  ijtiorijfiri 
(37  c),  alles  Sinnliche  kann  höchstens  zu  öc^ai  dXed-slg  führen 
(37  b)  —  alles  ganz  wie  im  Staate.  Nur  kommt  es  jetzt 
deutlich  zum  Ausdruck,  dals  die  Verschiedenheit  des  be- 
grifflichen und  sinnlichen  Seins  nur  aus  der  Verschiedenheit 
der  durch  sie  bewirkten  Zustände  in  die  Seele,  der  imötfjfif] 
und  der  do^a  dXe^q,  bewiesen  werden  könne,  erst  durch  diese 
ttberhaupt  zu  bemerken  sei  (Tim.  51  d  3  f.).  Diese  Beweis- 
ftthrung  ist  fllr  Piatos  Meinung  überaus  lehrreich.  Das  Wissen 
unterscheidet  sich  von  der  Meinung  dadurch,  dafs  es  beweisbar 
und  unumstöfslich  ist,  während  jene  auf  Überredung  beruht 
und  daher  sich  umstimmen  lälst.    Daraus  wird  dann  die  Ver- 


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52 

schiedenheit  auch  ihrer  Gegenstände  abgeleitet  and  zun  letzten 
Male  ansfUhrlieh  beschrieben  (52  a). 

Blicken  wir  von  hier  ans  znrttck  anf  den  Philebns,  so  stofsen 
wir  dort  anf  ganz  ähnliche  Festsetzungen.  Es  gibt  zwei  Arten 
von  Gegenständen  (53d8f.).  Das  avzd  ocaO'  airo  and  das 
YiyvofiBPov  ixelvav  ivBxa^  oder  in  der  Terminologie  des  ersten 
Teils:  jtiQag  nnd  äjteiQov.  Zwischen  beiden  kann  eine  Mischung 
hergestellt  werden,  und  zwar  besorgt  das  der  vovg  als  Ursaehe 
(31a  7),  der  sich  wieder  ansdrOcklich  stets  innerhalb  einer 
Seele  befindet  (30  o  9).  Demnach  werden  nicht  die  beiden 
Welten  direkt  gemischt,  sondern  nur  die  Korrelate,  die  sie  in 
der  Seele  erzengen.  Halten  wir  dies  fest,  so  lOsen  sich  anch  die 
Angriffe,  die  im  Parmenides  gegen  eine  Ideenlehre  geriehtel 
werden,  die  Begriffe  nnd  Dinge  der  Sinneswahrnehmnng  an  sich 
betrachtet,  ohne  Bfleksicht  also  darauf,  dafs  beides  erst  als 
Erkenntnis  in  die  Seele  eingehen  mnis.  Diese  Unterscheidang 
bringt  die  Lösnng  der  ganzen  Aporien.  Sucht  man  nämlieh 
die  „Mischung'*  als  ein  Verhältnis  zwischen  Dingen  begreiflieh 
zu  machen,  sei  es  unter  dem  Bilde  des  Tages  und  des  Netzes, 
die  sich  über  verschiedene  Dinge  ausbreiten  können,  oder  deoD 
des  Teiles  zum  Ganzen,  oder  dem  des  Vorbildes  zum  Naeh- 
bilde,  immer  wird  das  Band,  wenn  man  genauer  zusieht,  vdUig 
unfalsbar.  Der  Einwand  vom  „dritten  Menschen''  setzt  aulser- 
dem  voraus,  dafs  die  Begriffe  sogar  Individuen  seien.  ^  Besonders 
klar  geht  der  Irrtum,  den  Plato  bekämpft,  hervor  aus  der  Be- 
handlung des  von  Sokrates  vorgebrachten  Gedankens:  Die  Idee 
sei  immer  nur  etwas  rein  Gedankliches  {votjfia  132  b  3  f).  Auch 
hier  wird  sofort  zu  etwas  hinter  diesem  steckenden  Absoluten 
fortgegangen,  und  wie  an  einem  solchen  das  „Andere"  teil- 
haben kOnne,  wie  es  in  ihm  enthalten  sein  könne,  ohne  dafs 
nun  auch  das  Andere  wirklich  aus  Gedanken  bestehe,  das  mofs 
allerdings  mystisch  bleiben.  Nein,  nicht  die  Annahme  dieses 
Seins,  des  absoluten,  hat  praktischen  Wert  fttr  die  Begründung 
der  ijtiöTTJfiTj,  sondern  nur  deejenigen,  wie  es  das  Urteil  ent- 
hält; „vermischbar''  ist  allein  die  begrifflich  abstrakte  Vor- 
stellung mit  der  sinnlich  individuellen,  llberhaupt  nur  eine 

')  Diese  Annahme  macht  Aristoteles,  der  diesen  Einwand  öfter  gegen 
Plato  benatzt,  ausdrUoklich.  Wir  haben  sie  oben  S.  35  auch  fttr  die  erste 
Periode  zorttokgewiesen. 


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53 

YorBtelluDg  mit  einer  anderen,  und  dies  eben  ist  das  Urteil. 
Weiter  naeh  dem  Sinne  dieser  Misehnng  zn  fragen,  hat  keinen 
Sinn,  da  sind  wir  am  Ende  unserer  eigenen  Erkenntniskraft 
(die  eben  das  Urteil  bildet),  so  lesen  wir  im  Philebas,  wo  ganz 
dentlieh  auf  die  Aporien  des  Parmenides  noch  einmal  hin- 
geynesen  wird  (15  a).  Dals  wir  diese  Beziehungen  setzen,  ist 
ein  unvergängliches  Jtd&^oq  der  Xoyoi;  man  muls  die  Ver- 
knüpfung, die  das  Urteil  bietet,  eben  als  Tatsache  hin- 
nehmen (15d6f.). 

So  wird  die  Lttcke,  die  wir  am  Schlüsse  des  15.  Abschnittes 
fesstellten,  also  ausgefüllt  Wir  erfahren,  dafs  jene  Teilhabe, 
jene  Beziehung  zwischen  Idee  und  Ding,  nichts  anderes  sei,  als 
die  Urteilsbeziehung,  die  auch  zwischen  den  Ideen  selber 
angenommen  werden  müsse  und  dort  genau  dieselben  Probleme 
biete.  Mehr  läfst  sieh  jedoch  nicht  sagen,  weil  wir  hier  an 
den  Grenzen  unseres  eigenen  Denkens  stehen. 

23.  Noch  ein  letzter  Sehritt  verdient  hier  Erwähnung.  Die 
Welt  der  Ideen  war  von  jeher  ausreichend  charakterisiert. 
Während  aber  bisher  die  Körperwelt  sich  mit  den  dazu  ent- 
gegengesetzten Prädikaten  begnügen  mufste,  wird  im  Timäus 
versucht,  das  anzugeben,  was  nun  eigentlich  an  aller  sinnlich- 
individuellen Existenz  das  Eigentümliche  sei.  Und  da  findet 
Flato,  es  sei  dies  der  Saum;  die  sinnliehen  Gegenstände  sind 
ein  „Spröfsling''  aus  diesem  von  der  Idee  oder  nach  dem  Vor- 
bilde der  Idee.  (Dies  ist  natürlich  etwas  ganz  anderes,  als 
früher  die  „Mischung^;  denn  hier  wird  ausdrücklich  ein  drittes 
vom  vovg  unabhängiges  Prinzip  eingeführt  im  Reiche  der 
dvdyxfi  47  e  3  f.,  48  e  f.)  Daher  heilst  es  wohl  auch,  die  Dinge 
der  Sinnenwelt  strebten  danach,  so  zu  seien,  wie  die  Ideen. 
Was  sie  dar^si  hindert,  ist  eben  das  Bäumliche  an  ihnen,  und 
dieses  ako  ist  der  Definition  unzugänglich.  Natürlich  soll 
damit  der  Wahrnehmung  nichts  von  ihrer  Ursprünglichkeit  ge- 
nommen werden:  in  ihr  werden  die  Dinge  bereits  als  jener 
Sprölsling  erfalst,  und  zudem  ist  der  Baum  selber  ja  gar  nicht 
sinnlich  falsbar  (52  b  2).  Es  mulste  dies  erwähnt  werden,  weil 
aus  solcher  Analyse  der  wahrgenommenen  Welt  auch  auf  die 
Ideen  ein  Licht  fällt:  sie  tragen  niemals  jenes  Bäumliche  an 
sich.  Allerdings  steckt  in  der  Idee  z.  B.  eines  Würfels  auch 
der  Begriff  der  dreifachen  Ausgedehntheit;  aber  das  macht  sie 


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54 

nicht  zum  Individnum,  nimmt  ihr  nicht  ihre  Eigenart  sh 
Abstraktum,  sondern  dazu  mnfs  sie  erst  irgendwohin  in  diesen 
Himmelsranm  verlegt  werden,  was  ja  wirklich  mit  Hilfe  von 
begrifflichen  Bestimmungen  vollständig  unmöglich  ist  Dies» 
Unterschied  des  Begriffes  der  Ausdehnung  von  dem  Räume 
unserer  Sinnlichkeit  liegt  in  der  neueingeiUhrten  x^Q^  ^^ 
zweiten  Teiles  und  dem  oüt^  des  ersten  als  einer  „Kategorie^ 
(37  bl).  —  Ähnlich  steht  es  mit  der  Zeit.  Im  Parmenides 
bereits  war  ausgeführt,  dafs  ohne  sie  das  Urteilen  nicht  mOglich 
sei  (155  e  4  f.);  im  Timäus  wird  sie  in  demselben  Zusammen- 
hange eingeführt,  nämlich  gleich  nach  der  Beschreibung  des 
Urteils  (38  c  6).  Sie  gehört  mit  zu  dem,  was  erst  der  vovc  in 
der  Welt-  oder  Einzelseele  hervorbringt,  also  weder  zu  Be- 
griffen noch  zu  sinnlichen  Gegenständen  an  sich.  Und  nun  der 
Unterschied:  als  reine  Kategorie  bjtitB  ist  sie  eine  von  den 
Urteils^beziehungen*^,  die  den  Zusammenhang  der  Begriffe  er- 
möglicht, welcher  ja  nie  absolut  sein  kann  und  häufig  dem- 
selben Subjekt  kontradiktorisch  entgegensetzte  Prädikate  zu- 
weist —  da  ist  also  die  Beziehung  des  öjt&tB  unbedingt  nötig; 
durch  die  Anwendung  dagegen  auf  sinnliche  Gegenstände  wird 
aus  dieser  Kategorie  der  bestimmte  xQovoq,  der  aber  nur  so- 
lauge  bestehen  kann,  als  der  Himmel,  d.  h.  eine  Weltseele 
besteht  (38  b  6).  Zeit  ist  also  an  eine  irgendwie  gesetzm&faige 
Bewegung,  an  ein  gesetzmäfsiges  Werden  gebunden,  und  daher 
gab  es  vor  der  Tätigkeit  des  Demiurgen  noch  keine  Zeit, 
obwohl  es  ein  (ungeordnetes)  Werden  gab.  Die  Begriffe  sind 
jedenfalls  ebenso  frei  von  der  Zeit,  wie  vom  Baume.  Nur 
wird  die  Zeit  später  im  zweiten  Teile  nicht  zu  einem  selb- 
ständigen Prinzip,  das  vor  der  Weltschöpfung  vorhanden  ge- 
wesen wäre  und  wie  der  Saum  die  sinnlich  erfafsbare  Welt 
konstituieren  hülfe;  sie  spielt  eine  untergeordnetere  RoUe  als 
jener^  nämlich  eine  rein  subjektiv  -  psychologische,  i) 

Mit  diesen  Gedanken,  die  die  sinnlichen  Dinge  auf  Raum 
und  Idee  hervorgegangen  sein  lassen,  sind  wir  also  in  einen 

1)  NatUrlioh  hat  Plato  bei  dem  Berichte  über  die  Soböpfang  der  Welt- 
Beele  die  menschliche  Seele  vor  Augen,  deren  Funktionen,  besondezB  das 
Denken,  er  erklären  wollte;  das  beweist  der  Ansdrack  fAsliiq,  der  ja  seit 
dem  Sophistes  ein  Terminus  für  das  urteil  ist;  das  beweist  dieUnterscheidnng 
von  imatijfitj  und  SoSa  dXfj^  (37  b  c),  die  für  die  Weltseele  keinen  Sinn  hat 


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55 

ganz  neuen  Zusammenhang  eingetreten,  in  dem  vom  Urteil,  von 
der  Funktion  der  Seele  oder  des  vovg  als  einem  „Mischen^, 
tibergegangen  wird  zu  den  rein  objektiven  Beziehungen  zwischen 
Idee  und  Ding.  Ist  nun  aber  nicht  damit  doch  eine  nähere 
Angabe  ttber  das  Verhältnis  beider  zueinander  gemacht?  In 
gewissem  Sinne:  jal  Nur  darf  man  nicht  jenes  Teilhaben  der 
Dinge  an  der  Idee,  wie  es  noch  im  Fhädon  hieJüs,  vergleichen; 
denn  hier  im  Timäus  nimmt  ja  nicht  das  Ding  an  der  Idee 
teil,  sondern  der  Saum  nimmt  jene  auf.  Ferner  ist  diese  Zer- 
legung des  sinnliehen  Gegenstandes  reine  Theorie;  erkennbar 
soll  sie  nicht  sein,  da  in  der  Wahrnehmung  lediglich  das 
fertige,  ganz  neugeartete  Produkt  aus  Idee  und  Raum  gegeben 
ist,  so  dafs  also  zur  Erklärung  des  Zusammenhanges  von  Ding 
und  Begriff  im  Urteil  nichts  durch,  jene  metaphysische  Theorie 
beigetragen  sein  soll.  Die  Idee  ist  natttrlich  noch  viel  mehr 
unwahrnehmbar,  als  der  Baum.  Wenn  man  also  behauptet  hat, 
Plato  wolle  mit  seinen  drei  Prinzipien  ov,  x^Qa,  yivBöiq  die 
logischen  Verhältnisse  des  Urteils  wiedergeben,  so  mtlssen  wir 
das  darauf  zurttckfUhren,  dafs  man  den  Unterschied  der  beiden 
Betrachtungsweisen  im  Timäus,  die  des  vovg  und  die  der 
dvdyxfj^  zu  gering  eingeschätzt  hat. 

Das  Ergebnis  dieser  erkenntnistheoretischen  Untersuchung 
ist  also  folgendes:  Die  allgemeinen  Begriffe,  die  Ideen,  sind 
ewig  unabänderlich,  von  allem  anderen  unabhängig,  vor  allem 
unräumlich  und  unzeitlioh;  ihnen  steht  gegenüber  die  materielle 
Welt  der  Individuen,  die  durch  das  Gegenteil  aller  dieser  Be- 
stimmungen, besonders  durch  den  Baum,  definiert  ist.  Die 
Seele  nun,  die  das  eine  durch  die  Definition,  das  andere  durch 
die  sinnliche  Wahrnehmung  erfafst,  oder  vielmehr  der  vovg  in 
ihr  stellt  Mischungen  her  zwischen  den  Gegenständen  beider 
Welten,  das  heilst,  sie  bildet  Urteile,  die  bald  den  Charakter 
der  hciöTJJfifj,  bald  den  der  do^a  haben,  je  nach  den  zugrunde- 
liegenden Gegenständen.  Wirkliche  Wissenschaft  gibt  es  somit 
nur  fttr  die  abstrakten  Begriffe.  Alle  Urteile  treten  als  Aus- 
sagen auf,  die  in  ganz  bestimmten  Arten  möglich  sind.  Diese 
Kategorien  gewinnen  aber  nur,  wenn  sie  auf  Begriffe,  auf 
Ideen,  angewendet  werden,  ihren  eigentlichen  Sinn,  sonst 
hingegen  nur  angenäherte  Bedeutung  in  gewissen  „Nach- 
ahmungen''. 


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56 

5.  Psyehologlsehe  Theorie  Aber  das  ZnstondekommeH 
der  Ideen. 

24  Die  psychologische  Seite  des  Abstraktionsproblems 
fand,  wie  wir  früher  sahen,  ihren  Ausdruck  in  der  Lehre  von 
der  Wiedererinnerung;  sie  sollte  den  beiden  Erfahrungstatsachen 
Rechnung  tragen,  dafs  einmal  stets  die  Eindrücke  der  Sinne 
den  Anstols  geben  auch  zum  Erfassen  der  Begriffe,  und  femer, 
dafs  unser  Denken  sich  niemals  von  der  Begleitung  der  Sinn- 
lichkeit völlig  freimachen  kann.  In  den  modernen  Dar- 
stellungen der  platonischen  Philosophie  spielt  diese  Lehre  eine 
viel  zu  wichtige  Rolle,  da  sie  eben  in  den  meistgelesenen 
Dialogen  Phädon  und  Phädrus  vorgetragen  wird.  Doch  be- 
merkten wir  schon,  dafs  der  Staat  vOllig  ohne  sie  auskomme, 
und  es  hätte  zu  denken  geben  sollen,  wenn  nun  auch  in  den 
späteren  Dialogen  vom  Theätet  an  dieser  Wiedererinneruog  an 
eine  vorzeitliche  Ideensehau  keine  Erwähnung  mehr  getan  wird. 
Einzig  eine  Stelle  des  Timäus  könnte  darauf  anspielen:  Gott 
zeigt  der  von  ihm  geschaffenen  Seele  die  Natur  des  Alls 
(42  e  2)  —  eine  reichlich  unbestimmte  Bemerkung,  die  im  Fort- 
gang der  Gedanken  keine  Rolle  weiter  spielt  Was  ist  hier 
an  die  Stelle  getreten? 

Um  diese  Frage  beantworten  zu  können,  haben  wir  aller- 
dings nur  einige  Gedanken  des  Philebus  und  Timäus  zur  Ver- 
fügung. Steckt  bereits,  wenn  auch  unwahmehmbar,  im  Sinnen- 
dinge die  Idee,  so  bleibt  immerhin  die  Möglichkeit,  dafs  man 
von  ihm  auf  den  Begriff  geführt  werde,  wenn  es  ihn  aaeh 
nicht  darbietet.  Der  Weg  von  der  Wahrnehmung  bis  zur 
Erfassung  des  Begriffs  könnte  durch  eine  psychologische  Theorie 
irgendwie  ergänzt  werden.  Und  in  der  Tat  war  es  Platoe 
Meinung,  dafs  die  Methode  der  Dialektik,  die  die  Idee  setzt, 
nichts  anderes  sei  als  ein  ^ Auffinden^  dessen,  was  in  den 
Dingen  an  sich  schon  liege.  Phil.  16  c  10:  delv  ovp  fjfiäg  tov- 
rcov  ovro  öuzxexoöfirifiivcov  äel  (ilav  löiav  ütegl  xavtoq  exd- 
ÖT0T6  d-E(iivovq  t/rjXBtv  —  svQTJaeiv  ycLQ  hvovcav  —  lav  ovv 
fistaXdßcofisv .  . .  Diese  Stelle  vergleiche  man  mit  Ph&dr. 
249  b  6,  von  der  wir  oben  (§14)  ausgingen,  und  man  wird 
zugeben,  dals  wir  hier  einen  Ersatz  für  die  Lehre  von  der 
Wiedererinnerung  besitzen.  Im  Timäus  wird  der  Zusammen- 
hang zwischen  Wahrnehmung  und  Dialektik  noch  etwas  weiter 


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57 

auBgefllhrt  (46  e  7  f.).  Die  Regelmäfsigkeit,  die  wir  im  be- 
sonderen an  den  Erscheinungen  des  Himmels  beobachten,  soll 
uns  dazn  führen,  auch  in  nnserer  eigenen  Seele  solche  Oesetz- 
mäfsigkeit  berzostellen,  ihre  „Umdrehungen^  in  Ordnung  zu 
bringen.  (47  b  5  f.):  Denn  dies  ist  ja  zur  Erfassung  der  Wahr- 
heit notwendig,  dats  die  „Kreise  der  Seele  richtig  laufen^ 
(37  b  6,  c  1).  Von  Bedeutung  sind  dabei  nicht  sowohl  die 
Gegenstände  sinnlicher  Wahrnehmung  selbst,  sondern  vielmehr 
der  Umstand,  dafs  sie  eine  so  grofse  Regelmäfsigkeit  zur 
Schau  tragen.  Dadurch  freilich,  dafs  sie  in  dieser  Weise  der 
Seele  zu  ihrer  ursprünglichen  Form,  ihren  Funktionen  zur  alten 
Reinheit  verhelfen,  machen  sie  sie  indirekt  auch  fähig,  die 
Ideen  zu  erfassen;  sie  geben  sie  nicht  als  Gegenstand,  wohl 
aber  weisen  sie  in  ihrer  Regelmäfsigkeit  auf  den  Weg,  sie  zu 
erreichen.  Ebendenselben  Erfolg  hat  auch  die  stete  Gesetz- 
mäfsigkeit  der  akustischen  Wahrnehmungen;  auch  da  iBt  nicht 
die  Wahrnehmung  als  solche,  sondern  nur  die  gleichsinnige 
Wiederholung  das  eigentlich  Entscheidende. 

Über  diese  Andeutungen  jedoch  kommt  Plato  nicht  hinaus; 
man  erkennt  nur  die  Ansätze  auch  zu  einer  psychologischen 
Theorie  der  Abstraktion.  Aristoteles  ist  in  dieser  Analyse 
bedeutend  weiter  gekommen.  Aber  das  wenigstens  kommt 
auch  bei  Plato  zu  voller  Deutlichkeit,  dafs  der  logisch-meta- 
physische Charakter  der  Idee  nirgends  durch  jene  angedeuteten 
psychologischen  Zusammenhänge  irgend  etwas  von  seinem 
Wesen  einbttfst.  Die  Ideen  sind  wohl  abstrakt,  aber  nicht 
aus  der  Wahrnehmung  abstrahiert,  und  daher  behält  die  in 
den  vorigen  Abschnitten  gefundene  Natur  der  Abstrakta,  der 
Ideen  ihre  volle  Gültigkeit 


Bekapltnlatlon. 

25.  Stellen  wir  auch  jetzt  wieder,  ehe  wir  zu  Aristoteles 
übergehen,  die  Resultate  dieser  zweiten  Periode  zusammen. 
Alles  Neue,  was  uns  in  ihr  entgegentrat,  liefs  sich  zuletzt 
darauf  zurückführen,  dafs  das  Urteil  schärfer  als  die  Funktion 
des  Denkens  gefafst  wurde.  Daher  stehen  sich  nicht  mehr  so 
sehr  Ding  und  Idee,  als  vielmehr  Wahrnehmen  und  Urteilen 
gegenüber.     Die  Dialektik    wurde   als   Kunst  des   richtigen 


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58 

Urteilens  gefafst;  sie  goUte  die  obersten  Urteilsbegriffe  anf- 
snchen,  nnd  da  die  Grundlage  des  Urteils  das  Verhältnis  von 
Gattung  und  Art  war,  so  trat  ihre  zweite  Seite,  die  Methode 
des  Einteilens,  mehr  in  den  Vordergrund.  Metaphysisch  hatte 
das  die  Wirkung,  dals  das  beziehende  Sein  als  dasjenige 
hingestellt  wurde,  was  allein  im  Denken  erfafst  werden  könne, 
ohne  dats  jedoch  damit  von  der  überragenden  Vorherrschaft 
der  Ideen  über  die  Sinnendinge  etwas  abgelassen  wurde. 
Endlich  soll  psychologisch  nicht  mehr  das  Einzel  ding  an  die 
Idee  erinnern,  sondern  die  Funktion  der  Wahmehmnng  soll 
die  Funktion  der  Ideenauffassung  helfen  in  Ordnung  bringen. 


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ni.  Aristoteles. 


26.  Einen  nicht  geringen  Teil  seiner  Bchriftgtellerisehen 
nnd  philosophiaehen  Gröfse  verdankt  Plato  der  Fähigkeit,  die- 
selben Gedanken  von  den  yerschiedensten  Seiten  nnd  GesichtB- 
pnnkten  ans  rein  fär  sich  durchdenken  nnd  dnrchempfinden  zu 
können.  Diese  Eigenschaft  setzt  ihn  in  den  Stand,  Dialoge 
zn  schreiben,  die  den  Leser  yoUkommen  im  Unklaren  darüber 
lassen,  anf  welche  der  streitenden  Parteien  der  Schriftsteller 
selber  trete;  aber  diese  selbe  Begabung  ist  auch  später  in  der 
Komposition  seiner  grofsen  Werke  bei  der  Arbeit,  denn  diese 
zeigen  in  ihrer  GedankenfUhrang  fast  alle  einen  stnfenartigen 
Änf  ban,  so  dafs  ein  neuer  Gesichtspunkt  gleichsam  einen  völlig 
neuen  Akt  des  Gedankendramas  bestimmt,  ohne  dafs  die  vorher- 
gehenden Partien  schon  durch  ihn  beeinflufst  wären.  Als 
schönes  Beispiel  konnten  wir  den  Timäus  schon  besprechen, 
in  dem  nichts  auf  die  spätere  Erörterung  über  das  Wirken 
der  dvdyxrj  hinweist  Vollends  weist  ein  so  grofses  Werk, 
wie  der  Staat,  natürlich  mehrere  solche  Akteinsehnitte  auf, 
deren  Verkennung  sogar  zur  Annahme  von  Widersprüchen  und 
Zweifeln  an  der  Einheitlichkeit  des  Dialoges  geführt  hat  — 
ein  Beweis  dafür,  wie  sehr  es  Plato  gelungen  ist,  die  einzelnen 
Standpunkte  der  Gespräohsphasen  auseinanderzuhalten.  Ein 
Mann  wie  er  war  darum  ganz  besonders  geeignet,  die  ver- 
schiedenen Richtungen  des  hellenischen  Denkens  in  sich 
aufzunehmen  und  zu  verarbeiten,  und  so  mufste  für  die 
Darstellong  bestimmter  Gedanken  seiner  Philosophie  die  Heran- 
ziehung der  entsprechenden  Partien  aus  den  Lehren  des 
Sokrates  und  der  Sophisten  von  grofser  Bedeutung  werden. 


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60 

Ganz  anders  steht  in  dieser  Beziehung  Aristoteles  vor  iob, 
dem  jene  Fähigkeit  nnd  Beweglichkeit  in  der  Wahl  des  Stand- 
punktes völlig  abgeht.  Überall  sehen  wir  ihn  vielmehr  feste 
Ansichten  an  die  Untersnchnng  der  Fragen,  an  die  Kritik 
fremder  Lehren  heranbringen;  nnd  selbst  in  den  Aporien,  die 
er  der  Betrachtnng  vorauszuschicken  pflegt,  ist  sein  eigener 
Standpunkt  nur  schlecht  verhüllt.  Am  lehrreichsten  ist  viel- 
leicht das  erste  Buch  der  Metaphysik,  seine  sogenannte  „Ge- 
schichte der  Philosophie^:  nichts  ist  es  weniger  als  das;  denn 
an  den  Anfang  werden  die  aus  der  Physik  bekannten  vier 
Prinzipien  gestellt,  und  dann  werden  die  Vorgänger  geprüft, 
ob  sie  auch  nicht  noch  mehr  Prinzipien  als  nötig  erwiesen 
haben.  Daus  eine  solche  Fragestellung  das  Verständnis  vrirklieh 
historischer  Entwicklung  vernichten  mufs,  leuchtet  wohl  ein. 
Es  gibt  eine  objektive  Wahrheit,  die  ttber  den  Lehren  jener 
Männer  zu  Gericht  sitzt  (Met  A  984  a  f.,  b  8  f.;  Phys.  188  b  29/30). 
So  ist  nirgends  zu  spüren,  dafs  Aristoteles  etwa  seine  Lehre 
im  Ringen  um  das  Verständnis  jener  Gedanken  gebildet  habe, 
wie  es  bei  Plato  auch  in  seiner  Darstellung  zum  Ausdruck 
kommt.  So  dankbar  wir  ihm  daher  für  die  mit  absolutem 
Wahrheitssinn  überlieferten  Tatsachen  sein  müssen,  so  sehr 
werden  wir  in  deren  Beurteilung  besonders  da,  wo  sie  in 
aristotelischer  Terminologie  auftritt,  unsere  Freiheit  wahren 
müssen.  Vor  allem  Plato,  der  noch  so  vernehmlich  selbst  zu 
uns  spricht,  werden  wir  nicht  mit  seinen  Augen  sehen  wollen; 
es  erübrigt  sich  ftir  unsern  Zweck,  auf  die  von  ihm  gegen 
seinen  Lehrer  geführte  Polemik  einzugehen,  soweit  sie  nicht 
ftlr  ihn  selber  wichtig  wird.  Dies  ist  freilich  in  hohem  Mafi9e 
der  Fall.  Man  mufs  ja  stets  bedenken,  dafs  Aristoteles  zwanzig 
Jahre  als  Mitglied  der  Akademie  mit  Plato  in  unmittelbarer 
Berührung  stand,  und  diese  Dezennien  sind  nicht  nur  der 
positiven  Beziehungen  wegen  wichtig,  die  dadurch  zwischen 
seiner  und  der  platonischen  Lehre  bestehen  (auch  diese  gehen 
viel  weiter  als  man  gemeinhin  annimmt),  sondern  vor  all^n 
deswegen,  weil  Aristoteles  seine  metaphysischen  Lehren  sehr 
häufig  im  Gegensatze  zu  Gedanken  Piatos  entwickelt 

Natürlich  aber  hat  die  bezeichnete  Denkweise  des  Stagiriten 
auch  ihr  Grofses,  und  dies  liegt  vor  allem  in  der  weitgehenden 
Systematisierung  und  unerbittlichen  Konsequenz,  mit  der  er 


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61 

seine  Oedanken  za  Ende  denkt  Grerade  in  dieser  Hinsicht 
aber  halten  wir  es  für  unsere  Pflicht^  ihn  gegen  weitverbreitete 
Mifsyerständnisse  und  harte  Angriffe  zu  verteidigen.  Wir 
wiesen  darauf  sehen  in  der  Einleitung  hin.  Hier  ist  ihm  nämlich 
seine,  weite  Teile  der  Metaphysik:  einnehmende  Polemik  gegen 
Plato  verhängnisvoll  geworden;  denn  ebenso,  wie  er  dadurch 
das  Urteil  der  Nachwelt  über  seinen  Lehrer  beeinflufst  hat, 
ebenso  sind  nun  wieder  die  nicht  immer  richtigen  Schlüsse, 
die  man  aus  diesen  negativen  Ausführungen  gezogen  hat,  ftlr 
die  Beurteilung  seiner  eigenen  Gedanken  mafsgebend  geworden. 
Läfst  man  diese  Polemik  zunächst  einmal  beiseite,  wird  man 
der  Schärfe  der  Eonsequenz,  mit  der  die  Grundgedanken  seiner 
Philosophie  überall  durchgeführt  werden,  sowie  der  Sicherheit, 
mit  der  dieser  so  überaus  klare  Kopf  die  einzelnen  Probleme 
auf  ihre  Grundschwierigkeiten  zurückführt,  seine  Bewunderung 
nicht  versagen  kOnnen. 

1.  Philologlselie  Torbemerkangen. 

27.  Selbstverständlich  hat  eine  Rekonstruktion  des  aristo- 
telischen Systems  auszugehen  von  einer  philologischen  Inter- 
pretation der  uns  erhaltenen  Texte;  Fragen  der  Echtheit  im 
ganzen  und  einzelnen,  der  zeitlichen  Reihenfolge,  vor  allem 
der  Komposition  sind  zu  beantworten,  wenn  man  wirklich 
sichere  Zeugnisse  für  seine  Darstellung  gewinnen  will.  Wie 
weit  wir  aber  noch  entfernt  sind,  dieses  billige  Verlangen 
erfüllt  zu  haben,  kann  das  in  jüngster  Zeit  erschienene  Buch 
von  W.  Jäger:  Studien  zur  Entstehungsgeschichte  der  Meta- 
physik des  Aristoteles  (1912),  das  so  erfolgreich  die  Arbeit 
an  einer  der  wichtigsten  Schriften  von  neuem  in  Angriff 
genommen  hat,  beweisen.  Einiges  muls  auch  hier  notwendig 
vorausgeschickt  werden. 

Für  unsere  Fragen  ist  zunächst  von  gröfster  Wichtigkeit 
die  Stellung  des  Schriftchens  über  die  Kategorien;  dafs  dieses 
unecht  sei,  und  zwar  von  Anfang  bis  zu  Ende,  ist  meines 
Erachtens  längst  nachgewiesen  von  A.  Gercke  (Arch.  f.  GescL 
d.  Philos.  IV,  S.  436  ff.)  ^);  ich  sehe  wenigstens  nicht,  wie  man 

0  Über  ditf  ältere  Literstor  über  diese  Frage  vgl.  Zeller  *II,  2, 3.  68, 
Anm.    Er  hat  wohl  Recht,  wenn  er  Spengels  und  Frantis  Gründe  gegen 


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62 

sich  seinen  Folgeningen  entziehen  wollte.  Man  bedenke  ueh 
noch,  dafs  ein  Gharakteristiknm  aristotelischer  Gedankengänge, 
nämlich  die  Aaseinandersetznng  mit  fremden,  besonders  plato- 
nischen Lehren,  in  diesem  Schriftchen  gänzlich  fehlt;  dies  ist 
um  so  anffäUiger,  weil  gerade  hier  in  der  Snbstanzenlehre  ein 
Standpunkt  eingenommen  ist,  der  dem  platonischen  schroffer 
als  irgendwo  anders  entgegentritt  Wenn  nun  aber  auch  die 
Kategorien  nicht  von  Aristoteles  geschrieben  sind,  so  könnten 
sie  uns  doch  immer  noch,  wie  etwa  in  der  Metaphysik  Buch  E, 
als  Quelle  für  die  aristotelische  Philosophie  gelten.  Allein  anch 
das  geht  nicht  an.  Zwar  wenn  wir  die  Aasftahmngen  z.  B. 
ttber  das  jcoöov  cap.  6  nehmen,  so  ist  der  Zusammenhang  mit 
id  13  der  Metaphysik  ganz  offenbar:  4  b  20— 5  a  14  entspricht 
der  Partie  1020  a  7— 14.  Dann  folgt  eine  Erörterung  über 
O-ioig  und  rd^ig;  5a37— blO  entspricht  wieder  genau  1020  a 
14—30.  Schliefslich  werden  die  Fragen  nach  dem  ivm^iov 
und  dem  (läXXov  xal  fjxxov  für  die  Quantität  gestellt;  diese 
kehren  aber  bei  jeder  Kategorie  wieder,  und  ihre  BeantwortuDg 
scheint  der  durchgehende  Zweck  zu  sein,  den  der  Verfasser 
mit  dem  Schriftchen  befolgt.  Es  zeigt  sich  mithin,  dafs  dieser 
irgendwie  in  dem,  was  er  ttber  das  ütooov  sagt,  abhängt  Ton 
Met.  A 13.  Genau  so  steht  es  beim  jcolov.  Fttr  die  Lehre  yon 
der  ot;a/a  jedoch  würden  wir  nach  einer  derartigen  aristotelischen 
Vorlage  vergeblich  suchen;  im  Gegenteil,  es  wird  sich  durch 
unsere  nachfolgenden  Untersuchungen  herausstellen,  dafs  die 
dort  vorgetragenen  Gedanken  sogar  unaristoteUsch  sind  und  im 
Widerspruch  stehen  zu  allen  anderen  Schriften,  vornehmlich 
der  Metaphysik.  Vorläufig  möchte  ich  nur  auf  einen  Unter- 
schied in  der  Terminologie  aufmerksam  machen.  Der  Ansdmck 
rä  ovfißsßtpcora  kommt  in  der  ganzen  Schrift  nur  da  vor,  wo 
die  Anlehnung  an  Met.  J  besonders  eng  ist,  nämlich  5  a  39 
vgl.  A  13,  1020  a  15  und  7  a  27,  33,  36  vgl  J  15,  1021  b  8—10. 
In  den  Betrachtungen  ttber  die  ovola  aber,  wo  dieser  Terminus 
doch  am  allernotwendigsten  war,  fehlt  er  vollständig,  wird  er 

die  lichtheit  nicht  gelten  lassen  will.  In  neuerer  Zeit  hat  sich  H.  Maier 
(Die  Syllogtstik  des  Aristoteles  II,  2, 1000,  S.  200  ff.)  fttr,  £.  DnprM  (Äreh. 
für  Gesch.  d.  Philos.  XXII,  S.  230  ff.)  gegen  die  Echtheit  der  Schrift  fih«r 
die  Kategorien  eingesetzt.  Meine  Gründe  sind  von  allen  diesen  nnabhingig 
gefanden. 


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63 

vielmehr  überall  ersetzt  dnroh  den  Aufldrnek  rä  h  ijtoxeifiivq) 
ovray  welcher  bei  AristoteleB  sich  nicht  findet,  hier  jedoch 
25  mal  vorkommt.  Besonders  deutlich  wird  es  an  den  Stellen 
2  b  35,  3  a  22,  b  18,  dals  Aristoteles  dort  den  Ausdruck  cvfißs" 
ßrpcora  gebraucht  hätte.  Überhaupt  hat  die  Unterscheidung 
des  Tcad-^  vjtoxsifidvov  Zdyeöd-ai  vom  kv  inoxaifiivq)  elvai,  die 
in  den  Kategorien  von  grundlegender  Bedeutung  ist  (freilich 
nur  in  den  Kapiteln  über  die  ovöla;  in  den  anderen  kommt 
sie  gar  nicht  vor),  bei  Aristoteles  keine  Parallele,  vielmehr 
heilst  es  öfter  ausdrücklich:  rä  övfißeßrjxora  xad-^  vjtoxaifiivov 
Ttvbq  Xiretai  (Phys.  A3,  186  a34;  Met.  T 4,  1007 a 35,  Anal, 
gest.  83  a  25  f.),  eben  das,  was  Kat.la27,  2  a  31,  3  a  15  ent- 
schieden bestritten  wird. 

Somit  ist  wohl  der  Schlufs  berechtigt,  der  Verfasser  der 
Kategorien  habe  in  den  Kapiteln  2—5  auch  nicht  eine  aristo- 
telische Vorlage  benutzt,  könne  daher  von  uns  nicht  als  Quelle 
fttr  die  Darstellung  der  Verhältnisse  vom  Allgemeinen  zum 
Individuellen  betrachtet  werden.  Der  stärkste  Grund  freilich 
für  diese  Beurteilung  der  Kategorien  liegt  in  eben  diesen 
Lehren,  die  dort  über  jenes  Verhältnis  vorgetragen  werden, 
die  wir  aber  nunmehr  übergehen  können.  Die  Wichtigkeit 
dieses  Ergebnisses  wird  man  ermessen,  wenn  man  bedenkt, 
dafs  gerade  diese  Schrift  am  meisten  gelesen  und  ftlr  die 
Philosophie  des  Aristoteles  ausgenutzt  worden  ist;  und  wenn 
man  jemanden  fragt,  weshalb  er  es  für  eine  aristotelische 
Lehre  halte,  dafs  Substanz  im  wahrsten  Sinne  nur  das  Einzel- 
ding sei,  so  wird  er  sich  gewifs  sogleich  auf  die  Kategorien 
berufen,  wegen  weiterer  Zeugnisse  dagegen  in  Verlegenheit 
geraten.  Wir  werden  einige  andere  Stellen,  auf  die  man  sich 
wohl  berufen  hat,  noch  prüfen  müssen. 

28.  Unsere  Hauptquelle  bilden  natürlich  die  in  der  Meta- 
physik vereinigten  Schriften,  und  auch  über  diese  müssen 
einige  Bemerkungen  vorausgeschickt  werden.  Ich  habe  dem 
oben  genannten  Buche  von  Jäger  viel  zu  verdanken;  und  doch 
hat  es  mich  in  nicht  unwesentlichen  Punkten  zum  Widerspruche 
gereizt.  Überzeugt  bin  ich,  dafs  für  den  ursprünglichen  Plan 
das  Buch  B  am  wichtigsten  ist,  dafs  aus  diesem  JjZB.  O^A 
herausfallen.  Ebenso  scheinen  wir  ß  10;  Z  12, 17;  H6  M  9/10 
und  die  kleineren  Stücke  als  Nachträge  erwiesen  worden  zu 


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64 

sein.  Dagegen  urteile  Ich  über  den  ZnsammenhaDg  nnd  den 
Zweek  der  voUkommeii  einheitlichen  Abhandlung  Z  H  &  etwas 
anders  als  Jäger.  Sie  wird  zitiert  1 2  1053  b  16  als  xegl  avoicg 
xäl  jfSQl  rov  oPToq,  Das  ov  ist  aber  nach  0 1,  1045  b  32: 
einerseits  die  Kategorien,  andererseits  d^aftig-ivTeX^x^^^*  ^^ 
so  bekommen  wir  zwei  Hanptteile:  1.  rö  ov  als  Kategorie  ZH; 
2.  ro  ov  als  dvpafiig  nnd  IvzBXixBia  6.  Von  den  Elategorien 
wird  gleich  im  Anfang  die  ovola  heransgehoben  Z  1;  es  folgen 
die  Aporien  Z  2,  die  verschiedenen  Begriffe  der  ovola  7t  3  nnd 
dann  beginnt  die  Darstellung:  nämlich  a)  ovola  ab  rl  t/r 
slvai  (/i0Qq)ij,  slöoq)  Z4— 16,  davon  13 — 16  polemiaeb  gegen 
Plato;  b)  oiola  als  ovvoXov  Hl— 3;  c)  ovola  vXtxrj  H4— 5. 
Anch  die  Nachträge  Z  12, 17,  H  6,  9 10  stören  diese  Disposition 
nicht  1):  sie  sind  ungefähr  an  ihrer  Stelle  eingetragen  nnd 
werden  wirklich  innerlich  gefordert;  nur  müfste  H6  auf  H4 
folgen,  wo  aber  wohl  kein  Platz  war.  Dagegen  haben  in 
diesem  ganzen  Zusammenhange  nichts  zu  suchen  die  Kapitel 
Z7— 9^);  die  Gründe,  die  mich  annehmen  lassen,  dab  sie 
ursprünglich  nicht  an  ihrem  jetzigen  Platze  gestanden  haben, 
sind  folgende: 

a)  Die  genannten  Kapitel  haben  eine  ziemlich  genaue 
Parallele  in  J3— 5;  dieses  Buch  hat  den  Titel:  TttQt  rijq 
o'dölaq  ^  d^eogla  (nicht  tlber  das  ov  ttberhauptl).  Nun  wird 
sowohl  von  O,  das  sich  selbst  als  Fortsetzung  von  Z  H  erklärt 
1045  b  32,  als  anch  von  H  der  Stoff  von  Z  7—9  zitiert  In 
H 1043  b  16  heifst  es:  öiöeixrai  6h  xal  deötjXanai  iv  äUoig 
ozi  TO  slöog  ovöetg  ütotsl  ovöl  yewqL,  äXXä  jtoulrai  roös, 
yl^vezai  öh  rd  Ix  rovrcov.  Mithin  kennt  also  H  das  Kapitel 
Z8  nicht,  zitiert  vielmehr  daftlr  Aj  ein  „anderes**  Werk,  wo 
dasselbe  auseinandergesetzt  ist:  1069  b  35  f.  Das  andere  Mal 
lesen  wir:  elrjrai  ffiv  rotg  sibqX  xfjg  ovclag  X6yoig  ort 
jcäv  ro  Yiyvdfievov  ylyvBrai  Ix  zivög  xi  xal  tjto  rivog,  xal 
roiko  To5  döst  rö  avx6  (1049  b  27  f.).  Dies  Zitat  hat  Jäger 
bewogen,  einen  loseren  Zusammenhang  zwischen  ZH  und  O 
anzunehmen,  was  doch  nach  der  angeführten  Stelle  1045  b  32 

>)  E  2  Anfg.  werden  ebenfalbi  die  Arien  des  Sv  genannt,  dikronte 
auch  du  ov  als  aXf]^^\  darnach  könnte  also  sehr  wohl  910  in  einer 
Abhandlung  über  das  ov  von  vornherein  beabsichtigt  gewesen  sein. 

s)  Siehe  Anhang  2. 


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recht  anwahrBcheinlich  ist.  Nein,  ancb  hier  bezieht  sich 
Aristoteles  anf  Aj  nicht  auf  Z,  das  nach  seinem  Anfang  auch 
nnr  ytegl  xov  ovroq^  nicht  üiBQi  ovolag  hätte  zitiert  werden 
können.  Ich  halte  Z  7—9  für  eine  Dublette  der  (wie  allgemein 
zugegeben  wird)  sehr  zerrissenen  und  skizzenhaften  Kapitel 
^3—5. 

b)  In  den  beiden  Rekapitulationen  ZU,  1037 a 21  f., H 1, 
1042  a  2  f.  wird  der  Inhalt  von  Z  7—9  Tollständig  übergangen. 

e)  Während  die  Physik  für  manche  Fragen  auf  ZEß 
als  die  jtQcinj  g)iXo0o<pla  verweist,  betrachtet  sie  den  Stoff 
von  Z7 — 9  vielmehr  als  ihr  eigenes  Gebiet,  und  wir  finden 
demnach  in  ihr  oft  eine  genaue  Parallele:  tlber  das  Werden 
Met.  1033  a  5  f.  II  Physik  189  b  34  f.;  über  q>vöcg  und  Hx^V 
Z  7  II  Phys.  B  1;  über  rvxfl  und  avrofdarov  Z  9  ||  Phys.  B  5—  6. 

Haben  wir  nun  aber  diese  Kapitel  7 — 9  ans  dem  Buche  Z 
ausgeschlossen,  so  kann  keine  Rede  mehr  davon  sein,  dafs  in 
diesem  Buche  über  die  sinnlichen  Substanzen  nach  Art  mehr 
physikalischer  Betrachtungsweise  gehandelt  werde,  wie  Jäger 
meint.  1)  Mit  H  geht  der  Philosoph  freilich,  und  zwar  aus* 
drücklich  (1042  a  24),  zu  deren  Besprechung  über  —  natürlich, 
denn  ovvoXov  und  vXt]  lernen  wir  nur  durch  sinnliche  Wahr- 
nehmung kennen.  Aber  die  Forderung,  die  an  die  jtQcorr] 
(piXodotpla  gestellt  wird,  nämlich  das  Seiende  als  solches  zu 
betrachten  (Met.  Fl),  bleibt  durchaus  beachtet;  denn  es  werden 
nicht  die  sinnlichen  Substanzen  untersucht,  sofern  sie  zur  Sinnlich- 
keit oder  zur  bewegten  Welt  gehören,  sondern  nur  in  ihrem 
Verhältnis  zur  ovcla^  letzten  Endes  zum  sUoq.  H2— 8^)  legt 
für  die  individuellen  Dinge  der  Aufsenwelt  dar,  dafs  bei  Be- 
nutzung materieller  Bestimmungen  wohl  ein  Analogen  zur 
Definition  gewonnen  werden  könne,  dafs  aber  im  strengen  Sinne 
dieses  Wortes  als  o'dcla  nur  das  ohne  Berücksichtigung  der 
Materie  aufgestellte  xl  fv  dvai  gelten  könne.  Auch  weiterhin 
bleibt  die  Frage  nach  dem  dgiOfidg  im  Vordergründe;  es  ist 
klar,  dafs  solche  Ausführungen  nicht  unter  Gesichtspunkte  der 
Physik  fallen.     Schlief slich   ist  dasselbe   zu   sagen  von   den 

1)  Siehe  Anhang  3. 

•)  1043  a  4  f.:  ovaia  fxlv  olv  ovölv  tovxwv  ovSh  avvöval^ofjievoVy  ofjio>g 
6h  to  ävdXoYov  iv  kxaanp  •  xal  wq  iv  ralq  oiaiaiq  zo  xrjq  vlriq  xarri' 
yoQOV(JL€vov  avxfi  jJ  ivi^yeta,  xal  iv  tolq  aXXoiq  oQiafioIq  (AäXiaxa, 
PhUoaophiiohe  Abhftndlaoiren.    XX  XXIV.  5 


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66 

Kapiteln  ttber  die  stoffliche  Substanz;  auch  dort  werden  nur 
die  allgemeinsten  Bestimmungen,  vornehmlich  das  Verhiltnis 
zum  slöogj  erörtert  Wohl  mufste  die  Veränderung  erwähnt 
werden,  allein  sie  wird  nicht  als  solche  weiter  verfolgt,  wie 
dies  Z7 — ^9  der  Fall  ist.  Gehen  wir  nun  weiter  zu  S  über, 
so  haben  wir  es  hier  leichter,  die  wahre  Absicht  des  Philosophen 
zu  erkennen,  da  er  selbst  darüber  spricht  (Kap.  6  Anfg.),  und 
einige  Abschweifungen  entschuldigt.  Die  Untersuchung  wird 
bis  zur  Grenze  der  Physik  geführt,  aber  diese  Grenze  wird 
immer  von  der  Metaphysik  aus  angesehen,  genau  wie  es  in 
der  Physik  (B  2)  auseinandergesetzt  und  durch  das  Beispiel 
von  Seemann  und  Schiffbauer  so  schön  erläutert  wird.  Wir 
besitzen  also  nach  meiner  Meinung  in  Met  ZR&  eine  einheit- 
liche Abhandlung,  die  —  freilich  unabhängig  von  den  anderen 
Büchern  der  Metaphysik  —  dem  nachgeht,  was  Aristoteles 
sich  unter  den  Aufgaben  der  jtQcitfi  ^t,Xoooq)la  vorstellte,  und 
unter  diesem  Gesichtspunkte  wollen  wir  sie  im  folgenden  benatsen. 

29.  Über  das  Verhältnis  von  Z 12  zu  H  6  ist  schon  durch 
ihre  Stellung  innerhalb  der  verschiedenen  Bücher  entschieden. 
In  Z  12  handelt  es  sich  allein  um  die  Einheit  der  Definition, 
in  H  6  um  die  zwischen  slöoq  und  vXri,  also  ganz  gemäCs  dem 
Inhalte  der  Bücher  Z  und  H.  Auf  diesen  Unterschied  wollte 
Aristoteles  durch  den  gleichzeitig  mit  Z  12  eingefügten  Znsatz 
1087  a  17 — 20  aufmerksam  machen;  nur  mufs  man  den  Satz 
richtig  lesen:  hjtl  6h  xwv  oqiö/iwv  nöcq  /iiQTj  rä  iv  x<p  kojc? 
xal  öia  rl  elg  Xoyoq  b  oQiöfiöc;  (Antwort  sofort,  nämlich  Z  12) 
öfjXop  yaQ  Ott  x6  JtQorffia  %v,  rd  6h  jtQäffia  rlvi  tv  /iigr)  je  ixor, 
OxB:xriov  vCxbqov  (nämlich  H  6). 

Hier  wollen  wir  gleich  etwas  richtigstellen,  was  aneh 
für  unsere  nachfolgende  Untersuchung  von  grofsem  Werte 
ist.  Jäger  hat,  glaube  ich,  Z12,  1037  b  24  mifsverstanden;  es 
heifst  1037  b  11:  6ia  xl  noxB  %v  ioxiv,  ov  xov  X&fov  oQiOfiör 
elvat  ^afiiv.  Worauf  bezieht  sich  der  Relativsatz?  Auf  das 
xl  rjv  elvai.  Man  vergleiche  nämlich  1017  b  22  rd  xt  r/r  eivat 
ov  d  Xoyog  ÖQiöfiog;  1030  a  6  xöxl  fjv  elvat  oötov  6  Xoyog  iöx}v 
oQiöfiog;  1042  a  17  ijtsl  6h  xö  xl  ^v  elvai  ovcla,  xovxov  de 
Xoyog  6  ÖQiöiiög.  Hiernach  mufs  man  nun  auch  die  von  Jäger 
angeführte  Stelle  1037  b  24  auffassen:  6  yaQ  oQiCfiog  Xoyog  rig 
icxiv  elg  xal  orclag,  cocd-'  evSg  xivog  6el  avxbv  elvai  X&yot\ 


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Auch  hier  kommt  flir  ovöla,  wenn  man  namentlich  die  znletzt 
angeführte  Stelle  vergleicht,  nur  das  rl  rjv  elvai  in  Betracht, 
nicht  die  Sache.  Das  Problem  heilst  also:  wieso  ist  das 
rl  TJv  elvac  eine  Einheit?  Dagegen  eine  „Einheit  der  Definition 
anf  Grnnd  der  metaphysischen  Einheit  der  Sache^  ist  ein  Ge- 
danke, der  Aristoteles  absolut  fern  liegt  (Jäger  S.  59). 

30.  Gerade  im  Anschlufs  an  Z  12  mOchte  ich  noch  einige 
Bemerkungen  über  die  Analytika  posteriora  machen,  die  fär 
unsere  Untersuchungen  ebenfalls  eine  wichtige  Quelle  bilden. 
Es  mufs  auffallen,  dafs  alle  von  Jäger  in  der  Metaphysik  als 
Nachträge  erwiesenen  Kapitel  angeregt  sind  durch  jene  Schrift 
(ausgenommen  vielleicht  H  6,  das  doch  H  3,  1044  a  2—6  schon 
deutlich  gefordert  wird).  Z  12  sagt  dies  selber  am  Anfang. 
Aber  auch  später  bleibt  der  Zusammenhang;  1037  b  27  wird 
als  erste  Art  der  Definition  genannt:  6  xatä  tag  diatQsöeig 
oQiöfioq;  verschiedene  Arten  der  Definition  kennen  nun  gerade 
An.  post.  II 10  und  13,  96  b  25;  an  diese  mufs  man  also  denken, 
wogegen  eine  „Definition  durch  l^^roycoy?/"  (wie  Jäger  vermutet, 
S.  59)  kaum  etwas  Aristotelisches  ist.  Ferner  bringt  Z  17  Ge- 
danken aus  An.  post.:  mit  dem  Unterschiede  des  on  und  öiä  rl 
befafst  sich  II 2  und  8,  93  a  35  f.,  und  vor  allem  tritt  dort  das 
Beispiel  vom  Donner  auf  (z.  B.  93  a  22,  b  8),  das  sich  in  der 
ganzen  Metaphysik  eben  nur  an  dieser  einen  Stelle  Z 17  findet. 
Und  endlich  setzt  auch  6  10,  wo  es  sich  um  Wahrheit  und 
Falschheit  der  dövpd^eroc  ovölai  handelt,  die  Gedankengänge 
der  An.  post.  voraus,  die  zu  jenen  unbeweisbaren  äiieaa  führen; 
dort  finden  wir  denn  auch  eine  ganz  ähnliche  Bemerkung 
(76  b  35  f.) :  den  Begriflf  brauche  man  nur  „aufzufassen"  (^wUod^ai), 
wie  man  etwas  durch  Wahrnehmung  erfasse;  er  sei  kein  Satz; 
genau  so  kann  man  nach  6 10  die  dovvd^Bxoi  ovölai  nur  ent- 
weder richtig  erfassen  (d^iyelv)  oder  überhaupt  nicht.  Dals 
aber  die  Erörterungen  über  Wahrheit  und  Falschheit  nach 
Aristoteles  wirklich  auf  die  Lehren  der  Analytika  aufgebaut 
werden  müssen,  beweist  eine  versprengte  Notiz  7^3, 1005  b  2—5.  ^) 
Ich  kann  mir  diesen  engen  Zusammenhang  der  Nachträge  mit 
den  Analytika  nur  so  erklären,  dafs  diese  erst  nach  der  Ab- 


*)  oaa  6h  iyxfiQovot   zwv  XByovrmv  rivig  negl  t^c  dkijS-elaq,   ov 
XQOTtov  Ost  anoSsx^o^ai,  Si^  anaiSfvalav  rtav  dvalvuxwv  tovro  ÖQwaiv. 

5* 


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faBsnng  von  Z  H  9  ausgearbeitet  worden  sind.  Wean  Aristotelei 
die  dabei  anffcanchenden  Probleme  nicht  gleich  dort  mitbehaDdelte, 
sondern  als  Nachträge  in  seine  Yorlesnngen  über  die  jrQckrf 
tpiXoöotpla  einfügte,  so  sehen  wir  daraus,  wie  sorgfaltig  er 
bestrebt  war,  den  Stoff  der  einzelnen  Wissenschaften  richtig 
abzugrenzen.  Diese  Beobachtung  paf st  sehr  gut  zu  den  häufigen 
Überlegungen  darüber,  ob  eine  Frage  zu  diesem  oder  jenem 
Wissensgebiete  gehöre.  Für  uns  ist  diese  chronologische  Stellung 
von  besonderem  Werte;  denn  wir  werden  annehmen  müssen, 
dafs  beide  Schriften  genauer  miteinander  ausgeglichen  sind  und 
haben  ein  um  so  gröfseres  Recht,  auch  den  viel  behandelten 
und  viel  mifsverstandenen  Schlufs  yon  M  10,  der  ja  ebenfalls 
ein  Nachtrag  ist,  ans  Gedanken  der  Analytika  heraus  zu 
interpretieren. 

Damit  wollen  wir  die  philologischen  Bemerkungen  ab- 
sehlief sen.  Einzelne  Stellen  werden,  wenn  die  Untersuchung 
auf  sie  hinführt,  besprochen  werden. 

2«  Wahrnehmung  nnd  Wissenschaft. 

31.  Wir  sahen  oben,  eine  wie  wichtige  Rolle  die  Sophisten 
für  die  Entstehung  der  Lehre  yon  den  allgemeinen  Begriffen 
spielten.  Aristoteles  weifs  davon  nichts  mehr;  für  ihn  gehören 
sie  kaum  in  die  Geschichte  der  Philosophie;  war  doch  die 
Entwicklung  Piatos  bei  seinem  Eintritt  in  die  Akademie,  zu 
deren  Zeit  der  Theätet  schon  erschienen  war,  nach  dieser 
Richtung  hin  abgeschlossen.  Aber  natürlich  war  der  Kampf 
Piatos  gegen  die  Sophisten  in  ganz  Griechenland  bekannt, 
sofern  er  nämlich  literarisch  zum  Austrag  gekonmien  war, 
namentlich  durch  den  Gorgias  und  Phädrus,  die  auch  Aristoteles 
gewifs  gelesen  hatte.  Weil  er  hier  dem  Plato  Recht  gab,  trat 
er  wohl  in  die  Akademie  ein.  Einmal,  bei  der  Begründung 
des  Satzes  vom  Widerspruch,  nimmt  er  Gelegenheit,  den  Prota- 
goras  zu  bestreiten,  und  da  nimmt  er  die  Waffen,  die  die 
Akademie  bereit  hatte,  und  die  besonders  im  Theätet  geschärft 
waren:  1.  alles  Reden  und  Denken  ist  unmöglich,  wenn  man 
nicht  mit  einem  Worte  ein  stetig  Identisches  meinen  kann 
(1006  a  29— 1007  a  20);  2.  Sein  und  Substanz  ist  nach  Prota- 
goras  unmöglich;   3.  Seine  Behauptung   hebt  sich  selber  auf 


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(1008  b  3ff.,  1012  b  13).  Anch  findet  Aristoteles  ganz  wie  Plato 
den  Gnind  für  die  Irrtümer  des  Protagoras  in  der  Natnr  der 
von  ihm  allein  als  Erkenntnisquelle  angesehenen  Wahrnehmung 
(1009  a  22;  blf.)  und  den  damit  zusammenhängenden  Problemen, 
die  die  Tatsache  des  Werdens  stellt.  Man  hat  bisher  nicht 
genügend  Wahrnehmung  und  Denken  getrennt  (1009  b  12—39), 
nnd  die  Schuld  an  allem  Verkehrten  trägt  die  irrtümliche  An* 
nähme,  dafs  das  Seiende  sich  mit  dem  Wahrgenommenen  er- 
schöpfe (1010  a  1  f).  Alle  diese  Gedanken  enthalten  fUr  uns 
nichts  Neues:  sie  stammen  von  Plato  und  so  wird  er  denn  auch 
einmal  zitiert  (1010  b  12,  gemeint  ist  Theät.  178  c,  171  e).  Es 
konunt  nicht  oft  vor,  dafs  Plato  mit  Anerkennung  genannt 
wird,  allein  in  diesem  Punkte,  der  Widerlegung  der  Sophisten, 
glaubt  Aristoteles  offenbar,  dafs  die  Arbeit  Yon  seinem  Lehrer 
getan  sei.  Auffallen  mufs  es  daher,  dafs  er  ihn  nicht  öfter 
zitiert:  es  ist  eben  nicht  seine  Gewohnheit,  stets  zu  sagen:  dies 
habe  ich  da  und  da  gelernt;  wir  müssen  uns  das  merken,  um 
von  hier  aus,  wo  doch  die  Gemeinsamkeit  der  Gedanken  ganz 
offenbar  ist,  unsere  Schlüsse  auch  für  andere  Teile  seiner  Lehre 
ziehen  zu  können. 

Auch  das  positive  Ergebnis  aus  solchen  Betrachtungen  ist  bei 
beiden  das  gleiche:  1.  Was  das  Wahrnehmbare  betrifft,  so  haben 
die  Sophisten  eigentlich  recht:  es  ist  relativ;  2.  eben  deshalb  ist 
man  genötigt,  noch  eine  andere  Substanz  anzunehmen  (1009  a  37), 
und  diese  wird  sich  als  die  eigentlich  wesentliche  herausstellen. 
Wir  müssen  hier  auf  den  ersten  Punkt  besonders  deshalb  ein- 
gehen, weil  nach  Aristoteles  ausdrücklich  die  Wahrnehmung, 
nnd  zwar  sie  allein,  das  Einzelne,  das  Individuelle  erfassen 
soll  (1036  a  2-6;  1039  b  28;  de  anima  417  b  22;  An.  post. 81  b  6, 
87  b  31;  Bonitz,  Ind.  20  b  25  f.);  damit  sind  wir  aber  bei  dem 
Gegenstande  unserer  Untersuchung  wieder  angelangt.  Die  Wahr- 
nehmung ist  in  den  spezifischen  Sinnesqualitäten,  den  Uta,  zwar 
immer  wahr  (Bon.  20  a  39),  aber  doch  nur,  wenn  man  alle  jene 
Relationen  berücksichtigt  (Met  1010  b  3 — ^26).  Da  sie  zudem 
das  Einzelne  nicht  einmal  als  solches  gibt,  sondern  immer  nur 
dessen  Qualitäten,  die  oviißeßrpc&ta,  so  versteht  man  es,  wenn 
Aristoteles  sagt:  Iv  rotg  alcQ-rj-tolg  jtoXXfj  i^  tov  äoglörov  q)vöiq 
IwjtaQXBi  (Met.  1010  a  3),  wenn  er  leugnet,  dafs  es  durch  sie 
ein  Wissen  gebe  (An.  post.  87  b  28 ;  vgl.  75  b  24).  Aber  noch  nach 


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70 

einer  anderen  Seite  ist  die  Wahrnehmung  relativ;  ihr  Inhalt  kommt 
nicht  ohne  ein  empfindendesSubjekt  zastande  (Met  1010  b  30—39), 
nnd  dasjenige,  was  wir  empfinden,  ist  durchaus  verschieden 
von  dem,  was  diesen  Zustand  in  nns  herbeigeführt  bat  (de  anima 
420  a  6  ff.);  bisweilen  ist  auch  die  griechische  Bezeichnung  ver- 
schieden: etwa  bei  einer  Saite  das  Schwingen  und  das  Tonen; 
aber  genau  so  ist  es  auch  beim  Gesichtssinn,  wo  nnr  die  Be- 
nennung auf  der  Seite  des  Objekts  fehlt  Ist  aber  die  so  be- 
schaffene Wahrnehmung  das  einzige  Mittel,  nns  die  Individna  vor 
Äugen  zu  stellen  —  nnd  das  ist  sie,  denn  sobald  sie  schwindet, 
bleibt  nur  etwas  Allgemeines  in  nns  zurück  (1036  a  6 — ^9),  nnd 
auch  die  Benennungen  sind  alle  allgemein  (1035  b  1—2)  — ,  so 
ist  hieraus  klar,  dafs  für  Aristoteles  das  Einzelne  niemals  die 
höchste  Substanz  bedenten  kann,  ans  der  alles  ableitbar  wäre. 
Man  darf  anch  nicht  vergessen,  dafs  er  bei  Plato  zwanzig 
Jahre  unter  dem  Eindruck  einer  idealistischen  Philosophie 
gelebt  hat,  dafs  er  ferner  dessen  Ansichten  über  die  Wahr- 
nehmung nnd  die  sinnlichen  Dinge  nicht  bekämpft;  vielmehr 
dreht  es  sieh  in  dem  Streite  immer  um  die  Idee  nnd  deren  Ver- 
hältnis zu  jenen. 

Es  mufs  also  etwas  anderes  noch  geben,  als  die  sinnlichen 
Dioge,  wenn  es  nämlich  Wissenschaft  geben  soll  (999  b  1  ff.). 
Klar  wird  es  ausgesprochen,  dafs  das  Wissen  etwas  Bleibendes 
fordere,  was  im  Individuellen  nicht  enthalten  sei,  nnd  dafs  dies 
von  Sokrates  richtig  gefunden  sei  in  der  Definition,  im  All- 
gemeinen 1078  b  12—30.  So  findet  Aristoteles  den  Weg  zum 
Allgemeinen,  dessen  Behandlung  durch  ihn  wir  nntersnchen 
wollen.  Man  merkt  an  seinen  Worten,  dafs  dieser  Weg  bereits 
gebahnt  war,  dafs  er  nicht  sein  Entdecker  ist.  Ob  es  wirklieh 
so  etwas  gebe  wie  votjoig,  bctöxijiifj,  oqoi,  d^icSfiota,  das  ist 
für  ihn  keine  Frage  mehr.  Die  Beweise,  die  er  selber  daf&r 
vorbringt,  dafs  vovg  und  äiod'f]öig  verschieden  seien,  sind  nicht 
sehr  tief  fundiert  (de  an.  427  b  5  f.;  429  a  29— b  9)  nnd  zeigen, 
dafs  er  sich  hier  keinem  ernsthaften  Gegner  mehr  gegenüber 
glaubt.  Der  Kampf  Piatos  hatte  eben  der  hcicxtjiiTj  einen  fftr 
Jahrhunderte  nnbestrittenen  Sieg  errnngen,  bis  dann  schlielslieh 
gegen  Ende  des  Altertnms  die  Bhetorik  doch  wieder  die  Allein- 
herrschaft an  sich  reifst,  änfserlich  vollendet  in  der  „Wider- 
legung''  des  Plato  durch  den  Hedner  Aristeides. 


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3.  Logische  Lehren  Tom  AUgemeineii« 

32.  Um  die  logische  Natnr  des  AUgemeineD  nach  Aristoteles 
za  crkeDDCD,  müssen  wir  den  Begriff  der  vXt]  nnd  ovöla  nach 
Möglichkeit  fernzahalten  suchen,  was  freilich  nicht  ganz  gelingt, 
da  der  Philosoph  selber  das  Logische  vom  Metaphysischen 
nicht  reinlich  geschieden  hat. 

Der  Ausdruck  xa{h6Xov,  den  Aristoteles  zur  Bezeichnung 
des  Allgemeinen  gebraucht,  zeigt  noch,  daJb  er  hergenommen 
ist  Yon  der  Quantität  des  Urteils.  So  definiert  er  denn  auch 
Ityco  xad^oXov  ro  üiavxl  tj  fif^ösvl  vjcaQxscv  (An.  pr.  24  a  18; 
vgl.  Met  1023  b  30).  Wir  fanden  diese  Biezeichnung  schon  bei 
Plato  (Menon  77  a  6).  Vom  Urteil  überträgt  sich  die  Bedeutung 
des  Wortes  uomittelbar  auf  das  Prädikat  (Met  1038  b  16): 
TÖ  xa^oXov  xaB-^  vjtoxsifiivov  xLvbq  Xiyerai  dal,  und  daher: 
(vorher  b  11)  xovro  Xiytxaixad-oXov,  djtXelooiv  'djtdgxeiv  Jtitpvxtv, 
Das  Wort  xoivov  kann  fast  ganz  synonym  gebraucht  werden 
(de  part  an.  644a27):  xä  dl  xad-oXov  xoivd.  Das  Gegenteil 
dieses  Begriffes,  das  analog  gebildete  xa&ixacxov,  braucht  da- 
gegen keineswegs  das  Individuelle  zu  bezeichnen,  sondern 
Aristoteles  meint  damit,  ganz  wie  wir  mit  unserem  „Einzelnen'^, 
oft  das  weniger  Allgemeine,  das  Spezielle.  Daran  ändern  auch 
die  ausdrücklichsten  Erklärungen  nichts,  wie  etwa  Met  999  b  33: 
xb  yaQ  ägid-fia  iV  rj  xö  xad-ixaöxov  Xiysiv  öia^igsi  ovdiv; 
denn  man  vergleiche  nur  Met.  1023  b  31:  x6  fihv  yäg  xa&oXov 
Xtyofisvov  <äg  oXov  xi  ov  otixcag  iöxl  xa{h6Xov  cog  jtoXXä  jibqux^v 
xol  xaxfjyoQ8tcd-ai  xad-^  Ixdöxov  xal  iV  cbtavxa  elvai  mg  %xaöxov 
olov  äv&QWJtov,  YotJcoVf  d-Bov,  oxe  ojtavxa  ^om.  Genau  so 
de  anima  414  b  32;  vor  allem  de  part  an.  644  a  29:  7j  fiev  yaQ 
ovala  xo  xfo  elösi  äxofiov,  xQaxtCxov,  bI  xtg  övvaixo  Jisgl  xwv 
xa9-ixaoxov  xal  äxofiwv  x<p  slösi  O'BcoqbIv  x^Q^^f  Söjcbq  neQl 
ävd^Qcijtov  ovxo  xal  jcsqI  oQvid-og  (ferner  Polit  1284  a  1 ;  1313  a  19; 
de  caelo  298b6degen.  an.715a2,  716a3;  An.post97b26— 39). 
An  allen  diesen  Stellen  sind  mit  xa9^ixaöxov  die  untersten 
Arten  im  Gegensatze  zur  Gattung  gemeint  Dies  ist  eine  äufserst 
wichtige  Feststellung;  denn  nun  werden  wir  auch  eine  Stelle 
wie  de  gen.  an.  767  b  32  richtig  verstehen;  auch  da  ist  mit 
xad-ixaoxov  der  avd-Qoonog  gemeint  im  Gegensatze  zum  C,<pov: 
(29)  del  ÖB  löxvBi  Jigog  xfjv  yivBöiv  fiaXXov  xb  löiov  xal  xb 


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72 

xad-ixaOTor:  6  yaQ  Kogtoxog  xal  äv&QOJtog  löxt  xal  C,roov  '  cXä 
lyyvTEQOv  xov  lölov  6  ävd-gcojtog  ij  xö  ycoov.  Natürlich  kanii 
ixaoxov  allein  noch  viel  leichter  eine  weitere  Bedentang  an- 
nehmen; ixaoxov  yivoc  findet  sich  nicht  selten,  und  daher  ist 
nicht  einzusehen,  wie  man  Met.  Z  6  1031  a  15  unter  hxaoxov  ohne 
weiteres  das  Einzelding  verstehen  kann;  das  ganze  sehr  schone 
Kapitel  kommt  dadurch  in  Gefahr,  gänzlich  milsyerstanden  zu 
werden. 

Das  Allgemeine  also  stellt  sich  als  Prädikat  eines  Urteils 
dar;  ein  solches  kann  nun  zunächst  in  doppelter  Weise  gefällt 
werden,  von  denen  die  eine  Art  für  unsere  Betrachtungen  gleich 
ausscheidet:  Met.  A  1017  b35:  t«  yaQ  xa^öXov  xa&'  avxä  ^-jtaQx^^ 
xa  Sk  öviißeßrjxoxa  ov  xa&^  avxä  dXX^  ijtl  xoiv  xaB-^  txaoxa 
ajtXcog  Xiyexai.  (An.  post.  75  b  5  — 12.)  Allem  Allgemeinen  haftet 
ferner  der  Charakter  des  Notwendigen  an  (An.  post  73  b  27 — 28, 
06  b  3),  dem  Zufälligen  dagegen  niemals  (An.  post  1 30).  Das 
sind  die  wesentlichen  Unterschiede  zwischen  diesen  beiden 
Hauptarten  des  Urteils.  Aber  auch  jene  xaß^  aiV«  vjtdQxoi-xa, 
werden  wieder  in  zwei  Gruppen  zerlegt,  in  das,  was  vom  Wesen 
eines  Gegenstandes  ausgesagt  wird,  und  in  das,  was  solchen 
Wesensbestimmungen  allgemein  zukommt  An.  post  84  a  12: 
xad-'  avxa  6b  öixxc5g '  oöa  xe  yäg  iv  kxeivoig  kwjtdgxsc  ir  xfl 
xl  hOxLV,  xal  o\g  avxa  Iv  reo  xl  ioxiv  vjtaQxovöi  avxolg;  vgL 
73  a  34;  Met  Z  5.  Uns  interessiert  hier  zunächst  jene  erste  Art 
des  Allgemeinen  (über  die  zweite  s.  u.  §  34).  In  den  genannten 
Stellen  wird  es  definiert,  und  damit  stimmt  die  Erkl&mng 
Met  1029  b  19:  iv  (o  äga  (ifi  kriöxai  Xoyo)  avx6,  Xdyovxi  avro, 
ovxog  6  Xoyog  xov  xl  %jv  elvai  exdöxq).  Das  xl  ^v  dvai  ist 
dasjenige,  dessen  Xoyog  der  ÖQtOfiog  ist  Damit  sind  wir  bei 
der  Definition  angelangt,  die  ja  auch  bei  Plato  das  AUgemeine 
zum  Ausdruck  brachte.  Dafs  nämlich  auch  umgekehrt  jeder 
Sgcöfiög  etwas  Allgemeines  darstelle,  darttber  läfst  Aristoteles 
keinen  Zweifel.  Der  Xoyog,  heilst  es  allgemein,  also  entweder 
Definition  oder  Beweis  (de  an.  407  a  25  Xoyog  6h  jtäg  oQiofioc 
7]  djt66€i^ig),  geht  stets  auf  das  Allgemeine  Met  1035  b  :34. 
Aber  auch  ausdrückliehe  Angaben  finden  sich:  Met  1036  a29: 
xov  yaQ  xaO-oXov  xal  xov  eWovg  6  oQiCfdog;  An.  post  90  b  4. 
Da£s  ein  oQiOfiog  eigentlich  nur  von  Substanzen  möglieb  sei 
und  der  Begrifif  in  erster  Linie  und  in  vollem  Sinne  nur  dort 


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gelte,  kommt  hier  noch  nicht  in  Betracht:  das  ist  eine  der 
Verqnicknngeii  logischer  and  metaphysischer  Erörterung  bei 
Aristoteles. 

Man  hat  nun  in  Aristoteles^  Lehre  von  der  Definition  Un- 
ebenheiten nnd  Widersprüche  finden  wollen,  mittelst  deren  sich 
eine  Entwicklung  in  seinem  Denken,  eine  Chronologie  in  einigen 
seiner  Schriften  konstruieren  lasse.  ^)  Dieser  Versnch  beruht 
jedoch  auf  einem  Mifsverständnisse,  wie  wir  versuchen  wollen 
zu  zeigen.  Zunächst  mttssen  wir  die  Resultate  des  schon 
genannten  Kapitels  Z  12  der  Metaphysik  zusammenfassen,  die 
mit  den  Ausführungen  von  A  2—3  des  Werkes  ttber  die  Organe 
der  Tiere  nicht  stimmen  sollen.  Es  handelt  sich  dort  lediglich 
um  die  Frage,  wieso  die  Bestandteile  der  Definition  eine  Einheit 
bildeten;  als  Ergebnis  wird  gewonnen:  Die  Definition  besteht 
nur  aus  der  höchsten  Gattung  und  dem  letzten  Artunterschiede; 
dabei  verhält  sich  dies  beides  wie  vXfj  zum  €iöog,  und  die 
Einheit  ist  somit  ermöglicht,  wenn  wir  den  letzten  Artunterschied 
als  das  Wesen  der  Sache  betrachten.  Die  zwischenliegenden 
Artunterschiede  sind  im  letzten  enthalten  und  daher  überflüssig. 
Hauptbedingung  für  das  Zustandekommen  der  Einheit  ist  also 
dies,  dafs  man  während  des  Spezialisierens  bei  demselben 
Einteilungsgrunde  bleibe.  Daraus  soll  aber  durchaus  nicht 
gefolgert  werden,  dafs  es  fttr  jede  Art  einer  Gattung  eben  nur 
einen  einzigen  Einteilungsgrund  gebe:  im  Gegenteil,  man  mufs 
nur  mit  einem  neuen  von  vorne  anfangen.  Tatsächlich  werden 
ja  mehrere  Merkmale  als  dem  Menschen  wesenseigentttmlich 
genannt,  die  ausdrücklich  nicht  in  dieselbe  Ordnnngsreihe 
gehören  (1038  a  10—13).  Das  Problem,  wie  diese  verschiedenen 
letzten  Artunterschiede  zueinander  stünden,  wird  wohl  aus- 
gesprochen, aber  in  dieser  ofifenbar  unvollständig  gebliebenen 
Untersuchung  nicht  gelöst  (1037  b  21 — 22).  Diese  Bemerkungen 
erfahren  nun  eine  wertvolle  Ergänzung  durch  de  part.  an.  A2— 3, 
nnr  mufs  man  beachten,  daf«  diese  Kapitel  einen  ganz  anderen 
Zweck  verfolgen;  wurde  nämlich  in  Z  12  die  Widerlegung  eines 
unverständigen  Dichotomierens,  wie  es  Aristoteles  oftenbar 
literarisch  vorlag,  nur  eben  gestreift,  so  ist  diese  Polemik  hier 
die  Hauptsache.    Dabei  werden  die  Resultate  des  Metaphysik- 


1)  Brentano,  Aristoteles  and  seine  Weltanschanung,  1911,  S.  17  f. 


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kapitels  genau  vorauagesetzt:  Geschlecht  und  Artanterschied 
bilden  eine  Einheit  nur  dann,  wenn  der  Einteilungsgiund  der 
nämliche  bleibt  (643  b  17—23).  Die  beiden  Fehler,  die  auch 
Met.  Z  12  genannt  waren,  werden  beinahe  mit  denselben  Bei- 
spielen wiederholt:  man  dürfe  weder  in  eine  andere  Reihe, 
noch  auf  etwas  Nebeosächliches  geraten.  Femer  ii^ird  erklärt, 
der  letzte  Artanterschied  sei  das  döogj  die  dazwisohenliegeDden 
kämen  nicht  in  Betracht  (644a 23,  643b 34-644 al;  Met 
1038  a  32).  Nun  wird  jedoch  weiter  geschlossen:  Da  die  Dicho- 
tomie keine  Einheit  liefert,  weil  sie  den  Einteilaogsgrund 
wechselt  (oflfenbar  taten  das  die  bekämpften  Gegner)  (643  b  26), 
da  ferner  das  Wesen  einer  Sache  niemals  sich  in  einem  einzigen 
Artunterschiede  erschöpft  (644 all),  die  Dichotomie  aber  stets 
nur  einen  solchen  liefern  kann,  so  kann  man  mit  ihrer  Hilfe 
nicht  zur  Bestimmung  der  untersten  Arten  gelangen;  yielmehr 
mufs  man  gleich  von  vornherein  (evO^ioog  643  b  23)  das  Geschlecht 
nach  mehreren  Prinzipien  teilen  nnd  diese  für  sich  zu  Ende 
ftthren.  Jede  Reihe  bildet  einen  neuen  Anfang  {eriQag  aQxy 
6ia(poQäg  643  b  22/3)  und  führt  natürlich  zu  einer  eindeutigen 
Bestimmung:  das  wird  nirgends  bestritten,  vielmehr  voraus- 
gesetzt (643  a1 — 5).  Bekämpft  wird  lediglich  die  Meinung,  es 
könnte  durch  eine  Dichotomie^)  das  Wesen  völlig  erfafst 
werden,  und  dies  war  auch  Z  12  keineswegs  behauptet  worden. 
Ich  kann  daher  nicht  einsehen,  da£s  de  part.  an.  jenem  Kapitel 
gegenüber  einen  Fortschritt  darstelle.  Unverkennbar  dage^n 
besteht  ein  solcher  von  An.  post  II,  13  zu  Met  Z  12.  In  den 
Analytiken  wurde  zwar  das  Problem  gestellt:  wie  kann  die 
Definition  eine  Einheit  darstellen?  —  und  Z  12  verweist  ja 
darauf  —  die  Lösung  jedoch  wurde  noch  nicht  gegeben;  dafs 
Aristoteles  sie  wirklich  auch  noch  nicht  gefunden  hatte,  zeigt 
An.  post.  II,  13,  wo  die  Frage  nach  der  Einheit  noch  gar  nicht 
berücksichtigt  wird.  So  kommt  es  auch,  dafs  der  Fehler,  vor  d^n 
Met.  Z 12  und  de  part.  an.  A3  gewarnt  wird,  dort  ruhig  begangen 

')  sl  Ö^^v  o  avd-QwnoQ  axi^onow  uovov  (d.  h.  „allein"  gehOrt  zu 
oxi'Qonovv,  nicht  zu  av^Qwnoq),  ovx(oq  iylyvet^  av  avxtj /lia  Ötaipo^  -  j'vw 
d*  insiSi]  ovx  laxiv,  dvdyxrj  noXXag  slvai  fiti  vnb  fxlccv  Sial^eoiv,  dVia 
/tcjjv  nXelovg  ye  rov  avtov  ovx  fariv  vnh  filav  StxotofxLav  eIvoi,  aXXa  filav 
xata  fäav  teXevxäv  .  iiare  dövvalov  oxiovv  kaßetv  xdiv  xa^  l^xacror 
^(pcav  6lxa  ötatQOVgiivovq. 


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75 

wird  (96  b  31:  ^(pov  ^fie^v  öijiovp),  und  dafs  der  letzte  Art- 
unterschied  noeh  nieht  als  das  alleinige  Wesen  der  Sache 
hervorgehoben  wird.  In  der  Topik  wurde  sogar  umgekehrt 
der  Hanptnachdrnck  auf  die  Gattung  gelegt,  und  die  zwisehen- 
liegenden  Arten  erschienen  keineswegs  überflttssig  (VI,  5, 
143  a  15-28). 

33.  Was  in  allen  diesen  Ausführungen  wiederkehrt,  das 
ist  die  nachdrückliche  Behauptung,  es  gebe  wirklich  einen 
letzten  Artunterschied  und  damit  unterste  Arten.  Die  Durch- 
führung dieses  Gedankens  ist  nicht  ohne  Hilfe  der  Metaphysik 
möglich,  und  so  wird  er  einer  der  Grundpfeiler  der  aristo- 
telisehen  Philosophie  überhaupt.  In  diesem  Abschnitte  interessiert 
uns  zunächst  nur  die  logische  Seite,  da  wir  damit  auf  einen 
Gradunterschied  in  der  Allgemeinheit  geführt  werden.  Die 
untere  Grenze  dieser  Stufenfolge  bilden  die  sUrj  (nicht  die 
Individuen,  wie  die  Kategorien  törichterweise  behaupten).  Sie 
bilden  eine  nicht  weiter  teilbare  Einheit  {äzofia  sÜei  Bonitz 
120  a  58— b  4);  ausdrücklich  wird  betont,  dafs  sie  nicht  wieder 
zu  den  unter  sie  fallenden  Individuen  in  einem  der  Beziehung 
zwischen  Gattung  und  Art  analogen  Verhältnisse  stehen  (Met. 
B  3,  999  a  5,  6;  1 8,  1056  b  6,  7).  Nach  diesen  Erörterungen 
unterscheiden  sich  also  die  Einzelgegcnstände  logisch  nicht, 
sie  sind  siösi  ?r,  wie  es  so  oft  heilst  (z.  B.  An.  post.  97  a  37— 39; 
Met  1058  b  8 — 9).  Dann  sind  aber  diese  untersten  Arten  in 
ganz  anderer  Weise  allgemein,  als  die  Gattungen,  natürlich  auch 
in  anderer  Weise  Einheiten,  als  die  Individuen.  Diese  Doppel- 
stellung des  sldog  werden  wir  noch  sehr  genau  zu  beachten 
haben.  Ebenso  interessant  ist  nun  auch  die  obere  Grenze  der 
Gattungsreihe.  Wenn  nämlich  das  Allgemeine  das  Prädikat 
eines  Urteils  darstellt,  so  müssen  die  allgemeinsten  Gattungen 
gebildet  werden  durch  die  allgemeinsten  Arten,  überhaupt  aus- 
zusagen, und  das  sind  die  Kategorien  (1054  b  29  f.,  1055  al, 
1016  a  33  f.,  1024  b  12  f.  oxw^ra  rfjg  xaxtjyoQlaq),  Wie  aber 
jenseits  der  unteren  Grenze  des  Gattungsbereiches  die  Individuen 
liegen,  so  werden  jenseits  der  oberen  Grenze  noch  ganz  all- 
gemeine Begriffe  angetroffen,  die  in  jeder  Kategorie  wieder- 
kehren können,  z.  B.  iv,  6v,  ägx^,  ctoix^lov,  alxiov  (vgl.  Met. 
998  b  22  f.;  1040  b  21— 23;  An.  post.  92  b  14);  sie  sind  zu  all- 
gemein, als  dafs  ihnen  die  Einheit  einer  Gattung  noch  zuge- 


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sprochen  werden  könnte:  nnr  ein  ?r  xar'  ävaXoylav  (1016  b  31) 
bleibt  ihnen,  and  in  diesem  Sinne  allein  kann  man  daher  eine 
allgemeine  Untersuchung  ttber  diese  Begriffe  führen  (Met.  A  41 
Die  Kategorien  hat  Aristoteles  aus  der  Akademie  ttbernommeni) 
—  ohne  jemals  diese  seine  Quelle  zu  nennen.  Die  Ausdrttcke 
ravxov,  löov,  ofioiov  fttr  die  drei  ersten  Kategorien,  die  Plato 
im  Parmenides  benutzte,  kehren  bei  Aristoteles  noch  yielfaeh 
wieder  (1003  b  35— 36;  1004  a  18  die  Gegenteile;  1054  a  31). 
Vor  allem  scheint  mir  der  Name  auf  platonischen  Ursprung  zu 
weisen  (s.o.S.46).  Jedenfalls  ist  dann  der  Versuch,  ausfindig  zu 
machen,  wie  Aristoteles  auf  seine  Kategorien  gekommen  sei, 
sie  abgeleitet  habe,  mit  allen  Konsequenzen,  die  man  aus  diesem 
Unternehmen  für  den  Charakter  der  aristotelischen  Philosophie 
gezogen  hat,  von  vornherein  unberechtigt. 

34.  Um  nun  einen  Zusammenhang  zwischen  dem  bisher 
behandelten  Allgemeinen  der  Gattung  und  Art  mit  jener  zweiten 
Gruppe  des  Allgemeinen,  nämlich  den  ovfißeßrpcora  xad^  avrd 
zu  gewinnen,  müssen  wir  die  Definition  mit  Aristoteles  als 
(XQx?)  djtoödgtoyq  ansehen  (An.  post.  74  b  24;  75  b  30;  89  a  18; 
90  b  24;  Met.  1034  a  30—32;  1078  b  24;  de  an.  402  b  25).  Jede« 
beweisbare,  also  syllogistische  Wissen  fordert  in  doppelter 
Weise  unbeweisbare  Voraussetzungen  (An.  post.  1, 10):  1.  all- 
gemeine Axiome,  aus  denen  etwas  bewiesen  wird,  die  aber 
nicht  selber  Vordersätze  sein  können  (An.  post.  77  a  10  f.), 
2.  Begriffe,  die  jedem  Gebiete  eigentümlich  sind  und  die 
Vordersätze  bilden.  Ausführlich  zeigt  Aristoteles,  dafs  es  fftr 
eine  Definition  keinen  Beweis  geben  könne  (An.  post  II,  3 — 8): 
Die  Bedeutung  eines  jeden  Gegenstandes,  auch  der  an  sieh 
zukommenden  Bestimmungen,  wird  vorausgesetzt  (76  b  6 — 7). 
Aber  darin  unterscheidet  sich  nun  das  Wesensallgemeine  vom 
akzidentell  Allgemeinen,  dafs  bei  jenem  auch  das  Sein  an- 
genommen werden  mnfs,  während  es  bei  diesem  bewiesen  wird 
(76  b  5—16).  Immer  wird  es  ja  als  die  Sache  des  Beweisens 
hingestellt,  jene  allgemeinen  Eigenschaften  aufzuzeigen,  so  dafs 

0  Ich  bin  zu  dieser  Ansicht  gekommen,  ehe  ich  Gerckes  Aas- 
führuogen  kannte,  der  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  IV,  420  ff.  duselbe  mit 
anderen  Gründen  beweist  Über  die  Versuche  einer  Ableitung  der  Kate- 
gorien vgl.  Zeller  11,2*,  Seite  264,  Anm.  2  und  P.  Natorp,  Piatos  Ideen- 
lehre,  Seite  880  f. 


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77 

diese  Aufgabe  als  das  Wesen  alles  syllogistiscben  Yerfahreits 
angesehen  werden  kann  (Met.  997  a  19—21;  1025  b  10—13; 
1003  a 25;  de  an,  402  a  15;  An.  post.  75  a  28—31,  76  b  4).  Damit 
haben  wir  einen  wesentlichen  Unterschied  jener  beiden  oben- 
genannten Grnppen  des  Allgemeinen  gefunden,  nnd  dieser  hat 
anf  der  Seite  der  dnrch  Definition  gewonnenen  Gegenstände 
noch  wichtige  Konseqnenzen.  Das  Sein  wird  bei  den  Begriflfen 
wohl  angenommen,  ist  aber  als  Bestimmang  in  der  Definition 
niemals  enthalten :  das  Wesen  der  Einheit,  des  Menschen  nsw. 
nnd  deren  Existenz  sind  etwas  dnrehans  Verschiedenes  (An. 
post.  72  a  21 — 24  6  yäg  ogiOfiog  d^eöcg  (liv  loxt '  rid-STai  yctg  6 
aQid-fiijTixoa  (lovdöa  rö  döialgsrov  slvat  xarä  xb  ütocov ' 
vjtoO'saig  (T  ovx  eOri  •  ro  yäg  zl  icxi  (loväg  xal  x6  elvai  fio- 
vdöa  ov  xavxov  96  b  10 — 11),  nnd  keineswegs  folgt  eins  aus 
dem  anderen.  Mit  dem  Sein  kann  nicht  die  rein  logische 
Kopula  gemeint  sein;  denn  die  Form  eines  Urteils  hatte  die 
Definition  schon  vorher  (fioväg  x6  döialgerov  löxt  xarä  xb 
jtoödv):  es  steckt  mehr  dahinter,  da  die  Annahme  des  Seins 
die  einzige  Grundlage  bildet  fttr  den  Zusammenhang  der  ovii- 
ßeßfficoxa  xaO-^  avrd  mit  den  wesentlichen  Merkmalen;  aus- 
drttcklieh  nämlich  wird  betont,  dals  erst  durch  diese  Annahme 
der  Existenz  jener  Begriffe  ein  Schlafs  auf  die  ihnen  allgemein 
anhaftenden  Bestinunungen  möglich  werde:  x(5  Ixelva  elvai 
ylvexai  xb  övfiJtsQaöfia  (An.  post.  76  b  38).  Aufserst  wichtig 
ist  eine  Anmerkung,  die  Aristoteles  in  diesem  Zusammenhange 
macht:  ohne  die  Zufügung  jenes  Seins  sei  der  Begriff  weder 
allgemein  noch  speziell  (77  a  3  ixe  xb  ahr/fia  xal  vjcod^söig 
jiäöa  7]  cog  oXov,  rj  cjg  xaxä  liigog,  ol  d'  oqol  ovöixsgov  xovxcdv). 
Es  fehlt  also  noch  jede  Umfangsbeziehnng,  die  vielmehr  erst 
dadurch  zustande  kommt,  dafs  jener  Begriff  verwirklicht  gedacht 
wird  an  den  unter  ihn  fallenden  Gegenständen:  ein  weiterer 
Grund,  mit  Vorsicht  von  der  Allgemeinheit  des  Begriffs  zu 
sprechen. 

35.  Aber  wir  stehen  hier  bereits  am  Ende  rein  logischer 
Betrachtung;  denn  wie  sich  die  zuletzt  angeführte  Anmerkung 
mit  der  bestimmten  Behauptung  verträgt,  alle  Begriffe  seien 
allgemein,  das  kann  nur  mit  Hilfe  der  erkenntnistheoretischen 
Voraussetzungen  des  Philosophen  auseinandergesetzt  werden. 
Ehe   wir   zu   diesen   ttbergehen,  wollen  wir  noch   kurz  ver- 


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78 

gleichend  auf  die  platonische  Lehre  znrttckblicken.  Die  Defi- 
nition als  logischen  Aasdrack  des  Begriflfs,  die  Eiiiteilangs- 
methode  als  wichtigstes  Hilfsmittel  des  Definierens,  den  B^^'ff 
als  Grundlage  nnd  Voraussetzung  alles  beweisbaren  Wissens: 
dies  alles  übernahm  Aristoteles  von  seinem  Lehrer.  Im  ein- 
zelnen geht  fttr  ihn  die  Entwicklung  von  Piatos  späterer 
Philosophie  aus;  die  Forderung,  mit  Hilfe  des  Einteilens  bis 
zu  den  letzten  Gliedern  vorzudringen  (den  xoXXd  des  Philebns), 
finden  wir  wieder  in  der  Behauptung  des  Aristoteles,  es  gebe 
wirklich  Sxoiia  elöei,  und  diese  bildeten  das  eigentliche  Ziel 
der  Begriffsbestimmung;  und  wenn  wir  bei  Plato  lernten,  die 
Indiyidna  lägen  als  äjtsiga  jenseits  jener  Stufenfolge,  die  vom 
tv  zu  den  jcoXjid  führe,  so  sagt  uns  Aristoteles  ebenfalls  mit 
voller  Deutlichkeit,  die  letzte  Art  sei  nicht  wieder  Gattung  zu 
den  Einzeldingen,  vielmehr  bräche  die  Gattungsreihe  vorher  ab. 
Über  die  Gemeinsamkeit  der  Kategorienlehre  sprachen  wir 
schon.  Die  Übereinstimmung  der  Gedanken  geht  also  ziemlich 
weit.  Ebenso  unverkennbar  ist  es,  dafs  Aristoteles  in  einigen 
Punkten  die  Gedanken  weitergeführt  hat.  Die  Frage  nach 
der  Einheit  des  Begriffs  führte  zu  einer  schärferen  Bestimmung 
des  Einteilungsprinzipes,  und  die  eingehende  Beschäftigung 
mit  dem  Wesen  des  Beweises  mulste  auch  fttr  den  Begriff,  der 
ja  dessen  Grundlage  sein  sollte,  weitere  Klärung  bringen:  sie 
führte  zur  Unterscheidung  der  wesentlichen  Merkmale  von  den 
damit  allgemein  und  notwendig  zusammenhängenden  Be- 
stimmungen, sowie  zur  Ablösung  des  Seins  vom  Begriffe. 


4.  Yerhältnis  des  Allgemeinen  und  Einzelnen  xn 
Hubstanzialität  nnd  Erkenntnis. 

36.  Es  handelt  sich  nun  zunächst  darum,  das  Verhältnis 
des  Allgemeinen  zu  dem,  was  nach  Aristoteles  Substanz  sein 
soll,  klarzustellen.  Nach  zahlreichen  Stellen  der  metaphysischen 
und  physischen  Schriften  kann  man  von  einer  ovoia  in  drei 
verschiedenen  Bedeutungen  sprechen,  ohne  dafs  die  eine  auf 
die  andere  zurttckftthrbar  wäre.  Sie  ist  nämlich  entweder 
eidog  (fiOQq)7J,  rl  rjv  elvai),  oder  vXi],  oder  das  aus  beiden 
zusammengesetzte,  individuell  existierende  Sinnliche.  Nach 
ebenso  zahlreichen  Stellen  kann   es  femer  nicht  zweifelhaft 


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sein,  dafs  ovöla  im  vollsten  und  eigentlichsten  Sinne  nur  das 
elöog  sein  könne,  das  somit  als  ngckrj  ovola  bezeichnet  za 
werden  pflegt.  Hier  begegnet  nns  also  sogleich  wieder  die 
Art,  nnd  zwar,  wie  wir  zeigen  wollen,  genau  im  selben  Sinne, 
den  wir  im  vorigen  Abschnitte  zu  behandeln  hatten:  als  unterste 
Stufe  des  Allgemeinen.  Wie  konnte  man  aber  trotz  dieser 
bestimmten  Versicherungen  (Met.  1005  a  35;  1022  a  17;  1029  a  5; 
1032b 2;  1037b 2,  a5,  28;  1038b  10;  1054 bl;  1071  b5>  zu 
der  Behauptung  kommen,  nach  Aristoteles  sei  die  eigentliche 
Substanz  nur  das  sinnlich  wahrnehmbare  Einzelding?  1.  Weil 
es  in  den  Kategorien  wirklich  so  steht,  2.  weil  Aristoteles 
sehr  häufig  betont  rö  xaß-oXov  (ro  xoivöv)  ovökJtOTS  ovöla, 
3.  weil  er  die  platonischen  Ideen,  also  Allgemeinbegriffe,  als 
Substanzen  nicht  gelten  lassen  will.  Mit  diesen  Gründen 
werden  wir  uns  auseinanderzusetzen  haben.  Der  erste  ist 
bereits  erledigt,  und  wenn  es  gelingen  sollte,  die  beiden  anderen 
ebenfalls  als  nicht  stichhaltig  zu  erweisen,  so  *mufs  das  dazu 
beitragen,  jenes  Schriftchen  dem  aristotelischen  Gedankenkreise 
nur  um  so  ferner  zu  rttcken. 

Zunächst  wollen  wir  dartun,  dafs  wirklich  das  döoq  als 
ovola  ütQoixTj  mit  dem  logischen  l($x<^ov  elöog  zusammenfallen 
soll.  Wenn  das  Aporienbuch  (Met.  B)  den  ursprünglichen  Plan 
zu  einer  geschlossenen  Darstellung  der  Metaphysik  bietet,  wie 
Jäger  meiner  Ansicht  nach  überzeugend  dargetan  hat,  so  hatte 
Aristoteles  die  Ansicht,  jene  Gleichheit  der  beiden  Begriffe  des 
elöog  ausfllhrlicher  zu  behandeln.  Beim  7.  Problem  (998  b  14 
bis  999  a  23)  ist  die  Antithesis  (999  a  1—23)  so  gehalten,  dafs 
man  unschwer  erkennen  kann:  dies  ist  des  Philosophen  eigene 
Überzeugung.  Daran  kOnnen  auch  die  Einwände  am  Schlüsse, 
die  Aristoteles  der  gewählten  Form  wegen  doch  machen  mufste, 
nichts  ändern;  denn  jeder  konnte  sie  leicht  auflösen:  das  elöog 
ist  wirklich  nach  seiner  Lehre  x<^0'^<^'^ov  und  ist  ferner  in  ganz 
anderem  Sinne  xaß-oXov  als  das  yivog,  sonst  wäre  es  ja  sinnlos 
gewesen,  nachdem  einmal  das  Allgemeine  im  ersten  Teile  der 
Aporie  erledigt  worden  war,  es  mit  einem  ebensolchen  noch 
einmal  zu  versuchen.  Aufserdem  hat  Aristoteles  sich  glücklicher- 
weise klar  über  diesen  Punkt  ausgesprochen,  de  pari  an.  644  a  24: 
ijtsl  öh  o^ölat  liiv  elöt  rä  ecxara  elöt],  ravra  öh  xarä  ro  elöog 
dölaq>0Qa,   olov  SmxQarrjg  Koglöxog  .  .  .   vgl.  29  ovöla  ro  x<p 


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elÖBc  ätofiop  als  Beispiel  a  31  und  b  6—7  av&gcojtog;  Sokrates 
ist  selbstverständlich  ärofiov  xar*  slöog  aber  nicht  selber  löxaror 
slöoq\  denn:  oca  aQid-fioJ  xal  alöet  ev,  oaa  ö^elösi  or  jrctfTc 
dgid^fdoj  ovöla  (Met  1016  b  86).  Jede  nicht  letzte  Art  wäre 
wieder  Gattung  der  niedrigeren,  und  da  die  Gattung  als  du 
xoivöv  niemals  ovala  sein  soll,  so  bleibt  eben  nur  die  unterste 
Art  dafür  übrig. 

Doch  nun  erhebt  sich  die  grofse  Frage:  wieso  sind  letzte 
Arten  überhaupt  möglieh?  Sie  sind  gedacht  als  allseitig  be- 
stimmte, nicht  femer  teilbare  {aroftov  yäg  rö  6/do^Met.Z.  1034 a8) 
Einheiten.  Das  Individuum  kann  nicht  gemeint  sein;  denn 
dieses  ist  doQtörov  (999  al — 3;  vgl.  m.  1010  a  1 — 4;  ferner 
1039  b  27—  30),  und  zwar  einmal  als  Träger  aller  nebensächlichen 
Merkmale  (Met  1018  a  1—2;  Phys.  196  b  28),  sodann  als  zu- 
sammengesetzt aus  Materie,  die  überhaupt  als  Ursprung  aller 
Unbestimmtheit,  mithin  auch  der  avftßeßfjxora  (1027  a  13  Met), 
zu  gelten  hat  (Met  1037  a  27  f.;  1049  a  36/7).  Wollte  also 
Aristoteles  eine  wirklieh  vollständig  bestinmite  ovcla  gewinnen, 
so  mulste  er  die  Materie  von  ihr  vollständig  absondern,  und  daher 
lehrt  er  denn,  das  r/  ?jv  elvai,  die  jtQokrj  ovola  sei  völlig  ohne 
Materie  zu  denken  (Met  Z  5, 10,  bes.  1032  b  14).  Ist  nun  das 
r/  T^v  elvat  wirklich  identisch  mit  dem  logischen  Iöxcctov  elöog, 
so  folgt,  dafs  materielle  Merkmale  überhaupt  keine  artbildenden 
Unterschiede  abgeben  können.  In  der  Tat  ist  dieser  Gedanke 
nicht  nur  in  der  Metaphysik,  fttr  die  er  eine  der  Grund- 
voraussetzungen bildet  (Met  1058  a  34— b  25),  sondern  auch  in 
logischem  Zusammenhange  klar  ausgesprochen:  An.po9tII.  13^ 
97  a  11 — 14:  ov  yäg  xaxä  jtäoav  ÖLaq)OQav  %tbqov  '  ytoXlai  yäg 
duKpoQoi  vjcaQxovöi  TOtg  avrolg  rcj)  siäst  djüC  ov  xar'  oröioj' 
ovdh  xad''  avrd  (vgl.  37— -39).  Es  ergibt  sich  also  der  Satz:  jede 
wirklich  letzte  Art  kann  materielle  Bestimmungen  nicht  ent- 
halten. 

Wäre  jedoch  äiejtgoiTfj  ovala  allein  dadurch  charakterisiert, 
daTs  die  vhj  von  ihr  ausgeschlossen  sein  soll,  so  kämen  immer 
noch  die  höheren  Gattungen  ebenfalls  für  sie  in  Betracht  Eine 
solche  Annahme  wird  nun  aber  mit  denselben  Gründen  be- 
stritten, mit  denen  2000  Jahre  später  Berkeley  Lockes  abstrakte 
Ideen  bekämpft:  der  Gattungsbegriff  kommt  mehreren  Art- 
begriffen gleichermalsen  zu,  müsste  also,   wenn  er   für  sich 


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gedacht  wttrde,  widersprechende  Bestimmangen  in  sich  auf- 
nehmen (Met.  1039  b  2—4:  ejceiza,  el  (ihv  /lad-e^si  [seil,  ro  g^or] 
Tov  dbcoöog  xal  rov  jtoXvjtoöog,  dövvaxov  xt  övfißalvei*  rdvavxla 
yuQ  Sfia  vjtäg^sL  avrcp  evl  xal  rtpöd  xtvi  ovri).  In  der  Topik, 
die  das  Bttstzeng  des  Peripatos  im  praktischen  Disputieren 
gegen  fremde  Liebren,  auch  gegen  die  Akademie,  darstellt,  ist 
dieser  Einwand  gegen  die  Ideenlehre  erhoben  (143  b  23—32): 
einen  einheitlichen  Begriff  der  Länge  kann  es  nicht  geben,  denn 
jede  Länge  muls  entweder  Breite  haben  oder  keine,  und  daher 
mttfsten  diese  Bestimmungen  beide  in  einem  allgemeinen  Be- 
griffe der  Länge  enthalten  sein,  wenn  dieser  wirklich  alle  vor- 
kommenden Längen  umfassen  soll.  Einem  solchen  Widerspruche 
entgeht  man  nur  dann,  sobald  man  zu  einem  Begriffe  kommt, 
der  nicht  wieder  zwei  verschieden  gearteten  Gegenständen  zu- 
kommen kann,  und  einen  solchen  stellt  das  eöxatov  elöog,  die 
Form,  dar.  Wenn  wirklich  materielle  Merkmale  nicht  art- 
bildend sind,  so  gehen  diese  also  das  elöog  gar  nichts  an;  für 
dieses  sind  die  Individua  nicht  mehr  voneinander  verschieden 
(Met.  1058  b  5—12;  1074  a  33—36).  So  hat  also  das  yivog,  in- 
sofern es  stets  unbestimmt  ist,  Ähnlichkeit  mit  der  vJLtj,  und 
oft  genug  wird  es  direkt  als  solche  bezeichnet.  Met.  1057  b  37: 
t6  yaQ  xoLOvrov  yivog  xaZc5,  o  Sfigxx)  iv  xavxb  Xiyexat  /i?j 
xaxä  Ovf/ßeßijxdg  Ixov  öiatpogav,  alß-'cog  vXrj  ov  eix'  äXXcog 
(vgl.  1024  b  8;  1038  a  6;  1054  b  28;  1058  a  23— 24:  xo  6e  yivog 
vXt]  ov  Xiysxac  yivog).  Nur  muCs  man  solche  Äufserungen  nicht 
zu  wörtlich  nehmen:  es  besteht  lediglich  eine  Analogie  zwischen 
yivog  und  vXtj, 

Aber  es  gibt  wirklich  nach  Aristoteles  zwei  Arten  der 
Materie,  die  sinnliche  und  die  geistige  (1036  a  9;  1037  a  4; 
1043  b  29;  1045  a  33—35);  dies  mufs  man  vor  allen  Dingen 
sich  merken.  Die  vXtj  votjxij  kommt  den  mathematischen  Be- 
griffen zu  und  soll  also  offenbar  das  ycoöov  bezeichnen;  so 
kommt  es,  dals  der  Gegensatz  ?r  xax'  elöog  —  l^v  xax'  dgid-fiöv 
auch  übergehen  kann  in  ^v  xax'  siöog  —  ^  xatä  xo  jioöov 
(Met  999  a  3;  1010  a  23— 25;  1016  b  23;  1053  a  20).  Diese  vXrj 
voTfcq  ist  nach  Met.  1086  a  9  ff.  immer  im  Sinnlichen  enthalten 
und  fttr  sich  allein  nie  vorstellbar;  nur  gehört  sie  nicht  zum 
Inhalte  der  Sinneswahrnehmung,  kommt  sie  dem  Sinnlichen 
nicht  als  solchem  zu.  Betrachte  ich  nämlich  das  nocov,  sofern 

PbUoiophiich«  Abhandlimgta.    XXXXIV.  Q 


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82 

es  diesem  SiDolichen  zukommt,  so  wird  es  zam  rojtog^  der  in 
allem  Sinnlichen  enthalten  ist  (de  caelo  275  b  11  alod^br 
(P  ovdlv  lifj  Iv  röjtq))]  so  versteht  man  anch  die  Gegenflber- 
Stellung  in  der  Schrift  ttber  die  Seele:  xarä  Xöyov  —  xccra 
xoütov  {oä.  iiiys^og)  413  b  15,  29;  432  a  20;  433  b  24/25,  wobei 
das  TOJtq)  dem  dgi&fKp  der  Metaphysik  entspricht:  427  a  5 
Tojcco  dh  xal  dgiO^/Kp  döialgsrov;  sehe  ich  dagegen  von  dieser 
Beziehung  des  Jtoöov  zur  Sinnlichkeit  ab,  so  fällt  damit  das 
:jtov,  der  bestimmte  Ort,  fort,  und  man  erhält  das  mathematiaehe 
Jtoöov,  die  vXtj  votitj]  wie  sie  oben  beschrieben  wurde  (Met  1092 
6  fiev  yaQ  rojcog  rc5v  xa&^  txaörov  Idiog,  dio  ji^copeöra  rojrn, 
tä  öh  fiaO-Tifiarixä  ov  jtov). 

Nun  sind  wir  soweit,  um  sagen  zu  können,  wie  etwa 
Aristoteles  seine  „Form^^  gegen  die  Angriffe  verteidigt  haben 
würde,  die  Berkeley  gegen  die  allgemeinen  Ideen  richtet,  und 
wieso  er  glauben  konnte,  sein  elöog  werde  durch  die  von  ihm 
selber  gegen  die  platonische  Idee  erhobenen  Einwände  nieht 
getroffen.  Nehmen  wir  das  Beispiel  des  Dreiecks:  es  ist  etwa 
zu  definieren  als  eine  Figur,  die  von  drei  sich  sehneidenden 
graden  Linien  begrenzt  wird.  Die  GrOlse  der  Seiten  und 
Winkel  geht  diese  Definition  nichts  an,  sondern  kommt  über- 
haupt erst  in  Betracht,  wenn  ich  mit  ihr  die  vXtj  vorftf]  ver- 
binde, wenn  ich  also  daran  gehe,  ein  Dreieck  mir  wirklich  als 
eine  Gröfse  zu  konstruieren.  Durch  diesen  Schritt  wird  aber 
etwas  völlig  anderes  geschaffen  (die  Definition  ist  mit  niehts 
von  dem,  was  nur  irgendwie  vXrj  enthält,  wirklieh  identiseh, 
s.  u.  S.  84),  wird  ein  Übergang  in  eine  andere  Wissenschaft  ge- 
macht. Doch  davon  später.  Wenn  also  die  reine  Definition 
von  den  Teilen  des  ausgedehnten  Dreiecks  nichts  enthalten 
kann,  so  ist  sie  mithin  vollkommen  eindeutig  bestimmt  nnd 
enthält  keine  widersprechenden  Bestimmungen. 

Völlig  deutlich  wird  es,  dals  Aristoteles  so  aufgefafst 
werden  will,  wenn  wir  nun  zu  der  Met  Z  10  behandelten  Frage 
übergehen,  ob  denn  die  Teile  des  Gegenstandes  als  Bestimmungen 
in  seinem  Begriffe  auftreten  müfsten.  Als  Antwort  findet  Aristoteles, 
dafs  das  reine  elöog,  befreit  von  jeder  Materie,  niehts  von 
etwaigen  Teilen  des  Gegenstandes  wisse.  Aus  dem  Begriffe 
des  Kreises  (rb  ix  ^lioov  oxfjficc  laov)  lassen  sich  Halbkreise, 
Segmente  usw.  nicht  ableiten,  sondern  um  solche  „Schnitte'' 


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führen  zu  können,  mnfs  man  notwendig  vXtj  binzanehmen. 
Freilich  stelle  diese  Materie  eine  Zwischenstufe  dar  zwischen 
der  sinnfälligen,  z.  B.  Erz  oder  Wachs,  nnd  dem  immateriellen 
elöog,  nnd  daher  kann  immerhin  noch  von  einem  Xöyog  jenes 
teilbaren,  mathematischen  Kreises  oder  der  Silbe  geredet  werden, 
während  das  Material,  ans  dem  Buchstaben  oder  Kreise  her- 
gestellt werden,  niemals  in  einen  Xdyog  aufgenommen  werden 
könne.  Auch  dadurch  also  tritt  der  Unterschied  beider  Materien 
als  alcdTftfj  und  vorittj  deutlieh  zutage. 

Eine  im  ersten  Augenblicke  etwas  überraschende  Problem- 
stellung ¥rird  dies  Verhältnis  zwischen  Begriff  und  Materie 
weiter  klären  helfen.  Met  Z  6  handelt  über  die  Frage,  ob  das 
t/  9/r  dvai  mit  seinem  Gegenstände  völlig  übereinstimme  oder 
nicht,  und  bei  welchen  Gegenständen  dies  etwa  der  Fall  sei. 
Dies  Kapitel  behandelt  auch  P.  Natorp  in  seinem  Buche  über 
Piatos  Ideenlehre  (S.  389  „Die  Form  als  Definition^);  aber  hier 
scheint  er  mir  den  Sinn  der  Ausführungen  verfehlt  zu  haben, 
und  da  er  gerade  daraus  jene  von  uns  vor  allem  bekämpfte 
Behauptung  ableitet:  für  Aristoteles  fielen  Einzelding  und  Idee 
zusammen,  so  müssen  wir  auf  den  Gedankengang  näher  ein- 
gehen, und  zwar  von  dem  Punkte  an,  wo  der  Philosoph  zu  den 
xa»'  avrä  Xerö/ieva  übergeht  (1031  a  28).  Die  Frage  heilst: 
JtorsQOV  ravTOV  ioziv  rj  h^sgov  rö  rl  ^v  sivai  xal  %xaCxov 
axsyniov  {ixaarov  heilst  „ein  jedes^,  nicht  „das  Einzelding^, 
wie  meist  übersetzt  wird,  s.  o.  S.  71/72).  Die  Antwortet  lautet: 
Bei  allen  wirklich  ursprünglichen  Substanzen,  denen  also  keine 
anderen  irgendwie  übergeordnet  sind,  fällt  ihr  Begriff  mit  ihnen 
selber  völlig  zuammen;  denn  täte  er  es  nicht,  so  wäre  er  not- 
wendig eine  höhere  Substanz,  und  die  Voraussetzung,  es  solle 
keine  übergeordneten  Wesenheiten  geben,  wäre  verletzt.  Wenn 
also  die  Ideen  Piatos  z.  B.  solche  ursprünglichen  Substanzen 
sein  sollen,  so  müssen  sie  mit  ihrem  Begriff,  ihrer  Definition 
identisch  sein.^)  Im  folgenden  bat  sich  dann  Aristoteles  durch 
die  Polemik  gegen  Plato  wie  so  häufig  von  seinen  Gedanken 
etwas  abführen  lassen.    Doch  wird  das  Resultat  noch  einmal 


0  Hiernach  glaubt  Aristoteles  also  --  und  das  bestätigen  anch  andere 
Stellen  ~,  nach  Plato  sollten  sich  Idee  and  Definition  inhaltlich  nicht 
völlig  decken.  Wieweit  das  Eutriflft,  wollen  wir  nicht  weiter  untersachen; 
sicher  treibt  hier  der  jonog  voi^toc  sein  Unwesen. 

6* 


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84 

klar  aiiBgesprochen:  die  hinreichende  Bedingung,  damit  etwas 
mit  seinem  Begriffe  zusammenfalle  sei  die:  es  müsse  xa&*  airc 
jcal  jcQwra  gesagt  werden  (1031  b  19  heilst  avrd  ixacrov  wieder: 
ein  jedes  Ding  nach  seinem  Wesen).  Aach  beim  avfißeßrpck 
fällt  die  betreffende  Eigenschaft  mit  ihrer  Definition  zusammen, 
wenn  man  sie  nnr  reinlich  absondert  und  nicht  das  Subjekt, 
dem  sie  anhaftet,  mitfalsi  Resultat:  1032  a  5 — 6  ort  fiev  oir 
ijcl  r(DV  ütQ(Dxa)V  xal  xaff^  avxä  jLeyo/iivfDV  ro  exacrcp  eirat 
xäi  txaotov  xb  avxb  xal  %v  iöxi,  öfßov.  Welches  er  selber 
fUr  jene  ursprünglichen  Substanzen  hielte,  hatte  Aristoteles  in 
Z  6  selbst  nicht  gesagt.  Daher  ist  die  Stelle  am  Schlüsse  von 
cap.  11,  die  den  Inhalt  jenes  Kapitels  rekapituliert  und  seine 
eigene  Ansicht  durch  Beispiele  erläutert,  Wort  für  Wort  wichtig. 
Denn  nun  zeigt  sich,  dafs  er  mit  jenen  xa^'  avxä  xäi  jtgdna 
Xeyöiieva  lediglich  die  reinen,  von  aller  Substanz  befreiten  £idr; 
gerade  im  Gegensatze  zum  £inzelding,  zum  axyvoZaVf  gemeint 
habe.  Er  fbhrt  das  bekannte  Beispiel  der  xafutvXöxfig  an  und 
sagt  ausdrücklich:  fttr  Materie  und  Einzelding  gälte  das  Resultat 
von  Z  6  nicht:  1087  a  33— b  7.^)  Dals  zum  mindesten  an  dieser 
Stelle  Ixaöxov  nicht  das  Einzelding  bezeichnen  kann,  mnis 
wohl  jeder  zugeben.  Ein  weiteres  lehrreiches  Beispiel  ftr 
diesen  selben  Gedanken  liefert  H3;  die  Definition  käme  nur 
dem  bUo(;  zu;  die  Seele  sei  mit  ihrem  Begriffe  identisch,  der 
Mensch  aber  (also  b16o(;  +  vXtj)  durchaus  nicht;  die  Materie  ist 
ja,  wie  wir  sahen,  in  der  wahren  Definition  niemals  als  Be- 
stimmung enthalten.  Es  sei  denn,  fügt  der  Philosoph  hinzu, 
auch  die  Seele  könne  Mensch  genannt  werden,  und  dann  sei 
dieser  im  einen  Sinne  mit  seinem  xl  ?)v  alvai  identisch,  im 
andern  nicht.  Damit  glaube  ich  auch  den  sachlichen  Angriffen 
Natorps  den  Boden  entzogen  zu  haben. 

Aus  diesen  Betrachtungen  ergibt  sich  nun  aber,  dafs 
Aristoteles  nicht  nur  das  Einzelding  und  die  Definition  fUr 
etwas  Grundverschiedenes  hält  —  das  wäre  nach  Plato  keine 


>)  xal  Sri  xb  tl  ^v  slvai  xal  Hxaarov  inl  nvwv  fxhv  ravxov,  oMnrff 
inl  T<öv  7CQWT(ov  ovai(ov,  olov  xafJinvXoxrjg  xal  xafinvXoTijxi  tbiai,  h 
TCQioxri  iaxlv,  Xiy<a  Sh  nQfixrjv,  fj  (irl  Xkysxai  x<p  aXXo  iv  aXkip  tlvat  xtd 
vnoxetfiivip  (oq  vXy  '  ooa  6h  cJ$  vXrj  tj  wq  aweiXrjfJifiiva  xy  vkfi  ov  xavto 
ov6h  ooa  xaxä  avfjißeßfixbq  iv,  olov  6  SofXQaxrig  xal  x6  fxovaixov  •  xavta 
yaQ  xavxa  xaxä  av/jißtßijxoq. 


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85 

grofse  LeistuDg  mehr  gewesen  — ,  sondern  er  scheidet  anch 
die  Definition  von  einem,  wenn  anch  dnrch  sie  ToUkomraen  ans- 
gedrttckten  Gegenstande,  eben  dem  ri  ^v  eivai;  so  allein  ist  anch 
der  oft  wiederkehrende  Ansdrnck  gerechtfertigt:  to  r/  f]v  elvai,  ov 
6  Xoyoq  oQLöiioq  (1017  b  21,  22  Met.;  vgl  oben  S.  66  §  29).  Diese 
Beobachtnng  ist  bei  einem  Denker,  der  die  Snbstanzialität  der 
Idee  so  hartnäckig  bekämpft,  von  besonderem  Interesse.  Von 
wirklich  fundamentaler  Bedentnng  ist  jedoch  die  Entdeckung, 
dafs  anch  bei  den  Gegenständen  der  Mathematik  der  Begriff 
von  der  als  Gröfse  gedachten  Vorstellung  zu  unterscheiden  sei: 
jener  falle  mit  seiner  Definition  vollkommen  zusammen,  diese 
jedoch  nicht,  enthalte  vielmehr  vXy}  (votjr?]).  So  kommt  Aristoteles 
zu  der  Scheidung  von  Begriff  und  Anschauung,  die  uns  dnrch 
unsere  Spracheso  leicht  gemacht  ist,  für  die  er  jedoch  in  der  seinen 
keine  Ausdrücke  fand.  Hier  mnfs  unsere  Untersuchung  noch  ver- 
weilen; denn  nun  erst  sind  wir  bei  dermodern  etwasoausgedrtlckten 
Hauptfrage  angelangt:  gibt  es  allgemeine  Anschauungen? 

37.  In  allem  bisher  Besprochenen  nämlich  ist  noch  nicht 
dasjenige  zur  Geltung  gekommen,  was  man  im  engeren  Sinne 
als  abstrakt  zu  bezeichnen  hätte.  Aristoteles  selber  hat  durch 
seinen  Terminus  dg)alQeöig  den  Anstofs  zur  Bildung  des  Wortes 
Abstraktion  gegeben;  es  gilt  also  nun  zu  untersuchen,  was  er 
mit  seinen  k§  ä^aigiöecDg  Xeyöfisva  gemeint  habe,  nnd  wie  sich 
diese  Lehren  einordnen  in  die  bisher  vorgetragenen  Gedanken. 
Den  Übergang  gibt  uns  eine  Erörterung  des  10.  Kapitels  im 
Buche  Z  der  Metaphysik,  die  ganz  vereinzelt  geblieben  ist, 
und  die  uns  belehrt,  dafs  es  eine  vXrj  (6g  xad-oXov  gebe  im 
Gegensatze  zu  einer  icxcctr]  vXrj:  1035  b  27  6  rfe  av&Q(OJtog  xal 
6  Yjtjtog  xal  rä  ovroig  Ijti  zmv  xad-^  %xacra,  xad-oXov  61,  ovx 
börlv  ovola,  dXXä  övvoXöv  xi  Ix  rovöl  rov  Xoyov  xal  rtjcdl 
tfjg  vXj]g  (Dg  xad-öXov '  xad^*  txaiSrov  &bx  xfjg  köxdrijg  vXf/g  6 
2!(oxQdT7]g  rjöf]  löxlv  xal  Ijtl  töjp  aXXcor  ofiolcc^g.  Gleich  darauf 
wird  dieser  Unterschied  mit  vXt]  vorjrij  und  alöB^ijTy  wieder- 
gegeben, den  wir  ja  bereits  kennen;  in  der  Tat  kann  ja  eine 
vh/  oyg  xad-oXov  niemals  sinnlich  sein  nach  aristotelischen 
Voraussetzungen.  Wir  lernen  also  hinzu,  dafs  ein  ovroXov  aus 
Form  nnd  Materie  nicht  notwendig  ein  Individuum  ergeben 
mtisse.  Ordnen  wir  demnach  alle  Gegenstände  nach  ihrer 
metaphysischen  Beschaffenheit,  so  ergibt  sich  folgende  Tabelle: 


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ri  Tjv  alvai  I  ^  {iöxcirfi  vXfj)  l^v  xar'  dgiß-fior 

ÖQiöfiog  I  fjZti  vorftri  _  (olov  xä  [la^- 

(ßv  xaz' elöog)     [  \vX7i<&gxad'6Xov)~  fiarcxd) 

Beispiele: 

0(palQa  =  ro  ^x      f  a)  /a^lxo?  =  riöe  y  x^^^V  <^^^^Q^ 

Hiöov  Oxfifdcc  Icop  \  b)  fitya&og  =  o^atga  fia&fjftartxt} 


oiov 


^    ävd-Qcoytog  =        ,   . 

tpvx>]  ^ICCVOIJTtXf} 


V  aide  al  cdgxag        „        , 
ra  OB  xa  ooxa 
b)  ö(öfia  =  ^oJov  dlxow 


Als  ovölai^  das  heilst  als  selbständig  existierende  Gegen- 
stände, können  nur  die  ersten  drei  Arten  {eUog  und  Groppe  a) 
angesehen  werden,  nnd  zwar  im  höchsten  Sinne  nur  das  döoi. 
Dieses  ist  an  sich  ohne  Umfangsbeziehnng;  denn  es  kann  je 
nach  der  Art  der  hinzutretenden  vkrj  sowohl  das  Einzelne  wie 
auch  das  Allgemeine  konstitnieren.  Und  jetzt  werden  wir  uns 
an  die  feine  Bemerkung  An.  post.  77  a  3  gern  erinnern  (&  o. 
§  34  Schlufs).  Die  Gruppe  b)  kann  immer  nur  an  einem 
Sinnlichen  existieren,  ist  niemals  ovola  (Met  1035  b  28;  1036  a  10), 
wird  freilich,  und  das  ist  nun  die  Hauptsache,  immer  so  be- 
trachtet, als  wenn  sie  fttr  sich  bestünde.  BUermit  haben  wir 
nun  genau  das  gefafst,  was  Aristoteles  sonst  xa  ig  dq>aiQe6H)^ 
XsrfoiiBva  nennt,  und  wofür  er  meist  auf  die  mathematischeD 
Gegenstände,  die  ja  auch  an  unserer  Stelle  zur  Charakteristik 
herangezogen  werden,  exemplifiziert  Aber  man  darf  nicht 
sagen,  der  Begriff  dieses  Abstrakten  werde  yon  Aristoteles  nur 
auf  die  Mathematik  eingeschränkt.  Ebensowohl,  wie  ich  to 
diesem  gezeichneten  Dreieck  nur  die  Lagebeziehungen  tod 
Seiten  und  Winkeln  in  Betracht  ziehen  kann,  also  die  Aus- 
dehnung im  allgemeinen,  ebenso  kann  ich  diese  Nase  —  um 
ein  oft  benutztes  aristotelisches  Beispiel  zu  gebrauchen  —  Dar 
in  ihrer  Eigenschaft  als  stumpfnasig  betrachten.  Das  ergibt 
den  allgemeinen,  wenn  auch  nicht  substanzi eilen,  Begriff  der 
CiiiÖTTjg]  und  so  sagt  denn  Aristoteles  auch  de  an.  429  b  18: 
jtdXiif  de  ijtl  xwv  Iv  d^aiQeösi  d^n^an'  xo  evd^v  cog  xö  omor' 


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lisxä  cwBx^^  7&Q'  0  Unsere  obige  Zasammenstellnng  zeigt 
ferner  mit  voller  Deatlichkeit,  dafs  der  Unterschied  der  bIötj 
und  dq>7jQ7]fi6va^  der  Objekte  der  Metaphysik  und  Mathematik, 
kein  hlots  logischer  sei  und  auf  dem  Grade  der  Abstraktion 
beruhe:  lediglich  die  vXij,  die  niemals  wegabstrahiert  werden 
kann,  da  iu  allen  Dingen  vX?]  enthalten  ist  und  folglich  dg 
xad-oXov  in  jedem  Abstrakten  stecken  bleiben  muls,  gibt  das 
Kennzeichen  ab.  2) 

Zu  bemerken  ist  noch,  dafs  es  von  jenen  abstrakten  Gegen- 
ständen der  Gruppe  b)  auch  eine  Definition  gibt  mit  allen  ihren 
oben  dargestellten,  formell  logischen  Eigenschaften,  wenn  auch 
nur  in  uneigentlichem  Sinne  (Z  5, 1031  a  1 — 14)  oder,  wie  es 
an  anderer  Stelle  heilst,  xax"  dväXoylav:  H2 — 3  (1043  a  4). 
Das  dort  angefahrte  Beispiel  ist  wieder  recht  lehrreich.  Das 
ddoq  des  Hauses  ist  axdjtaöfia  (1043  a  33)  oder  dyystov  cxBJia- 
OTixov  (a  16);  die  Definition  des  övyoXov :  jtXlvd-oc  xal  Xld-oc 
didl  xelfdsva,  Aristoteles  selbst  warnt,  dies  beides  zu  ver- 
wechseln (H  3  Anfang);  nur  das  slöog  ist  ovola,  nur  das  elöog 
wird  durch  seine  Definition  vollkommen  zum  Ausdruck  gebracht, 
nur  das  slöog  enthält  nicht  die  Teile  des  Gegenstandes  als 
Bestimmungen,  dies  alles  aber  deshalb,  weil  es  allein  von  aller 
Materie  frei  ist 

Femer  ist  es  natürlich  nicht  nötig,  dafs  gerade  die  unterste 
Art  in  dem  Abstraktallgemeinen  stecke;  es  kann  sich  in  einem 
solchen  auch  einer  der  im  elöog  enthaltenen  Gattungsbegriffe 
mit  der  vXij  (hg  xad-oXov  verbinden.  Denn  diese  h^  äfpai- 
Qtötcog  XBy6(iBva  werden  so  gewonnen,  dafs  man  an  einem 
Sinnlichgegebenen  eine  Keihe  von  Merkmalen  ttbersieht  und 
nur  die  andern  gemeinsamen  betrachtet  (Met.M2 — 3, 1077  b  12  ff.). 
In  diesem  Prozefs  braucht  man  nicht  z.  B.  beim  Menschen 
stehen  zu  bleiben:  Dieser  kann  auch  als  ^wov  untersucht 
werden;  nur  dafs  auch  da  die  vXi]  nicht  schwindet;  denn  diese 
ist  allen  g(pa  gemeinsam.    Aus  diesem  Grunde  heifst  es  Met. 


')  In  der  Erklär ODg  dieser  Stelle  zeigen  die  beiden  Auflagen  des 
Trondelenburgschen  Kommentars  eine  interessante  Abweichsng.  Die 
zweite  Anflage  kommt  unserer  Auffassung  näher;  nur  können  wir  nicht 
zugeben,  dafs  es  sich  nur  um  Grade  der  Abstraktion  handle.  Siehe 
S.  395  der  2.  Anflage. 

*)  Siehe  Anhang  4. 


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1037  a  6:  6  de  äv&Qcojtog  ^  r&  ^diov  xb  Ig  d(iq>olv  <&q  xct&oXor. 
In  der  Mathematik  ist  es  ganz  offenbar,  dab  auch  an  einer 
sinnlichen  Fignr,  sofern  sie  ttberhanpt  ein  Polygon  ist,  etwas 
bewiesen  werden  kann,  dals  dabei  also  die  Abstraktion  weiter 
nnd  weiter  getrieben  wird. 

Die  Mathematik  und  damit  alle  beweisende  Wissenschaft 
hat  es  nnn  mit  jenen  ^g  dg>aiQ^ö6cog  Xsyofisva  zu  tun.  Wamm 
geht  sie  nicht  von  den  bIötj  selber  ans?  Dafs  sie  es  nicht  tat, 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen;  denn  die  biöti  gehören  ja 
zur  jtQcirfi  <piXoöo(pla.  Aber  jetzt  wird  uns  anch  der  Gmnd 
deutlich:  alles  beweisbare  Wissen  geht  auf  die  allgemeinen, 
nicht  im  Wesen  enthaltenen  Eigenschaften,  z.  B.  aggsv-^ßv 
beim  Lebewesen,  Ttegmov-aottov  bei  der  Zahl,  'löop-aricor 
bei  der  Gröfse,  sv&v-xdfjUtvXov  bei  der  Linie  usw.  (Met.  Z  5, 
1030  b  21  f.;  de  an.  402  a  15  t(dv  xarä  övftßBßtpcÖQ  lölaw  «.to- 
ÖBi^iq  An.  post.  73  a  18  f.;  76  b  7  f.).  Diese  sind  aber  niemals 
aus  der  reinen  Form  ableitbar,  sondern  treten  stets  erst  mit 
der  Materie  auf:  Met.  1058  b  21  rb  61  aggsv  xal  &tjXv  vor 
gcöov  olxBta  liBV  jcdd-fj,  dXX^  ov  xarä  rijv  ovölav  dXX^  Iv  rj 
tU^  xai  Tfo  öwfiati.  Deshalb  mufs  man  immer  ein  Sinnliches 
vor  Angen  haben  in  aller  beweisenden  Wissenschaft,  betrachtet 
dies  jedoch  nicht  als  solches,  sondern  —  genau  wie  die  rx// 
voT/TT]  selber  —  nur  in  einer  bestimmten  Beziehung,  gleich  als 
wenn  diese  abstrahierbar  wäre:  Met.  1078  a  5  xokXä  6b  orfd- 
ßißfpcB  xaö-'  avrd  rotq  Jtgdy/iaöi  ^)  ixaotov  v^dgxBc  rcSr  roi- 
ovTcov,  ijcBl  xal  ^  d^Xv  rb  ^<pov  xal  ^  äggBv,  I6ia  Jtdd^  lorir, 
xalrot  ovx  Icxt  ri  BrjXv  ov6*  aggev  xBX(x>giö(jtBvov  rcöv  Coicn*' 
SöxB  xal  ^  nr]xri  fiovov  xal  ^  ijtljiB6a,  21:  ägiöra  6*av  ovro 
d^Boygrid^Bli]  ixacrov,  bX  rtg  rb  iitj  xBxa}giöfidvov  d-Blrj  x^^^<^^> 
ojTBg  6  dgid-fiijrcxbg  ütotBl  xal  6  yBmpiirgrjq  usw.  Damit  haben 
wir  nun  auch  den  Sinn  jener  Hinzufttgung  des  Seins  gefunden 
(oben  §  34),  die  in  den  An.  post.  verlangt  wurde,  damit  ein 
Zusammenhang  zwischen  ogoq  und  den  cvfdßBßfpcora  xa&^avra 
ermöglicht  werde.  Dafs  nämlich  etwas,  dessen  Begriff  gefunden 
ist,  nun  auch  wirklich  „sei^,  dies  festzustellen  sollte  Aufgabe 
der  Bjcaycoyrjy  des  Abstrahierens  also  aus  den  Wahrnehmungen, 
sein  (An.  post.  1, 18;  II,  7  Anfg.),  und  damit  ist  ja  die  Beziehung 
auf  die  vXt]  unmittelbar  gegeben;  so  steckt  auch  in  jener  Hinzu- 
fUgung  des  Seins  die  Meinung,  dafs  erst  die  Verbindung  des 


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reinen  Begriffes  mit  der  vXt)  die  Grandlage  abgeben  könne  für 
den  Znsammenhang,  den  die  syllogistische  WisBenschaft  auf- 
zeigen will.  Allgemein  sind  ihre  Sätze,  soweit  es  eine  vX?] 
ojg  xa^öXov,  eine  vkrj  voTjrtj  gibt.  (Man  vergleiche  damit  die 
Kantische  Erklärung:  synthetische  Urteile  seien  nnr  mit  Hilfe 
der  Anschanung  möglich ;  synthetische  Urteile  a  priori  nur  mit 
Hilfe  einer  reinen  Anschauung).  Gibt  es  nun  also  nach  Aristo- 
teles allgemeine  Anschauungen?  Nein,  ftir  sich  nicht,  sondern 
immer  nur  an  einer  sinnlich  individuellen,  davon  nicht  abtrenn- 
baren. Hier  weiter  zu  forschen,  wird  Aufgabe  der  Psychologie  sein. 

38.  Um  den  Unterschied  der  ^g  dq>aiQioBa)q  Xsyofdsva  und 
der  ttÖTj  recht  hervortreten  zu  lassen,  wollen  wir  nun  einmal 
die  Merkmale  zusammenstellen,  die  das  Wesen  der  Substanz 
ausmachen. 

Diese  soll  erstens  iSjtoxelfievov  sein;  daraus  hat  man  ge- 
folgert, nur  das  Einzelding  könne  Substanz  sein.  Doch  das 
will  Aristoteles  gar  nicht.  Ein  vjtoxel/jisvov  gibt  es  in  drei- 
fachem Sinne,  als  eldog,  als  vZi]  und  als  övvetXrmiiivov  (Met. 
Z  2,  1029  a  2).  Wie  wenig  zureichend  aber  diese  Wesens- 
bestimmung der  Substanz  ist,  zeigt  besonders  einmal  J8, 
1017  b  23:  Ovfißalvec  xara  ovo  TQÖJtovQ  rrjv  ovolav  XiyBöO-at, 
xb  vjtoxslfisvov  eöxccrov,  o  lifjxixt  xar'  äXXov  Xlyerat,  xal 
o  av  x66b  xt  6v  xal  xcoQiCxov  xi  '  xoiovxov  de  exäoxov  iy  [JioQtpij 
xal  xb  sldog,  und  ferner  An.  post.  83  a  24  f.,  wo  xaxd  xivog 
xaxriyoQtlod-at  gar  nicht  identisch  ist  mit  xaff*  vjtoxeinivov 
Xtyec^ai,  sich  dies  letzte  vielmehr  blofs  auf  die  övfißsßTjxoxa 
bezieht  (vgl.  78  b  8).  Sehr  wohl  kann  also  die  Substanz  Prä- 
dikat eines  Urteils  werden,  allerdings  nur  eines  Urteils  von 
ganz  bestimmter  Beschaffenheit;  vjtoxelfisvov  hat  mithin  keine 
rein  logische  Bedeutung,  ist  vielmehr  erst  durch  den  Gegensatz 
ovala-övfißsßfixög  selber  bestimmt  und  daher  wenig  geeignet, 
ein  festes  Kriterium  für  die  Snbstanzialität  abzugeben.  Aber 
selbst  wenn  man  ihn  vollständig  einheitlich  fassen  wollte,  als 
das  absolut  letzte  Subjekt  aller  Prädikate,  so  würden  wir 
dadurch  nach  Aristoteles'  Ansicht  doch  nicht  auf  die  sinnlichen 
Einzeldinge  geführt.  Die  ovcla  als  sldog  kann  in  der  Tat 
ausgesagt  werden,  wie  die  bisher  angeführten  Stellen  beweisen 
(vgl.  noch  1043  a  6  ro  xf/g  vXrjg  xaxriyoQovuevov  avxf)  tj  ireQxsia\ 
aber  ihr  Subjekt  ist  dann  die  vXtj:  Met.  Z  1029  a  23  xä  (lev 


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yaQ  äXXa  rfjg  ovclag  xaxrjjoQBlrai^  avvij  6^  xffq  vXtjg  cSan  xo 
Icxarov  xad^  avtd  ovre  xi  ovre  Jtocöv  ovre  äXXo  ovöer  ioTir 
ovde  al  djto^dösig.  DenÜieh  also  wird  hier  jenes  Etwu 
bezeichnet,  das  durch  keinerlei  Aussage  bestimmbar  ist,  das. 
wie  es  an  anderer  Stelle  heilst,  völlig  unerkennbar  ist  1036  a  8 
/}  6^  vXtj  ayvmcxoq  xad-^  avxrjv.  Dafs  diese  so  gefaüste  Materie 
nicht  metaphysisch  das  Subjekt  aller  Wesensbestimmtheit  sein 
könne,  ist  klar,  und  an  der  besprochenen  Stelle  wendet  sieh 
dann  auch  Aristoteles  mit  Nachdruck  ab  zur  fioQg>fj,  als  der 
wirklichen  jtgcixtj  ovöla,  nicht  ohne  hinzuzufügen:  1029  a  30 
XTjp  fisv  xolvw  ig  d(iq>otv  ovölav,  Xiya}  öh  x^v  ex  xe  xyg  rxi/j 
xal  xfjg  (iOQg>fjg  (also  das  Einzelding)  d^exiov '  vcxiga  7C(» 
d^ßri '  <pavBQä  öi  Ttcog  xal  fj  vXrj.  Daraus  schlieüsen  wir,  dab 
Aristoteles  selber  den  Begriff  des  vjtoxelfisvov  in  seinen 
äufsersten  Eonsequenzen  als  Kriterium  der  xQ(6xtj  ovola  ver- 
worfen habe. 

Wir  müssen  es  Aristoteles  schon  glauben,  dafs  er  die- 
jenigen Merkmale,  die  er  sowohl  hier,  als  auch  1017  b  23  f. 
dem  v3toxel(iBvov  vorzieht,  wirklich  als  die  für  seine  jrpoJr/i 
ovola  wesentlichen  ansieht:  1029  a  26  Ix  fiev  ovv  xo-vxan'  &H'>- 
qovCl  ovußalvH  ovölav  alvai  X7]v  vXtjv.  äövvaxov  öi^xal  fc{* 
xb  x(X)QtGxdv  xal  xo  xöös  xc  vjtaQxsiv  öoxtl  fidXiöxa  xf}  ovoui, 
dco  xo  ddoq  xal  xb  i§  dfig>otv  ovola  öo^eiev  av  dvat  [iäXXor 
xfjg  vXfjg,  Dafs  nun  das  elöog,  die  Form,  dieser  Forderung 
vollkommener  Bestimmtheit  und  daher  Unabhängigkeit  genüge, 
dafür  gibt  es  mehr  als  genug  Belege;  dafs  die  Form  allein 
sie  vollständig  erfülle,  wird  sich  ebenfalls  zeigen;  und  doch 
hat  man  gerade  dies  verkannt,  mufste  es  verkennen,  wenn 
man  auch  in  den  metaphysischen  Schriften  die  Lehre  finden 
wollte  vom  Einzelding  als  der  höchsten  Substanz.  Zeller 
schreibt,  Ph.  d.  Gr.  11,2,  »340:  „Die  Form  oder  der  Begriff  ist- 
[nach  Aristoteles  nämlich]  „immer  ein  Allgemeines,  sie  bezeichnet 
nicht  ein  Dieses,  sondern  ein  Solches.'^  Von  diesen  Behauptungen 
ist  die  erste  zwar  richtig,  aber  in  ihrer  Uneingeschränktheit 
irreführend:  wir  fanden  bereits  mehrere  Arten  des  Allgemeinen, 
die  mit  dem  slöog  nicht  zusammenpassen:  xb  yevog,  xa  or/i- 
ßeßt^xoxa  xad-^  avxä,  xd  ig  dg)aiQeoea>g  XsYOfiSva,  die  zweite 
beruht  auf  einem  Mifsverständnisse,  und  die  Stelle,  die  dies 
veranlalst  hat,  ist  auch  für  unsere  Betrachtung  recht  lehrreiek 


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91 

Zeller  zitiert  Met.  Z  8, 1033  b  21,  lälst  freilieh  gerade  das  Sub- 
jekt zu  jenem  roiovös  fort;  und  das  ist  in  der  Tat  nicht  ganz 
einfach  zn  finden.  In  diesem  Kapitel  hatte  der  Philosoph 
vorher  immer  wieder  behauptet,  das  elöog  sei,  genau  wie  die 
Materie,  ein  roöe  n  (1033  b  3, 10, 13, 19),  und  dies  entspricht 
aach  seinen  sonstigen  Äufsernngen  (Met.  1017  b  25;  1029  a  28; 
1042  a  29;  1003  a  10;  1030  a  3,  6, 19;  1037  b  27;  de  an.  412  a  8). 
Unglttcklicherweise  aber  wendet  er  sich  von  b20  ab  wieder 
gegen  Plato  nnd  schliefst:  g>aveQdv  aga  ort  ij  rwv  slöwv  alrla, 
(og  dfod'aöl  rcvsg  Xiyeiv  rä  elÖTj,  el  ecxiv  äxra  jtagä  rä  xad-^ 
%xacxa,  jtQoq  re  rag  yeviöeig  xal  rag  ovclag  ovöhv  XQV^^l^^* 
Also  mnfs  er  doch  im  vorhergehenden  von  seinem  ddog  zum 
platonischen  übergegangen  sein,  and  das  Subjekt  des  von 
Zeller  zitierten  Satzes  ist  bereits  dieser  bekämpfte  Begriff. 
Der  Unterschied  wird  durch  die  verschiedene  Wirkung  des 
aristotelischen  und  platonischen  ddog  klargemacht:  jenes  schafft 
ein  rorfl  ^x  xovöl  (b  3),  ein  (htav  röös  (b  24),  d.  h.  wirkliche  Indi- 
vidua,  wie  Eallikles,  Sokrates,  und  ist  somit  brauchbar  als 
Snbstanzbegriff;  dieses  hingegen  erzeugt  nur  ein  rode  roiövöe 
(b  24),  ein  Abstraktallgemeines  öq)alQa  x<x^xfj  oXwg  (b  26),  also 
keine  Substanz,  und  deswegen  ist  es  unbrauchbar.  Der  Fehler 
ist  demnach  bei  Plato  der,  dafs  er  jenes  Allgemeine,  das  immer 
nur  an  einem  Sinnlichen  gedacht  werden  kann,  loslöste  und 
zum  Erzeuger  dessen  zu  machen  suchte,  von  dem  es  doch 
abhängt.  Da  jenes  abstrakte  Haus  ein  roiovös  ist,  d.  h.  Un- 
bestimmtheiten enthält,  so  kann  es  nicht  ovola  sein.  Soll  in 
diesem  Kapitel  der  Schlufs  von  b20  an  nicht  dem  Anfang 
strikt  widersprechen,  so  muls  man  eben  jenen  Unterschied  des 
elöog  und  dtpi^QTinivov  anerkennen,  den  wir  schon  unabhängig 
von  dieser  Stelle  charakterisierten.  Natürlich  ist  es  ganz 
besonders  wertvoll,  dafs  hier  Aristoteles  in  dieser  Unter- 
scheidung zugleich  sein  Verhältnis  zur  platonischen  Lehre  zu 
fassen  sucht. 

Auf  dasselbe  Ergebnis,  vielleicht  noch  etwas  klarer,  fuhrt  die 
Untersuchung  des  mit  dem  rdöe  ri  fast  gleichwertigen  xwqlcxov. 
Das  döog  ist  x<^Q^or6v^  daran  kann  kein  Zweifel  sein  (aufser  den 
oben  Zeile  6  angefahrten  Stellen :  107 1  a  8),  schon  weil  es  hvrtXixBta 
ist  (de  an.  412  a  10:  xb  &  elöog  IvraXexeta;  vgl.  21,  414  a  17; 
Met  Ö8):   ^  yaQ  kvreXixeta  x^Q'^t^h  Met.  1039  a  7.    Natürlich 


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92 

XcoQiördv  xara  X6yov\  etwas  anderes  ist  undenkbar,  da  das 
ddoq  niemals  ein  iV  aQtO-ficp,  rojtm,  fieyed-st,  ücoco}  sein  kann 
(s.  0.  S.  81/2).  Das  Abstraktallgemeine  dagegen  ist  ein  jrooor. 
fuhrt  vXfj  bei  sieh  und  kann  daher  niemals  x^()£0rdi'  xcnra  to 
slöog  oder  xarä  xov  Xoyov  sein.  Anf  der  anderen  Seite  kann  es 
aber  aneh  nieht  x^()£<Tro^  xaxa  x6  jtocöv  sein;  denn  das  sind 
nur  die  Individna,  von  denen  dieses  Abstrakte  ja  niemals  ab- 
lösbar sein  soll.  Somit  kommt  ihm  das  Prädikat  x^Q^^^^'  ^ 
keinem  Sinne  zn,  nnd  folglieh  ist  es  aneh  nieht  ovöla.  Zndem 
kommt  gegen  die  dtpxiQW^'^^  dasselbe  Bedenken  wie  gegen  die 
yivTi  io  Betraeht  Denn  sie  sind  es  ja,  denen  die  övfißeßjpcora 
xad-  avra  anhaften;  ^^(»fOTa,  für  sich  betrachtet,  sind  sie 
daher  xotvd,  unbestimmt,  können  widersprechende  Dinge  unter 
sich  befassen;  wie  die  yivri,  so  können  also  auch  sie  nicht 
Substanzen  sein. 

Aristoteles  unterscheidet  scharf  drei  theoretische  Wissen- 
schaften ütQcoTT)  q)tXo6o(pla  (d-eoXoyla),  fiad^Tjfiovixfj  und  fpromi 
z.  B.  Met.  E,  1026  a  18  f.;  de  an.  403  b  11—16:   6  ^vcucoq  jf^Qi 
ajtavd^oöa  rov  rotov^  öwfiazog  xal  rfjg  roiavTTjg  vXrjg  iQja 
xal  jtd^T)  •  o6a  de  fiij  fj  roiavra,   äXXog,  xal  jtsgl   rirwv  fiir 
tbxvIttjg,  iäv  rvxxi,  olov  rixxwv  ^  largög,  t(5v  de  fiij  ;i^co()«örc>r 
fiiv  ij  de  fi^  roiovTOv   öcifiarog  Jtdd-i]  xal  i§  dq>aiQic%(og ,  o 
f4a9-7]f4arix6g,  i]  6h  xexcoQiOfj^va  6  jtQwrog  g>iX6öo(pog.   Nehmen 
wir  das  Beispiel  der  Kugel.    Die  reine  Form,  das  elöog  (nicht 
die   Gestalt   als    Gröfset!)   gehört    zum    Gebiete    der    xQcoTfj 
ff)iXo(Sofpla\   damit   kann  beweisende  Wissenschaft  nichts  an- 
fangen, wenn  sie  nicht  das  Sein  dieses  Begriffes  ebenfalls  an- 
nimmt, und  das  kann  sie  nur,  wenn  sie  es  an  einem,  dabei 
freilich  als  solchem  nicht  in  Betracht  kommenden  Sinnlichen 
anwendet;  so  wird  aus  dem  elöog  ein  Ig  dq)aiQi6Bcog  XvfoiiBvor, 
das  zur  mathematischen  Betrachtung  tauglich  ist.     Die  Erz- 
oder Wachskugel  endlich,  sofern  ihr  Material  in  Betracht  kommt, 
gehört  zur  Physik;  auch  diese  beschäftigt  sich  nicht  mit  dem 
Individuum  als  solchem:  das  tut  keine  Wissenschaft,  wenigstens 
keine  theoretische,  aber  sie  sieht  doch  auch  nicht  von  der  sinn- 
fälligen Materie  ab.     Diese  bewundernswerte  Scheidung  der 
Wissenschaften  verliert  völlig  ihre  Kraft,  wenn  nicht  auch  die 
Objekte  ebenso  scharf  voneinander  gesondert  werd^,  also  vor 
allem  eUog  und  d^i^iQfifiivov.    Das  kommt  aber  in  den  Dar- 


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Stellungen  der  aristotelischen  Philosophie  nieht  genügend  zam 
Aasdruck.  Pkto,  so  meint  Aristoteles,  falste  seine  Ideen  ganz 
in  der  Weise  mathematischer  Gegenstände,  löste  sie  aber  dennoch 
von  allem  Sinnlichen  völlig  ab.  Das  ist  ein  Widersprach,  be- 
hauptet er;  and  mit  Recht:  denn  das  würde  die  Annahme  einer 
Binnenfreien,  übersinnlichen  oder  reingeistigen  Anschanang  be- 
deuten, die  es  nun  einmal  nicht  gibt 

39.  Es  bleibt  nur  noch  übrig,  dafs  wir  vom  Verhältnis  des 
Allgemeinen  zur  Erkenntnis,  zum  vovg  sprechen.  Met  A  7, 1072  b  22 
heilst  es:  ro  yäg  ösxrixbv  rov  vot/tov  xal  rfjg  ovolaq  vovg, 
IvsQyel  ÖS  excov.  Und  vorher:  eaxrudv  öi  voBt  6  vovg  xazä 
fisrdXfppiv  rov  votftov  '  vorjrog  yäg  ylyvBxai  d^tyydvcov  xal  voqjv, 
SöxB  ravxov  vovg  xal  votjtöv.  Wie  Plato,  so  vergleicht  auch 
Aristoteles  dieses  Erfassen  des  votjtov  mit  dem  Wahrnehmen 
(An.  post  76  b  36,  de  an.  430  a  17,  b  27).  Und  ähnlich,  wie  die 
Wahrnehmung  der  spezifischen  Qualitäten,  der  iöiaj  nur  wahr 
sein  kann  (de  an.  418  a  11;  427  b  12;  428  b  18:  ^  aiod-rjoig  röiv 
(iiv  lölov  äXijdrjg  löXLV  dsl  rj  ort  oXlytoxov  Ix^ovoa  xb  ypsvöog), 
so  ist  auch  bei  jenem  einfachen  Erfassen  des  vovg  keine 
Täuschung  möglich:  entweder  er  „begreift^  seine  Objekte 
richtig,  oder  er  kennt  sie  gar  nicht  (Het  9  10,  1051  b  23  f.; 
de  an.  430  b  29:  ScntQ  x6  bgäv  xov  lölov  äXt^d-ig,  et  6*  ävV-Qwjcog 
xb  Xsvxbv  7)  (ifj,  ovx  äXTjd-hg  del,  ovxoog  ex^t  oöa  ävav  vXtjg). 
Wenn  nun  der  vovg  ständig  wirkend  gedacht  werden  mufs,  so 
ist  sein  Wesen  eben  vobZv  (de  an.  429  a  22 — 24),  und  daher  ist 
er  mit  den  sldrjj  den  voijxd,  identisch:  ijtl  filv  yaQ  xöjv  ävev 
vXrjg  (natürlich  in  ganz  strengem  Sinne),  xb  avxo  kcxt  xb  voovv 
xal  xb  voovfisvov  de  an.  430  a  3, 20.  i)  Dann  müssen  aber  alle 
Prädikate  sich  austauschen  lassen,  und  dies  ist  in  der  Tat  der 
Fall.  Einmal  nämlich  werden  die  slörj  stets  als  kvegysla  ovxa 
bezeichnet  (Met  1043  a  5;  1045  a  13;  1051  b  28;  1071  a  8);' hierin 
haben  wir  nur  einen  neuen  Ausdruck  für  die  absolute  Bestimmt- 
heit der  Form  zu  erblicken;  denn  das  Gegenteil  dieses  Begriffes, 
övvafiig,  umfalst  alles  das,  was  noch  weiterer  Bestimmung  zu- 
gänglich ist,  also  yivog  und  vXij.  Und  umgekehrt  ist  der  vovg 
jtocT/xtxög^)  allein  x^Q''^'^^^  (de  an.  429  b  21  xal  oXcog  äga  cog 


0  Vgl.  Met  -4, 1 074  b  21  f. ;  1075  a  8  f. 
«)  Siehe  Anbang  S« 


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X<oQtOra  xä  jcgayfiaxa  tfjg  vXrjg,  ovrco  xal  ra  xbqI  rbv  vovr, 
d.h.  abtrennbar  ist  nur  der  vorq,  der  die  Form  denkt,  niebt 
der,  der  die  mathematischen  Gröfsen  bearbeitet;  vgL  429  b  5: 
430  a  17,  22,  b26),  selbstverständlich  ebenfalls  xccrä  la^r 
(429  a  10—12):  alles  andere  hätte  keinen  Sinn.  NatOrlich  sind 
anch  die  abstrakten  Gegenstände  vofjTci;  der  Ansdmck  ibj 
voTjTf]  weist  schon  darauf  hin;  aber  sie  werden  nicht  xar 
ivsQYsiap,  d.  h.  nicht  xexwQiOfiivcoq  gedacht:  de  an.  431  b  12 
rä  öh  Iv  d(paiQiCBi  Xsyofjtsva  voet  Söxeg  av  el  ro  öifiov,  y  fikr 

Ctfiov,  ov  xexcoQiöfjiivoog ovto)  zä  fia^fiattxä  ov  xexa^Qto- 

fiiva  (6g  xex<oQiö/jiiva  voet  usw.  Darttber  Genaueres  im  folgeodeo 
Abschnitt. 

Diese  letzte  Unterscheidung  wird  nun  besonders  gut  er- 
läutert durch  die  Analytiken,  die  durchgehend  btiar^fiij  cbto- 
öeixxixrj  von  einem  noch  höheren  Wissen,  durch  das  wir  fttr 
jene  die  Voraussetzungen  besäfsen,  unterscheiden;  und  dieses 
höhere  oder  frühere  ist  der  vovg  (z.  B.  88  b  86  Uya>  yag  vovv 
dgxfjv  kmoxri(ii]g\  bes.  100  b  5—17).  Das  Wichtigste  ist  nun, 
dafs  wir  dort  auch  erfahren,  wieso  die  bticxijiifj  nur  eine  Er- 
kenntnis öwd/isi  verschaffe:  die  Kenntnis  des  Allgemeinen,  %.  R 
dafs  in  allen  Dreiecken  die  Summe  der  Winkel  zweien  Reehten 
gleich  sei,  gibt  nur  die  Möglichkeit,  dies  auch  ftLr  ein  be- 
stimmtes, z.  B.  rechtwinkliges  Dreieck  einzusehen;  nin  die 
Wirklichkeit  dieser  Erkenntnis  zu  gewinnen,  muls  ich  mich 
erst  auf  anderem  Wege  überzeugen,  dafs  es  ein  rechtwinkliges 
Dreieck  gebe  (86  a  22);  dies  geschieht  zuletzt  durch  Wahr- 
nehmung (An.  post  118,  ausdrücklich  für  xä  i|  dg>atQecioK 
Xsyofisva'j  II,  7  Anfg.).  Noch  etwas  genauer  wird  derselbe  Ge- 
danke An.  pr.  II,  21  behandelt  (besonders  67  a  27  f.)«  Dort  er- 
fahren wir,  dafs  zur  vollen  Erkenntnis  aufser  der  Kenntnis  des 
Allgemeinen  und  der  Wahrnehmung  des  Einzelnen  noch  eine 
iTtiöxTJfitj  xaxd  xb  Irsgyelv  notwendig  sei;  das  will  besagen: 
ich  darf  nicht  nur  wahrnehmen,  sondern  ich  mufs  in  dieser 
Wahrnehmung  „wirken'',  mufs  den  Begriff,  der  dem  allgemeinen 
Satze  zugrunde  lag,  auf  diesen  besonderen  Fall  anwenden,  um 
ihn  unter  das  Allgemeine  unterordnen  zu  können. 

Ist  es  nun  hierdurch  klar  geworden,  wieso  die  allgemeine, 
syllogistische  Erkenntnis,  z.  B.  der  Mathematik,  nur  eine  hti- 
ox?]fi7j  xaxä  övvafiiv,  das  Erfassen  der  sUtj  dagegen  eine  ixt- 


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arrjfii]  xoT^  hioysiav  ist,  SO  haben  wir  damit  das  Rüstzeug 
gewoDoeo.  nm  auch  jene  berühmte  Stelle  am  Schiasse  des  Buches 
M  der  Metaphysik  erklären  zu  kOnnen  (10Ö7  a  10—25).  Dort 
hat  man  allgemein  die  Worte  (18)  'fj  61  ipigyeia  <&QtO(iiv7i  xai 
a)QiC(iivov  rovöi  rtvoq  auf  die  Erkenntnis  des  Einzeldinges 
bezogen,  das  dann  allerdings  allein  ovola  sein  könnte.  Aber 
dann  wäre  ja  mit  jener  höchsten  Erkenntnis  die  Wahrnehmung 
gemeint,  die  allein  das  Einzelding  erfassen  kann,  die  aber  an 
jener  Stelle  der  An.  pr.  67  a  27  ausdrücklich  von  der  ijttcr^fiT] 
xor'  iviQYBiav  unterschieden  wird.  Und  dann  ist  auch  das 
Einzelding  keineswegs  (oQiöfiivov,  vielmehr  jeder  Definition 
unzugänglich  (Met.  1039  b  27),  und  eine  iTtcorfj/i^  davon  ist  über- 
haupt unmöglich.  Aufserdem  würde  die  ganze  Praxis  des 
Aristoteles  dieser  Behauptung  ins  Qesicht  schlagen:  denn  er 
ist  es  doch,  der  überall  den  zvjtog,  den  xagaTct^Q  sucht,  und 
wo  hätte  er  jemals  die  Untersuchung  des  Einzelfalles  in  seinem 
Forschen  als  der  Weisheit  letzten  Schluls  behandelt?  Die 
Worte  müssen  also  anders  aufgefafst  werden.  Mit  dem  Ijtl- 
öracd-ai  dwäfisi,  das  selber  in  dieser  övvaficg  die  vXtj  xad^öXov 
also  Unbestimmtheit  enthalten  und  auf  ebensolche  Gegenstände 
gehen  soll,  ist  offenbar  die  ijtior^fif]  cbtoösixnxfj  gemeint 
Wir  haben  gesehen,  da£s  deren  Grundbegriffe,  die  dipyQTjfiiva, 
in  der  Tat  mit  vltj  xad-olov  verbunden  sein  sollten  und,  weil 
sie  so  als  ydrij  weiteren  (widersprechenden)  Bestimmungen  zu- 
gänglich sind,  wohl  als  ddQiora  bezeichnet  werden  können. 
Gerade  diese  Eigenschaft  machte  sie  ja  untauglich  zur  Substanz. 
Diesem  htlctacd-ai  övvdfisi  ist  ein  kjtlöraa^ai  ivsQyiu}  ent- 
gegengestellt, das  alle  jene  die  Substanzialität  ausschlielsenden 
Bedenken  nicht  erregt,  und  eine  Bedingung  erfüllt  nur  das 
Wissen  der  reinen  Biotin  des  vollkommen  Bestimmten  also,  nicht 
das  des  Einzelnen,  das  ja  auch  wieder  vXri  enthält  und  da- 
durch doQiöTOV  wird.  Die  sldri  sind  nicht  xad-öXov  im  Sinne 
des  xoivov,  des  äogiörov;  sie  haben  eigentlich  überhaupt  keinen 
Umfang,  kommen  wenigstens  nicht  verschiedenen  Dingen  zu: 
denn  die  aro/ia  xad-^  dgid-fiöv  sind,  wie  wir  sahen,  nach  dem 
elöog  nicht  verschieden.  Sobald  man  diese  Umfangsbeziehnng 
hinznnimmt,  also  einen  Gegenstand  hervorbringen  will,  der 
alles  diesen  Einzelnen  Gemeinsame  enthielte,  kommt  man  zum 
Abstrakten.    Nur  der  vovg  xoijjracög  streift  im  Erfassen  der 


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fioQip?}  alle  und  jede  vXij  ab,  oder  ist  vielmehr  für  sie  voll- 
kommen anzugäDglieh.  Somit  dürfte  es  sieher  sein,  dals  sieb  die 
Worte:  r)  cT  Ivigfeta  <DQtö(iivri  xal  dQiöfiivov  rovöt  za^og  auf 
den  vovg  und  die  tiÖTj  ävsv  vXtjq  beziehen.  Was  dann  noeli 
folgt  (1087  a  19  f.).  hat  lediglieh  den  Zweek,  naehzuweiseD,  dab 
das  Allgemeine  im  Sinne  der  Gattung  nicht  ovola  sein  könne, 
was  ja  viele  Parallelen  in  der  Metaphysik  hat  (YgL  besonders 
zu  a  19  noch  Z  8, 1033  a  30.) 

40.  Nur  bei  dieser  Auffassung  endlich  tritt  aneh  der 
historische  Zusammenhang  zwischen  der  aristotelischen  und 
platonischen  Philosophie  so  zutage,  wie  wir  es  erwarten,  w^m 
wirklich  Aristoteles  von  seinem  18.  bis  zum  88.  Lebensjahre  Mit- 
glied der  Akademie  war.  Sein  Verhältnis  zu  Plato  soll  uns 
am  Schlüsse  auch  dieses  Abschnittes  beschäftigen. 

Dem  platonischen  slöog  entspricht  das  aristotelische.  Bei 
beiden  stellt  es  das  Prinzip  der  vollständigen  Bestimmtheit  dar, 
die  immer  nur  durch  das  Denken  erreichbar  sei  und  in  der 
Definition  ihren  Ausdruck  finde.  ^)  Beide  fassen  das  siöoc  als 
einen  vom  Einzelding  verschiedenen,  durchaus  selbständigen 
und  abtrennbaren  Gegenstand.  Wenn  Aristoteles  ferner  seine 
fiOQg)7j  als  icxccTOv  sldog  als  arofiov  versteht,  so  müssen  wir 
darin  eine  Verwandtschaft  mit  der  fttr  Piatos  letzte  Periode 
charakteristischen  Forderung  erblicken,  bei  aller  Einteilung 
der  Gattungen  bis  auf  die  letzten  nicht  weiter  teilbaren  Arten 
zu  gehen  und  dann  erst  den  Begriff  ins  cbrstQov  zu  entlassen. 
Diesem  jiiQag  ist  bei  beiden  Denkern  ein  Prinzip  der  Un- 
bestimmtheit, der  Individuation  entgegengestellt:  die  vjLij.  Sie 
ist  an  sich  völlig  unerkennbar,  auch  nicht  wahrnehmbar,  nnd 
nur  als  das  zu  denken,  was  allen  Bestimmungen  zugrunde  liegt 
ohne  durch  eine  solche  Kategorie  selber  getroffen  zu  werden. 
Zwar  wenn  nun  Plato  kühn  genug  dieses  Prinzip  mit  dem 
Räume  identifiziert,  so  glaubt  Aristoteles  ihm  hier  doch  nicht 
ganz  folgen  zu  können;  doch  steht  er  Plato  durchaus  nicht 
sehr  fern  in  diesem  Punkte,  wie  seine  Kritik  Phys.  J  1—4  be- 
weist; er  würde  es  sich  gefallen  lassen,  wenn  man  als  letzte 
Materie  das  „Volumen",  das  allen  ausgesagten  Eigenschaften 


*)  Vgl.  Met.  1022  a  9—10:  z^g  yvdcewq  ya^  xovto  (x6  xl  iv  eivai) 
ni^ag. 


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zugrunde  Hegt,  definierte  (vgl.  211  b  29  f.).  —  Die  Individua  der 
sinnlichen  Anschauung  sind  nach  beiden  zusammengesetzt  aus 
diesen  beiden  Seiten,  dem  Bestimmten  und  dem  Unbestimmten ; 
ihre  Anzahl  in  jeder  Art  ist  unbegrenzt,  i)  Bei  der  Erzeugung 
dieses  Sinnlichen  verhält  sich  das  elöoq  zur  vXtj,  wie  das 
Männliche  zum  Weiblichen.  2) 

Fassen  wir  nun  die  Erkenntniskräfte  ins  Auge,  die  uns 
zum  Erfassen  der  genannten  Gegenstände  zu  Gebote  stehen,  so 
stimmen  wieder  beide  Denker  tlberein,  dafs  zu  scheiden  wären: 
vovq  und  alöd-TjCigj  entsprechend  den  eUi]  und  den  Individuen, 
(die  vXr]  ist  ayvcoöxoq)  dafs  aber  dazwischen  noch  eine  beson- 
dere Stelle  die  emörfifiat  einnähmen,  insbesondere  die  Mathe- 
matik. Auch  in  der  Bewertung  dieser  drei  Arten  der  Er- 
kenntnis sind  die  beiden  Philosophen  einig.  Die  Weiterarbeit 
des  Aristoteles  besteht  nur  darin,  dafs  er  die  Eonsequenzen 
der  platonischen  Gedanken,  die  Grenzlinien  zwischen  den 
einzelnen  Gebieten  schärfer  ins  Auge  fafst  Wenn  das  eldog 
vollständig  bestimmt  und  selbständig  sein  soll,  so  kann  es 
niemals  irgendwie  die  Gattung  zu  verschiedenen  anderen 
Begriffen  darstellen.  Dem  Gattungsbegriff  kommen,  sei  es  bei 
der  Definition  in  den  diag)OQal  eldojtoiol,  sei  es  bei  deren 
Verbindung  mit  der  vXtj  xad-öXov  in  den  övfißsßTjxora  xad-' 
avrd  Bestimmungen  zu,  die  gleichzeitig  in  ihm  nicht  gedacht 
werden  können,  es  also  unmöglich  machen,  ihn  als  abtrenn- 
baren Gegenstand,  als  Ursache  alles  Bestimmten  am  Einzelding 
zn  benutzen:  er  ist  rocovöe.  Da  die  Idee  nun  von  Aristoteles 
als  Gattung  aufgefafst  wird  (Met.  1042  a  15  reo  öh  xaß-oXov 
xaX  reo  yivu  xal  al  löiai  avvdjtrovöcv '  xarä  röv  avrdv  yäg 
X6yov  ovalat  dvxovöiv  slvai),  so  mufste  sie  ihm  also  in  diesem 
Punkte  gänzlich  unzulänglich  erscheinen.  Hier  setzen  daher 
seine  schwersten  Angriffe  ein,  und  vielleicht  haben  sie  mit 
dazu  beigetragen,  dafs  Plato  in  letzter  Zeit  auf  die  Einteilung 
bis  zum  ätftTjrov  so  grofsen  Wert  legt.    Der  andere  Vorwurf, 


0  Es  sei  doDD,  dafs  einmal  alle  Materie  verbraucht  sei,  wie  bei 
Aristoteles  Hir  den  Himmel,  der  deshalb  nur  einmal  da  ist,  d.  h.  in  einem 
einzigen  Exemplar:  de  caelo  287  a  25  f. 

^)  Met9S8al— 7:  wenn  Aristoteles  dort  dem  Plato  die   entgegen- 
gesetzte Anncht  zaweist,  so  gibt  ihm  der  Timäos  offenbar  unrecht. 
Philoiophische  Abhandlungen.   ZXXXIV.  7 


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der  ebenfalls  beBtäodig  wiederkehrt,  Plato  halte  die  Ideen 
fttr  lodividna,  seheiot  mir  durch  die  uns  erhaltenen  Dialoge 
nicht  gerechtfertigt  werden  zn  können  und  nur  heryorgemfen 
zu  sein  durch  die  Mythen  der  berühmten  Schriften  aas  der 
ersten  Periode.  Auch  lernen  wir  fttr  Aristoteles  daraus  wenig 
Neues:  seine  fiOQq>ij  ist  natttrlich  nur  elösi  ^v,  wie  alles  t^tiror 
(de  an.  429  b  28  ^v  öi  ri  rö  votjtov  elösi).  Einen  wesentlieheii 
Fortschritt  stellt  endlich  auch  die  schärfere  Trennung  tod 
:jtQcjxf}  ^iXoöoipla  und  fiaO-t/fiaTixT}  dar,  die  bei  Piato  immer 
etwas  FlieCsendes  behielt  und  nur  auf  der  Methode  zu  beruhen 
schien.  Aristoteles  verlegt  den  Unterschied  in  die  Objekte  und 
weist  der  syllogistischen  Wissenschaft  das  Abstraktallgemeine 
zu,  das  vXfj  xad-oXov  enthält,  also  auch  rein  gedanklich  niebta 
Selbständiges  darstellt. 

So  steht  also  Aristoteles  ganz  auf  platonischem  Boden 
und  arbeitet  in  diesem  Sinne  weiter,  nicht  ohne  einen  guten 
Schritt  vorwärts  zu  tun.  Dabei  mag  das  Streben  nach  selb- 
ständiger Grundlage  für  seine  neue  Schule  und  die  Entwicklung, 
die  die  Lehre  Platoa  bei  dessen  legitimen  Nachfolgern  gefunden 
hatte,  den  Unterschied  in  seinen  Augen  vergröfsert  haben.  In 
einer  Frage  kann  ich  jedoch  nicht  einsehen,  wieso  Aristoteles 
weitergekommen  sein  -sollte,  als  Plato:  das  ist  das  Problem 
des  Zusammenhanges  zwischen  Begriff  und  Individuum.  Wenn 
man  es  so  darstellt,  als  gehe  die  Entwicklung  der  griechischen 
Philosophie  dahin,  den  Begriff  mit  dem  Einzelding  in  Eünklang. 
in  eine  denkbare  Beziehung  zu  bringen,  so  trägt  man  die 
modernen  Bemühungen  nach  einem  Monismus  in  eine  Zeit 
hinein,  in  der  solche  Bestrebungen  noch  gar  nicht  den  Haupt- 
gesichtspunkt  abgeben;  im  Grunde  war  die  Weltanschauong 
von  Piatos  und  Aristoteles'  Gegnern,  den  Sophisten,  riel  monis- 
tischer als  deren  eigene.  Die  Antwort  nun  des  Aristoteles  aaf 
die  Frage,  wie  denn  sUoq  und  lU^,  Bestimmtheit  und  Un- 
bestimmtheit, eine  Einheit  eingehen  könnten,  steht  H  6  der  Met 
Er  meint,  mit  seiner  reinlichen  Scheidung  von  vXri  und  fiOQqfl 
diese  Frage  überhaupt  tiberflüssig  gemacht  zu  haben.  Beides 
ist  dasselbe,  wenn  man  die  vXtj  als  das  durch  dieses  eidoc 
Bestimmbare  ansieht.  Beabsichtigt  wenigstens  war  in  Platoa 
jtiQaq  und  äjteiQov  genau  dasselbe;  Aristoteles  mag  die  Begriffe 
reinlicher  herausgearbeitet  haben,  aber  ihren  Zusammenschlufs 


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99 

im  Sinnlichen  hat  anch  er  nicht   besser   erklärt,  da  er  hier 
überhaupt  kein  Problem  mehr  sah. 

Sehr  viel  weiter  gefordert  ist  dagegen  bei  ihm  die  psycho- 
logische Analyse  der  Probleme,  zu  der  wir  nunmehr  ttber- 
gehen  wollen. 

5.  Psychologische  Theorie  der  Abstraktion. 

41.  Das  wichtigste  Ergebnis  des  vorigen  Abschnittes  war 
die  Feststellung  der  absoluten  Verschiedenheit  der  sldi}  von 
den  ig  dq)aiQiaea}q  kayopiera,  und  diese  Erkenntnis  wird  auch 
in  die  psychologischen  Darlegungen  des  Philosophen  Klarheit 
bringen.  Die  Seele  ist  auf  der  einen  Seite  ein  kritisches,  auf 
der  anderen  ein  kinetisches  Vermögen  (de  an.  432  a  15 — 18). 
Nach  jener  ersten,  die  fttr  uns  allein  in  Betracht  kommt,  um- 
fafst  sie  alö&TjOig  und  vovg.  Ausdrücklich  sollen  nämlich  in 
ihr  die  entsprechenden  Unterschiede  wiederzufinden  sein,  die 
sich  in  der  Natur  der  Gegenstände  fanden  (430  a  10—14).  Da 
nun  die  Gröfse  und  der  Begriff  der  Gröfse,  das  Wasser  und 
der  Begriff  des  Wassers  etwas  anderes  sind,  so  mufs  die  Seele  ^) 
anch  für  jedes  ein  besonderes  kritisches  Vermögen  besitzen 
(429  b  10  ff.),  das  Wahrnehmungsvermögen  für  die  sinnlichen 
Eigenschaften,  den  vovg  für  die  Begriffe.  Es  ist  nun  sehr  zu 
beachten,  dafs  in  jedem  dieser  so  aufklärenden  Kapitel  de  an. 
III,  4 — 8  der  Unterschied  des  Abstraktallgemeinen  vom  reinen 
votftov  betont  wird.  So  heilst  es  denn  auch  gleich  bei  dieser 
Scheidung  der  Seelenvermögen  nach  der  Art  der  Gegenstände: 
jtdXiv  &ijti  Tc5v  Iv  äq>aiQioec  ovrov  ro  €v9i)  (og  ro  öifiov' 
fisrä  öwsxovg  ydg '  ro  61  zt  7jv  eivai  el  Icxiv  %xbqov  ro  hvd^Bl 
elvac  xol  ro  ev^^v,  aXXo '  Igtod  yäg  övdg,  srigo)  äga  rj  irigcog 
ixovTc^)  xQlvsi.xal  oXcog  aga  (bg  xcoQLöxd  xä  jigayfiaxa  xfjg 
vXijg  ovxQ}  xal  xä  jtegl  xöv  vovv.  Deutlicher  kann  der  Unter- 
schied des  ätpyQfjfd^pov  vom  elöog  nicht  gemacht  werden.  Im 
folgenden  wird  auf  die  Identität  von  vovg  und  poovfievov 
hingewiesen,  wieder  aber  nur  ijri  xc5v  ävsv  vXfjg,  Denn,  heilst 
es  am  Schlüsse  des  Kapitels:  „bei  dem,  was  mit  der  Materie 

>)  ywxi}  ist  429  b  10  ff.  Subjekt,  nicht  vovg.    Dies  Subjekt  wird  auch 
sonst  häufiger  fortgelassen. 
*)  Siehe  Anhang  6. 

7* 


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100 

verbunden  ist,  gehört  ein  jedes  nnr  der  Möglichkeit  nach  zu 
den  vofjrdj  so  dafs  diesen  nieht  allen  der  vovg  zukommt,  wohl 
aber  dem  vovg  die  Eigenschaft  des  voi]t6v".  Im  näehsteo 
Kapitel  wird  dieser  selbe  Unterscbied  mit  Ixiön^fif)  xctr*  hio- 
yuav  und  tloxcl  dvvafjiv  wiedergegeben,  eine  Ausdrucksweiee,  die 
wir  schon  ans  der  besprochenen  Metaphjsikstelle  (M 1 0)  kennen. 
Gemeint  ist  hier  dasselbe,  nur  dafs  die  Worte  xccrä  övrauir 
dadurch  eine  etwas  andere  Wendung  erhalten,  dafs  in  örraftu 
mehr  die  Bedeutung  des  Vermögens  (als  Kraft),  als  die  der 
Unbestimmtheit  liegt,  was  ja  bei  Aristoteles  auch  sonst  beides 
abzuwechseln  pflegt.  Aber  da  diese  Wandlung  der  Begriff  der 
vXrj  genau  mitmacht,  diese  aber  überall,  auch  an  unserer  Stelle, 
das  entscheidende  Kriterium  dafttr  abgibt,  ob  etwas  reine 
ivtQYsia  sei  oder  nicht,  so  sind  in  der  Tat  hier  wie  Met  M 10 
mit  ijciOTTJf/fj  xarä  dvvafiiv  dieselben  Gegenstände,  nämlich  ra 
^g  d(paiQiö£a)q  Xeyofievaj  gemeint.  Die  wirklichen^  mit  sinnlicher 
Materie  verbundenen  Einzeldinge  kommen  an  beiden  Stellen 
nicht  in  Betracht,  sie  sind  weder  BMcr7p:a  noch  überhaupt 
voTixd.  Für  den  Zusammenhang  der  aristotelischen  Gedanken 
ist  ein  Satz  besonders  wichtig  (430  a  20/21  =  431  a  1 — 3):  ro 
&avr6  iöTiv  ?)  xax*  IvtQfBuxv  ijtiörrjfifj  rtp  ütQoynaxt '  7)6h  xcrra 
övvafiip  XQ^^^  JtQOxiQa  iv  rm  evl,  oXcog  de  ovöe  xQ^^^i^-  Auf 
ihn,  wie  auf  den  Schlufs  des  Kapitels  müssen  wir  später  noch 
einmal  zurückkommen. 

Besonders  wertvoll  ist  das  nächste  Kapitel  (6),  das  über 
den  Unterschied  der  votjöiq  xwv  ddiaiQerfDV  und  der  ovt'^eou 
voTjfidrcor  handelt  und  damit  auf  den  Begriff  der  Zeit,  in  der 
gedacht  wird,  hinführt.  Sobald  ich  irgend  eine  Länge  als 
geteilt  oder  als  Summe  von  Teilen  denken  will  —  nnd  das 
mufs  doch  nach  Met.  Z  10  der  Mathematiker  durchaus  — ^  mufs 
ich  auch  die  Zeit  teilen,  in  der  ich  eine  solche  Länge  denke. 
Nur  die  sUtj,  die  xarä  ro  jcoöov  weder  teilbar  noch  nnteilbar 
sind,  weil  sie  jede  Ausdehnung  abgestreift  haben,  müssen  in 
einer  unteilbaren  Zeit  gedacht  werden.  Bei  den  d^^Qt^fitra^) 
z.  B.  der  Mathematik  kommt  freilich  jene  unvermeidliche  psycho- 
logische Tatsache,  dafs  sie  nicht  in  einem  Augenblicke  denkbar 
sind,  nicht  in  Betracht:  sie  werden  in  jeder  Hinsicht  als  unteilbar 


')  Siehe  Anhang  6. 

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101 

angesehen.  Aber  diese  Einheit  ist  nieht  abtrennbar,  mithin 
auch  nicht  hegysla.  Sehlierslieh  heifst  es  dann  am  Ende  des 
Kapitels,  wie  auch  am  Anfang,  der  vovg  sei,  insofern  er  ra 
döialQBza,  also  im  wahren  Sinne  nur  rä  sIöt],  denke,  keinem 
Irrtum  ausgesetzt;  hinzugefügt  wird  noch  einmal:  ovrcog  Ix'^i 
oöa  ävev  vXijg.  So  sieht  man  also  trotz  der  schlechten  Über- 
lieferung des  Kapitels  noch  deutlich,  dafs  es  sich  um  eine 
Differenzierung  innerhalb  des  vovg  darin  handelte. 

Im  folgenden  Kapitel,  von  431  b  an,  wird  dies  wieder  ganz 
deutlich  (2):  ra  fihv  ovv  elötj  rb  votjtixov  Iv  xolg  ^avräafiaöi 
voet,  (12)  rä  de  iv  dg)aiQiasc  XeyöfiEva  voet  Söjceg  av  el  zö 
oifiovJ)  Dieser  neue  Gedanke  kehrt  etwas  ausführlicher 
wieder  432  a  3  — 14:  h  xolg  bIöbcl  rolg  alcB-rjrotg  xä  vojjxd 
ioxt,  aber,  heilst  es  ausdrücklich:  xä  xe  kv  ä^aigiöei  Xeyofieva 
xal  oöa  xcjv  alod-r/xcov  ^eig  xal  ndd^tj^  das  bezieht  sich  also 
lediglich  auf  die  Abstrakte  und  die  ovf/ßeßijxoxa  xad-^  avxd; 
diese  können  nur  in  einem  g)dvxaöfia  vorgestellt  werden, 
welches  den  Sinneseindruck  ohne  dessen  vkrj  alößTjxTJ  bedeutet, 
sie  können  von  ihm  nicht  gelöst  werden.  Davon  werden  jedoch 
die  3tQcix7}  voijfiaxa  432  a  12  geschieden,  die  nur  nicht  ävev 
g)avxaa(idx(ov  gedacht  werden  können.  Diese  psychologische 
Begleiterscheinung  ist  aber  „  nebensächlich '':  um  dies  klar  zu 
erkennen,  müssen  wir  noch  eine  dritte  Stelle  heranziehen  de 
mem.  450al — 4:  avfißalvec  yaQ  xb  avxb  jcdO^og  iv  xtp  voelv 
ojcBQ  xal  iv  xw  ötaygdipeiv '  ixel  xe  yäQ  ovd-lv  jtQOöxQoifievoi 
xq  xb  Jtoobv  coQiöfiivov  elvat  xov  xQiycivov,  oficag  YQdg^ofiev 
ojQiö/iivov  xaxä  xb  nooöv  '  xal  6  vomv  (oöavxog  xav  fd^  jtoöbv 
voll,  xid-exai  jtgb  Sfifcdxcov  jtoöov,  voel  &ovx  ?}  Jtoöov,  Dies 
letzte  unterscheidet  das  mathematische  vom  reinen  Denken. 
Der  Mathematiker  betrachtet  alles  ^)  jioöov.  Natürlich  können 
Gegenstände,  die  in  dieser  Weise  vXrj  xad-oXov  enthalten,  nicht 
Xo?QiOxd,  nicht  rein  ivegyela  sein.  Dagegen  bei  den  elötj  kommt 
auch  die  Quantität  im  allgemeinen  nicht  in  Betracht,  mag  man 
auch  (psychologisch!)  gezwungen  sein,  sich  ein  solches  all- 
gemeines Schema  vor  Augen  zu  stellen.  Der  Grund  hierfür 
wird  auch  angegeben:  ovx  ivd^x^xai  {^  V^X^'l)  ^oetv  ovöev 
ävev   xov   öwexovg,  ovö^  ävtv  XQ^^ov   xä  (i?)  iv  XQ^^^  ovxa, 


^)  Ein  anderes  dh  kann  dem  (Jiiv  (b  2)  nicht  entsprechen. 

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102 

das  ist  einfach  eine  Tatsache.  Die  slöi]  sind  also,  weil  sie 
auch  das  Jtoaov  ddQiOrov  nicht  enthalten,  xayQiörd  nnd  lve(ryeir.; 
sind  aber  somit  die  Abstrakta  ungleich  stärker  von  den  g:ear' 
tdöfiara  abhängig,  so  wird  aach  der  Zusammenhang  mit  der 
im  vorigen  Absatza  behandelten  Bestimmung  klar:  da  bei  der 
fpavxacla  die  Möglichkeit  der  Täuschung  beginnt  (428  b  10  f^ 
bes.  17),  so  können  nnr  die  davon  ganz  nnabhängigen,  wenn 
auch  von  ihr  begleiteten  bIöi]  als  stets  wahr  betrachtet  werdend) 

Fassen  wir  die  bisher  gewonnenen  Bestimmungen  zusammen, 
so  haben  wir  auf  der  einen  Seite  den  vovq  jtoifjTixog,  der 
reine  ivtQyeux^  daher  x(^Q^<^'^og  ist,  sich  nur  mit  den  eJdri  ar^r 
vXijq  beschäftigt,  diese  h  däiaiQero}  XQ^^'^  denkt,  ohne  Mög- 
lichkeit des  Irrtums,  und  mit  diesen  seinen  Gegenständen 
identisch  ist.  Dem  steht  gegenüber  der  vovg  jra^/rrxoc,  der 
ohne  das  Material  der  Sinnlichkeit  nicht  auskommt,  also  nur 
Gegenstände  hat,  die  öwdiist  votjrd  sind,  d.  h.  rä  Iv  d^aiQtoei 
XsYOfiera,  die  die  vkrj  xad-oXov  noch  enthalten;  er  denkt  sie 
nur  in  ausgedehnter  Zeit,  nur  in  den  <pavxdo(iaxaj  ist  daher 
dem  Irrtum  ausgesetzt.  Begleitet  sind  beide  stets  von  der 
q^apraölay  die  in  diesem  Sinne  auch  zur  vorjaig  gezählt  werden 
kann  (433  a  9);  aber  der  vovg  jtotrjTixog  ist  nur  zufällig  von 
ihr  begleitet,  der  vovg  jcad-rjrtxog  entnimmt  ihr  wesentliche 
Bestimmungen.  Beide  sind  natürlich  von  der  atö^r^öiCj  die 
allein  imstande  ist,  ein  iv  xar'  dQid-fiov  zu  erfassen,  grund- 
verschieden. 

42.  Einen  Schritt  weiter  kommen  wir,  wenn  vnr  die  Rolle 
der  tpamaöla  näher  ins  Auge  fassen;  sie  ist  das  Vermögen  der 
g)avTdöf£ara,  die  sich  immer  nur  im  Anschlufs  an  die  sinnlichen 
Wahrnehmungen  bilden  können,  von  dieser  selbst  jedoch,  sowie 
vom  i'ofg  verschieden  sind  (de  an.  jr3,  bes.  428  b  10 — 17).  Wenn 
nämlich  die  aktuelle  Wahrnehmung  vorttber  ist,  so  bleiben  noch 
Residua,  und  das  eben  sind  jene  fpayrdofiara,  die  das  Schrift- 
chen  j€£qI  kwxvlow  so  lebendig  schildert.  Natürlich  sind  sie 
nur  cSojreQ  ra  aloß^fjfiara,  denn  die  vXtj  alod^tj  verschwindet 
mit  dem  Aufhören  der  wirklichen  Wahrnehmung  (de  an.  432  a 
9 — 10).    Alles  was  nachher  noch  übrig  bleibt,  ist  nur  noch  ab 

^)  Das  Urteil,  die  YorbinduDg  von  ovala  and  avfißeß^xoxa,  soll  jt 
ausdrücklich  xatd  tfjv  fpavtaolav  erfolgen:  de  an.  402  b  22:  ineiSdv  yd^ 
^Xo>f^^v  dnoÖiöovai  xatd  tjJv  ipavxaaiav  ne^l  xwv  avßßfßrixoxwv  .... 


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103 

xoivop  oder  xa»6Xov  falsbar  (Met.  Z  10, 1036  a  6— 8);  natttrlieh, 
denn  alles  Individaelle  ist  ja  nur  darch  Wahrnebmang  uns 
zugänglich,  die  ttbrigens  auch  nach  Aristoteles  in  innere  and 
änfsere  za  teilen  ist  (de  somno  454  a  3  tov  yäg  alöß^avofisvov 
TOVTOV  iyQfjyoQtvai  vogil^o/isv  xal  tov  iyQrffOQOta  üidvra  fj 
xojv  l^cod-iv  rivog  alod^dreo&^ai  ?j  rcov  Iv  avxrp  xtvrjöeoov). 
Und  so  bietet  die  (pavxaöla  eine  erste  Grandlage  der  Abstrak- 
tion, da  in  ihr  viele  Merkmale  des  Individaams  fehlen  mtlssen. 
Zn  einer  solchen  Voraassetzang  wird  sie  aber  noch  von  einer 
anderen  Seite  her:  sie  ist  nämlich  anch  die  Grandlage  des 
Gedächtnisses.  Denn  wird  eine  tparraola  nicht  für  sich  be- 
trachtet, sondern  als  ein  Zeichen  oder  Bild  eines  anderen 
bewafst,  so  ist  dies  eine  Erinnerung;  dabei  ist  die  Wahrnehmung 
der  Zeit  wesentliche  Voraussetzung;  denn  ich  mufs  wissen,  dals 
dies  tpdvraciia  von  frtther  herstammt,  dals  also  dies  jetzt  in 
mir  Wahrgenommene  das  Residuum  ist,  welches  von  einer 
bestimmten  frttheren  Wahrnehmang  tlbrig  geblieben  ist.  Des 
bestimmten  Zeitpunktes  jener  ersten  Wahrnehmung  braucht 
man  sich  freilich  nicht  bewufst  zu  werden  (452  b  SO— 453  a  4). 
Diese  [ivi^iiri  aber  ist  nun  wieder,  so  lehrt  das  bekannte  1.  Kapitel 
der  Metaphysik,  ebenso  wie  das  letzte  der  Analytiken,  Grund- 
voraussetzung für  das  Zustandekommen  aller  Wissenschaft, 
weil  aller  Induktion^),  ohne  deren  Hilfe  nicht  abstrahiert 
werden  kann. 

Damit  wären  wir  denn  bei  der  Hauptfrage  dieses  Ab- 
schnittes angelangt:  wie  kommen  die  Allgemeinbegriffe  zu- 
stande? Der  einzige  Weg,  auf  dem  etwas  in  unsere  Seele 
hineinkommen  kann,  ist  die  Sinnlichkeit.  An.  post.  1, 18  belehrt 
uns,  alles  Lernen  geschehe  entweder  durch  Induktion  oder 
Beweis;  doch  da  der  Beweis  auch  wieder  auf  allgemeinen  Be- 
griffen ruhe,  die  nur  durch  Induktion  bekannt  gemacht  würden, 
so  sei  diese  also  zu  jeder  Wissenschaft  erforderlich,  und  da  die 
Induktion  wieder  nicht  ohne  sinnliche  Wahrnehmung  möglich 
sei,  80  mtlsse  mithin  in  dieser  ttberall  der  Ausgangspunkt 
gesucht  werden.  Hinzuzunehmen  ist  jedoch  noch  I,  31 :  durch 
Wahrnehmung  kann  man  nichts  wissen;  denn  das  Allgemeine 
kann  nie  wahrgenommen  werden,  sondern  immer  nur  ein  in 


1)  Siehe  Anhang  7. 


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104 

Raam  und  Zeit  bestimmtes  {jtov  xal  vZ^v)  Einzelnes  —  j}  (S 
tjnarrjfiTj  reo  rö  xa&oXov  yvcogl^eiv  loxlv.  Aber  ans  einer  oft 
sich  wiederholenden  Wahrnehmung  kann  man  das  Allgemeiiie 
„anfspttren"  {d^tiQSVBiv).  Die  Bedentang  der  SinDlichkeit  »eigt 
sehr  schön  die  Bemerkung:  Ivta  yaQ  sl  scogcSfisv  ovx  äv  i^^ovfin' 
ovx  cös  slöözeg  rm  ÖQäv  dXX^(6g  sxovTsg  zo  xad^oXov  ix  rot 
oQäv.  (Hingewiesen  sei  noch  ^nf  die  Worte  88a 8:  jisqI  6t 
Töjv  jtQciriav  aXXoq  X&foq.)  Im  gleichen  Sinne  ist  die  Stelle 
90  a  20—30  aufzufassen.  Das  Wort  yvcogl^siv  hat  bei  Aristoteles 
eine  ähnlich  unbestimmte  Bedeutung,  wie  etwa  to  perceire  bei 
den  Engländern.  Bald  wird  es  dem  begrifflichen  Erkennen 
entgegengesetzt  (z.B.  Met.  1036a 5, 6),  meist  jedoch  umfafst  es 
beides,  Erkennen  und  Wahrnehmen,  wie  yiyv(DOxeiv  auch.  Es 
zeigt  also  keineswegs  immer  eine  Tätigkeit  des  vovq  an. 

Wenn  nun  das  Allgemeine  aus  der  wiederholten  gleieh- 
sinnigen  Wahrnehmung  bekannt  wird,  so  ist  natürlich  Voraus- 
setzuDg^  dafs  die  vorangehenden  während  der  späteren  im  Ge- 
dächtnis bleiben,  und  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  wird  im 
letzten  Kapitel  die  iivri(iri  als  die  fär  die  Abstraktion  wichtigste 
Funktion  beschrieben.  Diese  soll  nur  immer  das  in  den  ver- 
schiedenen Wahrnehmungen  Gleiche  festhalten:  7}QefifJ0atrT0C  TOV 
xad-oXov  Iv  rfj  tpvxij,  o  av  Iv  äjiaoi  ev  iv^j  IxbIvok;  to  avro. 
In  der  ^avxacla,  auf  die  die  Erinnerung  zurückgeht,  lag  ja 
schon  der  Anfang  dieser  Abstraktion.  Nun  kommt  Aristoteles 
dem  noch  mehr  entgegen  durch  einen  neuen  Gedanken:  zwar 
ist  der  Gegenstand  der  Wahrnehmung  immer  individuell;  aber 
diese  selber  enthält  ja  die  vXri  nicht,  sogar  nicht  einmal  die 
Gröfse  (de  an.  11,12),  ist  vielmehr  ein  Xoyoq.  An.po8t,  100  b  16;  18: 
xal  yaQ  dcad-dvtrai  fisv  rö  xad^  Ixaöxov,  ?)  6'  alod^t^öig  rov 
xad^oXov  loxlv,  olov  dv&^gwjtov,  dXX^  ov  KaXUov  di^poJjror; 
vgl.  1, 31  Anfg.  Dahin  gehört  auch  die  Bemerkung  (Phys.  184  b  13  f.), 
dass  die  Kinder  zuerst  alle  Leute  für  Väter  und  Mtttter  an- 
sähen, und  daher  das  Allgemeine  als  ein  Ganzes  zunächst  näher 
liege.  Aber  ausdrücklich  sagt  Aristoteles  ja,  dals  das  All- 
gemeine der  Gegenstand  der  Wahrnehmung  niemals  sein  könne, 
und  so  streiten  die  genannten  Ausführungen  nicht  gegen  die 
zahlreichen  Stellen,  wo  es  heilst:  für  uns  seien  Einzelnes  und 
Wahrnehmung  das  Frühere,  und  diesem  Wege  folge  die  ijtar/orp]^ 
der  Natur  nach  aber  das  Allgemeine,  und  dem  folge  der  Beweis. 


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105 

z.  B.  An.  poflt  71  b  31  ff,  72  b  27  f.  Folglieh  kann  die  i^taycoy^ 
allein  ans  mit  dem  Allgemeinen  bekannt  maehen  (vgl.  auch 
Nik.  Eth.  1139b86ff,  wo  auf  die  Analytiken  offenbar  an- 
gespielt wird). 

Wieso  kann  dann  aber  wissenschaftliehe  Erkenntnis  die 
Wahrnebmnng  an  Wert  übertreffen,  wenn  ihre  Grandbegriffe 
nur  ans  deren  Gegenständen  abgeleitet  sind?  Hier  ist  zunächst 
zu  bedenken,  dafs  ja  selbst  zu  der  Fähigkeit,  Wahrnehmungen 
im  Gedächtnis  zu  behalten,  noch  etwas  hinzukommen  mnfs, 
nämlich  ein  Xoyog  An.post  100  a  1— 3:  jtoXXdSv  öh  toiovtcov 
yirofidvwv  TJdt)  öcafpoQa  rtg  ylverai^  Sörs  rotg  (lev  ylvsöd-ai 
Xoyov  Ix  xfjq  roiovrcDv  giovf/g  rotg  de  fifj»  Das  Allgemeine  mufs 
darin  „aufgespart''  werden,  wie  wir  eben  sahen.  Sodann  aber 
darf  man  den  Sehlufs  der  Analytika  nicht  zu  gering  werten; 
dort  erfahren  wir,  dafs  nun  erst,  nachdem  die  Abstrakta  bekannt, 
in  uns  „hineingebracht''  (100  b  3)  worden  seien,  die  Tätigkeit 
des  vavg  beginne.  Das  ist  die  Hauptsache:  alles,  was  wir 
bisher  gehört  haben,  geht  ja  nur  den  vovg  nad^xtxoq  an,  das 
Gedächtnis  vor  allem,  das  ja  ebenfalls  ein  ndd-oq  ist,  100  a  13: 
7/  6e  rpvxf]  vjtaQxei  roiavrrj  ovaa,  oi'a  öi'vaadoi  jrdöxecv  xovxo. 
Nur  kann  der  vovg  jioirixutog  nichts  ohne  den  vovg  jca&^rjxixog 
denken  de  an.  430  a  23—25  (vgl.  Zeller  II,  2,  »574  Anm.  4),  und 
daher  beginnt  auch  erst  mit  dessen  Einsetzen  die  Erinnerung; 
aber  das  Gedächtnis,  so  wird  versichert,  bleibt  ftlr  die  Er- 
kenntnis der  alöt]  völlig  unwesentlich  (de  mem.  450  a  24 — 25; 
451a  28 — 29).  Also  schafft  der  vovg  jtocrjxtxog  als  reine 
IrtQyeca  seine  Objekte  selber.  Aulserdem  würde  auf  die  eidt) 
keine  Induktion  der  Welt  führen;  denn  diese  wttrde  ja  die 
vXti  wg  xad'oXov  niemals  beseitigen  können,  was  doch  ftlr  das 
xl  f^v  eivai  Wesensbedingung  ist.  Das  Aulserste^  was  auf  diesem 
Wege  erreichbar  ist,  sind  jene  dtpj^iQtjuiva,  zu  denen  natürlich 
auch  die  abstrakteren  Begriffe  der  Gattungen,  wie  z.  B.  C^olov, 
oxfjfta  usw.,  gehören,  bis  hinauf  zu  den  höchsten  Gattungen 
(s.  0.  S.87/8):  sie  alle  haben  nach  Aristoteles  die  vX?]  nicht  abge- 
streift und  sind  nur  övvdfisi  vorjxd. 

Im  Sinne  dieser  Schlufsbemerkungen  der  Analytiken  haben 
wir  auch  die  verwandten  Ausführungen  im  6.  Buche  der  Nikom. 
Ethik  zu  verstehen.  Dort  heilst  es  einmal  (1039  b  20— 31): 
f)  (ilv  öij  küiaycoyrj  aQx^j  loxiv  xa\  xov  xad-oXovj  6  de  OvXXoycCfiög 


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106 

ix  Tc5v  xa&^oXov,  elalv  aga  dQX(u  i§  c^v  6  CvXXoyidnoq,  mv  ov% 
löTL  övXXoyiöf/og  *  Inayioyri  aga  —  und  dann  wieder  mit  der- 
selben EntschiedeDheit:  Xeljcsrat  äga  vovv  dvai  rwv  dQXför, 
da  (pQovrjCcq  ijtiörijfiT]  öotpla  das  nicht  leisten  konnten  1141  & 
3—8.  Besonders  klar  ist  die  Stelle  1142  a  25— 30,  nach  der 
die  tjciattj/it]  von  vovg  und  aloO-tjotg  gleichsam  nmrahmt  sein 
soll:  was  über  ihr  liegt,  das  nämlich,  wovon  es  keinen  koyoq 
gibt,  ist  das  Gebiet  des  vovg,  nnd  ebenso  gibt  es  auf  der 
anderen  Seite  noch  ein  Gebiet  des  Sinnlichen,  Einzelnen.  Etwas 
später,  1143  a  35— b  5,  werden  diese  beiden  Enden  allein 
dem  vovg  zugesprochen;  aber  es  versteht  sich  von  selbst, 
dafs  der  Satz:  rot'nxfp  (seil.  r(5v  xaö-'  ixaöTo)  ovv  tx^i^  itl 
alöd^^jöiv,  avxtj  &IctI  vovg  nur  auf  den  vovg  jtaO^ixoq  gemünzt 
sein  kann. 

Die  Abhängigkeit  des  vovq  jtoirjrixog  vom  vovg  xaO^prixa: 
kann  nur  psychologisch  sein:  sie  ist  anch  lediglieh  im  einzelnen 
Menschen  vorbanden,  mit  dessen  Tode  sie  auch  bei  ihm  auf- 
hört; denn  so  werden  wir  nur  jenen  Satz  der  Schrift  über  die 
Seele  verstehen:  /}  xarä  ävvafiiv  lünöryiii]  jtQoriQa  Iv  rro  tri, 
oXog  de  ovöh  XQovm:  im  einzelnen  Menschen  mufs  zeitlich  vor 
jeder  Erkenntnis  der  sIöt]  die  Affektion  des  vovg  xad^f/rixo^ 
durch  die  ijtayary?}  vorhergehen,  im  ganzen  Weltall  aber  nicht 
Dadurch  ist  offenbar  auf  den  göttlichen  vovg  hingewiesen,  der 
nach  Met.^  als  aQx^]  xivrjceoog  dxlvfjrog  alle  Dinge  erst  erzeugt: 
eöTt  yaQ  i^  errsXexsla  ovrog  jcdvta  rd  yiyvoiisva  (de  an.  431  a  3). 
Er  ist  also  als  reine  Ivlgyeia,  als  vovg  xoujnxog  völlig  nn- 
begleitet  von  jeglichem  jcdd^og,  das  Gedächtnis  eingeschlossen. 
Auch  bei  uns  ist  der  vovg  nocriTixog  der  Grund  aller  apodiktischen 
Gewilsheit,  da  er  die  Grundlage  des  syllogistischen  Wissens 
bildet.  Erst  dadurch,  dafs  wir  die  von  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung abstrahierten  Begriffe  „abgelöst^  wenigstens  betrachten, 
dafs  wir  sie  also  in  der  Weise  setzen,  in  der  der  vovg  die 
döfj  erkennt;  erst  dadurch  kommt  ja  die  Mathematik  und  jede 
andere  beweisende  Wissenschaft  zustande.  Jener  bildet  also 
gleichsam  den  Transformator,  der  die  induktiv  abstrahierte  All- 
gemeinheit in  die  deduktiv-abstrakte  umwandelt  Die  Induktion 
mufste  das  Allgemeine  als  Bestandteile  eines  Einzelnen  bestehen 
lassen;  die  syllogistische  Wissenschaft  setzt  sich,  obwohl  sie 
daran  auoh  nichts  ändern  kann,  mit  Hilfe  des  vovg  jtoifjrtxoi 


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107 

darüber  hinweg.  DeBsen  Objekte  selber  werden  durch  an- 
mittelbare Bertthrang  erfafst  und  in  der  Definition  vollkommen 
adäqnat  ausgedruckt;  sie  können  daher  nicht  unmittelbar  als 
Anfang  des  Beweises  gelten,  da  ein  solcher  immer  Anschauung 
nötig  hat,  zum  mindesten  vXi]  vorjr^.  Daraus  würde  z.  B.  folgen, 
dafs  der  göttliche  Verstand  keine  Mathematik  triebe,  über- 
haupt den  Beweis  nicht  nötig  habe.  Aber  leider  sind  über 
diese  Seite  der  aristotelischen  Lehre  die  erhaltenen  Aus- 
führungen so  spärlich,  dafs  wir  hier  nicht  weiter  vordingen 
können. 

43.  Schauen  wir  auch  jetzt  wieder  auf  die  platonische 
Philosophie  zurück,  so  müssen  wir  staunen,  wie  genau  auch 
die  Psychologie  des  Allgemeinen  an  die  bei  jener  vorhandenen 
Ansätze  anknüpft.  Piatos  übersinnlicher  Ideenscbau  entspricht 
jenes  d-Lf/dvatv  der  firf//,  das  ebenfalls  mit  der  Wahrnehmung 
verglichen  wird.  Nach  Plato  war  die  Beobachtung  der  Gesctz- 
mäfsigkeit  in  der  sinnlichen  Welt  dasjenige,  was  uns  zu  den 
Ideen  hinleitete,  und  diese  Andeutung  (wir  wissen  ja  nicht, 
was  Plato  mündlich  alles  gelehrt  hat)  finden  wir  bei  Aristoteles 
zur  Lehre  von  der  Inayoiyili  erweitert.  Sein  Lehrer  hatte  bei 
aller  Verherrlichung  der  Ideenerkenntnis  doch  immer  zugeben 
müssen,  dafs  ganz  abgelöst  von  der  Sinnlichkeit  der  Mensch 
in  dieser  Welt  nicht  denken  könne,  und  auch  diese  psycho- 
logische Abhängigkeit  des  reinen  Verstandes  kehrt  bei  Aristoteles 
wieder  in  der  Behauptung,  der  vovq  jtoujrixog  denke  bei  uns 
nicht  ohne  den  vovg  jra&7)Ttx6g  und  ohne  qxxvraöiia.  Die  Be- 
merkung Piatos,  die  Mathematik  müsse  immer  eine  sinnliche, 
in  ihrer  Gröfse  also  bestimmte  Figur,  an  der  sie  beweise,  zu- 
grunde legen,  wenn  sie  sie  auch  nicht  als  in  dieser  Weise  be- 
stimmt meine,  findet  sich  bei  seinem  Schüler  genau  ebenso 
wieder.  So  sind  dessen  Grundgedanken  aus  dem  platonischen 
Ideenkreise  heraus  entwickelt.  Ungleich  feiner  und  reicher 
erseheinen  freilich  die  empirisch  psychologischen  Analysen  der 
einzelnen  Funktionen,  z.  B.  die  Scheidung  der  döj]  von  der 
^9>WW^^^f  der  Ijcaycoy?}  von  djcoöei^ig  und  oQcöfiögj  der  firrj/iij 
und  dvdfiV7]öig.  Aber  wir  wissen  gar  nicht,  das  dürfen  wir 
nicht  vergessen,  wie  weit  die  Akademie  darin  gekommen  ist, 
da  Aristoteles  das  Eigentum  seines  Lehrers  nicht  ausdrücklich 
von  seinen  eigenen  Gedanken  zu  scheiden  pflegt;  seine  Scbul- 


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108 

Bchriften  sind  aber  mit  Piatos  Dialogen  nicht  vergleichbar. 
Weil  jedoch  dasjenige,  was  wir  aufser  diesen  Dialogen  vod 
seiner  Philosophie  noch  wissen  könnten,  endgültig  noch  nicht 
herausgearbeitet  ist,  so  haben  wir  ans  begnügt,  am  Ende 
der  drei  letzten  Abschnitte  (§§  35,  40,  43)  die  direkt  be- 
zeugten Lehren  mit  der  Philosophie  des  Stagiriten  zu  ver- 
gleichen. 

Bebapltnlation. 

44.  Es  bleibt  noch  übrig,  die  Lehre  des  Aristoteles  kurz 
zusammenzufassen. 

Für  den  Nachweis  der  Existenz  der  allgemeinen  Begriffe, 
sowie  deren  Notwendigkeit  für  die  Wissenschaft,  konnte  er  die 
Gedankenarbeit  des  Plato  voraussetzen. 

Als  ihr  logischer  Ausdruck  gilt  ihm  die  Definition,  die 
Angabe  von  Gattung  und  Art;  die  damit  gegebene  Stufenfolge 
der  Allgemeinheit  findet  ihren  Abschlufs  nach  unten  in  den 
letzten  Arten,  nach  oben  in  den  Kategorien.  Im  Syllogismus 
bietet  die  Definition  den  Ausgangspunkt  dar,  über  den  der 
Beweis  nicht  hinauskommen  kann;  allerdings  mufs  erst  das  Sein 
hinzugefügt  werden,  damit  die  dann  zu  folgernden,  allgemein 
zukommenden  Eigenschaften  ableitbar  werden.  Wir  fanden  in 
der  logischen  Annahme  unterster  Arten,  die  nur  dadarch  er- 
reicht werden  konnten,  daCs  materielle  Unterschiede  nicht  art- 
bildend sein  sollten,  eine  Vermischung  mit  metaphysischer 
Betrachtungsweise.  Ebenso  lag  in  jener  Hinzufügung  des  Seins, 
die  durch  Induktion  geschehen  sollte,  bereits  ein  Hinweis  auf 
den  Übergang  zum  abstrahierten  Begriff. 

Metaphysisch  stellte  sich  jenes  ioxoxov  eldog  als  die  reine, 
von  jeder  Materie  freie  Form  heraus,  als  die  höchste  Substanz, 
da  alle  Prädikate,  die  von  einer  solchen  gelten  müssen,  auf  sie 
in  besonderem  Mafse  zutreffen.  Daneben  trat,  als  zweite 
Substanz,  die  völlig  unbestimmte,  rein  bestimmbare  Materie 
als  das  Prinzip  der  Individuation.  Ebenfalls  eine  Einheit,  die 
nicht  weiter  reduzierbar  war,  wenigstens  für  die  Erkenntnis, 
bildete  als  dritte  Substanz  der  individuelle  Gegenstand  der 
Sinnlichkeit.  Davon  mufsten  als  nicht  substanziell  die  abstrakt- 
allgemeinen Gegenstände  durchaus  geschieden  werdenj  wenn 


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109 

nicht  in  die  aristotelischen  Gedanken  die  heilloseste  Ver- 
wirrung gebracht  werden  sollte.  Sie  entbehren  der  sämtlichen 
Prädikate  der  Substanz,  sind  immer  nur  an  einem  Sinnlichen. 
Nur  werden  sie  in  den  Wissenschaften,  die  jene  zu  ihren 
Objekten  haben,  nicht  als  im  Sinnlichen  enthalten,  sondern 
al9  abtrennbar  in  Betracht  gezogen.  In  ihnen  steckt,  soweit 
anch  die  Abstraktion  getrieben  sein  mag,  d.  h.  so  eng  man 
den  Kreis  der  Merkmale  zieht,  die  man  an  diesem  Sinnlichen 
allein  betrachten  will,  immer  noch  „Materie  im  Allgemeinen", 
und  gerade  dieser  Umstand  verhindert  es,  dafs  diese  Begriffe 
Substanzen  seien.  Als  Erkenntnisvermögen  entsprechen  den 
Substanzen:  der  vovg  jcocfiTcxög,  der  die  slöt]  erfafst,  mit 
diesen  identisch,  also  ebenfalls  Substanz  ist,  die  aloO^rjaig,  die 
uns  die  Erkenntnis  der  Individua  vermittelt,  aber  nur  dvväfiec 
mit  ihnen  zusammenfUllt;  die  substanzielle  Materie  ist  un- 
erkennbar. Dem  Abstrakten  schliefslich  entspricht  die  ijtiör/ifir] 
djtodeiXTiXf],  die  nur  eine  ijtiCtTJfii]  dwdfisi  ist. 

Psychologisch  endlich  ist  zwar  im  Menschen  der  vovg 
jtocrjTixog  an  den  vovg  övvdfiei  oder  vovg  jtad-ijrixog  gebunden. 
Dieser  mufs  zeitlieh  vorangehen;  aber  sein  eigentliches  Wesen 
erreicht  der  unsterbliche  vovg  erst  dann,  wenn  er  von  diesem 
getrennt  ist;  dann  ist  er  mit  dem  göttlichen  identisch.  Freilich 
Gedächtnis  und  ferner  Beweise  sind' seinem  Wesen  fremd;  er 
bertihrt  nur  unmittelbar  die  släfi,  ohne  von  ihnen  affiziert  zu 
werden,  da  jene  mit  ihm  eins  sind.  So  denkt  er  sich  selbst. 
Der  vovg  jtad-riTixög,  selber  nicht  substanziell  und  vergänglich, 
macht  den  Menschen  mit  dem  Allgemeinen  bekannt,  und  zwar 
durch  die  Induktion,  die  wieder  auf  Wahrnehmung  und  Ge- 
dächtnis zurtlckgeht;  dies  sind  aber  jtdd-ij.  Ebenso  ist  er  ab- 
hängig von  den  tpavTaCiiara^  nicht  allein  als  den  Erinnerungs- 
bildern, sondern  auch  als  den  Vorstellungen,  in  denen  er  das 
Allgemeine  denken  mufs.  Die  durch  ihn  geleistete  Abstraktion 
ist  also  durchweg  auf  jidd^  basiert.  Wenn  in  den  be- 
weisenden Wissenschaften  von  dieser  Herkunft  der  abstrakt- 
allgemeinen Gegenstände  und  den  psychologischen  Bedingungen 
ihrer  Vorstellung  abgesehen  wird,  so  ist  das  lediglich  dem 
Einflüsse  des  vovg  ütotrjttxog  zu  danken,  nach  dessen 
Muster  die  d(pxiQri(iiva  als  xo>(>£(;ra  gesetzt  werden.  Er  also  ist 
die  wahre  Grundlage  alles  allgemeinen  und  notwendigen  Wissens. 


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110 

Wenn  man  nur  die  von  der  Vernunft  unmittelbar  ge- 
Behauten  (nieht  angesehauten)  Formen  der  Dinge  überall 
Borglieh  unterseheidet  von  den  aus  dem  Sinnliehen  abstra- 
hierten Gegenständen,  so  wird  man  in  diesen  Gedanken  de« 
Aristoteles  Scharfsinn  und  gröfste  Konsequenz  nieht  vennissen; 
ja  man  wird  finden,  dafs  sie  weit  mehr  enthalten,  als  die 
modernen  Behandlungen  derselben  Probleme  Yorausaetzen,  und 
daher  bleibt  eine  Beschäftigung  mit  Aristoteles  nicht  nur 
historisch,  sondern  vor  allem  sachlich  auch  in  die  heutige 
Philosophie  eine  Einleitung  von  unttberschätzbarem  Werte. 


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Anhang. 


1.  Ich  möchte  hier  die  Hauptstellen  zasammenfassen,  die 
mir  za  beweisen  scheinen,  dafs  vom  Theätet  ab  das  Urteils- 
problem im  Vordergründe  stehe.  Die  erste  ist  Tbeät.  184—187, 
der  einzige  positive  Ertrag  des  Dialogs,  wo  zuerst  jene  Zusammen- 
stellung der  höchsten  Gattungen  auftritt,  und  zwar  als  Begriffe, 
die  durch  die  der  Seele  eigentümliche  Funktion  des  xqIvuv 
(186  b  8)  oder  öo^dC^siv  (187  a  8)  entstehen.  Deutlich  tritt  es 
im  Parmenides  zutage,  dafs  das  im  Urteil  ausgesprochene 
„Sein"  allein  die  Erkenntnis  begreiflich  mache  (155  d  6  f.),  und 
daher  ist  die  Digression  155  e  6— 157  b  5  auch  einem  Urteils- 
problem gewidmet:  wie  verhalten  sich  entgegengesetzte  Urteile 
zueinander  in  der  Zeit?  Vollends  im  Sophisten  wttfste  ich 
nicht,  wie  man  die  „Mischung  der  Ideen"  anders  deuten  wollte, 
als  auf  das  Zusammentreten  von  Subjekts-  und  Prädikatsbegriff 
zum  Satze.  Oder  was  soll  die  cvfiJiXox?)  tc5v  slöcov,  die  den 
Xoyog  konstituiert;  anders  bedeuten?  (259  e  5).  Die  dabei  auf- 
tretenden höchsten  Gattungen  des  im  Urteil  aussprechbaren 
„Seins"  oder  Zusammenhanges,  dasjenige,  was  Prädikat  und 
Subjekt  „zusammenhält,  so  dafs  eine  Mischung  (d.  h.  ein  Urteil) 
möglich  wird"  (253  e  1-3),  das  eben  sind  die  von  Aristoteles 
als  Kategorien  ttbemommenen  Begriffe  (s.  oben  S.  76).  Dafs  es 
im  Sophisten  das  Urteil  ist,  welches  im  Mittelpunkte  der  Unter- 
suchung steht,  und  nicht  die  Begriffe,  das  zeigt  besonders  der 
Schlafs,  indem  auch  der  sprachliche  Ausdruck  des  Urteils 
geprüft  wird,  262  ff.  Nur  wenn  auch  vorher  vom  Urteil  geredet 
war,  gehören  doch  diese  Ausführungen  über  ovofia  und  gf/fia 
überhaupt  hierher.  —  Derselbe  Begriff  der  Mischung  kehrt  im 


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112 

Philebas  nnd  Timäns  wieder,  und  so,  meine  ich,  ist  die  Behaup- 
tung gnt  gegründet,  es  spiele  fortan  fttr  die  alte  Frage  naeh 
der  Erkenntnis  das  Problem  des  Urteils  die  Hauptrolle,  die 
früher  dem  Problem  der  Begriffe  zugefallen  war. 

2.  Die  Ansieht,  dafs  Z  7 — 9  der  Metaphysik  nicht  in  den 
Zusammenhang  gehören,  in  dem  sie  stehen,  hat  schon  P.  Natorp 
vorgebracht  (Philosophische  Monatshefte  24  [1888],  S.  563  f  l 
ohne  indessen  die  Zitate  in  H  und  9  zu  berttcksiehtigcn.  Doch 
möchte  ich  seinem  Versuche,  die  Kapitel  durch  Umstellung  in 
dem  ursprünglichen  Plan  der  Erörterung  zu  halten,  dreierlei 
entgegenhalten: 

a)  Die  Kapitel  15  und  16,  mit  denen  er  sie  zusammen- 
nimmt, gehören,  ganz  wie  13  und  14,  zur  Kritik  der  platonischen 
Substanz. 

b)  Die  Verweisung  Z  15,  1039  b 26  öiöecxzai  /dp  ort 
ovÖBlq  xavxa  ysvvä  ovöb  jcolbI  sagt  gar  nicht,  dafs  dieser 
Nachweis  vorher  in  derselben  Schrift  erbracht  ist;  vielmehr 
sind  die  Worte  genau  so  aufzufassen,  wie  die  sonst  fast  wört- 
liche Wiederholung,  die  nicht  viel  später  in  derselben  Schrift 
wiederkehrt:  1043  b  16  ötdecxTac  de  xal  öeörjXarrai  ir  äXlou 
ort  xb  elöog  ovöelg  jtoisl  ovöe  yevvä;  hier  wird  deutlich 
auf  denselben  Gedanken  als  in  einer  anderen  Abhandlung  ent- 
halten verwiesen. 

c)  Die  Rekapitulation  H  1  ignoriert  den  Inhalt  von  Z  7—9 
völlig;  die  Worte  1042  a  25  f.,  in  denen  Natorp  eine  Re- 
kapitulation sieht,  bilden  zu  deutlich  den  Anfang  der  eigenen 
Erörterungen  des  Buches  H  über  avvoXov  und  vXt^  als  Substanzea 

3.  Die  Worte  ZU,  1037a  10  flf.  jtoxsQOv  &Uxi  xaga  Tf)r 
vXfjv  xöjv  xoiovxcov  ovOLwv  xcg  äXXf],  xal  öet  g^refi'  ovolar 
aihc5v  ixigav  xivä  olov  aQi&fiovg  rj  xi  xoiovxot^,  axejfxtor 
vöxEQov  beziehen  sich  auf  Plato,  der  durch  Einführung  einer 
besonderen  vXi]  neue  Substanzen  erzielte,  welche  in  ihrer  Be- 
rechtigung von  Aristoteles  geprüft  werden  sollen.  E^  kann 
damit  aber  nicht  gemeint  sein,  dafs  eine  Kritik  der  Idee  über- 
haupt noch  aufgeschoben  werden  solle:  denn  sie  folgt  in  der 
Tat  sogleich,  weil  ja  mit  dem  xoivov  und  xad-okov^  den  /hv^ 
von  13 — 16  vor  allem  die  Ideen  getroflfen  werden  sollen;  auch 


I 


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113 

H  1  kann  ja,  obwohl  es  aasdrtteklieb  auf  diesen  ZusammeD- 
hang  verwiesen  hat,  jenes  cxejtreov  vöxbqov  wieder  aufnehmen 
(1042  a  23).  Man  sieht  also,  dafs  vielmehr  die  Hineinbeziehang 
der  iiad^naxixd  das  Wesentliche  ist  Denn  mit  der  „anderen 
Materie"  in  Z  11  kann  nur  das  Grofs-nnd-kleine  gemeint  sein, 
nnd  H  1  beibt  es  ja  ansdrttcklicb:  nsgl  6b  xwv  löemv  xal 
T(3v  (lad-fjfiaTixcQP  vöregov  öxbjctsov.  Aristoteles  fährt 
1037  a  13  fort:  „Dieser  Frage  znliebe"  (ob  nämlich  etwas  eine 
besondere  Substanz  sei  oder  nicht)  „versuchen  wir  ja  auch  die 
sinnlichen  Substanzen  hier  zu  analysieren;  denn  nach  einer 
andern  Seite  gehört  die  Lehre  von  den  sinnlichen  Substanzen 
zur  Aufgabe  der  Physik  und  zweiten  Philosophie."  Gemeint 
ist  offenbar  mit  jener  anderen  Seite  die  Frage  nach  der  dgxf] 
xivrjöscocj  die  ja  ebenfalls  in  der  xarä  xbv  X6yov  ovöia  liegt. 
So  hat  Aristoteles  selber  auf  einen  Unterschied  der  gegen- 
wärtigen und  der  physikalischen  Betrachtungsweise  hin- 
gewiesen. 

4.  In  seinen  Beispielen  ist  Aristoteles  nicht  sehr  sorgfältig; 
man  darf  an  ihnen  jeweilig  nur  das  betrachten,  was  er  gerade 
durch  sie  erläutern  will;  das  bekannteste  Beispiel  daftlr  ist  die 
Definition  des  Menschen  als  eines  ^(pov  öbtovv.  Diese  ist  sicher 
nicht  dessen  ri  ^v  slvai,  da  das  ohne  Zweifel  allein  die  Seele, 
besonders  der  vovg  ist.  Und  doch  steht  gerade  diese  Definition 
als  Beispiel  des  reinen  slöog  Mei  Z  12:  man  soll  eben  nur  das 
Verhältnis  von  Gattung  und  Art  an  ihr  ins  Auge  fassen,  das 
hier  in  seinem  populärsten  Falle  sich  darbietet  (daher  auch 
nur:  2öra>  yäg  ovrog  avxov  Xoyog).  ^(pov  öbtovv  ist  vielmehr 
die  Definition  des  ovvoXoVj  des  mit  der  Materie  verbundenen 
döoqx  fttr  diesen  Menschen  (allgemein  genommen)  sind  Beine 
und  Arme  wesentlich;  er  ist  nicht  mehr  '^xVj  sondern  sfitpvxov, 
und  ein  solches  soll  man  ja  grundsätzlich  definieren  rotg  xoi- 
voZq  BQ-foig  xov  Oci/iaxog  xal  xfjg  tpvx^jg  (de  part  an.  643  a  15). 
So  ist  der  merkwürdige  Schlufs  von  ZU  der  Metaphysik 
1036  b  21  ff.  zu  verstehen:  ov  yäg  ndvxcog  xov  dvß^Qcijtov 
fiiQog  rj  x^Qf  ^^^^  ^  öwafiivi]  xo  iQyov  djtoxeXelv,  Söxs  sfi- 
Jl>vxog  ovaa\  die  ganze  Stelle  hängt  mit  de  part.  an.  3  innig 
zusammen.  Es  handelt  sich  in  ihr  also  um  das  ^(pov  als  ein 
xoöe  hv  xw6s  (1036  b  23),   als   ein   ^g  dfiq)Otv  cog  xa&^ojiov, 

rbUoMphitohe  Abhudlangen.    XXXXIV.  8 


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114 

und  bei  einem  solchen  kann  allerdings  niebt  von  aller  Materie 
abstrahiert  werden  (vgl  auch  die  Tabelle  Seite  86). 

Ebenso  ist  die  Definition  der  Kngel  xb  Ix  fiiaov  oji^uc 
löop  docb  im  Gründe  die  der  mathematischen,  aasgedehnten 
Engel.  Ein  ganz  reines  elöocj  der  ywxfj  entsprechend,  wire 
vielleicht  nur  durch  die  Gleichung  x2  +  y*  +  z»  =  r*  zu  er- 
reichen, also  durch  eine  Zahlbeziehung.  Es  ist  deshalb  inter- 
essant, da£s  Aristoteles  tatsächlich  einmal,  als  es  darauf  ankommt 
das  reine  elöog  der  Länge  ohne  Ausdehnung  (avrsx^g  de  an. 
429  b  18  f.)  anzugeben,  sagt:  lo^rco  /«(>  &vdg —  nach  platonischem 
Muster  nattlrlich,  aber  doch  offenbar  ohne  seinem  Lehrer  hier 
Unrecht  zu  geben.  Man  sieht,  auch  die  aristotelischen  eUr^ 
steuern  in  ihren  letzten  Eonsequenzen  auf  die  reinen  Zahl- 
beziehungen {(lixQOv  jtQog  (iirQOv,  Phil.  25  b  1)  zu,  nnd  ich 
zweifle  nicht,  dals  in  diesem  Sinne  die  Umbildung  der  Ideeo 
in  Zahlen  von  Plato  gemeint  war.  Nattlrlich  konnte  der  pytha- 
goreisch-mystische Unsinn,  den  die  Akademie  damit  trieb,  von 
der  ernsten  Wissenschaft  aus  nicht  scharf  genug  bekämpft 
werden. 

5.  Die  Stelle  de  an.  T  6,  430  b  16  f.  ist  leider  verdorben; 
vielleicht  ist  hier  unsere  Auffassung  des  Aristoteles  imstande, 
eine  Verderbnis  zu  heilen.  Die  Worte  eveöri  yag  xdv  tovtok 
XL  döialQBxov  zeigen  erstens,  dafs  vorher  c^JU'  y  ddud^c 
nicht  fehlen  darf;  denn  gerade  das  soll  erklärt  werden,  und 
zweitens,  dafs  der  Schriftsteller  zu  neuen  (xa/)  Gegenständen 
tibergegangen  ist,  die  im  nächsten  Satze  mit  dem  owexh  auf 
eine  Stufe  gestellt  werden:  das  konnten  aber  niemals  die  ädr^, 
sehr  wohl  jedoch  xd  i§  dq>aiQic%(Dq  Xey^fieva,  wie  429  b  18  19 
beweist.  Somit  sind  diese  die  neuen  Gegenstände,  nnd  ich 
möchte  ergänzen  vor  xaxd  cvfißsßTpcöc  61^  welches  sowieso  mit 
dem  Vorangehenden  in  keiner  Verbindung  steht:  xd  i'iv  c^ct- 
giaei  Xeyofieva  voet  kv  dtatQsxcp  XQ^^  ^^^  öiatgextp  r^g  V^'ri^^ 
was  nach  dem  Vorangehenden  rein  mechanisch  leidit  über- 
sprungen werden  konnte.  Also  zu  verstehen  ist:  „die  abstrakten 
Gegenstände  denkt  die  Seele  in  teilbarer  Zeit  nnd  einem 
zusammengesetzten  seelischen  Akte,  freilich  nur  unweseotlicb 
und  nicht  als  jenes,  nämlich  teilbar  nach  Zeit  und  Seelenakt^ 
sondern  als  unteilbar." 


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115 

6.  Wir  rnttfaten  uns  eigentlich,  wenn  wir  vom  voi}g  xottj- 
Tixög  reden,  mit  der  Brentano -Zellerschen  Kontroverse  ans- 
einandersetzen,  welches  wohl  eine  der  interessantesten  Aufgaben 
wäre;  ich  habe  mich  in  sie  erst  vertieft,  nachdem  mir  die  Re* 
snltate  meiner  Arbeit  feststanden,  nnd  ich  fand,  dafs  ich  anch 
zur  Benrteilnng  dieser  Streitfrage  eine  ganz  selbständige  Position 
gewonnen  habe.  Doch  nm  entscheiden  zn  können,  mttfsten  wir 
die  fragliehen  Stellen,  namentlich  de  an.  III,  4—8  einer  erneuten 
genauen  Interpretation  unterziehen.  Hier  möchte  ich  nur  ein 
Beispiel  herausgreifen,  um  zu  zeigen,  wie  frei  namentlich 
Brentano  mit  dem  Texte  verfährt  Ich  will  durchaus  nicht 
Zeller  in  allem  beitreten,  aber  ich  gestehe,  dafs  ich  Brentanos 
Interpretation  nicht  zu  folgen  vermag.  In  seiner  neuesten  Streit- 
schrift „Aristoteles'  Lehre  vom  Ursprung  des  menschlichen 
Geistes^  (Leipzig  1911)  spielt  wohl  die  wichtigste  Rolle  die 
Stelle  A  3  der  Met  1070  a  21  f.  (vgl.  S.  16-18  des  gen.  Werkes). 
Ich  möchte  kurz  zeigen,  daij9  auch  diese  Stelle  zum  mindesten 
durchaus  nicht  sicher  ftlr  Brentano  spricht 

Wir  beginnen  mit  der  Erklärung  1070  a  13.  Bei  Einigem, 
meint  Aristoteles,  gebe  es  ein  rööe  n  nicht  neben  der  zusammen- 
gesetzten Substanz,  wie  z.  B.  das  elöog  des  Hauses  nicht  selb- 
ständig neben  dem  Hause  bestehe,  es  sei  denn,  man  suche  dieses 
in  der  rix^ij;  dann  sei  aber  darin  keine  vXtj  mehr  vorhanden 
(welche  also  vorher  doch  darin  war),  und  bei  einer  solchen 
Substanz  verlören  die  Begriffe  yiveou;  und  (jpd^oQo.  überhaupt 
ihre  Anwendnngsmöglichkeit  Wenn  es  aber  einiges  gebe,  bei 
dem  ein  xoöb  xi  neben  der  övvd-irrj  ovöla  bestehe,  so  sei  dies 
nur  bei  den  q}vosi  ovxa  der  Fall.  Aristoteles  schliefst  also  die 
dÖTj  ävBv  vXrjg  hier  überhaupt  von  der  Betrachtung  aus.  Denn 
dafs  reines  tlöog  und  vXi]  beide  vorher  vorhanden  sein  mttssen, 
ist  klar  und  wird  in  den  zu  dieser  Stelle  parallelen  Ausführungen 
Z  7 — 9  vielfach  betont:  1034  b  12  dsl  yäg  öst  jtQOv^dgxsiv  rr/v 
vXfjv  xal  TÖ  slöog;  1032  b  11:  wäre  öv/ißalvsi  TQOjtov  xivä  ^g 
vyulag  xtjv  f^^^vöa^^  ylyvBO&^ai  xal  xtjv  olxlav  l§  olxlag,  xfjg 
ävsv  vXfjg  X7)v  Ixovoav  vXtjr '  ^  yäg  laxQix/j  ioxc  xal  ^  oixo- 
öofiiXT]  xd  slöog  xfjg  vyislag  xal  xfjg  olxlag  *  Xiy(X)  de  ovölav 
ävev  vXrjg  xd  xl  fjv  elvai;  vgl.  noch  1034  a  21.  Auch  an  unserer 
Stelle  wird  doch  mit  el  fi^  f)  xix^i]  die  olxla  ävev  vXfjg  als 
sehr  wohl  vor  dem  sinnfälligen  Hause  bestehend  ausgenommen. 

8* 


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116 

Es  folgt  dann  eine  Zwisclienbemerknng  tlber  die  Ideen.  Dano 
heifst  es:  rä  /isv  ovv  xivovvta  atxca  (d.  h.  rä  (pvoei)  (oq  jtQO- 
yhysvTiiiiva  ovra,  rä  &  wq  6  X&foq  äfia  (d.  h.  rä  rixvij).  Waa 
mit  xä  &  ccq  6  Xoyoq  gemeint  sei,  geht  ans  den  nachfolgenden 
Beispielen  hervor  vyUux  nnd  Oxfjfia  rfjg  xaXxfjq  öipalQaq,  also 
dasselbe,  was  oben  olxlaq  xb  slöog  hiefs,  wovon  otxla  ai'tv 
vXi]q  noch  geschieden  werden  mnfste,  nicht  aber  die  xQwrii 
ovala,  das  reine  elöog.  Das  Wort  Xoyog  nämlich  hat  eine 
viel  weitere  Bedentnng  als  slöog  oder  6Qia/i6g;  es  amfafst  %.  B. 
aach  die  cbidösi^ig;  aach  das  Abstraktallgemeine  fällt  daronter 
1030  a  14  f.  (s.  0.  Seite  83),  ja  sogar  die  alod^öig  ist  ein  Xoyo: 
(de  an.  424  a  27  f.).  Also  besagt  unsere  Stelle  nnr:  dafs  bei 
den  künstlich  hervorgebrachten  Gegenständen  ein  ebensolcher 
vorher  noch  nicht  vorhanden  zu  sein  braucht;  die  allgemeioe 
Engel  entsteht  erst  mit  der  individuellen,  wogegen  das  reine 
elöog  natürlich  in  der  x^x^tj  im  Verstände  des  Hervorbringenden 
vorhanden  gewesen  sein  mnfs.  Damit  dagegen  ein  Mensob, 
überhaupt  ein  q)vaei  ov,  zustande  komme,  müsse  vorher  ein 
Mensch  schon  existieren,  also  nicht  nur  das  reine  döog  eines 
solchen,  sondern  auch  das  mit  der  Materie  verbundene.  Dann 
erst  folgen  die  für  Brentano  entscheidenden  Worte,  die  aber 
vielmehr  gegen  ihn  entscheiden,  wenn  man  nämlich  das  vrirklich 
entscheidende  Wörtchen  nicht  ausläfst:  el  61  xal  voxbqov  ri 
vjcofievei,  axajcxiov.  Es  ist  doch  etwas  anderes,  ob  ich  sage: 
„ob  aber  später  noch  etwas  fortbesteht,  mufs  untersucht  werden'' 
(so  Brentano  S.  18),  oder  ob  ich  sage:  „ob  aber  aueh  später 
noch  etwas  fortbesteht,  muls  untersucht  werden'^.  In  diesem 
letzten  Falle  nämlich  habe  ich  offenbar  bereits  dargetan,  daJjB 
vorher  jedenfalls  etwas  bestanden  habe,  während  die  entgegen- 
gesetzte Deutung  lediglich  durch  die  willkürliche  Nichtbeachtung 
von  xal  zustandekommt  Auch  Zeller  hat  ihn  hier  nicht  korri- 
giert.  Überhaupt  enthält  seine  Interpretation  manches  Ab- 
stölsige:  ein  individuelles  sldog  olxlag  z.  B.  gibt  es  meiner 
Ansicht  nach  nicht,  sondern  damit  ist  das  Abstraktallgemeine: 
TcXlvB-oc  xal  ^vXa  cool  xslfisva  gemeint,  also  das  öxixaöfia  öir 
xfi  vXy  cpg  xad-öXoVj  die  platonischen  Ideen  in  aristotelischer 
Auffassung.  Schlielslich  würde  ich  nicht  von  einer  Präexistenz 
des  vovg  jioi7/rcx6g  sprechen;  denn  der  ist  ja  vollständig  zeitlos^ 
sondern  vielmehr  von  einer  Präexistenz  des  vovg  im  Vater  des 


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117 

Menschen:  dies  ist  A  S  gemeint.  Aber  darin  hat  Zeller  sicher 
recht:  der  vovq  konnte  nicht  dd-dvaroq  nnd  ätötoq  genannt 
werden,  wenn  er  zu  einer  bestimmten  Zeit  geschafifen 
worden  wäre. 

7.  Der  Begrifif  der  Erfahmng,  wie  sie  in  An.  post.  II,  19  nnd 
Met.  A 1  entwickelt  wird,  hat  wenig  Beziehung  zn  der  Theorie 
der  Induktion,  die  Aristoteles  An.  pr.  II,  23,  24  aufstellt.  Diese 
Ansführnngen  sind,  als  Theorie  der  eigentlichen  Induktion  be- 
trachtet, völlig  unzulänglich  (vgl.  B.  Erdmann,  Logik  I^  §  578), 
und  wir  können  zudem  gar  nicht  begreifen,  dafs  diese  so- 
genannte vollständige  Induktion,  die  An.  pr.  II,  23  ausdrücklich 
gefordert  wird,  von  Aristoteles  verlangt  werde,  um  die  Ausgangs- 
punkte ftir  die  Syllogismen  zu  vermitteln.  Dagegen  kann  der 
Weg  der  Erfahrung,  wie  ihn  namentlich  Met.  A  1  schildert,  diese 
Aufgabe  sehr  wohl  in  Angriff  nehmen.  Den  Unterschied,  der 
zusammenfällt  mit  dem  zwischen  der  Betrachtungsweise  der 
Analytik  und  der  Dialektik,  haben  wir  uns  etwa  folgender- 
malsen  zu  verdeutlichen. 

In  den  Analytiken  handelt  Aristoteles  von  den  Syllogismen, 
nnd  wenn  er  auf  andere  Formen  des  logischen  Denkens  zn 
sprechen  kommt,  so  will  er  jedesmal  nur  deren  Beziehung  zu 
Sehltlssen  klarlegen,  sie  womöglich  auf  solche  zurttckfübren. 
Dies  war  bei  der  hjcaymyi]  nur  flir  die  Form  der  vollständigen 
Induktion  möglich,  bei  der  der  Untersatz  rein  umkehrbar  ist. 
Kur  in  diesem  Falle  hat  denn  auch  der  Schluüssatz  andere  als 
hypothetische  Geltung.  Aber  Aristoteles  kennt  auch  die  eigent- 
liche (jetzt  wohl  „unvollständig''  genannte)  Induktion;  nur 
müssen  wir  eine  Erörterung  über  sie,  die  ja  stets  ein  hypo- 
thetisches Moment  enthält,  in  der  Topik  suchen,  wo  ja  über- 
haupt die  auf  den  allgemeinen  Annahmen  aufbauenden  Yer- 
fahrungsweisen  behandelt  werden.  Da  heilst  es  denn  105  a  13: 
Ijtayoyij  öh  fj  cbtb  rcov  xad-^  ixaorov  ijtl  rä  xad-oXov  e(po6og, 
olov  el  eari  xvßEQV^xrjc;  6  ijtiordfievog  XQdTiorog  xal  ^vloxog 
xal  ojicog  ioxlv  6  kjciardfievog  jtegl  ixaoxov  ägicrog.  Auch 
wird  die  Beziehung  zur  Wahrnehmung  betont,  mit  der  zu- 
sammen sie  dem  Syllogismus  gegenübertritt:  iari  6s  r)  ftlv 
Ijiayoyi  jciO-avoirsgov  xal  öatpBöxBQOv  xal  xarä  xrjv  aHoO^rjöiv 
yvcoQiiioixBQov    xal    xolg   noXXolg   xoivov,    o   de   OvXXoyiOfiog 


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118 

ßiaarixcitBQOv  xa\  jrpd^  rovg  dvriXofixovq  hao^iotepop.  Thh 
Aristoteles  keineswegs  Toraussetst,  es  mülsten  alle  eiDzeben 
Fttlle  registriert  sein,  damit  man  einen  allgemeinen  Satx  ab 
induktiv  begründet  hinstellen  könne,  geht  am  besten  ans  seinei 
Anweisung  hervor,  wie  man  einem  induktiv  gefundenen  Satze 
entgegenzutreten  habe:  153a  34  orav  &  imir/ovroq  btl  xoXk&v 
ftrj  öiöm  rö  xa&öXov,  zore  ölxaiov  djcaiTBlv  tporaöiv;  fthnlieh 
&  cap.  YIIL  Auch  finden  sich  Ansätze  zu  einer  Theorie  dieser 
Art  der  Induktion:  sie  beruht,  so  lehrt  der  Philosoph,  auf  iet 
Ähnlichkeit  der  untersuchten  mit  den  nicht  geprüften  Flllen 
und  gleicht  insofern  sehr  dem  Analogieschlüsse;  nur  dafs  dieser 
auf  die  nicht  geprüften  Fälle  allein  schliefst,  während  die 
Induktion  zu  einem  allgemeinen,  alle  Fälle  befassenden  Satze 
hinstrebt:  108  b  7  f.  und  besonders  152  b  10— 17.  In  derMeU- 
physik  1048  a  35  f  finden  wir  eine  schöne  Parallele:  öfßov 
ß*ijtl  rc5v  xad-^  ixacra  rf]  ijtayayyfj  6  ßovXöfied-a  jidysip  xai 
ov  öel  navrbq  ogov  ^ijTetv  dXXä  xai  tb  ävdXofov  awogär. 
Überhaupt  ist  mit  hnar[orfri  meist  die  Induktion  im  Sinne  der 
Topik  gemeint/  z.  B.  Met.  1055  b  18;  An.  posi  71  a  9—10.  Dab 
endlich  Aristoteles  diesem  Induktionsschlusse  nur  hy]K)theti8eIie 
Geltung  einräumt,  geht  daraus  hervor,  dals  er  ihn  in  der 
Topik  behandelt;  man  vgl.  noch  An.  postll,  5,  91  b  14/15,  wo 
ebenfalls  die  hjcaycoyiq  als  Beispiel  eines  nicht  strengen  Sehlusses 
angeführt  wird.  Sonst  finden  wir  bei  unserm  Philosophen 
weiter  keine  Erörterung  etwa  über  den  Grundsatz,  der  diese 
induktive  Denkweise  charakterisiere,  oder  den  Recbtsgrnnd, 
auf  dem  logisch  genommen  seine  Geltung  beruhe.  Dahtf  sind 
wir  auch  nur  im  Anhange  auf  die  Frage  eingegangen. 


Berichtigang: 
S.  2,  Z.  11  y.  u  lies  g  U,  Abs.  4  statt  §  35,  Abs.  3. 


Druck  Ton  Ehrhardt  Ksitm  G.  m.  b.  H.  in  HaUe  (Sude). 


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Verlag  von  Max  Nlemejer  in  Halle  a.  & 

Bergmann,    Hugo,    Das   Unendliche  und   die   Zahl.     1913.    8.    VII 

88  8.  Jb  2,o'' 

—  Das  philosophische  Werk  Bemard  Bolzanos.     Mit  Benutzung  un- 

gedmckter  Quellen  kritisch  untersucht.  Nebst  einem  Anhange 
Bolzanos  Beiträge  zur  philosophischen  Orundlegnng  der  Mathe- 
matik.    1909.     8.     XIV,  230  S.  Jh  7,- 

Eisenmeier,  Josef,  Die  Psychologie  und  ihre  zentrale  Stellung  in  de: 
Philosophie.  Eine  Einftthrung  in  die  wissenschaftliche  Phil<- 
sophie.     1914.     8.     VIII,  111  S.  J5  3,20 

Festschrift  für  Alois  Rieh!.  Von  Freunden  und  Schülern  zu  seinem 
70.  Geburtstage  dargebracht     1914.     8.     VII,  522  8.    Jh  H,- 

Freytag,  W.,  lieber  den  Begriff  der  Philosophie.  Eine  kritische 
Untersuchung.     1904.     8.     47  S.  jH  1  - 

—  Die  Entwicklung  der  griechischen  Erkenntnistheorie  bis  Aristoteles 

In  ihren  Grundzügen  dargestellt.    1905.    8.    IV,  126  S.    Jk  l- 

Gallinger,  August,  Zur  Grundlegung  einer  Lehre  von  der  Erinnernn^. 
1914.     8.     IV,  149  8.  Jk  4- 

Goedeckemeyer,  Albert,  Die  Gliederung  der  aristotelischen  Philosophie. 
1912.     8.     VI,  144  S.  Jk  4- 

Husserl,  Edmund,  Logische  Untersuchungen.  2  Bände  in  3  TeileD. 
2.  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage.     1913.     8. 

1.  Prolegomena  zur  reinen  Logik.    1913.    XII,  257  S. 

geb.  ^6—;  gebd.  JlS.2:^ 

2.  Untersuchungen  zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Eriienntnis. 
2  Teile.    I.  Haltte.     1913.    XI,  508  S.    geh.  Jk  14,-;  gebd.  Jk  16.  >i) 

Kraus,  Oslcar,  Die  Lehre  von  Lob,  Lohn,  Tadel  und  Strafe  bei 
Aristoteles.     1905.     8.     X,  78  S.  .il  2.40 

—  üeber   eine   altüberlieferte  Missdeutnng   der  Epideiktischen  Rede- 

gattung bei  Aristoteles.     1905.     8.     30  S.  Jk  1,— 

—  Neue  Studien  zur  Aristotelischen  Rhetorik,  insbesondere  fiber  dss 

yivoq,  IjiL&WKxvKOv,     1907.     8.    IV,  117  S.  Jk  3,- 

Losskij,  Nikolaj,  Die  Grundlegung  des  Intnitivismus.  Eine  pro- 
pädeutische Erkenntnistheorie.  Uebersetzt  von  Johann  Strauch. 
1908.     a     IV,  350  S.  Jk  8,' 

Riehl,  Alois,  Immanuel  Kant.  Rede  zur  Feier  des  hundertjfthrigeD 
Todestages  Kants  gehalten  in  der  Aula  der  Universitilt  Halle- 
Wittenberg.     1904.     kl.  8.     30  8.  '  Jl  0,60 

—  Plato.     Ein  populär-wissenschaftlicher  Vortrag.     2.  durchgesehene 

Auflage.     1912.     8.     35  S.  Jl  0,60 

Spranger,  Eduard,  Lebensformen.  Ein  Entwurf.  1914.  8.  110  S.  ^2,40 

Druck  von  Ehrhardt  Karras  Gr. m.b.H.  in  Halle  (Saale). 


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[ABHANDLUNGEN 
ZUR   PHILOSOPHIE  UND  IHRER  GESCHICHTE 

HERAUSGEGEBEN  VON  BENNO  ERDMANN 
XLV 


IM/ 

ZUR  CHARAKTERISTIK 

VON 

MACH'S  ERKENNTNISLEHRE 


RUDOLF   THIELE 


HALLE  A.  S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMBYER 

1914 


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I  I 

l 


I 


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ABHANDLUNGEN 

ZUR 


PHILOSOPHIE 

UND  IHRER  GESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

BENNO   ERDMANN 


FCNFUNDYIEBZieSTES  HEFT 

EÜDOLF  THIELE 

ZUR  CHARAKTERISTIK   TON  MACH'S  ERKENKTNISIjBHRB 


HALLE  A.S. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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ZUR  CHARAKTERISTIK 


VON 


MACH'S  ERKENNTNISLEHRE 


VON 


RUDOLF   THIELE 


HALLE  A.  S. 
VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1914 


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Fräulein  Wera  Kosstowa 


in  herzlicher  Freundschaft  gewidmet 


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Inhalt 

Seite 
Emleitmig 1 

I.   Allgemeine  ChankterisieniDg  yod  Maohs  erkenntDlstheoretischem 

Standpankt 6 

IL  Die  Elementenlehre.    Psychisches  und  Physisches 27 

III.  Ding  mid  Ich,   der  Sabstansbegriff.     Die   Hypothese   fremden 

Bewuiatseins 45 

IV.  Der  Eansalbegriff  und  sein  Ersatz  doroh  den  Fanktionsbegrlff. 

Beschreibung  nnd  Erklärung 71 

y.  Machs  Stellongnahme  gegen  den  natarwissenschaftllchen  Realis- 
mus.   Anfgabebestimmang  der  Wissenschaft 94 


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Einleitang. 


Die  YorUegende  Arbeit  verfolgt  zunäehst  den  Zweck,  eine 
Daratellang  und  Yerdeutliehnng  der  Macbschen  Erkenntnis* 
lehre  in  ihren  wesentlichen  Zttgen  zu  geben.  Bei  der  Mannig- 
faltigkeit von  Gegenständen  philosophischen  nnd  speziell 
erkenntnistheoretischen  Interesses,  die  Mach  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtungen  gezogen  hat,  dttrfte  der  Versuch  sich 
rechtfertigen,  einmal  durch  schärfere  Herausarbeitung  der 
leitenden  Gesichtspunkte  den  eigentlichen  Grnndcharakter 
seiner  Lehren  zu  bezeichnen.  Das  Eigentttmliche  aber  des 
Maehschen  Standpunktes  ins  rechte  Licht  zu  rttcken  scheint 
nichts  geeigneter,  als  die  Übereinstimmungen  sowohl  als  die 
Unterschiede  gegenüber  jenen  philosophischen  Lehrmeinungen 
hervorzuheben,  als  deren  Fortbildung  und  Umbildung  man  die 
Maehsehen  Aufstellungen  in  sachlicher  Hinsicht  zu  betrachten 
hat  Damit  mrd  diesem  Standpunkte  zugleich  sein  historischer 
Ort  in  der  allgemeinen  philosophischen  Problementwicklung 
angewiesen. 

Ausgehend  ttberall  von  einzelwissenschaftlichen  Gesichts- 
punkten, aber  die  Grenzen  des  Spezialgebietes  hinter  sich 
lassend,  ist  Mach  zu  einer  allgemein-philosophischen  Orientierung 
gelangt,  die  ebensoviel  Zustimmung  wie  Ablehnung  in  den 
philosophisch  und  naturwissenschaftlich  interessierten  Kreisen 
erfahren  hat,  jedenfalls  aber  in  der  Diskussion  philosophischer 
Prinzipienfragen  eine  hervorragende  Rolle  spielt  und  weiter 
zu  spielen  bestimmt  sein  dttrfte.  Neben  den  im  engeren  Sinne 
erkenntnistheoretischen  Problemen  hat  Mach  besonders  erkenntnis- 
psyehologisehen  und  -biologischen  Fragen  sein  Interesse  zu- 
gewandt   Er  ist  dem  wissenschaftlichen  und  dem  vorwissen- 

PhUoiophiNbe  Ablumdlnngen  XXXXV.  1 


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Bchaftliehen  Denken  anf  seinen  vielfach  versehlnngenen  Pfaden 
nachgegangen  nnd  hat  insbesondere  Überall  sich  bemttht,  die 
Motive,  welche  den  Natarforscher  bei  seiner  Arbeit  leiten, 
psychologisch  zn  dorchlenchten.  Indem  er  die  Erkenntnis- 
tätigkeit als  eine  den  allgemeinen  biologischen  Gesetzen  unter- 
stellte Lebensänfsernng  anffafste,  indem  er,  gewifs  nieht  als 
der  erste  nnd  einzige,  den  Entwicklnngsgedanken  im  Sinne 
Darwins  anf  den  Werdegang  der  Wissenschaft  anwandte,  hat 
er  bedeutsame  Beiträge  zn  einer  Biologie  der  Forschnng 
geliefert.  Die  Lehre  von  der  Umbildang  nnd  Anpassung  der 
Gedanken,  die  Auffassung  der  Wissenschaft  als  einer  von  dem 
Ökonomieprinzip  beherrschten  Erscheinung  bilden  wohl  die 
bemerkenswertesten  Gesichtspunkte,  die  diese  Betrachtungs- 
weise hervorgebracht  hat.  Eine  ausgezeichnete  Kenntnis  der 
Geschichte  der  Naturwissenschaften,  die  Mach  in  einer  Reihe 
von  historisch-kritischen  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  Physik 
bewiesen  hat,  sichert  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  eine 
stabile  Grundlage. 

Diese  erkenntnispsychologischen  und  erkenntnisbiologischen 
Ausführungen,  ebenso  wie  die  verschiedenartigen  logisch- 
methodologischen  Untersuchungen,  die  sich  auf  GegenstiLnde 
wie  das  Experiment  und  Gedankenexperiment,  die  Hypothese, 
das  Problem,  Induktion  und  Deduktion  usw.  beziehen,  sollen 
in  folgendem  nicht  besonders  erörtert  werden.  So  sehr  diese 
Gedankengänge  auch  mit  der  Machschen  Grundttberzengiing 
zusammenhängen  und  dieselbe  in  mannigfacher  Weise  ra 
beleuchten  geeignet  sein  mögen,  so  liegt  doch  ein  Eingehen 
auf  sie  jedenfalls  aufserhalb  des  Planes  unserer  sich  auf 
Prinzipielles  beschränkenden  Darstellung.  Bei  dieser  Be- 
schränkung entftlllt  auch  die  Notwendigkeit  einer  spezielleren 
und  zusammenhängenden  Erörterung  der  Liehren  von  Sanm, 
Zeit  und  Mathematik  bei  Mach.  Im  allgemeinen  ist  ja  die 
Art,  wie  diese  Gegenstände  behandelt  werden,  in  der  Tat 
ganz  besonders  geeignet,  einen  philosophischen  Standpunkt  in 
erkenntnistheoretischer  Hinsicht  zu  charakterisieren.  Für  die 
Kennzeichnung  der  Machschen  Position  jedoch  ist  sie  nieht 
eigentlich  mafsgebend,  nicht  mehr  jedenfalls,  als  das  etwa  bei 
Hume  der  Fall  ist.  Diese  Ausführungen  bei  Mach,  die  sich 
auf  rein  empiristischen  Voraussetzungen  bewegen,  beusprueben 


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3 

in  der  Hauptsache  ein  psychologisches  underkenntniBgenetisches 
Interesse.  Die  Beiträge  zur  „Psychologie  and  natürlichen  Ent- 
wicklung der  Geometrie'',  die  Untersnchnngen  ttber  die  Be« 
Ziehungen  des  „physiologischen  Banmes",  d  i.  des  Banmes  der 
Sinneswahrnehmong,  znm  metrischen  (spez.  Enklidisehen) 
Banme  sowie  die  analogen  Betrachtangen  ttber  die  Zeit  stehen 
im  Mittelpunkte  dieser  Aasftthrangen.  Daneben  kommen 
besonders  in  Betracht  die  Erörterangen  ttber  den  „physikalischen 
Baam^  and  die  „physikalische  Zeit'',  die,  ebenso  wie  die 
kritische  Untersachong  weiterer  Grandbegriffe  der  Physik,  für 
die  erkenntnistheoretische  Fandierang  dieser  Wissenschaft 
bedeatsam  sind,  and  aaf  die  wir  karz  eingehen  werden. 

Aaf  eine  systematisch  zasammenhängende  Darstellang 
seiner  E^kenntnislehre  hat  Mach  verzichtet.  Vielmehr  finden 
sich  seine  erkenntnistheoretischen  Lehren  mit  den  oben  bertthrten 
Gedankenreihen  in  einer  Weise  yerflochten,  die  es  nicht  immer 
ganz  leicht  macht,  beides  reinlich  aaseinanderzahalten.  Eine 
solche  Trennang  ist  aber  im  Interesse  einer  genaaen  Bezeichnung 
der  Problemlage  darchaas  notwendig,  da  es  za  irrtttmlichen 
Aaffassangen  ftthren  maus,  wenn  man  etwa  Aasftthrangen,  die 
rein  biologisch  gemeint  sind,  ohne  weiteres  erkenntnistheoretisch 
interpretieren  wollte.  Derartige  Yerwechselangen,  die  ja  darch 
die  Art  der  Machschen  Darstellang  nahegelegt  sind,  scheinen 
in  der  Tat  nicht  selten  za  Yerkennangen  seines  Standpunktes 
Yeranlassong  gegeben  zu  haben. 

Bei  unserer  Darlegung  der  Machschen  Erkenntnislehre 
werden  wir  besonders  auf  eine  Seite  derselben  Rttcksicht 
nehmen,  die  wir  mit  einem  später  genau  zu  bestinunenden 
Ausdruck  als  die  phänomenologische  bezeichnen  wollen. 
Es  soll  schon  hier  bemerkt  werden,  dafs  die  phänomenologische 
Betrachtungsweise  bei  Mach  nicht  in  voller  Reinheit  durch- 
geführt ist,  daiÜ9  vielmehr  andere  Auffassungen  daneben  sich 
geltend  machen,  so  indessen,  daüs  der  hervorgehobene  Gesichts- 
punkt ohne  Zweifel  der  malsgebende  bleibt  Die  phäno- 
menologische Analyse  des  unmittelbaren  Tatbestandes 
nnd  die  phänomenologische  Aufgabebestimmung  der 
Wissenschaft  scheint  uns  das  eigentlich  Charakteristische 
sowohl  als  Bedeutsame  der  Machschen  Aufstellungen.  Die 
Heraushebung    dieser   Gesichtspunkte    und    die    Vereinigung 

1* 


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derselben  zu  einem  mttglichfit  geschlossenen  Bilde,  das  das  Wert- 
volle dieser  Anschaaang  erkennen  läfst,  soll  neben  der 
eigentlichen  Darstellung  und  Yerdentliehnng  der  Machsehen 
Gedankengänge  das  wesentliche  Ziel  dieser  Arbeit  sein. 


Die  Schriften  Machs  sind  folgendennafsen  zitiert  worden: 

A.  d.  E.  Die  Analyse  der  Empfindungen    nnd    das  Verhältnis 

des     Physischen     zum    Psychischen,     6.  Anfl.  1911, 

(1.  Aufl.  1885). 
E.  u.  J.  Erkenntnis  und  Irrtum  . . . ,  2.  Aufl.  1906,  (1.  Aufl.  1905). 
P.  V.      Populärwissenschaftliche    Vorlesungen,    4.  Aufl.  1910, 

(1.  Aufl.  1896). 
W.  L.     Die   Prinzipien   der  Wärmelehre  . . . ,    2.  Aufl.    1900, 

(1.  Aufl.  1896). 
M.  Die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung . . . ,  7.  Aufl.  1912, 

(1.  Aufl.  1888). 
E.  d.  A.  Die  Geschichte  und  die  Wurzel  des  Satzes  you  d^ 

Erhaltung  der  Arbeit,  1872,  Neudruck  1909. 

B.  E.      Grundlinien  der  Lehre  von  den  Bewegungsempfindungen, 

1875. 
S.  E.      Sinnliche  Elemente  und  naturwissenschaftliche  Begriffe, 
Pflttgers  Areh.  f.  d.  ges.  Physiol.  Bd.  186,  1910,  S.  263. 
L.  Die  Leitgedanken  meiner  naturwissenschaftlichen  Er- 

kenntnislehre   und   ihre  Aufnahme   durch    die    Zeit- 
genossen, „Scientia''  Rivista  di  Scientia  Bd.  VIL  14, 
S.  225;  auch  Physikalische  Ztschr.  Bd.  11,  1910,  S.599. 
Von  den  yielenkleinerenZeitschriftenartikeln  und  Akademie- 
abhandlungen Machs,  meist  physikalischen  oder  physiologischen 
Inhalts,  sind  die  wichtigsten  in  den  bereits  zitierten  Populär- 
wissenschaftl.  Vorlesungen  zum  Abdruck  gekonmien.  Die  übrigen 
enthalten  nichts  von  prinzipieller  Bedeutung,  das  nicht  in  den 
genannten  HauptschriÄen  genttgende  Berücksichtigung  gefanden 
hätte,  und  brauchen  daher  fbr  unsere  Zwecke  nicht  heran- 
gezogen zu  werden. 


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L  AUgemeine  Charakterisierung  Yon  Machs 
erkenntnistheoretischem  Standpunkt 

1.  Die  StelluDg  eines  Denkers  zum  Realitätsproblem 
ist  fttr  die  Kennzeichnung  seines  erkenntnistheoretischen  Stand- 
punktes Yon  mafsgebender  Bedentnng;  denn  sie  begründet  ja 
so  fandamentale  Unterschiede  der  Orientiemng,  wie  sie  sich 
in  dem  Gegensatz  von  Bealismas  und  Idealismus  aussprechen. 
Mit  dem  Realitätsproblem  aber  in  engem  Zusammenhange 
steht  die  (metaphysische)  Frage  nach  der  Natur  des  Wirklichen, 
des  als  real  Erkannten,  deren  Lösungsversuche  durch  Aus- 
drücke wie  Materialismus,  Spiritualismus,  Dualismus  usw. 
bezeichnet  sind.  Machs  Stellungnahme  zu  diesen  Fragen  soll 
uns  zunächst  beschäftigen  und  zur  allgemeinen  Charakterisierung 
seiner  erkenntnistheoretischen  Grundüberzeugung  dienen.  Die 
uns  geläufige  Sonderung  der  beiden  verwandten  Probleme,  die 
noch  den  Denkern  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  fast  völlig 
fremd  ist,  ist  auch  bei  Mach  zwar  angedeutet,  aber  nicht 
reinlich  durchgeführt,  so  dals  dies  auch  in  unserer  Darstellung 
nicht  ohne  Eünstlichkeit  zu  erreichen  gewesen  wäre. 

Das  Realitätsproblem  in  allgemeinster  Formulierung  besteht 
in  der  Frage,  ob  sich  in  der  Mannigfaltigkeit  des  unmittelbar 
Vorgefundenen  das,  was  wir  als  wirklich  zu  bezeichnen  haben, 
erschöpft,  oder  ob  sich  im  denkenden  BewuJj9tsein  Momente 
finden,  die  auf  ein  über  diesen  Bestand  hinausgehendes  und 
denselben  bedingendes  Sein  hindeuten.  Die  Bejahung  des 
ersten  Teiles  des  Frage  bezeichnet  den  Standtpunkt  der 
„Immanenzphilosophie^.i)   Alle  anderen  philosophischen  Stellung- 

0  Die  Hauptvertreter  dieser  RichtuDg  sind  Schuppe,  Rehmke,  von 
Sohubert-Soldern  und  Max  Kauffmaon,  letstere  beiden  Denker  mit  einer 
ihnen  eigentümlichen  Betonung  des  erkenntniBtheoretischen  Solipsismus. 


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6 

nahmen  sind  demgegenüber  dadnreh  charakterisiert,  dab  sie 
in  irgend  einem  Sinne  „transscendente^  Faktoren  anerkennen. 
Sie  statuieren  einen  Unterschied  zwischen  BewnJÜBtem  nnd 
Anfserbewnistem  nnd  sehen  in  letzterem  das  den  weehselnden 
Inhalt  des  Bewnistseins  Bedingende.  Dabei  macht  es  ftir  das 
so  festgelegte  Problem  zunächst  keinen  Unterschied,  ob  diese 
aulserbewafsten  Bedingungen  des  Bewuüstseinsinhalts  in  einem 
materieUen  oder,  wie  etwa  bei  Berkeley,  in  einem  geistigen 
oder,  wie  bei  Kant,  in  einem  seiner  Natur  nach  nicht  näher 
zu  charakterisierenden  Realen  angenommen  werden.  Im  engeren 
Sinne  fällt  das  Bealitätsproblem  mit  der  Frage  nach  der 
Existenz  einer  materiellen  Aufsenwelt  zusammen,  und  man 
bezeichnet  nach  herrschendem  philosophischen  Sprachgebrauch 
den  Standpunkt,  welcher  eine  solche  Aufsenwelt  behauptet,  als 
Realismus,  den  entgegengesetzten  als  Idealismus.  Hier  berührt 
sich  das  Realitätsproblem  aufs  engste  mit  der  Frage  nach  der 
Natur  des  Wirklichen  in  dem  oben  bezeichneten  Sinne.  Die  G^gen- 
satzpaare  bewufst  —  aulserbewult,  geistig  —  materiell,  psychisch 
—  physisch  werden  nicht  mehr  scharf  auseinander  gehalten. 
Mit  dem  Idealismus  und  der  Immanenzphilosophie  leugnet 
Mach  die  Existenz  einer  „Aufsenwelt^  im  Sinne  der  gewöhnlichen 
Sprech-  und  Denkweise,  mit  dem  Idealismus  das  Dasein  einer 
materiellen  Aufsenwelt,  mit  der  Immanenzphilosophie  das  einer 
über  den  Bestand  des  unmittelbar  Gegebenen  hinausgehenden, 
aufserbewufsten  Wirklichkeit  überhaupt.  Die  Motive  zu  dieser 
Stellungnahme  uns  deutlich  zu  machen  —  soweit  eine  solche 
Motivierung  überhaupt  gegeben  werden  kann  —  werden  wir 
zweckmäfsig  erst  später  versuchen.  Man  hat  ja  doch  eine 
derartige  Grundüberzeugung,  gerade  wie  die  entgegengesetzte 
realistische,  als  in  einer  ganz  ursprünglichen  Denkrichtung 
wurzelnd  zu  betrachten  und  anzunehmen,  dafs  sie  sich  im 
allgemeinen  bei  ihren  Vertretern  schon  lange  in  voUer 
anschaulicher  Klarheit  vorfindet,  ehe  diese  daran  gehen,  sie 
in  begrifflicher  Form  zu  entwickeln.  Einen  Beweis  fbr  die 
Richtigkeit  seiner  Überzeugung,  etwa  aus  den  unhaltbaren 
Konsequenzen  des  Gegenteils,  wie  ihn  z.  B.  Berkeley  in  seiner 
Polemik  gegen  die  Lockesche  Unterscheidung  der  primären 
und  sekundären  Qualitäten  zu  liefern  versucht  hat,  hat  Mach 
nirgends  ausdrücklich  gegeben.    Er  beschränkt  sieh  vielmehr 


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darauf,  die  Dnrehftihrbarkeit  seiner  Ansichten  aaf  den  von 
ihm  bearbeiteten  wissenschaftlichen  Spezialgebieten  darzntnn, 
sie  als  die  einfachsten  and  „ökonomischsten^,  dabei  völlig 
zulänglichen  zu  erweisen  nnd  damit  einen  nicht  nnwesentlichen 
Ansprach  der  gegnerischen  Position  abznlehnen. 

Darch  die  Yemeinang  der  Aolsenwelt,  die  ihm  mit  dem 
Idealismas  and  der  Immanenzphilosophie  gemein  ist,  ist  aber 
die  Stellang  Macbs  zum  Realitätsproblem  noch  nicht  hin- 
reichend gekennzeichnet.  Während  nämlich  der  Idealismas 
auf  Grand  der  Bestreitang  einer  materiellen  Anlsenwelt  za  der 
Überzeagang  kommt,  dafs  alles  Sein  seiner  Natar  nach  geistig 
sei,  fbr  die  Immanenzphilosophie  aber  die  gesamte  Wirklichkeit 
Bewafstseinstatsache  wird  (Inhalt  eines  „bewnfsten  Ich^  bezw. 
eines  „Bewnfstseins  ttberhanpt^,  Schappe),  gelangt  Mach  za 
einer  wesentlich  anderen  Einsicht.  Er  erkennt  den  Be- 
wnlstseinscharakter  oder  die  psychische  Natar  des 
anmittelbar  Gegegebenen  nicht  an.  Dieser  Umstand 
nnterscheidet  ihn  prinzipiell  von  den  beiden  genannten  Stand- 
pankten,  aber  aach  zugleich  von  den  ttbrigen  Richtungen  der 
Philosophie,  und  bildet  somit  das  eigentlich  charakteristische 
Merkmal  seines  Grundgedankens.  Unsere  Aufgabe  wird  also 
zunächst  darin  zu  bestehen  haben,  uns  den  eigenttlmlichen 
Sinn  dieser  von  der  gewöhnlichen  Orientierang  sich  so  weit 
entfernenden  Auffassung  zu  vergegenwärtigen. 

Wir  gelangen  zu  einem  Verständnis  der  Machschen  Position 
vielleicht  am  zweckmäfsigsten  durch  die  folgende  Betrachtung, 
die  sich  bei  Mach  selbst  nirgends  darchgeftihrt  findet,  sondern 
in  freier  Weise  za  zeigen  versacht,  wie  man  von  den  diesem 
Standpunkte  am  nächsten  stehenden  philosophischen  Über- 
zeugungen aus  zu  demselben  gelangen  kann.  Auf  eine  Voll- 
ständigkeit der  Entwicklung  in  historischer  Beziehung  kann 
dabei  natttrlich  nicht  ausgegangen  werden. 

Indem  man  eine  Tatsache  als  Bewufstseinstatsache,  als 
ihrer  Natur  nach  psychisch  bezeichnet,  meint  man  sie  damit, 
wenn  anders  dieses  Attribut  überhaupt  einen  angebbaren  Sinn 
haben  soll,  in  bestimmter  Weise  zu  qualifizieren.  In  der 
Tat  ist  dies  für  das  Descartessche  Denken  etwa  völlig  selbst- 
verständlich and  unter  den  (dualistischen)  Voraussetzungen 
dieses  Denkens  auch  in  keiner  Weise  zu  beanstanden.    Denn 


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8 

für  diesen  Philosophen  steht  ja  fest,  dafs  Geist  nnd  Materie, 
denkende  nnd  ausgedehnte  Substanz  (snbstantia  eogitans  und 
snbstantia  extensa)  wenn  anch  nicht  gleich  unmittelbar  —  das 
beweist  die  Möglichkeit  des  Zweifels  an  der  Realität  der 
Eörperwelt  — ,  so  doch  beide  in  wohlyerbttrgter  Weise  gegeben 
sind.  Die  beiden  Substanzen  unterscheiden  sich  voneinander 
durch  die  Attribute  des  Denkens  und  der  Ausdehnung  (eogitatio 
oder  conscientia  und  extensio).  Damit  ist  aber  die  eine  gegen- 
über der  anderen  in  genau  bestimmter  Weise  als  ein  Eigen- 
tümliches charakterisiert. 

Bei  Descartes  tritt  die  bereits  in  der  antiken  wie  in  der 
christlich-mittelalterlichen  Philosophie  angelegte  Lehre  von  den 
zwei  Substanzen,  der  körperlichen  und  der  geistigen,  zum 
ersten  Male  in  klarer  und  zugespitzter  Formulierung  auf;  von 
da  ab  bleibt  sie  mit  den  in  ihr  enthaltenen  Problemen 
einer  der  treibenden  Faktoren  in  der  Entwicklung  des 
philosophischen  Denkens.  In  der  durch  die  Rezeption  der 
mechanischen  Naturauffassung  wesentlich  mitbestimmten  grund- 
sätzlichen Unterscheidung  Lockes  zwischen  primären  imd 
sekundären  Qualitäten  ist  diese  dualistische  Auffassung  fest- 
gehalten. Die  Verschiebung  aber  des  Schwerpunktes  der  Frage 
nach  der  erkenntnistheoretischen  Seite  hin,  die  bei  Locke  Euerst 
deutlich  hervortritt,  bringt  ein  ganz  neues  Moment  in  die 
Diskussion  und  bildet  für  die  weitere  Entwicklung  einen 
bedeutsamen  Impuls.  Fttr  jeden  dualistischen  Standpunkt, 
gleichviel  wie  er  gewonnen  sei  und  ob  er  in  rein  metaphysiseher 
oder  in  erkenntnistheoretischer  Wendung  auftrete,  ist  selbst- 
verständlich das  Psychische  von  dem  Physischen,  das  Geistige 
von  dem  Materiellen  durch  angebbare  Merkmale  unterschieden, 
wodurch  allein  diesen  Ausdrücken  ein  bestimmter  Sinn  zukommt 
Worin  aber  diese  Unterschiede  von  den  verschiedenen  Denkern 
erkannt  werden,  hat  uns  hier  nicht  zu  beschäftigen.  Es  kommt 
für  unsere  Zwecke  allein  darauf  an,  den  Dualismus  als  einen 
möglichen  und  tatsächlich  vertretenen  Standpunkt  in  der 
behandelten  Frage  festzustellen. 

Fttr  den  Idealismus  Berkeleys  bedeutet  die  Behauptong 
einer  AuTsenwelt  im  Sinne  einer  materiellen  Wirklichkeit  extra 
mentem  in  jeder  Hinsicht  einen  Ungedanken.  Die  von  jenen 
Denkern  dualistischer  Orientierung  behauptete  materielle  Seite 


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9 

des  Seins  wird  also  hier  aufgegeben  nnd  damit  das  Wirkliche 
als  ein  Geistiges  erkannt  Geister  (spirits)  und  deren  Vor- 
stellungen (ideas)  machen  allein  den  Bestand  des  Wirklichen 
aus:  „Nothing  properly  but  Persons,  i.  e.  conscions  things,  do 
exist.  All  other  things  are  not  so  much  existenees  as  manners 
of  y*  existence  of  persons/  *)  Das  Sein  der  Ideen  besteht  in 
ihrem  Perzipiertwerden  durch  die  Geister,  „their  esse  is 
pereipi''.^)  Sie  sind  Objekte,  die  Geister  Subjekte  des  Bewufst- 
seins.  Die  Körper,  die  „äuberen^  Dinge  (extemal  things),  die 
dem  gewöhnlichen  Denken  als  ein  vom  Geiste  toto  genere 
Verschiedenes  erscheinen,  sind  Berkeley  nichts  als  Komplexe 
solcher  Ideen  (collections  of  ideas) ')  und  damit  Affektionen  oder 
Modifikationen  (manners)  der  Geister,^)  die  an  ihnen  entweder 
durch  sie  selbst  oder  durch  einen  ttbergeordneten  Geist  (Gott) 
bestimmt  werden.  So  gelangt  Berkeley  zu  einem  mit  seinem 
Idealismus  aufs  engste  zusammenhängenden  Spiritualismus. 
Man  kann  nun  mit  Grund  fragen,  ob  es  logisch  zulässig  sei, 
das  Ganze  nicht  nur  einer  möglichen  Erfahrung,  sondern  des 
Denkbaren  ttberhaupt  in  dieser  Weise  als  ein  Geistiges  zu 
qualifizieren,  ob  es  angängig  sei,  einen  Begriff,  der  notwendig 
die  Beziehung  auf  ein  Korrelat  in  sich  trägt,  nach  Streichung 
dieses  Korrelats  im  gleichen  Sinne  weiter  zu  verwenden.  — 
In  der  Tat,  wenn  Berkeley  nach  Beseitigung  der  materiellen 
Wesenheiten  die  ihm  darin  noch  ttbrigbleibenden  Substanzen, 
den  alten  Ausdruck  beibehaltend,  als  geistige  bezeichnet,  so 
fttgt  er  damit  dem  blofsen  Substanzbegriff  kein  neues,  charakteri* 
flierendes  Merkmal  hinzu.  Denn  gewiiüs  kann  ja  die  Behauptung 
einer  geistigen  Substanz  nur  für  denjenigen  eine  sinnvolle 
sein,  der  mit  ihr  die  gleichviel  auf  welchem  Wege  gewonnene 
Einsicht  verbindet,  dals  ein  andersartiges  Reale  existiere.  Wenn 
Berkeley  dennoch,  was  ja  aufser  Frage  steht,  das  Wirkliche 
in  seiner  Gesamtheit   als  ein  Geistiges  bezeichnen  will  und 


0  Berkeley's  GommonpUiee  Book,  grofse  Frasersohe  Ausg.,  S.  469. 

^  Principles  of  Human  Knowledge,  Sekt  III. 

»)  1.  c.  Sekt  I. 

*)  Obgleich  die  Bezeichnang  der  ideas  als  y^manDers*',  Modifikationen 
der  Geister  sich  in  den  späteren  Berkeleyschen  Schriften  dieser  Periode 
seiner  Produktion  ansdrtlcklich  nicht  mehr  findet,  hat  er  diese  Auffassung 
doch  der  Sache  nach  festgehalten. 


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damit  eine  dasselbe  kennzeichnende  Aussage  getan  zu  haben 
glaubt,  ohne  sieh  dabei  der  angegebenen  Schwierigkeiten 
bewnlst  zn  werden,  so  ist  dieses  Verhalten  eben  nnr  aus  den 
historischen  and  psychologischen  Voraussetznngen  eines  Denkens 
heraus  verständlich. 

Indessen  ist  mit  dieser  Erörterung  der  Sinn  des  Berkeley- 
scheu  Spiritualismus  nicht  erschöpft,  ja  nicht  einmal  sein 
wesentlicher  Charakter  getroffen.  Dieser  liegt  vielmehr  in  dem 
Festhalten  des  Substanzbegriffes  überhaupt  im  ZusammeDhange 
seiner  idealistischen  Orientierung.  Sehen  wir  nämlich  von 
iener  nur  durch  den  Gegensatz  zu  möglichen  andersartigen 
Existenzen  zu  rechtfertigenden  Qualifikation  seiner  Substanzen 
ab,  so  bedeutet  bei  ihm  die  Behauptung:  es  gibt  geistige 
Substanzen  nichts  anderes  als:  es  gibt  denkende,  iehartige 
Wesen  (I,  myself,  person).  Diese  aber  sind  als  aktive  Wesen 
im  Gegensatz  gedacht  zu  den  rein  passiven  Ideen.  DaliB  es 
unter  der  hier  nicht  zur  Erörterung  stehenden  Voraussetzung 
solcher  gleichviel  wie  zu  nennenden  und  nur  durch  ihren  Gegen- 
satz zu  den  Ideen  zu  bestimmenden  Substanzen  in  logischer 
Hinsicht  durchaus  zulässig  ist,  die  Ideen  als  deren  Affektionen 
oder  Inhalte,  als  Objekte  oder  Inhalte  des  Bewufstseins  aufzu- 
fassen, ist  deutlich.  Es  ergibt  sich  also  auf  diese  Weise  ein  von 
dem  dualistischen  wesentlich  verschiedener,  in  sich  völlig  möglicher 
BewuCstseinsbegriff.  Der  (richtig  zu  verstehende)  spiritualistisehe 
Substanzbegriff  ist  es  also,  der  in  der  hier  in  Betracht  gezogenen 
Hinsicht  den  Berkeleyschen  Standpunkt  charakterisiert. 

Der  Berkeleyschen  Orientierung  steht  die  Immanenz- 
philosophie insofern  nahe,  als  sie  an  dem  Ich  als  einem  sehleeht- 
hin  Realen  festhält,  ja  dieses  geradezu  zur  philosophischen 
Grnndtatsache  und  seine  Anerkennung  zum  einzig  mögliehen 
Ausgangspunkt  einer  erkenntnistheoretischen  Besinnung  macht 
Damit  kann  sie  dann  auch  von  Bewufstseinsinhalten  dieses 
Ich  reden.  „Absolut  klare  unmilsverständliche  unbezweifelbare 
Tatsache  ist  nur  das  Ich,  oder  was  damit  gleichbedeutend  ist, 
,das  bewufste  Ich^  Und  die  Tatsache  darf  in  keinem  FaUe 
einfach  umgangen  werden,  dafs  dieses  bewufste  Ich  alle  jene 
Data  der  Sinne  zunächst  als  Inhalt  seines  Bewufstseins  vor- 
findet. Mag  dann  an  dieser  Tatsache  gedeutet  werden ,  was 
da  will;  von  ihr  mnls  als  dem  Ersten  ausgegangen  werden'' 


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11 

(Sehappe).0  Ein  prinzipiell  trennendes  Moment,  aber  gegenüber 
Berkeley  ist  dadurch  gegeben,  dafs  diese  philosophische 
Richtung  jeden  transszendenten  Faktor  als  Ursache  dieser 
Bewnüstseinsinhalte,  wie  er  bei  Berkeley  in  dem  Gottesbegriff 
gesetzt  wird,  schlechthin  leugnet. 

Locke  war  als  Kritiker  der  überlieferten  Snbstanzvor- 
Stellung  aufgetreten;  das  Snbstanzproblem  stand  im  Mittel- 
punkte seines  Philosophierens.  Er  hat  mit  der  Zersetzung  des 
Snbstanzbegriffes  einer  bis  auf  ihn  hin  vorwiegend  rationalistisch 
gerichteten  Philosophie  begonnen,  indem  er  den  dogmatischen 
Glauben  an  die  Erkennbarkeit  der  Substanzen  erschütterte  und 
sie  als  „somethings  I  know  not  what^  kennzeichnete.  Berkeley, 
an  Locke  anknüpfend,  führt  diese  Auflösung  weiter.  Aus 
seiner  idealistischen  Gmndstimmung  heraus  leugnet  er  die 
Existenz  und  Möglichkeit  materieller  Substanzen,  um  allein 
die  Geister  als  substantielle  Wesenheiten  anzuerkennen.  Bereits 
der  unmittelbare  Nachfolger  Berkeleys  in  der  empiristischen 
Entwicklnngsreihe  geht  darüber  noch  hinaus,  indem  er  auch 
diesen  spiritualistischen  Substanzbegriff  zu  beseitigen  sucht 
Hnme  bricht,  prinzipiell  wenigstens,  mit  der  substantiellen  Auf- 
fassung des  Geistes:  wie  es  für  Berkeley  schon  die  Körper 
waren,  so  ist  nun  für  Hume  auch  der  Geist  nichts  als  „a  bündle 
or  coUection  of  different  perceptions^.^  Die  „perceptions^ 
(„impressions"  und  „ideas^)  bilden,  in  ihren  mannigfachen 
Gruppierungen,  ausschlief slich  den  Bestand  des  unmittelbar 
Vorgefundenen. 

Im  Gegensatz  aber  zu  Berkeley  machen  sich  bei  Hume 
wieder  deutlich  realistisch-dualistische  Tendenzen  bemerkbar, 
was  ja  durch  das  Aufgeben  des  Substanzbegriffes  im  Gebiete 
des  Unmittelbar-Gegebenen  nicht  ausgeschlossen  wird. 
Mag  man  auch,  und  zwar  mit  Becht,  diesem  Moment  im 
Zusammenhange  der  Humeschen  Philosophie  eine  noch  so 
geringe  Bedeutung  beilegen,  so  kann  doch  nicht  zweifelhaft 
sein,  dafs  Hume  den  Dualismus  zwischen  Bewufstsein  und 
Anfsenwelt  nie  vollständig  überwunden,  allerdings  auch  niemals 
mit  voller  Überzeugung  behauptet  hat    In  dem  Gefühl  dieses 


0  W.  Sehnppe,  Erkenntnistheoretiache  Logik,  1878,  S.  60. 

t)  Hume,  Treatlse  of  Hnnum  Natore,  ed.  Green  and  Grose,  vol.  I.  p.  534. 


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12 

Zwiespalts  dürfte  f ttr  ihn  neben  anderen  ein  Beweggrund  liegen, 
der  ihn  seinen  Standpunkt  als  Skeptizismus  bezeiehnenlälst  Sehoo 
in  dem  Ausdruek  „impression^  klingt  der  dnalistisehe  Gedanken- 
kreis an;  die  durch  die  Einbildungskraft  (imagination)  zu  den 
einzelnen  Qualitäten  ;,hinzugediehteten^  (feign)  „unknown  some- 
things'V)  »original  substances^,^)  „unknown  causes^',^)  „natural 
and  physieal  eauses^y^)  oder  wie  die  ähnlichen  Wendung^ 
sonst  lauten,  bieten  weitere  Belege  für  eine  solche  Tendenz 
zum  Dualismus.  Allein  man  wird  diese  Belege  auch  nicht  als 
fbr  den  Humeschen  Standpunkt  entscheidend  ansprechen  dttrfen; 
denn  anderswo  spricht  sich  Hume  mit  Entschiedenheit  gegen 
die  Annahme  eines  solchen  „unknown,  inexplicable  somethmg^ 
als  Ursache  unserer  Perzeptionen  aus>)  Humes  Stellungnabme 
zu  dem  Problem,  das  er  durch  seine  Behandlung  so  sehr  als 
ein  solches  hat  hervortreten  lassen,  ist  in  der  Tat  eine  unent- 
schiedene geblieben.  Die  an  den  Namen  Humes  knüpfende 
Umgestaltung  der  Problemlage,  soweit  wir  sie  hier  zunächst 
zu  erörtern  AnlaJüs  haben,  ist  gegeben  durch  die  Auflösung  des 
spiritualistischen  Substanzbegriffes. 

Verneint  man  mit  Berkeley  die  Existenz  einer  materiellen 
Aufsenwelt  und  weiter  einer  über  das  unmittelbar  (tatsächlich 
oder  möglicherweise)  Gegebene  hinausgehenden  Wirklichkeit 
Überhaupt,  und  stimmt  man  gleichzeitig  Hume  in  der  Auf- 
lösung des  substantiellen  Ichbegriffes  zu,  so  besteht  kein  Grund 
mehr,  ja  es  verbietet  sich  geradezu,  noch  weiterhin  Yon  einem 
Psychischen,  von  Bewufstseinsinhalten  usw.  zu  sprechen.  Ein 
derartiger  Psychomonismus  oder  Panpsychismus  bezw.  Kon- 
zeptionalismus   hätte    keinen    falsbaren    Sinn.^)     Ein    solcher 

0  Treat  I.  S.  507. 

«)  1.  c.  S.  317. 

»)  1.  c.  n.  S.  75. 

*)  Enquiry  conceming  Human  Understanding,  ed.  Green  and  Groie, 
Sect.  XII.  Part.  I.  gegen  Sohlufisi. 

")  Nach  den  Ausführungen,  die  Th.  Ziehen  in  seiner  .Psychophysio* 
logischen  Erkenntnistheorie*  (2.  Aufl.  1907)  gegeben  hat,  könnte  es  den 
Anschein  haben,  als  ob  dieser  Autor  einen  solchen  Standpunkt  vertrete. 
Ziehen  bestreitet  mit  Berkeley  die  «eztrapsyohisohe  Existeni"  (&  6). 
«Psychisch,  beweist  und  existierend  sind  ganz  kongruente  Begriffe. 
£sse=:peroipi*'  (3.7).  „...das  Prädikat  ,SeinS  yEdstens"  etc.  ist... 
bnohstablioh  sinnlos,  sobald  es  nicht  bedeutet  ,als  Empfindung  sein*  oder 


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13 

Standponkt  würde  eine  falsehe  Eonseqneoz  der  Berkeley- 
Hnmesehen  Kritik  darstellen.  Für  denjenigen,  der  sich  die 
Überzengnngen  jener  beiden  Philosophen  in  der  eben  angegebenen 
Verbindung  za  eigen  macht,  zerfällt  die  Mannigfaltigkeit  des 
Gegebenen  nicht  mehr  in  Empfindungen,  Yorstellnngen,  Bewnist- 
seinsinhalte,    wenn    mit    diesen    Ansdrttcken  irgendwie  eine 

lAlfl  YorstelluDg  sein'*  (S.  99).  Auch  spricht  Ziehen  von  „individuell- 
psychischen''  und  „allgemein -psychischen*  Objekten  (S.  105).  Er  geht 
tber  insofern  Ober  Berkeley  hinaus,  als  er  ebenso  wie  den  Dingbegriff  auch 
den  Ichbegriff  völlig  eliminieren  will.  Trotzdem  aber  setzt  er  esse  and 
percipi  gleich  and  spricht  fortwährend  von  „Empfindungen*'  und  „Vor- 
Btellnngen'',  was  doch  nur  anter  Voraussetzang  eines  Ich  angängig  scheint 
(Vgl.  S.  10).  Dals  es  sich  hierbei  aber  nur  um  eine  mils verständliche 
Ausdrucksweise  handelt,  geht  bereits  ans  den  ,  Erkenntnistheoretischen 
Aaseinandersetzungen*'  (Ztschr.  f.  PsychoL  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  1002, 
Bd.  27,  S.  305;  1903,  Bd.  38,  S.91;  1906,  Bd.  43,  S.  241)  vOllig  deatUch 
hervor  (vgl  insbes.  Bd.  33,  S.  96  f.  and  Bd.  43,  8.  242).  Und  in  der  im 
vorigen  Jahre  erschienenen  .Erkenntnistheorie  auf  psychophysiologischer  und 
physikalischer  Grundlage"  heilst  es  ausdrücklich:  „Dies  ,alles'  [was  wir 
Dämlich  erleben]  darch  eine  gemeinsame  Eigenschaft  zu  definieren  ist,  weil 
efai  anderes  nicht  existiert,  nicht  mOglich.  Es  bleibt  uns  nur  mOglich,  dies 
,alles'  mit  einem  Namen  zu  bezeichnen"  (S.  1).  Ziehen  wählt  die  Be- 
zeichnung „Gignomena^'  oder  „Gignomene",  Ansdrücke,  die  nach  seiner 
Meinung  in  keiner  Weise  „priijadizierend"  wirken  können  (S.  2).  Die 
den  obigen  Erörterungen  zugrunde  gelegte  uud,  wie  sich  bald  zeigen 
wird,  den  Schlüssel  zam  Verständnis  des  Machschen  Standtpunktes  bietende 
Ansicht,  dab  es  nicht  möglich  sei,  das  Ganze  des  Wirklichen  irgendwie 
za  qualifizieren,  wird  aufser  durch  Ziehen  auch  noch  durch  J.  Petzoldt, 
einem  Schüler  von  Bich.  Avenarios,  in  seinem  Bache  „Das  Weltproblem 
vom  Standpunkte  des  relativistischen  Posidvismus . . . ."  (2.  Aufl.  1912) 
vertreten.  So  heilst  es  dort  z.  B.:  „Es  ist  logisch  unmöglich,  der  Gesamt- 
heit dieser  Zusammenhänge  [nämlich  der  Welt]  ein  qualitativ  Kennzeichnen- 
des abzugewinnen"  (S.  179).  Femer:  Die  Begriffe  des  Psychischen  und 
des  Physischen  „differenzieren  sich  in  gegenseitiger  unauflöslicher  Beziehung 
auf  dem  Grande  der  einen  einheitlichen  Urerfahrung,  die  weder  das  eine 
noch  das  andere  ist"  (S.  180).  Mit  den  Einzelheiten  der  Petzoldtschen 
Entwicklungen  kann  ich  mich  vielfach  nicht  einverstanden  erklären.  Die 
Petzoldtsche  Schrift  sowie  die  auf  die  „Psychophysiologische  Erkenntnis- 
theorie" folgenden  weiteren  erkenntnistheoretischen  Veröffentlichungen 
Ziehens  wurden  mir  erst  bekannt,  als  mir  die  oben  dargelegte  Anffiunung 
des  Machschen  Grundgedankens  und  seiner  Stellung  im  Zusammenhange 
der  historischen  Entwicklung  schon  seit  langem  völlig  geläufig  war.  Gerade 
durch  die  zuerst  irrtümliche  Auffassung  der  Ziehenschen  Erkenntnislehre 
and  durch  die  Schwierigkeiten,  die  in  dem  Humeschen  Begriff  der  „Impression" 
üegen,  wurde  ich  auf  sie  geführt 


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14 

WeBensbezeichniiDg  vorgenommen  sein  soll,  sondern  in  einzelne 
Tatsachen,  Ereignisse,  „Gegebenheiten^  schlechthin.  Damit  ist 
aber  der  von  Mach  eingenommene  Standpunkt  bezeichnet 

Diese  Grnndttberzengnng  findet  bei  Mach  bereits  in  der 
Terminologie  einen  adäqnaten  Ausdruck.  Mach  vermeidet  es 
grundsätzlich,  und  zwar  in  vollem  Bewufstsein  der  darin  sich 
aussprechenden  erkenntnistheoretischen  Wendung,  die  Bestand- 
stttcke  des  Wirklichen  in  allgemeinster  Hinsicht  als  Emp- 
findungen usw.  zu  bezeichnen;  er  verwendet  vielmehr  den 
indifferenten  Ausdruck  „Elemente^  Der  Begriff  „Emp- 
findung'' gewinnt  bei  ihm  einen  spezielleren  Sinn,  was  noch  zu 
erörtern  sein  wird.^)  „Die  Welt  besteht  aus  Farben,  Tönen, . .  ^ 
die  wir  jetzt  nicht  Empfindungen  und  nicht  Erscheinungen 
nennen  wollen,  weil  in  beiden  Namen  schon  eine  einseitige, 
willkttrliche  Theorie  liegt.^)  Wir  nennen  sie  einfach 
Elemente.''^)  In  dieser  Formulierung  zeigt  sich  tlbrigens  ein 
Ansatz  zur  Trennung  der  beiden  Probleme,  von  der  eingangs 
die  Rede  war.  Der  Begriff  des  „Elementes''  ist  also  ein  durch- 
aus zentraler  in  der  Machsehen  Erkenntnislehre.  Mach  unter- 
läfst  es  ganz  prinzipiell,  das  Wirkliche  in  irgend  einer  Weise 
zu  qualifizieren,  Ober  die  Natur  des  Wirklichen  in  seiner 
Gesamtheit  etwas  auszumachen.  Ihrem  Bestände  nach  aber 
decken  sich  die  Elemente  natürlich  vollkommen  mit  dem,  was 
man  nach  der  gewöhnlichen  Auffassung  als  Erscheinungen, 
Bewufstseinsinhalte,alsmögliche  Wahrnehmungen  (das  Wort 
im  weitesten  Sinne  genommen)  zu  bezeichnen  hat.  Der  Umstand, 
daCs  Mach  diese  Qualifikation  des  Wirklichen  als  unmöglich 
erkennt,  ist  es,  was  seinen  Standpunkt  recht  eigentlich 
charakterisiert.    Hieraus  wird  nun  auch  verständlich,  warum 

0  Im  zweiten  Teil  des  folgenden  Kapitels. 

*)  Von  mir  gesperrL  —  Man  vergleiche  dazu  Kant,  KriL  d.  r.  Yen., 
l.Anfl.  S.  251f.  (Erdmannsche  Ausg.  S.244f.):  Es  folgt  aus  dem  Begriff 
der  „Erscheinung'^  ,,dais  ihr  Etwas  entsprechen  ctisse,  was  an  sich  nickt 
Erscheinung  ist,  weil  Erscheinung  nichts  ftlr  sich  selbst  und  auüier  onserer 
Vorstellungsart  sein  kann,  mithin,  wo  nicht  ein  beständiger  Cirkel  henns- 
kommen  soll,  das  Wort  Erscheinung  schon  ehie  Bexiehung  auf  Etwas 
anzeigt,  dessen  unmittelbare  yoratellung  zwar  sinnlich  ist,  was  aber  aa 
sich  selbst,  auch  ohne  diese  Beschaffenheit  unserer  Sinnlichkeit . . .,  Etwas, 
d.  1.  ein  von  der  Sinnlichkeit  unabhängiger  Gegenstand  sein  mula.'* 

•)  P.  V.  239j  8.  a.  A.d.E.  18  0. 


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15 

Mach  ansdrttcklich  sieh  dagegen  verwahrt,  dafs  sein  Stand-  ' 
pankt  mit    einem    idealistischen,    panpsjchistisehen, 
psyohomonistischen  verwechselt  werde.^)     Es  ist  zwar  ein 
„monistisches^' 3)   Weltbild,    das  Mach   entwickelt,    aber  kein 
psych  omonistisches. 

Bezeichnend  fttr  das  Gesagte  ist  anch  die  Art,  wie  sich 
Mach  zn  einer  Frage  stellt,  die  man  ja  als  eine  zuweilen  ver- 
wandte Formnlierang  des  Realitätsproblems  (Descartes,  Schopen- 
haaer  o.  a.)  anzusprechen  hat,  ob  nämlich  die  Welt  wirklich 
existiere  oder  ob  sie  nur  geträumt  sei.  Es  ist  klar,  dafs  Mach 
diese  Frage  von  seinem  Standpunkt  aus  nicht  als  eine  sinn- 
volle gelten  lassen  kann.  Denn  um  die  Welt  als  Qanzes,  um 
den  Inbegriff  des  Gegebenen  als  das  eine  oder  andere  zu 
charakterisieren,  mtllste  ja  gleichsam,  so  kOnnen  wir  nach  dem 
Vorausgeschickten  sagen,  ein  unabhängiges  Bezugssystem 
gegeben  sein.  Es  hat,  sagt  Mach,  „die  oft  gestellte  Frage,  ob 
die  Welt  wirklich   ist  oder   ob  wir   sie   blofs  träumen,  gar    . 

keinen  wissenschaftlichen  Sinn Wo  kein  Gegensatz')  1 

besteht,  ist  die  Unterscheidung  von  Traum  und  Wachen,  Schein   j 
und  Wirklichkeit  ganz  mttlsig  und  wertlos.'^*)  ' 

Dals   den  „Elementen^'  der  Charakter   der  Wirklichkeit  i 
oder  Realität  zukommt,  ist  selbstverständlich.  Sie  sind  wirklich  ' 
zunächst  in  dem  Sinne,  in  dem  man,  gleichgültig  auf  welchem 
philosophischen  Standpunkte   man   stehen    mag,    den   „Emp- 
findungen^ Wirklichkeit  zuspricht.    Aber  sie  besitzen  zugleich 
gewissermafsen  einen  höheren  Realitätswert  als  jene,  da  sie 
von  Mach  nicht  als  Abbilder  von  oder  als  Zeichen  für  letzte 
und   wahre  Realitäten   aufgefafst  werden,   wie   sie   von  der 
Transzendentalphilosophie    und    in   anderer  Weise    von   dem 
naturwissenschaftlichen  Realismus  als  hinter  den  Empfindungen, 
den  „Erscheinungen^  stehend  angenommen  werden,  sondern  als 
die  letzten  Realitäten  selbst.    Die  „Elemente'^  stehen  für  Mach  ^ 
auf  derselben  Stufe  der  Realität,  auf  der  Air  den  Anhänger 
der  Transzendentalphilosophie  die  „Dinge  an  sich"  stehen. 

0  VgL  z.  B.  A.  d.  E.  295;  £.  a.  J.  13  f.  Anm. .     Mach  denkt  dabei 
besonders  an  Berkeley,  Verwom  nnd  6.  Heymans. 
*)  A.  d.  E.  255. 
^  Von  mir  gesperrt. 
«)  A.d.E.9. 


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16 

Über  die  Konseption  und  Entwicklung  seines  Grund- 
gedankens  hat  sieh  Mach  wiederholt  aoBgesprochen.  Die 
charakteristischste  dieser  Äufserungen  möge  hier  folgen,  da  sie 
geeignet  ist,  nns  den  Standpunkt  Machs  psychologisch  nodi 
näher  za  bringen  M)  ,,Ich  habe  es  stets  als  besonderes  Glllek 
empfunden,  dals  mir  sehr  frtth  (in  einem  Alter  von  15  Jahren 
etwa)  in  der  Bibliothek  meines  Vaters  Kants  ,Prolegomena  za 
einer  jeden  künftigen  Methaphysik'  in  die  Hand  fielen.  Diese 
Schrift  hat  damals  einen  gewaltigen,  unauslöschlichen  Eindruck 
auf  mich  gemacht,  den  ich  in  gleicher  Weise  bei  späterer 
philosophischer  Lektüre  nie  mehr  gefühlt  habe.  Etwa  zwei  od^ 
drei  Jahre  später  empfand  ich  plötzlich  die  müfsige  Rolle,  welcbe 
das  ,Ding  an  sich^  spielt  An  einem  heiteren  Sommertage  im 
Freien  erschien  mir  einmal  die  Welt  samt  meinem  loh  als 
eine  zusammenhängende  Masse  von  Empfindungen,  nur  im  Ich 
stärker  zusammenhängend".  Dieses  intuitive  Erleben  der  Welt 
als  eines  Zusammenhanges  von  Empfindungen  ist  wohl  noch 
durchaus  im  idealistischen  Sinne  zu  verstehen.  Mach  spricht 
verschiedentlich  ^)  von  einer  „idealistischen  Phase"  seines  Denkens, 
die  er  in  der  Jugend  durchzumachen  hatte.  Weiter  heilst  es 
an  derselben  Stelle:  „Obgleich  die  eigentliche  Reflexion  sieh 
erst  später  hinzugesellte,  so  ist  doch  dieser  Moment  fbr  meine 
ganze  Anschauung  bestimmend  geworden.  Übrigens  habe  ich 
noch  einen  langen  und  harten  Kampf  gekämpft,  bevor  ich 
imstande  war,  die  gewonnene  Ansicht  auch  in  meinem  Spezial- 
gebiete festzuhalten.  Man  nimmt  mit  dem  Wertvollen  der 
physikalischen  Lehren  notwendig  eine  bedeutende  Dosis  falscher 
Metaphysik  auf,  welche  von  dem,  was  beibehalten  werden 
mufs,  recht  schwer  losgeht,  gerade  dann,  wenn  diese  Lehren 
geläufig  geworden.  Auch  die  überkommenen  instinktiven  Auf- 
fassungen traten  zeitweilig  mit  grofser  Gewalt  hervor  und 
stellten  sich  hemmend  in  den  Weg.  Erst  durch  abwechselnde 
Beschäftigung  mit  Physik  und  Physiologie  der  Sinne,  sowie 
durch  historisch-physikalische  Studien  habe  ich  (etwa  seit  1863), 
nachdem  ich  den  Widerstreit  in  meinen  Vorlesungen  über 
Psychophysik  (im  Auszug   in  ,Zeitschr.  f.  prakt  Heilkunde', 


0  A.  d.  E.  24  Anm. 

»)  VgLz.B.  A.cLE.46,  2960. 


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17 

Wien  1863,  S.  364)  noch  dnrch  eine  physikalisch-psyeholgieehe 
Monadologie  ^  Yergeblieh  zn  lösen  yersncht  hatte,  in  meinen 
Ansichten  eine  grölsere  Festigkeit  erlangt.''  Auf  seinem  end- 
gültigen Standpunkt  steht  Mach  dem  Dnalismns  nnd  dem 
Idealismus  gleich  fern.^) 

Mach  bemerkt  gelegentlieh,  dafs  der  Kritik,  die  seine 
Überzengnng  gewöhnlich  einer  idealistischen  (der  Berkeleyschen) 
gleichsetzt,^)  seine  „Welt  ans  Elementen'',  ans  der  die  „Materie" 
verbannt  ist,  zuweilen  als  „zn  Inftig"  erschienen  sei.^)  Man 
kann  in  der  Tat  kaum  besser  znm  Ausdruck  bringen,  wie  dem 
Andersorientierten  der  Idealismus  in  der  Regel  erscheint  Trifft 
diese  Bezeichnung  aber  schon  auf  den  Idealismus  nicht  zu,^) 
so  gewifs  noch  weniger  auf  den  Standpunkt  Machs.  Mach 
erscheint  die  Welt  so  real,  wie  nur  irgend  einem  realistischen 
Denker.  Es  sind  ftir  ihn  nicht  Chimären,  die  uns  umgeben, 
auch  nicht  Vorstellungen,  hervorgerufen  von  irgendwelchen 
unerkennbaren  Dingen,  sondern  die  Dinge  selbst  in  ihren 
wahren  Beschaffenheiten.  Man  mufs  sich  in  diese  eigentümliche 
intellektuelle  Sehgewohnheit  hineinversetzen,  um  den 
Machschen  Grundgedanken  nicht  mifszuverstehen. 

Wollen  wir  den  Platz  angeben,  den  die  Machsche  Über- 
zeugung in  der  historischen  Entwicklung  des  philosophischen 
Denkens  einnimmt,  so  haben  wir  zu  sagen,  dafs  sie  sich  als 
eine  konsequente  Fortbildung  des  Idealismus  in  der  Richtung 
über  Berkeley  und  Hume  und  zugleich  als  eine  Überwindung 
dieses  Idealismus  darstellt.  Mit  Rücksicht  darauf,  dafs  Mach 
sich  grundsätzlich  auf  das  (als  solches  nicht  weiter  zu 
qualifizierende)  Gegebene  und  damit  auf  die  Kon« 
statiemng  von   Tatsachen   beschränkt,  dafs  er  dieses  Un- 

1)  Mach  spricht  verschiedentlich  davon,  dab  er  durch  eine  monado- 
logiBche  WeltaofGuMiuig  hindurchgegaDgen  ist  (Vgl.  z.  B.  a.  L.  3  £).  Dafo 
diese  Tatsache  nicht  ganz  ohne  Einfluiis  auf  sein  Denken  geblieben  ist, 
scheint  uns  ans  dem  am  Schlüsse  von  Kap.  8  Erörterten  hervorzngehen. 

«)  Vgl.  A.  d.  R  46. 

»)  Vgl  A.  d.  E.  295. 

•)  A.  d.  £.  295£ 

*)  Man  denke  an  die  gewühnlich  nicht  genügend  beachtete  Berkeleysche 
Unterscheidung  der  Ideen  in  „real  things'*  und  »,images  of  things'*  oder 
Ideen  im  engeren  Sinne  („more  properly  termed  ideas'*),  auch  ,,ch!meras" 

genannt    (Prino.  Sect  33  ff.,  Three  Dialognes S.  330.). 

Philotophiflche  Abhandluniren  XXXXV.  2 


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18 

mittelbar-Gegebene,  wie  wir  von  nnn  an  sagen  werden, 
nnd  als  dessen  Bestandteile  wir  eben  die  „Elemente''  zu  betraehteo 
haben,  für  das  allein  Wirkliebe  erklärt  nnd  jede  meta- 
physische Übersehreitnng  dieser  Sphäre  als  nnzulässig  betraehtet 
können  wir  seinen  Standpunkt  mit  einem  allerdings  bereits 
vieldeutig  gewordenen  Ausdruck  als  einen  positiyistisehen 
bezeichnen. 

2.  Im  Sinne  der  traditionellen  Auffassung  wird  man  zu 
sagen  haben,  die  Aufgabe  der  Tatsachenwissenschaften  bestehe 
darin,  die  Vorgänge  der  realen  Welt  zunächst  zu  beschreiben 
und  weiterhin  in  ihrem  gesetzmäfsigen  Zusammenhange  zn 
erklären.  Diese  Unterscheidung  zwischen  Beschreibung  und 
Erklärung  wird  fast  allgemein  als  berechtigt  zugegeben,  und 
mit  ihr  verbindet  sich  eine  verschiedene  Wertung  der  beiden 
anerkannten  Forschungsaufgaben.  Denn  die  herrschende  Meinung 
läfst  behaupten,  dafs  das  eigentliche  Ziel  der  Forschung  in 
der  Erklärung  der  Vorgänge  bestehe,  welche  Einsicht  in  den 
kausalen  Zusammenhang  des  Geschehens  gewährt,  dafs  dagegen 
der  blofsen  Beschreibung  eines  Gebietes  von  Tatsachen  lediglieh 
die  Bedeutung  einer  Vorstufe  für  diese  letzten  Endes  zn 
leistende  wissenschaftliche  Arbeit  zukonmie.  Diese  landläufige 
prinzipielle  Unterscheidung  und  verschiedene  Bewertung  von 
Beschreibung  und  Erklärung  wird  von  Mach  nicht  anerkannt 
Hierin  liegt  ein  für  seine  ganze  Erkenntnislehre  bedeutsames 
Moment,  auf  das  wir  an  dieser  Stelle  nur  soweit  einzugehen 
haben,  als  es  fttr  die  allgemeine  Kennzeichnung  seines  Stand- 
punktes notwendig  erscheint.^) 

Was  Mach  zu  seiner  Haltung  gegenüber  der  eben  erwähnten 
Frage  bestimmt,  ist  seine  Stellung  zum  Kausalproblem.  Man 
wird  aber  als  eigentlich  charakteristisch  fttr  seinen  Standpunkt 
nicht  sowohl  seine  Auffassung  des  Kausalbegriffes  selbst  als 
vielmehr  die  aus  ihr  flief sende  Konsequenz,  die  alleinige  An- 
erkennung der  Beschreibung  als  wissenschaftlicher  Aufgabe, 
ansehen  müssen.  Mach  spricht  dem  Kausalbegriff  seine  wissen- 
schaftliche Berechtigung  ab,  d.  h.  zunächst  dem  analytischen 


^)  Ansftthrliclier  werden  wir  auf  diesen  Gegenstand  in  KJ4>itei  4 
zurückkommen. 


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19 

£aiisalbegriff  der  rationalistischen  Philosophie.  Gegen  diesen 
richtet  sich  eigentlich  seine  Polemik.  Den  Kantschen  Kausal- 
begriff,  den  er  gleichfalls  bekämpft,  scheint  er  von  jenem  nicht 
gehörig  zu  unterscheiden,  wie  er  denn  überhaupt,  soweit  man 
dies  aus  seinen  Äufserungen  entnehmen  kann,  die  Eigenart 
der  kritischen  Methode  Kants  nicht  richtig  erfafst  hat.  Gegen 
den  „analytisch-rationalen  Kausalbegriff'' <)  Stellung  zu  nehmen 
sind  fttr  Mach  ganz  ähnliche  Grttnde  mafsgebend  wie  fttr 
Hume.  Dafs  aber  die  Ereignisse  der  realen  Welt  untereinander 
in  einer  konstanten  und  daher  gesetzmäfsigen  Verknüpfung 
stehen,  die  Wissenschaft  überhaupt  erst  möglich  macht,  dafs 
auf  Grund  dieses  regelmäfsigen  Ablaufs  der  Vorgänge  sich 
in  dem  erfahrenden  Subjekt  eine  feste  Gewohnheit  heraus- 
gebildet hat,  derzufolge  dieses  unter  dem  „psychischen  Zwang''^) 
steht,  bei  Eintritt  eines  bestimmten  Ereignisses  das  mit  diesem 
erfabrungsgemäfs  verknüpfte  zu  erwarten:  das  zu  bezweifeln 
liegt  Mach  gerade  so  fem  wie  Hume.  Die  Gesetzmäfsigkeit 
und  damit  die  wissenschaftliche  Erfafsbarkeit  des  Geschehens 
steht  für  beide  Denker  aufser  Frage.  Mach  ist  sich  dieser 
Übereinstimmung  mit  Hume  völlig  bewufst. 

Mit  dem  Aufgeben  des  analytisch-rationalen  Kausalbgriffs 
entfallen  für  Mach  auch  die  „kausalen  Erklärungen ''.s)  Die 
Aufgabe  der  Wissenschaft  erschöpft  sich  dann  aber  in  der 
blolsen  Beschreibung  von  Tatbeständen,  in  der  „Konstatierung 
von  Tatsachen  und  ihres  Zusammenhanges^^)  „Wo  wir  eine 
Ursache  angeben,  drücken  wir  nur  ein  Verknüpfungsverhältnis, 
einen  Tatbestand  aus,  d.  h.  wir  beschreiben.''^)  Was  aber  für 
Mach  die  Besehreibungen  der  Physik,  überhaupt  der  exakten 
Naturwissenschaften  ,ö)  von  jenen  der  gewöhnlich  nur  als  be- 
Behreibende  bezeichneten  Disziplinen  charakteristisch  unter- 
scheidet  und   ihnen  jenen   gegenüber   die   Dignität    von  Er- 


1)  Vgl.  B.  Erdmann,  Über  Inhalt  und  GeltUDg  des  Kausalgesetzes, 
Halle  1905. 

»)  W.  L.  484. 

»)  A.  d.  E.  274. 

*)  F.  V.  424,  426. 

»)  W.  L.  435. 

^  Auf  die  GeiBteswissenschafken  nimmt  Mach  dabei,   aoBdittckliön 
wenigstens,  keine  Rücksicht. 

2* 


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iö 

klärangen  gibt,  werden  wir  uns  an  späterer  Stelle  Tergegeo- 
wärtigen.1)  Jedenfalls  ist  die  Anfgabe  der  Wissenschaft  eine 
rein  deskriptive.  Bleibt  man  sich  dieser  Einsicht  bewnist,  so 
empfiehlt  es  sich  nach  Mach,  den  Eansalbegriff  ganz  anfen- 
geben  nnd  dnrch  den  (mathematischen)  Fnnktionsbegriff  zn 
ersetzen.  In  diesem  Pnnkte  geht  Mach  ttber  Hnme  hinans. 
Da  gewöhnlich  yerschiedene  Beschreibnogen  desselben  Tat- 
sachengebietes möglich  sind,  so  ist  die  Fordemng  noch  weiter 
einzuengen:  die  Beschreibung  soll  die  einfachste,  „ökonomischste'' 
sein.  In  diesem  Sinne  hat  Mach  die  „ökonomische  Dar- 
stellung des  Tatsächlichen^'^)  als  das  Ziel  der  Forschung 
bezeichnet. 

Mach  ist  mit  seiner  Auffassung  nicht  allein  geblieben. 
Vor  allem  hat  Gustav  Eirchhoff,  wenigstens  mit  Rtteksieht  auf 
sein  Spezialgebiet,  einen  ähnlichen  Standpunkt  vertreten.  Er 
hat  bekanntlich  die  Aufgabe  der  Mechanik  dahin  bestimmt, 
dafs  sie  „die  in  der  Natur  yor  sich  gehenden  Bewegungen 
vollständig  und  auf  die  einfachste  Weise  zu  beschreiben'' 
habe.')  Im  Sinne  der  gegebenen  Ausführungen  wollen 
wir  den  Standpunkt  Machs  als  einen  rein  deskriptiven 
bezeichnen. 

Das  gleichviel  wie  zu  bestimmende  Reale  ist  als  solches 
Gegenstand  des  Erkeunens  überhaupt  und  des  wissenschaftliehen 
Erkennens  insbesondere.  Das  Reale  besteht  für  Mach  aus- 
schlief slieh  in  dem,  was  in  der  unmittelbaren  Erfahrung  tat- 
sächlich gegeben  ist  oder  doch  möglicherweise  gegeben  sein 
kann.  Auf  dieses  also  hat  sich  nach  Mach  die  Wissenschaft 
als  auf  ihr  Objekt  zu  beziehen.  Die  Aufgabe  der  Wissenschaft 
ist  eine  rein  deskriptive;  sie  vollendet  sich  in  der  übersichtlichen 
Beschreibung  und  Inventarisierung  des  in  der  Erfahrung 
gegebenen  Materials.  Wer  sich  andere  Ziele  setzt,  der  treibt 
nicht  Wissenschaft,  sondern  verfolgt  „Scheinprobleme**.*)  Alles, 
was  über  eine  solche  positivistisch-deskriptive  Orientiemng 
über  das  Wirkliche  hinausgeht,  bezeichnet  Mach  als  „meta- 


0  Kap.  4  gegen  Schlafs. 

«)  P.  V.  426. 

■)  Kirohhoff,  Yorlesangen  ttber  Mechanik,  1897,  S.l. 

*)  Vgl  A.  d.  E.  IX. 


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21 

physisch''  and  damit  als  „mttfsig'V)  ^^^  ^^  erkennt  mit 
J.  B.  Stallo  als  die  Yornehmste  Aufgabe  einer  erkenntnis- 
theoretischen Besinnang  auf  die  Grundlagen  der  Wissen* 
Schaft:  „to  eliminate  from  scienee  its  latent  metaphysical 
Clements".^) 

3.  Mach  lehnt  den  Namen  des  Philosophen  ab;  er  will 
lediglich  Naturforscher  sein.  ,,Ich  mache  keinen  Anspruch  auf 
den  Namen  eines  Philosophen.  Ich  wttnsche  nur  in  der  Physik 
einen  Standpunkt  einzunehmen,  den  man  nicht  sofort  verlassen 
muls,  wenn  man  in  das  Gebiet  einer  anderen  Wissenschaft 
hiottberblickt,  da  schliefslich  doch  alle  ein  Ganzes  bilden  sollen. 
Die  heutige  Molekularphysik  entspricht  dieser  Forderung  ent- 
schieden nichts  So  heilst  es  im  Fortgang  der  S.  16 f. 
zitierten  Stelle.  „Es  gibt  vor  allem  keine  Machsche  Philosophie, 
sondern  höchstens  eine  naturwissenschaftliche  Methodologie  und 
Erkenntnispsychologie,  und  beide  sind,  wie  alle  naturwissen- 
schaftliehen Theorien,  Yorläufige,  unvollkommene  Versuche''.^) 
Trotz  dieser  und  ähnlicher  Versicherungen  aber  ihres  Urhebers^) 
werden  wir  nicht  umhin  können,  den  Machschen  AufstelluDgen 
eine  weitergehende  Bedeutung  beizulegen ;  sie  treten  tatsächlich 
mit  dem  Anspruch  einer  Weltanschauung  auf.  Dafs  Mach 
seine  Untersuchungen  in  einem  lediglich  naturwissenschaftlichen 
Interesse  unternommen  haben  will,  kann  daran  nichts  ändern. 
Wenn  er  also  seine  Hauptleistung  zusammenfassend  als  eine 
naturwissenschaftliche  Methodologie  und  Erkenntnispsychologie 
bezeichnet,  so  wählt  er  diese  Bezeichnung  sicher  zu  eng;  er 
geht  ttber  die  Grenzen  der  Einzelwissensehaft  sowie  ttber  die 
blofse  Methodologie  und  Erkenntnispsychologie  eines  wissen- 
schaftlichen Spezialgebietes  tatsächlich  hinaus.  Aufserdem 
geht  aus  seiner  ganzen  Haltung  mit  Deutlichkeit  hervor,  dafs 
er  Fragen  wie  etwa  die  der  Transzendenz  keineswegs  nur  als 
solche  betrachtet,  die  aulserhalb  seiner  besonderen  Arbeitssphäre 


»)  A.d.E.Vn. 

*)  W.  L.  IX.  Vgl  J.  B.  Stallo,  The  Concepts  and  Theories  of  mödeni 
Physics,  dtseh.  v.  H.  Kleinpeter,  1901,  XY. 
•)  £.u.  J.yilAnm.. 
«)  Vgl.  a.  £.  n.  J.  13  Arno. ;  A.  d.  £.  VI,  26,  300  usw. . 


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22 

liegen,  sondern  dafs  er  ihnen  überhaupt  jede  nur  mögliehe 
Berechtigung  abspricht  Mach  ist  seiner  Überzengnng  naeh 
Positiyist  (in  dem  angegebenen  Sinne),  und  als  solcher  nimmt 
er  einen  philosophischen  Standpunkt  ein,  der  dem  Realismus 
und  dem  Idealismus  nebengeordnet  ist.  Eine  andere  Frage  ist 
es,  ob  Mach  ein  einheitliches  und  in  sich  konsequentes  System 
der  Erkenntnistheorie  gegeben  hat,  das  auf  Vollständigkeit 
wenigstens  ausgeht  und  jeder  berechtigten  Frage  ihren 
systematischen  Ort  anweist,  wenn  es  sie  vielleicht  auch  nicht 
erschöpfend  beantwortet.  Dafs  die  Maehsche  Lehre  ans  einer 
einheitlichen  Qrundauffassung  fliefst  und  in  sich  folgerichtig 
durchgeführt  ist,  soll  aus  unseren  Darlegungen  herrorgehen. 
Systematische  Vollständigkeitdagegen  ist  nicht  einmal  erstreb t^ 
f^ne  Reihe  von  Prinzipalfragen  der  Erkenntnistheorie,  die  auch 
er  Yon  seinem  Standpunkte  aus  als  berechtigte  Probleme  an- 
erkennen würde,  hat  er  als  seinem  Interesse  ferner  liegend 
kaum  gestreift.^) 

Für  Mach  ist  es  völlig  selbstverständlich,  dafs  das  Wirkliche 
sich    in    dem    Unmittelbar -Gegebenen    erschöpft;    und    nicht 

<)  Vgl.  A.  d.  E.  IX :  „Nicht  eine  Lösung  aller  Fragen,  sondern  eine 
erkenntnistlieoretische  Wendung  wird  hier  versucht/' 

*)  Es  gut  dies  von  dem  ganzen  Kreise  von  Fragestellungen,  wekbe 
die  logische  Struktur  der  Erfahrung,  die  Denknotwendigkmt  usw. 
betreffen.  Wir  denken  in  erster  Linie  an  die  durch  Hume  vorgenommene 
fundamentale  Einteilung  der  Gegenstände  der  Erkenntnis  („objects  of 
human  knowledge")  in  ,,relations  of  ideas''  und  ,,matter8  of  facf'  und  die 
damit  zugleich  gegebene  Unterscheidung  der  Urteile  in  „demonstratire 
reasonings*'  und  ,,moral  reasonings*'.  Die  relations  of  ideas,  wie  sie  in  den 
mathematischen  Sätzen  zum  Ausdruck  kommen,  werden  mit  Notwendigkeit 
gedacht  in  dem  Sinne,  dals  ihr  Gegenteil  als  einen  Widersprach  in  sich 
schliefsend  schlechterdings  undenkbar  ist;  von  den  matters  of  fact,  d.  L 
den  in  den  physikalischen  Sätzen  gedachten  Sachverhalten,  gilt  das  gleiche 
nicht.  Dafs  Mach  diesen  Unterschied  kennt  und  anerkennt,  geht  ans 
folgendem  hervor:  „Auf  der  Übung,  die  Vorstellung  der  Tatsachen  mit 
jener  ihres  allseitigen  Verhaltens  fest  zu  verbinden,  beruht  die  starke 
Erwartung  eines  bekannten  Erfolges,  der  dem  Naturforscher  wie  eine 
Notwendigkeit  erscheint.  Das  Verhältnis,  welches  in  den  geometrischen 
Anschauungen  von  selbst  besteht,  wird  hier  allmählich  künstlich  her- 
gestellf'  (W.  L.  457  f.).  Von  den  in  den  mathematischen  Sätsen  ausge- 
drückten Verknttpfungsverhältnissen  mulls  er  dagegen  sagen :  „Ein  anderes  Ver- 
hältnis, oder  wenn  man  lieber  so  sagt:  das  Gegenteil,  ist  unvorstellbar^ 
(W.L.456).  Dagegen:  „Physikalische Erfahrungen  verhalten  ridianden^ 


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23 

weniger  selbstverstäDcUich  erscheint  es  ihm,  daüs  in  der  voll- 
ständigen nnd  einfachsten  Beschreibung  nnd  Inyentarisiernng 
dieses  Gegebenen  die  alleinige  Anfgabe  des  Erkennens  besteht. 
Dieser  positiyistisch-deskriptiye  Standpunkt  macht,  wie  natürlich 
auf  absolnte  Geltung  Anspruch,  so  sehr,  dafs  Mach  jede  Frage 
nach  einem  möglichen  Transzendenten  oder  jeder  Versuch, 
einen  Einblick  in  den  Wirkuogszusammenhang  des  Geschehens 
zu  gewinnen,  ohne  irgendwelchen  wissenschaftlichen  oder  philo- 
sophischen Sinn  zu  sein  scheint.  Denn  ausdrücklich  als  sinnlos, 
nicht  etwa  nur  als  aussichtslos  erscheint  ihm  jede  Frage,  die 
über  die  angegebene  Problemstellung  hinausgeht  Nicht  ein 
Verzichtleisten,  wie  es  sich  in  dem  Dubois-Reymondschen 
„ignoramus,  ignorabimus"  ausspricht,  sondern  eine  grundsätzliche 
Ablehnung  aller  derartigen  Probleme  ist  für  seinen  Standpunkt 
eharakteristisch.1)  Wenn  man  nun  auch  nicht  zugeben  will,  dafs 
durch  die  Machschen  Bestimmungen  das  Erkenntnisziel  voll- 
ständig bezeichnet  sei  —  und  man  wird  dazu  um  so  eher 
berechtigt  sein,  als  Mach  ja  den  eigentlichen  Beweis  für  diese 
seine  Aufstellung  schuldig  geblieben  ist  — ,  so  wird  man  doch 
nicht  bestreiten  können,  dafs  es  wenigstens  teilweise  getroffen 
wird.  Und  dann  ist  es  möglich  zu  untersuchen,  ob  Mach 
wenigstens  an  der  Lösung  dieser  beschränkteren  Aufgabe  mit 
Erfolg  tätig  gewesen  ist  Setzt  man  sich  allein  die  Analyse 
und  gedankliche  Darstellung  des  Unmittelbar-Ge- 
gebenen zum  Ziel,  ohne  damit  metaphysische  oder  im  eigent- 
lichen Sinne  erkenntnistheoretische  Fragestellungen  irgendwie 
auBSchliefsen  zu  wollen,  so  gelangt  man  zu  einer  Betrachtungs- 
weise, die  wir  zweckmäfsig  als  eine  phänomenologische^) 
bezeichnen  werden. 


(ib.)*  1^8  aber  diese  Einsicht  im  ZusammenhaDge  der  Machschen  Lehren 
irgendwelche  Bedeutung  gewinnt,  kann  man  nicht  sagen.  Jedoch  mufs 
man  noh  gegenwärtig  halten,  will  man  den  Machschen  Standpunkt  nicht 
falsch  beurteilen,  dab  solche  Aussagen  über  die  logische  Struktur  der 
Erfahrung  auf  ihm  keineswegs  ausgeschlossen  sind. 

^)  Vgl.  A.  d.E.  298:  „Die  Probleme  werden  entweder  gelöst  oder 
als  nichtig  erkannt*' 

*)  Das  Wort  „  Phänomenologie '*  wird  neuerdings  sehr  häufig  und  in 
mannigfachen,  oft  allerdings  nur  wenig  yoneinander  abweichenden  Be- 
dentangen gebraucht  (z.  B.  Husserl,  Stumpf  usw.).  Keine  derselben  deckt 
sich  mit  der  hier  sugrnnde  gelegten. 


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24 

Die  Phänomenologie,  in  dem  so  yerstandenen  Sinne,  ist 
ein  System  von  allgemeinen  Sätzen  über  die  Struktur  dei 
Unmittelbar*Oegebenen.  Sie  yermeidet  grundsätzlich,  etwaigea 
metaphysischen  Untersuchungen  oder  kritischen  Erörterung» 
der  Erkenntnisgrundlagen  in  irgend  einer  Weise  Yorzugreifeo; 
sie  will,  und  das  in  bewufster  methodischer  Absieht, 
ttber  die  Zulälsigkeit  oder  Aussicht  solcher  Fragestellungen 
nichts  ausmachen.  Nicht  darum  also  handelt  es  sich|  ob  man 
das  Unmittelbar-Gegebene  als  das  allein  Wirkliche  anzuerkennen 
hat  —  was  eine  metaphysische  Frage  ist,  die  der  PositiYismus 
in  dem  oben  bestimmten  Sinne  bejaht  — y  sondern  um  die 
Beschaffenheit  dieses  Gegebenen.  Was  denken  wir  in 
dem  Begriffe  des  Dinges,  der  Kausalität,  wenn  wir  alle  meta- 
physischen Gesichtspunkte  aus  dem  Spiel  lassen  und  uns  darauf 
beschränken,  allgemein  und  in  einer  ftlr  die  Einzel- 
wissenschaften annehmbaren  Weise  zu  formulieren,  was 
uns  in  jeder  unmittelbaren  Erfahrung  gegeben  ist  Waa 
denkt  die  Physik  tatsächlich  in  dem  Begriff  der  Kraft,  ab- 
gesehen von  allen  metaphysischen  und  anthropomorph^i 
Zutaten  usw.  Solcher  Art  sind  die  Probleme,  die  hier  zu 
verfolgen  sind. 

Halten  wir  uns  streng  an  diese  Begriffisbestimmung  der 
Phänomenologie,  so  können  wir  nicht  sagen,  dafs  die 
Macbschen  Ausführungen  einen  rein  phänomenologischen 
Charakter  tragen.  Vielmehr  müssen  wir  zugeben,  dals  sie  von 
mannigfachen  erkenntnistheoretischen  und  selbst  metaphysischen 
Elementen  durchsetzt  sind.  Wir  werden  aber  die  phäno- 
menologischen Gesichtspunkte  durchaus  in  den  Vordergrund 
unserer  Darstellung  und  Erörterung  rücken  und  glauben  damit 
der  Eigenart  und  der  Bedeutung  der  Machschen  Lehren  am 
besten  gerecht  zu  werden. 

Keineswegs  ohne  weiteres  mit  dieser  phänomenologischen 
Absicht  gegeben,  aber  tatsächlich  bei  Mach  auf  Grund  seines 
Positivismus  aufs  entschiedenste  ausgesprochen,  ist  die  Auf- 
fassung, dafs  die  Wissenschaft  es  ausschliefslich  mit  dem 
Unmittelbar-Gegebenen  zu  tun  habe,  dafs  sie  nirgends  Anlafs 
habe,  ttber  dessen  Bestand  irgendwie  hinauszugehen.  Aus  dieser 
Auffassung  heraus  leugnet  Mach  die  Notwendigkeit,  eine 
besondere  physikalische  Materie  anzunehmen,  sofern  darunter 


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25 

ein  anfBersinnlieheB  Beale  yeratanden  werden  soll.  Damit  negiert 
er  zugleich  die  Molekttle,  Atome  nsw.  ab  Produkte  der  Unter- 
teilung einer  solchen  hypothetischen  Materie.  Das  Unmittelbar- 
Gegebene,  wie  es  sich  der  phänomenologischen  Betrachtung 
darstellt,  ist  das  alleinige  Objekt  der  Wissenschaft.  Die 
Möglichkeit  dieser  Auffassung  kann  natürlich  nur  durch  die 
tatsächliche  Durchflihrbarkeit  derselben  dargetan  werden. 
Wir  können  von  einer  phänomenologischen  Aufgabe- 
bestimmung  der  Wissenschaft  bei  Mach  reden.^ 

Versuchen  wir  nun,  die  zu  behandelnden  Gegenstände  in 
eine  innere  Ordnung  zu  bringen.  Es  wird  zunächst  zu  fragen 
sein,  wie  sich  fttr  Mach  der  Bestand  des  Unmittelbar- Gegebenen 
darstellt.  Die  Antwort  darauf  liegt  in  der  Elementenlehre. 
Im  Zusammenhang  damit  steht  die  Frage,  ob  sich  etwa  inner- 
halb des  Gegebenen  ein  prinzipieller  Unterschied  aufweisen 
läfst,  wie  man  ihn  gewöhnlich  in  dem  Gegensatz  von  Psychischem 
und  Physischem  zu  erkennen  glaubt  Dafs  Mach  Psychisches 
und  Physisches  als  zwei  materiell  yerschiedene  Gegebenheiten 
nicht  anerkennt,  geht  aus  allem,  was  bisher  gesagt  wurde, 
mit  Deutlichkeit  hervor.  Indessen  wird  sich  zeigen,  dafs  dieser 
Gegensatz  bei  ihm  in  einer  anderen  Form  auftritt  (Kap.  2). 
Weiter  werden  wir  dann  fragen  müssen,  wie  sieh  nach  Mach 
die  einzelnen  Bestandstücke  des  Gegebenen  zu  mehr  oder 
minder  beständigen  Gebilden  zusammenordnen;  wir  werden  in 
eine  Erörterung  des  Ding-  und  des  Ichbegriffes  und,  in  Ver- 
bindung damit,  des  Substanzbegriffes  einzutreten  haben.  Im 
Anschlnfs  an  die  Erörterung  des  Ichbegriffes  soll  untersucht 
werden,  wie  sich  Mach  zur  Frage  der  Vielheit  der  Iche  oder, 
was  damit  gleichbedeutend  ist,  der  Existenz  fremden  Bewufst- 
seins  stellt  (Kap.  3).  Sodann  ist  zu  fragen,  welcher  Art  sich 
Mach  die  Beziehungen  denkt,  die  innerhalb  des  Gegebenen 
stattfinden.  Wir  dürfen  uns  dabei  in  der  Hauptsache  auf 
diejenigen  Relationen  beschränken,  die  den  Zusammenhang  des 
Geschehens  bestimmen,  und  die  man  gewöhnlich  als  „kausale'' 


0  Man  kann  diese  Aaffassang  auch  vertreten,  ohne  auf  dem  positl- 
viBtiBohen  Standpunkt  in  dem  oben  bezeichneten  Sinne  %u  stehen,  d.  h.  ohne 
das  Unmittelbar-Gegebene  mit  dem  Wirklichen  überhaupt  zusammenfallen 
sa  lassen,  wie  Mach  es  tut  (ygl.  S.  17f.). 


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bezeiehnet  Auf  die  rämnlich-zeitlichen  Beziehangen  werden 
wir  nur  gelegentlich  za  sprechen  kommen  (Kap.  4).  In  der 
Auffassang  vom  Wesen  und  Ziel  der  Wissenschaft  findet  die 
Machsche  Überzeugung  ihren  letzten  und  prägnantesten  Ausdruck. 
Mach  sucht  die  Haltbarkeit  seiner  Anschauungen  darzutun, 
indem  er  sie  gegenüber  den  Einsprüchen  einer  realistisch 
gerichteten  Physik  aufrechterhält,  die  seiner  Aufgabebestimmung 
der  Wissenschaft  entgegensteht.  Die  Erörterung  dieses  Punktes 
soll  den  Beschlufs  unserer  Darstellung  bilden  (Kap.  5). 


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IL  Die  Elementenlel]ire. 
Psychisches  und  Physisches, 


1.  Der  Begriff  des  „ElementeB^'  bei  Mach  in  allgemeiner 
erkeDutnistbeoretiflcher  und  phänomenologiBcher  Hinsieht  hat 
sich  uns  bereits  ans  den  Erörterungen  des  vorigen  Kapitels 
ergeben.  Wir  haben  uns  deutlieh  gemacht,  dafs  Mach  unter 
den  Elementen  die  Bestandstttcke  des  Unmittelbar -Gegebenen 
versteht,  das  für  seinen  Positivismns  mit  dem  Wirklichen  über- 
haupt zusammenfällt  (vgl.  S.  17  f.).  Damit  ist  klar  geworden 
dafs  es  nur  eine  Art  von  Elementen  gibt,  dafs  die  Elemente 
ihrer  Natur  nach  „gleichartig^  sind.^  Ein  Orund,  warum  man 
sie  in  ihrer  Gesamtheit,  aber  auch  warum  man  die  einen  oder 
anderen  von  ihnen  eher  psychisch  als  physisch  nennen  sollte, 
ist  schlechterdings  nicht  angebbar. 

„Farben,  Töne,  Wärmen,  Drücke,  Räume,  Zeiten  usw.  sind 
in  mannigfaltiger  Weise  miteinander  verknüpft,  und  an  dieselben 
sind  Stimmungen,  Gefühle  und  Willen  gebunden ^^2)  Diese 
Farben,  Töne  usw.  sind  es  nun,  die  nach  Mach  den  Bestand 
der  unmittelbar  vorgefundenen  Wirklichkeit  bilden;  sie  sind, 
wie  er  vom  Standpunkte  seines  Positivismus  sagt,  „die 
eigentlichen  realen  Elemente  der  Welt'^^)  Dafs  die  mitgeteilte 
Übersicht  über  die  Elemente  nicht  vollständig  zu  sein  bean- 
sprucht, geht  schon  aus  der  Formulierung  hervor.  Auf  eine 
wirklieh  erschöpfende  Aufzählung  und  systematische  Einteilung 
der  Elemente  nach  ihren  qualitativen  Besonderheiten,  die  in 
einer  tatsächlich  ausgeführten  Phänomenologie  natürlich  die 

')  A.  d.  E.  255;  siehe  auch  A.  d.  £.  17  n.  253;  M.  459. 
«)  A.  d.E.  If. 
•)  P.  V.  243. 


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28 

Grandlage  für  alle  weiteren  Untersaehnngen  za  bilden  hätte, 
hat  Maeh  yerzichtet;  vielmehr  begnügt  er  sieh  in  dieser 
Hinsicht  mit  Andentangen.^)  Indessen  ist  klar,  dafs  die 
Machschen  ,,  Elemente '^  abgesehen  von  ihrem  besonderen 
erkenntnistheoretischen  Charakter,  mit  dem  sich  decken,  was 
die  Psychologie  in  allgemeinster  Wendnng  als  elementare 
„Inhalte''  bezeichnet.  Und  weiter  scheint  zunächst  deotlicli, 
dafs  Mach  unter  seinen  Elementen  die  „intellektuellen'*  und  die 
„emotionalen"  Inhalte  der  Psychologie  in  gleicher  Weise  befaüst 
Tatsächlich  aber  glaubt  er,  wie  aus  unzweideutigen  Äufsernngen 
herYorgeht,^)  die  emotionalen  Inhalte  auf  weniger  analysierte, 
diffuse,  unscharf  lokalisierte  Sinnesempfindungen  zurückführen 
zu  können,')  so  dafs  also  die  Gefühle  nicht  den  Elementen 
zuzurechnen  wären.  Näher  auf  diese  Aufzählung  und  Klassi- 
fikation der  Elemente  einzugehen  liegt  für  uns  kein  Grund 
Yor,  da  sie  bei  Mach  eben  nichts  besonders  Charakteristisches 
bietet.  Nur  zwei  Momente  werden  uns  noch  weiter  unten 
beschäftigen  mtlssen :  Zunächst  die  Frage,  wie  sich  Mach  zu  der 
von  der  Psychologie  vorgenommenen  Unterscheidung  von  „Emp- 
findungen" und  „Vorstellungen"^)  verhält,  da  diese  Unterscheidung 
auch  von  hoher  erkenntnistheoretischer  Bedeutung  ist  Und 
sodann  die  ja  ersichtlich  eine  Schwierigkeit  enthaltende  Tat- 
sache, dafs  Mach  zu  seinen  Elementen  neben  den  Farben, 
Tönen  usw.  auch  die  „Räume"  und  „Zeiten"  rechnet. 

Zuvor  aber  mufs  die  Bestimmung  des  Elementenbegriffes 
noch  nach  einer  anderen  Seite  hin  ergänzt  werden.  Wir 
haben  gesehen,  dafs  Mach  fttr  seine  besonderen  Zwecke  dem 
Worte  „Element"  einen  Sinn  beilegt,  den  man  mit  ihm  sonst 
nicht  verbindet,  indem  er  durch  diesen  Ausdruck  Bezeichnungen 
wie  „Vorstellung"  und  „Erscheinung"  für  die  Bestandsttteke 
des    unmittelbar    vorgefundenen    Wirklichen    vermeiden  will 


1)  Vgl.  zu  der  oben  mitgeteilten  Aufirtellung  der  Elemente  nock 
P.  V.  239;  E.u.  J.8;  M.  459. 

*)  A.  d.E.  17;  E.U.J.22. 

*)  Er  findet  sich  also  in  Übereinstinunuiig  mit  der  bekaonten  Tbeoris 
von  James  und  Lange. 

*)  Oder,,  Wahmehmungsvorstellangen"  und  „abgeleitete"  (Erinnenmgs-, 
Einbildangs-,  abstrakte)  Vorstellungen  (B.  Erdmaon).  Der  psychologische 
Sprachgebrauch  ist  schwankend. 


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29 

(ygl.  S.  14).  Aber  auch  die  nrBprflngliche  Wortbedeatnng  von 
„  Element '^y  die  auf  die  Einfachheit,  Unzerlegbarkeit  des  so 
bezeiehneten  Gegenstandes  geht,  ist  bei  Mach  erhalten.  Die 
Elemente  sind  für  ihn  „letzte  Bestandteile'V)  »die  einfachsten 
Bausteine  der  physikalischen  (nnd  aneh  der  psychologischen) 
Welt".*)  In  welchem  Sinne  die  Psychologie  von  einfachen, 
anzerlegbaren  Inhalten  spricht,  mttssen  wir  hier  als  bekannt 
Toranseetzen.  Die  einen  Klang  oder  ein  Geräusch  zasammen- 
setzende  Tönen  (im  Helmholtzschen  Sinne),  an  denen  sich  zwar 
noch  verschiedene  Eigenschaften  oder  Merkmale  (Qualität, 
Intensität  usw.)  nnterscheiden  lassen,  die  aber  nicht  weiter 
in  einzelne  tonale  Bestandteile  zerlegt  werden  können,  geben 
ein  naheliegendes  Beispiel  fttr  einfache  Sinnesinhalte  ab.  Mach 
schreibt  seinen  Elementen  Einfachheit  oder  Unzerlegbarkeit 
ganz  im  gleichen  Sinne  zn.  So  betrachtet  er  z.  B.  die  Grund- 
farben (d.  h.  die  sechs  „Urfarben"  im  Sinne  Herings)  im  Unter- 
eehiede  von  den  übrigen  Gliedern  des  Farbensystems  als 
elementar.')  Wenn  Mach  von  den  Elementen  sagt,  dafs  sie 
Bestandteile  seien,  „die  wir  bisher  nicht  weiter  zerlegen 
konnten",*)  dafs  „eine  weitere  Auflösung  bisher  noch  nicht 
gelungen  ist",^)  so  will  er  damit  zum  Ausdruck  bringen,  dafs 
er  die  Reduktion  des  vorgefundenen  Mannigfaltigen  auf 
einfachste  Bestandteile  noch  nicht  für  abgeschlossen  hält.  Das 
mag  unter  anderem  ein  Grund  sein,  warum  er  auf  eine  voll- 
ständige systematische  Aufstellung  der  Elemente  so  geringen 


»)  A.  d.  E.  4. 

«)  A.  d.  E.  84. 

")  Ober  die  Frage,  ob  die  Grundfarben  als  die  einfachen  „Bestand- 
teile'* der  Übrigen  (als  zusammengesetzt  betrachteten)  Farben  (P.  Y.  248, 
£.  a.  J.  12  Anm.)  anfzufaasen  sind,  oder  ob  man  sie  mit  v.  Kries  als  blofse 
ausgezeichnete  Punkte  einer  Mannigfaltigkeit  zu  charakterisieren  hat  (Arch. 
1  Anat  u.  Physiol.  1882  Suppl,  S.  46),  deren  eigentttmliche  Stellung  im 
Farbensystem,  wie  G.  £.  MtUler  es  näher  ausführt,  dadurch  gegeben  ist, 
dafs  beim  Durchlaufen  der  Farbenreihe  bei  den  Grundfarben  der  Eindruck 
aaftritt,  als  ob  die  „qualitative  Empfindungsttnderung  ihre  Richtung  wechsle" 
(Zeitschr.  f.  Psycho!,  n.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  1896,  Bd.  10,  8. 69),  bestehen 
anter  den -Psychologen  noch  Heinungsvenehiedenheiten.  Doch  dUrfte  die 
letztere  Ansicht  die  zutreffendere  sein. 

*)  A.d.E.4. 

•)  A.  d.  E.  84.    Vgl  a.  A.  d.  E.  24;  B.  E.  118f.;  E.  n.  J.  12  Anm.,  44. 


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so 

Wert  legt  Diese  Redaktion  denkt  sich  Maeh  ttbrigens  nicht 
auf  dem  Wege  rein  psychologiseher  Zergliederung  des  Erlebnis- 
inhalts zn  Ende  geführt,  sondern  unter  Leitung  der  Methoden 
der  Physiologie.  In  diesem  Sinne  gebraucht  er  gelegentlich 
die  Wendung,  dafs  die  „ Physiologie '^  uns  die  „eigentlicheo 
realen  Elemente  der  Welt^  erschliefsen  werde.^) 

Völlig  klar  und  im  Bewuf stsein  ihrer  erkenntnistheoretischea 
Tragweite  Yollzogen  ist  die  Unterscheidung  zwischen  Empfindung 
und  Vorstellung  erst  bei  Hume.  Die  Gegenttberstellnng  der 
„impressions'^  und  „ideas^^  oder  „thoughts^  als  der  beiden 
charakteristisch  verschiedenen  Unterarten  der  „pereeptions" 
bildet  geradezu  einen  der  Orundfaktoren  der  Humeschen 
Erkenntnislehre.  Deutlich  angelegt  indessen,  und  ebenfalls 
bereits  erkenntnistheoretisch  gewendet,  findet  sich  diese  Unter- 
scheidung schon  bei  Berkeley  in  dem  Gegensatz  der  „real 
things"  und  „images  of  things"  oder  „more  properly  termed 
ideas".^)  Den  einzigen  Unterschied  zwischen  den  beiden  Arten 
von  (einfachen)  Perzeptionen,  soweit  er  als  ein  rein  phäno- 
menaler, erscheinungsmäfsiger  in  Betracht  kommt  —  eine 
andere  Unterscheidung  ist  durch  die  Verschiedenheit  ihres 
Ursprunges  gegeben  — ,  sieht  Hume  in  den  „different  degrees 
of  force  and  vivacity",*)  die  sie  besitzen.  Die  ideas  werden 
gegenüber  den  impressions  als  „less  foreible  and  lively",*)  als 
„more  feeble  pereeptions"^)  charakterisiert.  Im  übrigen  sind 
sie  diesen  in  inhaltlicher  Beziehung  völlig  gleichartig:  die 
(einfachen)  Ideen  sind  „copies  of  our  impressions^.*)  Auf  die 
vielen  neueren  Versuche,  den  Unterschied  zwischen  Empfindung 
und  Vorstellung  sei  es  als  einen  qualitativen,  sei  es  als  einen 
intensiven  zu  bestimmen,  haben  wir  nicht  einzugehen.  Erwähnt 
soll  nur  noch  werden,  dals  Th.  Ziehen  das  unterscheidende 
Merkmal  zwischen  den  beiden  Arten  psychischer  Inhalte, 
unter    starker    Herausstellung    des   rein   phänomenologischen 


0  P.  V.  248.    Vgl.  a.  E.  u.  J.  12  Anm. . 

«)  Vgl  S.  17  Anm.  5. 

')  Treat  396,  s.  a.  811  f.  u.  Enqn.  13  (Ed.  Green  and  Grose). 

*)  Enqu.  18. 

«)  Enqn.  14. 

«)  Enqu.  14;  s.  a.  Treat.  396. 


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31 

Moments,  in  der  den  Empfindungen  eigenen  „sinnlichen  Leb- 
haftigkeit^'*) sieht,  dabei  mit  Recht  betonend,  dafs  dieser 
Unterschied  nur  erlebt,  nicht  aber  irgendwie  definiert  werden 
könne. 

Der  Gegensatz,  den  die  Psychologie  zwischen  Empfindungen 
und  Yorstellungen  statuiert,  durchzieht  in  entsprechender  Weise 
bei  Mach  die  Mannigfaltigkeit  der  Elemente.  Dafs  sich  aber 
Mach  der  erkenntnistheoretischen  Wichtigkeit  dieses  Gegen- 
satzes voll  bewufst  geworden  sei,  wird  man  kaum  behaupten 
dürfen;  jedenfalls  gewinnt  er  im  Geftige  seiner  Lehre  keine 
rechte  Bedeutung.  Mach  bedient  sich  der  Ausdrücke  Emp- 
findung und  Vorstellung,  wo  er  beide  einander  gegenttberstellt, 
ganz  im  Sinne  der  gewöhnliehen  psychologischen  Terminologie.^) 
Den  Unterschied  zwischen  den  beiden  Arten  von  Inhalten 
bezw.  Elementen  findet  er,  abgesehen  von  der  besonderen 
Weise  ihrer  Verknüpfung,  hauptsächlich  in  der  geringeren 
Intensität  und  der  Flüchtigkeit  der  Vorstellungen  gegenüber 
den  Empfindungen.  „In  der  Tat  besteht  im  normalen  psychischen 
Leben  ein  sehr  starker  Unterschied  zwischen  beiden  Arten 
psychischer  Elemente**.^)  Es  ist  ausdrücklich  von  „Sinnes- 
empfindungen'' und  „Vorstellungen"  die  Rede.  Und  weiter: 
,Jch  sehe  eine  schwarze  Tafel  vor  mir.  Ich  kann  mir  mit 
der  gröfsten  Lebhaftigkeit  auf  dieser  Tafel  ein  mit  scharfen 
weifsen  Strichen  gezogenes  Sechseck  oder  eine  farbige  Figur 
vorstellen.  Ich  weifs  aber,  pathologische  Fälle  abgerechnet, 
immer,  was  ich  sehe,  was  ich  mir  vorstelle".*)  Der  Unterschied 
wird  nun  näher  charakterisiert,  und  schlief slich  heilst  es: 
„Die  Vorstellungen  unterscheiden  sich  in  normalen  Fällen  von 
den  Empfindungen  wohl  durch  ihre  geringere  Intensität,  -vor 
allem   aber   durch   ihre   Flüchtigkeit".«^)     Empfindungen   und 


>)  Ziehen,  Leitf.  d.  physiol.  Psychol,  8.  Aufl.  1908,  S.  140. 

«)  Über  den  speziellen  Süm  des  Wortes  ,,Empfinduog''  bei  Mach  vgl 
später,  im  zweiten  Teil  dieses  Kapitels. 

»)  A.  d.  E.  163.  Von  mir  gesperrt.  Der  Ausdruck  „psychische"  El. 
wird  später  AofklMrung  finden« 

-)  ib. . 

»)  ib. .  Vgl.  a.  A.  d.  E.  164  u.,  femer  A.  d.  E.  209,  wo  von  dem 
„Schattenhaften  und  Vergänglichen  der  Vorstellung  gegenüber  der  Simiea- 
empfindung"  gesprochen  wird,  A.  d.  E.  169:  „es  lassen  sich  alle  Übergänge 


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32 

Yorstellangen  unterscheiden  sich  ferner  durch  die  Art  ihrer 
Verknttpfang.  Die  Vorstellnngen  stehen  nämlich  nntereinander 
im  assoziativen  Znsammenhange,  die  Empfindungen  als  objektive 
Gegebenheiten,  als  Elemente  im  Sinne  Machs  gefalst  natttrlieh 
nicht ;^)  auch  hierbei  ist  der  phänomenale  Unterschied  von  Emp- 
findung und  Vorstellung  selbstverständlich  Voraussetzung. 
Mach  unterscheidet  also  innerhalb  der  Mannigfaltigkeit  des 
Gegebenen  zwei  charakteristisch  verschiedene  Arten  von 
Elementen.  Die  den  „Empfindungen^  der  Psychologie  ent- 
sprechenden Elemente  bezeichnet  er  häufig  durch  die  grofsen 
Buchstaben  ABG...,  die  den  Vorstellungen  entsprechenden 
durch  aßy ,.?) 

Wir  haben  bereits  gesehen,  dals  Mach  in  seiner  Auf- 
zählung der  Elemente  neben  den  Farben,  Tönen  usw.  auch 
„Räume'^  und  „Zeiten^'  erwähnt,  was  zunächst  ganz  unver- 
ständlich ist.  Um  tlber  diesen  Punkt  Klarheit  zu  gewinnen, 
müssen  wir  auf  die  Lehren  von  Baum  und  Zeit  bei  Mach 
näher  eingehen.  Wir  haben  es  dabei  in  diesem  Zusammen- 
hange nur  mit  dem  phänomenalen  Baum  und  der  phänomenalen 
Zeit  zu  tun,  mit  dem  Baume  und  der  Zeit  der  unmittelbaren 
Anschauung.  Auf  die  Untersuchungen  Machs  ttber  die 
Begriffe  des  „physikalischen"^  Baumes  und  der  „physikalischen" 
Zeit  und  seine  Tendenz,  die  Baum-Zeitgrölsen  aus  den 
Gleichungen  der  Physik  völlig  zu  eliminieren,  werden  wir  bei 
späterer  Gelegenheit  zu  sprechen  kommen.  Wir  haben  bei 
unseren  Erörterungen  natttrlieh  keine  Veranlassung,  auf  die 
vielen  psychologischen  und  sinnesphysiologischen  Einzelheiten, 
die  Mach  in  diesen  Untersuchungen  vorbringt  und  denen  sein 
Interesse  an  diesem  Gegenstande  in  erster  Linie  zugewandt  ist, 
näher  einzugehen. 

Physiologisch  (und  psychologisch)  betrachtet  sind  Baum 
und  Zeit  nichts  anderes  als  „besondere  Arten  von  Empfindungen^') 

von  der  Empfindung  znr  Vorstellnng  nachweisen  *',  u.  £.  n.  J.  22.  —  Zo- 
weilen  seheint  es,  als  ob  Mach  den  intensiven  (oder  quilitatiyeo) 
Unterschied  von  Empf.  nnd  Vorst.  ganz  negieren  und  nur  die  Art  der 
Verknüpfung  fUr  die  Unterscheidung  ma&gebend  sein  lassen  will,  so  best 
A.  d.  £.  16  f.;  E.  u.  J.  22.    Doch  sind  die  Stellen  nicht  ganz  klar. 

0  A  d.  E.  169,  29;  E.  u.  J.  11,  22. 

•)  A.  d.  E.  7. 

•)  A.  d.  E.  284. 


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8^ 

„Sofern  wir  räumlich  wahrnehmen,  beruht  diee  nach  unserer 
Anffasenng  auf  Empfindungen 'V)  ^^^^^  ^^^  „Raumemp- 
findnngen^,  die  auf  Grund  einer  physiologisch -entwicklungs- 
geschichtlichen Hypothese  auch  als  „  Organempfindungen '^  den 
spezifischen  „Sinnesempfindungen''  gegenttbergestellt  werden.^) 
Ähnliches  gilt  fUr  die  Zeitempfindnngen.  Raumempfindungen 
und  Sinnesempfindungen  können  nur  „ miteinander '^  auftreten;') 
genauer  gesprochen:  die  Raumempfindungen  sind  stets  an 
Sinnesempfindungen  gebunden,  während  es  umgekehrt  auch 
Sinnesempfindungen  gibt,  die  „ohne  deutliche  Raumempfindung^ 
auftreten.^)  Dagegen  begleitet  die  Zeitempfindung  jede  andere 
Empfindung.^)  Wir  sehen  zunächst,  dafs  Mach  das  Wort 
„Empfindung^  hier  in  einem  ganz  allgemeinen  und  unbestimmten 
Sinne  gebraucht.  Man  wird  sich  mit  Recht  fragen  dürfen,  ob 
denn  die  Raum-  und  Zeitempfindnngen,  was  doch  fUr  die 
übrigen  von  der  Psychologie  als  Empfindungen  bezeichneten 
Inhalte  charakteristisch  ist,  auch  ein  qualitativ  und  intensiv 
in  sich  abgestuftes  System  bilden.  Nun  spricht  Mach  ja  in 
der  Tat  von  einem  System  von  „stetig  abgestuften  Orts- 
qualitäten^';^)  ob  er  aber  diese  „  Ortsqualitäten  ^',  d.  h.  die  ver- 
schiedenen unterscheidbaren  Raumwerte  des  Seh-  bezw.  des 
Tastraumes,  als  ein  Analogen  zu  den  Qualitäten  der  „Sinnes- 
empfindungen'' auffaTst,  wird,  ebenso  wie  die  Rolle  der  Intensität, 
nicht  recht  ersichtlich.  Von  Raum-  und  Zeitempfindungen 
zu  sprechen  mufs  man  also,  wenn  dieser  Begriff  nicht  genauer 
festgelegt  wird,  als  das  bei  Mach  geschehen  ist,  mindestens 
als  bedenklich  bezeichnen.  Übrigens  läfst  die  Begriffs- 
bestimmung der  Psychologie  gerade  in  diesem  Punkte  fast 
allgemein  die  gehörige  Präzision  vermissen.  Indessen  ist  klar, 
dafs  Mach  jedenfalls  einen  Unterschied  macht  zwischen  den 
Empfindungen  einerseits  und  Raum  und  Zeit  andrerseits;  die 
Unterscheidung  zwischen  Organempfindungen  =  Raumemp- 
findnngen  und  Sinnesempfindungen  ist,  ob  sie  nun  zutreffend 

0  A.  d.  £.  150. 

>)  A.  d.E.  1510 ;  E.  n.J.  345. 
^  A.  d.  E.  151;  £.  u.  J.  345,  350,  390. 
•)  A.  d.  E.  200. 

^  ib. .    Man  denke  an  das  bekannte  Analogen  bei  Kant. 
•)  E.  u.  J.  390,  s.  a.  345. 
Philosophische  Abhandlungen  XXXXY.  3 


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84 

sei  oder  nicht,  jedenfalls  in  der  Absicht  vollzogen,  der  anmittel- 
baren  Tatsache  einer  charakteristischen  Verschiedenheit  zwischen 
diesen  beiden  Qegebenheiten  gerecht  zn  werden.  Die  Neben- 
einanderstellnngen  von  Farben,  Tönen,  Bänmen  and  Zeiten 
darf  also,  wo  sie  bei  Mach  sich  findet,  als  in  gewisser  Hinsicht 
provisorisch  angesehen  werden.^) 

Weiter  ist  zn  bemerken,  dafs  Mach  nicht  von  einer  Banm- 
oder  Zeitempfindnng  schlechthin,  sondern,  wie  wir  gesehen 
haben,  von  einzelnen  Ranmempfindnngen  nnd  Zeitempfindnngen, 
von  „Räumen"  nnd  „Zeiten"  spricht  nnd  diese  als  „Elemente'^ 
bezeichnet  Das  erinnert  uns  an  die  bekannte  Lehre  von  den 
räumlichen  und  zeitlichen  minima  perceptibilia,  die  besonders 
von  Berkeley  und  Hume  vertreten  worden  ist,  und  wir  können 
uns  in  der  Tat  am  besten  Klarheit  ttber  die  Machsehe  Auf- 
fassung verschaffen,  wenn  wir  von  dieser  Lehre  ausgehen. 
Für  Berkeley  und  Hume  zer^lt  der  Wahrnehmungs-  ebenso 
wie  der  Vorstellungsraum,  gleichgültig  ob  er  dem  Gesichtssinn 
oder  dem  Tastsinn  angehöre,  in  eine  Mannigfaltigkeit  lelzter 
nicht  weiter  unterteilbarer  Raumelemente,  die  als  „minima" 
oder  ,.points"  („min.  visibilia"  und  „min.  tangibilia")')  bezeichnet 
werden,  und  die  natürlich  nur  unter  gewissen  Bedingungen  als 
solche  zum  Bewulstsein  kommen.  Ähnliches  gilt,  deutlieh 
ausgesprochen  nur  bei  Hume,  auch  fttr  die  Zeit  Diese  minima 
besitzen  selbstverständlich  noch  räumliche  bezw.  zeitliehe 
Eigenschaft;  sie  sind  eben  die  kleinsten  wahrnehmbaren  und 
vorstellbaren  und,  das  steht  fttr  diese  Denker  völlig  auüser 
Frage,  auch  denkbaren  Räume  bezw.  Zeiten.  Raum  und  Zeit 
in  extenso  gehen  aus  diesen  Elementen  hervor,  indem  diese 
sich  aneinanderlagern,  indem  sie  Jn  a  certain  manner  disposed^ 
sind.3) 

Ganz  ähnlich  liegen  nun  die  Dinge  bei  Mach.  Die  einzeben 
Raum-  bezw.  Zeitelemente  sind  in  der  Anschauung  nicht  weiter 
zerlegbar,  das  geht  aus  dem  Elementenbegriff  mit  den  an- 
gegebenen Vorbehalten  ohne  weiteres  hervor.    Und  sie  bilden, 


0  Vgl.  a.  E.  u.  J.  447  (Abschnitt  17  Anfang). 

*)  Berkeley,  Essay  towards  a  new  theory  of  vision,  Sect  54,  62,  ^0; 
Princ.  Sect.  132  usw. 

')  Home,  Treat.  341  (Raum),  344  (Zeit). 


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35 

im  Unterschiede  yon  den  anderen  Elementen  (den  „Sinnes- 
empfindangen"},  eine  bestimmte  Ordnung,  die  man  eben  nur 
als  räumliche  bezw.  zeitliche  Ordnung  bezeichnen  kann.  Mach 
spricht  von  „benachbarten,  unterscheidbaren . . .  Ortsqualitäten  *V) 
weiter  hebt  er  hervor,  dals  „Zeit  und  Baum  physiologisch  nur 
ein  scheinbares  Kontinuum  darstellen  und  höchstwahrscheinlich 
aus  diskontinuierlichen,  aber  nicht  scharf  unterscheidbaren 
Elementen  sich  zusammensetzen ^^)  Diese  Elemente  ordnen 
sich  zusammen  und  bilden  „ein  festes  bleibendes  Schema  öder 
Register*',')  in  welches  die  jeweilig  gegebenen  Sinnesqualitäten 
eingeordnet  werden,  ohne  die  es  allerdings  gar  nicht  in  die 
Erscheinung  treten  kann.<)  Das  gilt  Air  die  Eaumelemente 
und  die  Zeitelemente  in  gleicher  Weise.^)  Damit  ist  klar,  dafs 
auch  bei  Mach  Raum  und  Zeit  gegenüber  den  spezifischen 
Sinnesempfindungen  ihre  eigentttmliche  Stellung  behalten. 

Die  „Elemente*'  sind  ein  ^Erstes  in  dem  Sinne,  dafs  alles 
auf  sie  sich  zurttckfUhren  läfst  oder  aus  ihnen  sich  aufbaut, 
nicht  aber  so,  dafs  sie  das  Zuerst -Bemerkte  darstellten,  dafs 
sie  den  Ausgangspunkt  bildeten  auch  für  die  unreflektierte 
Betrachtung  der  Welt.  Im  Gegenteil  sind  sie  Produkte  einer 
„absichtlichen  Analyse''®)  oder,  wie  Mach  auch  sagt,  einer 
,^b8traktion".'')  Ihre  Isolierung  hat  bereits  in  ihren  Anfängen 
eine  gewisse  Summe  von  Erfahrungen  zur  Voraussetzung  und 
erfolgt  weiterhin  unter  Leitung  wissenschaftlichen  Interesses, 
sie  ist  „auf  dem  vollkommen  naiven  Standpunkt  des  primitiven 
Menschen  kaum  denkbar".»)  Dem  naiven  Bewufstsein  erscheint 
jedes  Ding  zunächst  als  ein  einheitli(^hesQanze;  die  verschiedenen 
Sinnessphären   angehörenden  Komponenten    werden  zunächst 


0  E,  n.  J.  890. 

")  E.u.  J.447f. 

')  £.  n.  J.  390.  Vgl.  a.  M.  464:  „Raum  und  Zeit  sind  wohlgeordnete 
Systeme  von  Empfindungsreihen^'. 

*)  £.  u.  J.  345.    Das  soll  sich  auch  gegen  Kant  richten  (E.  n.  J.  350). 

*)  E.  u.  J.  432. 

•)  A.  d.  E.  160. 

*)  A.  d.  E.  4  Anm.  Hnme  bezeichnet  diesen  Prozels  als  „distinction 
of  reason",  d.  i.  Trennung  von  Eigenschaften,  die  in  der  Natur  nicht 
trennbar  sind,  wie  die  Gestalt  einer  Kugel  von  ihrer  Farbe.  (Treat  1 333, 
379u.).    Der  Ausdruck  y,Abstraktion"  ist  dafür  schlecht  gewählt 

«)  E.  u.  J.  12  Anm. 

3» 


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86 

noch  nieht  gesondert. i)  Erst  allmählich  nnd  unter  dem  Einflols 
mannigfacher  Erfahrungen  vollzieht  sich  diese  Trennung.  Das 
Sichtbare  löst  sich  von  dem  Tastbaren,  sobald  bemerkt  väri 
dafs  mit  den  Bedingungen  der  Sichtbarkeit  nicht  notwendig 
auch  zugleich  die  Bedingungen  der  Tastbarkeit  erf&Ut  sein 
mttssen  (Spiegelbild).^)  Ähnlich  lösen  sich  auch  die  Übrigen 
Sinnesqualitäten  voneinander.  Aber  die  Analyse  geht  noch 
weiter;  das  Sichtbare  zerfällt  in  Farbe  und  Gestalt  „Zwei 
Dinge  können  von  gleicher  Farbe  aber  ungleicher  Gestalt  sein; 
sie  können  von  verschiedener  Farbe  und  gleicher  Gestalt  sein. 
Hierdurch  teilen  sich  die  Gesichtsempfindungen  in  Farben- 
empfindungen und  Raumempfindungen,  die  wohl  voneinander 
unterschieden,  wenn  auch  nicht  voneinander  isoliert  dar- 
gestellt werden  können ".«)  Unter  den  Farbenempfindungen 
treten  dann  weiter  die  Grundfarben  hervor,^)  und  so  sehreitet 
die  Analyse  fort  bis  zu  den  letzten  nicht  weiter  zerlegbaren 
Elementen.  Den  Ausgangspunkt  für  diese  ganze  Entwicklung 
bildet  also  der  unmittelbare  volle  Erlebniszusanmienhang.  Und 
dieser  ist  auch  ftlr  das  unbefangene  Bewufstsein  das  Primäre 
—  im  Sinne  des  schlechthin  Vorgefundenen  —  in  jedem 
Augenblick:  Wir  sehen  unter  gewöhnlichen  Umständen  „nicht 
Farben  nnd  Formen,  sondern  die  Körper  im  Baume".*) 

Die  so  auf  dem  Wege  der  Analyse  oder  „Abstraktion^ 
gewonnenen  Elemente  sind  also  die  einzelnen  qualitativ  ver- 
schiedenen Seiten,  die  das  Gegebene  darbietet,  das  nicht 
etwa  als  die  Summe  aller  dieser  Elemente  zu  charakterisieren 
ist,  sondern  an  sich  ein  einheitliches  Ganze  bildet,  in  keiner 
Weise  einem  musivischen  Bilde  vergleichbar.  Die  Elemente 
sind  keine  besonderen  Existenzen;  sie  kommen  ,4soliert"<^)  gar 
nicht  vor.  Sie  haben  mit  Atomen  oder  mit  Man  ade  n  durch- 
aus nichts  gemein.7) 

0  E.  u.  S.  12,  Anm.  «)  A.  d.  E.  84. 

*)  ib.    (Hume:  „diBtinction  of  reason*.    Vgl.  vorige  Seite ,  Anm.  7). 

*)  A  d.  E.  4. 

»)  A.  d.  E.  170.  Vgl.  A.  d.  E.  160:  „Wir  sehen  nidit  optische  Bilder 
in  einem  optischen  Raam,  sondern  wir  nehmen  die  uns  umgebenden 
Körper  mit  ihren  mannigfaltigen  sinnlichen  Eigenschaften  wahr^*. 

•)  E.  u.  J.  460. 

^)  In  einem  anderen  Zusammenhange  erscheinen  sie  allerdings  als 
metaphysisch  hypostasiert.    Vgl.  später.  —  Trotzdem  aber  wird  man  Mach 


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87 

Wollen  wir  uns  anf  Grund  des  Vorgeflilirten  noch  einmal 
ganz  kurz  vergegenwärtigen,  wie  sieh  fttr  Mach  das  Gegebene 
(das  ftor  ihn  der  Inbegriff  des  Wirklichen  ttberhaupt  ist) 
darstellt,  so  können  wir  sagen:  Das  Gegebene  ist  eine 
räamlich-zeitlieh  geordnete  inhomogene  Mannig- 
faltigkeit. Die  verschiedenen  qualitativen  Seiten,  die  das 
Gegebene  aufweist,  und  die  es  in  ihrer  räumlich -zeitlichen 
Anordnung  als  ein  Inhomogenes  erscheinen  lassen,  sind  die 
Elemente. 

2.  Die  Elemente  stehen  untereinander  in  den  mannig- 
fachsten Verknttpfungszusammenhängen.  Diese  Zusammen- 
hänge nun  sind  von  ganz  verschiedener  Art,  je  nachdem  sie  die 
Sinnesoberfläche  Überschreiten  oder  nicht.  Unter  der  Sinnes- 
oberfläche oder  Sinnesperipherie  wollen  wir  hier  den  In- 
begriff der  sensorischen  Endorgane  des  Nervensystems  verstehen, 
d.  h.  die  Gesamtheit  aller  derjenigen  Gebilde,  die,  nach 
gewöhnlicher  Auffassung,  als  Aufnahmeapparate  für  die  die 
Sinnesreize  abgebenden  physikalischen  Bewegungen  in  Frage 
kommen.  Welche  näheren  Vorstellungen  man  sich  über  die 
Natur  des  Reizvorgauges  macht,  ob  man  ihn  ttberhaupt,  in 
Übereinstimmung  mit  der  herrschenden  Anschauung,  als  Be- 
wegnngsvorgang  auffassen  will  oder  nicht,  ist  für  das  Folgende 
belanglos.  Jedenfalls  besitzt,  wie  sich  zeigen  wird,  die 
Sinnesperipherie  eine  eigentttmliche  Bedeutung.  Mach  selbst 
spricht  nicht  von  der  Sinnesperipherie,  sondern  statt  dessen 
von  der  „räumlichen  Umgrenzung  U  unseres  Leibes",0  die  er 
im  allgemeinen  mit  der  Körperhaut  gleichzusetzen  scheint. >) 
Indessen  wird  aus  den  nachstehenden  Erörterungen  deutlich 
werden,  dals  die  von  uns  vorgeschlagene  Abänderung  eine 
Präzisierung  der  Machschen  Auffassung  bedeutet,  die  an  dem 
Grandgedanken  Machs  jedenfalls  nichts  ändert    Es  soll  jedoch 


ab  einen  Vertreter  der  „atomistischen"  Psychologie  in  dem  Sinne 
bezeichnen  müssen,  in  dem  diese  Richtung  von  William  James  bekämpft 
wird.  (Vgl.  W.  James,  Principles  of  Psychology  1891 ,  bes.  Kap.  IX  „The 
stream  of  thonght'^  voL  I  p.  221.) 

»)  E.U.  J.Sff.,  18.    Vgl.  L.  14. 

«)  Vgl  A.  d.  E.  16. 


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88 

in  folgendem,  anter  Beachtung  der  angegebenen  Modifikation, 
das  bequeme  Symbol  „U'*  beibehalten  werden. 

Wir  wollen  nun  die  unter  dem  Gesichtspunkte  der  U 
zuzuschreibenden  Funktion  sich  ergebenden  möglichen  Abhängig- 
keitsverhältnisse der  Elemente  aufstellen,  indem  wir  uns  dabei 
zunächst  nicht  streng  an  die  Ausführungen  Machs  halten,  da  sie 
nicht  ganz  systematisch  und  in  terminologischer  Hinsicht  nicht 
ganz  konsequent  sind,  und  erst  nachher  zeigen,  dafs  unsere 
Aufstellung  mit  der  von  Mach  beabsichtigten  der  Sache  Dach 
tibereinstimmt.  Wir  haben  folgende  Abhängigkeiten  oder 
Beziehungen  der  Elemente  zu  unterscheiden: 

1.  a)  Beziehungen  zwischen  den  Elementen  auf  serhalb  U 
(den  A,  B,  G...0):  physikalische    Abhängig- 
keiten, 
b)  Beziehungen  zwischen  den  Elementen  innerhalb  U 
(den  K,  L,  M  . .  .0).   Versteht  man  mit  Mach  unter  U 
die  Kürperoberfläche,  so  kann  man  diese  Abhängig- 
keiten als  physiologische  bezeichnen.    Nimmt  man 
dagegen  die  U- Grenze  in  dem  von  uns  vorgeschlagenen 
Sinne,  so  fallen  alle  diejenigen  Lebens  Vorgänge  mit 
unter  a,    die    sich   in   den   von   sensiblen  Nerven- 
endigungen frei  bleibenden  Begionen  des  Körpers, 
z.  B.  innerhalb  des  Lumens  der  Gefäfse  usw.,  ab- 
spielen,^) und  es  bleiben  unter  b  ausschlielslich  die 
Vorgänge    innerhalb    der    nervösen  Substanz    (ein- 
schliefslich  der  nervösen  Endorgane):  neurophysio- 
logische  Abhängigkeiten. 
Die  beiden  unter  a  und  b  getrennt  aufgeführten  Arten 
von    Abhängigkeiten,    die    gemeinschaftlich    dadurch 
charakterisiert  sind,  dafs  sie  die  Sinnesoberfläche  nicht 
überschreiten  (d.  h.  aufserhalb  oder  innerhalb  der- 
selben  verbleiben),    wollen   wir   zusammenfassend  als 
physikalische  Abhängigkeiten  im  weiteren  Sinne 
bezeichnen  oder   auch,   da  die  Unterscheidung  von  a 


»)  Vgl.  S.  32. 

')  Solche  Vorgänge  würden  nach  unserer  Definition  sich  aufs  er  halb 
der  Sinnesoberfiäche  oder  der  U-Grenze  abspielen.  Ebenso  würde  auch 
ein  von  einer  Anaesthesie  befallener  Körperteil  auiserhalb  U  liegen. 


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89 

aod  b   für  das  Folgende   ohne  Bedentnng  sein   wird, 
Bchleehtbin   als:    physikalische   Abhängigkeiten. 

2.  Beziehungen  zwischen  den  Elementen  anfserhalb  U  nnd 
denen  innerhalb  U,  Beziehungen,  welche  die  U- Grenze 
überschreiten:  psychophysiologische  Abhängig- 
keiten. 

Diesen  beiden  anter  1  nnd  2  aufgeführten  Arten  von 
Beziehungen,  bei  denen  die  U-Grenze  eine  malsgebende  Bolle 
spielt,  ist  eine  dritte  Art  an  die  Seite  zu  stellen,  bei  der  das 
nicht  der  Fall  ist  Es  sind  das  die  besonderen  Abhängigkeiten 
zwischen  denjenigen  Elementen,  die  den  Vorstellungen  (und 
ev.  auch  den  emotionalen  Inhalten)  der  Psychologie  entsprechen. 
Hierhergehören  die  assoziativen  und  möglicherweise  noch  andere 
Arten  von  Zusammenhängen  zwischen  den  Vorstellungen.    Also 

3.  Beziehungen  zwischen  den  in  psychologischer  Wendung 
als  Vorstellungen  zu  bezeichnenden  Elementen  (den  a, 
Ä  7- ••*))•  psychologische  Abhängigkeiten. 

Ausdrücklich  findet  sieh  bei  Mach  diese  Dreiteilung 
nirgends;^)  doch  geht  aus  seinen  AusfUhrungen  mit  Deutlichkeit 
hervor,  dafs  er  die  genannten  drei  Arten  von  Abhängigkeiten 
kennt  und  anerkennt.  Zweifelhaft  könnte  es  allerdings  zu- 
nächst scheinen,  ob  Mach  auch  die  dritte  Art  von  Beziehungen, 
die  wir  als  psychologische  bezeichnet  haben,  als  eine  besondere 
gelten  läfst,  da  er  sie  (aus  Gründen,  die  sich  gleich  zeigen 
werden)  nicht  mit  den  beiden  anderen  zusammen  nennt.  Doch 
heilst  es  ausdrücklich:  „Die  Vorstellungen  hängen  . . .  unter- 
einander wieder  in  anderer  Weise  zusammen  (Assoziation, 
Phantasie)  als  die  sinnlichen  Elemente  ABC...  K  L  M . .  .^V) 
„Der  (assoziative)  Zusammenhang  der  Vorstellungen  ist  allerdings 
ein  anderer  als  jener  der  Empfindungen^^)  usw.  Die  Abhängig- 
keiten, die  wir  oben  als  physikalische  bezeichnet  haben,  werden 
von  Mach  ebensogenannt;  die  von  uns  als  psychophysiologische 
bezeichneten  Abhängigkeiten  heilsen  bei  Mach  gewöhnlich 
„physiologische^,  doch  steht,  wie  gesagt,  die  Terminologie  bei 
ihm  nicht  fest 

1)  Vgl  S.  S2. 

*)  Auch  die  Unterscheidasg  in  der  „Allgemeineo  Bemerknng'*  E.  d. 
A.  57  deckt  sich  nicht  mit  der  oben  getroffenen. 

»)  A  d.  E.  29.  *)  A.  d.  E.  169.    Vgl.  a.  E.  u.  J.  1 !,  22. 


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40 

Von  höchster  erkenntDistheoretischer  und  phanomeno- 
logiBcher  Bedeutung  ist  die  Beachtung  der  Verschiedenartig- 
keit  der  physikalischen  und  der  psychophysiologischen  Abhängig- 
keiten. Denn  der  Unterschied  dieser  beiden  Arten  Ton 
Beziehungen  begründet  den  Gegensatz  Yon  physikalischer  und 
psychologischer  Betrachtungsweise,  von  Physik  und  Psycho- 
logie, beide  Begriffe  im  weitesten  Sinne  genommen.  Die 
Elemente  ABC...  zeigen  eine  „Doppelabhängigkeit^V)  s^^ 
erweisen  sich  als  abhängig  ^von  Elementen  aulserhalb  U,  und 
von  Elementen  innerhalb  U".0  „Die  Bestandteile  meines 
Befundes  im  Baume  hängen . . .  nicht  nur  im  allgemeinen  von- 
einander ab,  sondern  insbesondere  auch  von  den  Befunden  an 
meinem  Leib,  und  dies  gilt  mutatis  mntandis  von  den  Befunden 
eines  jeden^^)  Genauer :  „Wir  haben ...  die  räumliche  Um- 
grenzung U  unseres  Leibes  immer  vor  Augen  und  sehen^  dafs 
die  Befunde  aulserhalb  U  ebensowohl  vaneinander,  als 
auch  Yon  den  Befunden  innerhalb  U  abhängen^^)  Die  erste 
Art  der  Abhängigkeit  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  eine 
physikalische,  die  zweite  „ganz  anders  geartete,  die  Grenze  U 
überschreitendem^^)  eine  psychophysiologische  („physiologische"*}. 
Je  nachdem  nun  ein  Element  als  Glied  eines  physikalischen 
oder  eines  psychophysiologischen  Znsammenhanges  auftritt,  je 
nachdem  wir  auf  die  eine  oder  auf  die  andere  Art  der  Ab- 
hängigkeit reflektieren,  und  nur  insofern  dies  der  Fall  ist, 
bezeichnen  wir  dasselbe  Element  A,  B,  G  das  einemal  als 
„physikalisches  Objekt'^,*^)  „physikalisches  Merkmal",?)  das 
andremal  aber  als  „psychologisches  Objekt",^)  oder  als 
„Empfindung^»)  Das  ist  der  spezifische  Sinn,  den  das  Wort 
„Empfindung'^  bei  Mach  gewinnt  „Eine  Farbe  ist  ein  phy- 
sikalisches Objekt,  sobald  wir  z.  B.  auf  ihre  Abhängigkeit 

»)  E.  U.  J.  18. 
•)ib. 

•)  E.  u.  J.  8. 
*)ib. 
»)  L.  14. 

•)  A.  d.  E.  13,  14.  34  u. 

^)  L.  15.  Aach  ,, physikalisches"  oder  „physisches  Element",  A.  d. 
£.  36,  51;£.  u.  J.  10. 

">)  A.  d.  £.  14.  Auch  „psychisches  Element",  A.  d.  £.  36,  Sl ;  £.  o.  J.  10. 
•)  A.  d.  E.  13,  14,  36,  265;  E.  u.  J.  9o,  21;  S.  E.  263  usw. 


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41 

TOD  der  beleuchtenden  Lichtquelle  (anderen  Farben,  Wärmen, 
Räumen  usw.)  achten.  Achten  wir  aber  anf  ihre  Abhängig- 
keit von  der  Netzhaut  (den  Elementen  E  L  M . . .),  so  ist  sie 
ein  psychologifiches  Objekt,  eine  Empfindung.  Nicht  der 
Stoff,  fiondern  die  UnterBuchungsrichtung  ist  in  beiden 
Gebieten  f^erschieden".^)  Und  in  ähnlicher  Wendung:  Die 
„Elemente  zeigen  sich  sowohl  von  auf  serhalb  U,  als  von  inner- 
halb U  liegenden  Umständen  abhängig.  Insofern  und  nur 
insofern  letzteres  der  Fall  ist,  nennen  wir  diese  Elemente  auch 
Empfindungen  V) 

Damit  die  hier  vorgetragene  Machsche  Auffassung  noch 
deutlicher  werde,  möge  noch  ein  etwas  näher  ausgeführtes 
Beispiel  fttr  den  Unterschied  der  physikalischen  und  der  psycho- 
logischen Betrachtungsweise  folgen.  „Wir  betrachten  zunächst 
den  gegenseitigen  Zusammenhang  der  Elemente  des  Komplexes 
ABC....,  ohne  auf  K  L  M  . . . .  (unsern  Leib)  zu  achten. 
Jede  physikalische  Untersuchung  ist  yon  dieser  Art.  Eine 
weilse  Kugel  fällt  auf  eine  Qlocke;  es  klingt  Die  Kugel 
wird  gelb  vor  der  Natrium-,  rot  yor  der  Lithiumlampe.  Hier 
scheinen    die    Elemente    (ABG....)     nur    untereinander 

zusammenzuhängen,  von  unserm  Leib  (K  L  M )  unabhängig 

zu  sein.  Nehmen  wir  aber  Santonin  ein,  so  wird  die  Kugel 
auch  gelb.  Drücken  wir  ein  Auge  seitwärts,  60  sehen  wir 
zwei  Kugeln.  Schliefsen  wir  die  Augen  ganz,  so  ist  gar  keine 
Kugel  da.  Durchschneiden  wir  den  Gehörnerven,  so  klingt  es 
nicht.  Die  Elemente  ABC hängen  also  nicht  nur  unter- 
einander, sondern  auch  mit  den  Elementen  K  L  M  . . . .  zu- 
sammen. Insofern,  und  nur  insofern,  nennen  wir  ABG.... 
Empfindungen  . . .''')  Aber:  das  betrachtete  Element  als  solches 
wird  „in  seiner  Natur  nicht  geändert,  ob  wir  unsere  Auf- 
merksamkeit auf  die  eine  oder  auf  die  andere  Form  der  Ab- 
hängigkeit richtend«)  Und  so  kann  Mach  denn  sagen:  „Ich 
sehe  daher  keinen  Gegensatz   von  Psychischem  und 

»)  A.  d.  E.  14. 

«)  E.U.J.  8f. 

•)  A.  d.  E.  12  f  Man  kann  den  Sachverhalt  wohl  nicht  klarer  und 
schöner  zmn  Aosdrack  bringen,  als  es  in  diesen  Worten  Machs  geschehen 
ist  VgL  «.  A.  d.  E.  35  f.,  48  n,  51  o,  1930,  253,  255,  301,  305;  £.  u.  J.  21, 
54  usw. 

0  A.  d.  E.  36. 


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42 

Physischem^  sondern  einfache  Identität  in  bezng  aaf 
diese  Elemente^O  ^  yersehwindet  fUr  diese  Betrachtangs- 
weise  die  „Klnft  zwischen  Körpern  nnd  Empfindungen,  zwischen 
anfsen  nnd  innen,  zwischen  der  materiellen  nnd  geistigen 
Welt^.3)  Allein  die  Untersnchnngsrichtnng,')  die  aaf  die  eine 
oder  auf  die  andere  Seite  der  „Doppelabhängigkeit''  gehende 
Betrachtung  ist  es,  die  uns  dasselbe  Element  entweder  ab 
ein  physikalisches  oder  als  ein  psychisches,  eine  Empfindaog, 
bezeichnen  läfst.  Übrigens  braucht  es  sich  dabei  nicht  gerade 
um  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  zu  handeln.  Aach 
das  naive  Bewufstsein  auf  der  Stufe  der  praktischen  Welt- 
anschauung unterscheidet  natttrlich  bereits  die  beiden  Fomnen 
der  Abhängigkeit;  die  Erkenntnis  der  Doppelabhängigkeit  der 
Elemente  ist,  wie  später  zu  erörtern  sein  wird,^)  die  Bedingong 
fDr  die  Möglichkeit  der  Abgrenzung  des  Ich  gegen  die  Umwelt 

Damit  ist  klar,  dals  Mach  an  die  Stelle  des  materialen 
Gegensatzes  zwischen  dem  Psychischen  nnd  dem  Physischen, 
den  man  gewöhnlich  behauptet,  einen,  so  können  wir  sagen, 
funktionalen  Gegensatz  treten  lälsi  So  stellt  sich  dieses 
Verhältnis  der  phänomenologischen  Betrachtung  dar.  Mit 
dieser  Bestimmung  glaubt  Mach  den  Dualismus  des  Psychischen 
und  Physischen  „auf  das  Wesentliche  zurttckgeftthrt  und  zugleich 
von  traditionellen  abergläubischen  Auffassungen  gereinigt  zn 
haben"») 

Nicht  tlberflttssig  wird  es  erscheinen,  wenn  wir  uns  noch 
kurz  vergegenwärtigen,  welche  Auffassung  des  Verhältnisses 
von  Reiz  und  Empfindung  sich  auf  diesem  Standpunkte  ergibt 
Denn  obgleich  die  Beantwortung  dieser  Frage  in  den  voran- 
gegangenen Ausftthrungen  schon  enthalten  ist,  dürften  noch 
einige  Unklarheiten  geblieben  sein.*)  Selbstverständlich  ist 
jedenfalls,  dafs  fttr  diese  ganze  Anschauungsweise  ein  „äulserer", 

0  A.  d.  E.  36. 

»)  A  d.  E.  13.    Vgl.  A.  d.  E.  58,  2o3,  277. 

•)  A.  d.E.  14. 

*)  Vgl.S.60flF. 

•)  A.  d.E.  298. 

^  Dafs  eine  alte  und  fest  eingewurselte  Denkgowohnbeit  gerade  an 
dieser  Stelle  vielfach  Schwierigkeiten  in  der  pbXnomenoIogischen  Be- 
trachtungsweise erblicken  lä&t,  die  tatsächlich  nicht  vorhanden  sind,  habe 
ich  oft  im  GespriUsh  erfahren. 


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43 

„materieller'*  GegenstaDd  als  SinDesreiz  nicht  in  Frage  kommen 
kann.  Solehe  Gegenstände  zn  gleichviel  welehen  Zwecken 
heranzuziehen  war  in  den  bisherigen  Erörterangen  dieses 
Kapitels  noch  keine  Veranlassung;  and  die  folgenden  Kapitel 
werden  aosfbhrlich  dartun,  dafs  Mach  deren  Existenz  überhaupt 
bestreitet.  Damit  ist  aber  klar,  da£s  yon  einem  Reizvorgange 
im  Sinne  der  gewöhnlichen  physiologischen  nnd  psychologischen 
Denkweise  bei  dieser  Orientierung  gar  nicht  die  Rede  sein 
kann.  Besteht  dann  aber  überhaupt  noch,  so  werden  wir  uns 
fragen,  ein  Qnmd  oder  auch  nur  eine  Möglichkeit,  von  einer 
Zuordnung  von  Reiz  und  Empfindung  zu  sprechen?  Ja  und 
nein.  —  Damit  eine  bestimmte  Empfindung,  etwa  die  Emp- 
findung des  Gelb  der  Natriumflamme,  zustande  komme,  ist  es 
nötig,  dafs  eine  Reihe  von  Bedingungen  erfüllt  sei.  Dafs 
gevrilse  Bedingungen  erfüllt  seien  heilst  aber  zunächst  nichts 
anderes,  als  dafs  gleichzeitig  mit  der  Gelbempfindung,  und 
zwar  erfahrungsgemäfs  in  konstanter  Verbindung  mit  ihr, 
bestimmte  andere  Empfindungen  sich  finden  oder  finden  lassen. 
So  zeigt  sich  z.  B.  bei  Anwesenheit  dieser  Gelbempfindung  im 
Spektroskop  die  charakteristische  Doppellioie,  die- der  Fraun- 
hoferschen  Linie  D  im  Absorptionsspektrum  der  Sonne  ent- 
spricht; am  Fresnelschen  Spiegel  oder  hinter  dem  Beugungs- 
gitter finden  sich  Interferenzstreifen  von  bestimmtem  Abstände, 
woraus  sich  unter  Berücksichtigung  der  übrigen  mafsgebenden 
Umstände  die  Wellenlänge  des  Natriumlichtes  auf  589  //// 
berechnen  läfst  usw.  Zu  diesen  Bedingungen  aufserhalb 
der  U-Grenze  kommen  noch  solche  hinzu,  die  innerhalb  U 
liegen.  Das  Sinnesorgan,  weiterhin  die  sensoriechen  Nerven 
und  die  entsprechenden  Teile  des  nervösen  Zentralorgans 
müssen  intakt  sein,  d.  h.  sie  müssen  bestimmte  Merkmale  auf- 
weisen (z.  B.  darf  die  Kontinuität  des  Nerven  nicht  unter- 
brochen sein  usw.),  damit  die  Empfindung  zustande  kommen 
kann.  Andern  sieh  die  äufseren  oder  inneren  Umstände, 
indem  etwa  das  Nervensystem  toxischen  Einflüssen  unterstellt 
wird,  so  ändert  sieh  auch  bezw.  verschwindet  die  Empfindung. 
Will  man  nun  die  Gesamtheit  der  äufseren  (aufserhalb  U 
liegenden)  Umstände,  an  deren  Vorhandensein  das  Auftreten 
der  Empfindung  gebunden  ist  und  die  sich,  wie  da9  gegebene 
Beispiel  erkennen  läfst,  auch  quantitativ  darstellen  lassen,  als 


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44 

Reizlage  bezeichnen,  bo  ist  gegen  einen  solchen  Sprach- 
gebranch  natürlich  nichts  einzuwenden.  Jedenfalls  aber  weicht 
diese  phänomenologische  Beschreibnng  des  Verbältoisaes  yod 
„Reiz^^  nnd  „Empfindang''  von  der  sonst  in  der  Physiologie 
gebräuchlichen  Auffassung  beträchtlich  ab.^) 

Wollen  wir  den  Hauptpunkt  der  yorangehenden  Er- 
örterungen noch  einmal  kurz  zum  Ausdruck  bringen,  so  können 
wir  sagen:  Die  Worte  ,, psychisch^  und  „physisch^  bezeichnen 
keine  Charaktere,  die  den  Elementen  an  sich  zukommen,  sie 
enthalten  vielmehr  ein  Moment  der  naiv-praktischen  bezw. 
bewufst- wissenschaftlichen  Stell  ungnahme.  An  die  Stelle  des 
materialen  Gegensatzes  zwischen  Psychischem  und  Physi- 
schem tritt  ein  funktionaler  Gegensatz. 


0  Daus  sich  aach  mit  dieser  Betrachtungsweise  die  Annahme  eines 
psychophysiBchen  Parallelismas  vereinigen  iäfst,  künnto  als  eine  paradoxe 
Behauptung  erscheinen.  Tatsächlich  aber  ist  Mach  ein  Vertreter  dieser  Ansicht, 
die  er  als  eine  wertvolle  Arbeitshypothese  hochschätzt.  Wie  und  io 
welchem  Sinne  das  müglich  ist,  geht  ans  folgenden  Worten  (A.  dL  £.  51) 
hervor,  die  als  völlig  klar  ohne  weitere  Erläuterung  hier  Platz  findea 
sollen:  „Wenn  ich  ein  grUncs  Blatt  sehe,  was  durch  gewisse  Gehin- 
prozease  bedingt  ist,  so  ist  jenes  Blatt  in  seiner  Form  nnd  Farbe  aller- 
dings verschieden  von  den  Formen,  Farben  usw.,  die  ich  an  dem  unter- 
suchten Qehim  finde,  wenn  auch  alle  Formen,  Farben  usw.,  an  sich 
gleichartig,  an  sich  weder  psychisch  noch  physisch  sind.  Das  gesehene 
Blatt,  als  abhängig  gedacht  vom  Gehimprozeis,  ist  etwas  Psychisches, 
während  dieser  Gchirnprozefs  selbst  in  dem  Zusammenhang  seiner  Elemente 
etwas  Physisches  vorstellt.  Und  fiir  die  Abhängigkeit  der  ersteren 
unmittelbar  gegebenen  Elemcnteugruppe  von  der  durch  (vielleicht 
komplizierte)  physikalische  Untersuchung  sich  erst  ergebenden  zweiten 
Gruppe  besteht  das  Parallelismusprinzip.** 


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III.  Ding  und  Ich,  der  Siibstanzbegriff, 
Die  Hypothese  fremden  Bewiifstseins. 


1.  In  dem  Zusammenbange  der  Elemente,  der  fortwährenden 
nnd  mannigfachen  Veränderungen  unterliegt  nnd  der  „im 
Grunde  nur  einer  ist",!)  tritt  daß  „relativ  Festere  und 
Beständigere^  hervor  und  findet  seinen  Ausdruck  in  der 
Sprache.^)  Elementenkomplexe  von  mehr  oder  minder  grofser, 
niemals  aber,  soweit  die  Erfahrung  reicht,  absoluter  Beständig- 
keit sind  es,  die  wir  als  Dinge,  Körper  usw.  bezeichnen.  Auch 
das  Ich  ist  nichts  anderes  als  ein  Komplex,  eine  relativ 
konstante  Znsaromenordnung  von  Elementen.* 

Diese  Bestimmungen  könnten  so  gemeint  sein,  dafs  sie 
lediglich  zum  Ausdruck  bringen  sollen,  als  was  uns  Ding  und 
Ich  in  der  unmittelbaren  Erfahrung  gegeben  sind.  Gar  nicht 
braucht  damit  natürlich  gesagt  zu  sein,  dafs  kein  Grand 
bestehe,  ttber  diesen  unmittelbaren  Tatbestand  irgendwie  hinaus- 
zugehen. Sollen  die  obigen  Bestimmungen  des  Dinges  und  des 
Ich  ohne  Btlcksicht  auf  die  Entscheidung  dieser  erkenntnis- 
theoretischen oder  metaphysischen  Frage  getroffen  sein,  so 
legen  sie  fest,  was  wir  als  phänomenologischen  Ding- 
bezw.  Ichbegriff  oder,  indem  wir  beide  Arten  von  Gegen- 
ständen zusammenfassen,  allgemein  als  phänomenologischen 
Gegenstandsbegriff  bezeichnen  können.  Obgleich  auch  im 
Hinblick  auf  den  Ding-  und  den  Ichbegriff  das  Interesse 
Maehs  sich  in  der  Hauptsache  auf  die  gedankliche  Formulierung 
des  unmittelbaren  Tatbestandes  richtet,   so    sind  doch  auch 

')  A.  d.E.  18. 
«)  A.  d,  E.  2. 


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46 

hier  Beine  Ausftthrangen  nicht  rein  phänomenologisch  gemeint; 
wie  überall  sind  sie  zugleich  der  Aasdrack  seiner  philo- 
sophischen oder  metaphysischen  Stellungnahme.  Bevor  wir 
nnn  auf  die  Machschen  AnsfUhrungen  näher  eingehen,  scheint 
es  zweckmäfsig,  noch  einige  Worte  ttber  den  DingbegT'iff  bei 
Berkeley,  Harne  und  J.  St.  Mill  zu  sagen.  Denn  diese  Denker 
haben  den  Dingbegriff  in  phänomenologischer  Hinsicht  —  in 
engstem  Zusammenhang  natürlich  mit  der  erkenntnistheoretisehen 
Fragestellung,  an  der  sie  in  erster  Linie  interessiert  waren  — 
in  einer  Weise  behandelt,  die  Mach  keine  wesentlich  neuen 
Momente  mehr  beizubringen  gestattete. 

Wie  wir  bereits  hervorzuheben  hatten,  bestreitet  Berkeley 
das  Dasein  „äufserer",  „materieller^  Dinge,  wenn  darunter 
selbständige,  von  ihrem  Vorgestelltwerden  unabhängige  Elxi- 
stenzen  verstanden  werden:  „The  external  objects  do  not 
sabsist  by  themselves,  but  exist  in  minds^^*)  Eine  unmittelbare 
Eonsequenz  dieses  Idealismus  ist  es,  da£s  die  Körper,  die 
„sensible  things''^)  (im  Unterschiede  von  den  „thinking  things"') 
oder  Geistern)  als  Ideenkomplexe  („collections  of  ideas"/) 
„combinations  of  sensible  qualities"^)  aufgefalst  werden,  deren 
einzelne  Bestandteile  gewöhnlieh  verschiedenen  Sinnesgebieten 
angehören.<^)  Nur  der  Umstand,  dafs  diese  verschiedenen 
Qualitäten  in  der  Regel  beisammen  angetroffen  werden  („are 
observed  constantly  to  go  together^'O),  läfst  sie  uns  zu  einem 
Dinge  zusammenfassen  und  mit  einem  Namen  belegen.^)  Die 
Auflösung  des  Körpers  in  eine  Reihe  von  Ideen  gelingt  restlos; 
entferne    ich   nacheinander   die   einzelnen  Sinneskomponenten 

1)  Vgl.  S.  Bf. 

<)  Prino.  Sect  1,  8,  Diftl.  S.  264  ff.,  usw. 

»)  Prino.  3. 

*)  Prino.  1. 

*)  Prino.  38,  Dial.  S.  265.  Andere  Wendungen,  die  dasselbe  beEeichnen 
sind  z.  B.:  „mixtore  or  oombination  of  qnalities"  (DiaL  S.  291),  „seyeral 
qualities  imited  or  blended  toyether*'  (Dial.  S.  291),  „ideas  blended  or 
combined  together*'  (Prino.  3)  usw. 

*)  Der  Körper  ist  „a  congeries  of  sensible  impressions,  or  ideas 
perceived  by  various  senses"  (Dial.  S.  345).  Aber  auch  ein  nur  in  einer 
Sfnnesqualität  gegebener  Gegenstand  wird  als  „one  thing"  bezeichnet 
(Dial.  S.  341). 

')  Theor.of  Vision  46. 

•)  Prino.  1,  Dial.  S.  341. 


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47 

—  vgl.  das  bekannte  Beispiel  von  der  Kirsche 0  — ^9  so  bleibt 
nichts,  gar  nichts  übrig,  kein  „being  distinet  from  sensations^.^) 
Damit  ist  die  köi*perliche  Substanz  völlig  zerstört.  Es  bleibt 
dann  also  auch  kein  einheitliches  gemeinsames  Substrat  für 
die  verschiedenen  ein  Ding  ausmachenden  Ideen,  es  hat  keinen 
Sinn  mehr  zu  behaupten,  da£s  wir  dasselbe  Ding  durch 
verschiedene  Sinne  wahrnehmen,  etwa  sehen  und  tasten,  wenn 
der  Ausdruck  „dasselbe  Ding"  in  einem  anderen  als  dem 
oben  bezeichneten  Sinne  genommen  werden  soll.  „It  is  a 
mistake  to  think  the  same  thing  affects  both  sight  and  touch  ",'^) 
„Strictiy  speaking  . . .,  we  de  not  see  the  same  object  that 
we  feeP^)  und  „We  never  see  and  feel  one  and  the  same 
object  That  which  is  seen  is  one  thing,  and  that  whieh  is 
feit  is  another".*)  Das  „vielgestaltige  vermeintliche  philo- 
sophische Problem  von  dem  einen  Ding  mit  seinen  vielen 
Merkmalen",  um  eine  gelegentliche  Wendung  Machs<^)  zu 
gebrauchen,  hat  also,  wie  wir  sehen,  bei  Berkeley  bereits  eine 
Erledigung  gefunden,  die  wir  als  eine  phänomenologisch  in 
jeder  Hinsicht  befriedigende  bezeichnen  dürfen.  Mehr  als  die 
Tatsache  des  (relativ)  konstanten  Zusammenhanges  verschiedener 
Empfindungen  (oder  Elemente)  ist  in  dem  phänomenologischen 
DingbegrifiT  nicht  enthalten.  Mit  dem  Worte  „Znsammenhang" 
wollen  wir  zum  Ausdruck  bringen,  dals  das  Ding  natürlich  nicht 
in  der  Gesamtheit  seiner  Teile  besteht,  sondern  dafs  zu  den 
Teilen  noch  das  Beziehungsgesetz  derselben  als  das  Ding 
charakterisierend  hinzukommen  mufs. 

Einer  ganz  entsprechenden  Auffassung  vom  Dingbegriff 
begegnen  wir  bei  Hume.  Auch  für  ihn  sind  die  Dinge  nichts 
als  „coUections  of  sensible  qualities",^  „coUections  formed  by 
the  mind",^)  usw.   Auf  die  bedeutsamen  und  Kantsche  Gedanken 


»)  Dial.  S.  345. 

>)  ib. .    Vgl.  a.  Dial.  S.  265  („It  seems,  therefore, . . .''). 

•)  Theor.  of  V.  186. 

«)  Dial.  S.  341. 

»)  Theor.  of  V.  49.    Vgl.  a.  The  Theory  of  Vision vindicated  and 

explained,  Seet  9  f.,  15  usw. 
«)  A.  d.  £.  5. 
')  Treat.  392. 
■)  1.  c  506. 


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48 

vorwegnehmenden  ErOrternngen  Hnmes,  nach  denen  die  Idee 
der  Existenz  eines  Dinges  nicht  nnter  die  Merkmale  desselben 
zn  rechnen  ist,i)  haben  wir  in  diesem  Znsammenhange  nicht 
einzugehen.  Nicht  in  der  Auffassang  der  körperliehen  Substanz, 
sondern  in  der  später  noch  genauer  zu  behandelnden  Auf- 
fassung der  geistigen  Substanz  liegt  in  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Hinsicht  der  Fortschritt  des  Gedankens  bei  Hnme 
gegenüber  Berkeley. 

Stuart  Mill  hat  in  der  „Examination  of  Sir  WUliam 
Hamilton's  Pbilosophy"*)  eine  „psychologische  Theorie  des 
Glaubens  an  eine  Aufsenwelt'^^)  gegeben,  in  der  er  Tom  Stand- 
punkte der  Assoziationspsychologie  aus  zu  zeigen  versucht, 
wie  sich  auf  Grund  der  vorhandenen  Sinnesdaten  und  durch 
die  Wirksamkeit  der  Ideenassoziation  der  Glaube  an  die 
Existenz  einer  vom  Vorstellen  unabhängigen  Körperwelt  ent- 
wickelt. Bekanntlich  findet  er  den  Aulafs  zur  Bildung  dieses 
Glaubens  und  letzten  Endes  auch  seinen  Inhalt  in  den  durch 
die  Gleichmäfsigkeit  der  Erfahrung  garantierten  permanenten 
Wahrnehmungsmöglichkeiten  („permanent  possibilities  of 
Sensation".*)  „  . . .  My  conception  of  the  world  at  any  given 
instant  consits,  in  only  a  small  proportion,  ofpresent  sensations^; 
zu  diesen  „present"  oder  „actual  sensations"  konmit  vielmehr 
hinzu  „a  countless  variety  of  possibilities  of  sensation^^)  Wie 
nun  allmählich  die  Empfindungsgrundlage  dieser  Wahrnehmungs- 
möglichkeiten („their  groundwork  in  Sensation"^)  vergessen 
wird  und  sie  zu  einem  völlig  Andersartigen  („something 
intrinsically  distinct  of  it"'))  —  eben  der  „Materie"  den 
„äulseren"  Dingen  —  werden,  wie  dann  diese  possibilities  zur 
beständigen  und  unabhängigen  Ursache  der  ihnen  gegenüber 
als  flüchtig  („fugitive"^))  und  als  ein  Zufälliges  („aeeident"*)) 


0  L  c.  394.    Vgl.  870  u.  396. 

*)  Wir  zitieren  nach  der  1865  Id  London  erschienenen  Ausgabe. 

')  Überschrift  zn  Kap.  11. 

*)  L  c.  198. 

»)  1.  c.  193. 

•)  1.  c.  196,  8.  a.  195. 

»)  ib. . 

•)  1.  c.  193. 

»)  1.  c.  195. 


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49 

angesehenen  „actoal  sensationB'^  werden,  das  haben  wir  hier 
nicht  weiter  zn  verfolgen.    Für  unsere  Zwecke  kommen  diese 
Erörterungen  nur  insofern  in  Frage,  als  sie  eine  Ergänzung 
des  Dingbegriffes  enthalten  in  bezug  auf  einen  Umstand,  der 
sieh  bei  Berkeley  zwar  deutlieh  angelegt  findet,^)  aber  jeden- 
falls  von   ihm   nicht   so   ausdrücklich    in   Betracht  gezogen 
worden  ist.    Diese  Ergänzung  liegt  in  der  Bemerkung,  dafs 
sieh  das  Ding,  das  „sensible  thing''  im  Sinne  Berkeleys,  nicht 
in    dem    augenblicklichen  Wahrnehmungsbestande   erschöpft, 
sondern   dafs   die    gegenwärtig   aktuellen  Empfindungen   die 
Anwesenheit  anderer  Empfindungen  oder  Empfindungsgruppen 
ankündigen  („announce'*),  die  als  erfahrungsgemäfs  mit  ihnen 
verknüpft  unter  den  gegenwärtigen  Umständen  möglich  sind 
(„present  possibilities ''')).    Solche  Inbegriffe  von  zusammen- 
gehörigen gegenwärtigen  und  möglichen  Empfindungen  sind  es, 
die  wir  als  Körper,  Dinge,  materielle  Substanzen  bezeichnen. 
„When  we  think  of  anything  as  a  material  substance,  or  body, 
we  either  have  had,  or  think  that  on  some  given  supposition 
we  should  have,  not  some  one  Sensation,  but  a  great  and  even 
an  indefinite  number  and  variety  of  sensations,  generally  belong- 
ing  to  diflerent  senses,  but  so  linked  together,  that  the  presence 
of  one  announces    the  possible  presence   at  the  very  same 
instant  of  any  or  all  ofthe  rest''.^)   Jede  einzelne  Empfindung 
wird  einer  solchen  Gruppe  von  möglichen  Empfindungen  zu- 
geordnet   und   dann   als   Zeichen    für    deren    Vorhandensein 
genommen.^)    Das  Ganze  der  mögliehen  Empfindungen  gewinnt 
gegenüber  den  in  jedem  Augenblick  tatsächlich  vorhandenen 
Empfindungen    die    Bedeutung   eines    Unveränderlichen,   Be- 
harrenden: „The  whole  of  the  sensations  as  possible  forms 
a  permanent  back-ground  to  any  one  or  more  of  them  that 
are,  at  a  given  moment,  actual^^) 

Auf  diese  beiden  Gedankenreihen  lassen  sich,   wie  uns 
scheint,  die  Machschen  Bestimmungen  über  den  Dingbegriff 

0  Vgl.  z.  B.  Princ.  3.    Auch  in  der  Lehre  von  der  ,,  Suggestion  ** 
(besonders  deutlich  hi  der  Theor.  of  V.)  finden  sich  verwandte  Momente. 
«)  1.  c.  194. 
»)  1.  c.  193  f. 
*)  1.  c.  195. 
")  l.  0.  195.    S.  a.  194. 

PhlloBophiMhe  Abhandlangen  XXXXV.  4 


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50 

der  Sache  naeh  —  an  eine  historisehe  Abh&ngigkeit  zu  denken 
liegt  kein  Grund  vor  —  im  wesenüiehen  znrttekfbhren.  Der 
Dingbegriff  ist  also  fllr  Mach  zunächst  nichts  weiter  als  der 
Ansdrnck  der  Tatsache,  dafs  die  „Elemente"  relativ  konstante 
Verbindangen  eingehen,  dafs  sie  sich  zu  mehr  oder  minder 
beständigen  Grnppen  znsammengeordnet  finden.  Der  Körper, 
das  Ding  ist  nichts  als  eine  „Empfindnngsgrnppe  [in  allgemeiner 
Bezeichnung  eine  Eiementengrnppe,  ein  „Elementenkomplex^O] 
von  yerhältnismäCsig  gröfserer  Beständigkeit^^)  Wegen  dieser 
relativen  Beständigkeit  hebt  er  sich  ab  von  der  „wechselnden 
Umgebnng'^')  „Als  relativ  beständiger  zeigen  sich  zanächst 
räumlich  und  zeitlich  (funktional)  verknüpfte  Komplexe  von 
Farben,  Tönen,  Drücken  usw. . .  .**,  eben  die  „Körper".*)  Aber: 
„Absolut  beständig  sind  solche  Komplexe  keineswegs".^)  Viel- 
mehr vollziehen  sich  an  ihnen  die  mannigfachsten  Ver- 
änderungen; Teile  verschwinden,  andere  kommen  hinzu.  „Die 
Summe  des  Beständigen  bleibt  aber  den  allmählichen  Ver- 
änderungen gegenüber  doch  immer  so  grofs,  dafs  diese  zurück- 
treten." ^)  Und  so  kommt  es,  dafs  wir  trotz  dieser  Veränderungen, 
zumal  wenn  noch  auf  die  „Stetigkeit  des  Übergangs"^  geachtet 
wird,  von  „demselben"  Dinge  sprechen.^)  Die  einzelnen 
Bestandteile  der  Komplexe,  die  vnr  als  Körper  bezeichnen, 
gehören  gewöhnlich  verschiedenen  Sinnessphären  an.  Der 
Körper  ist  „eine  verhältnismäfsig  beständige  Summe  von  Tast- 
und  Lichtempfindungen,  die  an  dieselben  Raum-  und  Zeit- 
empfindungen geknüpft  ist",®)  „ein  Komplex  von  Eigenschaften, 
die  in  verschiedene  Sinnesgebiete  fallen  ".i<^)  Die  Tatsache 
dieser   Zusammenordnung  der   Elemente    zu   Komplexen  von 

0  A.  d.  £.  23,  268  asw. 

»)  F.  V.  231. 

•)  ib. . 

*)  A.  d.  E.  2. 

»)  ib. .    Vgl.  a.  P.  V.  281 ;  A.  d.  E.  300. 

•)  A.  d.  E.  2.    S.  a.  P.  V.  231 ;  M.  459. 

»)  P.  V.  231. 

")  Auch  dalli  wir  den  KOrper  bei  verschiedener  Orientienuig  u 
UDserem  Leibe,  in  der  Bewegnog  usw.  als  „denselben'*  beceichneOp  hat 
keinen  anderen  Sinn.    Vgl.  A.  d.  E.  7  u. . 

»)  M.  494. 

")  W.  L.  366.  Vgl.  P.  V.  234 ;  A.  d.  E.  270  u. 


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61 

relativer  Beständigkeit  drttekt  sieh  auch  in  der  Sprache  aus; 
die  gewöhnlieh  beisammen  angetroffenen,  ein  Ding  aus- 
machenden Elemente  erhalten  auch  einen  Namen.i) 

Der  Körper  iäfist  sich  also  in  eine  Mannigfaltigkeit  von 
Elementen  auflösen;  und  diese  Auflösung  ist  eine  völlig 
reinliche.  „Das  Ding,  der  Körper,  die  Materie  ist  nichts  aufser 
dem  Zusammenhang  der  Elemente,  der  Farben,  Töne  usw.,  aufser 
den  sogenannten  Merkmalen  ^.^)  Bringt  man  die  einzelnen 
Komplexbestandteile,  die  einen  Körper  konstituierenden  Elemente, 
nacheinander  zum  Verschwinden,  so  bleibt  nichts  tibrig,  kein 
„dunkler  Klumpen'',^)  kein  „bleibender  Kern ^,4)  der  als  seine 
Substanz  zu  bezeichnen  wäre.  Wie  die  Vorstellung  eines 
solchen  Kernes  entstehen  kann,  ist  psychologisch  wohl  ver- 
ständlich. Farben,  Töne  usw.  erscheinen  als  relativ  „  flüchtig " 
gegenttber  dem  „Tastbaren'',  das  sich  als  ein  „beharrlicher, 
nicht  leicht  verschwindender  Kern''  darstellt  und  als  „Träger" 
der  flüchtigeren  Bestandteile  des  Komplexes  erscheint.^)  Mach 
hebt  hiermit  die  auch  von  anderer  Seite  schon  vielfach 
betonte  Bedeutung  der  haptischen  Qa&litäten  für  das  Zustande- 
kommen der  Vorstellung  einer  objektiven  Aufsenwelt  hervor, 
ein  Gedanke,  der  seinen  prägnantesten  Ausdruck  in  der  Unter- 
scheidung der  primären  und  sekundären  Qualitäten  gefunden  hat. 
Die  genauere  Betrachtung  führt  nun  zwar  zu  der  Einsicht,  daCs 
das  Tastbare  sich  in  keiner  Weise  prinzipiell  von  dem  Sicht- 
baren, Hörbaren  usw.  unterscheidet;  allein  diese  Einsicht  kann 
gegen  die  alte  und  durch  die  Autorität  der  mechanischen 
Naturanschauung  noch  wesentlich  unterstützte  Denkgewohnheit 
nicht  aufkommen.<^)  Aber  auch  wo  sich  im  philosophischen 
Denken  die  richtige  Auffassung  schliefslich  durchgesetzt  hat, 
wird  der  Gedanke  eines  substantiellen  Kernes  no^sh  aufrecht 
gehalten.  Da  man  aus  dem  einen  Körper  bildenden  Komplex 
von  Elementen  jedes  einzelne  herausnehmen  kann,  ohne  dafs 
der  Körper  aufhört,  derselbe  zu  sein,  so  entsteht  der  Gedanke, 

>)  Vgl.  A.  d.E.  2,  6  0.,  84. 

•)  A.  d.  E.  6. 

«)  P.  V.  234. 

^  A.  d.  E.  9f. 

»)  A.  d.  E.  6.    S.  a.  W.  L.  423. 

•)  A.  d.  E.  6. 


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S2 

dafs  auch  nach  Wegfall  aller  Eomplexbestaodteile  noch  etwas 
znrttckbleibe.i)  Es  bildet  sich  die  Vorstellnng  eines  „anfser- 
sinnlic  henjene  Elemente  zasammenhaltenden,  Substantiellen 
Kernes,  einer  anfsersinnlichen  Bedingung  der  Wahrnehmung^'.^) 
Auf  diese  Weise  kommt,  nach  der  Meinung  von  Mach,  die 
Vorstellung  des  „Dinges  an  sich''  zustande.')  Fttr  ihn  versteht 
sieh  von  selbst,  und  damit  stellt  er  sich  eben  auf  den  positi- 
vistischen Standpunkt,  dafs  solche  „unergründlichen"^)  Dinge, 
solche  „unbekannten,  nicht  gegebenen  Urvariable  (Dinge  an 
sich)''*)  gar  nicht  existieren.  Nach  einem  Substrat,  einem 
anfsersinnlichen  Träger  für  die  verschiedenen  Merkmale  des 
Dinges  zu  fragen  hat  gar  keinen  angebbaren  Sinn,  das  Problem 
von  dem  „einen  Ding  mit  seinen  vielen  Merkmalen"*)  ist 
ein  völlig  mttfsiges.  Natürlich  ist  es  auf  diesem  Standpunkt 
auch  unzulässig,  ja  geradezu  sinnlos,  die  Empfindungen  als 
„Wirkungen"^)  äaf serer  Dinge  aufzufassen.  „Nicht  die  Körper 
erzeugen  Empfindungen,  sondern  Elementenkomplexe  (Emp- 
findungskomplexe) bilden  die  Körper".^) 

Die  Analogie  zwischen  den  bisher  dargestellten  Be- 
stimmungen Machs  über  den  Dingbegriff  und  denen  bei  Berkeley 
und  Hnme  ist  ohne  weiteres  deutlich.  In  rein  phänomeno- 
logischer Hinsicht  treffen  sie  völlig  zusanlmen.  Dagegen 
besteht  ein  Unterschied,  und  sogar  ein  ganz  fundamentaler 
Unterschied,  in  bezug  auf  die  philosophische  Auffassung 
bei  den  beiden  Denkern.  Er  ist  gegeben  durch  den  Idealismas 
Berkeleys  auf  der  einen,  die  positivistische  Orientierung  Machs 
auf  der  anderen  Seite,  den  Aufbau  der  Körper  aus  einfachen 
„Ideen"  dort,  aus  letzten  „Elementen"  hier.    Die  folgenden 

»)  P.  V.  231 ;  A.  d.  E.  5.  •)  W.  L.  423u. . 

*)  „So  entstellt  in  natürlicher  Weise  der  anfiuiKS  imponierende, 
später  aber  als  ungeheuerlich  erkannte  phüosophische  Gedanke  eines  (von 
seiner  „ Erscheinung **  verschiedenen  unerkennbaren)'  Dinges  an  sich" 
A.  d.  E.  5.  Vgl.  R  V.  23J ;  E.  u.  J.  lOf. .  —  Wie  wenig  die  Machsche  Dir- 
Btellnng  in  diesem  Punkte  das  Richtige  trifft,  braucht  kaum  hervorgehoben 
zn  werden. 

*)  E.U.J.  13. 

»)  A.  d.  E.  28. 

•)  A.  d.  E.  6.    Vgl.  A.  d.  E.  293  u. . 

»)  A.  d.  E.  10,  28. 

•)  A.  d.  E.  23. 


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53 

AnsfbhraDgen  werden  ans  nnn  eine  Verwandtschaft  von  Mach 
und  Stuart  Mill  hinsichtlich  der  Anffassang  des  Dingbegriffes 
erkennen  lassen. 

Häufig  bezeiehnet  Mach  die  Körper  statt  als  „Elementen- 
komplexe" als  „Gedankensymbole  ftir  Elementenkomplexe". i) 
y,Ich  betrachte  den  Körper  oder  den  Elementenkomplex  oder 
den  Kern  dieses  Komplexes  als  stets  vorhanden,  ob  er  mir 
augenblicklieh  in  die  Sinne  fällt  oder  nicht.  Indem  ich  den 
Gedanken  dieses  Komplexes  oder  das  Symbol  desselben,  den 
Gedanken  des  Kerns  mir  stets  parat  halte,  gewinne  ich  den 
Vorteil  der  Voraussicht,  und  vermeide  den  Nachteil  der  Über- 
raschung. Ebenso  halte  ich  es  mit  den  chemischen  Elementen, 
die  mir  als  bedingungslos  beständig  erscheinen ".2)  Ein  Stttck 
Natrium  z.  B.  kann  die  verschiedensten  Umwandlungen  durch- 
machen, sich  verflüssigen,  in  Dampf  verwandeln,  mit  anderen 
Stoffen  Verbindungen  eingehen,  so  dafs  das  silberweiCse  Metall 
schlielslich  gar  nicht  mehr  zu  erkennen  ist.  Der  Dampf  kann 
sich  aber  kondensieren,  bei  entsprechender  Behandlung  der 
sogen.  „Verbindungen"  können  „die  gänzlich  verschwundenen 
Eigenschaften  wieder  zum  Vorschein  kommen,  wie  ein  Körper, 
der  bei  der  Bewegung  eine  Zeitlang  hinter  einer  Säule  ver- 
borgen war,  wieder  sichtbar  werden  kann.^)  Wir  sprechen 
inamer  noch  von  „demselben"  Natrium.  „Es  ist  nun  ohne 
Zweifel  sehr  zweckmäfsig,  den  Namen  und  Gedanken  fllr  eine 
Gruppe  von  Eigenschaften,  wo  dieselben  hervortreten  können, 
stets  bereit  zu  halten.  Mehr  als  ein  ökonomisch  abkürzendes 
Symbol  fttr  alle  jene  Erscheinungen  ist  aber  dieser  Name  und 
Gedanke  nicht".^)  Wie  weit  sich  etwa  in  diesen  Kernen, 
Symbolen  usw.  ein  gewisses  Festhalten  an  der  überlieferten 
Substanzvorstellung,  eine  Anbequemung  an  die  gewöhnliche 
Denkweise  ausspricht,  wollen  wir  hier  unerörtert  lassen.^) 
Man  wird  ja  ohne  weiteres  an  die  „verworrene  Vorstellung" 


0  A.  d.  £.  23. 

>)  A.  d.  E.  268  f. 

»)  F.  V.  283. 

*)  ib. .    Vgl.  A.  d.  E.  293 ;  W.  L.  355. 

*)  Für  den  ,,Hand-  und  Hansgebraach"  hat  Mach  jedenfalls  die 
geläufigen  Begriffe  Substanz,  Materie  usw.  nicht  abschaffen  wollen. 
(A.  d.E.  271). 


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54 

erinnert,  die  nach  Locke,  za  den  sinnlichen  EinzelyorBtellangen 
hinzukommend,  den  betr.  Körper  als  ein  Substantielles  charakteri- 
sieren soll.  Sicher  ist  jedenfalls,  dafs  Mach  diese  Symbole, 
diese  „  Etiketten  ^^,1)  und  wie  die  ähnlichen  Wendungen  lauten 
mögen,  in  keiner  Weise  realisieren  oder  hypostasieren 
will.  Sie  haben  keine  Existenz  „aufserhalb  unseres  Denkens''.^) 
Sie  sind  unbestimmte  Totalvorstellungen  der  betr.  Körper, 
deren  Bedeutung  darin  besteht,  dafs  sie  „eine  Reihe  wohl- 
geordneter sinnlicher  Eindrücke  wachrufen  ^,3)  Zeichen  fttr 
Inbegriffe  von  „ Eigenschaften'^,  die  unter  gewissen  Umständen 
„hervortreten  können'^  Die  Verwandtschaft  dieser  IfacbBeben 
Ausführungen  mit  den  oben  berührten  Gedankengängen  von 
J.  St.  Mill  braucht  kaum  besonders  heryorgehoben  zu  werden. 
Die  nächstfolgenden  Erörterungen  werden  diese  Verwandtschaft 
noch  deutlicher  hervortreten  lassen. 

„Stoff  ist  mögliche  Erscheinung,«)  ein  passendes 
Wort  fttr  eine  Oedankenlttcke ....  Wenn  wir  Sauerstoff  und 
Wasserstoff  in  einer  Eudiometerröhre  explodieren  lassen,  so 
verschwinden  die  Sauerstoff-  und  Wasserstofferscheinungen  und 
es  treten  dafür  die  Wassererscheinungen  auf.  Nun  sagen  wir, 
Wasser  besteht  aus  Sauerstoff  und  Wasserstoff.  Dieser  Sauer- 
stoff und  Wasserstoff  sind  aber  nichts  als  zwei  beim  Anblick 
des  Wassers  parat  gehaltene  Gedanken  oder  Namen 
für  Erscheinungen,  die  nicht  da  sind,  die  aber  jeden 
Augenblick  wieder  hervortreten  können,«)  wenn  wir  das 
Wasser  zerlegen,  wie  man  sich  auszudrücken  beliebt  Es  ist 
mit  dem  Sauerstoff  ganz  so  wie  mit  der  latenten  Wärme.  Beide 
können  hervortreten,  wo  sie  im  Augenblick  noch  nicht  bemerk- 
bar sind.  Ist  die  latente  Wärme  kein  Stoff,  braucht  es  anch 
der  Sauerstoff  nicht  zu  sein^.^)  Was  Mach  in  diesen  ans- 
gezeichneten  Worten  „mögliche  Erscheinung'',  „parat  gehaltenen 
Gedanken''  nennt,  das  bezeichnet  Mill  als  „present  possibilities''.*) 
Wenn  Mach  den  Sauerstoff  (am  Schlüsse  des  Zitats)  überhaupt 
nicht  als  „Stoff''  gelten  lassen  will,  so  heilst  das  natürlich  nur, 
dafs  er  für  ihn  —  und  für  Mill  würde  das  gleiche  zutreffen  — 

»)  F.  V.  231  f.  «)  F.  V.231. 

»)  F.  V.  233.  <)  Von  mir  gesperrt. 

B)  £.  d.  A.  25  und,  aaüser  dem  ersten  Satze,  W.  L.  824.  Vgl.  a.  W.L433. 

•)  Vgl.  S.  49. 


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55 

kein  Stoff  im  metapbjgisehen  Sinoe  ist,  keine  von  den  wahr- 
nehmbaren Qualitäten  verschiedene  Materie,  so  wenig  wie  nach 
der  herrschenden  (d.  h.  ans  der  Überwindung  der  Blackschen 
Wärmestoffyorstellnng  hervorgegangenen)  Anschauung  die 
Wärme.  Er  ist  eben  nichts  als  „mögliche  Erscheinung",  als 
der  Inbegriff  der  „Sauerstofferscheinungen",  damit  aber  selbst- 
verständlich ein  Stoff,  ein  Körperliches  im  Sinne  eines  Kom- 
plexes Kusammenbestehender  Elemente.  Die  Mannigfaltigkeit 
innerhalb  weiter  Grenzen  zusammen  angetroffener  Elemente, 
d.h.  der  Dingkomplex,  ist  reichhaltiger,  als  sie  im  unmittel- 
baren Bestände  der  Wahrnehmung  erscheint  Zu  den  augen- 
blicklich gegenwärtigen  Bestimmungen  kommen  noch  die  unter 
gegebenen  Bedingungen  möglichen  hinzu.  Aber  über  die 
Gesamtheit  der  aktuellen  und  fUr  die  Wahrnehmung  möglichen 
Bestandstocke  des  Dingkomplexes  hinauszugehen  und  eine 
besondere  von  diesen  verschiedene  Materie  anzunehmen,  besteht 
durchaus  kein  Grund.  Der  gemeine  Mann  und  ebenso  der 
Naturforscher,  im  Unterschiede  von  dem  Anhänger  Kants, 
kommen  völlig  aus,  wenn  sie  „der  einzelnen  Sinnesempfindung 
das  Ding  als  Vorstellungskomplex  aller  erinnerten  und  noch 
erwarteten  an  diese  Empfindung  sich  knüpfenden  Erfahrungen 
gegenttberstellen".!)  Wenn  der  Chemiker  beim  Anblick  des 
Wassers  etwa  den  Gedanken  an  die  „Sauerstoff-  und  Wasser- 
stofferseheinungen"  bereit  hält,  indem  er  z.  B.  das  Aufleuchten 
des  glimmenden  Spanes  erwartet,  das  die  Anwesenheit  von 
Sauerstoff  verrät,  wenn  er  sagt,  das  Wasser  bestehe  ans 
Wasserstoff  und  Sauerstoff,  die  in  bestimmtem  Gewichts-  oder 
Volamenverhältnis  verbunden  sind,  und  diesen  Sachverhalt 
durch  die  Formel  H2O  bezeichnet^  so  hebt  er  damit  den 
Inbegriff  der  möglichen  Erscheinungen  hervor  (perm.  bzw.  pres. 
posB.  bei  Mill),  die  fttr  ihn  als  Chemiker  das  Wasser  charak- 
terisieren. In  der  Gesamtheit  dieser  chemischen  und  der  zu- 
gehörigen physikalischen  Merkmale  (Farbe,  Dichtigkeit,  Gefrier- 
punkt, elektrisches  Leitvermögen  usw.) '),  die  teilweise  im  Augen- 

0  A.  d.  E.  296  Anm. .    Vgl.  L.  16. 

^  Dafs  Übrigens  auch  solche  abstrakten  begriftUehen  Bestimmungen 
wie  Dichte,  Leitvemiögen  usw.  sich  för  Mach  in  „sinnliche  Elemente **  auf- 
lösen, hat  er  fai  der  Lehre  vom  Begriflf  gezeigt.  Vgl  bes.  P.  Y.  280 ff.; 
A.  d.  £.  262ff.;  £,  u.  J.  114,  126£;  W.  L.  403f.,  415it 


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56 

blick  in  die  Sinne  fallen,  teilweise  anter  bestimmten  und  angeb- 
baren  Bedingungen  in  die  Sinne  fallen  können,  besteht  das^ 
was  wir  Wasser  nennen.  Dafs  die  philosophischen  Voraus- 
setzungen bei  Mach  und  bei  Mill  ganz  verschiedene  sind,  ist 
bekannt.  Die  weitgehende  Übereinstimmung,  die  wir  zu  kon- 
statieren hatten,  betrifft  die  Analyse  des  Bewnfstseins  der 
Dinghaftigkeit,  die  Charakteristik  des  Dinges  in  der  unmittel- 
baren Erfahrung,  den  phänomenologischen  Dingbegriff.  <) 

Die  Beständigkeit  der  Körper  liegt  also  nicht  in  dem 
Beharren  eines  intelligiblen  Kernes,  sondern  in  der  (relativen) 
Konstanz  gewisser  Zusammenhänge  oder  Beziehungen  zwischen 
den  (unmittelbar  gegebenen)  Elementen.  Das  gilt  für  jede 
Art  von  Beständigkeit  oder  Substantialität,  wo  immer  wir 
AnlaCs  haben,  von  einer  solchen  zu  sprechen.  Substantialität 
ist  „Beständigkeit  der  Verbindung''.  2)  Eine  genau  formulierte 
Abgrenzung  des  Substanzbegriffes  gegen  den  Begriff  des  Dinges 
oder  Körpers  findet  sich  bei  Mach  nirgends.  Man  kann  nur 
sagen,  dafs  er  den  Substanzbegriff  in  einem  allgemeineren 
Sinne  gebraucht  als  den  Dingbegriff.  Substantialität,  d.  L  Be- 
ständigkeit der  Verbindung,  drücken  alle  physikalischen  Sätze 
auSy  insbesondere  auch  die  physikalischen  Erhaltungssätze,  wie 
der  von  der  Konstanz  der  Energie.  Natürlich  ist  auch  der 
Zusammenhang,  den  das  Ich  darbietet,  ein  in  diesem  Sinne 
substantieller.  Auf  den  Substanzbegriff  in  dieser  allgemeineren 
Form  näher  einzugehen  haben  wir  hier  keine  Veranlassung. 
Die  folgenden  Angaben  sind  nur  als  eine  Ergänzung  zu  den 
bisher  mitgeteilten  Bestimmungen  Machs  über  den  Ding- 
begriff gedacht. 

„Das  bedingungslos  Beständige  nennen  wir  Substanz''.^) 
Aber:  „Eine  wirkliche  bedingungslose  Beständigkeit  gibt  es 
nicht ....  Wir  gelangen  zu  derselben  nur,  indem  wir  Be- 
dingungen übersehen,  unterschätzen,  oder  als  immer  gegeben 
betrachten,  oder  willkürlich  von  denselben  absehen.   Es  bleibt 


>)  Mach  kommt  gelegentlich  auf  die  Millschen  EmpfindongsmOgtich- 
keiten  zu  sprechen  (A.  d.  £.  296)  und  erklärt  diesen  Begriff  merkwürdiger- 
weise für  „überflüssig".  An  seine  Stelle  soll  der  „ mathematische  Fonktioiit- 
begriff'  tretea.  Uns  erscheint  dies  wenig  glückUch,  ja  nicht  einmal 
ganz  klar. 

«)  A.  d.  E.  270;  E.  u.  J.  186;  W,  L.  424,  nsv-  »)  A.  d.  E.  268. 


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57 

nar  eine  Art  der  Beständigkeit,  die  alle  Yorkommenden  Fälle 
von  Beständigkeit  nmfafst,  die  Beständigkeit  der  Ver- 
bindnng  (oder  Beziehnng).  Auch  die  Substanz,  die  Materie, 
ist  kein  bedingungslos  Beständiges."  *)  „Könnte  man  sämtliche 
sinnliehe  Elemente  messen,  so  würde  man  sagen,  der  Körper 
besteht  in  der  Erftlllnng  gewisser  Gleichungen,  welche 
zwischen  den  sinnlichen  Elementen  statthaben.  Auch  wo  man 
nicht  messen  kann,  mag  der  Ausdruck  als  ein  symbolischer 
festgehalten  werden.  Diese  Gleichungen  oder  Beziehungen 
sind  also  das  eigentlich  Beständige."  2)  An  die  Stelle  der 
„nicht  beständigen  Körper"  tritt  also  das  „beständige  Gesetz". 3) 
„Die  Beständigkeit  der  Verbindung  der  Reaktionen  aber,  welche 
die  physikalischen  Sätze  darlegen,  sind  die  höchste  Substan- 
tialität,  welche  die  Forschung  bisher  enthüllen  konnte,  be- 
ständiger  als  alles,  was  man  Substanz  genannt  hat."^)  Man 
mag  daher  diese  Zusammenhänge,  diese  Gleichungen  immerhin 
als  „Noumena",  als  „Ausdruck  von  Realitäten"  ansehen.  <») 

Es  ist  hieraus  ersichtlich,  wie  vollkommen  Mach  in  seiner 
Auffassung  des  Substanz-  und  speziell  des  Dingbegriffes  den 
Boden  der  realistisch-dualistischen,  sowie  auch  der  idealistisch* 
spiritualistischen  Deutung  des  Seins  yerläfst,  und  wie  er  zu 
einer  rein  phänomenologischen  Orientierung  gelangt. 

2.  Wie  der  Körper,  so  ist  ftlr  Mach  auch  das  Ich  nichts 
als  ein  Komplex  von  Elementen,  ein  Komplex,  dem  ebenfalls 
keine  unbedingte  Beständigkeit  zukömmt.     „Das  Ich  ist  so 


»)  A.  d.E. 270.    Ygl.P.Y.471. 

«)  W.  L.  424. 

•)  A.  d.  E.  294. 

*)  E.  u.  J.  136,  L.  18. 

*)  W.  L.  424.  —  Der  Begriff  der  Substanz  im  Sinne  eines  Sabstrates 
exiBÜert  für  die  plittnomenologisohe  Betrachtung  Belbstyerständlich  niolit. 
Wir  sprechen  besser  nicht  von  Substanzen,  sondern  von  substantiellen 
Znsammenhängen  (so  auch  bei  dem  Ich,  dem  Ichzusammenhange,  ygL 
später).  Es  ist,  wie  wir  oben  sagten,  dasBeziehungsgesetz  der  Teile, 
welches,  neben  diesen  selbst,  das  Eigentümlictie  jedes  Gegenstandes 
(Dbg  oder  Ich)  ausmacht.  Natürlich  läfst  auch  diese  Auffassung  nicht 
yerneineu,  da£9  das  Ganze  in  bestimmtem  Sinne  (nämlich  für  die 
nnreflektierte  Anschauung)  vor  seinen  Teilen  gegeben  .ist.. 


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58 

wenig  absolat  beständig  als  die  Körper."  i)  Was  die  scheinbar 
völlige  Beständigkeit  des  Ich  vortänseht,  was  es  als  ein 
Identisches  und  Beharrendes  gegenüber  den  wechselnden  Emp- 
findnngen  erseheinen  läfst,  das  ist  in  der  Hauptsache  die 
Kontinuität  und  Langsamkeit  der  sich  an  dem  „lehkomplex"^) 
vollziehenden  Verändernngen,  die  Tatsache,  dafs  die  Erlebnisse 
von  gestern  in  den  Erinnerungen  von  heute  fortbestehen  and 
erst  allmählich  verloren  gehen  oder  an  Wirksamkeit  verlieren. 
Indessen  kann  es  kaum  gröfsere  Unterschiede  im  Ich  ver- 
schiedener Menschen  geben,  als  sie  sich  an  demselben  Ich 
in  der  Jagend  und  im  Alter  finden.') 

Das  Ich  ist  also  auch  nur  ein  „funktionaler  Zusammen- 
hang der  Elemente",^)  dessen  Unterschied  von  den  Körperu 
hauptsächlich  dadurch  gegeben  ist,  dafs  in  den  Ichkomplex 
neben  den  Elementen,  die  die  Körperwelt  konstituieren,  auch 
Vorstellungen,  Wollungen  usw.  eingehen.^)  Auf  weitere  Unter- 
schiede werden  wir  noch  zu  sprechen  kommen.  Aufserhalb 
dieses  Zusammenhanges  der  Elemente  nach  einem  Ich  zu  suchen, 
bedeutet  fUr  Mach  ein  sinnloses  Unternehmen.  Das  Ich  geht 
in  demselben  restlos  auf  und  zeigt  auch  in  dieser  Hinsicht 
eine  völlige  Analogie  mit  den  Körpern.  „Ein  unbekanntes, 
unerkennbares  Etwas  hinter  diesem  Gretriebe  haben  wir  nicht 
nötig,  und  dasselbe  hilft  uns  auch  nicht  im  mindesten  zu 
besserem  Verständnis^.  <^)  Die  beiden  Probleme  des  „unergründ- 
lichen Dinges''  und  des  „unerforschlichen  Ich''  sind  gleicher- 
weise „  Scheinprobleme ''.'^)  Läfst  man  sich  an  dieser  Be- 
stimmung des  Ich  nicht  genttgen  und  fragt:  „wer  hat  diesen 
Zusammenhang  der  Empfindungen,  wer  empfindet",  so  begeht 
mau  nach  Mach  den  Fehler,  zu- der  Gesamtheit  der  einzelnen 
Elemente,  die  das  Ich  ausmachen,  ihren  „unanalysierten  Komplex" 
nochmals  hinzuzudenken. »)  Das  Ich  ist  also  nichts  Substantielles 


0  A.  d.  E.  8.    Vgl.  a.  A.  d.  E.  2. 

•)  A.  d.E.  21;  E.  u.  J.427. 

»)  Vgl.  A.  d.  E.  S,  19. 

*)  E.U.  J.ll. 

•)  Vgl.A.dE.7. 

•)  E.  u.  J.  11.    Vgl.  a.  E.  u.  J.  461. 

')  E.  u.  J.  13f. .    Vgl.  a.  A.  d.  £.  293  Anm. 

")  Ad.E.20. 


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59 

in  dem  gewöhDÜchen  Sinne,  kein  Til[ger  von  Eigenscbaften, 
keine  „unteilbare  Einbeif*,!)  kein  Gefäfs  fttr  die  wecbselnden 
Inbalte.  Das  leb  ist  gar  niebts  Ursprttngliebes  gegenüber 
den  Elementen,  der  Saebyerbalt  ist  rielmebr  gerade  nm- 
gekebrt:  „Niebt  das  leb  ist  das  Primäre,  sondern  die  Elemente 

(Empfindungen) Die  Elemente  bilden  das  leb".')    Nacb- 

dem  das  leb  so  in  eine  Reibe  von  Elementen  aufgelöst  ist,  bat 
es  natttrlieb  aneb  keinen  Sinn  mebr,  die  Empfindungen  als 
Affektionen  des  leb  aufzufassen.  Das  leb  ist  dann  niebt  mebr 
als  ein  „räteelbaftes  Wesen"  zu  betraebten,  das  dureb  „Wecbsel* 
Wirkung"  mit  den  niebt  minder  rätselbaften  Körpern  „die  allein 
zugänglicben  Empfindungen  erzeugt". ') 

Die  bisber  mitgeteilten  Feststellungen  Maebs  über  das  leb 
lassen  eine  enge  Verwandtscbaft  mit  den  Ansiebten  Humes  über 
diesen  Gegenstand  erkennen.  Wir  batten  bereits  in  Kap.  1 
Veranlassung,  auf  diese  Humeseben  Gedankengänge  kurz  hin- 
zuweisen; bier  wollen  wir  nocb  einige  näbere  AusfÜbrungen  folgen 
lassen,  die  uns  die  Maebscbe  Auffassung  in  cbarakteristiscber 
Beleucbtung  ersebeinen  lassen.  Es  unterliegt  fttr  Hume  keinem 
Zweifel,  dafs  wir  keine  Idee  unseres  leb  (seif)  besitzen;  ein 
lebbewufstsein  in  diesem  Sinne  gibt  es  niebt.  Sueben  wir 
unser  leb  zu  erfassen,  so  finden  wir  stets  nur  eine  Mannig- 
faltigkeit von  einzelnen  Impressionen  und  Ideen  vor.  „For  my 
part,  wben  I  enter  most  intimately  into  what  I  call  myself, 
I  always  stumble  on  some  partieular  pereeption  or  otber,  of 
heat  or  eold,  ligbt  or  sbade,  love  or  batred,  pain  or  pleasure."  ^) 
Dals  das  leb  in  dieser  Mannigfaltigkeit  von  besonderen  Per- 
zeptionen  völlig  aufgebt,  ist  fttr  Hume  eine  Tatsaebe,  die 
gänzlicb  aufser  Frage  stebt  „If  any  one,  upon  serious  and 
unprejudiced  reflexion,  tbinks  be  bas  a  different  notion  of 
bimself,  I  must  eonfess  I  can  reason  no  longer  witb  bim."^) 
Wer  sieb  als  ein  einfacbes  und  beständiges  Wesen  („something 
simple  and  eontinued")  zu  erkennen  glaubt,  der  muls  ganz 

0  A.  d.  £.  21.  —  Vgl.  aber,  was  wir  S.  57  Anm.  5  am  Schlufs  gesagt 
haben. 

«)  A.  d.  E.  19. 
•)  A.  d.E.  24. 
*)  Treat.  584. 
■)  ib. . 


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60 

anders  organisiert  sein.^)  Es  folgt  also,  dafs  der  Geist  nichts  ist 
als  „a  bandle  or  coUection  of  different  perceptionsV) 
Der  Geist  ist  einem  Theater  yergleiehbar,  auf  dem  die  Per- 
zeptionen  kommen  nnd  gehen;  von  dem  Theater  selbst  aber, 
dem  Schauplatz,  auf  dem  sich  die  Szene  abspielt,  haben  wir 
nicht  die  geringste  Vorstellung.')  Der  Geist  besitzt  keine 
Einfachheit  („simplicity^)  zu  einer  bestimmten  Zeit  und  keine 
Identität  („identity^)  zu  verschiedenen.^)  Die  scheinbare 
Identität  der  Person  hat  ihren  Grund  in  dem  durch  die 
Assoziation  bedingten  „smooth  and  uninterrupted  progress  of 
the  thought^  und  vor  allem  in  dem  Gedächtnis.^)  Es  besteht 
aber  kein  „real  bound  among  the  perceptions"  als  Grundlage 
des  Ich;<)  dieses  Band  existiert  vielmehr  nur  in  der  Einbildung: 
„The  identity,  which  we  ascribe  to  the  roind  of  man,  is  only 
a  fictitious  one."'') 

Wir  können  uns  Machs  Auffassung  des  Ich  durch  nichts 
anscbaulicher  vergegenwärtigen  als  durch  die  folgenden  Worte 
von  Georg  Chr.  Lichtenberg,^),  die  Mach  selbst  als  einer  ver- 
wandten Denkrichtung  entspringend  erkannt  hat:^)  „Wir  werden 
uns  gewisser  Vorstellungen  bewufst,  die  nicht  von  uns  ab- 
hängen; andere,  glauben  wir  wenigstens,  hängen  von  uns  ab; 
wo  ist  die  Grenze?  Wir  kennen  nur  allein  die  Existenz  unserer 
Empfindungen,  Vorstellungen  und  Gedanken.  Es  denkt,  sollte 
man  sagen,  so  wie  man  sagt:  es  blitzt.  Zu  sagen:  cogito,  ist 
schon  zu  viel,  sobald  man  es  durch  ich  denke  tibersetzf 

Aber  wir  haben  den  bisher  dargestellten  und  erörterten 
Ansftlhrungen  Machs  ttber  den  Ichbegriff  noch  eine  weitere  Ge- 
dankenreihe anzufügen.  Sie  betrifft  die  besondere  Charakteristik 
des  Ichkomplexes  gegenttber  den  Dingkomplexen,  den  Körpern 
der    „Umwelt^,  sowie    die    Abgrenzung   des  Ich  gegen   die 


0  Treat.  434. 

•)  Ib. ,  vgl.  S.  495. 

»)  Treat.  634f  . 

*)  Treat  634. 

'^  Treat.  541. 

•)  Treat  540. 

')  Treat  640  o. . 

•)  G.  Chr.  Lichtenberg,  Vermischte  Schriften  180  t,  IL  S.95. 

•)  S.  A.  d.  E.  23. 


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61 

Umwelt,  die  Heraushebnng  desselben  ans  dem  allgemeinen 
Zusammenhange  der  Elemente,  der  ja,  wie  wir  gesehen  haben, 
„im  Grnnde  nur  einer  ist^  (S.  45). 

Versucht  man  den  anmittelbar  vorgefundenen  Tatbestand 
im  Sinne  der  phänomenologischen  Betrachtungsweise,  also  un- 
bekümmert um  metaphysische  oder  auch  dem  naiven  praktisch 
gerichteten  Bewnfstsein  entfiief sende  Vorurteile,  sich  zu  deut- 
licher Anschauung  zu  bringen,  so  stellt  er  sich  folgendermafsen 
dar:  Ich  finde  mich  im  Räume  zusammen  mit  anderen  Objekten, 
die  mir  teils  als  leblos,  teils  als  belebt  erscheinen.  Unter  diesen 
Objekten  befindet  sich  auch  mein  Leib,  und  dieser  ist  fttr 
mich  „ebenso  ein  sichtbares,  tastbares,  überhaupt  sinnliches 
Objekt,  welches  einen  Teil  des  sinnlichen  Raumfeldes  ein- 
nimmt, neben  und  aufs  er  den  übrigen  Körpern  sich  befindet, 
wie  diese  selbst  ^.i)  Indessen  weist  dieser  Gegenstand,  den 
ich  als  „meinen  Leib'*  bezeichne,  den  anderen  Gegenständen 
gegenüber  charakteristische  Unterschiede  auf;  er  ist  ein  „durch 
Besonderheiten  ausgezeichnetes"  ^)  Glied  in  der  Mannigfaltigkeit 
der  Objekte,  d.  i.  der  Komplexe  von  Elementen.  Diese  Unter- 
schiede sind,  neben  „individuellen  Merkmalen '^s)  (das  heilst 
wohl  Modifikationen  von  Eigenschaften,  die  den  anderen  Kom- 
plexen ebenfalls  zukommen,  wie  Gestalt],  Farbe,  GröCse  usw.), 
in  der  Hauptsache  durch  folgendes  gegeben:^)  Bei  Berührung 
meines  Leibes  treten  eigentümliche  Empfindungen  auf,  die  ich 
bei  Berührung  anderer  Körper  oder  Leiber  nicht  konstatieren 
kann.^)  Ferner  ist  mir  mein  Leib  weniger  vollständig  sichtbar 
als  die  ähnlichen  Komplexe,  die  mich  umgeben,  die  Leiber 
anderer  Menschen.    Insbesondere  wird  er  ohne  Kopf  gesehen, 

»)  E.  u.  J.  5. 

«)  A.  d.  E.  7. 

«)  E.  u.  J.  5. 

*)  Diese  gaoze  Charakteristik  folgt  den  AusfÜhnuigen  vonE.  u.  J.  5f. 
and  A.  d.  £.  15. 

')  Mach  denkt  hierbei  offenbar  an  folgendes :  Sehe  ich  eioen  Geg^en- 
stand  meine  Haut  berühren,  so  bemerke  ich  gleichzeitig  damit  bestimmte 
Tast-  und  TemperatarempfiodaDgen ,  von  denen  ich  nichts  wahrzunehmen 
vermag,  wenn  ich  denselben  Gegenstand  die  Haut  eines  anderen  Menschen 
(d.i.  zunächst  eines  ähnlichen  Komplexes)  berühren  sehe.  Zar  weiteren 
Bezeichnung  des  Gegensatzes  zwischen  meinem  Leib  and  den  übrigen 
Leibern  mols  man  auch  die  meines  Wissens  zam  ersten  Male  von  Tl^.  Waitz 


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62 

oder  der  Kopf  ist  doeb,  unmittelbar  weDigstend,  nnr  zum 
kleinsten  Teile  siehtbar.  Aueh  erscheint  mir  mein  Leib  unter 
einer  anderen  Perspektive  als  die  ttbrigen  Leiber;  ich  kann 
denselben  optischen  Standpunkt  anderen  Leibern  gegenüber 
überhaupt  nicht  einnehmen.  Ähnliches  läCst  sieh  von  dem 
Tastsinn  und  den  übrigen  Sinnen  sagen.  Auch  meine  Stimme 
höre  ich,  wegen  der  Eopfresonanz,  ganz  anders  als  die  Stimmen 
anderer  Menschen.  Besonders  aber  ist  hervorzuheben,  dafs  sieb 
an  den  Willen  zur  Bewegung,  an  Jede  lebhaftere  Bewegungs- 
vorstellung*^,^)  sofort  die  entsprechende  Bewegung  des  einen 
bestimmten  Leibes,  eben  meines  Leibes,  ansehlielst  Und 
endlich  bringt  ganz  allgemein  jede  Störung,  die  meinen  Leib- 
komplex betrifft,  weit  auffallendere  und  tiefergehende  Ver- 
änderungen hervor,  als  wenn  sie  einen  anderen  Komplex 
betrifft.  „Ein  Magnet  in  unserer  Umgebung  stört  die  be- 
nachbarten Eisenmassen,  ein  stürzendes  Felsstück  erschüttert 
den  Boden,  das  Durchschneiden  eines  Nerven  aber  bringt  das 
ganze  System  von  Elementen  in  Bewegung^. 2)  Das  ist  die 
phänomenologische  Beschreibung  des  Tatbestandes,  eine 
Beschreibung  dürfen  wir  sagen,  die,  obgleich  sie  Lücken  auf- 
weisen mag,  ihren  Gesichtspunkten  nach  kaum  treffender  ge- 
geben werden  könnte. 

Mit  Rücksicht  auf  diesen  Tatbestand,  auf  den  charak- 
teristischen Unterschied  meines  Leibes  von  den  übrigen  vor- 
handenen Elementenkomplexen,  läfst  sich  die  Gesamtheit  der 
Elemente  darstellen  durch  das  Symbol  ABC...  KLM... 
a  /?  7 . . .,  worin  die  A  B  G ...  die  Elemente  bezeichnen,  aus  denen 
sich  die  Körper  der  Umwelt  aufbauen,  die  KLM...  den 
Komplex  bilden,  den  ich  meinen  Leib  nenne,  endlich  die 
aßy ...  die  Vorstellungen  der  Erinnerung  und  der  Einbildung 
sowie  die  emotionalen  Inhalte  darstellen.^)  Für  die  Abgrenzung 


hervorgehobenen  „Doppelempfindungen"  berücksichtigen,  die  bei  Be- 
rtthrong  eines  Körpergliedes  mit  einem  anderen  desselben  Körpen  ent- 
stehen. (Th.  Wsitz,  Lehrbach  der  Psychologie  als  Natorwlssensohaft, 
1849,  S.  258). 

0  A.  d.  £.  15.  Mach  nimmt  in  bezog  auf  die  WUlenstheorie  einen 
Khnllchen  Standpunkt  wie  Ziehen  und  Mfinsterberg  ein.  Vgl  bes. 
A.  d.E. 82, 140 f. 

»)  A.  d.  E.  18f.  •)  A.  d.  E.  7.    Vgl.  S.  32. 


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63 

von  ELM...  gegen  die  A B C ...- Komplexe  ist  mafs- 
gebend  zunächst  die  ränmliehe  Grenze  dieses  trotz  seiner 
Beweglichkeit  in  ränmlicher  Beziehung  relativ  konstanten  Kom- 
plexes, <)  die  „ränmliehe  Umgrenzung  U  unseres  Leibes",^)  und 
sodann  die  Erkenntnis  aller  der  im  vorigen  Abschnitt  be- 
zeichneten Eigentümlichkeiten  desselben.  Ausdrücklich  soll 
hier  nochmals  betont  werden,  was  nach  allem  bisher  Gesagten 
ja  eigentlich  selbstverständlich  ist,  dafs  die  sämtlichen  Kom- 
plexe einschliefslich  des  K  L  M ...- Komplexes  sich  für  diese 
ganze  Betrachtungsweise  nebeneinander  im  Sehraum  (das  Wort 
im  Sinne  Herings  genommen)  bezw.  im  haptischen  Räume 
befinden.  Die  U-Grenze  geht  mitten  durch  den  Sinnesraum 
hindurch  und  spaltet  ihn  in  zwei  charakteristisch  voneinander 
unterschiedene  Sphären:  den  Leib  und  die  Umwelt. s)  In  der 
Kegel  fafst  man  nun  die  aßy ...  mit  den  K  L M . . .  zusammen 
und  stellt  diesen  Komplex  von  Elementen  als  „Ich^  dem  In- 
begriff der  ABC...  als  der  Körperwelt  gegenüber.*)  Zu- 
weilen wird  auch  aßy...  als  Ich,  ABC...  KLM...  als 
Körperwelt  aufgefafst,  wobei  aber  zu  beachten  ist,  dafs  ein 
engerer  Zusammenhang  zwischen  den  aßy...  und  den  KLM... 


^)  Mach  spricht  gelegentlich  von  ^^räamlicher  Sabstaotialität'« 
A.  d.E.  156  f. 

>)  E.  u.  J.  8.    Vgl.  S.  37. 

')  Dafs  Mach  die  U-Grenze  rein  räumlich  anffafst,  haben  wir  bereits 
weiter  oben  gesehen  (vgl.  S.  87).  Und  ebenda  haben  wir  gezeigt,  dafs  für 
die  Bestimmung  des  Verhiiltnisses  des  Physischen  zum  Psychischen  diese 
ränmliehe  Auffassung  nicht  völlig  ausreicht  und  schlieislich  auch  gar  nicht 
hn  Sinne  Machs  liegt.  Man  könnte  nun  daran  denken,  auch  für  die  Ab- 
grensoDg  des  Leibes  gegen  die  Umwelt  die  Sinnesoberfläche  (wie 
sie  dort  von  uns  definiert  wurde)  statt  der  rein  räumlichen  Umgrenzung 
des  Leibes  malsgebend  sein  zu  lassen.  Jedenfalls  bestehen  hier  zwei 
prinzipiell  yerschiedene  Abgrenzungsmöglichkeiten,  und  sich  für  die  eine 
oder  andere  zu  entscheiden  ist  schließlich  Sache  der  Definition.  Natürlich 
wfard  man  es  yorziehen,  die  räumliche  Zusammengehörigkeit,  die  ja  übrigens 
mit  ehier  physiologischen  Zusammengehörigkeit  verbunden  ist,  den  Aus- 
schlag geben  zu  lassen,  da  es  dem  Sprachgebrauch  sowie  dem  praktischen 
Bedürfnis  völlig  entgegenlaufen  würde,  wollte  man  etwa  einen  anästhetischen 
Körperteil  oder  solche  Gebiete  im  Innern  des  Körpers,  die  von  sensiblen 
Nervenendigungen  frei  sind,  nicht  zum  Leibe  rechnen. 

•)  A.  d.  E.  7  u.  10. 


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64 

als  zwischen  den  aßy...  und  den  ABC...  besteht^)  Das 
Ich  stellt  sich  dann  dar  als  ein  „an  einen  besonderen  Körper 
(den  Leib)  gebundener  Komplex  von  Erinnerungen,  Stimmungen, 
Gefllhlen".^) 

Die  so  getroffene  Abgrenzung  des  Ich  gegen  die  Körper- 
welt oder  „Anisen weit",*)  die  in  ihrem  Resultat  der  gewöhn- 
lichen Auffassung  am  meisten  nahekommt,  erfolgt  unter  einem 
ganz  bestimmten  Gesichtspunkt  und  ist  als  eine  wohldefinierte 
zu  bezeichnen;  sie  ist  aber  keineswegs  eine  ausschliefslich 
berechtigte  oder  unbedingt  notwendige.  Diejenigen  Elemente 
von  ABC...,  welche  aßy  . .  ^  „stärker  alterieren",*)  wie  z.  B. 
ein  Schmerz,  werden  gewöhnlieh  dem  Ich  zugerechnet,  und  so 
kann  durch  Angliederung  immer  neuer  Elemente  eine  beliebige 
Ausweitung  des  Ich  erfolgen.  Es  zeigt  sich,  „da£s  das 
Recht,  ABC...  zum  Ich  zu  zählen,  nirgends  aufhört.  Dem- 
entsprechend kann  das  Ich  so  erweitert  werden,  dals  es 
Bchlielslich  die  ganze  Welt  umfafsf*.^)  Und  so  läfst  sich 
sagen:  „Das  Ich  ist  nicht  scharf,  abgegrenzt,  die  Grenze  ist 
ziemlich  unbestimmt  und  willkttrlich  verschiebbar".^)  Wie 
immer  aber  diese  Abgrenzung  auch  vollzogen  werden  mag,  die 
U-Grenze  bleibt  bestehen.  Sie  geht  eben,  wenn  man  das  Ich 
weiter  falst  als  es  oben  geschehen  ist,  „mitten  durch  das  Ich".^) 

3.  Wir  haben  die  Machschen  Bestimmungen  ttber  das  Ich 
bisher  absichtlich   so   dargestellt,   als  handle   es   sich  dabei 


1)  A.  d.  E.  7.  Worin  dieser  „  engere  Zosunmenhftng*'  besteht,  wird 
nirgends  genaner  ausgeführt 

«)  A.  d.  E.  2. 

')  In  phänomenologischem  Zasammenhange  dürfte  man  besser  doi 
Ausdrnck  ,  Umwelt  **  ^i^ebrauchen,  dem  der  metaphysiaohe  Beigeschmack 
des  «aufsen''  nicht  anhaftet. 

*)  A.  d.  E.  10. 

»)  ib. .  •)  ib. . 

7)  £.  u.  J.  9.  Mach  sagt  mifsverstiindlich :  „mitten  dnreh  das  pBewoTst- 
sein'**.  —  Die  Ansdrücke  „engeres**  und  „weiteres  Ich'*  (£.  o.  J.6,  9) 
sind  vermieden  worden,  da  sie  von  Mach  ziemlich  unbestimmt  gebraacht 
werden.  Von  den  Gesichtspunkten,  die  Mach  die  Abgrenzung  des  Ich  als 
aus  „praktischen"  Gründen  erfolgend  bezeichnen  lassen  (vgl  A.  d.  K  11,) 
]8f.  a.  s.  f.),  ist  hier  ganz  abgesehen  worden,  da  sie  seiner  biologisch- 
ükonomischen  Betrachtungsweise  angehören  (vgL  d.  Einl.). 


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65 

lediglich  um  eine  rein  phänomenologisehe  BeBehreibung  und 
Analyse  des  in  der  nnmittelbaren  Erfabmng  vorgefundenen 
Tatbestandes,  als  interessiere  Mach  allein  die  Frage,  wie  ist 
mir  das  Ich  unmittelbar  gegeben,  durch  welche  Eigentümlich- 
keiten unterscheidet  es  sich  von  den  übrigen  Gegenständen, 
die  mit  ihm  den  gleichen  Baum  (den  Raum  der  Sinneswahr- 
nehmung)  teilen,  wodurch  ist  die  Abgrenzung  des  Ich  gegen 
diese  anderen  Gegenstände  bedingt?  Wir  werden  jetzt  zu 
zeigen  haben,  dals  die  Machschen  Absichten  über  diese  phäno- 
menologischen Fragestellungen  tatsächlich  weit  hinausgehen.  £s 
geht  das  hervor  aus  der  Art,  wie  er  die  Frage  nach  der  Viel- 
heit der  Iche  behandelt 

Es  ist  selbstverständlich,  dafs  eine  phänomenologische 
Darstellung  des  Vorgefundenen  in  keiner  Weise  über  das 
hinausgehen  kann,  was  man  in  der  gewöhnlichen,  aber  bereits 
eine  philosophische  Theorie  enthaltenden  Ausdrucksweise  als 
die  Sphäre  „meines  Bewufstseins^,  den  Inbegriff  „meiner 
Vorstellungen"  bezeichnet.  Denn  Vorgefundenes  und  Bewufst- 
seinsinhalt  fallen  ihrem  Bestände  nach  völlig  zusammen; 
nur  die  Interpretation,  die  verschiedene  philosophische  Ein- 
stellung demselben  Tatbestande  gegenüber,  bedingt  diese  Ver- 
schiedenheit der  Bezeichnung.  In  dem  Bestände  des  Vor- 
gefundenen gehört  natürlich  auch  das  Ich,  d.  h.  das  Ich  der 
unmittelbaren  Erfahrung,  von  dem  hier  allein  die  Rede  sein 
kann.  Die  Tatsache  nun,  dafs  eine  derartige  Betrachtungs- 
weise prinzipiell  nicht  über  das  „eigene  Bewufstsein"  hinaus- 
zufilhren  vermag,  darf  nicht  Veranlassung  geben,  sie  einem 
solipsistischen  Standpunkt  gleichzusetzen.  Und  das  nicht 
sowohl  deshalb,  weil  das  Ich  selbst  in  eine  Mannigfaltigkeit 
einzelner  Data  aufgelöst  ist^^  als  vielmehr,  weil  diese  Frage 
des  Solipsismus  durch  diese  ganze  Betrachtung  überhaupt  nicht 
getroffen  wird.  Das  Problem  der  Vielheit  der  Iche,  der 
Existenz  fremden  Bewufstseins,  die  Frage,  ob  dem  von  „mir" 
konstatierten  Tatsachenzusammenhange  analoge  Zusammenhänge 
bestehen,  ist  gar  nicht  Gegenstand  phänomenologischer  Er- 
örterung,  sondern   gehört    einem    ganz   anderen    Kreise   von 


0  Auch  nach  Anflöenng  des  substantielleii  Ich  (Home)  könnte  man 
einen  Standpunkt  einnehmen,  der  dem  Solipsismus  gleichkommt. 

PbUoaophiicbe  Abhaadlangtn.   XLV,  5 


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66 

Fragestellaogen  an.  Alles,  was  sich  in  phänomenologisclier  Hin- 
sicht znr  Frage  der  Vielheit  der  Iche  sagen  läüst,  ist  nach  nnseier 
Ansicht  etwa  folgendes:  Es  wird  leicht  konstatiert,  dafs  der 
eigene  Leib,  der  als  „mein  Leib'  bezeichnete  Komplex,  in  der 
Reihe  der  Elementenkomplexe  eine  ausgezeichnete  StelluDg 
einnimmt,  die  durch  die  oben  (S.  61  ff.)  näher  bezeiehneten 
Eigentümlichkeiten  dieses  Komplexes  gegeben  ist.  Besonders 
hervorzuheben  ist  der  Umstand,  dafs,  Ton  bestimmt  angebbaren 
Einschränkungen  abgesehen,  jede  genügend  lebhafte  Bewegung»- 
Vorstellung,  die  sich  auf  einen  Teil  meines  Leibes  bezieht,  mit 
der  entsprechenden  Bewegung  dieses  Körperteils  in  einer  für 
das  Bewnistsein  unmittelbaren  Weise  verknüpft  ist  Dieser 
unmittelbare  Zusammenhang  zwischen  BewegungsvorstelloDg 
und  wirklicher  Bewegung  ist  nicht  festzustellen,  wenn  sich 
die  Bewegungsvorstellung  auf  ein  beliebiges  Objekt  aulserhalb 
meines  Leibes,  auf  ein  Objekt  der  Umwelt,  bezieht  An  die 
Vorstellung  der  Bewegung  meiner  Hand  schliefst  sich,  wenn 
sie  von  den  Umständen  begleitet  ist,  die  in  gleichviel  welchem 
Sinne  von  einem  „Willensbewufstsein",  einer  „Willens- 
anstrengung''  reden  lassen,  diese  Bewegung  in  regelmäbiger 
Folge  an^);  stelle  ich  mir  dagegen  die  Bewegung  etwa  eines 
Hauses  noch  so  lebhaft  vor,  so  wird  auf  diese  Bewegungs- 
vorstellung nur  in  den  seltensten  Fällen  eine  Bewegung  dieses 
Objektes  tatsächlich  folgen,  so  jedenfalls,  dafs  von  einem 
konstanten  oder  gesetzmäfsigen  Znsammenhang  dabei  schlechter- 
dings nicht  die  Rede  sein  kann.  Nicht  weniger  bedeutsam  ist 
die  Tatsache,  dafs  die  sämtlichen  Gegebenheiten  der  Umwelt, 
ja  selbst  die  Befunde  an  meinem  Leibe,  sich  als  durchgängig 
abhängig  erweisen  von  dem  Zustande  meines  sensiblen  Nerven- 
systems einschl.  der  peripheren  Endapparate,  der  Sinnesorgane. 
An  bestimmte  Änderungen  im  Nervensystem  sind  bestinmite 
Änderungen  in  der  Umwelt  gesetzmäfsig  gebunden.  Nun  finden 
sich  unter  den  Komplexen  der  Umwelt  solche,  die  weitgehende 
Ähnlichkeiten  mit  meinem  Leibe  erkeimen  lassen.  Wir  sehen 
an   diesen   Komplexen   Veränderungen    vor   sich    gehen,  Be- 


1)  Ob  man  «af  dem  St&ndtponkt  der  Zieben-Mfinsterbergschen 
Willenstheorie  steht  oder  nicht  ist  f&r  diese  phSnomenologische 
Analyse  ohne  Belang. 


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67 

wegnDgen  sieh  voUzieheD,  die  von  den  gröbsten  Reflexen  nnd 
Automatismen  bis  hin  za  den  feinsten  und  wohlkoordiniertesten 
Ansdrncksbewegnngen,  insbesondere  den  Sprechbewegnngen, 
eine  völlige  Analogie  zn  den  am  eigenen  Leibe  beobachteten 
Bewegungen  aufweisen,  die  hier  zum  Teile  nachweislich  an 
Bewegungsvorstellangen  geknüpft  sind.  Wir  konstatieren  ferner 
an  jenen  Komplexen  Nerrensysteme  und  Sinnesorgane,  die  den 
unsrigen  innerhalb  weiter  Grenzen  entsprechend  organisiert 
sind.  Auf  Grund  dieser  Tatsachen  ergänzen  wir  nach 
Analogie  zu  den  dort  beobachteten  Bewegungen  die  ent- 
sprechenden Bewegungsvorstellungen,  denken  wir  an  diese 
Nervensysteme,  und  eventuell  sogar  an  primitivere  Strukturen, 
Empfindungen,  Vorstellungen  usw.  in  funktionaler  Abhängigkeit 
gebunden.  Auf  diesen  Prozels,  der  mit  unseren  wenigen  An- 
gaben noch  keineswegs  erschöpfend  dargestellt  ist,  näher  einzu- 
gehen, haben  wir  hier  keinen  Anlals.  Jedenfalls  ist  deutlich,  dafs 
der  Analogieschlulsttber  das  unmittelbar  Gegebene  hinaus- 
führt. Wo  immer  man  von  den  Empfindungen  oder  Vor- 
stellungen anderer  Menschen  oder  Lebewesen  spricht,  von 
Tatsachen,  die  nicht  in  dem  mir  allein  zugänglichen  Tatsachen- 
Zusammenhänge  auftreten,  da  begeht  man  einen  Transzensus  — 
allerdings,  woran  niemand  ernstlich  zweifeln  kann,  einen  be- 
rechtigten und  geradezu  geforderten  Transzensus. 

Wir  haben  bereits  angedeutet,  dafs  es  Mach  auf  eine 
solche  phänomenologische  Erörterung  der  Tatsachen,  die  zur 
Annahme  einer  Vielheit  von  Ichen  führen,  nicht  eigentlich  an- 
kommt. Er  hebt  allerdings  öfters  hervor,  dafs  die  Behauptung 
der  Existenz  fremden  Bewufstseins  sich  zunächst  auf  einen 
Analogieschlufs  stütze:  „Bei  Beobachtung  des  Verhaltens  der 
übrigen  Menschenleiber  zwingt  mich  nebst  dem  praktischen 
Bedürfnis  eine  starke  Analogie,  der  ich  nicht  widerstehen 
kann,  auch  gegen  meine  Absicht,  Erinnerungen,  Hoffnungen, 
Befürchtungen,  Triebe,  Wünsche,  Willen,  ähnlich  den  mit  meinem 
Leib  zusammenhängenden,  auch  an  die  anderen  Menschen-  und 
Tierleiber  gebunden  zu  denken  ^^<)  Indessen  glaubt  Mach  das 
Dasein  einer  Mehrheit  von  BewuTstseinszusammenhängen  noch 
auf  einem  ganz  anderen  Wege  und  mit  einer  Sicherheit  erweisen 


*)  E.  u.  J.  6.    Vgl.  E.  u.  J.  7;  A.  d.  E.  12,  14,  27;  L.  12. 

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zn  kODnen,  die  der  blofse  Analogieschlnls  niemals  zu  erreichen 
vermag.  1)  Wir  können  nns  entsprechend  unserer  besonderen 
Aufgabestellung  ttber  diese*  Spekulationen  ganz  kurz  fassen. 

„Alle  Elemente  ABC...  KLM...  bilden  nur  eine  zu- 
sammenhängende Masse,  welche,  an  jedem  Element  angefalst, 
ganz  in  Bewegung  gerät,  nur  dafs  eine  Störung  bei  KLM... 

yiel  weiter  und  tiefer  greift,  als  bei  ABC Ganz  un- 

willkürlich  ftlhrt  das  Verhältnis  zn  dem  Bilde  einer  zähen 
Masse,  welche  an  mancher  Stelle  (dem  Ich)  fester  zusammen- 
hängt^.2)  „Dieselben  Elemente  hängen  in  yielen  Yerknüpfnngs- 
punkten,  den  Ich,  zusammen.  Diese  Yerknttpfungspunkte  sind 
aber  nichts  Beständiges.  Sie  entstehen,  vergehen  und  modi- 
fizieren sich  fortwährend'^')  Dafs  die  Elemente  im  Ich  „fester 
zusammenhängen''  ist  eine  Behauptung,  die  sich  unter  Um- 
ständen auch  der  Solipsist  gefallen  lassen  könnte.  Denn  auch 
ftlr  den  Solipsisten  bleibt  die  durch  die  U- Grenze  gegebene 
Trennung  des  „engeren  Ich''  von  der  Umwelt  bestehen,  und 
man  könnte  vielleicht  den  Ich -Zusammenhang  gegenüber  den 
Zusammenhängen  in  der  Umwelt  mit  jenem  allerdings  recht 
unbestimmten  Ausdruck  als  einen  „festeren"  charakterisieren. 
Was  heilst  es  aber,  dafs  die  Elemente,  genauer  dafs  „die- 
selben" Elemente  in  „vielen  Verknüpfungspunkten  zusammen- 
hängen", und  was  lälst  Mach  diese  verschiedenen  „Ver- 
knüpfungspunkte",  deren  Bedeutung  ganz  dunkel  bleibt,  als 
ebenso  viele  Iche  bezeichnen?  Die  Anschauung,  die  eine  Viel- 
heit von  Ichen,  eine  Vielheit  von  Bewnistseinszusammenhängen 
(denn  nicht  an  die  fremden  Leibkomplexe  darf  man  denken) 
nebeneinander  in  sich  vereinigte,  ist  unvollziehbar.  Was  uns 
hier  zugemutet  wird,  ist  eine  Unmöglichkeit.  Man  hat  das 
Gefühl,  als  ob  man  sich  selbst  überspringen  sollte. 

Es  ist  deutlich,  dafs  wir  mit  diesen  Bestimmungen  den 
Boden  der  reinen  Phänomenologie  völlig  verlassen  und  uns  auf 
metaphysisches  Gebiet  begeben  haben.  An  die  Stelle  der 
blofsen  Beschreibung  von  Tatsachen  ist  hier  das  Gleichnis 
getreten.    Mag  man  immerhin  das  Bild  von  der  „zähen  Masse, 

0  Vgl.  A.  d.  £.  12:  „V^ir  sind  auf  diesen  Weg  [nämlich  den  Analogie- 
schluß] nicht  beschiiinkt*'. 

>)  A  d.  £.  13  f. .    Vgl.  A.  d.  £.  28,  24  Anm. 
»)  A.  d.  E.  294. 


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69 

welehe  an  mancher  Stelle  (dem  Ich)  fester  znsammenhängt^, 
als  eine  richtige  Darstellang  des  eigenen  Bewafstseins- 
znsammenhangeB  gelten  lassen  und  diesen  ganzen  Znsammen- 
hang als  ein  Yerkntlpfnngssystem  von  „Elementen'^  auffassen: 
wo  aber  bleiben  dann  die  andern  Yerknttpfnngssysteme,  deren 
Existenz  behauptet  wird,  die  fremden  Bewnfstseinssphären? 
Auf  keinen  Fall  sind  sie  in  gleich  unmittelbarer  Weise  wie 
die  eigene  Bewulstseinswirklichkeit  gegeben.  Und  alles,  was 
man  zunächst  sagen  kann,  ist  dies,  dals  mannigfache  Grttnde 
uns  ihre  Annahme  nahelegen  oder  aufnötigen,  eine  Annahme, 
die  natttrlich  weiterer  philosophischer  Prüfung  sowohl  fähig  als 
bedürftig  ist  Wer  sieh  aber  lediglich  auf  die  Beschreibung 
des  unmittelbar  Vorgefundenen  beschränkt,  gelangt  an  keiner 
Stelle  ttber  die  eigene  Erlebniswirklichkeit  hinaus. 

Und  in  der  Tat  seheint  Mach,  wo  er  das  Problem  der 
Vielheit  der  Iche  behandelt,  eine  ganz  andere  Betrachtungs- 
weise als  gewöhnlich  anzuwenden.  Die  Elementenlehre  bietet 
in  diesem  Znsammenhange  ein  neues  Antlitz  dar.  Die  Elemente 
sind  hier  nicht  mehr  die  verschiedenen  unterscheidbaren  Seiten 
des  Unmittelbar-Gegebenen,  als  was  sie  sich  der  phänomeno- 
logischen Betrachtungsweise  darstellen,  sondern  sie  erscheinen 
als  metaphysische  Existenzen.  Wir  haben  es  hier  mit  einer 
Art  von  sensualistischem  Atomismus  zu  tun.  Die  metaphysisch 
hypostasierten  Elemente  mischen  und  entmischen  sich  nach 
der  Weise  der  physischen  Atome,  und  diese  Gemische  bilden 
je  nachdem  die  Körper  oder  die  bewufsten  Iche  (wobei  aller- 
dings nicht  klar  wird,  wie  der  Unterschied  beider  zustande 
kommt). 0  Betrachtet  man  Stellen  wie  „die  Elemente  bilden 
das  Ich^V)  99 A^  ^^^  Empfindungen  baut  sich  das  Subjekt  auf^') 
in  dieser  metaphysischen  Beleuchtung,  so  erscheinen  sie  ganz 
anders  als  bei  phänomenologischer  Interpretation.  Das  Be- 
wuüstsein  bedeutet  fUr  diese  (metaphysische)  Auffassung  nichts 
als  die  Tatsache,  dafs  bestimmte  Elemente,  die  an  sich 
selbständige  Existenzen  sind,  sich  in  einer  gevrissen  Ver- 
gesellschaftung finden.    „Ich  empfinde  grttn,  will  sagen,  dals 


>)  Vgl.E.tt.J.460. 
«)  A  d.  E.  19. 
»)  A  d.  E.  21. 


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70 

das  Element  grttn  in  einem  gewissen  Komplex  von  anderen 
Elementen  (Empfindungen,  Erinnerungen)  vorkommt  Wenn  ieh 
aufhöre,  grttn  zu  empfinden,  wenn  ieh  sterbe,  so  kommen  die 
Elemente  nicht  mehr  in  der  gewohnten  geläufigen  Gresellschafl 
vor^O  fj^^  I<^b  is^  keine  unveränderliche,  bestimmte,  scharf 
begrenzte  Einheit^;^)  es  steht  „mitten  im  Fluls  der  Welt,  aus 
dem  es  hervorgegangen  und  in  den  zu  diffundieren  es  wieder 
bereit  ist^')  Wir  haben,  nach  der  besonderen  Absicht  unserer 
Darlegungen,  keinen  Anlals,  auf  diese  Gedankengänge  Haehs 
noch  weiter  einzugehen.  Jedenfalls  aber  —  und  das  hervor- 
zuheben ist  von  Wichtigkeit  —  sind  die  phänomenologischen 
Gesichtspunkte  Hachs  in  ihrer  Bedeutung  ganz  unabhängig  von 
seinen  metaphysischen  Anschauungen.  Auf  sie  aber  kommt 
es  uns  an.  In  der  phänomenologischen  Betrachtungsweise  er* 
blicken  wir  das  eigentlich  Wertvolle  und  Bleibende  der 
Machschen  Darlegungen,  das  dem  Streite  der  Meinungen  in 
ganz  anderer  Weise  entrückt  ist  als  diese  doch  zum  mindesten 
recht  diskutablen  Anschauungen. 

^)A.d.  £.  19.    S.  a.A.d.  £.40. . 

«)  ib. . 

■)  E.  n.  J.  462.  —  Die  Tatsache,  d&is  das  Machsohe  Denken  durch 
eine  monadologiBcbe  Weltauffassuog  hindurchgegangen  ist  (s.  S.  17), 
legt  den  Gedanken  an  eine  monadologische  Ausdeutung  der  obigen  Steüei 
nalie.  Man  vgl.  die  ,, vielen  VerknUpfangspunkte",  in  denen  „dieselben** 
Elemente  ausammenhSngen  und  die  als  ebensoviele  BewuGitseiDSBphiren 
aufgefalBt  werden,  mit  den  Honaden  bei  Leibniz,  deren  jede  einselne  anf 
Grund  des  zwischen  ihnen  bestehenden  „rapport  constant  et  r^l6"  eine 
„expression"  oder  „repr6sentation"  der  Zustände  aller  übrigen  in  sich 
erzengt.  (Gerhard'sche  Ausg.  IL,  S.  112).  Die  Honaden  werden  ja  hier 
auch  als  Verkntipfungszentren  anfgefa&t,  in  denen  die  Wirklichkeit  war 
sammenhängt;  und  „expression"  oder  „reprösentation*'  ist  belLeibnia  der 
Oberbegriff  zu  den  verschiedenen  Arten  der  Vorstellungen  oder  Bewuist- 
seinsinhalte,  jede  Honade  also  gerade  durch  diese  inneren  Zustünde  ein 
bewulstes  Wesen.  Doch  soll  diesen  eventl.  Zusammenhängen  hier  nieht 
weiter  nachgegangen  werden. 


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IV.  Der  Kansalbegriff 

nnd  sein  Ersatz  durch  den  Fnnktionsbegriff. 

Beschreibung  und  Erklärung. 

1.  Das  Wirkliche  stellt  sieh  dem  wiflsenschaftlichen  Be- 
wnfstflein  dar  als  ein  geordnetes  Ganze,  ein  Kosmos,  dessen 
flämtliche  Teile  in  darchgängiger  nnd  gesetzmäfsiger  Beziehung 
zueinander  stehen.  Eins  erscheint  als  abhängig  von  dem  andern, 
eins  darch  das  andere  bedingt  Diese  Beziehungen  systematisch 
zu  erforschen  und  gedanklich  darzustellen  ist  die  Aufgabe  der 
Wiflsenschaft 

Das  ist  auch  Machs  Ansicht.  Die  Bestandstücke  des 
Wirklichen,  zwischen  denen  Beziehungen  stattfinden,  sind  nun, 
wie  wir  gesehen  haben,  die  „Elemente^.  Die  Wissenschaft  hat 
also,  ganz  allgemein  gesprochen,  die  Zusammenhänge  der 
Elemente  zu  ermitteln.  „Unser  Forschen  geht  nach  den 
Gleichungen,  welche  zwischen  den  Elementen  der  Erscheinungen 
bestehen.^  1)  Man  kann  in  yerschiedenem  Sinne  von  einem 
Zusammenhange  der  Elemente,  von  Gleichungen  zwischen  den 
Elementen  reden.  Wir  haben  es  in  folgendem  ausschlielslich 
mit  dem  Zusammenbang  im  Geschehen  zu  tun,  den  Gesetz- 
mälsigkeiten,  welche  den  „Fluls  der  Elemente^  beherrschen, 
und  die  zu  erforschen  das  Ziel  der  Naturwissenschaft  ist>) 

Bereits  das  naive,  unwissenschaftliche  Denken  gelangt  zu 
der  durch  mannigfache  Erfahrungen  gestützten  Einsicht,  dafs 
auf  ähnliche  Ereignisse  in  der  Regel  ähnliche  folgen.  Der 
Eindruck  einer  innerhalb  weiter  Grenzen  bestehenden  Gleich- 
förmigkeit oder  Regelmäfsigkeit   im  Ablauf  des  Geschehens 

0  P.  V.  236. 
»)  P.  ¥•  239. 


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72 

dräDgt  sich  geradezu  anf.  Das  wisBengchaftliche  und  philo- 
sophische Denken  bleibt  bei  dieser  ursprünglichen  Tatsache 
nicht  stehen.  Es  macht  die  Gleichförmigkeit  des  Natur- 
geschehens  zum  Problem  und  erzengt  den  Kausalbegriff  in 
seinen  mannigfachen  Variationen.  Der  Zusammenhang  zwischen 
den  beiden  regelmäfsig  aufeinanderfolgenden  Ereignissen,  die 
nun  als  Ursache  und  Wirkung  unterschieden  werden,  wird  als 
ein  notwendiger  aufgefafst;  die  Wirkung  ist  durch  die  Ur- 
sache eindeutig  bestimmt,  sie  ist  in  ihr  enthalten.  „Ex  data 
causa  determinata  necessario  sequitur  effectus  . .  .^  >),  so  hat  es 
Spinoza  bekanntlich  ausgedrückt.  Wenn  aber  die  Wirkung  in 
der  Ursache  bereits  (logisch  und  ontologisch)  enthalten  ist,  so 
ist  auch  mit  der  Erkenntnis  der  Ursache  zugleich  die  Er- 
kenntnis der  Wirkung  gegeben  und  umgekehrt  „Effectus 
cognitio  a  cognitione  causae  dependet  et  eandem  involvit*'.') 
Mit  dieser  Auffassung  hängt  aufs  engste  die  Vorstellung  des 
Wirkens  oder  Erzeugens,  die  Vorstellung  der  Kraft  zusanojnen. 
Die  Kräfte  zu  erforschen,  welche  in  oder  hinter  den  Er- 
scheinungen tätig  sind,  gilt  ftlr  diese  Orientierung  als  das 
höchste  und  letzte  Ziel  allen  Nachdenkens  über  das  Geschehen. 
Gegen  diesen  analytisch-rationalen  Kausalbegriff^) 
und  den  mit  ihm  zusammenhängenden  Kraftbegriff  richtet  sich 
die  zersetzende  Eiitik  David  Humes.  Was  wir  tatsächlich 
konstatieren  können,  ist  nach  ihm  immer  nur  die  regelmäfsige 
Aufeinanderfolge  der  Ereignisse.  Von  einem  Enthaltensein  der 
Wirkung  in  der  Ursache  ist  uns  schlechterdings  nichts  bekannt; 
die  Wirkung  ist  von  der  Ursache  völlig  verschieden  („totally 
different^  ^)).  Und  ebensowenig  wissen  wir  etwas  von  einer 
„power,  force,  energy",^)  welche  Ursache  und  Wirkung  zu- 
sammenhält („binds  the  effect  to  the  cause''*))  und  den 
Zusammenhang  zwischen  beiden  zu  einem  notwendigen  macht 


>)  Ethie.  Axiom.  UI. 

>)  1.  c.  Axiom.  IV. 

»)  Vgl.  S.  19  Anm.  1. 

0  Enqu.  26. 

^)  Enqu.  5 1  ff.  Vgl  a.  Treftt.  45 1 ,  wo  der  Kraftbegriff  durch  die  Qmonym 
gebrauchten  Aasdrücke  „effioacy,  agency,  power,  force,  enetgy,  neeesn^, 
connexioD,  producti^e  quality'*  bezeichnet  wird. 

^)  EDqa.  52. 


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73 

(„renders  the  one  an  infallible  conseqaence  of  the  other''.  0) 
Die  Glieder  der  Eaasalreihe  sind  „conjoined^,  nicht  aber 
„connected''.^)  Daher  sind  wir  auch  durchaus  nicht  imstande, 
auf  Ornnd  der  Erkenntnis  der  Ursache  ohne  entsprechende 
vorangegangene  Erfahrung,  rein  auf  dem  Wege  rationalen 
Schliefsens,  die  Wirkung  vorherzubestimmen.  Wir  ergänzen 
die  Wirkung  zu  der  Ursache  „not  by  reason,  bnt  by  ex- 
perience^.3)  Nicht  die  Erkenntnis  der  geheimen  Kraft  („secret 
power"  *))j  durch  die  ein  Ding  das  andere  hervorbringt  oder 
auf  das  andere  wirkt,  sondern  allein  die  Gewohnheit  („custom 
or  habit''  0)  ist  das  Prinzip,  auf  dem  unsere  Kausalnrteile 
ruhen.  Sie  bestimmt  das  Denken,  „from  one  object  to  its 
usual  attendant'',*)  d.  h.  von  der  Ursache  zur  Wirkung  ttber- 
zugehen.  Und  dieser  Zwang,  den  wir  fühlen,  ist  auch  die 
Grundlage  der  (subjektiven)  Notwendigkeit,  die  den  Kausal- 
urteilen eignet.'')  Die  Bestimmung  des  Ursachebegriffs  kann 
demnach  nur  so  lauten:  Eine  Ursache  ist  „an  object  foUowed 
bj  another,  and  where  all  the  objects,  similar  to  the  first,  are 
followed  by  objects  similar  to  the  second''.^)  Und  dieser 
Definition  tritt  ergSuzend  eine  zweite  (subjektive,  psycho- 
logische) zur  Seite:  Eine  Ursache  ist  „an  object  followed  by 
another,  and  whose  appearance  allways  conveys  the  thought 
to  that  other".«)  Das  ist  der  reine  tatsächliche  —  wir  können 
auch  sagen  phänomenologische  —  Ausdruck  dessen,  was 
wir  unter  Ursache  und  Kausalzusammenhang  verstehen,  wenn 
wir  jede  metaphysische  Voreingenommenheit  beiseite  lassen. 
In  diesen  Definitionen  des  Ursachebegriffs  ist,  wenn  man  sie 
recht  betrachtet,  eine  philosophische  Theorie  nicht  ent- 
halten; sie  bringen  lediglich  einen  unmittelbaren  Tatbestand 
zum  Ausdruck. 

0  Eoqa.  52. 
>)  Enqu.  58,  61,62. 
*)  Enqcu  25. 
*)  Enqu.  32. 
»)  Enqu.  87. 
B)  Enqu.  62;  Treat459. 
0  ib.  ib. . 
«)  Enqu.  63. 

^)  ib. .  Die  eDtsprechenden  nur  im  Wortlaut  abweicheoden  Definitionen 
im  Treatise  finden  sich  auf  S.  463  f.,  auch  auf  S.  465.  . 


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74 

Die  Machsche  EauBallehre  stimmt  mit  der  Hnmeschen  in 
vielen  nnd  wesentlichen  Pankten  ttberein;  indessen  finden  sieb, 
wie  wir  sehen  werden,  auch  Abweichungen.  Jeden&Us  aber 
bildet  eine  Besinnung  auf  Humes  Theorie  der  Kausalität  eine 
zweekmäfsige  Grundlage  fbr  das  Verständnis  der  Maehschen 
Ansichten  über  diesen  Gegenstand.  Auf  die  Frage,  ob  und 
wie  weit  etwa  eine  direkte  Abhängigkeit  Maehs  von  Hume 
anzunehmen  sei,  wollen  wir  hier  nicht  eingehen. i)  Sicher  ist, 
dafs  die  Lehren  beider  Denker  aus  derselben  intellektuelleo 
Grundstimmung  nnd  demselben  phänomenologisch  gerichteten 
Interesse  heraus  entstanden  sind. 

Die  Begriffe  Ursache  und  Wirkung  gehören  bereits  zum 
Bestände  der  yorwissenschaftlichen  Weltanschauung.  Unter 
dem  Zwange  der  Erlebnisse  sind  sie  zunächst  ganz  „instinktiv 
und  unwillkürlich^  entwickelt  worden*);  sie  haben  den  un- 
mittelbarsten biologischen  Interessen  des  Organismus  zu  dienen. 
„Es  ist  ein  Bedürfnis  alier  mit  Gedächtnis  ausgestatteten  Lebe- 
wesen, dafs  deren  Erwartung  unter  gegebenen  Umständen 
erhaltungsgemäfs  geregelt  sei.^')  Diese  Erwartung  eines 
bestimmten  Ereignisses  auf  Grund  gegebener  Umstände  ist  aber 
der  Eausalschlufs  in  seiner  ursprünglichsten  Form.  „Bei 
genügender  Anpassung  werden  die  Tatsachen  von  den  Ge- 
danken spontan  abgebildet,  und  teilweise  gegebene  Tatsaehen 
werden  ergänzf,^)  d.  h.,  speziell  mit  Bücksicht  auf  das  Ge- 
schehen, das  Eintreffen  eines  bestimmten  Ereignisses  wird 
vorweggenommen,  erwartet.  Die  Bedingung  für  die  Möglichkeit 
einer  derartigen  „  Anpassung  der  Gedanken  an  die  Tatsachen'', 
die  uns  solche  durch  den  Erfolg  gerechtfertigten  Vorhersagen 
zu  machen  gestattet,  ist  natürlich  „eine  hinreichende  Beständig- 
keit unserer  Umgebung".  >)  Und  diese  Bedingung  ist  erfüllt 
(vgl.  S.  78). 

Die  faktische  Grundlage  aller  unserer  Eausalitätsvorstellungen 
bildet  die  regelmäfsige  Abfolge  der  Ereignisse.   Die  Erfahrung 

0  Diese  Übereinstimmuiig  mit  Home  wird  Often  von  Mach  hervor- 
gehoben, E.  B.  W.  L.  483,  435;  P.  V.  482. 
«)  M.  461. 

>)  E.  u.  J.  461.    Vgl.  P.  V.  468f.  . 
*)  A.  d.  E.  279. 
»)  A.  d.  E.  272. 


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75 

lehrt  unBj  daJjs  das  Ereignis  A  das  Ereignis  B  in  regelmäfsiger 
Folge  nach  sich  zieht,  dafs  das  Eintreffen  von  B  an  das  Ein- 
treffen von  A  gebnnden  ist.  Bei  dieser  Tatsache  aber  macht 
das  Denken  nicht  Halt.  Wir  fragen  nach  dem  Wesen  dieser 
Verknttpfang.  Das  nns  geläufigste,  vertraateste  Geschehen 
haben  wir  in  der  eigenen  Willenshandlnng  Tor  uns;^)  hier 
suchen  wir  denn  anch  zuerst  Aufklärung  ttber  den  Zusammen- 
hang von  Ursache  und  Wirkung.  Hume  hat  nun  gezeigt,  dafs 
„die  Verknttpfnng,  Sukzession,  zwischen  Willen  und  Bewegung 
ganz  von  derselben  Art  ist,  wie  jede  andere  in  der  Erfahrung 
gegebene  Verknüpfung  oder  Sukzession 'V)  ^^^  ^^^  schlechter- 
dings keine  Vorstellung  davon  haben,  wie  der  Wille  es  anftngt, 
den  Arm  zu  bewegen.')  Mach  stimmt  diesem  Resultat  der 
Hnmesehen  Untersuchung  völlig  bei.^)  Ebensowenig  besitzen 
wir  Einsicht  in  den  Znsammenhang  von  Ursache  und  Wirkung 
auf  dem  Gebiet  des  rein  mechanischen  Geschehens.  „Die 
genaue  Analyse  zeigt...,  dals  wir  davon  ebenso  wenig  wissen, 
warum  ein  stolsender  Körper  einen  gestofsenen  in  Bewegung 
setzt,  wie  davon,  warum  unsere  psychischen  Zustände  physische 
Folgen  haben.  Beide  Verknüpfungen  sind  einfach  in  der  Er- 
fahrung gegeben."^)  Weder  in  uns  noSh  aufser  uns  stofsen 
wir  auf  Kräfte,  die  uns  das  „Wirken^'  der  Dinge  aufeinander 
verständlich  machen  könnten. 

Bevor  wir  nun  die  Konsequenzen  aus  dieser  Überzeugung 
weiter  verfolgen,  ist  es  zweckmäfsig,  noch  mit  einigen  Worten 
auf  den  Kraftbegriff  bei  Mach  einzugehen.  Was  verstehen 
wir  denn  überhaupt  unter  einer  „Kraft'*,  oder  vielmehr  was 
bedeutet  dieser  Begriff,  wo  er  im  strengen,  wissenschaftlichen, 
hier  also  zunächst  physikalischen  Sinne  gebraucht  wird?  Die 
Antwort  ist:  nichts  anderes  als  eine  „Beständigkeit  der  Ver- 
bindung^ gewisser  Geschehnisse  untereinander.*)     „Wenn  ich 


»)  Vgl.  W.  L.  432. 

•)  W.  L.  482. 

•)  Vgl.  Hume,  Enqu.  54flf. 

0  W.  L.  433.  Vgl  H.  460f. .  Man  beachte  aber  auch  das  W.  L.  432 u. 
Gesagte. 

*)  W.  L.  434.  Vgl  Harnes  berahmtes  Beispiel  von  der  Billardkugel 
(Enqu.  26,  41,  52,  62,  65). 

•)  A.  d.  E.  271,  272. 


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76 

sage,  ein  Körper  A  ttbe  anf  B  eine  Kraft  ans,  so  heilst  dies, 
da£8  B  sofort  eine  gewisse  Beschlennigimg  gegen  A  zeigt,  so- 
bald es  diesem  gegenttbertritt^.^)  Mehr  als  die  Tatsache,  dafs 
die  Körper  unter  gewissen  Umständen  gegenseitig  aneinander 
Beschleunigungen  bestimmen,  deren  Grölsen  in  einem  konstanten 
und  angebbaren  Verhältnis  zu  den  Gröfsen  der  „Hassen'' 2)  dieser 
Körper  stehen,  ist  in  dem  (mechanischen)  Kraftbegriff  nicht 
enthalten.  Von  irgendeiner  okkulten  Qualität  der  Körper, 
einem  metaphysischen  Agens,  steckt  schlechterdings  nichts 
darin.  „Wirklich  glaubt  man  Bewegungen  besser  zu  verstehen, 
wenn  man  sich  die  ziehenden  Kräfte  vorstellt,  und  doch  leisten 
die  tatsächlichen  Beschleunigungen  mehr,  ohne  Überflüssiges 
einzufahren ''.3)  „Wenn  wir  von  ,  Anziehungen  der  Massen' 
sprechen^  könnte  es  scheinen,  als  ob  dieser  Ausdruck  mehr 
enthielte,  als  das  Tatsächliche  [nämlich  die  beobachtbaren  und 
mefsbaren  Beschleunigungen].  Was  wir  aber  darttber  hinaus 
hinzutun,  ist  sicherlich  mttfsig  und  nutzlos''.^)  Solche  Zutaten 
entstammen  der  primitiven  Weltanschauung  des  „Fetischismus, 
. . .  der  mit  seinen  letzten  Spuren,  mit  der  Vorstellung  von  den 
Kräften,  noch  in  unsere  heutige  Physik  herüberragt'^.^)  Kraft 
im  Sinne  der  Mechanik  ist  ein  „  beschlennigungsbestimmender 
Umstand '^<^)  Aus  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  wird 
das  Produkt  aus  Masse  und  Beschleunigung,  das  bei  der  physi- 
kalischen Darstellung  d6r  Bewegungsvorgänge  eine  hervor- 
ragende Rolle  spielt,  definitionelP)  als  Kraft  festgelegt  Die 
übrigen  Kraftvorstellungen  der  Physik  lassen  sich  in  ähnlicher 
Weise  auf  ihren  tatsächlichen  Gehalt  reduzieren.^)  Die 
Physik  hat  also  nach  Mach  keinen  Anlafs,  in  ihrem  Kraft- 
begriff über  die  unmittelbar  zugänglichen  Tatsachen  irgendwie 
hinauszugehen.  An  die  Stelle  des  alten  ontologischen  tritt 
der  phänomenologische  Kraftbegriff.^) 


I 


»)  A.  d.  E.  271  f.  «)  Vgl.  Im  folgenden  Kapitel. 

•)  P.  V.  284.  *)  W.  L.  435. 

»)  W.  L.  400  u.  F.  V.  273 f.;  M.  442. 

•)  W.  L.  324.  ')  Vgl.  M.  242. 

')  Verwandte  Tendenzen  finden  sich  belcanntlioh  in  der  Kirchhofbehen 
und  der  Hertzschen  Mechanik. 

>)  Dafa  dieser  zum  mindesten  füi  die  Zwecke  der  Physik  yöUig 
reicht,  unterliegt  keinem  Zweifel. 


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77 

Wenn  wir  aber  nirgends  in  der  Natnr  auf  Kräfte  (im  meta- 
physischen Sinne)  stofsen,  so  besitzen  wir  anch  keinerlei  Ein- 
sicht in  den  Wirknngszusammenhang.  Die  Verknüpfung  zwischen 
Ursache  nnd  Wirkung  ist  dann  eine  rein  empirische,  sie  mnfs 
in  jedem  Falle  erst  durch  die  Erfahrung^)  gestiftet  werden. 
Wo  wir  uns  auf  hinreichende  Erfahrung  stützen  können,  sind 
wir  imstande,  auf  Orund  gegenwärtiger  Umstände  künftige 
Veränderungen  mit  mehr  oder  minder  grolser  Sicherheit,  je 
nach  dem  Orade  der  Anpassung  der  Gedanken  an  die  Tat- 
sachen, Yorherzusagen;  „in  uns  neuen  Gebieten  yerläfst  uns 
aber  unsere  Prophetengabe ^')  Die  Gewohnheit  allein,  die 
durch  die  Gleichförmigkeit  des  Geschehens  in  uns  entwickelte 
Gleichförmigkeit  und  Beständigkeit  des  Gedankenverlaufs  läfst 
uns  erwarten,  dals  ähnliche  Ereignisse  ähnliche  Folgen  haben 
werden.  „Ähnliche  Ereignisse  erzeugen  ähnliche  Erwartungen^') 
Auch  in  diesem  wesentlichen  Punkte  stimmt  Mach  völlig  mit 
Hume  überein. 

So  beruht  denn  schliefslich  auch  das  Bewufstsein  der 
Notwendigkeit,  mit  dem  wir  unsere  Eausalaussagen  voll- 
ziehen, nicht  auf  einer  rationalen  Einsicht  in  den  Wesens- 
zusammenhang von  Ursache  und  Wirkung,  sondern  lediglich 
auf  Gewohnheit  „Auf  der  Übung,  die  Vorstellung  der 
Tatsachen  mit  jener  ihres  allseitigen  Verhaltens  fest  zu  ver- 
binden, beruht  die  starke  Erwartung  eines  bekannten  Erfolges, 
der  dem  Naturforscher  wie  eine  Notwendigkeit  erscheint  Das 
Verhältnis,  welches  io  den  geometrischen  Anschauungen  von 
selbst  besteht,  wird  hier  allmählich  künstlich  hergestellt 
So  bildet  sich  das  heraus,  was  man  gewöhnlich  als  Gefühl  für 
die  Kausalität  bezeichnet''^)  Dem  entwickelten,  durch  Er- 
fahrung befruchteten  Bewnfstsein,  dem  die  Verknüpfungen 
zwischen  den  Tatsachen  geläufig  geworden  sind,  tritt  die 
Nötigung,  häufig  zusammen  erfahrene  Tatsachen  nun  auch  zu- 
sammen zu  denken,  wie  eine  „fremde  Macht''^)  gegenüber. 

»)  Vgl.  A.  d.  E.  2730.;  W.  L.  434 flf.;  M.  460. 
«)  W.  L.  383.    Vgl.  F.  V.  262  f. 

')  P.V.  462.    (An  dieser  Stelle  allerdings  ohne  deutlich  ersichüichen 
Zusanunenhang  mit  der  Eansalltätstheorie}. 
*)  W.  L.  467f. .    Vgl.  dazu  S.  22  Anm.  2. 
»)  A.  d.  E.  272;  P.  V.  252;  W.  L,  388. 


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78 

Indessen  haben  wir  diese  Macht  in  nns  zu  suchen;  es  ist  die 
Assoziation.  1)  Der  Zwang,  dem  wir  nns  unterstehen  fühlen, 
ist  ein  „psychischer  Zwang".*)  Dieser  „logischen"*)  Notwendig- 
keit, einen  Tatsachenzasammenhang  so  und  nicht  anders  za 
denken,  eine  äofsere  „physikalische"')  oder  „Natamotwendig- 
keit"^)  gegenttberzustellen,  die  die  Tatsachen  beherrscht  und 
Gedanken  und  Tatsachen  einander  entsprechen  läfst,  haben 
wir  kein  Recht  „Anspruch  auf  Unfehlbarkeit"  haben  denn 
auch  unsere  Voraussagen  nicht. ^)  Alles,  was  sich  in  dieser 
Hinsicht  sagen  läfst,  ist  dies:  „Eine  annähernde  Stabilität  macht 
die  Erfahrung  möglieh,  und  die  tatsächliche  Möglichkeit  der 
Erfahrung  läfst  umgekehrt  auf  die  Stabilität  der  Umgebung 
schliefsen.  Der  Erfolg  rechtfertigt  unsere  wissenschaftlich* 
methodische  Voraussetzung  der  Beständigkeit"^) 

2.  Bis  hierher  hatten  wir  in  allen  prinzipiellen  Fragen  eine 
weitgehende  Übereinstimmung  zwischen  Mach  und  Hnme  zu 
konstatieren.  Diese  Übereinstimmung  betrifft,  um  es  mit  einem 
Worte  zu  sagen,  die  psychologische  Theorie  der  Eausal- 
urteile.  Jetzt  werden  wir  sehen,  dafs  Mach  sich  in  der 
logischen  Fassung  des  Kausalbegriffes  beträchtlich  von  Hnme 
entfernt,  ja  dafs  sein  Bestreben  sehliefslich  dahin  geht,  diesen 
Begriff  völlig  aufzugeben  und  durch  den  mathematischen 
Funktionsbegriff  zu  ersetzen.  Hervorzuheben  ist  jedoch,  dals 
die  bisher  gegebenen  Darlegungen  dadurch  in  keiner  Weise 
berührt  werden;  denn  was  von  den  als  Glieder  eines  Kausal- 
zusammenhanges betrachteten  Ereignissen  gesagt  worden  ist  — 
dafs  ihre  Verknüpfung  eine  rein  empirische  sei,  dafs  dem- 

0  W.  L.  383. 

«)  W.  L.  434. 

*)  W.  L.  434,  437 ;  A  d.  £.  72.  Der  Ausdruck  wird  ziemlich  unbestimmt 
gebraucht. 

*)  W.  L.  437. 

*)  A.  d.  E.  72. 

•)  A.  d.  E.  273.    Vgl  E.  u.  J.  283;  W.  L.  883  u.  P.  V.  262. 

»)  E.  u.  J.  32.  Vgl.  E.  u.  J.  80,  32  Anm ,  277,  2S2ft,  458;  P.  V.  230,  252, 
478 ff. .  Mach  betrachtet,  wie  aas  diesen  Stellen  hervorgeht,  die  Voraus- 
Setzung  der  Beständigkeit  des  Natnrgeschehens  als  ein  methodisches 
Postulat  der  Forschung,  nicht  aber  als  eine  Forderung  des  Denkens, 
einen  apriorischen,  konstitutiven  Faktor  der  Erfahrung. 


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79 

gemäfs  auch  die  Notwendigkeit,  mit  der  wir  diese  YerknttpfuDg 
denken,  lediglich  in  nns  bestehe  — ,  das  bleibt  richtig, 
wenn  man  dieselben  Ereignisse  in  der  zn  erörternden  Weise 
als  Glieder  einer  Fnnktionalbeziehnng  anffafst. 

Es  ist  eine  ganze  Beihe  von  Bedenken,  die  Mach  gegen 
den  Eansalbegriff  vorzubringen  hat.  Da  ihm  aber  bei  seiner 
Polemik  vielfach  die  naiveo,  popnlären  Begriffe  von  Ursache 
nnd  Wirkung  vorschweben,  die  in  ihrer  tatsächlichen  Un- 
klarheit und  Unbestimmtheit  der  Kritik  keine  rechte  Angriffs- 
fläche bieten,  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  dals  auch  seine 
Einwendungen  zuweilen  die  nötige  Präzision  vermissen  lassen. 
Es  scheint  uns  daher  im  Interesse  einer  klaren  Herausarbeitung 
der  Machschen  Gedanken  zu  liegen,  wenn  wir,  statt  seine 
einzelnen  Einwände  der  Beihe  nach  durchzugehen,  nnr  unter- 
suchen, inwiefern  in  seinen  Bestimmungen  eine  Abweichung 
von  der  scharfen  Fassung  des  Kausalbegriffs  bei  Hnme  zum 
Ausdruck  kommt.  Durch  eine  solche  Angabe  ist  natttrlich 
Maehs  Stellung  zum  Kausalbegriff  ganz  allgemein  gekennzeichnet 
Wie  in  den  bisherigen  Darlegungen,  so  soll  also  auch  in  folgen- 
dem der  Vergleich  mit  Hume  kein  selbständiges  Interesse  be- 
anspruchen, sondern  zunächst  zur  Klarstellung  der  Machschen 
Gedankengänge  und  letzten  Endes  zur  Feststellung  des  phäno- 
menologisch Bedeutsamen  darin  dienen. 

Wir  gehen  zweckmäfsig  von  der  bereits  angegebenen  Be- 
stimmung des  Ursachebegriffs  bei  Hume  aus.  Eine  Ursache 
ist  „an  object  followed  by  another,  and  where  all  the  objects 
similar  to  the  first  are  followed  by  objects  similar  to  the 
seeond".  Hierin  sind  zwei  Aussagen  ttber  Ursache  und 
Wirkung  enthalten:  1.  Die  Wirkung  ist  durch  die  Ursache 
vollständig  oder  eindeutig  bestimmt  —  wegen  der  Voraus- 
setzung, dafs  unter  entsprechenden  Umständen  stets  ent- 
sprechende Folgen  eintreten.  Oder  auch:  zu  jedem  be- 
stimmten Ereignis,  das  man  als  Wirkung  betrachtet,  läüst  sich 
eine  und  nur  eine  zureichende  Ursache  angeben.  2.  Die  Wirkung 
folgt  der  Ursache.^).  Und  darin  liegt  zunächst,  dafs  Überhaupt 
ein  zeitliches  Verhältnis  zwischen  Ursache  und  Wirkung  besteht, 


^)  Der  genaaere  Ausdrack  bei  Home  lautet,  die  Ursache  sei  „prece- 
dent  and  contigaons  to*'  the  effect  Treat.  468. 


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80 

nnd  BodaoD,  dafs  die  kausale  Relation  einsinnig,  nicht  nmkehrbar 
ist,  dafs  Ursache  nnd  Wirkung  nnvertauschbar  sind.^)  Von 
der  metaphysischen  Vorstelinng  der  Kraft  oder  des  Wirkens, 
von  irgendeiner  dynamischen  Ansdentnng  des  Eansalznsammen- 
hanges,  ist  in  diese  Festlegungen  schlechterdings  nichts  auf- 
genommen. 

Gegen  die  erste  der  Homeschen  Bestimmungen,  die  ja 
lediglich  die  Möglichkeit  einer  bestimmten  (eindeutigen)  Zu- 
ordnung der  Ereignisse  auf  Grund  ihres  erfahrnngsgemäls 
konstanten  Zusammengehens  zum  Ausdruck  bringen  soll,  hat 
Mach  natürlich  nichts  Prinzipielles  einzuwenden.  Sie  ist  wie 
für  die  kausale,  so  auch  für  die  funktionale  Betrachtang  der 
Naturzusammenhänge  die  unumgängliche  Voraussetzung,  die 
Bedingung  fttr  die  Möglichkeit  einer  Naturwissenschaft  fiber- 
haupt.  Nur  die  Oberflächlichkeit  und  Unvollständigkeit,^)  die 
nach  seiner  Ansicht  in  einer  solchen  Beziehung  der  Ursache 
auf  die  Wirkung  und  umgekehrt  liegt,  hat  er  zu  tadeln;  nnd 
diese  Mängel  der  gewöhnlichen  Auffassung  lassen  ihn  sieh  nach 
einer  präziseren  Formulierung  des  Sachverhaltes  umsehen. 

„Die  Znsammenhänge  in  der  Natur  sind  selten  so  einfach, 
dafs  man  in  einem  gegebenen  Falle  eine  Ursache  und  eine 
Wirkung  angeben  könnte/' ')  „Gewöhnlich  werden  nnr  zwei 
besonders  auffallende  Bestandteile  eines  Vorganges  als  Ursache 
und  Wirkung  aufgefafst.  Die  genauere  Analyse  eines  solchen 
Vorganges  zeigt  aber  dann  fast  immer,  dafs  die  sogenannte 
Ursache  nur  ein  Komplement  eines  ganzen  Komplexes  von 
Umständen  ist,  welcher  die  sogenannte  Wirkung  bestimmt 
Deshalb  ist  auch,  je  nachdem  man  diesen  oder  jenen  Bestandteil 
des  Komplexes  beachtet  oder  übersehen  hat,  das  fragliehe 
Komplement  sehr  verschieden.^^)  Betrachten  wir  z.  B.  die 
Erwärmung  eines  in  irgend  ein  Medium  eingebetteten  Körpers 
durch  die  Sonne.  ^)  Nach  der  landläufigen  Auffassung  ist  die 
Sonne   als   die   Ursache    der  Zustandsänderung  des   Körpers 


^)  Aufserdem  ist  natürlich  implioite  die  Voraussetztmg  gemadit,  däb 
gleiche  Fälle  in  der  Natur  überhaupt  yorkommen.  Dala  dies  im  strengen 
Sinne  gilt,  wird  von  Mach  bestritten.    Vgl.  P.  Y.  230;  M.  459. 

»)  E.  u.  J.  277. 

•)  A.  d.  E.  74.    Vgl.  W.  L.  435  u.  436. 

*)  E.  u.  J.  277.  »)  Vgl.  A.  d.  E.  76f. 


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81 

anzusehen.  Bei  genauerer  Betrachtung  des  Sachverhalts  zeigt 
sieh  jedoch,  dafs  die  Beziehung  zwischen  Körper  und  Sonne 
nur  ein  Glied  einer  Mannigfaltigkeit  Ton  Beziehungen  ist,  die 
zwischen  dem  KOrper  und  seiner  gesamten  Umgebung  bestehen, 
und  dafs  aufser  der  Sonne  die  sämtlichen  Teile  der  Umgebung 
gleichfalls  auf  die  Temperaturänderung  des  Körpers  Einflnfs 
haben.  Die  Heraushebung  der  Sonne  als  der  Ursache  der 
Erwärmung  des  Körpers  ist  also  im  gewissen  Sinne  willkürlich;  i) 
sie  wird  der  ganzen  Kompliziertheit  des  Tatbestandes  in  keiner 
Weise  gerecht,  kann  daher  höchstens  als  ein  „primitiver,  vor- 
läufiger Notbehelf"')  gelten.  Die  Bezeichnung  der  Sonne  als 
Ursache  ist  aber  geradezu  falsch,  wenn  damit  zum  Ausdruck 
gebracht  werden  soll,  da£s  diese  allein  die  Znstandsänderung 
des  Körpers  vollständig  bestimme.  Es  ist  ersichtlich,  dafs  die 
Diskrepanz  zwischen  der  Machschen  und  der  gewöhnlichen 
(sowie  auch  der  Hnmeschen)  Auffassung  in  diesem  Punkte  eine 
mehr  oder  minder  scheinbare,  nur  durch  die  Worte  bedingte 
ist.  Sie  verschwindet,  wenn  man,  wie  man  dies  natttrlieh 
tun  muls,  als  die  zureichende  Ureache  eines  bestimmten 
Erfolges  die  Gesamtheit  der  mafFgebenden  Umstände 
betrachtet. 

Tiefer  greift  der  zweite  Einwand,  der  sich  auf  das  zeitliche 
Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  bezieht.  Dafs  durch  die 
Behauptung  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  von  Ursache  und 
Wirkung  in  der  Tat  ein  wesentliches  Charakteristikum  des 
Kausalbegriffes  getroffen  wird,  will  Mach  nicht  bestreiten. 
Aber  eben  deshalb  hält  er  diesen  Begriff  fttr  ein  unzulängliches 
Mittel  zur  exakten  Erfassung  und  Darstellung  der  Abhängigkeiten 
im  Geschehen. 

„Tritt  einer  Masse  A  eine  Masse  B  gegenüber,  so  folgt 
hierauf  eine  Bewegung  von  A  gegen  B  hin.  Dies  ist  die  alte 
Formel,  (renauer  betrachtet  zeigt  sich  aber,  dafs  die  Massen 
A,  B,  C,  D  . . .  aneinander  gegenseitig  Beschleunigungen  be- 
stimmen, welche  mit  der  Setzung  der  Massen  zugleich  gegeben 


0  Vgl  P.  V.  229:  „Was  wir  Uraadie  und  Wirknog  nennen,  sind 
hervorstechende  Merkmale  einer  Erfahrung,  die  ftlr  unsere  Gedanken- 
naehbildnng  wichtig  sind^'. 

«)  A.  d.  E.  76. 
PhiloBophische  Abhandluii«ren  XXXXV.  6 


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8^ 

Bind.^^)  Handelt  es  sieh  nur  nm  zwei  Hassen,  so  ist  die 
Gesehwindigkeitsändernng  der  einen  die  Ursache  der  6e- 
sehwindigkeitsändernng  der  anderen  nnd  am  gekehrt. 
Ursache  nnd  Wirkung  wären  also  in  diesem  Falle  ver- 
tanschbar."^)  Eine  ganz  entsprechende  Betrachtung  labt 
sich  an  einem  WänneanstanEchprozefs  dnrch  Leitnng  anstellen.^) 
Auch  in  dem  oben  vorgeführten  Beispiel  der  Erwärmnng  eines 
Körpers  durch  die  Sonne  lielse  sieh,  entgegen  der  gewöhnliehen 
Anschauung,  die  Temperaturänderung  des  Körpers  als  die 
Ursache  der  Temperataränderung  der  Sonne  auffassen,  wenn 
beide  allein  vorhanden  wären  oder  das  Zwisehenmedium  keinen 
Einfluls  hätte.  Die  Änderungen  wären  dann  „simultan^  und 
würden  sich  „gegenseitig  bestimmen ^.^)  Wo,  wie  in  dem 
konkreten  Falle,  keine  solche  „unmittelbare  Wechselbeziehung^^) 
stattfindet,  wo  eine  „vielfach  vermittelte  Abhängigkeit''*)  vor- 
liegt, da  hört  die  Umkehrbarkeit  natürlich  auf  und  die  Wirkung 
„folgf*  auf  die  Ursache.''}  Aber:  alle  .unmittelbaren 
Abhängigkeiten,''  so  lehrt  die  genaue  Analyse,  lassen  sieh 
aIb  „gegenseitige  und  simultane"  betrachten. s) 

Das  sind  die  Momente,  die  Mach  gegen  den  Kansalbegriff 
auch  in  der  Humesehen  Formulierung  vorzubringen  hätte  und 
die,  da  ihm  die  hervorgehobenen  Mängel  als  dem  Kausalbegriflf 
wesentlich  anhaftende  erscheinen,  seine  Stellungnahme  gegen 


>)  A.  d.  E.  74. 

•)  E.  u.  J.  278. 

•)  ib. . 

*)  A.  d.  E.  76. 

»)  ib. . 

•)  E.  u.  J.  279. 

^)  ib. .    Man  beachte  auch  die  weiter  hier  gegebenen  Beispiele. 

^)  ib. .  Vgl.  A  d.  E.  75.  Die  obigen  Erörterungen  sind  zu  andentend 
gehalten,  nm  über  alle  etwaigen  Fragen  AnfschlnlB  zu  geben  und  eyentnelle 
MifsverständniBBe  zu  beseitigen.  Eins  schdnt  uns  aber  ans  den  Machscheii 
Darlegungen  überhaupt  nicht  klar  zu  werden:  wie  nimlich  die  Zeit  in  die 
„vermittelten*^  Abhängigkeiten  hineinkommen  soll,  wenn  die  „unmittel- 
baren **  Abhängigkeiten  durchaus  simultane  sein  sollen.  (Vgl.  bes.  £.  u.  J.  280.) 
Auch  scheinen  uns  die  Begriffe  Simultaneität  und  Zeitloaigkeit 
—  in  vielen,  auch  physikalisehen,  Beziehungen  spielt  die  Zeit  keine 
Bolle,  sie  sind  aber  deshalb  keine  simultane  —  nicht  scharf  auaeiDsnder 
gehalten. 


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diesen  Begriff  überhaupt  bedingen.  Die  Lösnng  der  Schwierig- 
keiten siebt  Mach  in  dem  Ersatz  der  kausalen  Betrachtung 
der  Naturrorgänge  durch  die  funktionale. 

„Darin  liegt  für  mich  der  Vorzug  des  Fnnktionsbegriffes 
Yor  dem  Ursachenbegriff,  dafs  ersterer  zur  Schärfe  drängt,  und 
dafs  demselben  die  UnvoUständigkeit,  Unbestimmtheit  und  Ein- 
seitigkeit des  letzteren  nicht  anhaftet'^  i)  Die  funktionale  Dar- 
stellung der  Naturznsammenhänge  enthält,  im  Gegensatz  zur 
kausalen,  nichts  anderes,  als  was  uns  tatsächlich  gegeben  ist; 
und  sie  bringt  dies  mit  aller  nur  erreichbaren  und  zu  er- 
wttnschenden  Vollständigkeit  und  Exaktheit  zum  Ausdruck. 
Das  aber,  was  uns  tatsächlich  gegeben  ist  und  durch  den 
Funktionsbegriff  seine  adäquate  Darstellung  findet,  ist  lediglich 
die  „Abhängigkeit  der  Erscheinungen  voneinander,  genauer: 
Abhängigkeit  der  Merkmale  der  Erscheinungen  voneinander",^) 
letzten  Endes  die  „Abhängigkeit  der  sinnlichen  Elemente  von- 
einander",') Es  werden  die  „Gleichungen"  angegeben,  welche 
die  Elemente  A,  B,  C . . .  verbinden,  „Gleichungen  von  der  Form 
F(A,B,C..)  =  0".^)  Diese  allein  haben  für  die  Wissenschaft 
Interesse,  in  ihrer  Ermittelung  besteht  die  Aufgabe  der 
Wissenschaft.  „Unser  Forschen  geht  nach  den  Gleiehungeo, 
welche  zwischen  den  Elementen  der  Erscheinungen  bestehen."^) 
Und  die  Tendenz,  die  kausale  Betrachtungsweise  womöglich 
überall  durch  die  funktionale  zu  ersetzen,  ist  in  der  Wissen- 
schaft unverkennbar.  „In  den  höher  entwickelten  Natur- 
wissenschaften wird  der  Gebrauch  der  Begriffe  Ursache  und 
Wirkung  immer  mehr  eingeschränkt,  immer  seltener  ....  Sobald 
es  gelingt,  die  Elemente  der  Ereignisse  durch  meisbare  Grölsen 
zu  charakterisieren,  was  bei  Räumlichem  und  Zeitlichem  sich 
unmittelbar,  bei  anderen  sinnlichen  Elementen  aber  doch  auf 
Umwegen  ergibt,  läfst  sich  die  Abhängigkeit  der  Elemente 
voneinander  durch  den  Funktionsbegriff  viel  vollständiger 
und    präziser    darstellen,    als    durch    so    wenig    bestimmte 


»)  A.  d,  E,  76.    Vgl  E.  u.  J.  278 ;  P.  V.  210. 

»)  A.  d.  £.  74. 

•)  A.  d.  E.  301.    Vgl  W.  L.  4360 ;  P.  V.  210  f.,  284. 

*)  A.  d.  E.  87. 

«0  P.  V.  236. 


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84 

Begriffe  wie  Ursache  und  Wirknng  ....  Die  Physik  mit  ihren 
Gleiehnngen  macht  dieses  Verhältnis  dentlicher^  als  es  Worte  tnn 

können."!) 

Wo  die  A,  B,  C . . .  nnr  „qualitatire  Merkmale"  bezeichnen, 
welche  nntereinander  verbunden,  voneinander  abhängig  sind, 
kann  von  Gleiehnngen,  Funktionen  nur  im  „symbolischen 
Sinne"  gesprochen  werden.^)  Im  eigentlichen  (mathematischen) 
Sinne  auf  die  Erscheinungen  anwendbar  ist  der  Fnnktions- 
begriff  nur  da,  wo  sich  die  Elemente  ^.durch  mefsbare  Grössen 
charakterisieren" 3)  lassen  (wie  etwa  Farben  und  Töne  durch 
Wellenlängen  oder  Schwingungszahlen),  wo  also  eine  quanti- 
tative Behandlung  möglich  ist  Weiter  setzt  die  Anwendung 
des  Funktionsbegriffes  sensu  stricto  natttrlich  voraus,  da£s  die 
betrachteten  Merkmale  als  variierend  angesehen  werden 
können,  d.  h.  dals  sich  Reihen  von  qualitativ  gegeneinander 
abgestuften  Merkmalen  aufstellen  lassen  —  Mach  spricht  von 
einem  „Kontinuum  von  gleichartigen  Fällen"^)  — ,  die  man  als 
voneinander  abhängig  betrachten  kann  derart,  dals  an  jedes 
Fortschreiten  in  der  einen  Reihe  ein  bestimmtes  Fortschreiten 
in  der  anderen  gesetzmälsig  gebunden  ist,  dafs  sich  jeder  Wert- 
änderung des  einen  Merkmals  eine  bestimmte  Wertänderung 
des  anderen  von  ihm  abhängigen  eindeutig  zuordnen  läfst^) 
Dals  diese  Bedingungen  der  Anwendbarkeit  des  Funktions- 
begriffes auf  die  Naturerscheinungen  nicht  überall  und  ohne 
weiteres  erftlllt  sind,  versteht  sich  von  selbst;  die  Benutzung 
von  Gleichungen  zur  Darstellung  von  Tatsachenzusammenhängen 
ist  also  zunächst  „nur  in  einem  sehr  beschränkten  Gebiet" 
möglich.*)  Indessen  zweifelt  Mach  nicht,  dals  dieses  Ideal  einer 
wissenschaftliehen  Darstellungsweise,  das  auf  physikalischem 
Gebiet  bereits  Wirklichkeit  geworden  ist  —  jede  physikalisehe 


0  E.U.J.278. 

«)  A.  d.  E.  304  (Zb.  8).    Vgl.  W.  L.  424. 

*)  S.  oben. 

*)  A.  d.  E.  281.    Vgl  dun  W.  L.  121,  488,  450;  P.  V.  211. 

*)  Mach  selbst  hat  die  Voraassetzangeii  filr  die  AnwenduDg  des 
Fonktionsbegriffes  so  ausdrücklich  nicht  angegeben.  Es  unterliegt  aber 
keinem  Zweifel,  daft  er  den  Fnnktionsbegriff  in  dieser  strengen  noathe- 
matischen  Form  angewandt  wissen  wilL 

•)  A.  d.  E.  281. 


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85 

GleiehuDg  vennag  das  deutlich  zu  machen  — ,  sich  im  vollsten 
Umfange  wird  erreichen  lassen.^) 

Wir  haben  noch  auf  die  Rolle  hinzuweisen,  die  bei  Mach 
die  Ranm-  und  Zeitgröfsen  in  der  fanktionalen  Darstellung 
der  Naturyorgänge  spielen.  Da  jedoch  die  Lehren  vom 
„physikalischen  Ranm^  und  der  ^jphysikalischen  Zeit''  bei  Mach 
zu  kompliziert  liegen,  um  im  Rahmen  dieser  Abhandlung 
eingehend  erörtert  zu  werden,  so  mttssen  Andeutungen 
genttgen. 

In  psychophysiologischer  Hinsicht  sind  Raum  und  Zeit, 
wie  wir  bereits  gesehen  haben,  „besondere  Arten  von  Emp** 
findungen'',  physikalisch  betrachtet  aber  stellen  sie  sich  dar 
als  „funktionale  Abhängigkeiten  der  durch  Sinnesempfindungen 
charakterisierten  Elemente  von  einander  ".3)  Raum  und  Zeit 
erkennen  wir  „wieder  nur  an  gewissen  Erscheinungen";  Raum- 
und  Zeitbestimmungen  sind  daher  „wieder  nur  Bestimmungen 
durch  andere  Erscheinungen  ".3)  Dafs  z.  B.  die  Schwingungen 
eines  Pendels  sich  in  der  Zeit  abspielen,  bedeutet,  physikalisch 
betrachtet,  nichts  anderes,  als  dafs  dessen  Exkursion  von  der 
Lage  der  Erde  abhängig  ist^)  Eine  Erscheinung  als  Funktion 
der  Zeit  betrachten  heilst  ganz  allgemein,  sie  als  abhängig  von 
dem  Drehungswinkel  der  Erde  und  damit  zuletzt  als  abhängig 
von  der  Lage  der  Weltkörper  zueinander  betrachten.  Alle  Zeit- 
messung besteht  in  einer  „Winkel-  oder  Bogenlängenmessung".  ^) 


0  Die  fasktioDalen  Verknüpfaogen,  die  in  den  Gleichungen  der 
Physik  zum  Ausdruck  kommen,  soll  man  sich,  so  will  Mach,  nach  Analogie 
der  mathematischen  Verknüpfungen  denken  (Vgl  P.  V.  210  u.,  284; 
W.  L.  4360.).  Das  ist  zum  mindesten  irreführend.  Die  Gleichung  der 
Ellipse  und  die  Zustandsgieichung  eines  Gases  sind  allerdings ,  rein  als 
Gleichungen  d.  h.  als  Formulierungen  gewisser  Beziehungen  gedacht, 
logisch  und  iormal  YÖUig  gleichartig;  sie  unterscheiden  sich  aber  in  ihrem 
materialen  oder  erkenntnistheoretischen  Charakter,  insofern  die  durch  sie 
zur  Darstellung  gebrachten  Abhängigkeiten  ganz  verschiedenartig  sind, 
verschiedenartig  nämlich  im  Sinne  der  Humeschen  Unterscheidung  von 
„matters  of  faot*  und  „relations  of  ideas*.    Vgl.  S.  22  Anm.  2. 

s)  A.  d.  £.  284.    Vgl.  E.  u.  J.  484. 

*)  E.  d.A.34f.. 

*)M-217.    Vgl  P.  V.  285,  496, 

•)  A.  d.  £.  280. 


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86 

„Wir  können  die  Zeit  ans  jedem  Naturgesetz  eliminieren,  indem 
wir  eine  vom  Drehnngswinkel  der  Erde  abhängige  Erseheinnng 
an  deren  Stelle  setzen/' i)  Nehmen  wir  an,  dals  eine  Seihe 
yerschiedener  Vorgänge  durch  Gleichungen  dargestellt  sei,  welche 
die  Zeit  enthalten;  dann  können  wir  aus  diesen  Gleichungen 
die  Zeit  eliminieren  und  z.  B.  einen  TemperaturüberschnJüs  durch 
einen  Fallraum  bestimmen.^)  In  ähnlicher  Weise  lassen  sich 
räumliche  Grölsen  eliminieren.')  „Denken  wir  uns  nun  die 
Raum-  und  Zeitlagen  in  den  betreffenden  Gleichungen  in 
der  oben  gedachten  Weise  ersetzt,  so  erhalten  wir  einfsush 
jede  Erscheinung  als  Funktion  anderer  Er- 
scheinungen/'^) 

Was  die  erörterten  Gedankengänge  Hachs  in  erster  Linie 
charakterisiert,  das  ist  die  Freiheit  von  jedem  metaphysischen 
Einschlag.  Dieser  Umstand  unterscheidet  sie  grundsätzlich  Yon 
den  Eausalitätstheorien  der  rationalistischen  Philosophie.  Da- 
gegen teilen  sie  diese  antimetaphysische  Tendenz  mit  den 
Humeschen  Lehren  über  diesen  Gegenstand.  In  der  Tat  ist 
die  Übereinstimmung  zwischen  Hume  und  Mach  hinsichtiieh 
der  Kausalitätslehre  weit  grölser  und  bedeutsamer  als  die 
Differenz.  Die  Richtung  auf  das  Tatsächliche,  schlechthin 
Eonstatier  bare,  die  phänomenologische  Orientierung 
ist  beiden  Denkern  gemeinsam.  Die  Abhängigkeit  der  Er- 
scheinungen voneinander  zu  ermitteln,  in  völliger  Unbekümmert- 
heit  um  die  etwaigen  okkulten  Qualitäten  der  Dinge,  das  ist 
ja  im  Grunde  auch  das  Ziel,  das  Hume  dem  Nachdenken  über 
die  Welt  gesteckt  wissen  will.  Sieht  man  den  Unterschied 
zwischen  dem  Eausalbegriff  und  dem  Funktionsbegriff  darin, 
dafs  letzterer  ohne  alle  Nebenvorstellungen  lediglich  die  in  der 


1)  E.  d.  A.  35.    Vgl  A.  d.  E.  285. 

»)  A  d.  E.  286. 

•)  Vgl.  E.  d.  A  85. 

*)  ib. .  Vgl.  £.  d.  A.  57:  «Wenn  es  gelingt,  jede  Enoheinung  ab 
Funktion  der  Erscheinang  der  Pendelbewegong  hiniostellen,  wenn  dies 
mit  allen  Ersoheinnngen ,  physisohen  und  psychischen,  gelingt,  so  beweist 
dies  nur,  dals  alle  Erscheinungen  so  zusammenhängen,  daüi  jede  als 
Funktion  jeder  andern  dargestellt  werden  kann.  Die  Zeit  ist  also 
physikalisch  die  Darstellbarkeit  jeder  Erscheinang  als  Fankti<Mi  jeder 
andern". 


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87 

Erfahrnng  gegebene  Abhäogigkeit  der  Erseheinimgeii  zur  Dar- 
BtelluDg  bringt  —  wobei  man  ihn  dann  allgemeiner  fabt,  ab 
es  in  der  Mathematik  geschieht  — ,  so  kann  man  mit  Recht 
behaupten y  dals  bereits  bei  Hnme  an  die  Stelle  der  kansalen 
die  funktionale  Betrachtungsweise  getreten  ist.  Ob  die  durch 
engere  Anlehnung  an  die  mathematische  Formulierung  des 
Funktionsbegriffes  bedingten  Abweichungen  der  Machschen 
Auffassung  von  der  Hnmeschen  in  der  Tat  als  ein  Fortschritt 
anzusehen  sind,  kann  hier  nicht  untersucht  werden. 

3.  „Ein  Anderes  sei  es,  sagt  man,  einen  Vorgang  zu  be- 
schreiben, ein  Anderes,  die  Ursache  des  Vorganges  an- 
zugeben." i)  Die  Bezeichnung  der  Ursache,  die  „kausale 
Erklärung"  ^\  soll  mehr  leisten  als  die  blofse  Besehreibung; 
jene,  so  heilst  es,  liefere  eine  „neue  Einsicht",  während  diese 
einfach  die  Tatsache  wiedergebe')  und  das  „Kausalitäts- 
bedttrfnis  unbefriedigt  lasse  ".^)  Die  Beschreibung  sei  daher 
nur  ein  Vorläufiges  und  die  „Erklärung",  d.h.  die  „Einsicht 
in  den  kausalen  Zusammenhang",^)  das  eigentliche  Ziel,  das 
die  wissenschaftlichen  Bemühungen  überall  zu  verfolgen  haben. 

Wenn  nun  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Begriffe 
Ursache,  Kraft,  Wirken  sich  als  unhaltbare  Fiktionen  erweisen, 
so  hat  es  natürlich  auch  keinen  Sinn,  von  einem  Einblick  in 
den  kausalen  Znsammenhang  zu  reden.  Alle  Erklärungsversuche, 
wenn  man  das  Wort  „erklären"  in  dieser  Bedeutung  nimmt, 
müssen  dann  notwendig  illusorisch  sein,  und  die  einzig  erfüll- 
bare, ja  einzig  sinnvolle  Aufgabe  der  Wissenschaft  kann  allein 
in  der  Beschreibung  des  Tatsächlichen  bestehen.  „Wo  wir 
eine  Ursache  angeben,  drücken  wir  nur  ein  Verknüpfungs- 
verhältnis, einen  Tatbestand  aus,  d.  h.  wir  beschreiben."  o)  Das 
Mittel  der  Beschreibung  aber  ist  der  Funktions begriff.  Es 
ist  nach  dem  Gesagten  klar,  da£s  diese  Stellungnahme  nichts 


0  W.  L.  432. 

«)  A.  d.  E.  274. 

•)  W.  L.  436. 

0  P.  V.  284. 

»)  F.  V.  267. 

•)  W.  L.  435.    Vgl.  A.  d.  E.  274. 


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alfl  eine   unmittelbare  and   notwendige  Eonseqaenz  ans  der 
Hume-Maehsehen  Auffaflenng  des  KansalbegriffeB  ist 

Wir  können  unB  den  UnterBchied  zwischen  der  beschreiben- 
den und  der  erklärenden  Natnrbetrachtnng  leicht  an  einem 
Beispiel  deutlich  machen.  Dalton^)  fand  das  bekannte  und 
unter  seinem  Namen  gehende  Gesetz,  dafs  die  Sättigungskapazität 
eines  Raumes  für  den  Dampf  einer  beliebigen  Flüssigkeit  un- 
abhängig ist  von  dem  Vorhandensein  und  der  Natur  eines 
anderen  in  dem  Baume  befindlichen  Gases,  oder,  anders  ans- 
gedrttekt,  dals  der  Druck  eines  Gas- (Dampf-)  Gemisches 
gleich  ist  der  Summe  der  Partialdrucke  der  einzelnen  Gase 
(Dämpfe).  Das  so  formalierte  GeBetz  ist  nichts  als  die  exakte 
Beschreibung  des  Verhaltens  eines  Gasgemisches  nach  einer 
bestimmten  Richtung  hin,  yergliehen  mit  dem  Verhalten  seiner 
Komponenten.  Die  blofse  Beschreibung  der  Tatsache  aber 
genttgt  Dalton  nicht;  er  sucht  nach  einer  Erklärung  des 
konstatierten  Verhaltens  der  Gase,  und  dieses  Bestreben  flihrt 
ihn  zu  folgender  merkwürdigen  Aufstellung:  die  Teilchen  eines 
Dampfes  oder  Gases  können  nur  auf  die  gleichartigen  Teilchen 
drttcken.^)  Mach  sagt  über  diesen  Erklärungsversuch:  „Natür- 
lich vermag  diese  hypothetische,  einer  experimentellen  Prüfung 
ganz  unzagängliche  Vorstellung  die  unmittelbar  beobachtbare 
Tatsache  nicht  klarer  za  machen."  ^)  Man  erkennt  hier  deutlich, 
wie  das  Bedürfnis  nach  einer  kausalen  Erklärung,  einem^Ein- 
blick  in  den  Wirkungsznsammenhang,  Dalton  zu  einem  Über- 
schreiten der  Tatsachensphäre  drängt 

Wir  wollten  mit  dem  Besprochenen  nicht  etwa  ein  Beispiel 
für  einen  milslnngenen  Erklärungsversuch  gegeben  haben; 
vielmehr  haben  wir  damit  das  Unzulängliche  jedes  Erklärungs- 
versuches überhaupt  bezeichnet,  wenn  man  das  Wort  „Erklärung*' 
in  dem  bisher  zugrunde  gelegten  Sinne  nimmt.  Jedenfalls  ist 
das  die  Ansicht  Machs.  Wo  man  nach  den  Kräften  fragt, 
welche    die  Massenbeschleunigung    bewirken    und    mit  deren 


^)  Die  zugrunde  gelegte  historische  Tatsache  berichtet  und  erOrtert 
Mach  W.L.  21. 

*)  Das  genauere  Zitat  vgl.  W.  L.  21  Anm. 
•)  W.  L.  21. 


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Erkenntnis  die  Erklärung  fUr  dieseB  Phänomen  gegeben  Bein 
soll,  da  haben  wir  einen  ganz  ähnliehen  Fall  vor  ans.  In  der 
Tat  hält  denn  anch  Mach  solche  Sätze  wie  das  Newtonsche 
Gravitationsgesetz,  die  man  als  umfassende  Erklärungen  einer 
Reihe  von  Naturerscheinungen  zu  betrachten  gewöhnt  ist,  fttr 
blolse  Beschreibungen  gewisser  Tatsachenzusammenhänge. 
„Wenn...  Newton  die  Planetenbewegungen  , kausal  erklärt^) 
indem  er  statuiert,  dals  ein  Massenteilehen  m  durch  ein 
anderes  m'  die  Beschleunigung  9)  =  km'/r2  erfährt,  und  dals 
die  von  verschiedenen  Massenteilehen  an  ersterem  bestimmten 
Beschleunigungen  sich  geometrisch  summieren,  werden  wieder 
nur  Tatsachen  konstatiert  oder  beschrieben,  welche  sich 
(wenn  auch  auf  einem  Umwege)  durch  Beobachtung  er- 
geben haben ''.2)  Worauf  es  allein  ankommt,  das  ist  „die 
Konstatierung  von  Tatsachen  und  ihres  Zusammen- 
hanges^,') die  Angabe  der  „Beziehungen  des  Tatsächlichen 
zu  TatsäcTilichem",*)  was  durch  die  „Beschreibung"'  voll- 
ständig geleistet  wird.  Darttber  hinaus  enthalten  die 
(richtig  verstandenen)  naturwissenschaftlichen  Sätze  schlechter- 
dings nichts. 

Alles  Forschen  zielt  letzten  Endes  auf  eine  blolse  Eon- 
statierung  von  Tatsachen  hinaus,  die  Frage  nach  dem  öiavt 
löst  sich  ttberall  auf  in  eine  Frage  nach  dem  ort:  das  ist  der 
Kern  der  Machschen  Überzeugung.  Man  kann  dem  zustimmen, 
d.h.  zugeben,  dals  eine  „ kausale '^  Erklärung  in  dem  gekenn- 
zeichneten Sinne  nicht  möglich  ist  und  das  Verlangen  nach 
einer  solchen  aus  einer  'verkehrten  Fragestellung  hervorgeht, 
und  dennoch  die  Unterscheidung  von  Beschreibung  und  Er- 
klärung aufrecht  erhalten.  Wir  sprechen  ja,  ganz  ohne 
Rttcksieht  auf  den  Ursachebegriff,  von  Erklärungen 
überall  da,  wo  es  uns  gelingt,  eine  Tatsache  auf  eine  andere 
zurückzufahren,  sie  in  einen  grölseren  Zusammenhang  einzu- 
stellen, einem  allgemeineren  Satze  unterzuordnen,  oder  eine 
Oruppe  von  Tatsachen    auf   einen  umfassenden  begrifflichen 


0  Von  mir  gesperrt. 

«)  A.  d.  E.  276.    Vgl  W.  L.  435. 

•)  P.  V.  424  u,  426. 

*)  W.  L.  437, 


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90 

Ausdruck  zu  bringen.  Das  Fallen  der  irdischen  E5rper  stellt 
sich  uns  dar  als  ein  Spezialfall  der  allgemeinen  Massen- 
anziehuDg,  wie  wir  gewöhnlich  sagen.  Wir  ftthren  es  auf  das 
Gravitationsgesetz  zurttck,  ordnen  es  diesem  unter;  damit  ist 
dieses  Phänomen  für  uns  erklärt.  Licht,  strahlende  Wärme 
und  Hertzsche  Wellen  weisen,  bei  aller  Verschiedenheit  ihrer 
Erscheinungsweise,  doch  den  gemeinsamen  Zug  auf,  dals  sie 
sich  in  mancher  Hinsicht  verhalten  wie  eine  transversale,  mit 
bestimmter  GeschwiDdigkeit  durch  den  Raum  sich  fortpflanzende 
Wellenbewegung.  Diese  Erkenntnis,  die  in  der  Vorstellung 
des  elektromagnetischen  Gesamtspektrums  ihren  prägnantesten 
Ausdruck  findet,  besitzt,  so  sagen  wir,  einen  hohen  Erklärungs- 
wert fttr  das  in  Frage  kommende  Gebiet  von  Tatsachen.  Eine 
Überschreitung  der  Erfahrungsgrenzen  ist  mit  derartigen 
Reduktionen  oder  Einordnungen  natürlich  nicht  gegeben. 
Erklären,  in  diesem  Sinne,  bedeutet  begriffliche  Be- 
arbeitung des  Tatsächlichen.  Von  einem  Eindringen  in 
den  metaphysischen  Zusammenhang  des  Geschehens  ist  dabei 
keine  Rede,  darauf  wird  gar  nicht  ausgegangen.  Dals  eine 
solche  Bearbeitung  wirklieh  stattfindet  und  stattzufinden  bat, 
kann  und  will  auch  Mach  natttrlich  nicht  in  Abrede  stellen. 
Im  Gegenteil  erkennt  er  in  dieser  Vereinfachung  und  Ver- 
einheitlichung des  Erfahrungsmaterials  gerade  das  eigentliche 
Wesen  der  wissenschaftlichen  Arbeit  Wenn  er  ftir  diese 
Reduktionstätigkeit  den  Ausdruck  „Erklärung^  vermeidet,  so 
liegt  das  wohl  daran,  dal s  diesem  Worte  der  durch  die  kausale 
Naturbetrachtung  ihm  gegebene  Nebensinn  anhaftet  In  welchem 
Sinne  Mach  Erklärungen  nicht  gelten  lassen  will,  haben  wir 
oben  gezeigt.  In  den  tibrigen  Punkten  sind  die  Differenzen 
unbeträchtlich.  Man  hat  ja  überhaupt  den  Eindruck,  daüs 
es  {(ich  bei  dem  ganzen  Streit  um  Beschreibung  und  Er- 
klärung zum  nicht  geringen  Teil  um  einen  Streit  um  Worte 
gehandelt  hat^ 


0  Psychologisch  betrachtet  heilst  ErklSren  „Gedanken  von 
geringerer  Beständigkeit  daroh  solche  von  grölserer  Beständigkeit  stUtsen*' 
(A.  d.  £.  373).  Eine  Erklärung  ist  ein  „Ersatz  firemdartiger  Wahr- 
nehmungs-  oder  Yorstellungsbilder  durch  geläufige  und  yertnmte*'  (P.  V.  420 
ygl.  P.y.225);  sie  bedeutet  daher  die  „Beseitigung  einer  psychologischen 


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91 

Alle  natnrwiBsenBchaftlichen  Sätze,  auch  die  allgemeinsten 
Gesetze  der  Physik,!)  sind  also  nichts  als  Beschreibungen 
des  Verhaltens  der  Natnrobjekte.  Aber  —  und  das  nnter- 
scheidet  sie  von  den  gewöhnlich  so  bezeichneten  Aus- 
sagen, z.  B.  der  Beschreibung  des  Wachstums  einer  bestimmten 
Pflanze,  einer  embryonalen  Entwicklung')  usw.  —  nicht  etwa 
Beschreibungen  eines  „Individualfalles^,')  sondern  Darstellungen, 
die  sich  auf  „unzählige  Tatsachen''^)  beziehen,  „zusammen- 
fassende Besehreibungen V)  „generelle  Beschreibungen  in 
den   Elementen^*)     Sie  ergeben    sich    durch  methodisches 


Beonrnhigong''  (P.  y/420).  Eine  Tatsache  ist  uns  Uar,  „wenn  wir  die- 
selbe durch  recht  einfache,  uds  geläufige  Gedankenoperationen ,  etwa 
BilduDg  von  BescbieuDigangen ,  geometrische  Summation  derselben  usw., 
Dschbilden  köimeii''  (W.L.  437  f.  u.  P.V.  284  f.).  Die  Anforderungen  an 
die  Einfachheit  sind  verschieden  bei  dem  Orientierten  und  dem  Unkundigen. 
„Ersterem  genügt  die  Beschreibung  durch  ein  System  von  Differential- 
gleichungen, wi&hrend  letzterer  den  alhnählichen  Aufbau  aus  Elementar- 
gesetzen fordert '*  (ib.  ib.).  Dafs  die  mechanischen  Erklärungen  sich 
eines  besonderen  Ansehens  in  der  Physik  erfreuen,  beruht  darauf,  dals  die 
mechanistischen  Vorstellungen  zu  den  „stärksten  und  besterprobten'' 
gehören,  da  sie  einer  yielgeUbten  und  vertrauten  Tätigkeit  entspringen 
and  in  jedem  Augenblick  und  ohne  grofse  Mittel  nachgeprüft  werden 
künnen.  (A.  d.  E.  273.  Vgl  a.  bes.  W.  L.  316  f. ;  P.  V.  189).  Aufserdem 
bangt  die  Wertschätzung  gewisser  Vorstellungen  bei  der  Erklärung  auch 
von  den  „Zeitumständen''  ab.  (P.  V.  427).  Während  man  seit  Galilei  bis 
in  die  jüngste  Zeit  hinein  der  Mechanik  den  höchsten  Erklärungswert  zu- 
schrieb ,  scheint  sich  diese  Auffassung  jetzt  zugunsten  der  Elektrodynamik 
i&adern  zu  wollen  (ib  ).  Auisermechanische  Erklärungen  können,  wenn  sie 
„geläufiger"  werden,  eine  ähnliche  Autorität  für  das  Bewufstsein  erlangen, 
wie  sie  die  mechanischen  von  vom  herein  besitzen  (A.  d.  E  274  Anm.). 
Die  mechanistischen  Begriffe  (besonders  natürlich  diejenigen,  welche  sich 
auf  nahewirkende  Druck-  und  Zugkräfte  beziehen)  verdanken,  ebenso  wie 
die  anderen  bei  der  Erklärung  bevorzugten  Vorstellungen,  ihre  Auszeichnung 
unserer  psychophysisohen  Organisation,  den  besonderen  biologischen  und 
historischen  Umständen;  sie  sind,  so  kOnnen  wir  im  Sinne  Mach's  sagen, 
ein  nQoxBQov  ngb^  ^ßä^^  ii^<^ht  aber  ein  nQoxsQhv  xy  ipvosi. 

»)  Vgl  P.  V.  280;  W.  L.  488  und  P.  V.  285. 

»)  A.  d.  E.  274. 

»)  A.  d.E.  274 f;  P.  V.  426. 

*)  P.  V.  426. 

»)  P.  V.  224,  228,  286;  W.  L.  439. 

•)  A.  d.  E.  276. 


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92 

Abstrahieren  von  den  Einzelheiten  der  Tatsachen,  dnreh 
„Schematisieren '';  ^)  sie  enthalten  also  weniger  als  diese  selbst^) 
Die  Naturgesetze  ermöglichen  nns,  die  Tatsachen  in  Gredanken 
nach-  nnd  vorzubilden.  Das  Fallgesetz  z.  B.  ist  „eine  sehr 
einfache  nnd  kompendiOse  Anweisung,  alle  rorkommenden 
Fallbewegungen  in  Gedanken  nachzubilden^')  Es  erspart  die 
Beobachtung  im  einzelnen,  die  jedesmalige  experimentelle 
Bestimmung  der  zusammengehörigen  Fallräume  und  -Zeiten 
und  ist  daher  „ein  vollständiger  Ersatz  fttr  eine  noch  so  aus- 
gedehnte Tabelle,  die  vermöge  der  Formel  jeden  Augenblick 
in  leichtester  Weise  hergestellt  werden  kann,  ohne  das 
Gedächtnis  im  geringsten  zu  belasten  ^^)  Darin  liegt  der 
Wert  der  zusammenfassenden  Beschreibung. 

In  diese  letzten  Gedankengänge  spielt  bereits  die  bei 
Mach  so  ausgeprägte  biologisch -ökonomische  Auffassung  der 
Wissenschaft  hinein  (vgl.  die  Einleitung).  Die  Naturgesetze 
stellen  den  einfachsten  und  zweckmäfsigsten  Ausdruck  der 
Tatsachen  dar,  oder  suchen  sich  diesem  Ideal  doch  möglichst 
zu  nähern.  „Physik  ist  ökonomisch  geordnete  Erfahrung^.^) 
Die  Wissenschaft  entlastet  das  Gedächtnis,  indem  sie  die 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  auf  möglichst  wenige  und 
umfassende  Begriffe  bringt.  Sie  setzt  uns  damit  zugleich  in 
den  Stand,  die  Natur  mit  dem  kleinstmöglichen  Aufwand  an 
Arbeit  zu  beherrschen.  Der  „sparsamste,  einfachste  begriffliche 
Ausdruck  der  Tatsachen",")  die  „ökonomische  Darstellung  des 
Tatsächlichen"^)  ist  das  Ziel  der  Wissenschaft  Diese  Be- 
tonung des  ökonomischen  Gesichtspunktes  bringt,  wie  sich 
leicht  zeigen  liefse,  einen  relativistischen  Zug  in  die  Machschen 


0  A.  d.  E.  276.    Vgl.  P.  V.  236  u. 

«)  P.V.224a.,  237  0. 

•)  P.  V.  224. 

')  ib.  Die  Natorgesetze  sind  „HersteUnngsregeln"  oder  „Ableitnsgs- 
regeln'S  mittels  deren  sich  die  einen  Vorgang  chaiakterisierenden  Zahlen- 
tabellen aufstellen  lassen.  Vgl  P.  V.  286;  W.  L.  439  u.  bes.  121  u.  45Sf.; 
£.  u.  J.  204,  321 ;  £.  d.  A.  31 ;  L.  3 ;  S.  £.  273. 

»)  P.  V.  228. 

•)  P.  V.238. 

')  P.  V.  426  f.    Vgl  E.  tt.  J.  287,  aach  P.  V.  16. 


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93 

DarlegQDgeD  hinein.  Auf  diesen  Pnnkt  haben  wir,  mit  Btlck- 
sicht  auf  die  Aufgabe,  die  wir  um  gestellt  haben,  nicht  weiter 
einzugehen.!) 

*)  Mach  hat  die  in  den  letzten  Abschnitten  dargelegte  Auffassung 
bereits  1872  in  £.  d.  A.  vertreten.  Er  nimmt  daher  gegenüber  Kirchhoff, 
der  1874  die  Aufgabe  der  Mechanik  bekanntlich  als  die  voUständige  und 
einfachste  Beschreibung  der  in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Bewegungen 
bestimmt  hat,  die  Priorität  für  sich  in  Ansprach  (Vgl.  P.  V.  266  Anm.;  E. 
u.  J.  287;  M.yiII,  258t.).  Man  vergleiche  dazu  auch  W.  L.  404  f.:  „Nicht 
unwahrscheinlich  ist  es  allerdings,  dab  Khrchhoffs  Ansicht,  der  zu  eingehenden 
erkenntniskritischen  Erörterungen  keine  Zeit  fand,  auf  einem  blofsen  Aperen 
beruhte,  denn  in  einem  Gespräch  mit  F.  Neumann  unterlieis  er  es,  dieselbe 
energisch  zu  vertreten."  Auf  eventuelle  Vorgänger  bezüglich  dieser  Auf- 
£iasnng  verweist  Mach  P.  V.  266  Anm.,  425;  £.  u.  J.  287;  A.  d.  £.  4K 


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V.  Machs  Stellungnahme 

gegen  den  naturwissenschaftlichen  Realismus. 

Aufgabebestimmung  der  Wissenschaft 


1.  Es  ist  eine  von  der  NatarwiBBenschaft  in  der  Regel  ab 
selbstverständlich  hingenommene  Überzeugung,  dafs  die  Objekte, 
auf  die  sie  sich  bezieht,  anabhängig  von  ihrem  Vorgestelltwerden 
existieren.  Die  Gesetzmäfsigkeiten  zu  erforschen,  welche  die  v 
räumlich-zeitlich-materielle  Anfsenwelt  beherrschen,  erkennt 
sie  als  ihre  Aufgabe.  Das  naturwissenschaftliche  Denken  ist 
realistisch  orientiert.  Dabei  setzt  der  naturwissenschafUiche 
im  Unterschiede  von  dem  naiven  Realismus  die  Gegenstände 
der  Aufsenwelt  ihrer  Beschaffenheit  nach  als  verschieden 
von  den  Vorstellungsinhalten  voraus,  er  denkt  sie  sich  als  frei 
von  den  sinnlichen  Qualitäten.  Die  Welt  der  Naturwissen- 
schaft, oder  sagen  wir  genauer  der  mechanisch -atomistischen 
Physik  und  derjenigen  Disziplinen,  die  sich  ihre  Betrachtungs- 
weise zn  eigen  gemacht  haben,  ist  eine  färb-  und  klanglose  Welt 

Welche  intellektuellen  Kämpfe  es  Mach  bei  der  ungeheuren 
Autorität,  die  diese  Überzeugung  besitzt,  gekostet  haben  mag, 
seine  Anschauungen  auch  auf  sein  Spezialgebiet,  die  Physik, 
zu  übertragen,  kann  man  sich  vorstellen.  Der  Physiker  ist  ja, 
80  sagt  Mach,  „von  Haus  aus  gewöhnt  .  .  .,  zu  jeder  Definition 
ein  Eilogewicht  in  die  Hand  gedrückt  zu  bekommen''.^  Er 
selbst  äulsert  sich  über  diesen  Punkt  seiner  Gedanken- 
entwicklnng  ,wie  schon  oben  (S.  16)  erwähnt:  „Übrigens  habe 
ich  noch  einen  langen  und  harten  Kampf  gekämpft,  bevor  icb 
imstande  war,  die  gewonnene  Ansicht  auch  in  meinem  Spezial- 
gebiete   festzuhalten.     Man    nimmt  mit  dem  Wertvollen   der 

»)  A.  d.  E.  297. 

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95 

physikalischen  Lehren  notwendig  eine  bedeutende  Dosis  falscher 
Metaphysik  auf,  welche  von  dem,  was  beibehalten  werden 
mnfs,  recht  schwer  losgeht,  gerade  dann,  wenn  diese  Lehren 
geläufig  geworden^.i)  Dafg  aber  diese  Gedankenanpassung  sich 
schliefslich  vollziehen  konnte,  dafs  diese  „falsche  Metaphysik'', 
d.  i.  der  naturwissenschaftliche  Kealismns,  schliefslich  Über- 
wunden wurde,  dürfte  ganz  besonders  dazu  geeignet  gewesen 
sein,  auf  seine  allgemeinen  Anschauungen  eine  rückwirkende 
Verfestigung  auszuüben. 

Wir  haben  als  das  wesentlichste  Charakteristikum  des 
Machschen  Standpunktes  heryorgehoben,  dals  er  den  Gegen- 
satz von  Materie  und  Psyche  nicht  anerkennt.  Mit  dieser  Be- 
kämpfung des  Dualismus  ist  zugleich,  wie  wir  im  ersten  Kapitel 
ausführlich  dargelegt  haben,  seine  Stellungnahme  gegen  den 
Realismus  gegeben,  der  das  in  der  Sinneswahrnehmnng  Vor- 
gefundene als  Erscheinung  dem  wahren  Sein,  das  insbesondere 
der  Realismus  der  Naturwissenschaft  eben  in  der  Materie 
usw.  erblickt,  gegenüberstellt.  Die  Machsche  Orientierung 
ist  positivistisch;  sie  lälst  allein  das  Unmittelbar-Gegebene 
als  wirklich  und  damit  als  Objekt  des  wissenschaftlichen 
Nachdenkens  gelten.  Die  Aufgabe  der  Wissenschaft  überhaupt, 
und  so  speziell  auch  der  Physik  (das  Wort  im  weitesten  Sinne 
genommen),  besteht  aber  darin,  die  Tatsachen  zu  bezeichnen, 
die  Beziehungen  oder  Gesetze,  welche  innerhalb  des  Wirklichen, 
also  des  Unmittelbar-Gegebenen,  statfinden.  Alle  über- 
flüssigen oder  gar  inhaltsleeren  Nebenvorstellungen  sind  dabei 
fernzuhalten.  Wenn  die  Machschen  Anschauungen  wirklich  halt- 
bar sein  sollen,  so  mufs  sich  diese  Bestimmung  der  wissen- 
schaftlichen Aufgabe  als  eine  völlig  zulängliche  erweisen;  ins- 
besondere mufs  sich  zeigen  lassen,  dals  sie  den  ganzen  Inhalt 
der  naturwissenschaftlich -physikalischen  Fragestellung  deckt. 
Die  Physik  dürfte  dann  nirgends  Anlafs  haben,  über  den  Bestand 
des  Unmittelbar-Gegebenen,  wie  es  sich  in  den  Daten  gegen- 
wärtiger oder  doch  möglicher  Sinneswahrnehmung  ausdrückt, 
irgendwie  hinanszngehen.  In  der  Tat  bekennt  sich  Mach 
zu  dieser  Behauptung  in  ihrem  vollen  Umfange.  Wir  werden 
jetzt  zeigen,  wie  er  seine  Auffassung  durchführt,  wobei  wir 


>)  A.  d.  E.  24  Anm. 

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96 

nns  natttriich  auf  die  ErOrteruDg  der  weBentlichsten  Punkte 
beschränken  mttssen. 

Das  yjStarre,  sterile,  beständige,  unbekannte  Etwas'^^i)  das 
„nach  der  vorgefafsten  Meinung  von  Empfindungen  gänzlich 
verschieden  sein  mufs",^)  die  Materie,  existiert  lediglich 
in  der  Phantasie.  Wenn  man  durch  den  Begriff  Materie  mehr 
zum  Ausdruck  bringen  will  als  die  Tatsache,  da£s  die 
„Elemente"  untereinander  in  bestimmter  gesetzmäfsiger  Weise 
zusammenhängen,  so  verliert  er  seine  wissenschaftliche  Be- 
deutung und  gewinnt  einen  „metaphysischen"  Charakter J) 
Welchen  Sinn  aber,  so  wird  man  fragen,  kann  es  dann  noch 
haben,  wenn  wir  von  Erhaltung  der  Materie  sprechen? 
Verliert  ein  so  wohl  fundierter  und  seinerseits  die  ganze 
Wissenschaft  der  Chemie  fundierender  Satz  wie  der  von  der 
Konstanz  der  Materie  bei  dieser  Auffassung  nicht  völlig  seine 
Bedeutung?  Keineswegs.  Erhaltung  oder  Unzerstörbar- 
keit der  Materie,  so  lautet  die  Antwort  Machs,  heilst:  „Er- 
haltung des  Gewichtes^)  Das  ist  die  „reine  TatsacheV) 
die  durch  jenen  Satz  zum  Ausdruck  gebracht  wird,  dasjenige, 
was  wir  allein  konstatieren  und  konstatieren  können.  Die 
Bezeichnung  der  Tatsache  hat  aber  allein  in  der  Wissenschaft 
Sinn  und  Wert  Und  gewils,  wenn  wir  uns  fragen,  was  alle 
die  Versuche,  die  seit  Lavoisier  bis  in  Sie  jüngste  Zeit  (Laudolt) 
zur  Erhärtung  dieses  Satzes  angestellt  wurden,  eigentlich  be- 
wiesen haben,  so  ist  es  sicherlich  nichts  weiter  als  das  Faktum, 
dafs  bei  allen  chemischen  Umsetzungen  das  Gesamtgewicht 
der  in  Reaktion  tretenden  Körper  einen  konstanten  Wert 
besitzt.  In  den  Begriff  des  Gewichtes  aber  geht  nichts 
von  der  Vorstellung  einer  aulsersinnlichen  Materie 
ein,  wie  die  folgenden  Erörterungen  gleich  deutlich  machen 
werden. 

In  der  Physik  spielt  die  Materie  hauptsächlich  in  dem 
Begriff  der  Masse  eine  Rolle,  und  dieser  wertvolle  Begriff 


0  A.  d.  E.  271. 
«)  A.  d.  E.  37. 

*)  A.  d.  E.  271 ;  W.  L.  363.    Vgl.  zum  Begriff  der  Materie  noch  A.  d. 
E.  199,  270  f.,  303:  W.  L.  355,  427;  M.  190. 

*)  E.  d.  A.  25.    Vgl.  F.  V.  233  f;  W.  L.  355. 
*)  E.  d.  A.  25. 


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97 

kann,  nach  geeigneter  Umformnng  und  ElimlDation  der  über- 
flüssigen nnd  irrefUhrenden  Zutaten,  anch  von  demjenigen  bei- 
behalten werden,  welcher  der  Yorstellnng  der  Materie  im 
gewöhnlichen  Sinne  keine  Bedeutung  beilegt.  Bekanntlich  hat 
Newton  in  der  ersten  Definition  der  „Prinzipien'^  die  Hasse  als 
„quantitas  materiae^'  bezeichnete)  Gegen  diese  .scholastische"^), 
„unglückliche'' 3)  Definition  wendet  sich  Mach  mit  aller  Ent^ 
schiedenheit.  Für  sein  Empfinden  bedeutet  die  derart  be- 
stimmte Masse  —  wenn  er  es  auch  so  nicht  ausgedrückt  hat  — 
gleichsam  die  letzte  der  qualitates  oecultae,  die  Newton  in 
seinem  Kampfe  gegen  diese  vermeintlichen  Entitäten  noch  hat 
bestehen  lassen.  Die  Masse  ist  für  die  Physik  ein  „bewegungs- 
bestimmendes Merkmal''^)  der  Körper,  ein  malsgebender  Um- 
stand, der  bei  der  Charakteristik  der  Bewegungen  zu  beachten 
ist:  Eine  andere  Bedeutung  als  diese  sich  im  Zusammenhang 
der  Dynamik  ergebende  kommt  dem  Massenbegriff  nicht  zu;  zu- 
mal hat  er  mit  der  Vorstellung  einer  aufsersinnlichen  Materie, 
die  in  die  Newtonsche  Definition  aufgenommen  ist,^)  durchaus 
nichts  zu  tun.  Wir  wollen  uns  die  Maehsche  Ableitung 
des  Massenbegriffs  in  ihren  wesentlichen  Zügen  und  in  etwas 
freierer  Darstellung  yorfllhren.<^) 


')  Newton,  Philos.  natur.  princip.  mathem.,  Def.I:  ^Quantitas  materiae 
est  meosura  ejnsdem  orta  ex  Ulius  densitate  et  magnitudine  eonjimctim  . . . 
Hanc  aatem  quantitatem  sab  nomine  corporis  vel  massae  in  sequentibos 
passim  inteUigo.** 

«)  W.  L.  426. 

»)  M.  188. 

*)  ib. 

*)  Abgesehen  davon,  dafis  in  die  (in  Anm.  1  yollsüindig  mitgeteilte) 
Newtonsche  Definition  die  metaphysische  Vorstellang  der  Materie  einflielst, 
enthält  sie  auch,  wie  Mach  richtig  bemerkt,  einen  Zirkel,  da  wir  ja  die 
Dichte  wieder  nor  als  die  Masse  der  Yolumenehiheit  definieren  können, 
YgL  M.  188  u.  239. 

")  Diese  Ableitung  hat  Mach  zuerst  1868  in  Carls  „Repertorium  der 
Experimentalphysik*'  Bd.  4  veröffentlicht  (abgednickt  auch  in  E.  d.  A.  SO  ff.). 
Die  weiteren  HaaptaasfÜhnmgen  finden  sich  B.  E.  6f.  und  M.  186  ff.,  210  ff., 
241  f.  Der  Gegenstand  ist  za  beziehungsreich,  um  in  dieser  Arbeit  er« 
schöpfend  behandelt  und  völlig  klargestellt  werden  zn  können.  Ich  werde 
darauf  demnächst  an  anderer  Stelle  ausführlich  zorückkommen  und  dabei 
anch  die  von  anderen  Autoren  erhobenen  Bedenken  und  Einwendungen 
berücksichtigen. 

PhilosophlBche  Abhandlimfiren  XXXXY.  7 


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96 

Ein  Körper  A  möge  einein  Körper  &  gegenttbertreteD. 
Dann  lehrt  die  Erfahrung,  dafs  eine  besehleunigte  Bew^iug 
von  B  gegen  A  hin  nnd  umgekehrt  einsetzt  Wir  können  diese 
Bewegangsvorgänge  messend  verfolgen  nnd  die  Beschleunigungen 
q>  und  —  q>  von  A  resp.  B  —  das  negative  Vorzeichen  bei  9^' 
steht  mit  Rücksicht  auf  die  entgegengesetzte  Richtung  der 
beiden  Bewegungen  —  bestimmen.  Der  Umstand,  dals  die 
zugrunde  gelegte  Erfahrung  sich  tatsächlich,  wenigstens  auf 
terrestrischem  Wege,  nur  mit  den  Mitteln  einer  höchst- 
verfeinerten Experimentierkunst  erwerben  lälst,  ist  kein  Argument 
gegen  die  Möglichkeit  der  folgenden  Deduktion.^  Die.  Tat- 
sache nun,  dals  q>  von  (p  verschieden  sein  kann,  dafs  ferner  (p 
sich  ändern  kann,  wenn  wir  den  Körper  B  durch  einen  anderen 
C  ersetzen,  läfst  uns  nach  einem  „bewegungsbestimmen- 
den",*) genauer  „  beschleunigungsbestimmenden  "^)  Umstand 
suchen.  Diesen  Umstand,  der,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  in  der 
Farbe,  Temperatur,  chemischen  Beschaffenheit  usw.  der  Körper 
nicht  zu  finden  ist,  bezeichnen  wir  mit  einem  zunächst  ganz 
willkürlichen,  aber  dem  Sprachgebrauch  anbequemten  Aus- 
druck als  das  „Massenverhältnis^^  der  beiden  Körper.  Wir 
definieren^)  das  Massenverhältnis  von  A  zu  B,  das  wir  durch 

— r  bezeichnen  wollen,  als  den  reziproken  Wert  des  Verhältnisses 
der  bezüglichen  Beschleunigungen.    Also: 


>)  Jedenfalls  ist  der  Streintzsche  Einwand,  dafs  diese  Erfahrung  nur 
auf  astronomischem  Wege  zu  machen  sei ,  hinfällig  (Vgl.  H.  Steintz ,  Die 
physikalischen  Grundlagen  der  Mechanik,  Leipzig  1SS3,  S.  117).  Man  denke 
nur  an  die  Versuche  zur  Bestimmung  der  Gravitationskonstante,  wie  sie 
z.B.  von  Reich  und  Cavendish  mit  der  Drehwage,  von  König,  Bichaiz 
und  Krigar- Menzel  mit  der  „Doppelwage"  angestellt  wurden.  Mach  be- 
gegnet dem  Streintzschen  Einwand  mit  wie  mir  schemt  weniger  nahe- 
liegenden Beispielen,  die  die  Erfahrung  an  die  Hand  gibt  (vgl.  M.  212). 
Es  handelt  sich  bei  dieser  ganzen  Deduktion  mehr  um  eine  klare,  alle 
überflüssigen  Zutaten  fernhaltende  Formulierung  des  Massenbegrifls  als  um 
eine  Ableitung  desselben  aus  möglichst  einfachen  und  geläufigen  Erfahrungen. 
Fernkräfte  werden  dabei  nicht  vorausgesetzt,  wie  Boltzmann  meint  (Po- 
puläre Schriften  1905,  S.  293). 

«)  B.E.6;  M.  188f. 

«)  M.  216. 

*)  Vgl.  E.  d.  A.  ÖOflf.;  M.  241f. 


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90 

m  __  __  9^' 

in'  ^  g) 
Diese  Gleichung  läfst  sich  auch  schreiben:  mg)  +  mV'  =  0, 
und  wir  erkennen  sie  in  dieser  Form  als  Ausdruck  des 
Newtonschen  Prinzips  von  actio  und  reactio.  Die  Masse  be- 
deutet ,,nichts  als  die  Erfüllung  einer  wichtigen  Gleichung  % 
sagt  Mach.i)  Die  Gleichung  mgp  +  mV'  =  0  ist  die  De- 
finitionsgleiehung  für  die  Masse,  oder  richtiger  zunächst 
für  das  Massenverhältnis.^)  Es  folgt  ohne  weiteres,  dafs  wir 
zwei  Körpern,  entsprechend  dieser  Definition,  gleiche  Massen 
zuzuschreiben  haben,  wenn  sie  aneinander  gegenseitig  gleiche 
und  der  Richtung  nach  entgegengesetzte  Beschleunigungen  be- 
stimmen. Und  weiter  läfst  sich  sagen:  ein  Körper  A  hat  eine  n-mal 
gröfsere  Masse  als  ein  KOrper  B,  wenn  er  diesem  eine  n-mal 
gröfsere  Beschleunigung  erteilt,  als  er  selbst  von  ihm  ertUhrt;  die 
Massen  verhalten  sich  umgekehrt  wie  die  Gegenbeschleunigungen. 
Übrigens  war  bisher  nur  von  relativen  Massen  die  Bede.  Wir 
kommen  zu  absoluten  Massenzahlen,  indem  wir  willkürlich  (durch 
Definition)  eine  Masseneinheit  festlegen  (das  Kubikzentimeter 

0  W.  L.  363. 

*)  Man  wird  sich  fragen,  ob  diese  Definition  nicht  gerade  mit 
Rücksicht  auf  das  Gegenwirkangsprinzip  getroffen  ist,  also 
dieses  voraussetzt.  Dann  aber  dürfte  znnSehst  dieses  Prinzip ,  wenn  die 
obige  Deduktion  möglich  sein  soll,  nicht  umgekehrt  wieder  den  Massen- 
begriff voraussetzen,  sondern  müDste  ans  einer  anderen  QueUe  der  Er- 
fahrung stammen,  da  ja  sonst  ein  handgreiflicher  Zirkel  vorläge.  Auch 
dann  aber  wäre  dei'  Massenbegriff  ja  nur  auf  den  &aftbegriff,  also  einen 
zunächst  jedenfalls  nicht  minder  metaphysischen  Begriff,  zurückgeführt, 
jm  Sinne  der  ganzen  Tendenz  also  gar  nichts  gewonnen.  £s  scheint  uns 
das  bei  Mach  nicht  ganz  klar  zu  werden.  Wie  diese  offenbaren  Schwierig- 
keiten sich  erledigen,  kann  hier  nicht  ausführlich  dargetan  werden.  Die 
Richtung,  in  der  die  Lösung  zu  suchen  ist,  scheint  uns  durch  folgendes 
gegeben:  Allerdings  ist  die  Definition  der  Masse  mit  Rücksicht  auf  das 
Gegenwirkungsprinzip  getroffen.  Diesem  Prinzip  aber  und  damit  dem  Eraft- 
begriff  kommt  eine  lediglich  formalistische  Bedeutung  zu;  sie  besitzen 
gar  keine  materielle  Grundlage  in  der  Erfahrung,  sondern  sind  blofae 
Mittel  zur  Beschreibung  der  Tatsachenzusammenhänge,  wie  sie  auch  von 
Kirchhoff  aufgefa&t  werden.  Damit  bleibt  der  Ableitung  ihr  ameta- 
physischer Charakter  erhalten.  —  Was  wir  in  dem  Verhältnis  der  Massen 
tatsächlich  denken  oder  was  der  Physiker  darin  zu  denken  hat,  ist 
nichts  als  das  umgekehrte  Beschleunigungsverhältnis,  das  uns  unmittelbar 
gegeben  ist. 


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100 

Wasger  von  gröfster  Dichte  bezw.  der  iansendste  Teil  des 
„kilogramme  des  archives'').  Die  Massenverhältnisse  einer  Beihe 
von  Körpern  in  bezng  anf  diesen  Normalkörper  sind  nämlich 
deren  Massen. 

Er  bleibt  noch  der  Nachweis  zu  liefern,  dafs  die  so  ge- 
wonnene Masse  dem  betreffenden  Körper  als  ein  Merkmal  an- 
haftet, welches  fttr  alle  seine  dynamischen  Beziehungen  mafs- 
gebend  ist,  dafs  sie  unabhängig  ist  von  dem  Wege  ihrer  Er- 
mittelung, wie  das  die  Mechanik  fordern  mofs.  Es  ist  dies 
keineswegs  selbstverständlich.  Denn  da  wir  bei  dieser  Art 
der  Massenbestimmnng  den  Körper  jedesmal  als  Glied  eines 
individuellen  Beschleunignngssystems  betrachten,  so  erhalten 
wir  seine  Masse  auch  immer  nur  in  bezng  auf  einen  bestimmten 
Vergleichskörper.  Es  mufs  also  erst  bewiesen  werden,  dals 
ihm  als  Element  eines  anderen  Beschleunigungssystems  der- 
selbe Massenwert  zukommen  wttrde.  Wir  wollen  uns  der  Ein- 
fachheit halber  auf  die  Erörterung  des  denkbar  speziellsten 
Falles  beschränken.  Wir  betrachten  drei  Körper  A,  B  und  C, 
von  denen  sich  A  und  B  sowie  B  und  C  gegeneinander  als 
gleiche  Massen  verhalten  sollen.  Die  Frage  ist  nun:  werden 
sich  auch  A  und  C  als  von  gleicher  Masse  erweisen,  anders 
ausgedrtlckt,  ergibt  sich  das  Verhältnis  der  Massen  von  A  und 
C  gleich  dem  Produkt  der  Massenverhältoisse  von  A  und  B 
und  von  B  und  C?  Eine  „logische  Notwendigkeit"')  liegt 
hier  gewifs  nicht  vor;  die  Frage  ist  vielmehr  eine  rein  „ physi- 
kalische "i)  und  kann  daher  nur  durch  die  Erfahrung  entschieden 
werden.  Eines  besonderen  Versuches  bedarf  es  indessen  nicht; 
wir  müssen  die  Frage  bejahen,  wollen  wir  mit  der  Erfahrung 
im  Einklang  bleiben.  Bei  der  gegenteiligen  Annahme  würden 
wir  nämlich  mit  dem  empirisch  ausreichend  gestützten  Prinzip 
vom  ausgeschlossenen  Perpetuum  mobile  in  Konflikt  geraten. 
Mach  beweist  dies  durch  ein  ebenso  einfaches  wie  geistvoll 
ersonnenes  Gedankenexperiment,  worauf  wir  hier  einfach  ver- 
weisen können.2)  Damit  ist  gezeigt,  dafs  die  Masse  dem 
Körper  unabhängig  von  dem  Beschleunigungssystem  zukonmit, 
als  dessen  Glied  man  ihn  gerade  betrachtet,  dafs  der  Massenwert 


>)  M.  213. 
«)  Vgl.  M.  214. 


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101 

eines  KOrpere  ein  in  allen  seinen  dynamischen  Beziehungen 
konstantes  Merkmal  ist 

Von  diesem  kritisch  gereinigten  Massenbegriff  aus  gelangt 
man  ohne  weiteres  zu  dem  physikalischen  Begriff  der  Eraft,^) 
der  so  gleichfalls  aller  metaphysischen  Unklarheiten  entkleidet 
wird.  Ferner  läfst  sich  leicht  und  in  einwandfreier  Weise 
dartun,  dafs  auch  bei  dieser  Definition  der  Masse  eine  Pro- 
portionalität zwischen  Masse  und  Gewicht  besteht,  also  eine 
Massenbestimmuog  durch  das  Gewicht  möglich  ist,  kurz,  dafs 
dieser  Massenbegriff  nicht  weniger  leistet  als  der  gewöhnliche, 
von  dessen  bedenklichen  Seiten  er  sich  frei  hält.  Hierauf  und 
auf  weitere  Eonsequenzen  dürfen  wir  indessen  nicht  eingehen. 

Die  Machsche  Definition  der  Masse  ist  hervorgegangen 
aus  dem  Bestreben,  „die  Abhängigkeit  der  Erscheinungen  von- 
einander zu  ermitteln  und  alle  metaphysische  Unklarheit  zu 
beseitigen".*)  Sie  enthält  keinerlei  „Theorie",  sondern  ist 
lediglich  „die  scharfe  Fixierung,  Bezeichnung  und  Benennung 
einer  Tatsache".^)  „Über  die  Anerkennung  dieser  Tatsache 
kommen  wir  nicht  hinaus,  und  jedes  Hinausgehen  über  die- 
selbe fuhrt  nur  Unklarheiten  herbei".^)  In  diesen  Massenbegriff 
geht  die  Vorstellung  von  der  „Menge  der  Materie"  nicht  ein; 
es  ist  nur  von  den  tatsächlich  beobachtbaren  und  meisbaren 
Beschleunigungen  die  Rede.  Das  Verdienst,  das  sich  Mach  mit 
dieser  Ableitung  der  Masse  fUr  eine  metaphysikfreie,  „phä- 
nomenologische" Darstellung  der  Physik  erworben  hat,  kann 
nicht  hoch  genug  eingeschätzt  werden.  Aber  auch  für  die 
Erkenntnistheorie  kommt  ihr  damit  zugleich  eine  eminente 
Bedeutung  zu.  Sie  liegt,  wollen  wir  es  mit  einem  Worte 
sagen,  darin,  dafs  Mach  in  ihr,  wohl  zum  ersten  Male,  eine 
rein  immanente  Bestimmung  des  Massenbegriffs  gegeben  hat, 
die  keinen  Transgrefs  über  das  Gebiet  möglicher  Er- 
fahrung nötig  macht. 

Der  blofse  Begriff  der  Materie  wird  von  der  realistisch 
gerichteten  Physik  in  der  Regel  ganz  unbesehen  übernommen; 

^)  Vgl.  aber  Anm.  2  auf  S.  99,  wo  das  Verhältnia  wohl  zatreffender 
dargestellt  wird. 
«)  M.  212. 
»)  ib. 
*)  M.  215. 


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102 

er  fliefßt  ihr  aus  der  gewöhnlichen  Weltanschauung  des  nairen 
Bealismus  zu.  Ihre  eigentliche  Arbeit  beginnt  erst  mit  der 
UntersnchuDg  des  Wesens,  der  inneren  Konstitution  dieser 
Materie.  Seit  den  Tagen  Galileis  und  Newtons  bis  in  die 
jüngste  Zeit  sehen  wir  die  Physik  unablässig  bemüht,  da^ 
Wesen  der  körperlichen  Welt  „mechanisch''  zu  begreifen,  sei 
es  auf  Grund  der  atomistischen  Hypothese  oder  der  Annahme 
einer  kontinuierlichen  RaumerfttUung.  In  dem  bekannten 
Huygens'schen  Worte  von  der  „vraye  Philosophie,  dans  laquelle 
on  conQoit  la  cause  de  tqus  les  effets  natnrels  par  des  raisons 
de  mechanique^'i)  hat  diese  Tendenz  ihren  prägnantesten 
Ausdruck  gefunden.  Unter  dem  Einflafs  der  Arbeiten  Daltons 
besonders  hat  sich  die  mechanische  Naturauffassung,  etwa  seit 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts,  die  Physik  in  der  speziellen 
Form  der  Atomistik  erobert. 

Wir  wollen  in  folgendem  die  Gesamtheit  der  Vorstellungen, 
die  die  mechanisch -atomistische  Physik  sich  über  die  Kon- 
stitution der  Materie  gebildet  hat  und  die  das  „erklärende'' 
Naturbetrachten  überhaupt  beherrschen,  als  die  theoretischen 
Gegenstände  der  Naturwissenschaft  bezeichnen,  im  Unter- 
schiede von  den  unmittelbaren  oder  sinnlichen  Gegen- 
ständen. Unter  diesen  BegrifiF  fallen  also  die  Moleküle,  Atome, 
Elektronen  usw.  Dafs  diesen  theoretischen  Gegenständen  — 
das  Wort  Gegenstand  wird  hier  zunächst  in  dem  logischen 
Sinne  genommen  —  irgendwie  „reale"  Gegenstände  entsprechen, 
dafs  ihre  Bedeutung  sich  nicht  darin  erschöpfe,  intellektuelle 
Mittel  zur  Darstellung  der  Erscheinungen  zu  sein,  sondern 
dafs  ihnen  zugleich  eine  Beziehung  auf  ein  unabhängiges  Reale 
zukomme,  das  sie  gewissermafsen  abbilden:  das  ist  die  Be- 
hauptung des  naturwissenschaftlichen  Realismus.  Die  entgegen- 
gesetzte Überzeugung   charakterisiert  die  Machsche  Position. 

Eine  ausführliche  Orientierung  über  die  historische  Ent- 
wicklung dieser  Diskussion  zu  geben  kann  hier  nicht  unsere 
Aufgabe  sein.  Indessen  mögen  einige  kurze  Hinweise  Platz 
finden.  Die  Überzeugung  von  der  Idealität  der  theo- 
retischen Gegenstände  der  Naturwissenschaft  l&bt  aich 
in  ihren  Ansätzen  deutlich  bis  auf  Newton  zurttekrerfolgen« 

^)  Haygens,  Traitö  de  la  lomiöre.    A  Leide  1690,  p.  2. 

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103 

Klar  zum  BewnfstseiD  echeint  sie  jedoch  erst  bei  Maxwell  ge- 
kommen zu  sein.  Wir  wollen  hier  nur  einen  besonders 
charakterifltiBchen  Ansspruch  Haxwells  folgen  lassen -J)  „For 
the  advance  of  the  exact  scienees  depends  npon  the  discovery 
and  development  of  appropriate  and  exact  ideas,  by  means  of 
whieh  we  may  form  a  mental  representation  of  the  faets, 
snfficiently  general,  on  the  one  hand,  to  stand  for  any  particnlar 
case,  and  snfficiently  exact,  on  the  other,  to  Warrant  the  de- 
dnctioDS  we  may  draw  from  them  by  the  application  of  mathe- 
matical  reasoning^  Diesen  Bildern  oder  „mechanischen 
Modellen^  (mental  images,  Symbols,  diagrams)  aber  irgendwie 
eine  Realität  anlserhalb  des  Denkens  beizulegen,  liegt  Maxwell 
völlig  fern.  Er  erklärt  ausdrttcUich,  da£s  er  selbst  nicht  an 
die  Realität  der  inkompressibeln  Flnida  glaube,  die  er  znr 
Erklärung  der  elektrischen  Erscheinungen  heranzieht,  sondern 
lediglich  eine  mechanische  Analogie  zu  geben  beabsichtige, 
die  sich  wegen  ihrer  Anschaulichkeit  empfiehlt^)  Dabei  unter- 
schätzt er  den  Wert  solcher  bildhypothetischen  Vorstellungen 
keineswegs;  im  Gegenteil  hat  er  sie,  darin  ganz  den  Ideen 
Faradays  folgend,  im  weiten  Umfange  und  mit  gröfstem  Er- 
folge verwandt.  Mit  völliger  Klarheit  und  Konsequenz  in- 
dessen ist  die  Ansicht,  dals  die  theoretischen  Gegenstände  der 
Naturwissenschaft  rein  idealer  Natur,  blolse  Mittel  zur  ge- 
danklichen Erfassung  der  Erscheinungen  seien,  erst  von  Mach 
vertreten  worden.  In  letzter  Zeit  hat  sie  auch  Heinrich  Hertz, 
der  in  dieser  Hinsicht,  wie  er  selbst  anerkennt,  wesentlich 
unter  dem  Einflufs  der  Machschen  Gedankengänge  steht,  in 
seiner  nachgelassenen  Mechanik  in  sehr  wirkungsvoller  Weise 
verfochten.  Hertz  präzisiert  seine  Auffassung  folgendermafsen:') 
„Wir  machen  uns  innere  Scbeinbilder  oder  Symbole  der 
äufseren  Gegenstäode,  und  zwar  machen  wir  sie  von  solcher 
Art,  dals  die  denknotwendigen  Folgen  der  Bilder  stets  wieder 
die  Bilder  seien  von  den  naturnotwendigen  Folgen  der  ab- 
gebildeten Gegenstände^.  Wie  weit  etwa  Hertz  diese  „äufseren" 
Gegenstände  im  Sinne  des  naturwissenschaftlichen  Realismus 


0  Mftzwell,  Sdentific  Papen,  vol.  II,  p.  360. 

^  Vgl  On  FaracUys  Udm  of  force.    Scient.  Pap.,  vol  I,  p.  157. 

•)  H.  Hertz,  Die  Prinzipien  der  Mechanik: . . .,  hrsg.  v.  Lenard,  S.  1. 


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104 

genommen  wissen  will,  läfst  sich  nicht  wohl  feststellen;  es  ist 
aber  anzunehmen,  dafs  er  in  dieser  Beziehung  ganz  auf  d^n 
herkömmlichen  Standpunkt  steht.  Wichtig  fUr  diesen  Zu- 
sammenhang ist  nur,  dals  er  den  theoretischen  Gebilden 
der  Physik  die  Bedeutung  von  blofsen  Denkmitteln  oder 
Symbolen  zuschreibt,  und  zwar  von  Symbolen,  die  veränder- 
lich sind  und  deren  Wahl  innerhalb  gewisser  Grenzen  will- 
kürlich ist.  Hertz  hat  wohl  so  wenig  an  die  Realität  der  von 
ihm  zur  Erklärung  der  mechanischen  Phänomene  voraus- 
gesetzten verborgenen  Hassen  und  Bewegungen  geglaubt,  wie 
Maxwell  an  die  Realität  der  elektrischen  Flüssigkeit  oder  der 
Zellensysteme  mit  rotierendem  Inhalt,  auf  die  er  seine  Theorie 
der  elektromagnetischen  Vorgänge  aufbaut.  In  letzter  Zeit 
hat  diese  Auffassung,  diese  Wertung  der  Theorien,  sich  viel 
Terrain  erobert,  obgleich,  fortwährend  eine  starke  realistische 
Gegenströmung  bestanden  hat 

„Ich  debattierte  einmal  im  Sitzungssaal  der  Akademie 
aufs  lebhafteste  über  den  unter  den  Physikern  gerade  wieder 
akut  gewordenen  Streit  über  den  Wert  der  atomistischen 
Theorien  mit  einer  Gruppe  von  Akademikern,  unter  denen  sich 

Hofrat  Professor  Mach  befand In  jener  Gruppe  von 

Akademikern  sagte  bei  der  Debatte  über  die  Atomistik  Mach 
plötzlich  lakonisch:  'Ich  glaube  nicht,  dafs  die  Atome  existieren'". 
So  lesen  wir  in  dem  „Antrittsvortrag  zur  Naturphilosophie" 
von  Ludwig  Boltzmann.^  Diese  kurzen  Worte  bringen  Machs 
Verhältnis  zur  Atomistik,  sofern  sie  ihren  Gebilden  Realität 
auf  serhalb  des  Denkens  zuschreibt,  und  zur  mechanischen 
Naturauffassung  überhaupt  —  beides  hängt  für  sein  Bewulst- 
sein  und  ja  auch  in  der  Tat  aufs  engste  zusammen  —  in 
schärfster  Weise  zum  Ausdruck. 

Wir  haben  bereits  eingangs  hervorgehoben,  dals  Mach  den 
eigentlichen  Beweis  für  die  Richtigkeit  seiner  Anschauungen 
schuldig  bleibt  und  sich  darauf  beschränkt,  ihre  Durchführbar- 
keit und  damit  Zulässigkeit  darzutun.  Es  gilt  dies  sowohl 
von  seinen  allgemeinen  Aufstellungen  als  insbesondere    auch 


0  Abgedruckt  in  den  S.  98  sitierten  „PopuUbren  Schriften  *<  8.338. 
—  Ein  solches  ,,1  do  not  believe  in  atoms**  wird  aaeh  yon  Lord  Kelvin 
berichtet. 


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105 

von  seiner  Einschätzung  der  theoretischen  Gegenstände  der 
Naturwissenschaft  in  bezng  anf  ihren  Kealitätswert.  Wir 
müssen  uns  aber  fragen,  ob  denn  ein  solcher  Beweis,  wenigstens 
Yom  Standpunkte  der  Physik  aus,  überhaupt  zu  erbringen 
ist,  ob  es  letzten  Endes  überhaapt  möglich  ist,  zwischen  diesen 
verschiedenen  Orientierungen  eine  absolut  gültige  Entscheidung 
zu  treffen.  Jedenfalls  steht  ja  eine  überzeugende  Begründung 
des  naturwissenschaftlichen  Realismus  ebenfalls  noch  aus.  Es 
kann  gar  nicht  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft  sein,  den 
Bea]itätscharakter  ihrer  theoretischen  Gegenstände  zu  dis- 
kutieren; ja  sie  hat  als  solche  an  dieser  Diskussion  nicht 
einmal  Interesse.  Das  Wesen  und  die  Bedeutung  etwa  der 
Eekuleschen  Benzoltheorie  für  die  organische  Chemie  wird 
nicht  im  geringsten  dadurch  getroffen,  ob  man  nun  überzeugt 
ist,  dafs  sich  in  der  wasserhellen  Flüssigkeit,  die  wir  Benzol 
nennen,  „wirklich'^  solche  Atomringe  befinden,  oder  ob  man 
diese  Theorie  nur  für  ein  bequemes  und  durch  seine  An- 
schaulichkeit fruchtbares  Symbol  nimmt.  Die  Tatsachen  jeden- 
falls geben,  wenigstens  bis  jetzt,  kein  Mittel  zur  Entscheidung 
an  die  Hand;  auch  würde  durch  solche  Entscheidung  an  sich 
die  chemische  Wissenschaft  nicht  um  eine  positive  Kenntnis 
bereichert  sein.  Das  gilt  für  die  gesamte  Atomistik.  Ganz 
unkontrollierbare  Momente  des  Glaubens  fliefsen  bei  der 
Stellungnahme  in  dieser  Bealitäts frage  mit  ein.  Man  hat 
von  einer  Theorie  überhaupt,  und  so  auch  von  einer  so  all- 
gemeinen Theorie,  wie  sie  der  Bealismns,  Idealismus  usw.  dar- 
stellen wollen,  zu  verlangen,  dafs  sie  sich  mit  der  Erfahrung 
in  Übereinstimmung  halte  oder  die  Tatsachen,  die  sie  zur 
Darstellung  bringt,  völlig  decke,  und  weiter,  dafs  sie  mit  innerer 
logischer  Eonsequenz  durchgeführt  sei.  Neben  diesen  beiden 
in  erster  Linie  in  Frage  kommenden  formalen  Anforderungen 
mögen  noch  andere  zu  berücksichtigen  sein,  wie  die  Forderung 
der  Zweckmäfsigkeit  oder  Ökonomie,  die  jedenfalls  schon  eine 
weit  prekärere  ist.  Es  ist  schwer  zu  sagen  —  wenn  es  über- 
haupt möglich  ist  ^-,  ob  nicht  ein  folgerichtig  durchgeführter 
Positivismns  oder  Idealismus  auf  naturwissenschaftlichem  Ge- 
biete diesen  Anforderungen  genau  so  gut  entsprechen  könne 
wie  ein  konsequenter  Realismus,  und  was  dann  über  Wert 
oder  Unwert  dieser  verschiedenen  Orientierungen  zu  entscheiden 


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106 

habe.  Eins  aber  ist  klar:  die  Tatsachen  selbst  werden  von 
deren  Interpretation  in  keiner  Weise  bertthrt.  Die  Diffe- 
renzen betreffen  allein  die  Darstellung.  Diese  mnfs  natürlich, 
entsprechend  der  verschiedenen  Bicbtnng  des  Interesses,  ver- 
schieden  aasfallen.  Wer  den  Atomen  nsw.  ein  vom  Denken 
nnabhängiges  Sein  zuschreibt  und  die  sinnlichen  Gegebenheiten 
auf  eine  niedrigere  Stufe  der  Realität  stellt,  der  wird  in 
der  Zurückftthrung  der  Erscheinungen  auf  Atombewegungen 
das  eigentliche  Ziel  wissenschaftlichen  Bemtthens  erblicken 
UDd  als  vollendete  Darstellung  des  Tatsächlichen  diejenige 
anerkennen,  in  der  nur  von  Atomen  und  deren  Beziehnogen 
die  Bede  ist:  das  atomistisohe  Weltbild.  Wer  dagegen  diese 
Gebilde  als  blo£se  Hilfsmittel  zur  intellektuellen  Erfassung 
und  Durchdringung  des  Wirkliehen  betrachtet,  die  besonderen 
einseitigen  Absichten  aogepafst  und,  entsprechend  dem  Fort- 
schritt der  Wissenschaft,  in  steter  Wandlung  begriffen  sind, 
der  wird  ihnen  eine  weit  geringere  Wertschätzung  zuteil 
werden  lassen.  In  dem  Idealbilde  der  Wirklichkeit,  das  ihm 
vorschwebt,  werden  sie  keine  Bolle  spielen  dürfen.  Der  zu- 
letzt bezeichneten  Auffassung  entspricht  die  Machsche. 

Nach  diesen  allgemeinen  Yorerinnerungen  können  wir  die 
Einzelheiten  der  Machschen  Anschauungen  leicht  verstehen. 
Die  mechanische  Naturauf fassnng,  sagt  Mach,  ist  bestrebt, 
alle  physikalischen  Erscheinungen  auf  „Bewegungs-  und  Gleich- 
gewichtsvorgänge der  Moleküle"  zurückzuführen.*)  Dieses 
Ideal  nun  soll  sich  als  ein  „chimärisches"  erwiesen  haben ;^) 
die  Tage  der  mechanisch -atomistischen  Physik  sind  gezählt^) 
Es  wird  eine*  Zeit  kommen,  so  meint  Mach,  wo  man  nicht 
verstehen  wird,  „wie  uns  Farben  und  Töne,  die  uns  doch  am 
nächsten  liegen,  in  unserer  physikalischen  Welt  von  Atomen 
plötzlich  abhanden  kommen  konnten",^)  wie  uns  „die  uns 
bestvertraute  Sinnenwelt  plötzlich  als  das  gröüste  Welträtsel" 
erseheinen  konnte.^) 


0  E.  d.  A.  18.    Vgl.  E.  d.  A.  26. 

»)  P.  V.  191. 

»)P.V.  115.    Vgl.P.V.219f. 

*)  P.  V.  244. 

•)  W.  L.  317j  P.  V.  191. 


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107 

Die  Moleküle,  Atome  usw.,  kurz  die  theoretischen  Gegen- 
stände der  Physik  sind  „proyisorische  Hilfsmittel"^)  znr  £r- 
fassang  nnd  Darstellung  der  Erscheinungen,  „selbstgeschaffene 
veränderliche  ökonomische  MittePV)  „Gedankendinge",')  nicht 
aber  „Realitäten  hinter  den  Erscheinungen".'*)  Sie  sind  „öko- 
nomische Symbolisiernngen  der  physikalisch -chemischen  Er- 
fahrung".^) Diese  Symbole  oder  Begriffe  zu  realisieren,  zu 
,;hyposta8ieren",0)  d.  b.  „ihnen  Realität  aufserhalb  des  BewuCst- 
seins  zuzuschreiben",*)  wie  das  gewöhnlich  geschieht,  liegt 
durchaus  kein  Grund  vor.  Wer  das  tut,  treibt  „mechanische 
Mythologie". 7)  Oft  äufsert  sich  Mach  geradezu  belustigt  ttber 
den  „Hexensabbath"  von  Molekeln,  Atomen,  Elektronen 
usw.  8) 

Fragen  wir  uns,  was  wir  eigentlich  tun,  indem  wir  die 
Körper  aus  nicht  weiter  zerlegbaren  Massenteilchen  aufgebaut 
denken,  denen  wir  räumliche  Ausdehnung,  Undurchdringlich- 
keit usw.  zuschreiben.  „Wir  nehmen  damit  an,  dafs  Dinge, 
die  nie  gesehen,  nie  getastet  werden  können,  die  überhaupt 
nur  in  unserer  Phantasie  und  unserem  Verstände  existieren, 
dafs  diese  nur  mit  den  Eigenschaften  und  Beziehungen  des 
Tastbaren  behaftet  sein  können.  Wir  legen  dem  Gedachten 
die  Beschränkungen  des  Gesehenen  und  Getasteten  auf".  Wir 
könnten  uns  die  Molekularvorgänge  auch  „musikalisch",  „in 
Tonverhältnissen"  vorstellen,  wenn  diese  Anschauung  unsere 
Erkenntnis  fördern  würde.  „Es  liegt  keine  Notwendigkeit 
vor,  sich  das  blofs  Gedachte  räumlich,  d.  h.  mit  den  Be- 
ziehungen des  Sichtbaren  und  Tastbaren  zu  denken,  ebenso- 
wenig als  es  nötig  ist,  dasselbe  in  einer  bestimmten 
Tonhöhe  zu  denken".  Es  kann  unter  Umständen  zweckmälsig 
erscheinen,  sich  die  Atome  zur^Veransehaulichung  der  Be- 
ziehungen in   einem  mehr -als -dreidimensionalen  Räume    an- 


>)  M.  466. 

«)  P.  V.  237.    Vgl.  P.  V.  238;  A.  d.  E  254,  257. 

»)  M.  466  ff.;  E.  u.  J.  418;  E.  d.  A.  59. 

*)  F.  V.  237.    Vgl.  M.  483. 

5)  A.  d.  £.  254. 

•)  W.  L.  61. 

')  P.V.28t;  M.443. 

•)  E.  U.  J.  106  t    Vgl  M.  443;  F.  V.  238. 


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108 

geordnet  zu  denken.!)  Betrachtet  man  die  atomiBtischen  Theorien 
lediglich  als  Bilder  oder  Modelle,  so  hat  man  ihnen  gegenüber 
gröfsere  Freiheit,  als  gewöhnlich  angenommen  wird. 

Wollen  wir  die  Maehsehe  Anschannng,  soweit  sie  bisher 
vorgetragen  worden  ist,  kurz  präzisieren,  so  kOnnen  wir  sagen: 
die  theoretischen  Gegenstände  der  Naturwissenschaft  sind 
Vorstellangen  der  wissenschaftlichen  Phantasie,  Bilder,  die 
wir  uns  von  den  Tatsachen  machen.  Diese  Entscheidung  Aber 
den  Realitätscharakter  dieser  Gegenstände  schliefst  aber  nicht 
ans,  dafs  man  ihnen  in  gewissem  Sinne  eine  hohe  wissen- 
schaftliche Bedentnng  beilegt.  Das  tnt  denn  Mach  auch 
durchaus.  „Der  Gebrauch  von  Bildern,  die  mit  Bewufstsein 
als  solche  verwendet  werden,  ist nicht  nur  nicht  aus- 
geschlossen, sondern  sehr  zweckmäfsig''.^)  Der  Wert  solcher 
Bilder  liegt  zunächst  in  ihrer  „Anschaulichkeit^,  die  es 
uns  ermöglicht,  grofse  Gebiete  von  Tatsachen  gleichsam  mit 
einem  Blick  zu  überschauen ;')  sie  bringen  einen  oft  kom- 
plizierten Sachverhalt  in  einfacher  und  übersichtlicher  Weise 
zur  Darstellung.  Weiter  haben  diese  bildlichen  Vorstellungen, 
und  darin  besteht  wohl  ihre  vorzüglichste  Bedeutung,  den 
Charakter  von  „physikalischen  Arbeitshypothesen'' ,^) 
denen  ein  hoher  „heuristischer  Wert'*  eignet.*)  „Man  be- 
denke nur  wie  sehr  gerade  durch  das,  was  eine  solche  Vor- 
stellung der  blofsen  Tatsache  hinzufügt,  letztere  bereichert 
wird,  wie  dieselbe  dadurch  in  der  Phantasie  neue  Eigenschaften 
erhält,  welche  zu  experimentellen  Untersuchungen  treiben,  zu 
Fragen,  ob  die  vorausgesetzte  Analogie  wirklich  besteht,  wie 
weit,  und  wo  sie  überall  besteht''.^)  Die  Wärmestofivorstellung, 
die    Vorstellung    elektrischer   und   magnetischer    Flnida,   die 


*)  £.  d.  A.  27  ff.  Wohl  der  erste  Versucli,  mehrdimensionale  BSnme 
in  die  Stereochemie  einzuführen.  Diese  Gedanken  wurden  vor  Erscheinen 
der  ßiemanschen  Abhandlung  vom  Jahre  1867  konzipiert  und  ausgesprochen 
(vgl.  E.  d.  A.  55).  Später  scheinen  Mach  die  mehrdimensionalen  Räume 
„nicht  so  wesentlich  für  die  Physik""  (E.  d.  A.  59). 

•)  E.  u.  J.  249  f.    Vgl.  P.  V.  278  u.  W.  L.  401. 

»)  ib.,  W.  L.  S59,  362,  480. 

«)  E.  u.  J.  143,  396  Anm.;  W.  L.  430  Anm. 

»)  W.  L.  430,  430  Anm. 

«)  W.  L.  862.    Vgl.  P.  V.  272  u.  W.  L.  399. 


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kiDetische  Gastheorie  tiBw.  bieten  hierfür  naheliegende  Bei- 
spiele. Gerade  solche  zunächst  hypothetischen  Elemente 
also,  Zfige,  die  die  Bilder  den  ursprünglich  konstatierten  Tat- 
sachen gegenüber  yorans  haben,  gewinnen  Bedentnng  für  den 
Fortschritt  der  Wissenschaft. i)  Hat  aber  eine  bild- 
hypothetische Vorstellnng,  eine  „theoretische  Idee 'S  ^)  einmal 
geleistet,  was  sie  ans  leisten  kann,  so  empfiehlt  es  sich,  die 
Darstellung  der  Tatsachen  von  allen  „unwesentlichen  Zutaten ''') 
möglichst  zu  befreien,  die  „indirekte  Beschreibung^  der 
Tatsachen  überall  durch  die  „direkte*'  zu  ersetzen. 0 

Unter  einer  „direkten  Beschreibung''  versteht  Mach  eine 
solche,  die  nichts  Unwesentliches  mehr  enthält,^)  d.  h.  lediglich 
die  in  der  Erfahrung  wirklich  gegebenen  Charaktere  der  Tat- 
sachen wiedergibt.  Eine  derartige  Beschreibung  kann  als  ein 
reiner  „begrifflicher  Ausdruck''^)  des  Tatsächlichen  gelten,  das 
wir  vermittels  ihrer  gedanklich  erfassen.  Die  Theorie  an  sich 
.  mit  ihren  hypothetischen  Elementen  bat  immer  nur  die  Be- 
deutung eines  Durchgangspunktes  für  die  Erkenntnis. 
Allein  die  Eonsequenzen  ans  ihr,  die  sich  irgendwie  sinn- 
lich verifizieren  lassen,  besitzen  eigentlichen  Erkenntnis- 

0  Sie  künnen  aber  auch  nachteilig,  dem  Fortschritt  hinderlich  werden, 
was  sich  leicht  durch  historische  Beispiele  belegen  lälst.  So  wird  Hnygens, 
indem  er  eine  zu  weit  gehende  Analogie  zwischen  Licht  und  Schall  ver- 
mutet, an  dem  Verständnis  der  Polarisation  gehindert,  das  Newton  von 
seinem  Standpunkt  ans  keinerlei  Schwierigkeiten  macht.  F.  V.  272;  W.  L. 
899.  Vgl  a.  F.  V.  259;  E.  d.  A.  26.  —  Auf  die  weiteren  Ausführungen  über 
die  Hypothese  und  die  Analogie  bei  Mach,  die  in  diesem  Zusammenhange 
Bedeutung  erlangen,  können  wir  hier  nicht  eingehen,  da  uns  solche  Er- 
örterungen auf  specieU  methodologische  Fragen  führen  würden. 

»)  F.  V.  271  u.  W.  L.  898. 

')  W.  L.  368.  Vgl.  £.  u.  J.  245  f.,  wo  von  „accessorischen  Elementen**, 
W.  L.  430,  wo  von  «kindischen  und  überflüssigen  Nebenvorstellnngen"  (in 
der  Atomistik)  die  Rede  ist.  Heinr.  Hertz  spricht  in  der  „Mechanik" 
von  „überflüssigen  oder  leeren  Beziehungen**,  welche  die  Bilder  zur  Dar- 
stellung bringen,  von  „unwesentlichen  Zügen**  der  Bilder,  gelegentlich  auch 
von  ,4eergehenden  Nebenrädem**  (Mechanik  S.  2,  13,  14  usw ). 

*)  F.  V.  270 ff.;  W.  L.  398 ft.;  E.  u.  J.  242,  248. 

<^)  F.  y.  278  u.  W.  L.  401.  Die  Emissionstheorie  des  Lichtes  läist  von 
Liohtteilchen,  die  Undulationstheorie  von  Lichtwellen  sprechen;  die  durch 
die  Theorie  darzustellende  Tatsache  ist  allein  die  räumlich -zeitliche 
Feriodizität  des  Lichtes.    Vgl.  F.  V.  272;  W.  L.  399;  £.  u.  J.  245,  248. 

•)  E.  u.  J.  248;  W.  L.  188.    Vgl.  W.  L.  359,  430. 


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110 

wert  Das  Interesse  der  Physik,  an  die  liier  in  erster  Linie 
gedacht  wird,  ist  allein  anf  den  Znsammenhang  des  Tat* 
sächlichen  (d.  i.  des  Unmittelbar -Gegebenen)  gerichtet  i)  An 
die  Stelle  der  „hypothetisch -fiktiven"  Physik,*)  die  mit  er- 
fahrnngsfremden  Elementen  operiert,  hat  eine  rein  immanente, 
„hypothesenfrei e",^)  „phänomenologische'^^)  Darstellnng 
dieser  Wissenschaft  zu  treten.  Gewisse  Gebiete  der  Physik 
zeigen  sieh  einer  solchen  Behandinngsweise  schon  jetzt  zu- 
gänglich. Als  Paradigma  kann  die  Fonriersche  Theorie  der 
Wärmeleitong  ioN  Anspruch  genommen  werden,  die  in  ihren 
Gleichungen  ein  vollständiges  Bild,  ein  „ttbersichtliches  syste- 
matisch geordnetes  Inventar '^  der  Wärmeleitungstatsachen  ver- 
mittelt, ohne  dabei  im  geringsten  eine  Hypothese  fiber  die 
stoffliche  oder  nichtstoffliche  Natur  der  Wärme  nötig  zu  haben.  ^) 
Die  Darstellung  physikalischer  Tatsachenverläufe  durch  Diffe- 
rentialgleichungen, die  immer  mehr  in  Aufnahme  begriffen  ist, 
liegt  auf  derselben  Linie.  In  der  immer  weiteren  Anwendung 
dieser  Betrachtungsweise  auf  unser  Wissen  von  Tatsachen  er- 
blickt Mach  die  Aufgabe  der  Zukunft.  Wie  die  richtig  ver- 
standene Psychologie  nach  Friedrich  Albert  Langes  bekanntem 
Ausspruch  eine  „Psychologie  ohne  Seele"  ist,  so  muls  auch  die 
richtig  verstandene  Physik,  wie  wir  im  Sinne  dieser  Ans- 
ftlhrungen  sagen  können,  eine  Physik  ohne  Materie  und 
ohne  Kräfte  sein. 

2.  Die  Überwindung  des  naturwissenschaftliehen  Realismus 
bedeutet  die  Bewährung  der  phänomenologischen  Auf- 
fassung der  Wissenschaft.  Wir  wollen  uns  diese  Auf- 
fassung, auf  den  durchlaufenen  Weg  zurtickbliekcnd,  noch 
einmal    kurz    in   ihrem   Zusammenhange    vorfllhren.     In   der 

*)  Vgl.  oben. 

»)  L.  8,  9. 

')  W.  L.  408.  Das  nDgeheuerliche  Wort  von  dir  „hypothesenfreien 
Wissenschaft"  gewinnt  in  diesem  Zusammenhange  einen  veistiüidlichen 
und  diskntabeln  Sinn. 

*)  Vgl.  W.  L.  356,  862,  408;  P.  V.  280.  —  Der  jetzt  häufiger  verwandte 
Ausdruck  „phänomenologische  Physik"  scheint  im  allgemeinen  durehana 
der  Bedeutung  des  Wortes  „phänomenologisch"  su  entsprechen,  die  wir 
überall  zugrunde  gelegt  haben. 

»)  VgLW.  L.  116,  461  f. 


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111 

pbäDomenologischen  AnfgabebestimmuDg  der  Wissenschaft  treffen 
alle  die  Tendenzen  der  Maehschen  Erkenntnislehre  zasammen. 

Gegenstand  der  Erkenntnis  überhaupt  and  der  wissenschaft- 
liehen Erkenntnis  insbesondere  ist  das  Unmittelbar  -  Gegebene, 
wie  wir  es  in  den  Tatsachen  der  Wahrnehmnng  vor  uns  haben. 
Dieses  Gegebene  zerfällt  in  eine  Mannigfaltigkeit  nicht  weiter 
zerlegbarer,  qualitativ  unterschiedener  Bestandteile,  „Elemente'' 
die  ihrer  Natur  nach  näher  zu  bezeichnen  völlig  unmöglich  ist, 
da  sie  in  ihrer  Gesamtheit  das  Wirkliche  überhaupt  ausmachen 
und  somit  alle  Ähnlichkeits-  oder  Differenzpunkte,  die  einen 
Vergleich  möglich  machen  könnten,  schlechterdings  fehlen.  Die 
Elemente  stehen  untereinander  in  den  verschiedenartigsten  und 
kompliziertesten  Verknttpfungszusammenhängen,  die  uns  ledig- 
lich als  Beziehungen  des  Nebeneinander  und  Nacheinander,  nie- 
mals aber  als  dynamische  Beziehungen  gegeben  sind,  wie  eine 
metaphysische  Deutung  des  Seins  behaupten  läfst.  Unter  diesen 
Zusammenhängen  können  wir  vornehmlich  zwei  fundamental 
voneinander  verschiedene  Gruppen  unterscheiden,  die  physi- 
kalischen und  die  psychophysiologischen  Zusammenhänge.  Je 
nachdem  ein  Element  als  Glied  einer  physikalischen  oder  einer 
psychophysiologischen  Beziehung  auftritt,  betrachten  wir  es  als 
physikalisches  Element,  als  Bestandteil  der  physischen  Welt, 
oder  aber  als  psychologisches  Element,  als  Empfindung,  als 
Bestandteil  der  psychischen  Wirklichkeit.  Dasselbe  Element 
wird  also  je  nach  der  Art  des  Zusammenhanges,  in  dem  es 
auftritt,  oder  richtiger  gesagt,  da  schliefslich  alles  mit  allem 
zusammenhängt,  in  dem  wir  es  gerade  betrachten,  verschieden 
charakterisiert.  Die  Dinge  und  Iche  sind  blofse  Komplexionen 
der  Elemente.  Was  beiden  gemeinsam  ist  und  was  sie  unter- 
scheidet, haben  wir  an  seiner  Stelle  ausführlich  bezeichnet. 

Das  Unmittelbar -Gegebene  ist  das  Material,  auf  das  sich 
die  Erkenntnistätigkeit  erstreckt;  es  ist  damit  zugleich,  wie 
gesagt,  das  Objekt  der  Wissenschaft.  Die  Wissenschaft  hat 
das  Gegebene  (d.  i.  für  diesen  Standpunkt  das  Tatsächliche 
überhaupt)  zu  erforschen  und  gedanklich  abzubilden,  zu 
beschreiben.  Das  souveräne  Mittel,  dessen -sie  sich  bei  der 
Beschreibung  der  Tatsachenznsammenhänge  bedient,  ist  der 
Funktionsbegriff.  Es  werden  Systeme  von  Gleichungen  auf- 
gestellt, die  zwischen  den  Bestimmungsstücken  des  Unmittel- 


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bar -Gegebenen  stattfinden.  Diese  zn  ennitteln  ist  das  Ziel 
aller  Spezialforschung.  „Alles  was  wir  zn  wissen  wttnsehen 
können,  wird  darch  Lösung  einer  Aufgabe  von  mathematischer 
Form  geboten,  durch  die  Ermittlung  der  funktionalen  Ab- 
hängigkeit der  sinnlichen  Elemente  voneinander.  Mit  dieser 
Kenntnis  ist  die  Kenntnis  der  ^Wirklichkeit'  erschöpft.''  ^) 

Das  Ziel  der  Wissenschaft  ist  ein  „vollständiges  tiber- 
sichtliches Inventar"  der  Tatsachen ;>)  ansschlielslich  auf  die 
Feststellung  der  Tatsachen  und  ihres  Zusammenhanges  geht 
sie  aus.  Die  Erkenntnis  des  Tatsächlichen  hat  allein  bleibende 
Bedeutung,  während  unsere  Interpretation  desselben,  die  Theorien 
oder  Hypothesenbildungen,  dem  Wechsel  unterworfen  sind. 
„Die  Theorien  sind  wie  dürre  Blätter,  welche  abfallen,  wenn 
sie  den  Organismus  der  Wissenschaft  eine  Zeit  lang  in  Atem 
gehalten  haben".')  Solcher  H}^othesen  aber,  solcher  schein- 
baren Umwege,  bedarf  es  zur  Bewältigung  der  ungeheuren 
Aufgabe.  Tatsächlich  erweisen  sie  sich,  richtig  angewandt, 
als  hervorragend  zweckdienliche  Mittel  zur  Erreichung  des 
verfolgten  Endzieles.  Indessen  liegt  es  im  Interesse  gedank- 
licher Klarheit,  auf  jeder  Entwicklungsstufe  der  Wissenschaft 
reinlich  auseinanderzuhalten,  was  in  ihren  Sätzen  Tatsache 
schlechthin  ist  und  was  Theorie.  In  die  vollendete  Darstellung 
der  Wirklichkeit  aber,  das  abgeschlossene  wissenschaft- 
liche Weltbild,  dem  die  Erkenntnis  sich  in  einem  unend- 
lichen Frozefs  nähert,  gehen  keinerlei  hypothetische,  er- 
fahrungsfremde Elemente  ein;  es  ist  die  vollständige 
immanente  Darstellung  des  Unmittelbar-Gegebenen  in 
seinem  gesamten  Bestände  und  Zusammenhange. 

Das  Wesentliche  aber  dieser  methodischen  Besinnung  auf 
die  Aufgabe  der  Wissenschaft  ist  dies:  Das  Unmittelbar -Gre- 
gebene, wie  es  sich  uns  in  den  Tatsachen  möglicher  Wahr- 
nehmung darstellt,  ist  als  solches  Objekt,  nicht  nur  Aus- 
gangspunkt der  wissenschaftlichen  Betrachtung. 

0  A. d.E. 300 f. 
•)  W.  L.  461. 
»)  E.  d.  A.  46. 

Druck  Ton  Ehrhardt  Eairas  G.  m.  b.  H.  in  Halle  (Saale). 


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f  ^ 


Verlag  von  Max  Niemeyer  in  Halle  a.  8. 

Bergmann,  Hugo,  Das  Unendliche  und  die  Zahl.  1913.  8.  VII, 
88  S.  JK  2,50 

—  Das  philosophische  Werk  Bemard  Bolzanos.     Mit  Benutzung  un- 

gedruckter Quellen  kritisch  untersucht.  Nebst  einem  Anhange: 
Bolzanos  Beiti-äge  zur  philosophischen  Grundlegung  der  Mathe- 
matik.    1909.     8.     XIV,  230  8.  Jb  7,- 

Eisenmeier,  J08ef,  Die  Psychologie  nnd  ihre  zentrale  Stellung  in  der 
Philosophie.  Eine  Einführung  in  die  wissenschaftliche  Philo- 
sophie.    1914.     8.     VIII,  ms.  .^3,20 

Festschrift  für  Alois  Riehl.  Von  Freunden  und  Schttlem  zu  seinem 
70.  Geburtstage  dargebracht.     1914.     8.     VII,  522  S.     ^14,— 

Gallinger,  August,  Zur  Grundlegung  einer  Lehre  von  der  Erinnerung. 
1914.     8.     IV,  149  8.  JJ4,— 

Goedeclcenieyer,  Albert,  Die  Gliederung  der  aristotelischen  Philosophie. 

1912.  8.     VI,  144  S.  ^  4,- 

Husserly  Edmund,  Logische  Untersuchungen.  2  Bände  in  3  Teilen. 
2.  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage.     1913.     8. 

1.  Prolegomena  zur  reinen  Logik.    1913.    XII,  257  S. 

geh.  M  6,—;   gebd.  J^  S,25 

2.  Untersuchungen  zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Erkenntnis. 
2  TeUe.   L  Haltte.    1913.    XI,  508  S.    geh.  Jt  14,-;  gebd.  Ji  16,5u 

Losskij,  NIkolaj,  Die  Grundlegung  des  Intuitivismus.  Eine  pro- 
pädeutische Erkenntnistheone.  Uebersetzt  von  Johann  Strauch. 
1908.     8.     IV,  350  S.  Ji  8,— 

Mlll,  John  Stuart,  Eine  Prüfung  der  Philosophie  Sir  William  Hamiltons. 

Deutsch  von    Hilmar  Wilmanns.     1908.     gr.  8.     XII,  709  S. 

geh.  Ji  18,—  ;  gebd.  Jt  20,— 
Pariser,   Ernst,   Einführung  in  die  Religionspsychologie.     Beiträge  zu 

einer  kritischen  Methodenlehre  der  Religionswissenschaft.     1914. 

8.     V,  56  S.  geh.  Ji  1,50;    gebd.  Jt  2,20 

Pfänder,  Alexander,  Zur  Psychologie  der  Gesinnungen.     I.  Teil.     1913. 

kl.  4.     IV,  80  S.  Jt  2,50 

Reinach,  Adolf,  Die  apriorischen  Grundlagen  des  bürgerlichen  Rechtes. 

1913.  8.     IV,  164  8.  JJ5,— 
Scheler,  Max,  Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  matenale  Wert- 
ethik   (mit    besonderer    Berücksichtigung    der    Ethik    Immanuel 
Kants).     I.  Teil.     1913.     kl.  4.     IV,  162  S.           •           Jt  5,— 

—  Zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefühle  und  von 

Liebe  und  Hass.    Mit  einem  Anhang  über  den  Grund  zur  Annahme 

der  Existenz  des  fremden  Ich.     1913.     8.     VI,  154  S.    Jt  3,60 

Spranger,  Eduard,  Lebensformen.  Ein  Entwurf.  1914.  8.  IIOS.  ^2,40 


Druck  von  Ehrhordt  Karras  G.m.b.H.  in  Halle  (Saale). 


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GENERAL  LIBRARY  •  U.C  BERKELEY 


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