This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that 's often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the file s We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't off er guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books white helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at|http : //books . google . com/
f
Digitized by
Google^
Digitized by
Google
Digitized by
Google
.ABHANDLUNGEN
ZUR PHILOSt^HIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN VON BENNO ERDHANN
XL 40-^5 J:J
/.i:
INDIVIDUUM UND ALLGEMEINHEIT
IN PLATOS POLITEIA
VOM
OEOBG E. BURCKHABDT
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1918
Digitized by
Google
Digitized by
Google
/fA.
'■■I
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZUR
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
TIEBZIttSTES HEFT
GEORG E. BURCKHARDT
INDIVIDUUM UND ALLGEMEINHEIT IN PLATOS POLITEIA
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1918
Digitized by
Google
INDIVIDUUM UND ALLGEMEINHEIT
IN PLATOS POLITEIA
TOH
OEOBO E. BURCEHABDT
Irx ßikxiov axBnziov, ov y&g
tuqI xoi) iniTvxovxoq S koyog,
äXXa tkqI rof^ ovxiva xQonov
XQnliy- Kp.352D.
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1913
Digitized by
Google
^^•^
y
Digitized by
Google
Einleitung.
¥än Meisterwerk ist eine Einheit, es sa^ immer dasselbe,
bleibt und ist allen gemeinsam, den vielen wechselnden, viel-
fach gearteten Menschen. So denkt Plato. Er vergleicht im
Phaidros (275 D E) das Schriftwerk mit einem Gemälde, es ist
^e ein lebendiges Wesen, das zq denken nnd zn reden scheint,
das aber vornehm schweigt, wenn Du mehr zu wissen wünschest
Was einmal geschrieben ist, wird nach allen Richtungen hin-
ond hergewälzt von denen, die Ohren haben za hören, und
ebenso von denen, welchen es garnicht zukommt. Man ver-
stöfst gegen die ihm eigene Melodie (jtXfjfifieXovfiBvog), und
der Vater des Werkes kann seinem Geschöpf nicht mehr zu
Bilfe kommen.
Plato selbst schweigt zu allen Schriften, die von irgend
einer These gejagt, eine Widerlegung oder Bettung bezwecken.
VTas läfst sich nicht alles aus Plato mit Stellen belegen? Aber
die .Politeia'* redet auch zu uns, wie jedes grofse Kunstwerk,
und es gibt keine bessere Hilfe zur Vertiefung in dies Meister-
iprerk, als still auf den Meister selbst zu hören. Dankbar sind
^r allen, die uns zum Meister selbst hinftlhren, von der Viel-
geschäftigkeit und hastenden Eilfertigkeit hinweg zum Eidos
der platonischen Polis. Dankbar sind wir der alten »Wort-
wägeknnst'', die uns die Wege bahnt.
PhilotophiaelM Abluuidlu&gen. XL.
762706
Digitized by
Google
Prolegomena zum Verständnis von Piatos
Problem und Werk.
Die Eigenbewegnng der Oedanken eines Menseben, dessen
Bach wir lesen, mttssen wir in nns nachbilden, so weit ans
dies möglich ist, am zam „Verständnis'' za gelangen. Je
reicher nnser eigenes Gedankenleben an möglichen Vorstellangen
and Kombinationen ist, am so näher kommt es dem Ver-
ständnis des Andern. Ein Werk der Historie verstehen wir
am so besser, je mehr wir aafserdem noch Erinnernngs-
Yorstellangen ans dem, was von eigenem Denken schon
historisch geworden ist, in Bereitschaft haben, and je mehr
wir mit Vorstellangen and Begriffen aas der Zeit anseres
Baches erfüllt sind. (So dürfen wir vielleicht dann von einer
angezwnngenen Nachbildang der Gedankenbewegang Piatos
reden, wenn seine Wortvorstellangen and Gedanken anch ins
Unwillkürliche des Traumlebens übergehen können).
In Piatos Dialogen finden wir mehr Bewegnng, als die
abgerandeten Bilder ans vermaten lassen, in denen er meistens
in dem grofsen Mnseion der Wissenschaft für das Pablikam
aasgestellt ist Kicht aar Henri Bergson — er mafs hier
einmal für Plato reden — sondern anch die Philologen, die
mit feinen, behatsamen Sinnen an das geschichtliche Leben
herangehen, stränben sich gegen die Vergewaltigang der
lebendigen Bewegnng darch „den Begriff ^^^
1) Mit Beziehung auf die Politeia k. B. P. Wendland in den PrenlB.
Jahrbüchern 1909. Für Plato überhaupt tritt dies in der Art der Dar-
stellung von Th. Gomperz (Griech. Denker II) heryor. Als Anwalt des
Erbes der Romantik zeigt sich K. Joel im Grunde schon in der Schrift
„Zur Erkenntnis der geistigen Entwicklung und der schriftsteU. Motive
Piatos. Berün 1887'*.
Digitized by
Google
8
Der platomselie Dialog ist nicht nar Form, nieht nor
Bokratiache Form und nicht nnr Nachwirken der dramatisohen
SugendveTBucbe, sondern sie bedentet mehr, kein System,
Bon&era ein Problem (ein jtQoßeßXijc&ai) in seiner Bewegung.
Einen inneren Dialog der Seele mit sich selbst nennt Plato
einmal die Gedankenbewegnng (didvoio).^) Wo der Dialog
naeU&Tst, da berichtet Plato, gibt praktische Anordnungen
oder dichtet kleine nnd grofse Märchen. So erzählt er auch
den Mythos von der göttlichen Gestalt unter göttlichen Ge-
stalten« — Gestaltung des Lebens, das uns zu überwältigen
droht durch die FttUe dessen, was wir mit allen Sinnen zu
fassen versuchen, und nicht Vergewaltigung sieht er im „Be-
griff", wiewohl er das begriffliehe Begrenzen ein „Zerschneiden''
nennt bis zum „Unzerschneidbaren*^^)
Es ist vielleieht mehr Eros zum Begriff, als Ausruhen im
Begriff bei Plato. „Von den Göttern philosophiert keiner, und
keiner verlangt weise zu werden, denn der Gott ist es*' (Symp.
203 E). Ausruhen kann er nur, wie der religiöse Mensch, in
seinem Gott und im System des Mythos. Denn hier ist die
vollkommene Ordnung, die das begriffliche Denken im Leben
des äxeiQov anzustreben ewig neu sich mttht Auch in den
zasammenfassenden Darstellungen der Philosophiegeschichte
kommt ein Bedttrfnis nach Gestaltung des axeigov der Ge-
dankenwelt Piatos zum Ausdruck nnd endet dann vielfach mit
Ausruhen im Mythos von Piatos System. Leute, die „mit
eigenen frischen Augen sehen^S^) sind oft sehr überrascht, wenn
sie* einmal Plato selbst lesen. — Es ist ein wunderbares
reiehes Leben, das sich da entfaltet. Keine „Staatslehre*^ finden
wir in der „Politeia"; sie läfst sich zwar daraus gestalten.
Eine grofse Frage tönt aus dieser Komposition von mehreren
Sätzen heraus: wie ist überhaupt xoXixüa d. i. Bttrger-sein,
yemttnftiges Zusammenleben der Menschen in einer Polis,
>) Soph. 263 £. — Die dialogische „£iiikleiduDg*< in ihren Kom-
plikationen, doch im Dienste der Feststellung der Chronologie nnd weniger
ab solche betrachtet bei H. Baeder, Piatons philos. Entwicklung. S. 44 ff.
Leips^ 1905.
7 xifAveir bis zum ixfn^ov Phaidr.277B; vorher Phaid. 99 £.
'j \gh Goethe über den Zwischenkieferknochen. Weim. Ausgabe II.,
Digitized by
Google
einer Stadtgemeinde mSglieh? In diesem Apriorisrnns der
Fragestellung zeigt sich der Philosoph. Die Frage der reinen
Yemnnft soll nun aus reiner Vernunft heraus {xad-aga xQlcig)
beantwortet werden. In gemeinsamer Denkarbeit soll im Laufe
der Unterhaltung alles ausgeschieden werden, was nicht dem
reinen Inbegriff einer Polis entspricht, und eine Stadtgemeinde-
Verfassung in Gedanken hergestellt werden, gegen deren Folge-
richtigkeit kein Mensch etwas einwenden kann. Die Voraus-
setzung mttfste allerdings sein, dafs logische und biogenetische
Eonsequenzen sieh decken. Aber sie decken sich nicht. Das
bringt sich Plato selbst einmal zum Bewufstsein, wenn einer
der Teilnehmer am Gespiüeh einwirft: Aber Du redest ja, als
könntest Du die Menschen wie ans Wachs bilden 1?
Plato verfolgt oft einseitig einen Oedanken bis zur Ver-
stiegenheit (aßvd-ov g>XvaQl(xv)^ um sich dann wieder der Re-
lativitäten bewufst zu werden. Die Mafslosigkeit der logischen
Phantasie endet eben im Geschwätz. Nur als unterhaltendes
Spiel betrachtet Plato zuweilen den Dialog.
„Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben,
Und schien es noch so grofs und tief zu sein 1^^
Solche Stimmung eines modernen Dichters finden wir auch
bei Plato. 1) Ernst und göttliche Heiterkeit fliefsen ineinander.
Der Philosoph wird immer wieder zum Dichter. Poetische
Phantasie und logische Komposition schaffen zusammen die
„Idee^^ der Polis, die xaXXbtoXig, zum Werke eines Künstlers.
So wie der Bildhauer, der in einem plastischen Werke einen
Menschen von vollkommener Schönheit schafft, nicht zu be-
weisen braucht, dafs ein solcher Mensch in Wirklichkeit ent-
stehen könne, rechtfertigt Plato die Kühnheit seines Entwurfs. 2)
Die greifbare Wirklichkeit gibt gleichsam nur ein impressio-
nistisches Bild, in dem alle Konturen verschwimmen. Sie ist
für seinen Blick ein a/ivögov, ein Verschwommenes im Vergleich
zu der viel schärfer umgrenzten Wirklichkeit seiner Phantasie,
in der sich die Xöyoi, die bildsamer sind, als Wachs und der-
gleichen, zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen lassen.
^) Arthur Schnitzler im „Paracelsns", vgl Rp. 536 e. ineXa^oiirjv . . •
') Rp. 472 D ff. naQaöeiy/jia inoiov/isv X6y<p aya&iji noXecDg.
Digitized by
Google
^ Ideal\>ild. aber soll zar Umgestaltang der gegebenen
Wittiickikeit aaffordern. Der Ettnstler will das innerlieh «ge-
Hibeu^ BWd in Tat umsetzen, nnd der Meister, der eine Stadt-
^m^VEide nacli seinem Plane gestaltet oder umgestaltet, ist in
K«to« Augen nächst dem Gotte der gröfste Künstler {örjiii'
oi>QYÖ^Y Der Philosoph wird zum politischen Beformator und
d\e aWgemeinen theoretischen Probleme sollen praktisch gelöst
werden. So ist die „Ppliteia" durchwoben von Plänen, von
^iUensvorstellungen, die auf tatsächliche Umgestaltung einer
Polis gerichtet sind. Auch als Plato erfährt, wie die rohe
Kraft der Wirklichkeit seine kühnsten Hoffnungen, deren Er-
ftiUang er fast erlebt, wieder zu nichte macht, bricht aus der
Besignation doch immer von neuem der Glaube an eine Neu-
grttjidung (a priori) sieghaft hervor.
Plato verquickt Probleme, die wir zu scheiden gewöhnt
sind. Dadurch wird das Verständnis für uns erschwert Der
philosophische Theoretiker sowohl wie der Psychologe, der
Künstler so gut wie der Ethiker und Pädagoge, der Geschichts-
philosoph sowohl wie der praktische Politiker, alle können
von ihrem Blickpunkte aus die „PoUteia** betrachten, ausbeuten
und angreifen. Wenn daher jemand von irgend einem der
besonderen Pioblemgebiete aus, die sich seit Plato immer mehr
isoliert haben, an die „Politeia*^ herankam, so mufste er
irgendwo Anstofs nehmen. Jetzt, wo allmählich zwischen den
einzelnen Problemgebieten mehr Fäden hinüber und herüber
gesponnen werden, kommen wir einer richtigeren Beurteilung
näher.
Piatos „Politeia" verlangt zunächst philosophische Leser,
d. h. solche, die willig sind, alle tatsächlich gegebenen ge-
sellschaftlichen Zustände in Frage zu stellen; dann tun sich
Fragen auf, die immer dieselben sind, solange Menschen zu-
sammen leben. Der SokratesjUnger fordert sodann Menschen,
die danach streben, selbst besser zu werden und die gegen-
wärtige Lage zu bessern, sich selbst und die Dinge dem Ideal,
dem Gott, anzunähern. Aber das Gespräch am Tage der
Bendisfeier wünscht auch poetisch gestimmte Naturen, die alle
Fackelritte der Phantasie gerne begleiten. Um endlich in
Einzelheiten ein richtiges Urteil zu bilden, bedürfen wir der
hisioriscbeii Vertiefung nicht nur in die Eigenart Piatos und
Digitized by
Google
6
Beines Lebens, sondern anch der Vertiefung in die Eigenart
des alten Orieehentnms gegenüber modernen Vorstellnngen,
Begriffen nnd Gedanken.
So nnttbersetzbar jede fremde Sprache nnd Piatos Sprache
im Grande ist, so nnttbertragbar ist anch seine ganze Denk-
weise. Wir sehen nnser Denken nicht mehr in dem Ma&e
oder durchweg, wie das des antiken Menschen, mit An-
schannngen erfüllt; denn wir stehen nicht mehr in der Zeit
der „Entdeckung'' des Begriffs, wo besonders hervorgehoben
werden mafs, dafs der Begriff der Schönheit keine Arme nnd
Fttfse hat, wo zugleich die Göttervorstellungen von allem
Anthropomorphen sieh mehr nnd mehr loslösen und einen
„reinen^ Gottesbegriff anstreben, i) Die Sprache ist ftir den
antiken Philosophen noch nicht in dem MaTse wie ftir uns
Symbol geworden. Plato gehört einer Zeit des halbmythischen
Denkens an. Teils ist er sich des Mythos bewufst und redet
bewufst symbolisch (vgl. öiä cviißoXcov diöacxaXla)^ teils ge-
staltet sich der Mythos seines Volkes in ihm zu geläuterten
Vorstellungen, über deren blofs gedankliche oder dingliche
Bealität er sich weiter garkeine Bechenschaft gibt In seiner
dynamischen Funktion, könnte man sagen, wirkt der Begriff
bei Plato wie ein mythisches Wesen, in seinem statischen Sein
sucht er sich von allen rämlichen und zeitiichen Bestimmungen
zu lösen.
Der antike Mensch glaubt stärker als wir an das objektive
Bestehen der Bilder seiner Phantesie, wie es heute noch
Kinder und überhaupt in der Selbstkritik nicht geschulte
phantasievolle Menschen tun. Den Begriff „Phantasie^ im
Sinne unserer modernen Psychologie keunt Plato nicht. ^) Er
unterscheidet zwar Phantasia d. i. fUr ihn „durch Siunes-
wahmehmung gegebene Vorstellung" von dem Bei-sich-selbst-
sein der Gedanken,') doch verschmilzt ftir ihn das innerlich
gesehene Bild des schönen Tisches, des Idealtisches, auf den
der KuDSthandwerker bei der Arbeit blickt, mit dem Begriff,
^) ^elov slXixQiviQ s avzb zo xaXov, Sympos. 2t 1.
*) Ansätze finden sich etwa bei Sokrates in der bekannten Stelle
von der künstlerischen Kombination in den Memorabilien (III, 10).
•) Soph. 364 A
Digitized by
Google
der e\>eii als Begriff kein Erblicken eines irgendwie ab-
gegrenzten Tiscbes enthält, sondern nnr einige nttohteme
^esenfliebe Merkmale, i)
Aucb Plato ist in seinem Denken noeb ,,anf dem Wege
der Entkörpemng der Begriffe", wie Erwin Bhode einmal von
der Psycbe bei Homer sagt 3) Den Übergang znr völligen
Körperlosigkeit bildet eine ideale Yerkörpernng, wie sie be*
sonders im ekstatischen Erlebnis geschant wird. Vom Politikus,
der grofse Tatsachen richtig stellt, heifst es im Henon, ist
niebt am wenigsten das ivd^ovaiä^siv zu fordern. Die ,9ldee^
der Polis ist auch eine dvauvtfiiq, eine Erinnerung an das
Sehanen eines seligen Sehers.
— la mente nostra peregrina
Piü della came, e men da pensier presa,
Alle sae vision quasi 6 diyina.^)
Nirgends auf der Erde wird wohl diese Polis sein, im Himmel
vielleicht liegt ihr heiliges Vorbild fttr den, der es sehen will,
heilst es am Schlufs des 9. Buches der „Politeia^
Ohne christliche, orientalische und griechische Eigenart zu
verwischen, läfst sich zur Erläuterung Piatos Denkweise mit
der der israelitischen und urchristlichen Propheten vergleichen.
In der Gottesvorstellung stehen hier anthropomorphe Phantasie-
bilder unausgeglichen neben dem reineren pneumatischen und
ethischen Gottesbegriff. Hier finden wir ebenfalls das Schauen
einer himmlischen Welt, Wesen von verklärter Leiblichkeit
und die Erwartung, dafs der Messias-König ersteht und die
politische Lage von Grund aus nach Mafsgabe einer idealen
Ordnung der Dinge erneuert
') äSoq yoLQ nov u %v ixaarov Md-afASv rld'ead'ai ne^l ixaaxa zä
TCoXka, olq xovxhv ovoßa innpigonBv . . . nQoq z^v löiav ßXenwv ovz<o
notsi o fihv zaq xUvag, 6 6h zdg zQonil^ag. Rp. 596 Äff. vgl Phaidr.
247 D. — Es ist bisher nicht gelungen, eine reine Scheidung im Gebrauche
von i6^ und elöoq bei Pkto zu erweisen, wiewohl sich ein Bestreben
in seiner Gedankenentwicklung zeigt, Wesensanschannng und reines Ge-
daakending verschieden zu bezeichnen.
*) Psyche« 1907 I. S. 47.
') Dante Porg. IX, 16ff. — %x(p(^v &si(f fiolga Jon 533 E ff., vgl
ferner Xen. 99 D. Phaidr. 242 C. 244 A. 249 B. Symp. 179 a.
Digitized by
Google
8
Weil die gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse
noch so jung und bildsam waren, i) konnte man solche Er-
wartungen hegen, sowohl das Urchristentum wie Plato in seiner
^Politeia''. Die grofse Tatsache des Synoikismos, die Anfänge
der Verbürgerlichung, wirken noch lebendig in den Oedanken
und Problemen der doch Im Verhältnis zu uns jungen Kultur-
menschen nach. Uns alten Kulturmenschen, die wir in dem
Polizei- und Militärstaat geboren und grofs geworden sind,
wird es schwer, uns ganz in eine alte griechische Polis hinein-
zuversetzen. Man hat meist zuviel „Zwang" und Unterdrückung
des Individuums im platonischen Staate gesehen, auch von
„greisenhafter Erstarrung" gesprochen. Wie würde aber erst
ein alter Athener über den preufsischen Staat und die Burean-
kratie im modernen Leben überhaupt urteilen! Er hätte un-
erträgliche Behinderung seiner freien Beweglichkeit {iXsvd^sQla)
darin gesehen, worin wir heilsame Ordnung zu erblicken ge-
wöhnt sind. Dagegen mufste Anaxagoras vor dem Urteil der
gefährlich frommen Stadt Athen fliehen, man scheute sich dort
nicht, den greisen Sokrates umzubringen, den Protagoras zn
verbannen und seine Schriften zu verbrennen, weil er sagte,
er könne das Dasein der Götter weder behaupten noch be-
streiten.')
Die Polis ist nicht nur BUrgerverband, sondern auch
religiöser Verl^and, Kultgemeinschaft, wie Jellinek in seiner
„Allgemeinen Staatslehre^' betont hat') Wir finden Plato,
wenn wir einmal von dem „Reaktionär'* absehen, auch anf
dem Wege zu der strafferen Organisation unseres modernen
Staates, der an Stelle einer äuiserlich betrachteten Freiheit der
Freiheit der Überzeugung des Einzelnen mehr Baum geben
will. Nur fragt der moderne Staat den Einzelnen nicht, wie
die platonische Politeia: Hast Du überhaupt eine Überzeugung?
Die jtBid^d, das Überzeugen durch Grttnde, die xaga^ivd-Ux,
das freundliche Zureden — weniger zwangvoll als unsere
polizeiliche Aufforderung — läfst Plato der staatlichen Gewalt
^) Vgl. V. Wilamowitz-MöUendorf, Staat und Gesellschaft der Griechen
(Kultur d. Gegenwart) 1910 S. S.
*) Vgl Diels, Fragm. H. S. 525 ff.
*) Das Re<;ht des modernen Staates I. Berl. 1905. S. 293 ff.
Digitized by
Google
9
Toransgelien. Der Zwang ist ibm nnr eine Begleiterscheinnng
des Eee^ts; das Recht erscheint auch ihm als „Zwangsversnoh
zum Ricbtigen^^ Krause und Trendeinbnrg mit ihrem Be-
Btreben, das Recht zu versittlichen, in gegenwärtiger Zeit
Jhering und Stammler, der schärfer methodisch unterscheidet,
wandeln in Piatos Spuren J)
Die praktische und dann gedankliche Isolierung des
Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen und staatlichen
Allgemeinheit, wie sie sich für uns seit Mönehttim und „Auf-
klärung" zur Zeit der Renaissance und des Humanismus voll-
zogen hat, existiert fttr den antiken Menschen und fttr Plato
überhaupt nicht, höchstens als Sonderlingsschnurre der Eyniker.
Der Gemeinsinn ist in der sieh selbst verwaltenden hellenischen
Stadtgemeinde viel stärker ausgeprägt, als es überhaupt in
einem modernen Staate möglich ist Das Leben des Mannes
spielte sich fast ganz in der Öffentlichkeit ab, auf den Strafsen,
dem Markte, in den Gymnasien usw. Man kann fast sagen,
das öffentliche Leben verschmolz mit dem politischen Leben. <)
Ein Musiker kann nicht seine Weise ändern, ohne dadurch die
„Weise", den vofiog, der Felis zu ändern. In fortwährendem
Aastausch waren alle Schichten der Bürgerschaft miteinander
verbunden, und „in der überwiegenden Bedeutung der Staats-
angehörigkeit liegt ein zu echt hellenisches Prinzip, als dafs
Piatos Eonsequenzen lediglich der philosophischen Theorie zur
Last gelegt werden dürften". J^)
1) Cf. R. Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht Berl. 1902.
S. 27 ff. 606. Hier liefae sich auch im Hinblick auf Prohleme der Politeia
der Satz anftthren: ,£8 bt ein Widersprach in sich, wenn als Prinzip einer
Zwaogsordnang, wie das Recht nach seinem selbstherrlichen Kennzeichen
genannt werden darf, die individaelle Freiheit der RechtsuntersteUten aus-
genifen wttrde*. Tiieorie der Rechtswissenschaft. Halle 1011. S. 494f. —
Jhering (Zweck im Recht L S. 570) spricht von der «sozialen Unent-
behrliebkeit des Zwangs*.
>) In dem latein. Wort res publica tritt dies noch hervor. Vgl. auch
Thakyd. IL 37 dvenax^c^Q Sh tä töia itQoaofiiXovvx^q xa öijfxoaia Sia
Siog fidXiara ov naQavofAOvfiBv . . .
«) Ed. Mejer, Gesch. des Altertums IV. Berl. 1901. S. 99. K. F. Her-
mann, Ges. Abb. nnd Beiträge. Göttingen 1849. S. 152.
Digitized by
Google
IL
Die zu Grunde gelegten Begriffe und der
Zusammenhang von Piatos Problem mit
Problemen der Gegenwart.
Plato kennt nieht den Begriff „Individnom" and „mensch-
liches Individaam^. Bei seiner groisen Ennst Menschen zu
individualisieren gibt es fttr ihn nicht „die Kategorie der
Individualität^^ Um die Eigenartigkeit des Sokrates zum
Ausdruck zu bringen, mufs Alkibiades ihn im Symposion mit
einem Satyr oder Silen vergleichen, Gestalten die jedem Eben-
mafs des schönen Typus spotten. Den einzelnen Menschen
betrachtet Plato in der Regel als Typus, als Menschen in be-
sonderen allgemein gleichmäfsigen Beziehungen.
Das griechische Wort ixacxog drückt die Besonderheit
(ixag) aus, aber die Besonderheit, die der einzelne Mensch mit
jedem Einzelding gemeinsam hat in seiner Beziehung auf ein
Allgemeines. Von dem unbeseelten Körper unterscheidet sich
dadurch der beseelte, dafs ihm von innen her aus sich selber
die Bewegung kommt (Phaidr. 245 E). Unter den Lebewesen
wird dann nicht in der Weise, wie von uns Menschen im Zeit-
alter der Humanitätsidee der Mensch als solcher hoch über
das Tier hinausgehoben, i) sondern der Mensch in seiner Be-
ziehung zur Polis, der Einzelne als Bürger; und über dem
einzelnen Privatmanne, dem löicotfjg, der sich nur um seinen
Eigenbesitz kümmert, steht der Mann, der irgendwie im öffent-
>) avöQonoSa sind „MenschenftifBe'', Ausdrücken fUr das Vieh analog
gebUdet, vgl v. WUamowitz, a.a.O. S. 86. Ferner Plato Politic. 272 C.
(Der geseUige Verkehr von Mensch und Tier.)
Digitized by
Google
11
Helieii Lebea eine Stelloog als Beamter, Politiker, Sophist oder
Dichter einnimmt. Anch der Dichter als öffentlicher Lehrer
^d dem Privatmann gegenübergestellt (Der Privatmann
redet in Prosa.) ^)
Das Wort Idtog würde nach Brngmanns Etymologie anch
nrsprQnglich die Besonderheit „abseits, beiseite" (im Gegen-
satze jedoch nnnmehr zn d^iuog) ansdrttcken, der Lant Fiö
das Sondern, Unterscheiden im sinnlichen Wahrnehmen, im
Sehen besonders and überhaupt^) So bezeichnet Utog zn-
näehst das besondere, eigCDtttmliche Aassehen eines Dinges,
das, wodurch jedes Ding seinen Eigennamen bekommt, wie
Plato meint. Denn „der Name ist eine Nachahmung der
Sache''. Er sagt dann auch von jeder avcla und Idia, von
jeder Tüchtigkeit und jeder Verrichtung überhaupt, daljB sie
ihrer Eigentümlichkeit gemäfs {xaxa x^v ldiöxf[td) ihren eigenen
Namen erhalten hat') Der einmal in Piatos Schriften auf-
tauchende Begriff der löioxfig, der vielleicht unserm Begriff
der Individualität am nächsten kommt, aber nicht das Moment
der Einzigartigkeit enthält, bleibt bei Plato in logisch -gram-
matischer Isolierung; bei den Stoikern erst tritt er in Beziehung
zum eigenartigen Menschen ^diog avd'Qtnxog).^) In der An-
wendung auf das menschliche Leben ist bei der Wortbedeutung
von Uiog der wohlmögliche Zusammenhang mit löia, dem
äniseren und inneren Wesen des Menschen, verblafst gegenüber
dem Anwesen, das der Mensch durch die Sonder-Eigentums-
Ordnung besitzt Das löiop tritt in engste Beziehung zum
olx£Zop. Das Hauswesen, die Familie ist die Eigen weit In
der Beschränkung auf diese Welt bleibt der Einzelne ein Be-
schränkter {Idiantxög) gegenüber dem, der seine Fähigkeiten
im öffentlichen Leben ausbildet und entfaltet. So tritt die
^) Vgl. die Wendung I6la te Xeyofierov xal vnh noirixmv Rp. 363 £.,
s. auch Aristoph. Bozq. 1030. 1054 ff.
*) YgL Fr. Bechtel, Bezeichnung der sinnlichen Wahrnehmungen,
Weim. 1879 und Prellwitz, Etymol. Lexikon.
») Vgl. KratyL 430 x6 Svo/da — läfuifia xov ngayfiaroq) — Protag.
394 Bf. im Anschlnls an Prodikos (Diala IL S. 566); Bp. 580 £. Polit 305 D.
*) So braucht z. B. Plutarch Xdtoq, Gato mal 25. Vgl. femer H. ▼. Arnim,
Alig. Gesch. der Philosophie in Kultur d. Gegenw. 1 5. S. 231. Zu Piatos
Gebrauch von Uiog Tgl- Astins, Lex. Plat
Digitized by
Google
12
konstante Beziehung zur Allgemeinheit als Felis in den Wort-
bildungen und Bedeutungen von löiog in den Vordergrund.
Das zeigt sieh in den immer wiederkehrenden Wendungen
löla xal ÖTjfjioala (xoivy), löicitfjg xal jtoXiq. Im Zusammen-
hang mit den Andern merkt einer seine eigenartige Fähigkeit,
die ihn von den andern unterscheidet (Polit. 272 C).
Wenn auch nicht in unserem Sinne begrifflich formuliert,
so ist der Sache nach die Frage nach dem Verhältnis von
Individuum und Allgemeinheit, von Einzelmensch und Staat
bei Plato wie überhaupt in der Literatur seiner Zeit in leb-
hafter Bewegung. Plato verankert die psychologische und
ethische Frage nach dem Verhältnis des Einzelmenschen zur
gesellschaftlich -staatlichen Gesamtheit in den Orttnden der
Logik und Metaphysik.*) So wurde aus dem ursprunglichen
Thema „Der Einzelne und die Gesellschaft in Piatos Staates
das die Gefahr in sich birgt, moderne soziologische Gedanken
in die Antike hineinzutragen, der definitive Titel dieser Arbeit
Zur Ermutigung während der Arbeit diente mir, dafs ein
Kenner des Altertums wie Eduard Meyer sagt: wie es zu be-
werkstelligen sei, dafs individuelle und soziale Moral zusammen-
fallen, das sei „das grofse Problem mit dem Plato ringt''. >)
Auch schon K. F. Hermann sieht „die eigentümliche Idee der
platonischen Republik'^ in der organischen Verschmelzung von
Staatsprinzip und Moral des Einzelnen.') Man redet jetzt
vielfach vom „ Individualismus^' im Zeitalter der Sophisten und
des Euripides. R Pöhlmann spricht gar von einer „Koinzidenz
von Sozialismus und Individualismus im platonischen Staats-
ideal ".^) Das geht allerdings zu glatt ein, wie überhaupt die
1) Auch wir stehen noch in den Anfängen, wie u. a. die Schriften
von J. M. Baldwin zeigen s. The Individual and Society Lond. 1911, Social
and £thical Interpretations in Mental development New York 1897. YgL
auch W. Wandt, Logik 3, III. Stuttg. 1908 S. 466 („eins der schwierigsten
soziologischen Probleme").
') Geschichte des Altertums 5. 1902. S. 363. — - Auch in den Schriften
von Max Wandt, Gesch. der griech. £thik I, 1908 und Griech. Welt-
anschauung 1910 wird durch die Darstellung der sokratisch- platonischen
Lehre als Überwindung des „Indi?idnalismuB'' das Problem angedeutet
•) A. a. 0. S. 132.
') Gesch. der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken
Welt' 1912 IL S. 108ff., vgl. S. 199. Trotz phUosophisch- kritischer Be-
Digitized by
Google
13
yielen — inmen, die leieht das Problem versehleieni, das wir
iD seiner Bewegong sehen müssen, nm es zu verstehen.
Pöhlmann kommt ja anch za dem Resnltat, dafs das Znsammen-
fallen von Individnal- nnd Sozialprinzip, „eine leere Abstraktion^^
ist, eben weil er von der leeren Abstraktheit modemer Begriffe
ans Plato nnbewnist den modernen Lesern mundgereeht maeht
Alle stehen ja mitten in den grofsen Bewegungen, die dnreh
die Sehlagwörter „Individnalismos'^ nnd „Sozialismus^^ an-
gedentet werden; sie sollen einen Gegensatz bedeuten, der,
wie Theobald Ziegler sagt, heute alle Lebensgebiete durch-
zieht 0
Bei Plato finden wir weder das, was wir „Individualismus^^
noch das, was wir „Sozialismus'^ nennen. Es sind das kom-
plizierte moderne Begriffsgebilde mit vieldeutigem Inhalt^);
und doch steht Plato gegenwärtigen Bewegungen nahe in den
allgemeinen Tendenzen und Gedankenbewegungen, die in diesen
Begriffen zum Ausdruck kommen. Die Frage: wie verhält
sich der einzelne Mensch zur Allgemeinheit, ist zugleich eine
ewig menschliche Frage. Sie verbindet die Dichter der alten
Tragödie mit den Dramen Hebbels, Ibsens und Hauptmanns.
In der Form einer neuen Wissenschaft ersteht das Problem
der „Politeia'^ in der ttppig emporschiefsenden Literatur der
Soziologie. Auf ein Wort Carlyles, dafs es ein Privilegium
der Törichten ist, von den Weisen regiert zu werden, bezieht
sich 0. Amman und fordert in seiner sozialaristokratischen
Gesellschaftsordnung, ohne sich der vielfachen Übereinstimmung
mit Gedanken Piatos bewufst zu sein, „Geist, Talent, Bildung
und Charakter*^ in ihre unverjährbaren Rechte „wieder'^ ein-
zusetzen.') In bewufster Übereinstimmung mit Plato schreibt
anatandoog soll der Wert des reichhaltigen Pöhlmannschen Werkes als
Geschichte der sozialen Frage von volkswirtschaftlich -historischen Ge-
sichtspunkten aus nicht unterschätzt sein.
^) Individualismus nnd Sozialismus. Dresden 1901. S. 23.
*) Vgl. s. B. Dietzels Art „Individoalismns", Handwörterbuch der
Staatswissenschaften 5. Jena 1910 und Eisler im Wörterbuch der philos.
Begriffe.
") Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. Jena
1896.
Digitized by
Google
14
ein Karl ron Hantenffel „Sozialarigtokratiscbe Ideen ^.^) Das
seien nur zwei Beispiele aas der vielfachen Bewegung and
Literatur, in der die Herrschaft der „Intellektaellen" im
Interesse der Allgemeinheit oder im Interesse einer Kaltar
gefordert und begründet wird. Andererseits wird darch
sozialistische Schriften, wie z. B. die „sozialbiologischen^ ron
K Goldscheid mit ihrem programmatischen Thema „Höher-
entwicklang and Menschenökonomie'^ die Komplizierang des
Problems seit Plato gekennzeichnet.
') Berlm 1S96.
Digitized by
Google
ni.
IndiTidnelles und AUgememes in Plato selbst;
das Werden der „Politeia".
Wie verhält sich das Einzelwesen zu der andern Welt?
Dies Problem ist für Plato wie fUr jedes Lebendige sehen mit
dem Eintritt ins y^Dasein'' gegeben.
Fttr den, der einem alten aristokratisehen Gesehleeht ent-
stammte nnd im BewnJstsein des d'elop yivoq anfwaehs, aber
in einer Demokratie geboren wurde, war diese Frage schon
liinsiehtlich ihrer praktischen Lösung von vornherein sozusagen
sehärfer formuliert, als fUr den Sohn eines athenischen Bnder-
kneehts. Fttr diesen genttgte fast die Kraft seiner Arme und
seiner Stimme, um diese Frage zu lösen. Und doch gilt diese
Stimme in der Versammlung des iriiioQ, in der Maehtoffenbarung
dieser gemeinsamen Mensehenwelt, ebensoviel, wie die Stimme
des feinen und vornehmen Mannes, des xaXoTcayad'Oq. Du bist
Dieht nur ein Sohn des Ariston, Du bist auch ein Sohn der
Demokratie, sagt man dem staunenden Knaben.
Als Kind seiner Zeit wächst Plato schon durch die
Sprachgemeinschaft in die allgemeinen Gedankenbewegnngen
hinein. Die tausendfachen Eindrücke aus dem Oesamtleben
einer überreichen Kultur und innerhalb dieser Kultur wieder
besondere persönliche Einflüsse und Erfahrungen, fast alle nur
mögliehen politischen Verfassnngsformen, die in buntem Wechsel
vorüberziehen, werden von einem starken Eigen-Leben und
-Denken absorbiert und arbeiten an dem Problem der Politeia.
Der Frage nach der Möglichkeit einer vernünftigen Verfassung
und Verwaltung der ätadtgemeinde liegt die Frage der Wirklich-
keit zu Grunde: worin hat die Herrschaft Einzelner ihre
Digitized by
Google
16
Berechtigang? ^Nichts Gates {aya^^ov) ist die Herrschaft
Vieler ^ lernte der Knabe aas den „besseren^' Kreisen der
athenischen Gesellschaft schon bei seinem Masiklehrer; and
Homer sagt, Zeas gibt die Berechtigang Führer za sein dem,
den die Fürsten, die oqioxol, als d^Bloq avijQ, als zam König
geeignet betrachten. Der letzte König der Athener aber, der
dieses Namens würdig erschien, hat sich für das gemeinsame
Wohl geopfert In der Herrschaft der vielen agiavoi sah nan
Selon keine wirklich gate, keine Herrschaft der Besten; denn
sie sachten nar ihren Eigenbesitz za vermehren. Liegt denn
im blofsen Mehrbesitzen and Mehrgeniefsen eine Berechtigang
zar Herrschaft? Der zam Herrschen wirklich Fähige ans
jedem Stande sollte die Möglichkeit haben, in einem öffent-
lichen Amt seine Fähigkeiten za entfalten. Das war die
Forderang der vollendeten Demokratie.
Der körperlichen Tüchtigkeit, im Wettkampf der Einzelnen
stärker (xgelvrcop) za sein, ist jetzt die musische Bildung zar
Seite getreten. Die Kanst der Rede, in der sich Klngheit and
Einsicht offenbart, war schon bei Homer als viel vermögende
Kanst in hoher Schätzang. Jetzt aber, in der Demokratie, wo
das Mittel der Herrschaft im Gewinnen der einzelnen and
vielen Stimmen liegt, ist die bedentende fesselnde Rede, welche
die Gedanken der Vielen bestimmt, mehr wert, als körperliche
Tüchtigkeit and Besitz. Der „göttliche Mann'* ist nan der,
der im Besitze dieser Weisheit ist oder sie za lehren versteht
and damit die Wege zar Betätigang and Macht im Gemein-
wesen eröffnet. 1)
So kommt der Sohn aas dem aristokratischen Hause za
Sokrates, einem treaen Sohn der demokratischen Verfassung,
dem Mann aus dem Volke, der an alle in gleicher Weise
heranging, immer an das, was gang and gäbe war, seine
*) Niog iy(6 noze äv TtolXolQ 6rf ttxvxbv fna^ov, (pi^^riv, « d^ärrov
ifiavrov yBvolfJLfiv xvQiog, inl xa xoiva xijq nolewQ ev^q Uvai . . .
Plat £p. 7, 324B. Die Echtheit oder doch Brauchbarkeit als QaeUe ist
für den 3. 7. und 8. Brief durch G. Ritters Untersuchungen wieder wahr-
scheinlicher gemacht, vgl. auch Ritter, Piaton. München 1910; mehr eine
gute Zusammenstellung der Tatsachen, als Piatons Biographie. Vgl.
femer Ritters Inhaltsdarstellungen su Piaton. Schriften und „Die po-
litischen Gnmdanschauungen Piatos'' (Philologus 1909).
Digitized by
Google
17
Beden anknüpfte and möglichst viele fähig machen wollte,
sieh im öffentlichen Leben zu betätigen (rä jioXitixä jigdt-
rsiv)A) Hier tnt sich nun dem Jttngliug ein neuer Gegensatz
zwischen dem Einzehien nnd der grofsen Menge auf, er lernt
ein Herrschen nnd eine Herrschaftsberechtigung der inneren
Vornehmheit (jityaXojtQijisia) in seinem Heister kennen, nnd
der Begriff der Vortrefflichkeit, der xaXoxdyad-la, bekommt fUr
ihn einen nenen nnd reicheren Inhalt.
Wie der berühmte Protagoras nnd die andern grofsen
Begründer des wissenschaftliehen Zweifels warf dieser sonder-
bare Heilige, der sieh allerdings nicht bezahlt machte, in
seiner eigenen Weise dieselben Fragen auf: Was ist überhaupt
gerecht, was nugerecht, was Polis, was Politikos, was ist Herr-
schaft unter Menschen und über Menschen, was ist eine
Herrsehematur nnd ein zum Herrschen geeigneter Mann?^)
Aber Sokrates bleibt nicht beim theoretischen Zweifel mit
seinen Gründen fttr und wider (ölöcoi loyoi) stehen, durch die
es möglieh ist, das Gerechte, das ist aber nach griechischem
Sprachgefühl auch das fiichtige und Berechtigte, zur Sache
des Bedegewandteren und Stärkeren zu machen uud das
Schlechte je nach Belieben des Einzelnen gut erscheinen zu
lassen. Sokrates sieht die praktischen Folgen des grundsätz-
lichen Zweifels im Mifsbrauch der Bhetorik. Er liebt die be-
stehenden Gesetze als den Ausdruck des Allgemeinwillens, des
xoivov T^q x6X£(og, die Gesetze, unter denen seine Vaterstadt
grofs geworden ist und lehnt alle gewaltsamen NeueruDgen ab ;
nnd doch sieht er das Grundübel der yielgepriesenen „Freiheit
und Gleichheit", der iXevd-sQla und loopofda der Demokratie
in dem avtoöxsöidQeiv in dem oberflächlichen politischen
Dilettantentum. 3) „Wer seine Sache nicht versteht, ist weder
ein Feldherr noch ein Arzt, auch wenn er von allen Menschen
dazu gewählt wird''. (Xen. Mem. III, 1, 5.)
») Vgl. Xen. Mem. I, 6,15. IV, 1,3; 6,16. — {Sia rdiv Soxovvtcjv
xoiq iv^Qionoiq Syfiv rovq Xoyovq),
*) t2 d^i dvd-Qdnwv, zl ä^ixog; Xen. Mem. I, 1, 15.
*) VgL Eriton 50 ff. Xen. Mem. III, 5,21. avro-axe(^^agc<v eigtl. so-
viel wie ,8ich selbst leicht und schnell ein Flofs bauen und sich darauf
dem Meer anTcrtnuenS
PhUMoplüsoha Abli«iidliuig«n. XL. 2
Digitized by
Google
18
Da kommt Piatos Bruder, der noeh nieht 20 Jahre alte
Glaakon and will schon eine einflarsreiche Stellong in der
Stadt einnehmen {xQOOTatsveiv xfjq x6XB(oq). Sokrates fragt,
was ftlr Wohltaten er denn der Stadt erweisen will. Olankon
schweigt. Er hat ttberhanpt kein Ziel {6x0x60) das er hören
lassen kann, wohl nnr das, einen Namen zu bekommen (111,6).
Die Einsicht des Nichtwissens bei jedem Einzelnen zu wecken,
durch das Suchen nach dem richtigen Begriff einer oqbxi^,
einer Tüchtigkeit, eine grolse Zielvorstellung zu geben und
damit Ziele für die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten
gegenüber der Ziellosigkeit der individuellen Willkür, das ist
das Ziel dieses grofsen Erziehers. 1) Die, welche sich selbst
kennen, kennen auch ihre eigenen Obliegenheiten (IV, 2,26).
Die natürlichen Anlagen der Einzelnen sind, trotzdem sie in
den gleichen Sitten, Gebräuchen, Gewohnheiten und Gesetzen
{vofioi, idTJ) aufwachsen, nicht gleich. Das von Natur vor*
treffliche Wesen {dyad-ri q>vcig)^ das sich in schneller Auf-
fassung, gutem Gedächtnis und guter Verwendung des Gelernten
im öffentlichen Leben zeigt, bedarf am meisten der Erziehung.
Sokrates fordert zunächst die Arbeit des Einzelnen an
sich selbst Er bekämpft wie Hesiod sodann alles Drohnen-
wesen ttberhanpt (asQylf]), Darin zeigt er sich als wahrer
Volks- und Menschenfreund {ötifiotixog und g>iXdvd'Qmxog).
Einfältig sind die Reichen, die hochmtttig meinen, der Bildung
nicht zu bedürfen. Sie sind ja ohne Bildung nicht imstande^
ntttzlich und schädlich zu unterscheiden {diaYiyvciaxeir).^) In
der Weisheit aber unterscheidet sich nicht der von den Übrigen,
der wie Euthydem recht viel „Schriftliches zusammengelesen"
hat und den Vielen zu imponieren versucht; und das Prahlen,
alles „aus sich selbst^ zu können (ojco ravTOfiätov)^ dient nicht
dazu, ein vortrefflicher Mensch zu werden. Wichtiger, als
Redegewandtheit und Geschäftigkeit {XexTixij und xQaxTixrj)
ist das Einpflanzen der öa)g>Qocvvf], der „Gesundsinnigkeif*
(wie Paulsen in seiner Ethik übersetzt), der voUkommnen
Selbstbeherrschung. Es gibt keinen, der zugleich aog>6q und
>) Es darf nicht ttbersehen werden, da£i das fiberaas wichtige Moment
der Zielvorstellang in dem Blöivai liegt, das sur aQBxri erforderlich ist,
und imaxrffiri ist auch „eine Sache Verstehen^ — Können.
*) Vgl. Apol. 36 C. Xen. Mem. I, 2, 56 ff. IV, 1, 5. U, 7.
Digitized by
Google
19
dxQori^g wäre. Die c<oq>Q06vvfi igt aber nicht nnr durch
ftd^öiq sondern auch darch /leXitfi and aaxfjöig zn erwerben.
Der Umgang mit tttebtigen Menseben dient znr Übnng in der
Tttebtigkeit (^ tSp xQV^'^^^ o/iiZla — äcxf/cig rijg aQBTtjg
1,2, 19 ff.).
Was im kleinen Kreise der Frennde nnd des Hanses gilt,
dafs Zosammenstimmen und Zusammenwirken notwendig ist,
dafür ist ancb im allgemeinen Verbände der Polis zn sollen. ^
Von Natnr sind die Menschen einander zugetan, denn sie be-
dürfen einander, haben Mitleid und nützen sich durch Zu-
sammenarbeiten {övps^slp). Wo es sich um Zählbares, Mefs-
bares nnd Wägbares handelt, haben sich die Menschen anter
einer allgemeinen Norm geeinigt Das Auseinandergeraten
{dta^QBCd-ai)^ wobei die Menschen zornig werden und in Streit
geraten, beginnt bei den Fragen nach gerecht und ungerecht,
schön nnd häfslich, gut und schlecht, da ist die richtige Ent-
scheidung so schwer.^) So ist anderseits das Leben der
Mensehen ein Kampf. Dafs der Stärkere über den Schwachem
herrscht, ist eine allgemeine Erfahrungstatsache (II, 1, 12).
Ein Held und ein Herrscher ist aber nur der, welcher
sich selbst beherrscht, einer, der das richtige Bild (slöog) hat
und zn bestimmen weiXs, wodurch das einzelne Tapfere, Ge-
rechte und Heilige tapfer, gerecht und heilig ist, und von
dieser Einsicht aus sieh nnd andere beherrscht (der IfTcgarrig
ist aueh aQXixog II, 1). Das ist die wahre Mannhaftigkeit
{opiff^la)^ die nicht in der rohen Überlegenheit eines Athleten-
tums sich zeigt, sondern eine Tapferkeit der Seele ist (xaQ-
XBQla Tfjg tpvj^g), Herrenmenschen (ösivol) sind die, die auch
standhalten im Kampf gegen die Begierden.') Das ist die
wahre Autarkie, Selbständigkeit und iXev&cQla, und das Be-
herrsehtwerden von Begierden die schlimmste Knechtschaft.
>) Den Aristarchos fordert Sokrates auf, seine Haasgenossen ver-
nfioftlg %n bescbiftigen (II, 7). Dieser Kern des xenophont. Berichtes
wird wohl aoch sokratisch sein. — ^ . . töSv iSiotv inifjiiXeia nXij^si fxo'
YW 6ia^Q€i xfjg t<0v xoivwv, Aach des Protagoras Mathema ist evßovXla
vifdi xSp olxelanf dann ne^ xfjq nokemg and nomv avöQaq dyad-ovg.
(Prot 31SE— 919 A.)
*) Entyphr. 7 Bff. Xen. Mem. II, 6, 21.
*)Lache8l9lD. 192Bfr.
2*
Digitized by
Google
20
Durcli die Freiheit unterscheidet sich der Mensch vom Tier
und dem Ungebildeten, der Sklavenart {dvdQaxoöciöf^g ^
äfia&i^g). Der Tyrann, der in seinem Bedürfen dem ärmsten
Schlucker gleicht, gehört zum Pöbel (elg öijfiov ^tjCOftBv). Der
SelbstgenUgsame ist wirklich reich ; und „ein viel gröfseres 6nt
wirst Du Dir erwirken, wenn Du die Seele von Torheit befreit
hast, als den Leib von einer Erankheit^^)
So entsteht ein neues Bild des Schön- und -Outen. Solche
wirklich „Gebildete^^ machen nicht nur sich selbst, sondern
auch andere Menschen und Stadtgemeinden glücklich (IV, 12).
Die Menschen wollen auch von denen am ersten sich über-
reden lassen und denen gehorchen {jteld^eo&ai)^ die sie für die
besten halten. Warum sollten nicht die xaZoixaya&ol zu
ihrem eigenen und der Stadt Nutzen gemeinsam die Ämter
verwalten {zAv noXirix&v rificiv xoiv<Dvovg . . .)?2)
Ein zum Herrschen Berufener besitzt die Weisheit, den
richtigen Mann an die richtige Stelle zu setzen, jedem zu
geben, was ihm zukommt (ra jcQoarjxovTa = ölxaiä) und jeden
damit zu verpflichten, das Seine zu tun. 3) Voraussetzung für
den schönsten Vorzug und die gröfste Kunst, die ßaoiJux^
rix^ ist die gründliche Vorbildung und Sachkenntnis des
Staatsbeamten. Er bedarf so gut wie jeder Bildhauer und
Steuermann, ja seiner gröfseren Aufgabe entsprechend in noch
viel gröfserem Mafse der Ausbildung in seiner Kunst und der
Erziehung zur Tüchtigkeit.
Die Erziehung, deren Fragen damals seit dem Auftreten
der Sophisten vielleicht nicht minder lebhaft erörtert wurden,
als heute, stellte sich dem jungen Plato als die grofse Macht
dar, wodurch die Allgemeinheit den Einzelnen leitet und be-
herrscht Bei jedem Wort und Werk prägen Amme, Mutter,
Hauslerer, Vater, Lehrer und dann die Polis es ein: Das ist
1) Hipp. min. 373 A.
3) Xen. Mem. II, 6, 24. lU, 3, 9; 0, 3. (Prinzip der ArbeitsteUung.)
») Xen. Mem. III, l,7ff.; 2. 3. IV, 2,11. IV, 7, 1. Vgl. Gorg. 507 B.
Das ra havrov ngazzeiv der „Politeia", auf das man besonders den
„Individualismus" Piatos gründet, ist schon alte Soionische Weisheit (vgl.
Hirzel, B. Themis, Dike Lpz. 1907 S. 195ff.) ja, schon Gmndsats des
Konfuzius und Tsz^-Tsz8. Vgl. Grube in Kultur d. Gegenwart (AUg.
Gesch. d. Philos.) S. 85.
Digitized by
Google
21
gerecht, das tiDgereelit, das ta, das lafs! Und dnrch die Mnsik
BQchea sie einen schönen Rbythmns und Harmonie in das
ganze Leben zn bringen, i) Zwar ist die rein vitale Kraft, die
g>vcig, ein starkes Ding nnd reifst sieh znm Unheil des Ganzen
los, sobald der erzieherische Einflafs aufhört Eine grofse
Anzahl Menschen ist aneh zn stumpf und zu träge {ßXax6xB{foq\
um sich bilden zn lassen. Sie sind der Einsicht nicht zu-
gänglich. Solche wandten sich von Sokrates ab. 2)
Plato aber gab sich dem Einflufs dieses Mannes hin, in
dem sich die reiche Bildung der perikleischen Zeit, die nal-
ötvöig Ton ganz Hellas, mit alter solonischer Weisheit ver-
band.^) Es vollzog sich in Plato eine Entscheidung, wie sie
der weise Prodikos in den „ Hören ^^ von Herakles erzählte, die
grofse Wandlung, die wir aus der Leidenschaft einer gewissen
Überzengnng im „Gorgias" spttren. Hier wendet er sieh von
dem breiten bequemen Wege, durch Köderung und Bezauberung
der Massen die eigne Herrschaftsstellung zu begründen, ab
und wendet sich dem steilen Weg der wirklichen (nicht „schein-
baren") Tüchtigkeit zu, die einen wirklichen Vorzug vor andern
{aQBxij) begründet. 4) Diese Tüchtigkeit aber hat das ar/aHv
und TcaXov zum Ziel, ohne heimlich zu erwägen, ob es Lust
oder Sehmerz mit sich bringt. „Man kann wohl das An-
genehme des Guten wegen tun, aber man mufs nicht das Gute
des Angenehmen wegen erstreben." Was für ein gröfstes Gut
ftlr die Menschen ist Dein Ziel? An die Stelle eines all-
gemeinen Grundsatzes nnd eines allgemeinen Zieles {jtQoq ro
ßiXriCrov) setzt nun der Redner das individuelle Belieben
und das egoistische Ziel {ivexa rov lölov rov avrcjv oXi-
ffDifvi^sg tov xoivav). Die demokratische „Freiheit" ist ihm
>) Prot 326 C ff. 826 B.
«) Xen. Mem. I, 2, 24 ff. IV, 2, 28 ff.
*) Aus den Fragmenten der 7 Weisen liefsen sich schon Kemgedanken
der Politeia herausheben, vgl. Diels II S. 518 ff.
*) Die dgerij eines Jeden (xal axevovg xal awfiatoQ xal yn}xijQ xal
^a»ov navrog) entsteht durch tdSiif oQd-oxrjq, xix^> xoafioq, Gorg. 506 DE.
Der englische Kommentator der „Politeia" Adam gibt agszii durch „ez-
cellence*' wieder. Dals unser Wort „Tagend'* irreführend ist, hat auch
H. Wandt in seiner Gesch. d. griech. Ethik wieder hervorgehoben. Homer
wendet a^er^ noch auf die schlimmsten der Freier an, 6 629.
Digitized by
Google
22
das jedem freiBtehende Mittel zam Zweck. Hast Da nur die
Gabe darch Beden die Masse za Überreden, so machst Da
Dir jeden einzelnen, Arzt, Tarnlehrer, Geldmann znm Sklaven.
Es gilt nnr den Schein za erwecken, als wisse man mehr als
die Wissenden, die Sachkandigen. Es gehört daza ein ge-
wisses Aasprobiert- haben, wie man sich Gnnst verschafft and
Lastgeftthl bei den Zahörem erweckt Es kommt da weniger
aaf Eanst, als aaf eine got zielende Seele an, die die Anlage
hat, recht anverfroren and mit der Prätension der Überlegen-
heit mit den Menschen za verkehren. Das Ziel {atoxd^iO&ai)
ist das ^dv, das, was dem Einzelnen im zoologischen Sinne
angenehm ist; das mnfs die Menge nar heraashören. ^
So ist die Rhetorik für die Seele, was fttr den Leib die
Eochkanst ist Sokrates nnd Plato sagen nan: Die grofse
Menge {rovg jiolXovg) lasse ich beiseite; denn ich mache mir
klar, dafs nar ein einzelner, der, mit dem ich rede {xQog ov
. . . o Xoyog)^ seine Stimme abgibt; mit den Vielen anterrede
ich mich nicht So tritt der Dialogos mit seinem individaali*
sierenden Charakter der Massenvrirknng darch die politische
Bede entgegen. „Die Liebe zam Demos in Deiner Seele wider-
steht mir." Es sind zwei Bereitschaften (jtaQacxsval) in der
Seele, eine zar Last and eine zam Besten, das sich dnreh-
kämpfen mnfs. Wo ist ein Mensch, Freier oder Sklave, der
schon durch Dich besser gemacht ist? Da hast kein Werk
aus dem kleinen privaten Kreise {lÖKorevcov) aufzuweisen und
versuchst, im grofsen Kreise der Öffentlichkeit {öfjtiocievwv)
etwas auszurichten?!^) So setzen die wahren ^ii6ao9>oi dem
Einzelnen das allgemeine Ziel, besser, tüchtiger zu werden,
und dadurch ttben sie ihre Herrschaft aus, dafs sie den Einzelnen
auf dieses Ziel hinweisen als wahre Führer der Seelen
(y>vx(xy(x>Yol und xohzixol Bvloyoi). Dieser Psychagogie
gegenüber ist die Demagogie die Ungerechtigkeit, das gröfste
Übel (469 D). In ihrer Spekulation auf die Masseninstinkte
gibt sie dem Einzelnen nicht sein Beeht, wie Sokrates selbst
im Feldherrnprozefs erlebte. Die Bedefreiheit, das Beeht des
Einzelnen dient auch zur Unterdrückung des Einzelnen.
1) Vgl. Gorg. 480 B ff. 499 £. 500 A. 502 £. 452 D— 465 D.
«) Gorg. 474 A. 513 0 — 515 B.
Digitized by
Google
23
Die 6i7icuo<fvv^, die jedem dae Seine gibt, die riehtige
Oi^uag, iBt das Ziel, auf das der Einselne hinblieken mxib
(oxoxoQ xQoq ov ßXixovxa öbI ^^v). Ohne Selbstbeschränkiuig
irt \mk gemeineameB Leben, keine Selbsterweiterong in der
Liebe m(^;lieh {axoXaOTog = dxoOßfivog = xoivmvMiv dövvaxog)^
wie sebon die Weisen sagen, dals ein gemeinsames Band
(xo€vawla)y Liebe, Ordnung, Hafs nnd Reehtliebkeit Himmel
und Erde, Götter nnd Menschen zusammenhalte. So stellt
sieh das Gesetz der richtigen Znerteilnng {öixaioovpfj), das
Kallikles als KonTention der Schwächeren zur Unterdrückung
der Yon Natur Stärkeren bezeichnet, als eine Ordnung des
ganzen Kosmos dar.^)
Niebt der, welcher mehr zu haben sucht als die Vielen
und Ton ihnen abhängig ist in seinem Bedürfen {xXeov£XT€lp\
sondern der Stärkere, der zugleich besser ist, in sich geordnet,
Herr seiner selbst nnd seines Begehrens, der unterscheiden
kann zwischen guten, förderlichen nnd minderwertigen, schäd-
Uehen Freuden, ist der wirklich Stärkere nnd Herrschende.
Ein solcher Selbstherrscher {iY^gati^), der nicht in der äufseren
Habe sondern im innem Sein seine Kraft hat, ist zur Herr-
schaft ttber andere berufen und berechtigt Es ist dies kein
sehimmemdes Paradoxon (ovdhv xoixlXov\ wie das Wort vom
Beeht des Stärkeren nnd vom Zerbrecher der alten Gesetzes-
tafeln {dta^^f^aq . . . vofiovg rovq xagä ^vaiv catavtag) sondern
eine lüte von den meisten Menschen bisher zugestandene
Wahrheit, ein allgemeines Werturteil (würden wir sagen), dafs
Unrecht tun häblieher ist als Unrecht erfahren, sich selbst
bezwingen der gröJste Sieg. Dadurch erhebt sieh der Mensch
ttber das Tier nnd Sklavcnart. Das ist eine alte und doch
wieder neue Weisheit gegenttber der Scheinweisheit der
Sophisten. Es gilt eine neue unwiderlegliche Bestimmung
(ogog) zu finden, wer ein gerechter Herrscher zu nennen ist
und wer ein gerechter Untertan, d. h. einer, der richtigerweise
ttber sieh herrsehen läfst.') Die Art der Stadtgemeinde -Ver-
fassung ist die Erzieherin der Menschen. 3)
0 QiXg. 507 E — 608 A. 483 Äff.
^ Vgl Goig.49lDf.
») Menez. 238 C.
Digitized by
Google
24
So tritt P]ato im Dienste des neuen Ethos seiner Dialoge
wie Isokrates im Dienste seiner gereinigten Rhetorik dem
rhetorischen Betriebe seiner Zeit entgegen, der immer mehr
zum blofsen politischen Machtfaktor in allen Augenblicks-
fällen ausartete. Es ist indes nicht richtig, Plato im Gegen-
satz zur Sophistik oder zu den jungen Sophisten Überhaupt
zu sehen. Er hat seine bestimmten Sympathien und Ab-
neigungen, trotz der grofsen Verallgemeinerung später im
„Sophistes'^ Er steht mitten in der allgemeinen Bewegung.
Die Frage nach der besten Verfassung bewegte damals jeder-
mann, i) Allgemein im Umlauf waren Entwürfe von Zukunfts-
staaten. Vom „Wolkenkukuksheim'^ und den „Ekklesiazusen^
versetzt uns niemand besser als Aristophanes ins yrirkliche
Athen. Den Zukunftsbildern gegenüber, die zumeist von in-
dividuellen Wttnschen ausgemalt sind und gemeinsam egois-
tischen Interessen dienen, tritt bei Piato neben dem Utopischen
stärker die Annäherung an das hervor, was wir normative
Wissenschaft nennen. Nach dem Zusammenbruch der Demo-
kratie nimmt auch Plato teil an der allgemeinen „Mode^ wie
Beloch es nennt, ftlr spartanische Zucht und Sitte sowie fttr
Alt-Athen zu schwärmen. Darin offenbart sich ein „Retournons
ä la nature^' auch in dieser „Aufklärungszeit*', am stärksten
in der kynischen Richtung. Bei aller Abhängigkeit von der
ganzen Bewegung finden wir bei Plato eigentümliche An-
eignungen und eigentümliche Oegensätze.
Von seinem aristokratischen Empfinden aus bekämpft er
das geschäftsmäfsige Betreiben der Philosophie, ans sittlichem
Gefühl heraus den Mifsbrauch der Rhetorik zum Menschen-
fang und egoistischen Zwecken überhaupt und von seinem
philosophischen Gewissen aus die im Nominalismus wurzelnde
AUeswisserei und das Universalkünstlertum, wie es Gorgias
und Hippias repräsentieren, und die Auflösung aller Wert-
begriffe und ewigen Ziele in flüchtige Impressionen, Meinungen
und Opportunitäten.
Vom trefflichen (ßiXnaroQ) Prodikos konnte Plato z. B.
aber auch lernen, dafs dem Weisen mehr zukommt, als dem
0 Ein anschauliches Bild gibt z. B. Euripides Hiket. 404 ff. Vgl
auch schon Herod. III, 80 ff.
Digitized by
Google
25
Ungebildeten, dafs zn nnterscheideD ist zwischen woblbegrttndeter
Freade und sinnloser Begierde (x^gä BvXoyoq and ^öovri
aXoyoqy). Sicherlich sind auch die „Umstürzenden Reden" nnd
^Antilogikoi^^ des Protagoras nicht sparlos an Plato yorttber-
gegangen. Denn Protagoras legt in den einzelnen Menschen
die Bestimmung and Entscheidang ttber die Tatsachen {pQoi;
nnd TCQlciq xQccfn&TfDv) and damit die Macht des Umgestaltens.^)
In dem Plan der völligen Umgestaltung der gegebenen Lage
geht Plato ttber Sokrates hinaas.
In den Fragmenten des Sophisten Antiphon finden wir
manehe Sätze, die anmittelbar aaf Gedanken der Politeia hin-
weisen. Durch ihn scheinen neae Aasdrttcke, wie öiad-tci(;
(wohl frtther nur bei Medizinern), ötavoia nnd diaxoöfifjöig
für das psychische Leben in Gebraach gekommen za sein, 3)
Tielleieht anch das Wort dxoipcivfjroq .,anges6llig*\ Er schreibt
„über die Einigkeit'' {dfiovoia) and fordert nicht nar vom Haas
and der Polis, sondern von jedem Einzelnen Einstimmigkeit
mit sieh selbst; denn der Mensch ist im Kampf mit sich selbst,
mala die Aagenblicksfreaden einzäanen and sich selbst be-
hemehen. Das Wichtigste anter Menschen ist Erziehnng. Er
bringt das Bild vom Samen and dem Erdreich. Die Lebens-
weise and der Charakter des Menschen mufs sich notwendiger-
weise nach seinem Umgang entwickeln. Nichts Schlimmeres
gibt es f&r die Menschen, als die Anarchie, daram haben sie
von vorneherein die Kinder daran gewöhnt, ttber sich herrsehen
za lassen and das Befohlene za tan, am das grofse Umwerfen
(ßBxaßoXij) za verhüten.
Die aristokratischen Tendenzen wird der persönliche Ein-
floTs des älteren Verwandten, des Sokratesschttlers and aristo-
kratischen Sophisten Kritias in Plato erhalten haben. In
diesem „Laien anter den Philosophen and Philosophen anter
0 DielsII. S. 562 ff.
•) ibid. S. 624 ff. — iv ty naiSeltf chto higag ^ecoq inl r^v ifielvw
fiBzaßX^tiav. Im Hinblick ahf die TtQayfjLara and die Polis sind dem
Menschen nar die branchbaren „FilLtioDen** (<pawaalai) einzuimpfen.
Theaitl66Dff.
*) DielsII. S. 587 ff. Die engl Kommentatoren der Politeia geben
Sia^saig mit „frame of mind" wieder, das wiederum an Diltheys „Struktur
der Seele'* erinnert.
Digitized by
Google
26
den Laien", wie es hieb, yerband sieh mit masischer Bildung
ein Herrscherwille, der rücksichtslos seine Pläne Tcrfolgte, das
^(iosiöig (ygl. IrafiOTtjg XQaxtixri\ das der reine Philosoph sicher
bewanderte. Kritias verkttndet, dalB ein tttchtiger Charakter
sicherer ist, als ein Gesetz; „den könnte wohl kein Redner
jemals ins Gegenteil amkehren'*. Gar kein Leben erschien
ihm besser, als ein schlechtes („inferiores^')) kümmerliches Leben.
„Mancherlei Verlangen (^goaxBii) gibt es im menschlichen Leben,
ich möchte nnr den Glanben an einen wohlbegrttndeten Rahm
haben/' i) Die Yolksherrschaft schien ihm anerträglich.
Seinen and zagleich Piatos Gedanken sehr nahe steht die
psendo-xenophontische Schrift „Athener-Verfassnng^^) All-
gemein {Iv xaciß Ytj) ist „das Beste'' gerade entgegengesetzt der
Volksherrschaft, heilst es hier; denn in den Besten ist Zaeht-
losigkeit and Ungerechtigkeit in geringstem Mafse, am meisten
aber gründlicher Eifer fttr das Tttchtige; im Volke aber am
meisten Torheit, Bildungslosigkeit, Unordnnng and Nichts-
würdigkeit Jetzt kann jeder beliebige Nichtsnntz {jtovfjQog)
aaftreten and für sich and seines Gleichen „das Gnte'^ aas-
findig machen. Das Gate ist dann eben das Wohlwollen dieses
Nichtsnutzes, der für den Pöbel spricht; denn das nützt diesem
mehr, als der wirkliche Vorzag and die Weisheit des Tüchtigen
— and sein Übelwollen (xaxovoia). Unter solchen Zaständen
{öicuTi^ftara) kann eine Polis anmöglich die beste sein. Das
Volk will sieh nicht nnterordnen, aneh wenn die Polis gnt
Tcrwaltet ist, sondern nar frei sein and herrschen (I, 5 — 8).
Sie glauben gamicht, dafs der Vorzag der Tüchtigkeit ihnen
znm „Guten" gewachsen ist, sondern meinen, zu ihrem Nach-
teil. Einige haben anerkannt, dals es im Volke Leute gibt,
die von Natur nicht znm Pöbel gehören. Dem Volke selbst
ist ja die Demokratie zu yerzeihen ; denn jeder kann anf ein
gewisses Mitverständnis {cvyyvwiAti) rechnen, der sich selbst
gut behandelt sehen will (II, 19 f.). Was die Verhältnisse in
Athen anbetrifft, so helfen alle kleinen Mittel und Ausnahme-
gesetzchen nicht, um die Lage zu bessern, wenn die Deiiy>kratie
') Diels U. S. 607 ff.
*) Weun Emil HttUer in dem Sokrates-Werk des InseWerUgs Leipzig
1911 U. S. 399 wie schon Aug. Boeokh für die Autoischaft des Kritias
eintritt, so beweist das jedenfalls die nahe Verwandtschaft.
Digitized by
Google
27
unangetastet bleiben soll (III, 8 f.). — Diese realpolitischen
aiistokTatiBotien Tendenzen zeigen sieh nnn bei Plato durch
den Umgang mit Sokrates vertieft. Dieser sieht in der
Demokratie an nnd f&r sich die Möglichkeit gegeben, dais die
Tachtigen auch zu Beamtenstellen kommen. Denn die demo-
kratische Verfassung war die Bedingung, dafs sieh der Einzelne
unabhängig von Geburt und Besitz ttber den Demos erhob.
So lange Plato noch versuchte sich mit der bestehenden Ver-
fassnng auszugleichen, konnte er es nur im Sinne einer geistes-
aristokratischen Auffassung. In Selon sah er das Vorbild
eines Herrschers, der das Heil der Felis höher schätzte, als
die habgierige Vermehrung des eigenen Besitzes, i) In Perikles
sehien — abgesehen von seinem Hifsbrauch der Rhetorik — ,
eine Herrschaft des Tüchtigsten bei demokratischer Verfassung
verwirklieht Plato lehnt es ab, dafs Geburt und Abstammung
(ßelrlanf xäl ix ßeXuovmv) an sich schon eine Arete, einen
Vorsng begründen. „Für einen Mann, der etwas zu sein
glaubt, gibt es nichts Schmählicheres, als sich nicht durch
sich selbst für geehrt zu halten, sondern durch den Ruhm der
Vorfahren." Ein Anderes ist edel und vortrefflich {yerpalov
nnd ayaO-ov), als der blofse Selbsterhaltungstrieb, nnd der
1 neb, sein Besitztum zu erhalten und zu vermehren. Reichtum
ohne männliche Kraftbetätigung bringt keine Schönheit, ist
keine Selbstbereieherung. Der tüchtige Mann soll sich mit
der Verfassung ausgleichen, in der er lebt, läfst Plato den
Sokrates sagen, nicht als Nachahmer, sondern urwüchsig, selb-
ständig, gleichgestellt und gemeinsam mit den Bürgern (at^ro-
fivSq ofioiog), wenn er in Liebe zum Volk der Athener etwas
Edles wirken will. Trefflich sind die Athener durch die alt
angestammte Aristokratie, sagt die Aspasia im Menezenos, man
nennt sie zwar Demokratie, sie ist aber in Wahrheit eine
Aristokratie mit Zustimmung der Menge. Wenn auch das
Volk souverän ist {kyxQothg r^q xdXscDg)^ so gibt es doch die
Amtsgewalt denen, die ihm als die Besten erscheinen. Die
natürliche gleiche Abstammung {laoyovla xarä g)vcip) zwingt
uns, die Gleichheit vor dem Gesetz zu suchen {laovofilav xava
pofiop) nnd unter einander nur dem zu weichen, den der
<) Y^ Aristot. k^. noK. 6.
/Google
Digitized by ^
28
allgemeine Ruf der Tüchtigkeit and Einsicht anszeichnet^
So mochten sich wohl yornehmer denkende Naturen mit der
Demokratie abfinden. Denn nach idealer Anffassang schien
sie die Möglichkeit einer tatsächlichen Aristokratie in sieh za
bergen. Sokrates und Plato lieben ihre Stadt Athen als aller
Bürger gemeinsame Matter and Erzieherin. Sokrates zeigt dem
Kriton, dafs der Einzelne schon darch seinen blolsen Auf-
enthalt in einem Lande der Freizügigkeit seine tatsächliche
Unterordnung unter die Allgemeinheit (xoivov rtjq xoXemq)
bekundet Du willst als Einzelner (ro cor ftigog) die gesamte
Polis vernichten? fragen die Oesetze. Was sollte daraus
werden, wenn sie von jedem Beliebigen mit seinen Privat-
interessen für nngiltig erklärt werden könnten (vjro löiorcip
axvQoi)? Und doch will Sokrates, wie sein. Sterben beweist,
lieber dem Gott sich unterordnen, der alles weifs (und nicht,
wie die Vielen meinen, das eine weifs, das andere nicht), und
seinem Daimonion folgen; er will lieber, dafs die Mehrzahl
der Menschen nicht mit ihm übereinstimmt, als dafs er als
einzelner mit sich selbst nicht in Einklang ist (aöv(iq>a)vov.)^)
So denkt auch Plato. Vertieft war ferner Wohl diese ge-
läuterte aristokratische Auffassung des Lebens noch durch
seine Beschäftigung mit Heraklit Ihm gilt einer mehr als
Tausende, wenn er nur der Tüchtigste ist Er verachtet die
Vielen, die keine Einsicht haben; wie die Esel wollen sie
lieber Heu als Oold. Sie kennen nicht den allen gemeinsamen
Logos und leben, als ob sie ihre eigene Einsicht hätten. Eine
Weisheit gibt es nur, die alles durchwaltet, sowohl die aas
Gegensätzen gemischte Harmonie des Kosmos, als auch die
menschlichen Gesetze. Vielwisserei ist nicht Denken (vovg).
Denken aber der gröfste Vorzug (lAsylöxfi dgez^). Die zur
Einsicht Erweckten haben eine gemeinsame Welt')
In der Gemeinde der Pythagoreer fand Plato nun eine
xoivmvia, eine aristokratische Gemeinschaft von Denkenden,
die ihr Leben nach ihrem Denken zu gestalten suchten, tat-
sächlich organisiert Hier herrschte der Grundsatz „den
>) Vgl. Gorg. 512 D. — 513 C. Menex. 238 G— 239 A. 246 £—247 B.
(Vgl Thukyd. II, 65).
*) Eriton 50 A ff. Gorg. 4S2 C.
>) Dielfl 1,59 ff.
Digitized by
Google
29
Yieunden ist alles gemeingam". Dadurch, dafs die Eigeotning-
OTduung in diesem Kreise aufgehoben war, sah er das Grand-
Ubel des gemeinsamen btirgerliehen Lebens, das Mehr-haben-
woUen {jiXhovexTtlv)^ das gerade bei den Herrschenden den
Gemeinsinn und die wirkliche Sorge für das allgemeine Beste
zerstört, in der Wurzel beseitigt. Hier sah er Philosophen, die
die strenge spartanische Zucht mit reiner Gedankenarbeit
vereinigten, die sich und die Ordnung des gemeinsamen Lebens
einer -höheren Ordnung der Dinge unterwarfen und eine nach-
haltigere Reinigung von Begierden und Erdenschwere als die
elensinischen Mysterien yerbttrgten.
Bei den Pythagoreem fand Plato auch dfe zwei Momente
einer aristokratischen Auffassung des Lebens i): die Erhebung
ttber die Menge der Vielen, die jeder Lust des Augenblicks
folgen, nnd die Unterordnung unter ein Bleibendes, Allgemeines.
Gegenüber den wechselnden Nomoi und Verfassungen der
Athener fand er in den allgemein anwendbaren Zahlbegriffen
ebenso wie im Sein der Eleaten ein bleibendes Allgemeines,
anf das die zum Schauen des wahren Seins Erweckten hin-
bliekten, um danach das ganze menschliche Leben zu gestalten.
Der ist in Wahrheit ein Philosophos, der aus der Gebnnden-
beit der Welt des Scbeins, der Welt der Meinungen befreit ist
nnd im Gedenken der ewigen Wirklichkeit des Seins sich und
andere beherrscht Ob die Herrschaft durch einen Freund-
Behaftsbund von Philosophen oder durch einen einzelnen
Tüchtigsten ausgeübt wird, bleibt im Grunde gleich. So ver-
schlingt sich nach den Erlebnissen in Syrakus, durch die die
Möglichkeit eines Philosophen-Königs zeitweise näher gerückt
war, der monarchische Gedanke mit dem Gedanken a& einen
ganzen Herrscherstand. Denn es ist ja immer möglich, dafs
innerhalb der ägiotoi ein Einzelner wieder alle an Einsicht
und Tatkraft überragt
') Vgl Bp. 600 B (Py thagoras von Plato besonders wegen der ttber-
Merteo oSog ßlov geliebt).
Digitized by
Google
IV.
Das Verhältnis von Indiyidaum and
Allgemeinheit in Piatos Denken überhaupt
Wie verhält sich das Einzelne za den Ideen? Diese
Frage ist vielfach erörtert. Plato gibt nns im Eratylos einen
Wink, wie er von der Sprache ans, die seit der Sophistik all-
gemein als Erkenntnisqnelle benntzt wurde, den Ideen näher
gekommen ist^) In Wahrheit würde ja einer nicht verständiger,
also anch zam Herrschen mehr berufen sein, als der andere,
wenn das, was jedem Einzelnen (so) erscheint, wahr sein
würde. „Nun aber gilt weder fttr alle alles (einzelne) in
gleicher Weise zugleich und immer, noch für jeden besonders
und privatim {Idlg:) jedes Besondere; daraus folgt offenbar,
dafs irgend ein festes (ßißaiov) Selbst -Wesen -haben des
Selbigen in bezug auf die einzelnen Dinge ist." Aus einer ge-
wissen Allgemeinsamkeit des Wahmehmens, Sprechens und
Urteilens innerhalb aller individuellen Verschiedenheiten schliefst
also P^ato auf bleibende Wesenheiten.
Das erste Bewufstwerden der Macht des allgemeinbegriff-
lichen Urteilens, die allgemeine Anwendbarkeit eines gemein-
samen Ausdrucks fttr viele Einzeldinge in vielen Einzelrelationen
liefs aus den logischen Funktionen auf unsichtbare Mächte
schlief sen, liefs die einzelnen Begriffe als Eigenwesen, typisch
wie die Göttergestalten, erscheinen, doch gereinigt von den
Mängeln, mit denen die Vielen behaftet sind, mit denen sie
sich ihre Götter behaftet vorstellen. Die Einzelwesen und
0 KratyL386Dff. Die Sprache nennt er ein diSaoxaXixhv igyavov
xal öiaxQixixbv x^q ovalag.
Digitized by
Google
81
EiQxelbezieliiingen sehliefsen sich gleiehsam zu einer Kalt-
geimeinflcldaft und zu Eulthandlangen mit ihrem Ootte za-
aammen. Ihm folgen sie, er ist ihnen gegenwärtig, and Ton
\hm bekommen sie etwas mit {xoivoovbIv, xaQhlvai, /isri-
So verschlingen sich in der „ Lehre '^ von den Ideen Logos
und Mythos, «'^ii^cs'^ luid bildhaftes Denken. (Der Mythos
ist nicht nnr rhetorisches Mittel zar Belehrung der Schwachen
im Geist and nicht immer bewafstermafsen Aasdrack des nnr
Wahrscheinlichen, daza nimmt Plato den Mythos viel za ernst,
so wie Jesns seine Parabeln.)^) Was wir „Begriff'^ nennen,
würde bei Plato etwa der oQog und seine Funktion der
oQiCfiiq sein, „Grenze" und „Begrenzung", und nur der Weg
znr „Idee", der mit dem der religiösen Erhebung sich ver-
bindet.') Das ddoq und das An-sich (eigentlich „Nach-Seins-
MaCsgabe'') ist aber auf dem Wege zu unserm „Allgemein-
bcgriflf" und „Inbegriff*' und die avafiptjaig auf dem Wege
zum a priori. 4)
Welches sind nun die Einzeldinge oder Einzelwesen, die
sieh unter einem sldog vereinigen? Es läfst sich vermuten,
dafs Plato nur von allem typisch Individuellen und typisch
individuellen Beziehungen Ideen annimmt Zur Erläuterung
könnten etwa die Skulpturen des Parthenontempels im Ver-
gleich mit den reiner individualisierenden plastischen Werken
Kodins dienen.
Bei der Begriffsstimmung von „Individuum", dem „Unteil-
baren", mtllste sich wohl ein Mittelweg finden lassen zwischen
Yirehow und Sigwart, die Individuum auf den lebenden
Organismus beschränkt wissen wollen, und Riekert, der diesen
Begriff bis auf ein eigentümlich gestaltetes Stttck Kohle z. B.
ausdehnen will. Dem eigentttmlichen Ausdruck genauer ent-
sprechend mOfste „Individuum" auf den Gegenstand (ogyavov).
*) Ober xoivwvilv und fiexix^iv mit Beziehung auf die Gottheit vgl.
Phiddr. 246 DE. 253 A.
*) y. Brochard sagt: ,Je suis port6 ä croire que certains mythes
ezpriment ]a pensöe la plus intime de Piaton." fitudes, Paris 1912 S. 48.
') Aristot. Metaph. 1, 6 bat durch Gieichsetzung von oQiOfjioq und
iÜog P]Mi<m Unterscheidung vielfach fibersehen lassen.
*) Vgl A. Biehl, Plato 1905 S. 19.
Digitized by
Google
32
der von organischen Wesen hergestellt ist, erweitert bzw. be-
schränkt werden, insoweit diesen Gegenständen das Merkmal
der Unteilbarkeit zukommt i) Solche Gegenstände sind un-
teilbar, sofern sie infolge von Teilung ihren Zweek nicht mehr
erfüllen können, ihr individuelles jtQog xi durch Teilung zerstört
ist. Auch in den Werken der Fertigkeiten und Kunst gibt es
Individuen von der primitivsten Art bis zu den Individualitäten
schönster Vollendung. —
Der Gedanke an irgend eine zweckvolle Beziehung scheint
Plato geleitet zu haben, als er davor zurückschreckte, Dinge
wie Haaren, Schmutz und dergl. oder vagen Gerüchen und dem
blofsen Stoffe, der sich noch „unter unseren Händen gestaltet^',
eine Idee (lUoq) zuzuerteilen. Vom Tisch und Liegepolster
gibt es aber eine Idee; Feuer und Wasser sind für den Griechen
ganz lebendige, typisch individuelle Mächte, er sieht sie in
lebensvollen Beziehungen, wie den Menschen als einen ooiov
und ölxaiov. Die Ahnung des Begriffs der Gleichheit und
Schönheit läfst diese Ideen Mächte werden, durch die Steine
und Hölzer sowie die mathematischen Symbole zweckent-
sprechend angeglichen werden, das einzelne Schöne zum Vor-
bild des Schönen hingeführt wird. Die Ungleichheit aber
bringt das einzelne Ungleiche in vorbildlich richtiger Weise
auseinander.
Wie alle „Individuen^^ die gestaltet sind oder sich selbst
und die Dinge gestalten, sieht Plato auch die Menschen immer
in typisch individuellen Beziehungen und in Beziehung zum Ur-
bild, nach dem sie gestaltet sind und zum Vorbild, nach dem
sie hingestaltet werden sollen. In der Gemeinschaft der
Ideen wie in der der Götter besteht nun eine „Hierarchie'^ bis
hinauf zur Idee des „ Guten '\ dem auch die Schönheit und
Zweckmäfsigkeit einer Vase {dQsr^ öxevovg) untergeordnet ist,
bis hinauf zum Gott, dem Eingestaltigen. So besteht auch
unter den Menschen eine Gemeinschaft von untergeordneten
>) Nicht VerBtUmmelung, vgl. die Definition des Aristot. Metaph.
1024 a; auch nicht Teilung im Sinne von Fortpflanzung. — VgLYtrchow,
Atome und Individuen (Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin
1862). Sigwart, Logik IL 267 und 680, bei der Erörterung des teleolog.
Gesichtspunktes angedeutet, „beim Organismus (oder auch bei einer Uhr)'*. ~
Rickert, Grenzen 238 ff. 258. 3U6. 318 f.
Digitized by
Google
33
und übergeordneten Wesen und Vorgängen. Nach dem Vorbilde
des groben Werkmeisters {ötjfiiovQyog) soll eine Polis nach
Högliehkeit gestaltet, von ungeordnetem Werden zu geordnetem
Sein geführt werden.
„Gut sind wir wie alles andre dadurch^ dafs eine Tüchtig-
keit, ein Vorzug in uns entstanden ist (agst^g xagaYSPoiiiin/gy^
Diese Vortreffliehkeit besteht in einer richtigen Ordnung. Wenn
nun eine Ordnung {xoöiiog rig) in einem jeden Besonderen
wohnt, die eigne eines jeden Besonderen, dann repräsentiert
sie ein besonderes Gutes des allgemeinen Seins (dyad-ov
xoQix^i txacxov xAv optcov). Eine geordnete Seele macht den
eigentümlichen Vorzug und das eigentümliche Gute des Menschen
aus. Eine solche ywxfj xoafila ist auch nnr fähig, sich zu ge-
sellen (xoipovbZp), denn sie übt die gesundsinnige Selbst-
beschränkung und würde wohl das tun, was Göttern und
Menschen zukommt {ooia und ölxaia). Das richtige, tüchtige
Tun ist aber zugleich das Glücklichsein, i)
Die Seele ist das vermittelnde Wesen im Menschen, das
die Gemeinschaft mit der Ideen-Allgemeinheit herstellt. Sie
vermag es durch ihren einsichtigen Teil (das potjttxop). Durch
das Einsichtige ist sie dem d-sZop, dem Schönen, Weisen, Guten
verwandt; und in der Unterordnung der dem sterblichen Leibe
verwandten Seelenteile, des „Emotionalen^^ (könnten wir sagen),
besteht die richtige Ordnung der Seele. Sie ist das principium
individuationis (ro stagexo/ispop riitcop %xacxop rovx' slpai
Leg. 959 A) und zur Herrschaft über das leibliche Leben be-
stimmt Dies hindert die Seele in ihrem Fluge nach oben
hin, wo das Göttergeschlecht wohnt und hindert sie „rein zu
erkennend Nur wenn die Seele bei sich selbst ist, kann sie
die geschaute vorbildliche Ordnung der Dinge in reiner Ge-
dankenbewegung wiedererzeugen. 2)
Dazu bedarf es einer völligen Änderung (alXayfj) einer
Befreiung von den wilden Trieben, von planlosem Irren, Ge-
dankenlosigkeit und Furcht, es bedarf einer völligen Reinigung
0 Gorg. 506D— 507E. Vgl das Homerische el xata xoofiop and
Menon 96 C OQ^wq xe xal 6v; das griechische ei ngatrsiv,
») flXiXQivsl Tg öiavola XQfofievog, Phidd. 66 A. Vgl. Soph. 259 E.
Dnrch die <TVfinXoxij der Ideen entsteht fUr ans der Xoyog,
PUlofophJteh« Abhandlung«!. XL. 3
Digitized by
Google
84
von niederen Lügten. Dadurch unterscheidet sich der, welcher
nach dem Weisen strebt und seinem Gotte folgt, von den
Andern, die noch im Trug der Sinne stehen und von der
jtapöfjfiog Aphrodite beherrscht werden. Über ihr erhebt sich
der Eros zum Schönen und Outen. Der Eros ist auch ein
Mittelwesen zwischen Menschlichem und Göttlichem. Er führt
die Menschen zusammen (avpaytüYsig)^ macht aus zweien eins,
er verbindet alle Menschen in dem Streben nach einem irgend-
wie Guten, nach einem Unsterblichen. Über denen, die nur
auf Fortpflanzung und berühmten Namen bedacht sind, er-
heben sich die, deren Seele von Eros empfangen hat, um
irgend eine wirkliche Tüchtigkeit (agerij) zu gebären. Die
gröfste und schönste Tüchtigkeit ist die, welche auf durch-
greifende Ordnungen von Stadtgemeinden gerichtet ist, ihr
Name ist weise Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit, i)
Nun zeigt aber die Wirklichkeit, dafs nur wenige vom
Gott wirklich ergriffen sind, in sich eine Neuordnung her-
gestellt haben {iyxQaretg xal xoöfiioi) und daher zum Ordnen
der Städte berufen sind. Sie stehen einsam unter denen, die
das Leibliche, Geld und Ehre lieben und mit diesem Streben
das wirkliche Menschenleben beherrschen. Der Philosoph ist
verachtet im Kreise der Realpolitiker. Seine göttliche Be-
geisterung ist der Menge verborgen. Er ist ein Weltfremder.
Er spricht eine den Menschen unverständliche Sprache, heilBt
es im Gorgias, und ist überhaupt ganz unerfahren in allem,
was unter den Menschen Brauch ist. Er versteht nicht wie
der politische Rhetor im Demos zu sprechen und dies grofse
und starke Vieh seinen Wünschen gemäfs zu behandeln. 80
wird er notwendig von den Vielen getadelt. >) Dem vollkommen
Ungerechten, der nur den Schein der Rechtlichkeit zu wahren
versteht, steht die Welt offen, er wird allgemein geachtet und
gelangt zur Herrschaft, der vollkommen Gerechte aber, der
dazu noch den Schein der Ungerechtigkeit bei der Menge er-
weckt, aber unwandelbar bleibt bis in den Tod, wird gequält,
gemartert und schliefslich gekreuzigt (Rp. 361f.).
^) tj tcsqI tag xoiv tioXbcdv ze xal olxijaEQ>v Siaxocfii^aeig^ Symp. 209 A.
Zum Vorhergehenden Symp. Phaid. Ph&idr. im Zusammenhang.
>) Gorg. 484 C ff. 500 G. Rp. 498.
Digitized by
Google
85
So reift in Plato die grofse Verlegenheit, die axogta, die
Sokrates in seinen Schillern zu weeken snchte: „Wo siehst
Du da noch ein Anfreehterhalten für philosophische Art, sodafs
sie in ihrem Bestreben bleibt nnd zam Ziel kommt ?^'i) Um
ein für den Philosophen überhaupt erträgliches Verhältnis zum
wirkliehen Leben zu gewinnen, nm Menschen za den Ideen
und za der Befreiung ans dem Höblendasein za führen, gründet
er die Stätte gemeinsamer Arbeit im Hain des Akademos. Um
die wahre Ordnung der Dinge, die er geschaat' hat, ins
wirkliche Leben zu übertragen, nnternimmt er die Reisen nach
Syrakos, und nm die yielen Fragen ans der Welt der nn-
glänhigen Tatsachenmenschen zu beantworten, entwirft er den
Plan einer Nenordnung, in der die Einsicht der Wenigen
herrschen soll an Stelle des allgemeinen Unverstands.
») Rp. 494 A- 497 B.
3*
Digitized by
Google
Das Verhältnis Yon IndiYidnum und
Allgemeinheit in der „Politeia" im Zusammen-
hang mit den übrigen Schriften.
1« Das IndiTidanm und die aUgemeine Naturbasis«
Dafs das Viele eins nnd das Eine vieles ist, das ist
wunderbar, sagt Plato im Philebos; dafs Eins und Vieles
dasselbe ist, das ist ein unsterblicher und nicht alternder Zu-
stand des Denkens in uns. Schon die Alten, die tttchtiger
waren als wir und näher den Göttern wohnten, haben über-
liefert, dais Begrenztes und Grenzenloses in sich zusammen-
gewachsen sind; und in jedem Besondern ist wieder eine
unbegrenzte Vielheit (14jBr.). So ist der Mensch ein durch
Geburt und Tod umgrenztes Selbiges und doch ein veränder-
liches Vielfaches; Jüngling, Mann, Greis, traurig, fröhlich,
zornig; grenzenlos in seinen Trieben, besonders dem stärksten
Triebe, sich fortzupflanzen, und wieder begrenzt in der Fähig-
keit sich selbst zu beherrschen (vgl. Symp. 207 E).
Durch gesundes Denken {o<og>Qoavvf]) beherrscht und ge-
staltet er das Grenzenlose, das ist das Ungestaltete, Un-
geordnete, so wie der Gott einst aus der Unordnung, deren
Ursache das Körperhafte {ömfiovosidig) in der Mischung der
Welt war, den Kosmos gestaltete. 0 Wir und die übrigen
Lebewesen, und das, woraus sie entstanden sind, Feuer und
Wasser und das diesen Verschwisterte {d6sXg>a), Alles, wissen
wir, sind Ausgeburten des Gottes, jedes in seiner Art ge-
») Polit.273B. Tim. 30 A.
Digitized by
Google
37
M\i2fieTi. Im Hinblick auf den Gott sind die Menschen wie
üanonetteu {ß-avfiara).^)
^Sedea Werden wird um irgend eines Seins willen und
das ganze Werden nm des ganzen Seins willen" (Phil. 54 C).
Plato nuterseheidet in der Natur dreierlei: das Werdende, die
qnycig eines Jeden; das, worin etwas wird, den allgemeinen
Nährboden f&r jedes lebende Individuum (auch avayxi]^ Ein-
engung, Einschränkung durch die besonderen Lebensverhält-
nisse); und das Urbild, nach dem es geschaffen ist, und dem
es wieder ähnlich zu werden strebt {od'ev aq>ofioiovfiBvov
gfvetai Tim. 50 G, vgl. Rp. 491 f). Nach irgend einem Bleibenden
strebt alles Werdende im Wandel des t66s und rotJro (der
^Haeeeeitas"). Alle Lebewesen verbindet ein Empfinden, ein
Streben, ein Verlangen. Es wäre nicht leicht, dem andern
Menschen den eignen Zustand (ro savtov ytad-jj/ia) aufzuzeigen,
wenn bei den Menschen, trotzdem die einen dies, die andern
jenes erfahren, nicht dasselbe „Pathos^^ (wir würden sagen, nicht
eine gewisse gleichartige, allgemeine psychophysische Dis-
position vorhanden wäre), sondern jeder von uns den andern
gegenüber über eine ganz private Empfindungs- und Erfahrungs-
basifl verfügte (Gorg. 481 Cff.). Aufser dem Verlangen nach
Speise und Trank verbindet alle Lebewesen als mächtigster
Trieb das Liebesverlangen (Leg. 782 E). In diesem Trieb nach
Erhaltung der Art, des yivoq liegt ein Verlangen nach Un-
sterblichkeit, nach bleibendem Sein.
In jedem Verlangen liegt ein Mangel, ein Bedürfen {ivöeia).
Der Mensch ist von Natur nicht sich selbst genug (a^raQxrjg).
Das Eine verlangt zwei zu werden. Es heifst nun: ursprüng-
lich weideten die Götter die Menschen wie Hirten ihre Herden.
Sie lielsen die einen hier, die andern dort sich ansiedeln.
Die Menschen lebten anfangs sporadisch {öxoQadtjv)^ sagte
man auch, und zum Schutze gegen die wilden Tiere traten
die Hausgemeinden zu gröfseren Vereinigungen zusammen. So
vereinigten sich allmählich viele zu gegenseitiger Hilfe und
Unterstützung in einer gemeinsamen Ansiedlung und nannten
1) Vgl. Soph. 266 B.; Leg. 644 DE. 803 C. Mythische Ahnung eines
natnrvrissenscbAftlichen Mechanismos, hier zugleich Ausdrock der Re-
sigiiation gegenüber der rücksichtslosen Mechanik des tatsächlichen Lebens.
Digitized by
Google
38
das Umhegte „Polis^'. Es zeigte sich, dafs der Menseh Vieler
bedarf; der eine nimmt dieses, der andere jenes von diesem
oder jenem zu dem einen oder dem andern Zweck. Unsre
eigne Notdurft hat die Stadt entstehen lassen, sie schuf die
Gemeinsamkeit der Agora, nnd in der Mttnze erfand man ein
allgemeines „Symbol" des Austansches (aXXayi^ und ^v/ißoXaiov).
Das wechselseitige Mitteilen erschien den einzelnen besonders
Haasenden besser, als wenn jeder alles, was zu seinen Be-
dürfnissen gehört, allein betriebe nnd herstellte. Die Arbeits-
teilung stellte sich im Zusammenleben der Menschen als das
ZweckmäXsigste heraus. Denn „nicht ist jeder dem andern
von Natur gleich, sondern verschieden seiner Natur nach, der
eine zu dieser, der andre zu jener Tätigkeit geeignet", i)
Jedem ist gleichsam von Natur zugewiesen, was er zu tun hat
und was ihm zukommt.
Die „Dike" ist es, die einem jeden das Seine bestimmt, sie
ist das gemeinsehaftsbildende Prinzip, das schon bei zweien
und bei jeder Art von Gemeinschaft, selbst bei der Räuber-
bande oder sonst einer Horde herrscht Das Gerechte, das
dlxaiop, ist das Notwendigste (dvayxaioTazov) ftlr das Be-
stehen irgend eines Gemeinwesens. Denn die Rechtlichkeit
(dixaioövprj) stiftet die für jedes gemeinsame Handeln not-
wendige Einigkeit (öfiovoia). Während die ädixta, das Über-
greifen in die Obliegenheiten des Andern Aufstand im Innern
stiftet und gemeinsam zu handeln yerhindert.
Je gröfser nun die Stadt wird, und je mannigfachere
Berufe entstehen, umsomehr werden Leute da sein müssen,
deren Beruf ist darüber zu wachen, dafs jeder das Seine tut
und das Seine erhält Es heifst : Hephaistos und Athene hatten
einst bei der Teilung der Erde den Landbezirk von Athen
erhalten, der schon von Natur durch den günstigen Wechsel
der Jahreszeiten geeignet war, tüchtige und weise Menschen
hervorzubringen. Den ureingeborenen Männern hatten sie den
Sinn für ein geordnetes gemeinsames Leben eingepflanzt Als
die Götter den Menschen ferner rückten, erhielten diese die
Tüchtigsten unter den Bürgern zu „Wächtern^ Unter diesen
lebten sie einst in Liebe und Freundschaft bis „Mangel am
0 Rp. 370 B. Zum Vorhergehenden vgl. Bp. 969 B ff.
/Google
Digitized by ^
39
Notwendigsten'' eintrat Dies war der Fall, als sie nicht mehr
tibeii genügenden Raum verfttgten, die Nahrung umstritten
weiden muGato, Reichtum und Armut, Neid, Übergriffe und
Uuieeiit bervorgerufen wurde. So ist das, was die meisten
Men&eVien Frieden nennen, nur ein Name, in Wirklichkeit
heTTsebt Streit, nicht nur der Städte untereinander, sondern
aucih zwisclien den einzelnen Dörfern, Häusern, Männern und
im Manne selbst So wählte man durch Weisheit ausgezeichnete
Männer zu Führern, die den Streit sehlichten, das Sichtige
und das Geltende {ölxaia und voiii/io) festsetzen sollten, i)
Die Sophisten und unzählige andere sagen nun: natur-
gemäfs erhebt sich der Stärkere über die Schwächeren und
macht sie sich zu Sklaven. Was ihm zuträglich ist, seine un-
begrenzte Eraftentfaltung, ist auch für ihn das Richtige
(öixcuop). Um sich gegen das Mehr-haben-woUen des Stärkeren
zn schlitzen, haben sich die Unvermögenden zusammengetan
nnd, da der Nachteil des Unrechtleidens bei weitem gröfser
erschien als der Vorteil des Unrechttuns, aus Ntttzlichkeits-
gründen verabredet, nicht mehr einander zu schädigen. So
schlössen sie Verträge und nannten das darin Oebotene: „ Ge-
setzlieh "^ (allgemein geltend) und „ gerecht '^ Das sei die Ent-
stehung und das Wesen der Gerechtigkeit So habe man einen
Mittelweg gefunden zwischen dem höchsten Gut, ungestraft
nach freiem Belieben handeln zu können und dem höchsten
ITbel, der Unfähigkeit, sich fttr erlittenes Unrecht rächen zu
können. Falls man einmal aus dieser allgemeinen Überein-
kunft, dem i'o^o^ heraustreten könnte {k^ovola hätte), dann
wttrde das Mehr- haben -wollen Beweggrund für jede Natur
(jiäöa q>vöiq) sein, der Macht als einem Gut nachzujagen.
Denn nur durch das Gesetz wird der Stärkere mit Gewalt
g^egen seine Natur zur Achtung des Gleichen hingeftlhrt (^tag-
ajerai, Rp. 358ff.). Jetzt ist am vorteilhaftesten, die Recht-
liehkeit nur als Vorhalle und Verhalten nach aufsen hin zu
wahren und drinnen den Fuchs zu bergen.^) Denn die Recht-
>) Vgl Kritias 109 ff. Tim. 24 C. Log. 678 £. Bp.d72B. 873 D. Leg.
678 Eff. 626.
*) Bas ist die Advokaten- und Yolksrednerweislieit {ao^Ux ötj-
Digitized by
Google
40
liehkeit ist kein 6at, das dem eiguen, dem Privat-Yorteil
dient, sondern einem fremden (dXXoxQiov dyad-ov). Die Ge-
rechtigkeit ist ja eine ganz edle Gutmütigkeit {svTJd-eui)] aber
hervorragende Leate (ayad^ol und öhpoI) sind nur die, welche
in vollkommener Weise imstande sind, unrecht zu tun, nämlich
Städte und Völker sieh Untertan zu machen. Da tritt das
natürliche Recht des Stärkeren in ein helles Licht
Mit dem Naturrecht dieser sophistischen Richtung stimmt
nun Plato darin ttberein, dafs er den Nomos der demokratischen
Gleichheit nicht in der Natur begründet sieht. „Pflegt nicht
das Volk immer irgend einen als Führer auszusondern nnd
sich überzuordnen {dta^BQovTcog ngolcxacd-ai) und diesen zu
nähren und grofs werden zu lassen?" (Rp. 565G). Irgend
eine Herrschaft einzelner überlegner Menschen über viele von
Natur untergeordnete Individuen und Sklaven {tfrooti öovXoi)
ist ihm eine allgemeine Erfahrungstatsache.^) Denn viele sind
nur mittelmäfsig {g>avXog)^ wenige wirklich tüchtig {kmaixijg).
Die demokratische „Freiheit" und „Gleichheit" von Natur
führt zu einer den Tieren zwar natürlichen Anarchie {^Qltov
k/Kpvofiivfjv Rp. 562 D ff.). Diese existiert in Wirklichkeit unter
den sich gesellenden Menschen nicht, höchstens unter Kannibalen
wie den Eyklopen.^) Das Herrschen und Sich- beherrschen-
lassen ist ebenfalls Dike, d. h. einem jeden zuerteili Der
Vertragstheorie gegenüber will Plato auf das Ursprüngliche
des Rechtlichkeitssinnes, der dixaioavvri zurückgreifen. Er
will die Gerechtigkeit im Wesen der Dinge und im Wesen der
menschlichen Gemeinschaft begründet und allgemein anerkannt
wissen. Das Stärkersein unter Menschen (vom bloJBen Athleten-
tum abgesehen), findet er bei denen, welchen im Schofse der
gemeinsamen Mutter Erde, in dem alle gebildet wurden, wie der
*) Leg. 690 Bf. tb 6h fiiyiatov d^lcDfia . . . ^nea&ai fxhv thv dv-
tmarrifxova xeXsvov, zov 6h ipQovovvxa rjyeiod^al xs xal aQXtiv. Doch den
starken Gegensatz gegen die schroffe Gegenüberstellung von gjvaei und
v6fji(p drückt der Satz aus: xai zoi rovtoys . . ovx äv noQcc ipvaiv ^ywys
ipal^v ylyveod^ai xard y>vatv 6h tfjv xov vofxov kxovrcDv dgxh^ a*AJl' ov
ßlaiov ne<pvxvlav. Beim vofAoq wirken der Gott, xvxn {Sv/ji^o^d) und
menschliche xixvv zusammen, vgl. Leg. 709 A f.
') Leg. 680 B. Dies Beispiel der Absonderlichkeit ungeselligen Lebens
aus Homer, das auch Aristoteles in seiner Politik anführt, war sicherlich
Gemeingut.
Digitized by
Google
41
Mythos sagt, Gold von dem Gott beigemischt worden ist Aas
dem Wesen des Herrschers will er das Recht zu herrschen
erweisen. Das Wesen des Herrschers besteht aber nicht im
Mehr-haben-woUen, dann würde sich die Herrschematur nicht
von der Eaafmannsnatnr unterscheiden. Herrschen ist viel-
mehr eine Kunst, so gut wie die Berufskunst des Arztes,
Steuermanns oder Hirten. Jede Kunst hat in ihrem Können
eine eigne Macbtentfaltung, begründet eine Überlegenheit
(doet^ des Einzelnen ttber die Allgemeinheit derer, die des
Könnens dieses Einzelnen bedürfen. Wer bei seiner eignen
Kunst nnr das Geldmachen im Auge hat, zum Hauptzweck
macht, was ein allen Künsten gemeinsamer Nebenerfolg ist,
der ist eben seiner Natur nach nicht ein Arzt, Steuermann
und dergl , sondern ein Geschäftsmann. Ein guter Hirte denkt
nicht an den guten Braten, sondern ist darauf bedacht, wie er
das einzelne Tier und die ganze Herde in möglichst gutem
Znstand erhält. So ist es auch mit dem Wesen des Herrschers,
sofern er richtig beschaffen ist Durch sein gesundes Denken
beherrscht er den begehrlichen Teil in sich selbst uud be-
herrscht die vielen Begehrlichen, während der Tyrann von der
Furcht vor der grofsen Menge der Begehrlichen beherrscht
wird und ziellos ist in seinem grenzenlosen Begehren. Der
Herrseher hat irgend ein Gutes fttr Alle zum Ziel. Alle
Mensehen begehren ein Gutes und wollen sich beim Guten
nicht wie wohl beim Schönen und Gerechten mit dem Schein
begnügen. Der Rechtlichkeitssinn, der jeden in der Polis in
die ihm von Natur eigne Sphäre weist und damit das Wohl-
befinden des Ganzen verbürgt, ist eine Form des Guten (eldoq
ä/aß-ov); ein Gutes von der mühsamen Art {iitlnovov) scheint
den Vielen der Rechtlichkeitssinn zu sein, er ist aber ein
ursprüngliches Gut, so gut wie das Sehen, Hören, Denken und
Gesund-sein durch ihr ursprüngliches Wesen und nicht erst
durch die Meinung und Übereinkunft der Menge Güter sind
{ajad-a yovina, Rp. 367 G).
So sucht Plato den rofiog^ das Allgemein-geltende mit den
ursprünglichen Wesen der Dinge, der qmci^ zu verbiuden.^)
^) Plato verbindet vovq und vofjto^ o^d^oq^ Leg. 674 B. r^( ^pvoeoK;
vonoq „die Weise'' der Natur. Tim. SSE.
Digitized by
Google
42
Das ursprüngliche Wesen des rechtlich geordneten Zusammen-
lebens der Einzelnen liegt aber fttr ihn in einer Urgescbiohte
zugleich und in der wahren Natur der Dinge, der Ideenwelt,
vorgebildet
2. Das Yerhaitnis der Analogie zwisehen Einzelmensch
und Polis.
Von der richtigen Beschaffenheit des einzelnen Menschen,
des Herrschers, des Arztes usw. und der richtigen Beschaffen-
heit der Menschengemeinschaft geht Plato aus. Die Gerechtig-
keit ist zugleich die natürliche Gesundheit in der Struktur des
Einzelnen wie der Polis. Seit Virchow sind wir gewöhnt in
„gesund'^ einen Normbegriff zu sehen, und die moderne
Psychiatrie lehrt, dafs der „normale" Mensch in der Wirklich-
keit nicht existiert. Der normale Mensch wird so für die
Heilkunde zu einem Ziel, dem sie den wirklichen Menschen
anzunähern strebt, der mehr oder weniger weit von diesem
Ziel entfernt ist.
So geht auch Plato von einem Normalzustand der Polis
und des einzelnen Menschen aus. So sehr er auch an die
Verwirklichung seiner Entwürfe glaubte, so hat er sich doch
niemals Illusionen hingegeben. Schon aus dem ganzen Zu-
sammenhang seiner Anschauungen vom Leben und den Ideen
geht hervor, dafs er immer nur mit einer möglichst grofsen
Annäherung an das Ideal rechnete (ra lyyvxcxxa). In seiner
Politeia sah er ein Paradeigma der richtigen Beschaffenheit,
von dem er die Einstimmigkeit mit sich selbst in erster Linie
forderte {ofioXoyovfievov avro avxA Leg. 746 B). Die „Gesetze^^
sind nicht nur als Herabminderung seiner Forderungen auf-
zufassen im Hinblick auf das, was vor der Hand erreichbarer
erschien, sondern auch als Ergänzungen und Erläuterungen
zur „Politeia**.
Im Anschlufs an das schon erwähnte Beispiel vom Künstler
(S. 4) heifst es: es kommt nicht darauf an, ob diese vorbild-
liche Ordnung des staatlichen Lebens einmal gewesen ist oder
irgendwo ist oder sein wird; aber, ehe nicht durch ein glück-
liches Geschick die wirklich Einsichtigen, die nach der Weis-
heit und dem allgemeinen Besten strebenden Menschen Könige
Digitized by
Google
43
^etden, wird es nicht besser, gibt es keine Erholung von
diem^eehBelfieber der Verfassungen; nnd der, welcher bestrebt
\«ii d\e Teine Idee allein zu schauen und zum Ziele zu haben
(öxojcE(p)^ der nmfafst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
(Rp. &72A.); diese, xä fiiXXovxa, ist aber zugleich das, was
sein soll.
Soweit es sich um das Idealbild der richtigen BeschajQTen-
heit handelt, wird sich ein richtig beschaffener Mann von einer
richtig beschaffenen Polis gamicht unterscheiden, sondern sie
Tcrhalten sich wie homologe Stücke. Was bei der Polis im
Greisen, zeigt sich beim einzelnen Menschen im Kleinen und
umgekehrt. Die Gleichheit gewisser typischer Beziehungen,
die Gleichheit eines typischen Ordnungsverhältnisses ist der
Kern des platonischen Vergleichs, der wenig mit der Auf-
fassang des menschlichen Ameisenhaufens als Organismus
höherer Ordnung zu tun hat.
Das richtige OrdnungSYcrhältnis in der Polis wird als
oQjri und rt'^o^ der dixaiocivrj vorangestellt und die Verfassung
der Menschengemeinschaft als heuristisches Prinzip verwandt,
am die normale oder von der Norm abweichende Verfassung
{ava>iiaXla avaQfioCxoq) im Einzelnen zu finden.^)
In allgemeinen psychologischen Erfahrungstatsachen findet
Plato zudem eine Berechtigung seines Grundsatzes [ptoXXii
avayxri oiioXoyilv)^ dafs Gestaltungen, Sitten und typische
Cluuraktere in jedem Einzelnen dieselben sind wie in der
Polis. Denn nicht irgend anderswoher sind sie in den Einzelnen
gelangt, und umgekehrt entsteht aus der seelischen Beschaffen-
heit der Privatleute heraus in den Städten ein bestimmter
Charakter (Bp. 435 E). Denn nicht aus Eiche oder Fels können
bQrgerliche Verhältnisse entstanden sein, sondern aus den
Sitten nnd Gewohnheiten, die sich unter den Einzelnen in den
Stildten herausbildeten, irgendwie das Übergewicht bekamen
und das Übrige nach sich zogen (Rp. 544 D). Die Art und
Weise des Ganzen, das, was die Vielen dem vioq und Neuling
sagen, gibt dem Einzelnen dann wieder sein Gepi^ge. Das,
was diese ganze Bewegung hervorruft, ist Nachahmung, Ge-
>) Denn die n^ zeigen sich in der nokireia ivagyiaztQov als im
iSiok^^ Bp. 545 B.
Digitized by
Google
44
wöhnang, AaflebauDg, ÄDpassungJ) Die Tarde'schen Gesetze')
wird jeder anfmerksame Leser in der „Politeia", besonders in
den lebendigen Beispielen des 8. nnd 9. Baehes finden. Bei
der Frage naeb der Erziebnng und Bildung werden wir darauf
zurückkommen, wie Plato diese Wecbselwirkungen von Einzel-
menscb und Allgemeinbeit auf Grund dieser Tatsacben ge-
staltet seben will.
Die ricbtige Ordnung in einer Polis sowie in dem einzelnen
Menseben siebt nun Plato darin, dafs in beiden der über-
legsame Teil, das Xoyiorixov, über den anscbwellend- kriege -
riscben und den begobrlicb-aufnebmenden Teil berrsebt. Den
drei Arten der Seele im Menseben entsprecben drei Arten von
Menseben in der Polis, die überlegsam-ratende, die kämpfend-
scbtttzende und die gescbäftlicb- kaufmännische Art, drei ent-
sprecbcnde Bestrebungen, die auf Weisbeit, Sieg oder Gewinn
gericbtct sind und dem entsprecbende eigne Freuden. Es gibt
wie beim Einzelnen, so aucb im ganzen menscblicben Leben
ein oben, mitten und unten. Die grofse Masse freut sieb wie
das Vieb auf der Weide. ') Der ttberlegsame einsicbtige Teil
mufs, um die ricbtige Ordnung bersteilen zu können, bei der
jeder das Seine tut und erhält, den mutig-kriegeriscb-tätigen
Teil sieb zum Bundesgenossen machen, und die beiden in
richtiger Harmonie sollen über das unersättliche, ins Vielfache
und Grenzenlose schweifende Begehren gestellt werden (Rp.
441 E ff.). Dadurch ist eine Stadt weise und auch der Privat-
mann. Darin besteht der Vorzug {aQeti^), die Gesundheit,
Schönheit, das richtige und glückliche Verhältnis der Seele
(evB^la tpvx^g Lys. 220 D). Wie es in der einzelnen Seele
Geringeres und Höheres gibt, so aucb in der bürgerlichen
Gesamtheit Kinder, Frauen, Gesinde und die grofse Zahl der
Mittelmäfsigen läfst sich meistens durch das mannigfache
zersplitternde Begebren beherrschen (Rp. 431 A ff.). Wenn nun
^) Vgl. die gro&e Bedeutung der filfjifiaiq in der „Politeia'* über-
haupt; Lg. 792 £ ifiipierat näv rjd^OQ 6id ^^og\ Rp. 560BG: ataaig and
dvTiazdaig'y Parm. 128 A: olxeiovodixi. Beispiele von psychophysiologischer
und psychischer Adaptation werden gegeben bei dem, der ans der Höhle
ans Tageslicht tritt und von dort wieder in die Höhle aurttckkehrt.
>) G. Tarde, Les bis sociales. Paris 1907.
*) Bp.44lA; 681 C— 586.
Digitized by
Google
45
Gi^sanABiiimglLeit hergestellt sein soll, roflssen die Begehrlichen
mit den Verntinftigen darin ttbereinstimmeD, dafs die Wenigen,
denen es von Katar zukommt, sich mit Philosophie befassen,
Yorangeben nnd herrschen und die, denen es nicht zakommt,
sich nicht damit befassen nnd folgen (474 C). Darin besteht
die richtige Ordnung und Einheitlichkeit im Einzelnen und in
der Polis, daCs das vielgestaltige Triebhafte sich willig der
Herrschaft des Einsichtigen unterordnet. Weise ist der Mann,
der in sich eine Kunde davon hat, was jedem Einzelnen be-
sonders und dem Ganzen, dem Gemeinsamen zuträglich ist.^)
Der Kundige mufs bestimmen können, was jeder tun soll, um
die ihm eigene Aufgabe zu erfüllen (plxeioxQayla = dixaioovvff),
dafs an Stelle der Zerstückelung die richtige Gliederung des
Ganzen tritt und alle wie Glieder eines Leibes Freude und
Leid gemeinsam empfinden.
So wird eine Verbindung zwischen Herrschereinheit und
Untertanenvielheit, ein Gleichgewicht zwischen vovq und ixt-
&v/iia, ein Einklang von HerrseherglUck und Gesamtwohl her-
gestellt^) Das wirkliche Leben zeigt nun grofse und mannig-
fache Störungen des Gleichgewichts. So wie der Herrschaft
des Tüchtigsten oder der Tüchtigsten, (der aQtcxoxQaxla)^ der
Tortreffliche, richtig beschaffene Mensch entspricht, so den
andern typischen Verfassungsformen, den Krankheitsformen des
büi^erlichen Zusammenlebens, auch Typen von Menschen, die
vom Ziel abweichen. Dazwischen kennt Plato noch mannig-
fache Übergänge {iiBxa^v xovtaiv\ die er unmöglich alle durch-
gehen könne (548 D). Es gibt bei diesen Bewegungen im
Leben der Polis und des Einzelnen auch Zeiten der Frucht-
barkeit und Unfruchtbarkeit (vgl. tpoQa und ag>OQla g)vxfjg
Rp. 545Dff.). Ein Heraustreten aus der normalen Ordnung
(öxacig) entsteht, wenn z. B. minderwertige Leute, die nur
ihre eigene Ehre oder Eigentumserwerb (löicoöaod^ai im
weitesten Sinne des Worts) zum Ziel haben, ins Herrscheramt
eindringen und die früher von ihnen wie Freunde und Er-
nährer geschützten Untertanen unterjochen (546 Äff.). Ver-
0Bp.442CD. 443 B.
^ iv , . » n^orixovaji [noXixsUc] avrog xs fiaXlov av^r^ctxai xal
fuxa xmr iSiwv xa xoivct awaeif 497 A.
Digitized by
Google
46
kehrang der richtigen Ordnung entsteht durch jedes Bestreben,
das nicht rein und lauter auf Tüchtigkeit, auf wirklichen
Vorzug gerichtet ist {elXixQiPtjg yrgog dQST^p)^ sondern den
kriegerischen Teil der Seele herrschen läfst, der selbstgefällig,
anmafsend und rücksichtslos nach Ehre strebt, oder dem be-
gehrlichen Teil die Zügel schiefsen läfst und nach Mehrhaben
verlangt (Rp. 545 D — 549 B). Wo aber die Reichen herrschen,
da haben die Armen keinen Anteil an der Herrschaft; wo der
Reichtum und die Reichen im höchsten Werte und in Ehren
stehen, da werden der wirkliche Vorzug und die wirklich
Tüchtigen umso weniger geehrt sein. Die Geldmenge ist aber
kein Wertmafsstab (oQog) für die wirkliche Befähigung zum
Herrschen. Es gehört dazu eine besondere Begabung und
Sachkenntnis. Wenn das Reich-werden-woUen zum allgemeinen
Ziel in einer Polis wird — und einer steckt da den andern
an — dann zerfällt schliefslich der Staat in zwei Staaten, den
der Reichen und den der Armen. Neben den Bettlern und
Halunken züchten die übermäfsig Reichen Nichtstuer oder
„Drohnen", die in ihrer Unerzogenheit und ihrem Bildungsmangel
weder zu Dienern noch zu Regenten taugen. Auch die Über-
völkerung bringt Arme, eine Menge von untauglichen Leuten
und für die Polis unnützen Menschenballast mit sich. Alles
Übermafs ist aber wie eine Entzündung oder eine Gesehwulst
am Staatskörper, Übergriff und Zuchtlosigkeit wie eine Eiter-
beule (vytovXov) am Einzehien. Alle menschliche Mittelmäfsig-
keit und Schlechtigkeit ist Krankheit, Makel (alöxoq), Schwäche.
Der Unverstand (avoia), die mangelnde Einsicht in die wahre
Ordnung der Dinge ist die schlimmste Krankheit (jiBylcxfi
voaog). Der gröfste Unverstand zeigt sieh in der demokratisehen
Verfassung und im demokratischen Menschen. Hier woUen
alle Teile in gleicher Weise herrschen, sodafis es schliefslich
kein Herrschen mehr gibt in dieser bunten zerfahrenen Um-
kehrung aller Ordnung, welche die Gleichheit in gleieher
Weise an Gleiche und Ungleiche austeilt Bei dieser „Frei-
heit^^, wie man die Anarchia nennt, glaubt jeder Eigensinnige,
er könne tun, was er will, er müsse jedes Verlangen, das gute
wie das schlechte, in gleicher Weise ehren und nähren. Nur
keine Ordnung und Beschränkung! Dadurch wird aber die
Einheitlichkeit und Harmonie der Polis vollends zerstört Statt
Digitized by
Google
4t
einer wohlvervralteten Stadtgemeinde haben wir eine Jahr-
marktsbude von Verfassungen; denn jeder Einzelne will
berrselien mit Beiner Verfassung, seinem Einzelbegehren and
seinem vermeintliclieii Besser- wissen. Es ist gleichsam ein
nervöser, iLopfloser Zustand, diese Verfassung der xoXvjtQay-
HoCvvTj. Die Seele wird empfindlich {djtaXog) gegenttber
allem, was nur nach Abhängigkeit klingt, aus lauter Angst, es
kannte irgendjemand irgendwie Herr sein (563 D). — Diese
Furclit ist ancli berechtigt. Denn alles Übermafs pflegt ins
Gegenteil nmznschlagen, wie bei Witterungen, Gewächsen und
im leiblichen Leben, so nicht am wenigsten in den Verfassungen
(563 E). Der Demos erzeugt den Tyrannen und zieht ihn grofs;
denn er bat ja in dem angenehmen Zustande der „Freiheit"
aneb die Freiheit die gröfste Ungerechtigkeit zu begehen. Nun
beberrscbt nnr noch der grenzenlos begehrliche Teil ihn selbst
nnd die Gesamtheit Dadurch ist das Ganze und der einzelne
Menscb dieser Verfassung voll Sklaverei und Unfreiheit Nicht
die wirkliehe Vortrefliichkeit, die ihn von der Furcht gestürzt
zu werden befreien würde, sondern ein Zufall {ovfig>oQa), ein
Hanfe Verschworener liefsen den Einzelnen zum Tyrannen
^werden. —
Gegenttber diesen Verkehrungen des gesunden Zustandes
bilft nnr eine Reinigung durch und durch (diaxad-alQsiv und
öiaxoöiietp). Es hilft nichts, hier und da ein Abhilfe -Gesetz
zu machen, das heifst nur an der Hydra schneiden; die in der
ganzen Ordnung des BUrgerlebens liegenden tieferen Ursachen,
der bösen Streiche und Unzuträglichkeiten (xaxovQYf)fiaTa)
mfissen schwinden (426 E), nnd in jedem Einzelnen mufs die
richtige Ordnung hergestellt werden.
f,Freiwillig ist keiner schlecht (minderwertig, untauglich),
dnreh irgendwie eine schlechte Beschaffenheit (igig) nnd
mangelnde oder falsche Pflege und Erziehung wird jemand
schlecht Man mufs die Erzeuger und Erzieher immer mehr
beschuldigen als Geschöpf und Zögling. Trotzdem nun mufs
jeder möglichst eifrig darauf bedacht sein, durch Erziehung
nnd Beschäftigung mit allem, was er zu lernen hat, die Minder-
wertigkeit zu fliehen und das Gegenteil zu fassen '^ (Tim. 86 B
bis 87 B).
Digitized by
Google
48
3. Einordnung und Unterordnung der einzelnen Vielen
in der Polis (Erziehung).
Bei ^Erziehung^ und „Bildung^' denkt Plato nicht an
n Sehale '^. Er kennt garnicht das, was wir die Schule nennen.
(Sie hat zudem meist die Poesie und einheitliche Lebens-
organisation des einstigen Klosters verloren.) Plato denkt bei
Erziehung und Bildung an die Eltern, einen Haussklaven, an
die Verwandten und Freunde, an Privatlehrer in allen damals
möglichen Künsten, die jeder sich nach Belieben wählt, an
das ganze öffentliche Leben, wie es sich auf dem Markte, be-
sonders in Volksversammlung und Theater abspielt, und er
denkt an heilige Haine.
Ungebildet nennt Plato den, der nur Schattenbilder sieht
und Schatten nachjagt, gebildet aber den, der die sonnenhelle
Wirklichkeit sieht und nach dem „Guten'* (Echten) strebt. Zu
dieser Bildung ist aber nicht nur eifriges Lernen und Streben die
ganze Lebenszeit hindurch erforderlich, sondern auch eine Art
göttliche Bestimmung {avTog>vwc d^da fiolga ayad-ol, vgl Men.
99 E dgeri] — d^ela fiolga jtaQaysvo/iivff}. So steht bei Plato
das Wohl -(glücklich -vortrefflich) -geboren immer neben dem
Gut-erzogen. Themistokles wäre ohne die grofse Bildungsstätte
Athen nicht Themistokles, aber der Seriphier wäre auch in
Athen nicht Themistokles. i) Eins kann nicht ohne das andre
sein, wenn das Leben nicht sein Ziel verfehlen soll (cbro-
Tvyx^y^^'^ — jtaQay>QOvetv Soph. 228 C).
Das Sinnenleben ist gleich mit der Geburt bei Menschen
und Tieren vorhanden, soweit sich Empfindungen (ptad^ij/iata)
durch den Leib zur Seele hinerstrecken; verntlnftige Über-
legungen aus dem Vergleichen aber {dvaXoylO(iaxa) mit der
Bichtung auf wahren Wert und Nutzen {ovölav xai cigfiXeiap)
werden erst mit Mühe nach langer Zeit durch viele An-
strengungen (TtgaYiiarä) und Erziehung hinzuerworben von
solchen, bei denen die Einsicht überhaupt noch hinzuentsteht
(Theait. 186 C). Zu dem eingepflanzten Begehren tritt die
hinzuerworbene Meinung, bald einig, bald im Streit mit dem
Begehren; richtig ist die Meinung, wenn sie nach dem Besten
strebt (Phaidr. 237 DE).
^) Rp. 329 £ vgl. Herod. 8, 125.
Digitized by
Google
49
Indem einzelne Vertraute and die vielen Andern dem
jungen, nenen Mensehen Yorstellnngen mitteilen, die irgendwie
RieUnng geben, vollzieht sieh der erziehende EinfloTs über-
haupt, dnrch den der Einzelne irgendwie in das gemeinsame
Leben sieh einordnen lernt oder eingeordnet werden mnfs. —
In der griechisehen Medizin erörterte man, wenn man von der
Vielgestaltigkeit der Seele ausging, die Frage naeh ihrem
ögäv jtQog xl and xa&eTp vxo rov, man könnte fast sagen
nach Beaktionsriehtangen and Empfindungsreizen. Die Rhetorik
entwiekelte im Anschlafs an diese hippokratisehen Gedanken
eine Art Meehanik des geistigen Lebens. Man fragte: Unter
dem Anreiz {'öjio) welcher Worte bzw. Reden mnfs eine Seele
je naeh ihrer Beschaffenheit ans bestimmten Beweggründen
notwendigerweise, d. h. aas der Not der Lebensverhältnisse
heraus, sich überreden lassen und gehorchen oder es nicht tun?
(Phaidr. 270 D ff.). — Wenn Plato auch in der Theorie die
Eängestaltigkeit der Seele oder doch die Einfachheit der Seele
des Weisen behauptet, so steht ihm doch bei seiner scharfen
Beobaehtung des tatsächlichen menschlichen Lebens das Spiel
der Kräfte lebendig vor Augen. Er hat vor allem die grofse
Bedeutung des Nachahmungstriebes erkannt und in den Vorder-
grund gerückt bei seiner Betrachtung des Einflusses, den die
Allgemeinheit auf das menschliche Individuum ausübt. Man
hat sich immer darüber beklagt, me wenig Verständnis Plato
in der „Politeia'' der Dichtkunst entgegenbringt, während er
sie im „Jon^ wie den Quell aus verborgener Tiefe gegenüber
dem blofsen Machwerk preist Man hat aber zu wenig be-
aehtet, dafs in der „Politeia^^ nicht ein Eunsttheoretiker, sondern
ein greiser Erzieher spricht, der zum ersten Male erkennt,
was wir noch viel zu wenig erkennen: die grofse Bedeutung
der Nachahmung im guten wie im schlechten Sinne (Rp.
395 C f.) 0 Man bat vor allen Dingen bei Piatos Eifer, die
Dichtung zu reinigen, verkannt, dafs in der modernen Kultur
dnreh die christliche Vorstellung von Gott, der zum ethisch
vollkonunenen Menschen wird, von vorneherein gegen un-
>) &a fit} ix xnq fAifiricBwq (des Minderwertigen) xov elvai ano-
lavcwatv . . . al fzifjuiaetg ... dg Js^ xttL <pfvoiv xa&loraviai xal xarä
aäfia xtd ^wvä^ xal xaxä zijv öiavoiav,
PbUoMphJtohe Abbandlimgan. XL. 4
Digitized by
Google
50
moralische NachabmuDgBmöglicbkeiten im Stoffe der Ennst ein
starkes Gegengewicht dem Kinde nnd dem Menschen bewnfist
oder anbewufst gegeben ist Man macht keine Einwendungen
gegen eine Schalbibel, das heifst „Reinigung^ der alttestament-
lichen Poesie ans pädagogischen Gründen ; ja, man will sogar
das alte Testament als ein in ethischer Beziehng mannigfach
anstöfsiges Bach ans dem Unterricht entfernen. Das Ziel, das
Plato im Aage hat, ist das, was wir heate den Kampf gegen
den Schnnd and Schmutz in Wort and Bild and die Jagend-
nnd YolksbttchereibestrebaDgen nsw. nennen. Er denkt an den
Einflafs der Kunst besonders nach ihrer rein stofflichen Seite
für innerlich nicht oder noch nicht gefestigte Menschen, wie
etwa wir nichts dagegen hätten, wenn unfeinen, unreifen oder
ungebildeten Menschen die Lektttre von Nietzsche oder Flaubert
verboten wttrde. „Das ist die schönste Muse, die immer die
Besten und hinreichend Erzogenen ergötzt und besonders einen,
der sich durch Tüchtigkeit und Bildung unterscheidet (öia"
g>iQsiv Leg. 658 E).^ Wenn die richtige Verfassung im Einzelnen
wie im Staate erst einmal wirklich hergestellt ist, dann soll
man jeden gewähren lassen, sagt Plato; und, wenn von frühster
Jugend an uns das richtige Ziel des dlxavov als eines d/a&ov
und §v(ig)FQop eingepflanzt würde, dann wäre jeder sein eigener
Wächter (Rp. 421 C, 367 A).
Aus der häafigen Nachahmung wird die Gewöhnung, ein
„ Gepräge ^S Die Jngendeindrücke aber sind besonders schwer
auszatilgen nnd nicht ganz umzustellen {övöixvutra xal dfis--
räörara). Darum ist vor allen Dingen zu bewerkstelligen, daia
das Erste, was die Kinder hören, aufs Schönste erdacht nnd
erdichtet ist und den Hörenden eine Richtung zur Tüchtigkeit
gibt (Rp. 378). Wenn sie nur schöne Werke sehen und hören,
so ist es, als ob sie an einem gesunden Orte mit gutem Weide-
kraut (ßoravTi) und in gesunder Luft (atga — „Atmosphäre^)
wohnen (4010). Ebenso wie für den Samen, so ist für den
einzelnen Menschen die Umwelt, in der er aufwächst, von ent-
scheidender Bedeutung (491 D ff). Plato en&ählt vom Sohne
eines Mannes, der still seine Pflicht tut. Der Jüngling kommt
hinaus ins öffentliche Leben, da hört er und sieht er allerlei
andres, da hört er, dafs man die Leute, die ihre eigne Auf-
gabe und Pflicht erfüllen, Dummköpfe und „unbedeutend^^
Digitized by
Google
51
nennt-, die aber in Alles ihre Nase stecken nnd „Alles mit-
maclien'^, die werden geehrt nnd gelobt Es entsteht ein langer
Kampf in seinem Innern, ein „Umwerfen ^\ nnd die Akropolis
seiner Seele wird in Besitz genommen dnreh die falschen nnd
prahlerischen Reden und Meinungen, die bloise Ehre, Reich-
tum, Nichtstun oder Vielerlei-kOnnen als Ziel fttr das Leben
preisen.
Erziehung ist ein „Hindurchftthren durchs Leben, sodafs
jeder so lebt, dafs sein Leben für ihn am vollkommensten die
anfgewandten Kosten ersetzt^^^) Arbeit wird von jedem gefordert
Durch zielvolle Arbeit und Erziehung hebt sich der Mensch
ans dem psychischen Getriebe heraus, das er mit den Tieren
genoeinsam hat Die Erziehung soll nun jedem sein Arbeits-
ziel geben, durch das er in den gemeinsamen Arbeitsaustausch
der Polis in richtiger Weise eingegliedert ist Die Viel-
geschäftigkeit ist die grofse Ungerechtigkeit, der Übergriff aus
der eignen von Natur gewiesenen Sphäre in die des Andern.
Nicht durch ein möglichst grofses individuelles Belieben, auch
im Faulenzen, Zechen und Schmausen^ sondern dadurch, dafs
jeder seine richtige Arbeitsform und darin stolze Haltung, sein
Oj^fia haben und ihm treu bleiben kann, hat der Staat seinen
Bestand und sein Glück. Die Erzieher müssen zusehen, wie
sie den Einzelnen geben, was ihnen zukommt und dadurch
daa Ganze schön gestalten (420 D ff.).
Damit jeder sein besonderes Können {ixtctruiTi) entwickelt,
mnfs er seine Kunst von Jugend an betreiben und reichlich
im Hinblick auf ein Ziel ttben (jiBUxri Ixavri 374 CD). Es gibt
zwar Leute, die behaupten, es gäbe in der Seele garkein
Können {ixicti^iifj), und durch Erziehung wttrde es erst dem
Einzelnen eingepflanzt, wie man blinden Augen das Sehvermögen
einsetze. Dem gegenüber ist zu behaupten, dafs jeder Seele
ii^nd eine Fähigkeit (övvaficq) innewohne, und dafs das
Organ, mit dem ein jeder begreifen lernt, mit der ganzen Seele
aas dem vielen Werden herausgeführt und herumgedreht werden
mulji, bis der Blick auf ein Ziel, ein Sein, ein Gutes gerichtet
ist Die Erziehung ist also ein Umlenken {xegiayaryii} eines
9 ßiov 6iaY(»Yii, if av Siayofievog ^xaatoq fjfiwv XvciuXsatcizriv
fflwyr 5y'7Bp.a44E.
Digitized by
Google
52
Organs, das noch nicht auf den richtigen Gegenstand hin-
gelenkt ist
Darch Gewöhnungen and Übnngen {id^söi xal aaxi^Böip)
werden alle sogenannten Vortreffiichkeiten {agsral) erworben.
Sache der Erzieher ist es nnn, die Befähigung eines jeden zu
erkennen (ßaaavl^Biv)^ ja es ist Aufgabe des Staates, die Seelen
auf ihre Standhaftigkeit hin überhaupt zu prüfen (Leg. 650 B).
Die Kleinen sollen schon bei den Spielen geprüft werden, und
in den Kinderspielen soll eine schOne Regelung und Zweck-
mäfsigkeit (sivoiila) walten. Man soll durch Darbietung
kleiner Werkzeuge bei den Tätigkeiten, zu denen jeder sich
eignet, Spiel und Berufsernst verbinden und in der Seele des
spielenden Kindes einen Eros nach yollkommener Meisterschaft
erwecken. Gebildet und ungebildet besteht nicht darin, dafs
man Lehrjahre oder keine Lehrjahre in einem Kramladen,
Bhedereibetrieben und dergL durchgemacht und überhaupt
blofs vielerlei gelernt hat. Zur Bildung gehört Tüchtigkeit,
Meister sein in etwas und dadurch ein brauchbares Glied in
der Gemeinsamkeit der Bürger; zur Bildung gehört in der
richtigen Weise herrschen und über sich herrschen lassen
{jUBxa ölxfjg)J) Das heifst: in seiner Kunst der Überlegene
sein und in der Kunst des andern Sachverständigen diesem sich
unterordnen. Viele und mannigfache Kunstzweige {ixiönjfiai)
gibt es in der Polis. Unrichtig ist es, wenn einer sieh auf
vielerlei Beschäftigungen wirft und sich zersplittert {xoXv-
jtqayiiovtlv = döixla). „Besser ist wohl Weniges gut als
Vieles nicht genügend zu vollenden (Theaii 187 E).'' Alles
wird vollkommener, schöner und leichter, wenn einer nur eine
Kunst betreibt, nicht als xQOöxoiovfisvog, als einer, der sich
herangemacht hat und tut, als könnte er etwas, sondern seinem
Wesen gemäfs, am rechten Fleck {kv xaigm) und frei von dem,
das andrer Leute Sache ist (Rp. 370 C).
Der Mensch, der einheitlich ist in seiner Berufstätigkeit,
wird auch, was seine Seele und das Seine anbetrifft, einheitlich,
einer aus vielerlei Trieben, gesundsinnig* und harmonisch
(443 D ff.). Die Erzieher sollen die Kinder nicht eher frei,
d. h. ins öffentliche Leben lassen, bis in ihnen die richtige
>) Rp.425A. Ug.648Bff.
Digitized by
Google
53
VerfasBang tiergestellt ist, bis die Einsieht über die andern
Seelenteile herrscht Vorbildlich erschien aaf der Insel Atlantis
die Erziehung der Menschen dnrch die Götter, die dnrch die
Überredung die Seele anfafsten (jreiO-ol tpvxfjg ifpanxopLBVoi
Kritias 109 C). Vorbildlich erschien Plato bei der schwierigen
Aufgabe die Geister zu prüfen, die sokratische Kunst des
Herausholens {tix^ri r^g fiauvöea)g) und der pädagogische
Grundsatz: Sage niemals, dafs Du nicht imstande bist; wenn
der Gott es will und Da mannhaft bist, wirst Du fähig sein
(ploq TS €Osi Theaii 150 B ff.). — Über die ganze Art des
TJntorrichts sagt Plato: nicht anfgenötigt soll das Lernen den
Kindern werden; der Freie soll keinen Lerngegenstand wie eine
Sklayenarbeit auf sich nehmen; denn ein mit Gewalt auf-
gezwungenes Lernen haftet nicht in der Seele. Lafs die
Kinder spielend lernen, damit Du auch besser imstande bist
ZQ sehen, wozu ein jeder von Natur geeignet ist (Rp. 536 DE).
Wenn die berufenen Erzieher der Stadtgemeinde und nicht die
Wünsche der Eltern darüber entscheiden, welchen Beruf der
junge Mensch ausüben soll, dann kann der Sohn des Herrschers
auch seiner Anlage entsprechend ein Handwerker werden und
der Sohn des Handwerkers zum Wächteramt emporsteigen, i)
Denn nicht das Glttck irgend einer Familie, Gruppe oder Masse
hat der richtig beschaffene und gerechte Staat im Auge, nur
das Glttck des Ganzen und damit das des Einzelnen, soweit
jeder in der Erfüllung seiner Aufgabe und in seinem Vermögen,
etwas zur Förderung des gemeinsamen Lebens mitzuteilen,
sein Glück sieht (Rp. 519E). „Das Beste für einen jeden ist
sein Eigenstes {olxBioxaxov 586 D)."
Dieser Staat wird sich nicht in Klassenkämpfen verzehren,
sondern ein edler Wettstreit zwischen den Tüchtigen wird an
dessen Stelle treten. Denn jede Kunst, jede Arbeit um der
Saehe willen ist neidlos {g>cXov6ixslT(D öh ^filv xäq nqoq
OQST^ dgpd-ovcog' 6 fihv yctQ toiovtog toq ytöXsig avgei,
aiiiiicifiBPog fiiv a&toq Leg. 731 A). Der richtig beschaffene
Mann will niehts vor dem voraus haben, der seinerseits richtig
9 Bp. 41SAff' Leg. 788 A f. sprloht Plato von kleinen privaten £r-
mbüngSBÜnden in Hans und Familie, die von grofter Bedeutung fttr den
Stutmnd.
Digitized by
Google
54
bescbaffen ist, sondern nnr vor dem^ der in ein fremdes Gebiet
ohne Sachkenntnis ttbergreifl.
Mit der Bemfstttehtigkeit sieht Plato die sittliche Tüchtig-
keit verbunden und gewährleistet, da alle Begierden, die über
das MafiB hinanswollen, dnrch die Einsicht beherrscht werden.
Alle Buchstaben -Gesetzlichkeit erscheint ihm lächerlich, das
Gesetz soll in den eignen Willen aafgenommen werden, anf
die innere Lauterkeit des Strebens kommt es an (Leg. 822 E ff.).
Bisher hat man vernachlässigt, Überredung und Gewalt in der
richtigen Weise zu mischen, man wandte nur die blofse Gewalt
an {ßla axQaroq), Die Erziehung ist die grofiBe Vorrede (xqo-
olfiiop) zu den Gesetzen, die befehlen und den Zwang im
Gefolge haben; denn sie sind der Ausdruck des^richtig ver-
standenen Gesamtwohles gegenüber allzu grofser Selbstliebe
des Einzelnen. 0 Man soll nicht zulassen, dafs jeder nur
seinem Belieben nachgeht, sondern den Einzelnen beurteilen
nach der Brauchbarkeit für die Polis.
Der Hinblick auf das, was für das Ganze förderlich ist,
der öxoxog des ayad^ov, schliefst nun nicht nur gegebenen
Falls eine erzwungene Unterordnung, sondern auch die Unter-
drückung oder Ausscheidung Einzelner in sich. Wenn wir
Plato nicht ganz unhistorisch beurteilen wollen, so müssen wir
nie vergessen, da£s die Humanitätsidee, die uns schon zu selbst-
verständlich geworden ist, für einen autoohthonen Griechen
nicht existierte. Man kannte überhaupt nicht die Ängstlichkeit
um ein Menschenleben als solches, die heute fast zur Reflex-
bewegung geworden ist. Man hat sich darüber gevnindert,
dafs er den Eritias, der wie ein Renaissance -Mensch ohne
Bedenken alle hinderlichen Menschen aus dem Wege schaffte,
immer in Ehren behalten hat Aber Plato selbst sieht, dafs
zur Verwirklichung einer gut eingerichteten und verwalteten
Polis die Entfernung der Untauglichen, unheilbar Kranken and
der das Ganze schädigenden Elemente nötig ist. Er kennt
nicht den ökonomischen Wert des Menschen. Die Voraus-
setzung für die Erziehung der Bürger zur Tüchtigkeit ist, dafs
eine tüchtige griechische Rasse gezüchtet wird.
Die Sklavenfrage ist in erster Linie für ihn eine Rassen-
>) Vjl. Lej. 722Bflf. 781 Eff. Rp. 520 A.
/Google
Digitized by ^
55
frage und keine Menschenfrage. Gute Sklaven, das heifst
Barbaren, kalt der Grieche, der sich seiner Überlegenheit
bewnfst ist, wie gute Pferde nnd Nntztiere ttberhanpt. Aber
der Grieche hatte zu einem gaten Sklaven wohl meist ein
vertranlicheres Verhältnis, als hente die vornehme Herrschaft
zam Dienstpersonal; die gesellschaftliche Trennung zwischen
den Sländen ist vielleicht schärfer und empfindlicher als die
politische Trennung zwischen Bürgern und Sklaven im alten
Hellas. Man denke nur an das freundschaftliche Verhältnis
zwischen Odysseus und Eumaios, der selbst Gutsbesitzer ist.
Ein Sklave verwaltete das grofse Vermögen des Perikles, und
einem Sklaven vertrauten die vornehmen Athener ihre Söhne
zur Erziehung an.i) Plato will den Sklaven, auf den er ebenso
herabsieht, wie wir etwa auf einen Herero oder Zulukaffer,
freundlich behandelt wissen ; in der groben launisch-herrischen
Behandlung der Dienenden zeigt sich ihm ein ungebildetes
Wesen (Rp. 548 E. Leg. 777 B ff.). Die aber, welche die Sklaven
schlecht behandeln, die schaffen noch mehr Sklavenseelen.
Schon um unseretwillen sollen wir sie gut behandeln und uns
mehr hüten, ihnen Unrecht zu tun, als den Gleichgestellten;
denn denen Unrecht zu tun, die das Recht nicht in Anspruch
nehmen können, ist leicht
So wie im Privatleben der Sklave nach seiner Tauglich-
keit beurteilt wird, so der Bürger auch im Leben der Polis.
Plato ist davon überzeugt, dafs die vorwiegend körperliche
Arbeit des Handwerkers und die Tätigkeit des Menschen, der
nur auf Erwerb ausgeht, gamicht Mufse und Möglichkeit zu
feinerer Bildung und dem ganzen Leben ein gröberes Gepräge
gibt Er verachtet den Handwerker und den Krämer nicht
mehr, als der Gebildete unserer Tage, der sich tatsächlich in
der Regel völlig von den unteren Ständen gesellschaftlich ab-
schliefst Es ist vor allen Dingen nicht genügend beachtet,
daifl Plato sehr scharf unterscheidet zwischen der Kunst im
Handwerk, Weisheit und Mafs im Erwerb und dem Banausentum
und der Krämerseele. Er spricht im Symposion von den Er-
ßnäerisehea nnd Dichtem und Künstlern überhaupt (dijfiiovQYol)^
deren Seele von Eros empfangen hat; darunter versteht er
j) YgL auch Ed. Meyer, Die Sklaverei im Altertum. Dresden 1899.
/Google
Digitized by ^
56
aach z. B. den Tischler, der in seiner Weise dasselbe tut wie
der Gott Dieser grofse Werkmeister macht alles, was eio
jeder der Handwerker tat Für den tüchtigen Handwerke:
jeder Art gebraucht Plato dasselbe Wort „weise*^ wie fttr den
Philosophen. 1) Die geringste mechanische Handarbeit will er
in seiner Polis der Idee des Guten untergeordnet sehen. Nicht
ünerfahrenheit und Unwissenheit ist das gröfste Übel, sondern
ein Yieles-probieren ohne leitenden Gedanken und Vielwisserei
ohne Stil {ayarffi, Ausdruck fttr Stil in der Rhetorik ; Leg. 819 A).
Warum aber glaubst Du, dafs die geringste Arbeit und das
Handwerk Schande bringen? Warum verachtest Du den Hand-
werker? sagt Sokrates ebenso im Gorgias. Ist es nicht darum,
weil ein solcher von Natur nur in schwacher Form die Idee,
das Bild, das Ziel des Besten bat, sodafs er nicht herrschen
kann über die Bestien in ihm, sondern ihnen dienen mufs?
Damit aber auch ein solcher von dem Gleichen wie der Beste,
von dem Guten, beherrscht wird, darum sagen wir, er mufs
sich jenem Besten unterordnen, der das Göttliche, das schöne
Vorbild fttr alles Streben als Beherrschendes in sich trSgt
Also jeder Beruf soll so gehoben werden, 'dafs er, wenn auch
in noch so untergeordneter Art der Arbeit, sich bestrebt, ein
Gutes zu schaffen.^)
Auch für den gewinnliebenden und kriegerischen Teil der
Polis gilt, dafs fttr jeden der eigenste Beruf das Beste ist,
wenn die Begierden sich der Einsicht {kjtiöxijfifi und loyog)
unterordnen. Im Gelderwerb kommt es auf Ordnung und Zu-
sammenstimmen mit dem Ganzen an {j^vvta^ig und ^viig>copla)^
sodafs die rechte Mitte zwischen der schädlichen Disharmonie
von unersättlicher Anhäufung von Schätzen und gieriger Armut
avaoi;. Vgl Symp. 203. 209 A£. Bp. 596 C.
*) Bp. 500 C£f. Piato will den Beruf ähnlich aufgefafst wissen, wie
ein Plastiker unserer Zeit, Auguste Bodin (in seinen GespriEchen, ge-
sammelt von Gsell, Leipzig 1912 S. 317). „Es wäre aber zu wünschen,
dalB es in jedem Beruf Künstler ^be: Zimmerleute . . . Maurer . . . Fuhr-
männer . . . Das gäbe eine wunderbare Gesellschaft ...**— Plato nimmt
mit Hesiod an Igyov ovSlv elvai oveiSo^ und unterscheidet zwischen
Sklaven-Arbeit (Fabrikware) oxav /jiij fjiexd xov xaXov ylyvexai und den
xaXcSg xal (i^sXlfjtotq notovfieva Igya, Charm. 169 Äff.
Digitized by
Google
57
innegebalten wird. In allem Überschreiten der Grenze liegt
das Übel und die Ungerechtigkeit (Rp. 586 D ff.). Die Weisheit
{öog>la), die sieh auf Geldangelegenheiten nnd die Körperkraft
erstreckt, ist nur ohne Vernunft nnd richtige Weise (ävsv vov xal
ötxfig) banansiseh, nnfrei nnd nicht wert, Bildung zn heifsen.
Vortrefflich sind, die sich beherrschen können, nntanglich,
minderwertig, die es nicht können (Leg. 644 A).
Nur im Hinblick anf die Unerzogenen nnd die grof se Masse
derer, die sich nicht beherrschen können, will Plato Dichtem
und Schauspielern, die irgendwie Mängel und verderbliche
Leidenschaften im Menschen darstellen, freundlich die Stadt
verbieten. Es ist darin etwas von dem Eifer für eine zum
ersten Male in ihrer Bedeutung für das staatliche Leben er-
kannte alte Wahrheit, dafs böse Beispiele gute Sitten verderben,
etwas von dem Eifer des Moses fttr den einen Gott gegenüber
den Bildern und Gleichnissen des Volkes und etwas von dem
Eifer Tolstois ,,gegen die moderne Künste V Xoyog rjfiäg ggsi
(Rp. 607 BC). Von Zwietracht unter Bürgern und unter Göttern,
von Trunkenheit, Verweichlichung, Trägheit, Lug und Trug soll
keiner in der Polis der Möglichkeit der Nachahmung wegen
hören. Vor allem sollen die Bürger von der Gottheit nur
erfahren, dafs sie gut ist und nur Ursache von Gutem, und
die Dichter sollen nur Vorbilder von Vortrefflichkeiten geben.
Das ist das allgemeine Gepräge {rvjtog), nach dem sich der
Dichter als Lehrer der Polis richten mufs. Innerhalb dieses
Typos mag er frei gestalten. i) Plato sah den Trieb nach Zer-
splitterung des eigenen Wesens im Menschen des alten Athen
durch die Dichtungen nur bestärkt Besserung erwartet er
nur von Konzentration des Einzelnen auf seine Berufsarbeit
und von der Erziehung zur Selbstbeherrschung, soweit es noch
mögUeh ist.
Einen Mann, der in den besten Jahren infolge seiner
Zttgellosigkeit kränkelt, soll man auch schon der Nachkommen
wegen nicht hegen und pflegen, auch nicht, wenn er reicher
als Midas wäre, da es weder für ihn noch fttr die Polis einen
nützlichen Zweck hat Man soll den Tod derer, die ganz
') Bep. 398 ff 379 A. —Adam sagt in seinem Kommentar: hisideaot
beaolj Ig snffieiently eomprehensive to inclnde moral and spiritoal beauty
«8 well as physical L S. 165.
Digitized by
Google
58
minderwertig geraten nnd anheilbar sind, sogar herbeiführen,
da es für sie nnd die Allgemeinheit das Beste ist Warum
sollte eine planmäfsige Rassezueht, wie sie bei Pferden nnd
Hunden geübt wird, nieht auch bei Menschen mOglich sein, um
das Unedle ansznscheiden? Der Staat aber hat es allein in
den Händen, eine edle Rasse heranzuziehen. Hierin findet
Plato eine der wichtigsten Yoranssetzangen für die Möglichkeit
eines gesunden, gemeinsamen Lebens (Rp. 459). (Wir sehen,
wie in der Gegenwart durch ein besonderes Organ für Rassen-
hygiene Piatos Gedanke wieder aufgenommen wird.)>) Hier
sieht er auch ein Mittel, die Auswahl der Besten, der Herrscher-
natnren, planvoll von vornherein zu gestalten.
L Überordnung Einzelner oder des Einen
in der Felis (das Wäehteramt).
In seinem pädagogischen Roman „Erziehung des Kyros^
nennt Xenophon drei Bedingungen für die Befähigung zum
Herrscher: die Abstammung, die natürliche Anlage und die
Erziehung {yevEd, gwöig, otaiöüa 1,1, 6). Diese drei Momente
sollen auch die Wächter der vorbildliehen Stadtgemeinde, die
Plato ins Leben rufen will, bei der Aussonderung eines
tüchtigen Herrschergeschlechts ins Auge fassen. Die edelsten
Paare sollen ausgewählt werden. In die Zuchtrasse, deren
Fortpflanzung genau geregelt ist, sollen jedoch tüchtige Spröfs-
linge aus der gesamten Gemeinde der Bürger aufgenommen,
dagegen mittelmäfsige Erzeugnisse des Herrschergeschlechts
der übrigen Bürgergemeinde zugewiesen werden. In der Regel
wird ja der Sohn edler Eltern Gold in sich tragen (vjro;^(>vaoc),
wenn aber ein Spröfsling aus dem Wächterstande geringes
Metall in sich trägt, soll man nicht das Mitleid walten lassen,
sondern der Natur die ihr zukommende Ehre erweisen und das
Kind zu den Handwerkern oder Bauern bringen; und wenn
aus diesen irgendeins stammt, das Gold oder Silber in sich
0 Sommers VererbungsforschuDg und die Psychiatrie hat diese
Frage besonders nahegelegt. In einer eben erschienenen Schrift von
H. Bayer, Über Vererbung und Rassenhygienie, Jena 1912, wird die Er-
wartung aasgesprochen, dafs die „Eugenie** auch einmal staatlich organi-
siert werde S. 50,
Digitized by
Google
59
hat) BO Boll man es io den Kreis der Wächter oder ihrer
Helfet liinanfflibTeii (Bp. 415 Äff. 432 C). Es gilt nnn in jeder
Weise zn forseben nnd zn prüfen, ob einer so wohlgestaltet
(j^GxqiKBv) ist, um in den Kreis der Edlen aufgenommen zn
werden oder wert ist nnd sieh bei der Erziehung wert zeigt,
in diesem Kreise zu bleiben. Plato fordert also, modern
gesprochen, eine staatlieh organisierte Begabnngsforschung, da
er in der Bernfsverfehlnng das gröfste Unheil, dje gröfste
Ungerechtigkeit (unrichtige Beschaffenheit) zugleich im Leben
des Einzelnen und des Staates sieht (top siigyvi] XQoq exacra
xal TOP lifi oQi^eadai Rp. 455 C).
Der Auslese, die durch die Natur nahegelegt ist, tritt
nnn die Auslese zur Seite, die durch die Kunst der Erziehung
ansgettbt wird. Lernen vollzieht sich, so lehrt uns schon das
Kind, das dem Töpfer bei seiner Arbeit zuschaut, durch An-
schauung und Erfahrung (ß-ia und ifdxsiQla x&v ytQOCfixovrcDv)
dessen, was einem jeden „liegte Nun ist der, welcher nach
Einsicht ins Wesen der Dinge strebt, von dem nur Schaulustigen
nnd Neugierigen und von dem technisch und praktisch ver-
anlagten Menschen zu unterscheiden, der an dem Vielerlei der
Vorstellungen haften bleibt Er begnügt sich mit einer richtigen
Meinung, die lichter ist als die Unwissenheit, aber dunkler
nnd verworrener als die klare Erkenntnis. Es ist bei dem
Lernen wie bei dem Geschmack an Speisen. Die, welche die
Natnr nicht antreibt (ixiöjtsvasv)^ sollen nur Lesen und
Sehreiben aufser ihrer praktischen Fertigkeit erlernen. Es
gibt eine Stufenfolge in den Wissenschaften, genauere und
nngenauere Künste, wie es eine Rechenkunst fttr die Vielen
nnd die Gebildeten gibt Eine Wissenschaft ist reiner als die
andera Wer ohne Qual (svx^Qcog) das reine Wissen in seinem
ganzen Umfange kosten will, mit Freuden ans Lernen geht und
darin unersättlieh ist, den werden wir in richtiger Weise zum
Philosophen bestimmen (ßr d/xg iprjCofiBv)^ der die Wahrheit
zn schauen und alle Dinge nach der Idee des Guten zu ge-
stalten strebt Eine kleine Natur (ciiixQa q>voig) kann niemals
etwas Grolses für den Privatmann und ^e Polis tun. Wenn
solche Menschlein {avd^Q<oxlcxoi\ Handwerker und Unberufene
fiberbanpt sich an die Philosophie machen, so gleichen sie
dem fnschgebadeten Schmiedeknecht im Bräutigamsstaat, der
Digitized by
Google
60
die Meisterstochter freien will. (So bekämpft Plato das „Bildangs-
Proletariat^*.) Was für Gedanken und Meinungen können da
nur erzengt werden! i)
Gute Pflanzen müssen einen besonders guten Boden haben.
Eine vortreffliche Natnranlage, der die entsprechende Erziehung
fehlt, pflegt ins Gegenteil umzuschlagen. So wird aus der könig-
lichen Natur der gröfste Verbrecher, der Tyrann, der nur auf
den eigenen Vorteil bedacht ist. Je gröfser die Arbeitsaufgabe
der Wächter ist, umsomehr bedürfen sie der sorgfältigsten
Ausbildung, frei von den geringeren technischen Arbeiten und
frei von störenden und schädlichen Einflüssen (374 E). So soll
für die angehenden Herrscher wie einst fttr die Spartiaten eine
Sondererziehung und eine Erziehungsgemeinschaft geschaffen
werden. In dieser soll jede Besonderung ausgeschlossen sein,
die auf dem blofsen Mehrhaben an Besitz beruht, wozu der
Grieche auch Weib und Kind rechnet (lölmoiq diaXvei). Jede
Besonderung des Einzelnen soll sich nur auf seine Tüchtigkeit
als auf seinen Eigenwert gründen {olxelä riiifj). Die Wächter
sollen das Gold nur in ihrer Seele tragen, (ein &6tov xaga
Das Ziel der Tüchtigen ist die gesunde Mischung von
Einsicht und Tatkraft. Sie wird durch gleichmäfsige Ausbildung
in den musischen und gymnastischen Künsten erreicht. Denn
musische Ausbildung allein verweichlicht, während körperliche
Übung allein verrohen läfst In den Darbietungen der Dichter-
werke soll alles getilgt werden, was zur Nachahmung von
Zügellosigkeit, Schlaffheit und zu grofser Eigenliebe veranlassen,
alles, was Furcht erregen und wehleidig stimmen könnte. Da-
gegen sollen Vorbilder von freien, gesunddenkenden und
tapfern Menschen den angehenden Wächtern und Helfern vor
Augen geführt werden.
Weib und Kind sollen nicht mehr, wie in der Familien-
Ordnung, als Eigentum betrachtet werden von denen, deren
ernste Aufgabe ist, immer nur das Wohl des Ganzen und
nicht den niederen Seelenteilen zuliebe das eigne Wohl und
das der Familie im Auge zu haben. An Stelle der Familie
will Plato aus diesem Grunde eine Art Wahlverwandtschaft
0 Vgl. Rp.467A, 475Bff, 478C. Leg. 810B. Phileb. 56Cff. Rp,
495 Bff.
Digitized by
Google
61
unter den edelaten und tüchtigsten Männer nnd Frauen ein-
treten lasBen, die Lust und Leid eines jeden Einzelnen als
gemeinsam fttblen. Die alten, vertrauten Namen Vater, Mutter,
Brader, Schwester werden nun eine neue, eigene Bedeutung
bekommen. ^)
Die Frauen, die auch ihrer Befähigung entsprechend aus-
zusondern sind, sollen mit den Männern in Musik und Gymna-
stik wetteifern. Darin stimmt Plato mit Euripides ttberein,
wenn Medea das stolze Wort spricht: „In vieler Beziehung
unterscheide ich mich vorteilhaft von vielen Männern '^ und
der Chor der Frauen singt: „Auch fttr uns ist die Musel^^)
So sollen die Frauen in allen Lemgegenständen und in der
Berufstätigkeit, soweit es ihre im allgememen schwächere Natur
znläljst, den Männern zur Seite treten, dem Grundsatze gemäfs,
dafs jeder seiner Anlage entsprechend nur das Seine treiben
soll Zwar gibt Plato zu, dafs die Anlage von Mann und Weib
verschieden ist, doch warnt er vor falschen Verallgemeinerungen.
Es wäre so, als wenn man sagen wollte: weil ein Kahlkopf
and ein Langhaariger verechieden seien, dürften nur Kahlköpfe
z. B. Schuster werden (Rp. 453 £ ff.).
Im Hinblick auf die blofse Eigenliebe, mit der die Mutter
ihr Kind liebt und beurteilt, will Plato auch der Mutter ihre
eigentttmliche Aufgabe nehmen, damit nicht kurzsichtige Wünsche
der Eltern zur gröfsten Ungerechtigkeit gegen das Kind ftlhren,
indem es zu einem Beruf bestimmt wird, der ihm und dem
Ganzen nicht zum Heile dient
Der Sinn ftlr das allgemeine Beste mufs vor allem in denen
grolsgezogen werden, die fttr das allgemeine Glück und nicht
ftlr das Glück irgendeines Geschlechtes oder Standes einst
sorgen sollen. Der Herrscher ist der, in welchem der Allgemein-
sinn am stärksten ausgeprägt ist Wenn die Wächter Eigentum
besitzen, werden sie Haus- und Landwirte, anstatt Wächter
der ganzen Polis. Sie werden feindliche Despoten der übrigen
Bürger anstatt ihre verbündeten Mitkämpfer. Der Kampf um
das Eigentum würde sie in das ganze häusliche Getriebe des
') Ep. 463 G ff. Ähnlich bezeichnet Christas die als seine Verwandten,
dk den WUlen Gottes tan.
^ y. 579 noU.a noXXotg SiaipOQoq; 1085 fxovaa xal rjfuv^ vgl. Rp.
455 Bß.
Digitized by
Google
62
Haasens und Gehafstwcrdens hineinreifseD, so dafs sie mehr
Feinde im Innern als die Feinde von anfsen her fttrohten
mttTsten (Rp. 415ff).
Der Kampf im Innern soll aaf ein anderes Ziel als die
Gegenstände des Begehrens gerichtet werden. Der alte
hellenische Agön erscheint in neuer Form. Das neue Ziel ist
der vollkommene Mensch, dem wirklich die Herrschaft gebührt
oder eine Einheit von vollkommenen Menschen. Dieser Einheit
würden die vielen Einzelnen sieh unterordnen, meint Plato,
wie der Idee des Guten die andern Ideen und einzelnen Dinge.
Im vollkommenen Menschen sind Leib und Seele zur schönen
Harmonie, zur evsgla ausgebildet; milde und hochgemut ist er
zugleich seinem Charakter nach (375 C).
Das läfst die „Asketik" Piatos in einem andern Lichte
erscheinen, als sie durch die christliche Tradition überliefert
ist. Sie hat Plato vielfach zu sehr im Sinne ihrer Abtötungs-
lehre betrachtet Er fordert vielmehr, der wachsenden Genufs-
sucht entgegen, vernünftige „Hygiene^^ und Lebensweise (d/afra).
Ohne gesundes Denken (ö(og>Qovstp) ist alle Pflege des Leibes
wertlos (Lysis). Er berührt sich in seinen Forderungen mehr
mit denen einer mafsvoUen Sport-, Antialkohol- und Pflanzenkost-
bewegung der Gegenwart als mit den opera supererogationis. ^)
In der „Politeia^^ fordert er nur Regelung und Mafshalten im
Liebesgenufs, in den „Gesetzen*' sogar eine Art Junggesellen-
steuer, den Wein verbietet er der Jagend bis zum 18. Lebens-
jahre.
Läuterung des sinnlichen Lebens, Erhebung über das blofise
Leibliche fordert Plato von den Wächtern. Eine doppelte „Be-
kehrung'S eine fisraarQoq)r] erleben sie, die Hinwendung zur
Welt der Ideen und die Hinwendung wieder zum tatsächlichen,
vielgeschäftigen Leben, um es nach der vorbildlichen Ordnung
der Dinge zu gestalten; in Piatos Bilde: das Hinausgehen ans
der Höhle ans helle Licht der Sonne, und die Rückkehr zu
den armen Gefesselten in die Höhle. Eine Allgemein -Wissen-
schaft, der alle einzelnen Wissenschaften untergeordnet sind.
*) Bp. 57IE fiiJT€ ivSeia fjiijte nXtiafjiovy, vgl. auch O.Apelt, Der
Wert des Lebens nach Piaton, (Abhandl. der Friesschen Schale Gott 1907;
auch in die Plato -AuMtae 1912 aufgenommen). Pater betrachtet das
„poritanische Element** als sokratisch.
Digitized by
Google
63
dient als Erweeker der Erkenntnis {lYeQuxop voi^aecog): die
Mathematik. Die Ansbildang in dieser Kunst und in der Kunst
des ricktigen Denkens fbhrt zam Schauen der wahren, mafs-
gebenden Ordnung des Seins {öiaXsxrixfj . . . Scxsq d-Qiyxoq
TolQ na^fiaoiv . . . kxavm 534 £). Die mehr als laienhafte
(2dia»rix€5^) Beschäftigung mit der Rechenkunst {Xoyi6TiX7i\
die nicht nur dem egoistischen Vorteil dient, läfst den eigen-
tümlichen Blick dafttr gewinnen, dasselbe zugleich als Einheit
und unendliche Vielheit zu sehen, das wesenhafte Sein von
blolsen Schattenbildern zu unterscheiden, i) Die in der Polis
zn Ehren gelangen wollen, müssen in der Kunst zu sondern
und zu besondern, zu einen und zn vereinheitlichen besonders
tüchtig sein.
Nur wenige bleiben, denen der Bestand der Erinnerung
an die Vorzeit der Seele, da sie ihrem Gott folgte, genügend
gegenwärtig ist; nur wenige sind es, denen in ihrem Leben
die Fesseln gelöst wurden, die hinausgingen und die einzelnen
Dinge in scharfer Klarheit schauten und die eine Sonne, die
Idee des Guten, von der alte ihr Licht empfangen, nach der
alle einzelnen Vorbilder gestaltet sind. ^) Der von Gott wirklich
erfbllte Mensch, der seine Gedanken auf das Wesenhafte richtet,
hat keine Zeit, sich auf die Händel der Menschen einzulassen,
um sich mit MiTsgunst und Feindseligkeit zn erfüllen. Er schaut
nur auf die ewige Ordnung; diese sucht er nachzuahmen, dem
Gott sich möglichst anzugleichen. Im Verkehr mit dem Gött-
lichen und Schönen wird der Philosoph selbst in sich schön,
geordnet und göttlich (500 CD. 5036.).
Und wieder wenige sind es, bei denen sich diese Liebe
zur Weisheit und Schönheit mit der Kraft zu gestalten, mit
Herrschertttchtigkeit verbindet So geht die Auswahl innerhalb
der Wächtergemeinde immer weiter. Weder der Ungebildete,
der nie zum Schauen gelangt ist, noch der, welcher ohne be-
stimmtes Ziel im gemeinsamen Bürgerleben immer auf den
seligen Inseln der Bildung bleiben will, ist für das Herrscher-
amt zu gebrauchen. Der Philosoph muls gewaltsam umgesiedelt
*) Ep. 521 E — 638. — x(5v ayfny&v äv cfty xal fjtsraczQenuxwv inl
ttjv xov ovxog &iav 17 neQl xo %v /id&ijaiq. 525 A.
>) Vgl. Phaidr. 250 A. Bp. 505 A. 429 A.
Digitized by
Google
64
werden, wenn ihn nicht das Mitleid mit den Höhlenbewohnern
schon zur Bttckkehr treibt. Das blofse Wohlbefinden des
einzelnen Philosophen ist nicht mafsgebend, nach dem Grund-
sätze, dafs nicht nur für das Wohl einer Klasse von Menschen
das Gesetz sorgen soll. Sie sind auch nicht von selbst ohne
den Einflafs der Bttrgerverfassnng aufgewachsen {avzofiavoi
dxovörjg rijg xoXixBlaq) und schulden der Polis Dank für ihre
Erziehung. Hinabsteigen soll der Philosoph zu den Gefesselten
und teilnehmen an ihren Mühen und Ehren, obwohl er yiel
herrlichere Ehren kennt Wenn er sich an Dunkel und Schatten-
bilder dort unten gewöhnt hat, wird er tausendmal besser sehen
als die Leute dort, und alle besonderen Bilder erkennen und
wissen, woher sie sind und was sie bedeuten, weil er das
Wahre im Bereich des Schönen, Bichtigen und Vortrefflichen
gesehen hat Er sieht nun die Schattenbilder mit dem Bewufst-
sein, dais sie nur vorüberhuschende Schatten sind und führt
keine Schattenkämpfe um die Herrschaft, als sei sie ein grofses
Gut (519 B ff.). Pflicht und Schuldigkeit des Philosophen ist es
nur, seine überlegene Einsicht zum Besten der Allgemeinheit
nutzbar zu machen. Zu einer notwendigen Sorge und Arbeit
mnis ihm werden, das, was er dort gesehen hat, in der
Menschen Gepflogenheiten und Sitten im privaten und öffent-
lichen Leben hineinzupflanzen. Er soll nicht nur sich selbst
gestalten {jikarreiv 500 CD).
Aus den Fähigen und Tüchtigen sind die als Herrscher
auszusondern, die sich als die wachsamsten bewähren, die ihr
ganzes Leben hindurch am meisten mit ganzem Eifer zu tun
scheinen, was sie für der Polis Bestes halten. In allen Alters-
stufen sind sie zu beobachten, ob sie treu an diesem Dogma
„das Beste für die Polis^' festhalten, unbezaubert[durch Einwände,
Lust, Schmerz und Furcht (Bp. 412 Dff.). So soll die Ausbildung
zum Begentenamt bis zum 50. Jahre dauern, damit sie an
Erfahrung in keiner Weise hinter den übrigen zurückstehen.
Dann erst sind sie reif zu herrschen, das heifst nach dem
Vorbild der vollkommenen Ordnung die Stadt und die Einzelnen
in ihrem Privatleben zu schöner Ordnung zu führen, wenn ihr
eignes Leben gleichsam zu einem vollendeten Kunstwerk ge-
staltet ist „Wie ein Bildhauer hast du die Herrscher heraus-
gearbeitet!'' ruft Glaukon aus (Bp. 540 Äff.).
Digitized by
Google
95
AIb Helfer und Heilande werden die Vielen, die nur dureh
m N^\ksveTftlbTer irregeleitet sind, ihre Herrscher ansehen,
^^"Uü ^%Q)i^ltig arbeitende Werkmeister {ArniiovQyol) der Frei-
heif^ der ganzen Polis werden sie sein. Diese aber werden in
den Beherrsehten nieht ihre Sklaven, sondern ihre Soldgeber
nnd Ernährer sehen (468 AB). Die Menge bedarf nur der freund-
lichen Überredung nnd Aufklärung darüber, was unter dem
wahrhaft Einsichtigen, dem Philosophen als König zu verstehen
ist, nnd die Naturanlage der vielen Einzelnen mufs richtig ge-
leitet nnd ihnen ihre Beschäftigungsart genau bestimmt werden
(499 E). Es bleibt nun gleich, ob einer, der über alle anderen
dareh seine königliche Art hervorragt, die Herrschaft Übernimmt
oder eine einheitliche Gemeinde, ein övXXoyoq von Wächtern,
die dem einen Guten sich unterordnen und dies eine Ziel haben:
Die vollkommene Ordnung, i)
Die königliche Natur weifs jedem das Seine zu geben. >)
Sie steht über dem Gesetz, denn es ist nicht würdig, vortreff-
lichen Männern {ovx a^tov .... avögaCi xaXotg xdyad'olg
exixaxTBiv 425 D) Vorschriften zu machen. Sie würden sich
ja nicht von Blinden unterscheiden, wenn sie nicht das klare
Vorbild in ihrer Seele hätten. Wenn sie nicht über dem Ge-
setze stünden, würden sie nicht imstande sein, in der Erkenntnis
des Schönen, Bichtigen und Guten festzusetzen, was allgemein
Geltang hat (yofuftä) nnd das Gute im Bestehenden zu hüten
und anfreehtznerhalten (484 BfF).
Die Gesetze sind gleichsam Wegweiser, welche die Führer
den Irrenden geben. Die Sorge für Lebewesen, heifst es in
Piatos Buch vom Könige, dem „Politikos", bezieht sich beim
HerrBcber weniger anf die Einzelzucht, sondern ist eine allgemeine
Sorge flir die Pflegebefohlenen in Herden. Die königliche Kunst
Ist die Kunst, Gesetze zu geben. Ein Gesetz ist aber ein
ungebildetes Ding; denn es ist unmöglich, dafs etwas Einfaches,
wie eine allgemeine Vorschrift sich gut und glücklich verhält
SU dem niemals Einfachen, dem einzelnen Menschen, allen seinen
individuell verschiedenen Lagen entsprechend (294 C). So kann
>) Des iyad^v fwlga ist das rileov und Ixavov fitiSevbg nQoaöslo&ai
FhSL20QfL
>) Sixaq Sixd^stv 438 Eff.
PMlofophiMha AbbABdliiBgui. XL. 5
Digitized by
Google
66
das Gesetz nnr fttr die Mehrheit und fttr die meisten Fälle nnd
gleichsam nur im groben {xaxvrigog) fttr die Einzelnen das
Gesetz geben. Denn wie könnte jemand imstande sein, sein
Leben hindareh sich jedem immer vertranlich znr Seite zu
setzen, um ganz genau anordnen zu können, was ihm gerade
zukommt? (Politik. 295 vgl. Leg. 925 E). Der Zwang aber,
wenn es sieh um ein Gerechteres, Besseres und Schöneres
handelt, ist ebensowenig verwerflich, wie der Zwang, den der
Arzt von seiner besseren Einsicht aus auf ein krankes Indivi-
duum ausübt (Politik. 296).
Der philosophischen Theorie gegenüber erhebt sich der
Mann der Praxis mit seiner Erkenntnis, dafs die sozialen nnd
politischen Fragen nur von Fall zu Fall gelöst werden. Dem
entgegnet Plato: „Die Hypothesen stelle ich nicht als Prinzipien
auf, sondern in Wirklichkeit als Hypothesen, gleichsam Stufen
zum Hinaufsteigen uud Antriebe, damit du bis zum Voraus-
setzungslosen gelangst, zum Grund, Anfang nnd Ziel aller Dinge '^
(Rp.511B).
Digitized by
Google
Inhalt.
Seite
Em\eitaiig 1
L Prolegomena zum Verständnis von Piatos Problem und Werk . 2
II. Die zu Grunde gelegten Begriffe und der Zusammenhang von
PlatoB Problem mit Problemen der Gegenwart 10
IIL Individuelles und Allgemeines in Plato selbst; das Werden der
„Politeia" 15
IV. Das Verfaültnis Ton Individuum und Allgemeinheit in Piatos
Denken überhaupt 30
V. Das Verhältnis 7on Individuum und Allgemeinheit in der „Politeia*'
im Zusammenhang mit den übrigen Schriften 36
1. Das Individuum und die allgemeine Naturbasis ... 36
2. Das Verhältnis der Analogie zwischen Einzelmensch und
Polis 42
3. Ein- und Unterordnung der einzelnen Vielen in der
Polis (Erziehung) 48
4. Überordnung Einzelner oder des Einen in der Polis (das
Wächteramt) 58
Digitized by
Google
Von demselben Verfasser erschien:
Die Anfinge einer geschiehtlichen Fondamenttening der Beligions-
phllosophie. Grundlegende Yorantersachnng zu einer Darstellnng
von Herders historischer Auffassang der Religion. Rentber & Reichard,
Berlin 1908.
Dniok Ton Ehrhaidt KtRM, Halle %, 8.
Digitized by VjOOQ IC
Vejiag von Hax Niemeyer in Halle a. 8.
Abhandlungen
zur Philosophie und ihrer Geschichte
herausgegeben von
Benno Erdmann.
8.
1. Ri eh t e r , Paul , David Htune's Kausalitätstheorie und ihre Bedeutung
für die Begriindung der Theorie der Induktion. 1893. &0 S. Jk 1,20
2. Carls, Wilh., Andreas Bttdigers Moralphüosophie. 1894. 51 S. Jk 1,20
3. Meyer, Engen, Humes und Berkeleys Philosophie der Matiiematik
▼ergleichena und kritisch dargestellt 1894. 57 3. Jk 1,60
4. James, George Francis, Thomas Hill Green und der Utilita-
rismus. 1894. 87 S. ^ 1,~
5. Kohn, Harry £., Zur Theorie der Aufmerksamkeit 1895. 48 S
Ji 1,20
6. Goldbeck, Ernst, Keplers Lehre von der Gravitation. Ein
Beitrag zur Geschichte der mechanischen Weltanschauung. 1896.
52 S. Jk 1,20
7. Brede, Wilhelm, Der Unterschied der Lehren Humes im Treatise
und im Inquiry. 1896. 50 S. Jk 1,20
8. Dodge, Raymond, Die motorischen Wortvorstellungen. 1896.
78 S. Jk 2,—
9. Mayer, Eduard von, Schopenhauers Aesthetik und Ihr Verhältnis
zu den ästhetischen Lehren Kants und Schellings. 1897. VI, 82 S.
.Ä2,—
10. Frey tag, Willy, Die Substanzenlehre Lockes. 1899. VI, 74 S.
Jk 2, —
11. Marvin, Walter T., Die Giltigkeit unserer Erkenntnis der objektiven
Welt 1899. VI, 96 S. Jk 2,40
12. PoweH, Eimer E., Spinozas Gottesbegriff. 1899. IX, 113 S. ^3,~
13. Sasao, Kumetaro, Prolegomena zur Bestimmung des Gottes-
begriffes bei Kant 1900. 71 S. Jkl,-^
14. Spaulding, Edward Gleason, Beitriige zur Kritik des psycho-
physischen Parallelismus vom Standpunkte der Energetik. 1900.
Vn, 109 S. Jk 3,—
15. Markus, D. F., Die Assoziationstheorieen im XVIII. Jahrhundert.
1901. IX, 72 S. Jk 2,—
16. Wentscher, Else, Das Eansalproblem in Lotzes Philosophie.
1903. VII, 66 S. Jk 2,—
17. Quast, Otto, Der Begriff des Belief bei David Hume. 190S. VIII,
125 S. Jk 3,—
18. Conrat, Friedrich, Hermann von Helmholtz' psychologische An-
schauungen. 1904. VI, 278 S. Jk 6,—
Digitized by
Google
Verlag von Max Miem^yer in HaUe •> 8,
Abhandlungen zur Philosophie und Ihrer Geechichte.
19. Becher, Erich, Der Begriff des Attributes bei Spinoza in seiner
Entwicklang und seinen Beziehungen zu den Begriffen der Substanz
und des Modus. 1905. 81 S. Jk 1,60
20. Herbertz, Bichard, Die Lehre Tom Unbewussten im Sjrstem
von Lelbniz. 1905. 68 S. Jk %—
21. Post, Karl, Johannes VliUers philosophische Anschauungen. 1905.
147 S. JL 4,-
22. Keussen, Rudolf, Bewusstsein und Erkenntnis bei Desoartes.
1906. IX, 95 S. JL 2,40
23. Prümers, Walther, Spinozas Beligionsbegriff. 1906. 73 S. Jl 1,80
24. Hadlioh, Hermann, Hegels Lehren über das Yeihilltnls voo
Religion und Philosophie. 1906. YIU, 82 S. .^2,40
25. Becher, Siegfried. Erkenntnistheoretisehe UntersuehuiifeB zu
Stuart Mills Theorie der Kausalität 1906. 149 S. Jk 4,—
26. Wildschrev, Joh. Eduard Th., Die Gnmdlai^en einer voll-
ständigen Syllogistik. Mit 1 Tafel. 1907. X, 160 S. Jl4,—
27. Volait, Georges, Die Stellung des Alexander von Aphrodisiss
zur Aristotelischen Schlnsslehre. 1907. 103 S. Jk 2,80
28. Thönes, Adelheid, Die philosophischen Lehren in Letbnizens
Th6odlc6e. 1908. 79 S. .^ 2,—
29. Kurz, August, lieber Christian Gabriel Fischers vemfinftige Ge-
danken von der Natur. 1908. YII, 65 S. Jk 1,60
30. Koch, Hans Ludwig, Materie und Organlsnias bei Leibnis.
1908. VIII, 59 S. Jk 1,86
31. Arndt. Ernst, Das Verhältnis der Verstandeserkenntnis zur sinn-
lichen in der vorsokratischen Philosophie. 1908. 67 S. Jk 1,60
32. L an gel, Hans, Die Entwicklung des Schulwesens in Prenssen
unter Franz Albrecht Schultz (1733— 1763). 1909. XI, 152 S. JkA,—
33. An er, Karl, Gottfried Ploucquets Leben und Lehren. 1909.
68 S. JklfiO
34. Crous, Ernst, Die religionsphllosophischen Lehren Lockes ud ihre
Stellung zu dem Deismus seiner Zeit 1910. VIII, 118 S. ^3,*-
35. Lewin, James, Die Lehre von den Ideen bei Malebranohe. 1912.
VIII, 165 S. UI4,60
36. Horten, Max, Die Metaphysik des Averroes (1198t). Naoh dem
Arabischen tlbersetzt und erläutert. 1912. XIV, 238 S. Jl 7,—
37. Knüfer, Carl, Grundzflge der Geschichte des Begriffs „Vorstellung*'
von Wolff bis Kant. Ein Beitrag zur Gesdiiohte der pmlosophisehen
Terminologie. 1911. V, 84 S. Jl2,40
38. Horten, Max, Die Philosophie der Erleuchtung nach Snhrawardi
(1191t). Uebersetzt und erläutert 1912. XI, 83 S. ^ 8,—
39. Nenmann, Peter, Die Psychologie des Nioolaus Cnaanas nach
ihren Beziehungen zur hellenistischen und schohirtiseheB Philos(^hie.
(Unter der Presse)
40. Burckhardt, Georg E., Individuum und Allgemeinheit in Piatos
Politeia. 1913. 68 S. ^1,80
Druck von Ehrhardt Karvas, Hall« a. S.
Digitized by
Google
^«ry
UBHANDLÜNGEN
ZUR PHILOSOPHIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN VON BENNO EKDMANN
YT.T I J'
l ■'
DAS DING AN SICH
UND
DIE EMPIRISCHE ANSCHAUUNG
IN KANTS PHILOSOPHIE
VON
SIMON BRYSZ
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1913
Digitized by
Google
Digitized by
Google
I
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZÜE
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
EINÜNDYIEBZIGSTES HEFT
SIMON BRYSZ
DAS DING AK SICH
UND DIE EMPIRISCHE ANSCHAUUNG IN KANTS PHILOSOPHIE
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1913
Digitized by
Google
DAS DING AN SICH
UND
DIE EMPIRISCHE ANSCHAUUNG
IN KANTS PHILOSOPHIE
TOK
SIMON BRYSZ
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1913
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Inhalt
8«lt6
Gibt es nieh Kant einen von uns onabhSngigen Bealgnind unserer
Yontellungen? 1
Kante Beweise ftlr die Existenz der Dinge an sich 11
Wie ist das Ding an sich beschaffen? 35
Wie kommt objektiv- gültige Anschanung zustande? 39
Wie ist eine notwendige Übereinstimmnng unserer Verknttpfang der
Gegenstande der Erfahrung mit ihrer tatsächlichen Affinität zu
erklären? 59
Wie ist das Ergebnis der Deduktion mit der Möglichkeit empirischer
Gesetze in Einklang zu bringen? 83
a) Die Kausalität durch Freiheit und die Affinität der Er-
scheinungen 86
b) Die prästabilierte Harmonie und die empirischen Gesetze 98
Anhsog. Von den Wahmehmungs- und Erfahrungsurteilen .... 106
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Q\bt es nach Kant einen Yon nns nnabhängigen
Kealgnmd unserer Vorstellungen?
Die Frage, ob es nach Kant einen von nns nnabhängigen
Realgrnnd unserer Vorstellungen gibt, gehört bekanntlich za
den strittigsten Punkten in der Deutung seiner Philosophie.
Und es bedarf geradezu einer Entschuldigung, wenn man das
alte Gespenst vom Ding an sich, um das von so vielen berufenen
und unberufenen Eantforschem gekämpft v^orden ist, wieder
anferstehen läfsi Da jedoch die Frage der empirischen An-
schauung eine klare Stellungnahme zum Ding an sich erfordert,
so sei es mir gestattet, dieses Problem wenigstens in den all-
gemeinsten Zügen zu erörtern, umsomehr, als einige strittige
Paukte unter Zuhilfenahme der von Erdmann herausgegebenen
Reflexionen Kants und der Losen Blätter von Beicke, wie
mir scheint, leicht aufgeklärt werden können.
Man sollte meinen, daJb die häufig wiederholten klaren
und manchmal gar nicht milszuverstehenden Äufserungen Kants
über die Existenz der Dinge an sich, ebenso wie die geradezu
affektvolle Protestation wider die Zumutung eines Berkeleyschen
Idealismus einem derartigen Streite hätte vorbeugen mttssen.
Es ist indessen nicht schwer einzusehen, dafs mannigfache
Gründe diesen Kampf heraufbeschworen haben. — Erstens
sind es die nicht leicht zu lösenden Widersprüche, die dem
Kantischen Kritizismus aus der Annahme an sich existierender
Dinge erstehen. Zweitens finden sich vielfache Äufserungen
in der Kritik, die das Ding an sich zu negieren scheinen.
Drittens ist es offenbar unmöglich — trotz scheinbarer Ver-
suche — die Existenz dieser Dinge von den Voraussetzungen
des Kritizismus aus spekulativ zu beweisen. Dazu kommt die
PUloMphliolie AblundlmigMi. XLI. 1
Digitized by
Google
Zweideutigkeit des Eantischen Terminus GegeDstand, der bald als
transscendeDtaler, bald als empirischer yerstanden werden kann.
Zn diesen sozusagen immanenten, d.h. im System selbst liegenden
Grttnden — die zwar zu den verschiedenen Auffassungen vom
Ding an sich nicht ermächtigen, wohl aber die auseinander-
gehenden Meinungen erklären — gesellt sich eine Reihe subjek-
tiver, vom jeweiligen Standpunkte des Interpreten abhängender
Grttnde. Die Vertreter der zeitgenössischen Tradition, ganz blind
für das eigentliche Ziel der Kritik und für die ungeheure Um-
wälzung, die Kants Lehre fUr Metaphysik und Wissenschaft
bedeutete, fanden in der Lehre des Philosophen, die sämtliche
Metaphysiken zeitgenössischer Kapazitäten als eitles Gerede
brandmarkte, nur einen verschärften Berkeleyschen Idealismus.
Andererseits aber hatte das Bestreben, das Kantische Ding an
sich gänzlich aus dem Bereich des Seienden zu eliminieren,
tiefer liegende Gründe. Wahrhaft grolse Geister imposanten
idealistischen Gepräges waren auf den Königsberger Meister
gefolgt, und forschten, nachdem das Ding an sich von Kant
als unbekannter und unerkennbarer Grund des Seins hingestellt
worden war, was dieses Ding doch sein möge. Man glaubte
die Kritik in vermeintlich Kantischem Sinne weiterbilden zn
müssen. Die Kantischen Dinge an sich wurden vorerst uni-
fiziert; man liefs sie sich immer mehr verflüchtigen, um sie
endlich im »Ich", im , Identischen", „Absoluten", im „Willen*
oder im vUnbewufsten" aufgehen zu lassen. — Die Kantische
nüchterne, wenn auch nur zum Teil durchgeführte Negation
der dogmatischen Metaphysik, mufste eine glänzende Eeaktion
hervorrufen, zumal Kant selbst im praktischen Kritizismus
Fingerzeige für eine solche gegeben hatte. Das Ding an sich,
für Kant das transscendentale Objekt, die andere Seite der
Erscheinung, die uns unbekannt bleibt, weil wir diese und
nicht eine andere Sinnlichkeit haben, wurde zum Ausgangs-
punkt neuer metaphysischer und religiös-mystischer Systeme.
Wir wollen zunächst feststellen, dafs Kant die Existenz
der Dinge an sich ohne weiteres vorausgesetzt hat Es ist
überflüssig und zugleich unnütz, alle die Stellen, aus der
Kritik und den Prolegomenen, die unumwunden und unzwei-
deutig die Existenz der Dinge an sich mit voller Schärte
hervorheben, anzuführen. Die Gegner haben sie tausendmal
Digitized by
Google
gebSrt und gelesen und werden sich aaeh dann, wenn sie diese
Aaslassangen znm tausend ersten mal hören, Yon ihrer Inter-
pretation nicht abbringen lassen. Wichtig dagegen scheint die
Frage, warum Kant eigentlich so sehr an der Existenz der
Dinge an sich liegt, warum er sie yoranssetzt und an ihnen
festhält, auch nachdem sie ihm zum Problem geworden sind,
weshalb er den Einwendungen seiner Freunde und Gegner
durch den Hinweis auf den Begriff der Vorstellung ausweicht
Was das erste betrifiFt, nämlich die Voraussetzung der
Dinge an sich in der Ästhetik, so könnte man dies in dem
realistischen Zug von Kants Denken, das jedem schwärmerischen
und skeptischen Idealismus abgeneigt war, begründet finden.
Dafs er aber an dieser Voraussetzung festhält, auch nachdem
ihm Ton Seiten seiner Kritiker Yorgeworfen worden war, dafs
jene Annahme mit dem sonstigen Ergebnis seiner Kritik nicht
in Einklang gebracht werden könne, — dafär muls ein tiefer
liegender Grund zu finden sein. Und in der Tat, das Fest-
halten an der Existenz an sich seiender Dinge, auch nachdem
die Kritik gezeigt hat, dafs man über Transscendentes nichts,
aneh nicht das Sein aussagen darf (denn sonst mttfste man
den kosmologischen Gottesbeweis ebenfalls anerkennen), dieses
Festhalten kann nur verstanden werden, wenn die Prämissen
hierfttr nicht in der spekulativen, sondern in der
praktischen Philosophie gesucht werden.
Dafs dies der Fall ist, ersehen wir aus Folgendem. In
der Vorrede zur 2. Auflage sagt Kant: .Der Idealismus mag in
Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so
nnscbuldig gehalten werden (was er in der Tat nicht ist), so
bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen
Mensehenvernunft, das Dasein der Dinge aufser uns .... blofs
auf Glauben annehmen zu mtlssen.' ^) Als Ergänzung hierzu
heilst es in den Losen Blättern: „Der Idealismus, der die Aufsen-
welt leugnet, kann ... auch wohl ein Hindernis abgeben
zu dem, was den Endzweck der Metaphysik ausmacht,
zu dem Übersinnlichen fortzuschreiten, wenn alles
') Yorr. 2 zur Kritik d. r. V. XL Anm. Ich zitiere im allgemeinen
Kants Werke nach der Akademieaasgabe. Die Kritik d. r. V. jedoch nach
der Oi^nalpaginierong der 2. Auflage (Ausgabe £rdmann). Bei Zitaten
UV der I. Auflage füge ich immer A hinan.
1*
Digitized by
Google
Sinnliche blofs in uns gesetzt wird.<) Diese Äas-
lassangen dürften für alle diejenigen, die das Ding an sieh za
einem leeren Grenzbegriff, zu einer Anfgabe, zu einem ewigen
Schein, oder wie die Ausdrucke sonst lauten, degradieren
wollen, ein Yorzügliches Objekt fttr ihre Interpretationskttnste
bieten. Denn hier wird der eigentliche Orund angegeben,
warum Kant sich mit dem Gedanken nicht yersOhnen konnte,
dafs das Subjekt neben der Form auch die Materie der Er-
scheinungen aus sich heraus produziere! Damit wäre der Weg
zur praktischen Philosophie, die ihm so sehr am Herzen lag,
ein fttr alle mal yerschlossen gewesen. Auch die Behauptung,
Kant habe sich eigentlich um das Ding an sieh nicht geküm-
mert, ihm wäre es nur um die Wissenschaft zu tun, hingegen
das Problem, ob den Erscheinungen etwas zugrunde liege oder
nicht, läge nicht im Bereiche seines Interesses, wird durch diese
Erklärungen hinlänglich widerlegt
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dafs der Existenz der
Dinge an sich gleich zu Beginn der Darstellung Kants in der
Kritik der reinen Vernunft diese praktische Bedeutung zu-
geschrieben worden sein sollte. Vielmehr verhält sich die
Sache so. Die transscendentale Ästhetik hat, yeranlafst durch
die Antinomien, 2) die entstehen, wenn man Raum und Zeit
1) Lose Blätter ans Kants Nachlafis, mitgeteUt yon Rudolf Beicke
I, 102.
') Wenn ich nicht irre, war Lotze der erste, der die Bedeutnng der
Antinomien flir die transscendentale Ästhetik gesehen hat, er sagt: «Die
Beweggründe zu einer solchen Umgestaltung der gewöhnlichen Ansicht
lagen fttr Kant nicht in der Natur des Raumes selbst, sondern in den
Widersprüchen, in welche sein yorausgesetztes Verhalten zu dem Wirk-
lichen zu führen schien . . . Erst die Antinomien, in welche wir uns yer-
wickeln, wenn wir mit dieser Voraussetzung eines wirklichen Raumes
unsere Vorstellungen vom Ganzen der Welt oder von ihren letsten
Bestandteilen zu vereinigen suchen, entschieden bei Kant fttr die Annahme,
die Anschauung des Raumes sei nur eine subjektive Form, mit welcher
die Natur des vorauszusetzenden Realen nichts gemein habe.^ Meta-
physik, 2. Aufl. S.201f. — Unabhängig hiervon bemerkt Riehl: „Dia
Antinomie trieb zur Unterscheidung der phänomenalen und intelligiblen
Welt; um aber diese Unterscheidung zu machen, mufste ihr Jene zwischen
den sinnlichen Elementarbegriffen und den Denkbegriffen vorausgegangen
■ein. Also war es ein metaphysisches Interesse, welches Kant auf die
Bahn der kritischen Phüosophie brachte.** Der philosophische Kritizismus
Digitized by
Google
als an sieh seiend annimmt, die Dinge in Dinge an sieh und
Erscheinungen geschieden. Diese Dinge an sieh zu bezweifeln
ist Kant damals nicht einmal ,in den Sinn gekommen^, denn
sonst hätte die Unterscheidung ganz anders aasfallen mttssen.
Es wären dann nicht nar Raum und Zeit blofs snbjektiY, son-
dern auch der gesamte spezielle Gehalt der Erscheinungen.
Dieser Gehalt mülste zwar auch dann nicht a priori sein, denn
alles Apriorische der Anschauung ist subjektiv, nicht aber ist
auch umgekehrt alles Subjektive a priori, z.B. Bewegung und
Veränderung. Kant hätte aber sagen müssen, Kaum und Zeit
allein sind subjektiv und a priori; alles andere ist zwar nicht
a priori, d.h. es ermöglicht gar keine objektiv gültigen Er-
kenntnisse, aber ist lediglich meine Vorstellung, der nichts
anfser mir (transscendentaliter) entspricht, oder aber er hätte
diese Frage wenigstens offenlassen mttssen. Kant sagt jedoch
am Schlüsse der Ästhetik: „Was es fttr eine Bewandtnis mit
den Gegenständen au sich und abgesondert von aller dieser
Receptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänz-
lieb unbekannt Wir kennen nichts als unsere Art sie [offenbar
doch die Gegenstände an sich] wahrzunehmen, die uns eigen-
tttmlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar
jedem Menschen zukommen mufs.* ^ Hier wird also ausdrttck-
lieh gelehrt, daTs die Dinge an sich als die andere Seite der
Erscheinungen anzusehen sind. Erst später, als infolge der
Kritik seines Werkes das Ding an sich zum Problem sich
I , S. 273. Man yergl. auch 240 f. und 2. Aufl. 1, 343. Diese Vermutung
BieUs fiuid dann eine glSnaende Bestätigang in dem von Erdmann
henosgegebenen neuen Material aus Kants Naclilafis. Man vergleiche
besonders Beflexion Nr. 4, wie auch den Brief an Garve vom 21. Sept.
179S. B. Erdmann hat dann in einer erschöpfenden Abhandlung auf die
ungemeine entwicklnngsgeschichüiche Bedeutung der Antinomien fttr
Kants Kritizismus hingewiesen. Mit Hilfe des von ihm entdeckten neuen
Beweismaterials hat er überraschend gezeigt, dafs die Umw&lznng im
Kjuitischen Denken keinem andern Eiaflufa (also auch nicht dem Hu m es)
io dem Mafse wie den Antinomien zuzuschreiben seL Man vergleiche:
Die Entwicklnngsperioden von Kants theoretischer Philosophie, Vorbericht
zum 2. Bande der Reflexionen Kants S. XXVI ff., sowie I^olegomena,
Einleitung S. LXXXV.
^) Kr. S. 69. Beillufig sei bemerkt, dals diese letzte Behauptung
Kants, die doch im Omnde nur ein Analogieschludi ist^ etwas zu apo-
djktiseli ausgedruckt ist.
Digitized by
Google
6
allmählich aasgebildet hatte, wurde Kant darauf aufmerksam,
dafs, obwohl spekulativ kein Beweis fllr diese Existenz zu
führen ist, so doch an diesen einstmals gar nicht beanstandeten
Dingen festgehalten werden mUsse, wenn die Folgen des Frei-
heitsbegriffes nicht gefährdet werden sollten, und dafs anderer-
seits diese praktische Notwendigkeit des Begriffes der Freiheit
den einzigen und sichersten Beweisgrund für die Existenz über-
sinnlicher Dinge abgibt. So lesen wir in der Einleitung zur
Kritik der praktischen Vernunft: «Dagegen eröffnet sich nun
eine Yorher kaum zu erwartende und sehr befriedigende Be-
stätigung der konsequenten Denkungsart der spekulativen
Kritik darin, dafs, da diese die Gegenstände der Erfahrung
als solche und darunter selbst unser eigenes Subjekt nur ftlr
Erscheinungen gelten zu lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge
an sieh selbst zum Grunde zu legen, also nicht alles Über-
sinnliche für Erdichtung nnd dessen Begriff für leer
zu halten einschärfte: praktische Vernunft jetzt für sich selbst,
und ohne mit der spekulativen Verabredung getroffen zu haben,
einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität,
nämlich der Freiheit, Realität verschafft ... also dasjenige,
was dort!) blofs gedacht werden konnte, durch ein Faktum
bestätigt.* 2)
Nun wird aber behauptet, dafs bereits in der Analytik
eine Schwenkung der Ansicht in bezug auf die Dinge an sich
eingetreten sei. Zur Bestätigung dieser Behauptung wird fol-
gendes geltend gemacht:
1. Das Ergebnis der Analytik ist, dafs die Kategorien
nur auf sinnliche Gegenstände angewandt werden dürfen. Die
konsequente Durchführung dieses Gedankens gestattet aber
nicht einmal die Existenz von dem Ding an sich zu prädizieren.
— Wollte man dagegen einwenden, dafs die Kategorien nicht
im gleichen Hafse subjektiv seien, wie Raum und Zeit, dafs
ihre Unanwendbarkeit auf nichtsinnliche Gegenstände nur da-
von herrühre, dafs sie die Anschauungsformen zu Hilfe nehmen
müfsten, was aber bei der Existenz nicht notwendig sei; — so
*) Man vgl. Vorr. 2, S. XXVI, Zeüe 12.
>) Kants WW. V, 5f. Man vgl. auch L. Blätter S. 217: „Die End-
absicht aller Metaphysik ist von der Erkenntnis des Sinnlichen zum
Übersinnlichen aufzusteigen.^
Digitized by
Google
zeigt doch der folgende Satz, dafs diese Unterscheidang nicht
richtig ist. .Realität* — sagt Kant — „kann man im Gegen-
ft&tiQ m\t der "Negation nur alsdann erklären, wenn man sieh
eme Zeit (als den Inbegriff von allem Sein) gedenkt, die
entweder womit erfbllt oder leer ist' ^ ^^^^ liSLun also, wird
geltend gemacht, nicht mehr behaupten, es gibt Dinge an sich,
wenn er sicli selbst nicht widersprechen will.
2. Kant selbst läfst die Einteilung in Phänomena und
Nonmena gar nicht zu und nennt das Noumenon einen «pro-
blematischen Begriff' oder auch „Grenzbegiiff*.
3. Selbst wenn man dem zweiten Argument ausweicht, so
heilst es doch ausdrtlcklich, dafs „obgleich unser Denken von
der Sinnlichkeit abstrahieren kann, so bleibt doch die Frage,
ob es alsdann nicht eine blofse Form eines Begriffes sei und
ob bei dieser Abtrennung Oberall ein Objekt übrig bleibe.' 2)
Was nun zunächst das zweite Argument betrifft, so ist
klar, dafs mit Noumenon hier nur dasjenige in positiver
Bedeutung gemeint ist, 3) und dieses ist tatsächlich ein proble-
matischer Begriff, weil der Verstand, vor dem es gehörte, ein
Verstand mit der Fähigkeit intellektuell anzuschauen, selbst
ein Problem ist Dies geht aus dem ganzen Inhalte des hier-
fttr in betracht kommenden Abschnitts über Phänomena und
Noamena, besonders aber aus folgender Stelle hervor: „Das
Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der
transscendentale Gegenstand, das ist der gänzlich unbestimmte
Gedanke von Etwas überhaupt Dieser kann nicht das
Konmenon heifsen: denn ich weifs von ihm nicht was er
an sich selbst sei und habe gar keinen Begriff von ihm, als
bloCs von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung über-
haupt''^) Bekräftigt wird dies durch den Umstand, dafs die
2. Anflage und die Randbemerkungen im Handexemplar^) einige
Stellen, die zu Hifsverständnissen verleiten könnten, durch
genauere Bestimmung des Noumenon den Text ergänzen und
0 Kr. S. 300.
<)Kr. A252£.
*) Mm vgl. auch Rieh! & a. 0. I, 2. AufL § 579.
*) Kr. A 258. Man vgl. auch die Definition des Noamenon Kr. A
248 und 307.
*) Man 7g]. B. Erdmann, Nachtriige zu Kants Kritik d. r. V,
Digitized by
Google
8
jede Zweideutigkeit entfernen. So wird zu dem Satze: „dals
die Grundsätze des Verstandes nur . . . auf Gegenstände der
Sinne, niemals aber auf Dinge überhaupt . . . bezogen werden
können^ ^) im Handexemplar die wichtige Einschränkung hinza-
gefttgt: „wenn sie Erkenntnis verschaffen sollen '^ 2) Femer
ist in dem Satze: „die Einteilung der Gegenstände in Phä-
nomena und ]()oumena und der Welt in eine Sinnen- und Ver-
standeswelt kann daher in positiver Bedeutung gar nicht
zugelassen werden ^3) die Einschränkung „in positiver Be-
deutung^ erst in der 2. Auflage hinzugekommen. Endlich ist
der Satz „so ist denn der Begriff reiner, blofs intelligibeler
Gegenstände leer^^) durch die Bemerkung im Handexemplar
„der positive Begriff*'^) ergänzt worden,
Kant will also sagen: obwohl die transscendentale Ästhetik
den Begriff der Erscheinung dahin eingeschränkt hat, da£s die
Lehre von der Sinnlichkeit zugleich die Lehre von wirkenden
Dingen an sich bedeutet, so darf man doch daraus nicht folgern,
dafs diese Dinge durch irgend ein Erkenntnisvermögen näher
bestimmt werden kOnnen. Denn dazu wäre eine ttbersinnliche
Anschauung notwendig, die wir jedoch nicht besitzen und von
der es zweifelhaft ist, ob sie ttberhaupt möglich ist. Ja es ist
nicht einmal ausgemacht, ob derartige Noumena, die durch
eine intellektuelle Anschauung erkennbar würden, ttberhaupt
vorhanden sind.
Etwas schwieriger zu beantworten ist der dritte Einwand.
Denn der dort angefahrte Satz pafst nicht minder auf das
Noumenon in negativer Bedeutung, also auf die von Kant
vorausgesetzten Dinge an sich, als auf das Noumenon im posi-
tiven Sinne. Und da fragt es sich mit Becht, wie Kant noch
jetzt an dieser Voraussetzung festhalten könne, nachdem er
hier zeigt, dafs es immer zweifelhaft bleibt, ob dem Begriffe
ein Objekt entspricht, da die logische Möglichkeit eines solchen
noch nicht die reale beweist? — So sehr aber auch dieser
Gedankengang vom kritischen Standpunkte aus berechtigt sein
0 Er. SOS.
>) ErdmaDn a. a. 0. S. 41.
•) Kr. 311.
*) Kr. 316.
t) £rdmaiin a. a. 0. S. 44,
Digitized by
Google
9
mag, 80 unmöglich ist es doeb, dafs Kant mit dem erwähnten
Satze das Ding an sieh gemeint haben sollte. Ans dem Zn-
sammenhange, in dem er den erwäbnten Satz aasspricht ist zu
ersehen, dafs, wenn bier überhaupt von einem Objekt die Bede
ist — was eine Bandbemerkung im Handexemplar s^hr zweifel-
haft maeht^) — nur das Noumenon in positiver Bedeutung
gemeint sein kann. Das geht sowohl aus dem vorhergehenden,
wie aus den nachfolgenden Sätzen sehr deutlich hervor. Aufser-
dem wäre es sonst unmöglich, dafs gerade hier die Existenz
.der Dinge an sich mit völliger Bestimmtheit betont werden
könnte. So lesen wir: ,den Sinnenwesen korrespondieren zwar
freilich Yerstandeswesen, auch mag es Verstandeswesen geben,
auf welche unser sinnliches Anschauungsvermögen gar keine
Beziehung hat, aber unsere Verstandesbegriffe . . . reichen
nicht . . . auf diese hinaus ''.2) Dieser Satz kann nur so ver-
standen werden: den Sinnen wesen korrespondieren Dinge an
sich, die unsere Sinne affizieren es mag auch Noumena (in
positiver Bedeutung) geben, auf die unser sinnliches An-
schauungsvermögen aber gar keine Beziehung hat, weil der-
artige Noumena unsere Sinne nicht rtthren usw. Auch ist die
Ableitung der Dinge an sich von dem Begriff der Erscheinung
— diese mag nun richtig sein oder nicht — nirgends mit
solcher Bestimmtheit geftthrt, wie gerade hier.') Dafs aber
Kant die Konsequenz seiner Analytik nicht auch auf das
Noumenon im negativen Sinne ausgedehnt hat, dafs er es nicht
gesehen hat, dafs alles, was sich von der Existenz eines
Noumenon in positiver Bedeutung sagen läfst, nicht minder
auf das Ding an sich Anwendung findet — und damit kommen
wir zum ersten Einwand — kann nur dadurch erklärt werden,
*) In dem Handexemplar wird die fragliche Stelle folgendermafsen
verbessert: „Ob es alsdann nicht eine blofse Form eines Begriffes sei
oder ob bei dieser Abtrennung überall noch eine mögliche An-
sebanang ttbrig bleibe.** Dazu soU folgende Begründung hinzukommen:
nDenn die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung kann niemand
dartun, nnd es könnte also leicht möglich sein, dals gar keine solche
Erkenntnisart stattfände, in Ansehung deren wir etwas als Gegenstand
hetnchten würden. Also behauptet der positive Begriff eines Noumenon
etwäs^ dessen Möglichkeit er nicht beweisen kann.* Erdmann a. a. 0. S. 44.
«; Kr. 308 f.
V Kr. A 251t
Digitized by
Google
10
dals diese Existenz ihm gar nieht Problem war. Man mnCs
den Satz : „denn die [die Dinge an sich nämlich] zu bezweifeln
ist mir niemals in den Sinn gekommen^ ^) ganz wörtlich nehmen
und allein dieser Umstand hat es möglich gemacht, dals er
in dem erwähnten Abschnitt — 1. Auflage, die zweite ist viel
Yorsichtiger — es gar nicht merkt, dafs sich ihm unter der
Hand die Dinge an sich immer mehr verflüchtigen. In der
2. Anflage, wo die Existenz dieser Dinge ihm zum Problem
geworden war, hatte er für sie bereits einen Beweis aus der
praktischen Philosophie. — Ob nun Kant das Recht hat zu
sagen: die^Dinge an sich sind, trotzdem er behauptet, dals in
der Kategorie der Realität bereits ein Zeitmoment mitenthalten
ist, 2) scheint mir dahin beantwortet werden zu können, dafs
Kant die Kategorie der Realität von der Existenz unterscheidet
Den Ansatz dafttr erblicke ich in dem Satze: .Die Existenz
ist hier noch keine Kategorie, als welche nicht auf ein un-
bestimmt gegebenes Objekt . . . Beziehung hat^ ^) und in Wirk-
lichkeit mufs man eine zeitlose Existenz annehmen dürfen,
wenn die Zeit nur die Form unserer Anschauung ist.<)
Der Idealismus Kants ist also auch in der Analytik be-
treffs der Existenz der Dinge an sich nicht weiter gegangen.
Die Analytik hatte nur die Aufgabe die positive und negative
Grenze unserer Erkenntnis festzustellen, brauchte aber dabei
die Existenz der Dinge nicht anzutasten. Daher konnte Kant
an Beck schreiben, dafs er seinen , kritischen Idealismus"
besser das Prinzip der Idealität des Raumes und der Zeit
nennen könnte*,^) denn mit der konsequenten Durchführung
dieses Prinzips erschöpft sich in der Tat der ganze kritische
Idealismus.
») Prolegomena WW. IV, 293.
») Vgl. Kr. S. 800.
») Kr. 422 Anm.
*) Zu den Yom kritischen Standpunkt oicbt beanstandeten, weil nur
negativen Sätzen gebort auch das Urteil: Die Dauer der Dinge an sich
ist keine Zeit. Man sehe Kr. 149.
') Brief an Beck vom 4. Dezember 1792. Man vgl. ancb Riehl a. a. 0. 1,
2. Aufl. 409.
Digitized by
Google
Kants Beweise für die Existenz der Dinge
an sich.
Es fragt sieh nun, ob man nicht noch weitergehen and
sogar Beweise Kants fbr die Existenz der Dinge an sich an-
führen könne? Es mufs nnn folgendes gesagt werden. Obwohl
Kant niemals, also anch nicht in der 2. Auf läge die Vorans-
setzQDg wirkender Dinge an sich aufgegeben hat, hat er doch
nirgends — wenigstens nicht spekulativ — diese Existenz
beweisen wollen. Der einzige, wirklich Yorhandene Beweis ist
in einer Nebenbemerkung enthalten, die sich mehr gegen einen
Idealisten, als gegen den dogmatischen Rationalisten richtet,
nämlich gegen einen Dogmatiker, der annimmt, dafs es Koumena
gibt, die der pure Verstand erkennen müfste. Ich meine die in
der 1. Auflage yorhandene Ableitung des Dinges an sich aus
dem Begriffe der Erscheinung. Kant sagt dort: „es folgt auch
natürlicherweise aus dem Begriffe einer Erscheinung Überhaupt,
dab ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Er-
scheinung ist, weil Erscheinung nichts fUr sich selbst und aufser
unserer Vorstellungsart sein kann, mithin, wo nicht ein be-
ständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung
schon eine Beziehung auf etwas anzeigt, dessen unmittelbare
Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber an sich selbst auch
ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit . . . etwas d. i.
ein Yon der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein mufs.^ ^)
Diese Deduktion kann man nun entweder als strikten, mit
dem Resultat der Ästhetik gegebenen Beweis betrachten, oder
aber auch als einen naiven Beweis ansehen, der aus der von
^) Kr. A 251. Von der ähnlichen Bemerkung in der 2. Vorr. sehe
ich zonXchst noch ab.
Digitized by
Google
12
Kant ohne Bedenken gemachten Annahme der Dinge an sich
herfiiefst. Beides ist, wie mir seheint, in gewissem Sinne richtig.
Ans dem Begriffe der Erscheinung, i) wie ihn Kant in der
transscendentalen Ästhetik festgestellt hat, geht wirklich hervor,
dafs es Dinge an sich gibt Alles Besondere in der An-
sehanung was sich nicht auf die Anschaanngsformen ziirttck-
fllhren läfst, muljs in einem von nns unabhängigen Dinge be-
gründet sein. Aach die Tatsache, dafs Kant noch im Jahre 1792
dem Schnlzeschen Einwarf dasselbe Argument entgegenhalten
konnte,^) spricht dafttr, dafs er dies als Beweis betrachtet
Ebenso spricht hierfür eine Äufserung Kants in den Losen
lilättern: „Noumenon bedeutet eigentlich allerwärts einerlei,
nämlich das transscendentale Objekt der sinnlichen Anschauung.
Dieses ist aber kein reales oder gegebenes Ding, sondern ein
Begriff, auf den in Beziehung Erscheinungen Einheit haben.
Denn dieser mufs doch irgend etwas korrespondieren,
ob wir gleich nichts anderes als die Erscheinung des-
selben kennen.'' ')
Andererseits jedoch mufs dieser Beweis als ungenügend
angesehen werden, wenn man ihn vom Standpunkte des Gegners
aus betrachtet Denn es müfsten die Prämissen der transsoen-
dentalen Ästhetik zugegeben werden, und das braucht der
Gegner eben nicht zu tun, wenn er Idealist ist Die Lehre
der transscendentalen Ästhetik kann nur für denjenigen zwingend
sein, der Kaum und Zeit fUr Sachen an sich hält; denn dem
kann gezeigt werden, dafs er sich mit einer derartigen Ansicht
in unlösbare Widersprüche verwickelt Wenn jemand hingegen
1) Kant spricht in den Prolegomens WW. IV, 877, Zeile 29 von
seinem Begriffe der Erscheinungen, indem er sich auf das Besnltat der
transscendentalen Ästhetik bezieht.
*) Man vgl. den oben erwähnten Brief an Beck.
*) Lose Blätter S. 162. Dieser Satz ist noch in anderer Beaiehnng
Yon Wichtigkeit Kant nennt hier das transscendentaie Objekt nur einen
Begriff and im selben Atemzug lehrt er, dals der Erscheinung etwas kor-
respondieren müsse. Es geht daraus hervor, wie verfehlt es ist, aus der
Tatsache , dafs Kant das Ding an sich lediglich als Begriff gelten lassen
will, zu folgern, dafs er damit zugleich dieses als Realität leugnet. Mit
unseren Erkenntnismitteln, meint Kant, können wir von einem Dinge über-
haupt nur einen Begriff haben, dieses hürt aber deshalb nicht auf als Objekt
zu existieren.
Digitized by
Google
13
neben Baum nnd Zeit auch den gesamten gpeziellen Gehalt
der Anschannng fttr blofse Vorstellung hält, welcher nichts
zu Grunde liegt, der kann trotz dieses Idealismus den Schwierig-
keiten der beiden ersten Antinomien aus dem Wege gehen.
Der Idealist könnte behaupten, a priori sei zwar nur Raum
und Zeit, er leite mit Kant aus dieser Beschaffenheit der An«
sehauungsformen die Möglichkeit der Geometrie als Wissenschaft
ab, ja er könne selbst die ganze Erkenntnistheorie Kants an-
erkennen und brauche doch nicht anzunehmen, dafs den Er-
scheinungen etwas aufser uns zu Grunde liege, sondern es
könnte sein, dafs eine Kraft in uns dies alles produziere. Denn
die Aposteriorität der Erscheinungen schliefst ihre Subjektivität
nicht aus. Das Apriori ist kein notwendiges Merkmal des
Subjektiven. — Der Begriff Erscheinung würde aber deshalb
nicht genügen, um ans ihm etwas abzuleiten, denn Erscheinung
wäre dann des Letzte, was überhaupt vorhanden ist und müfste
mithin anders heifsen. Es scheint deshalb, dafs Kant diesen
Beweis nur führen konnte, so lange ihm die Existenz der Dinge
an sieh noch nicht Problem geworden war. Dann müfste man
die Äufserung im erwähnten Briefe an Beck dahin deuten,
dals damit nicht Ding an sich, sondern Erscheinung gemeint
sei. Dafür spricht auch die Tatsache, dafs Kant in der 2. Auf-
lage in dem Abschnitt über Phänomena und Noumene dieses
Argument weggelassen hat, und vor allem, dafs er es bei den
späteren Widerlegungen gar nicht benutzt Wie dem aber sein
mag, aua diesem Beweise geht hervor, dafs Kant die Existenz
der Dinge an sich gelehrt hat und dafs man keineswegs be-
rechtigt ist, diesen Beweis als „Gerede^ hinzustellen.
Aufser dem oben erwähnten Beweise gibt es für die
Existenz der Dinge an sich keinen anderen in der Kritik der
reinen Vernunft und in den Prolegomena. Es gibt entweder
Widerlegungen des Idealismus, die sich aber nicht auf die
Dinge an sich beziehen, oder aber es gibt Protestationen und
Versicherungen Kants, dafs er die Dinge an sich nicht leugne,
sondern sie annehme, aber keine weiteren Beweise. Wir wollen
diese Behauptung dureh eine Übersicht der hierftür in betracht
kommenden Stellen bestätigen.
Im vierten Paralogismus wird bekanntlich der empirische,
von Kant so genannte skeptische Idealismus Descartes' widerlegt
Digitized by
Google
14
Deseartes hatte nach Kants DarstelluDg gelehrt, dalls wir
unmittelbar nur das Ich als denkendes Wesen wahrnehmen
können. Die äufseren Dinge können wir eigentlich gar nicht
wahrnehmen, sondern müssen ans unserer inneren Wahrnehmung
auf ihr Dasein schliefsen. Nun ist aber der Schlnfs von einer
gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache jederzeit un-
sicher, demnach bleibt es zumindest nicht ausgemacht, ob die
äufseren Wahrnehmungen nicht ein blofses Spiel unseres inneren
Sinnes seien. Will man trotzdem die äufseren Wahrnehmungen
als Wirkungen wirklich vorhandener äufserer Dinge ansehen,
so mufs man wenigstens eingestehen, dafs das Dasein der
letzten nur geschlossen und nicht so unmittelbar wahrgenommen
werden könne, wie der Gegenstand des inneren Sinnes: das Ich.
Diesen Bedenken gegenüber zeigt Kant, dafs die von Des-
eartes gemachte Unterscheidung von inneren und äulBeren
Wahrnehmungen eine falsche ist. Wer nur die räumliche —
und nicht eine transscendente — Aufsenwelt wahrnehmen will,
braucht ebensowenig wie bei den inneren Wahrnehmungen der
Lust oder des Schmerzes aus sich herauszugehen, denn räum-
lich ist nicht im strikten Sinne aufser uns. Der Baum mit
alledem, was ihn ausfüllt, ist keine Sache an sich, sondern
eine Anschauungsform in uns, die abgetrennt von unserer
Sinnlichkeit nichts ist. Wenn wir demnach äufsere Dinge
wahrnehmen, so sind dies tatsächlich innere Wahrnehmungen,
nur werden sie vermöge der Beschaffenheit unserer Anschauungs-
form nach aufsen verlegt. Beide Arten von Wahrnehmungen:
sowohl d'ie inneren, die nur zeitlich verlaufen, als auch die-
jenigen inneren, die in einem räumlichen Nebeneinander nach
aufsen verlegt werden, sind also blofs Erscheinungen, die an
sich, losgelöst von unserer Vorstellungsart, gar nicht in dieser
Qualität existieren. So unmittelbar ich auf Grund der inneren
Wahrnehmung sage: ich bin, eben so unmittelbar, sage ich die
äufseren Vorstellungen, d. i. die Dinge im Baume sind. „Also
existieren ebensowohl äufsere Dinge, als ich selbst existiere,
und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbst-
bewufstseins.* 0
0 Kr. A 370 f.
Digitized by
Google
15
Wenn wir änfsere Gegenstände für Dinge an sieh gelten
lassen, so ist sehlecbterdings nnmöglieh zu begreifen, wie wir
znr Erkenntnis ihrer Wirklichkeit aniser nns kommen sollten,
indem wir uns blofs auf die Vorstellnng stützen, die in ans
ist Wenn z. B. der Banm, der dranJben steht, selbst ein räum-
liches von mir anabhängiges Ding wäre, ich aber natargemäfs
nar eine Vorstellung des Baumes haben kann, so mttfste ich
von dieser Vorstellung auf das Dasein des Baumes, als auf den
Gregenstand meiner Vorstellung schliefsen. Sein Dasein wäre
aber dann zweifelhaft. Nun sage ich aber, nur meine Vorstel-
lung des räumlichen Baumes, die Erscheinung, ist wirklich, er
selbst existiert als solcher, nämlich als räumliches Ding, nur
in meiner Vorstellung. So ist seine Wirklichkeit festgestellt,
ohne dafs ich irgend einen Schlufs zu machen brauche, denn
er ist .lediglich als ein Gedanke in nns, wiewohl dieser Ge-
danke durch genannten Sinn es als aufser uns befindlieh yor-
stellt«.!)
Dafs diese Vorstellung des Baumes durch einen transscen-
dentalen Gegenstand hervorgerufen worden ist, ist die immer-
währende Voraussetzung Kants, «von ihm aber ist auch nicht
die Rede',2) denn seine Wirklichkeit zu beweisen ist theoretisch
unmöglich, und es «kann der strengste Idealist nicht verlangen,
man solle beweisen, dafs unserer Wahrnehmung der Gtogen-
stand aufser uns (in strikter Bedeutung) entspreche,^') ebenso
wie es unmöglich ist, das Dasein der empirischen Dinge zu
beweisen, wenn man sie als an sich seiend ansieht. <)
Die angefahrten Stellen beweisen also zur Genüge^ dais
hier von einem Beweise ftir das Dasein der Dinge an sich
nieht die Rede sein kann. Es wird vielmehr ausdrücklich
betont, dafs ein solcher unmöglich ist Noch deutlicher geht
dies aus einer hierher gehörigen Reflexion hervor: «Die Frage
ob die Körper aufser mir etwas wirkliches sind, wird so be-
antwortet: Körper sind aufser meiner Sinnlichkeit keine Körper
(Pbänomena) und also sind sie nur in der Vorstellungskraft
empfindender Wesen. Ob diesen ihren Erscheinungen
>) Kr. A 385.
*) Ebenda 373.
') Ebenda 375 f.
*) Ebenda 372.
Digitized by
Google
16
etwas aufser mir korrespoDdiert, ist eine Frage Ton
der Ursache dieser ErscheiDung und nicht von der
Existenz dessen, was erscheint, selbst.'' i) „Die Wirk«
lichkeit der Körper ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, son-
dern der Erscheinungen.* ') Trotzdem wird die hier abgewiesene
Frage nach der Existenz der Ursache der Erscheinungen in
demselben Znsammenhange bejaht, denn in der nächsten Re*
flexion heifst es: „Der Idealist behanptet, die Körper seien
nur Schein: der Realist, sie sind eine Erscheinung, dem doch
eine besondere Art Substanzen wirklich korrespon-
diert*') Unter dieser „besonderen Art von Substanzen*
können nur Dinge an sich gemeint sein, weil sie der Erschei-
nung und nicht etwa der Vorstellung entgegengestellt werden.
Daraus geht aber hervor, dafs, obwohl Kant hier schon gesehen
hat, dafs kein Beweis für die Existenz der Dinge an sich zn
erbringen ist, diese Existenz ihm trotzdem noch nicht zum
Problem geworden war, denn sonst hätte er erklären müssen, mit
welchem Recht er an dieser Existenz, trotz ihrer Unbeweisbar-
keit, festhält. Dieser Umstand macht es verständlich, dafs die
ersten Leser der Erörterungen im vierten Paralogismus in diesem
die Neubelebung eines Berkeleyschen Idealismus erblicken
konnten; hier kommt zwar nichts vor, was nicht bereits in der
transscendentalen Ästhetik in bezng auf die Realität der Er-
scheinung gesagt worden ist, jedoch fehlt die Betonung der
Existenz der Dinge an sich, weil diese hier gar nicht in
Frage kam.
In den Prolegomena werden wir umsonst einen Beweis
für das Dasein der Dinge an sich suchen. Hingegen protestiert
hier Kant mit voller Schärfe wider die Zumutung eines em-
pirischen Idealismus, indem er immer wieder hervorhebt, dafs
ihn von allen Idealisten das unterscheide, dafs er den Dingen
an sich ihr Dasein läfst und nur den Erscheinungen dieser
Dinge an sich ein von ihnen unabhängiges Sein abspricht.
Der Idealismus, gegen den hier Front gemacht wird, ist nicht
mehr der skeptische des Descartes, sondern der dogmatische
0 Reflexion Nr. 1191.
*) Reflexion Nr. 1193.
*) Daselbst.
Digitized by
Google
17
Berkeleys. Dieser .Idealisrnns besteht in der Behauptang, dafs
es keine anderen als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge,
die wir in der Anschauung wahrznnehmen glauben, wären nur
Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein
aufserhalb dieser befindlicher Gegenstand korrespondiert Ich
dagegen sage: es sind uns Dinge als aufser uns befindliche
Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie
an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen
nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns
wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe
ich allerdings, dafs es aufser uns Körper gebe d.i. Dinge, die
obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns
gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche
ihr Einflufs auf unsere Sinnlichkeit uns verschafft, und denen
wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also
blofs die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber
nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet.
Kann man dies wohl Idealismus nennen? '^O
Wir sehen also, mit welcher Entschiedenheit Kant hier die
Existenz der Dinge an sich behauptet. Jedoch gibt er auch
hier keinen Beweis, weil dieser noch nicht nötig geworden ist
Das Dasein der Dinge an sich ist hier erst zum „spezifischen
Merkmal^ des Kantischen Idealismus geworden, jedoch zum
Probleni hat es sich noch nicht ausgebildet >) Diese Fortbildung
erblicke ich nicht in der berühmten Widerlegung des Idealismus
in der 2. Auflage,') sondern in einer Bemerkung in der Vor-
rede, die wahrscheinlich nach Abschlufs der zweiten Redaktion
geschrieben wurde. ^) Da heiüst es: „gleichwohl wird, welches
>) Prolegomena WW. IV, 288 f. In der Tat, es ist unverständlich,
wie diese und ähnliche so deutliche Stellen mifsverstanden werden können,
80 dals das Ding an sich aus der Kritik eliminiert wird. Aber nicht
minder erstaunlich ist es, dals manche Ausleger Kants, die das Ding an
»ich sonst gelten lassen, hier in den Proiegomena alle Äufserungen über
die Wirklichkeit auf die Erscheinung und nicht auf die Dinge an sich
beziehen wollen, allerdings, wie von ihnen selbst zugestanden wird, nicht
ohoe „heroische** Interpretationskünste. So Busse, Zu Kants Lehre vom
Ding an sich. Fichtes Zeitschrift Bd. 102 b.
*) Erdmann, Kants Kritizismus S. 94.
') Man vgl. dagegen Erdmann, ebenda 201. [ausgäbe III, 558.
*) Man vgl Erdmann, Einleitung zur Kritik d. r. Y. in der Akademie-
PbaowphiMlie Abhaadlnngtii. XLl. 2
Digitized by
Google
18
wohl gemerkt werden mnfs, doeh dabei immer Yorbehalteo, dafs
wir eben dieselben Gegenstände aueh als Dinge an sieh selbst
wenngleich nicht erkennen, doch wenigstens mttssen denken
können. Denn sonst wttrde der ungereimte Satz daraus folgen,
dafs Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.^ ^) Diese
Äufserung hat viel Ähnlichkeit mit der oben zitierten Deduktion
aus dem Begriffe Erscheinung in der 1. Auflage. Sie ist in-
dessen viel vorsichtiger gehalten. Es wird nicht mehr gesagt,
dafs die Lehre von der Erscheinung zugleich die Lehre von
Dingen an sich bedeute; dafs den Erscheinungen etwas korre-
spondieren mttsse, was von der Sinnlichkeit unabhängig ist,
sondern nur, dafs wir einen solchen Gegenstand müssen denken
können. Von überaus wichtiger Bedeutung ist aber die An-
merkung zu obigem Satze: „Einen Gegenstand erkennen dazu
wird erfordert, dafs ich seine Möglichkeit . . . beweisen könne.
Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mich nur nicht
selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher
Gedanke ist, ob ich zwar daftir nicht stehen kann, ob im In-
begriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korre-
spondiere oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objektive
Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war blofs die
logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert Dieses
Mehrere aber braucht eben nicht in theoretischen Er-
kenntnisquellen gesucht zu werden, es kann auch in
praktischen liegen.'^ 2) Hier sehen wir das Problem gänzlich
entwickelt Das was in der ersten Auflage nur noch vom
Noumenon in positiver Bedeutung gesagt werden konnte, nämlich
dafs die logische Möglichkeit eines Begriffes noch nicht die
reale bedeutet, das wird hier direkt auf das Ding an sich aus-
gedehnt; aber es wird gleichzeitig gezeigt, mit welchem Recht
man an diesen Dingen festhält, ja festhalten muis. Gleich
eingangs wird in dieser Anmerkung indirekt gezeigt, dafs von
einem theoretischen Beweise für die Existenz der Dinge an
sich nicht die Rede sein kann; denn das wttrde ein Erkennen
voraussetzen, was hier ausgeschlossen ist Dann wird kon-
statiert, dafs wir nur einen Begriff von ihnen haben, der die
») Vorrede 2, XXVI.
*) Ebenda Anm.
Digitized by
Google
19
reale MOgliehkeit nicht einschliefst; dafs wir aber trotzdem
TOD ihnen aussagen dürfen, dafs sie sind, weil ans der prak-
tischen Vernunft ein Beweis fttr ihr Dasein zu erbringen ist
Dieser Hinweis auf das Praktische, das beim Ding an sich
vertreten soll, was in der Empirie die Anschauung leistet —
denn sie ist es, die einem Begriffe reale Möglichkeit verschafft
— ist jetzt notwendig geworden. Denn das Dasein der Dinge
an sich, die früher harmlos vorausgesetzt wurden, hat sich in-
folge der Kritik, die Kants Werk erfahren hat, zum Problem
ausgebildet. Und als sich herausstellte, dafs die theoretischen
Erkenntnismittel nicht ansreichen, um dieses Dasein zu be-
gründen, griff Kant zur praktischen Philosophie. Da zeigte
sieh, wie notwendig jene Vorraussetzung war, obwohl man
diese Folgen damals noch nicht übersehen konnte. Es wurde
nämlich klar, dafs mit dem Fallen der Dinge an sich der Be-
griff der Freiheit fallen müfste.^)
Von hier ans läfst sich, wie ich glaube, die ganze Schwierig-
keit, die die Stellung des Dinges an sich im Kantischen System
bereitet, auflösen. Die transscendentale Ästhetik, die in ihren
HaaptzUgen bereits im Jahre 1770 fertig war, hatte die Dinge
an sich vorausgesetzt Die transscendentale Analytik zieht
ihre kritische Konsequenz so weit, dafs, wo Anschauung fehlt,
nicht nur keine Erkenntnis möglich ist, sondern, dafs man von
einem derartigen ttbersinnlichen Dinge nicht einmal aussagen
darf, dafs es ist Sie bezieht dies jedoch nur auf Noumena in
positiver Bedeutang, weil sie vor allem gegen dogmatische
Rationalisten zu kämpfen hat Hierbei übersieht Kant freilich,
dafs dasselbe, was sich über das Noumenon in positiver Be-
deutung sagen läfst, nicht minder von demjenigen in negativer
Bedeutung gilt, und übersieht dies deshalb, weil die Dinge an
sieh fttr ihn etwas so Selbstverständliches waren, dafs an
ihnen zu zweifeln ihm nicht in den Sinn gekommen ist Infolge
der Kritik seitens seiner Gegner wird Kant anf das Problem
aufmerksam. Jetzt gibt er zu, dafs theoretisch das Ding an
sieh nicht zu rechtfertigen sei, deutet aber an, es seien prak-
tische Gründe vorhanden, die anznnehmen zwingen, dafs dem
Sinnlichen ein Übersinnliches zugrunde liege. Die Kritik der
praktischen Vernunft ftlhrt dies nachher weiter aus.
") Man vgl. S. 6 dieser Schrift ^^
Digitized by VjOOQ IC
20
E8 bleibt noch nachzuweisen, dafs die Widerlegung des
Idealismus in der 2. Auflage nicht die Existenz der Dinge an
sich, sondern dafs sie genau wie diejenige im 4. Paralogismns
die Wirklichkeit der Erscheinung beweisen will. Diese Wider-
legung gehört bekanntlich zu den umstrittensten Stellen in der
Kantischen Kritik, weil sie anscheinend gerade das Gegenteil
von dem behauptet, was die 1. Auflage in dieser Beziehung
gelehrt hat. Die ganze Verwirrung scheint aber durch eine
einzige unglückliche Wendung in diesem Beweise verursacht
worden zu sein. Und als ob das Schicksal diese, durch Kants
unvorsichtige Ausdrucksweise verschuldete Verwirrung wieder
gut machen wollte, besitzen wir jetzt gerade zu dieser Stelle
die reichsten Kommentare, wie man sie sich nicht besser
wünschen kann, in den Reickeschen Losen Blättern und zum
Teil in den Erdmannschen Reflexionen. Durch das Vorhanden-
sein dieser Ergänzungen sehen wir, dafs hier in der Tat nicht
nur keine Abweichung von der bisherigen Lehre vorhanden
ist, sondern dafs unser Beweis vielmehr eine Vertiefung des-
jenigen aus dem 4. Paralogismns bedeutet.
Es soll das Dasein der Dinge im Räume bewiesen werden.
Ist denn dies nicht bereits bewiesen ? Warum genügt die aus-
führliche Widerlegung des Gartesianischen Idealismus der
1. Auflage nicht mehr; warum muls sie durch eine neue die
„einzig mögliche'^ ersetzt werden? Einige Aufzeichnungen bei
Reicke geben darüber Aufschlufs. Die Widerlegung des
Idealismus, die Beweisart der Existenz der Dinge .kann nie-
mals durch innere Wahrnehmung ausgemacht werden und den
schärfsten inneren Sinn, weil man das unwillkürliche Spiel der
Imagination in sich nicht vom Sinn unterscheiden kann.^^
Ferner: «Wir kOnnen den Sinn als von der Einbildungskraft
unterschiedenes Vermögen zwar nicht durch Empfindung alleiu,
aber durch einen sicheren Schlufs unterscheiden.^ 2) Welches
nun dieser Schlufs ist, erfahren wir wiederum aus einer Auf-
zeichnung, die gegen Eberhard gerichtet ist: „Von E.'s Beweis
gegen den Idealismus. Es ist aus der inneren Wahrnehmung
schlechterdings nicht möglich zu beweisen, dafs der Grund der
') Lose Blätter 229.
>) Ebenda 210.
Digitized by
Google
21
Vorstelliing nicht in mir war, aber wenn ich eage, gesetzt, er
sei alle Haie in mir, so wäre gar keine Zeitbestimmang meines
Daseins . . /^) so ist dies ein sicherer Schlafs.^) In der alten
Widerlegung wurde das unmittelbare Bewufstsein vom Dasein
äniserer Dinge vorausgesetzt und gesagt: «Also existieren
ebensowohl äufsere Dinge, als ich selbst existiere, und zwar
beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewnfstseins.^ ^)
Jetzt genügt dieses Zeugnis nicbt; denn das Selbstbewufstsein
wird eben in Frage gestellt. Es mufs also zuerst bewiesen
werden, dais wir ein Bewufstsein von Dingen und nicht von
Phantasmagorien haben, dafs das Bewufstsein mehr ist, als ein
blofses Spiel unserer Imagination. „Der verlangte Beweis mufs
also dartun, dafs wir von äufseren Dingen auch Erfahrung,
und nicht blofs Einbildung haben.^^) [„Erfahrung ist Er-
kenntnis der Gegenstände, die den Sinnen gegenwärtig sind,
Einbildung ist Anschauung auch ohne Gegenwart des Gegen-
standes, und das Objekt heifst alsdann ein Phantasma.^ ^)]
Dies wird auch geleistet. Unser eigenes Dasein ist in der Zeit
bestimmt Jede Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches voraus.
Das ist ein Grundsatz. Nun kann aber «das Dasein eines
Dinges in der Zeit . . . nicht durch das Verhältnis seiner Vor-
stellungen in der Einbildungskraft zu anderen Vorstellungen
derselben, sondern als eine Vorstellung des Sinnes, zu dem,
was an den Gegenständen desselben beharrlich ist, bestimmt
werden"^), weil die Vorstellungen der Einbildungskraft^ als blofs
zum inneren Sinne gehörig, nur in der Zeit verlaufen, denn
>) Ebenda 232.
*) In den einleitenden Worten zu seiner Widerlegung sagt Kant:
„Einen mächtigen Einwurf aber wider diese Regeln, das Dasein mittelbar
zn beweisen, macht der Idealismus.'' Kr. 274. Nun hat man den Ausdruck
, mittelbar" als einen Druckfehler anstatt unmittelbar hinstellen wollen.
Aber abgesehen davon, dafs sowohl der Zusammenhang, wie der Beweis
selbst dies verbieten, geht aus den hier angeführten Stellen ganz deutlich
hervor, was Kant wollte; er ist nämlich bestrebt, durch einen richtigen
Schlnis, also mittelbar die Unmittelbarkeit der äufseren Wahrnehmung
zn beweisen.
') Kr. A370f.
«) Kr. 276.
') Lose Blätter 101.
•) Ebenda 202.
Digitized by
Google
22
„was bloUse Vorstellung ist, kann ich nicht znm Objekt des
äufseren Sinnes machen, denn dessen Form ist der Baam",^)
also bietet die Einbildnngskraft nichts Bleibendes, welches aber
fttr jede Zeitbestimmung nnentbehrlich ist „Im Ranme allein
setzen wir das Beharrliehe, in der Zeit allein ist unaufhörlicher
Wechsel." 2) „Dieses Beharrliche ... d. i. der Baum kann
also nicht wiederum Vorstellung der blofsen Einbildungskraft,
sondern mufs Vorstellung des Sinnes sein." 3) Daher beweist
jede Zeitbestimmung, dafs es etwas Beharrliches im Baume
und nicht in der Einbildungskraft gibt Wir haben es also in
bezug auf die äufseren Erscheinungen mit Erfahrung und nicht
mit Erdichtung, mit Sinn und nicht mit Einbildung zu tun.
Nun wird selbst von den Idealisten behauptet, dafs das
Bewufstsein unserer selbst ein unmittelbares ist Dieses ist
aber, wie zugegeben werden mufs, ein in der Zeit bestimmtes.
Diese Zeitbestimmung wiederum ist, wie gezeigt worden, nur
unter der Voraussetzung eines Beharrliehen im Baume möglich.
„Also mufs ich, so gut wie ich mir meines Daseins in der Zeit
bewufst bin, auch des Daseins äufserer Dinge obzwar nur
als Erscheinungen, doch als wirklicher Dinge bewulst
werden. Den inneren Sinn kann keiner allein haben und zwar
zum Behuf e der Erkenntnis seines inneren Zustandes.*^)
So yerlanfen in den Losen Blättern die Gedankengänge
Kants. Dafs aber auch dieser Beweis, ebenso wie der in der
1. Auflage, nur die Bealität der Erscheinung, nicht diejenige
der Dinge an sich beweisen will, geht mit aller Deutlichkeit be-
sonders aus folgender Bemerkung hervor, die hinter einem dieser
— hier vielfach wiederholten — Beweise sich befindet »Wenn
unsere Erkenntnis der äufseren Objekte eine Erkenntnis der-
selben und des Baumes als Dinge an sich selbst sein mttfste,
so würden wir aus unserer Sinnesvorstellung derselben als
aufser uns, niemals ihre Wirklichkeit beweisen können.
Denn uns sind nur Vorstellungen gegeben, die Ursache derselben
[d. h. die Dinge an sieh] kann nun entweder in uns oder
aufser uns sein, worüber der Sinn nicht entscheidet Sind
^) Ebenda 104.
s) Ebenda 212.
>) Ebenda 204.
«) Ebenda 189.
Digitized by
Google
28
aber die Yoratellangen des inneren Sinnes, sowohl als die des
äofseren blofs Vorstellnngen der Dinge in der Erscheinung und
ist [andererseits] selbst die Bestimmung unseres Bewufstseins
ftir den inneren Sinn nur durch Vorstellung auÜBer uns im
Räume möglich' i) ... so (müfste man etwa die hier abbrechende
Stelle ergänzen) schliefse ich nicht von der Wirkung auf eine
bestimmte Ursache, denn nur die Wirklichkeit der Wirkung
wird konstatiert, weil ohne dieselbe die Bestimmung meines
Daseins unmöglich wäre. D. h. es gibt einen äufseren Sinn und
nicht nur Einbildung. 2) Es ist nicht einzusehen, wie es möglich
ist, aus obigen Prämissen das Gegenteil des von uns ergänzten
Schlusses zu folgern, was doch offenbar gemacht werden mufs,
wenn man in diesen Erörterungen einen Beweis fbr das Dasein
der Dinge an sich erblicken will. Denn es ist unverständlich,
wie aus der Tatsache, dafs wir es lediglich mit Erscheinungen
zu tun haben, eher die Existenz der Dinge an sich abgeleitet
werden könnte, als wenn wir diese so erkennen würden, wie
sie sind.
Wir sehen also, Kant betont auch hier, genau wie in der
1. Auflage'), dafs er das Dasein der Dinge an sich nicht be-
weisen wolle, weil dies immer ein unsicherer Schlufs von der
Wirkung auf die bestimmte Ursache sein müfste. Die Möglich-
keit der Bestimmung unseres Daseins in der Zeit zwingt uns
zu der Annahme, dafs die äufseren Wahrnehmungen von einem
äufseren Sinne und nicht von der Einbildungskraft herrühren,
weil die Einbildungskraft das zu diesem Zwecke notwendige
Beharrliche nicht liefern kann. Woher aber der Sinn diese
Wahrnehmungen habe, das bleibt nach wie vor unbestimmt
>) Ebenda 204.
*) Man vgl. die ganz ähnliche Erörterung in der Er. A 372 und in
den Prolegomena § 49 Schlufs, wo Analoges von der Erscheinung be-
hauptet wird: Sind „Erscheinungen etwas aufser uns Existierendes, so
können alle Kriterien der Erfahrung auiser unserer Wahrnehmung niemals
die Wirklichkeit dieser Gegenstände aufser uns beweisen.*' Wenn dies
von den Erscheinungen gilt, so gilt es doch mindestens in gleichem
Mifse von den Dingen an sich, die doch strikte aufser uns sind. Wie
kann man demnach annehmen, dafs Kant jemals die Wirklichkeit der
Dinge an sich vermittelst der .Kriterien der Erfahrung* habe beweisen
wollen?
*) Kr. A 375 f.
Digitized by
Google
24
Die speknlatiye Vernniift kann darttber nichts aussagen; naeh
ihr kann diese Ursache ein Ding an sich aufser nns sein, sie
kann aber auch eine Kraft in nns sein, die dies Alles ans sich
heraus produziert, i)
Nach dem Vorausgeschickten können wir zur Wider-
legung des Idealismus selbst zurückkehren, die wir jetzt
in anderem Lichte sehen werden. Das richtige Prinzip, nämlich
der Ausgang von der Zeitbestimmung war ja bereits entdeckt;
jedoch hatten hier die Gedanken noch nicht ihren klarsten
Ausdruck gefunden. Der springende Punkt, die Unterscheidung
von Sinn und Einbildung, wiewohl in der Einleitung zum Be-
weise ausdrücklich betont, wurde nachher nicht deutlich genug
hervorgehoben, und dieser Mangel an Klarheit wird es wohl
gewesen sein, der Kant genötigt hat, diese Widerlegung in den
Losen Blättern immer wieder vorzunehmen.*^) Dort ist zwar
im Prinzip nichts Neues hinzugekommen, die Gedanken sind
jedoch immer präziser geworden, so dafs nicht mehr gezweifelt
werden kann, dafs lediglich die Realität der äufseren Er-
scheinung und ihre Verschiedenheit von den Ausgeburten der
Phantasie bewiesen werden sollte. Damit sind aber auch alle
Schwierigkeiten, die in unserem Beweise vorkamen, beseitigt
Unser Beweis lautet: „Das blofse, aber empirisch bestimmte
Bewufstsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der
Gegenstände im Raum aufser mir. — Beweis: Ich bin mir
meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewufsi Alle Zeit-
bestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung
voraus. 3) Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung
in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins,
die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und
bedürfen als solche selbst ein von ihnen unterschiedenes
1) Man vgl. oben S. 22 Zeile 2 von unten.
«) Man sehe L.Bl. 08—104 (speziell 101 f.), 189 f., 200—205, 209—216,
260—263. Dafs alle diese Erörterungen nach dem Erscheinen der zweiten
Auflage der Kritik, also nach dem Jahre 1787 aufgezeichnet worden sind,
unterliegt — dem Inhalte nach zu urteilen — keinem Zweifel. Bei einer
dieser Aufzeichnungen (S. 200—205) ist dies bezeugt: sie befindet sich
auf einem Briefe, der mit dem Datum: «Königsberg 13. Octobr. 1788*^
versehen ist.
») Kr. 275.
Digitized by
Google
25
Bebanliehes, worauf in Beziehung der Wechsel derselben mithin
mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden
könne.1) Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch
ein Ding anfser mir und nicht dnrcb die blofse Vorstellung
eines Dinges anfser mir möglich. Folglich ist die Bestimmung
meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher
Dinge, die ich aufser mir wahrnehme, möglich.^ 2) Dieser
Beweis enthält nun unleugbar eine zwiefache Schwierigkeit.
Es soll das Dasein der Dinge im Räume bewiesen werden, also
der Erscheinungen. Nachher wird aber gesagt, dafs das
Beharrliche nicht durch die blofse Vorstellung (also Erscheinung)
eines Dinges möglich wird, sondern durch ein Ding aufser uns,
worunter allem Anscheine nach das Ding an sich gemeint ist
Dann wird aber erstens etwas anderes bewiesen, als soeben
als Absicht hingestellt war. Und was wichtiger ist, Kant zieht
einen Schlufs von der Wirkung auf die bestimmte Ursache.
Das Beharrliche kann doch wohl auch blofs eine beharrliche
Vorstellung sein, deren Grund unbestimmt bleibt Nimmt man
dagegen an, was viel einfacher ist, dafs unter „Ding" hier nur
die Erscheinung gemeint sei, so steht dieser Satz im Widerspruch
mit der so oft eingeschärften Lehre der transscendentalen
Ästhetik, dafs der räumlichen Aufsenwelt keine vom Subjekte
unabhängige Existenz zukomme, was doch — wie es scheint —
hier gerade behauptet wird. — Es ist ersichtlich, dafs, welche
Interpretation man auch fllr die richtige hält, eine Schwierigkeit
zu Tage tritt, die nicht leicht wegdisputiert werden kann.
Man sah sich daher gezwungen, durch verschiedene Inter-
pretationskünste diese Schwierigkeit zu beseitigen. Was man
aber auch unter «Ding aufser mir"* verstand und wie man
auch dem Widerspruche auszuweichen suchte — Kant zog
dabei immer den kürzeren: Verstand man unter „Ding*' das
transscendentale Objekt, so mufste man Kant vorwerfen, er
begehe einen Fehlschufs, nämlich von der Wirkung auf die
Ursache. Denn der Grund der beharrlichen Erscheinung kann
ebensowohl im transscendentalen Subjekt, als anderswo liegen.^}
«) Vorr. 2, XXXIX Ann.
«) Kr, 275.
') Erdmann, Kaats KritizismuB 203.
Digitized by
Google
26
Bezog man hingegen „Ding'' auf die Erseheinnng, so war es
womöglich noch schlimmer. Denn man glaubte konstatieren
zu mttBsen, dafs der Urheber der Unterscheidung von Ding an
sich und Erscheinung selbst diese beiden Begriffe in unheil-
vollster Weise verwirrt habe. Andere wiederum kamen zu der
Überzeugung, dafs Kant von seiner ursprünglichen Lehre der
transscendentalen Ästhetik abgehe und jetzt — oder vielleicht
auch schon frUher — eine doppelte Affektion lehre, nämlich die
Affektion durch das Ding an sich und die Affektion durch die
Erscheinung. Das Ding an sich affiziere das transscendentale
Subjekt, dieses mache aus dem intelligiblen Grund eine
empirische Erscheinung, diese Erscheinung stehe also dem
empirischen Subjekt selbständig gegenttber und rufe in ihm
Vorstellungen hervor. Diese Lehre von der doppelten Affektion
— wird ferner behauptet — stehe zwar nicht im äufseren
Widerspruch mit dem Kantischen System, zerstöre es aber von
innen heraus, i)
Die unheilvolle Verwirrung, die durch diese Skizze der
Kontroverse noch lange nicht erschöpft ist, wurde, wie gesagt,
durch den Satz hervorgerufen: „Also ist die Wahrnehmung
dieses Beharrlichen nur durch ein Ding aufser mir, und nicht
durch die blofse Vorstellung eines Dinges aufser mir möglich.*
Auf das richtige Verständnis dieses Satzes kommt also alles
an. Nun wissen wir aus dem Vorhergehenden, dafs Kant hier
gegen denjenigen Idealismus ankämpft, der, wenn er nicht
geradezu die Aufsenwelt als das Produkt unserer Einbildungs-
kraft ansieht, so doch diese Frage mit einem «Non liquet'
abfertigt Der ganze Beweis wird daher darauf beruhen
müssen, dafs der Sinn durch irgend ein Kriterium von der Ein-
bildungskraft unterschieden wird, oder genauer, er wird in dem
Nachweise liegen, dafs es aufser der Einbildungskraft einen
Sinn geben mttsse. Dies geschieht aber, wenn man feststellt,
dafs zur Zeitbestimmung etwas Räumliches, aufser mir befind-
liches notwendig ist. Denn wir haben zwar eine Vorstellung
„Ich", wir haben auch Vorstellungen der Einbildungskraft; aber
M Man vgl. Vaihinger, Zu Kants Widerlegang des Idealismas. Strafs-
burger Abhandlangen 1884. — Busse, a. a. 0. — Falkenberg, Geschichte
der neueren Philosophie. 6. Aufl. 317 ff. Man vgl. aaüserdem Vaihinger,
Commentar II, 52 Anm.
Digitized by
Google
27
diese kennen das gesochte Beharrliche nicht sein, weil sie nur
YorsteUangen sind und als solche nnr in der Zeit verlaufen
and nicht beharren, während wir weiterdenken. ^Denn das
Ich ist zwar in allen Gedanken ; es ist aber mit dieser Vor-
Btellung nicht die mindeste Anschanung verbunden, die es von
anderen Gegenständen der Ansehanang nnterschiede. Man kann
also zwar wahrnehmen, dafs diese Vorstellnng bei allem Denken
immer wiederum vorkommt, nicht aber, dafs es eine stehende
und bleibende Anschanung sei, worin die Gedanken (als wandel-
bar) wechselten. '^ 1) Es beharrt also nur das räumliche Ding.
Also ist dieses Beharrliche als räumliches Ding nicht die
blofse Vorstellung oder der blofse Gedanke, nicht lediglich
das Produkt unserer phantasierenden oder sogar produktiven
Einbildungskraß, sondern eine Erscheinung, die unabhängig
von unseren Gedanken existiert und als änfseres Ding im
Sinne beharrt, während wir weiterdenken und unsere Gedanken,
die blolsen Vorstellungen, wechseln. Trotzdem kommt diesen
Erscheinungen kein absolutes Sein zu. Sie existieren zwar
unabhängig von ihrem Gedachtwerden, unabhängig von unserer
Einbildungskraft, nicht aber unabhängig von unserem Sinn.
,Uie Frage, ob es aufser mir etwas Wirkliches gibt, wird [nach
wie vor] so beantwortet: Körper sind auJser meiner Sinnlich-
keit keine Körper, und also sind sie nur in der Vorstellungs-
kraft empfindender Wesen. Ob diesen Erscheinungen etwas
aulser uns korrespondiere, ist eine Frage nach der Ursache
und nicht von der Existenz dessen, was erscheint selbst'^)
Die Richtigkeit dieser Unterscheidung der ^.blofsen Vor-
stellung' als Gedankending von der Erscheinung, die als aufser
ans existierendes Ding vom rationalen Teil unseres Subjektes
unabhängig ist, beweist folgende Entgegenstellung: „Was ich
mir als räumlich vorstelle, kann nicht zur Vorstellung des
inneren Sinnes gezählt werden, denn diese seine Form ist die
Zeit, die nur eine Dimension hat Ebenso was blofse Vor-
stellung ist, kann ich nicht zum Objekt des äufseren Sinnes
machen, denn dessen Form ist der Raum.'^s) Die blofse Vor-
») Kr. A 350.
*) Reflexion Nr. 1191.
*) Lose Btttter 104.
Digitized by
Google
28
stelloDg steht also hier im direkten Gegensatz zur änrseren
Erscheinung. Noch deutlicher geht dies hervor, wenn man den
Sinn des Ausdruckes „das Beharrliehe* genau feststellt In
unserer Widerlegung heifst es: „Dieses Beharrliche . . . kann
nicht eine Anschauung in mir sein, denn alle Bestimmungs*
grttude meines Daseius, die in mir angetroffen werden können,
siud Vorstellungen." 1) Man vergleiche nun hiermit ähnliche
Erörterungen ans den Losen Blättern und den Reflexionen:
„Dieses I Beharrliehe] mufs aufser uns als Gegenstand des
äußeren Sinnes angeschaut werden." 2) «Dieses Beharr-
liche ... d.i. der Raum kann nicht wiederum Vorstellung
der blofsen Einbildungskraft, sondern mufs Vor-
stellung des Sinnes sein.* 3) Endlich sagt Kant in den
Reflexionen: «... Allein wir können unsere eigene Existenz
nur erfahren, sofern wir sie in der Zeit bestimmen, wozu das
Beharrliche gehört, (da wirkliche) Vorstellung in uns keinen
Gegenstand hat. Auf der blossen Einbildung eines Be-
harrlichen aufser uns kann sich diese Vorstellung [Ich] auch
nicht gründen. . . . Unsere Vorstellung, sofern sie zum Be-
wufstsein unser selbst gehört, hat keinen dergleichen Gegen-
stand." *)
Wir sehen also, was wir, hier wenigstens, unter dem Ans-
drnck „blofse'^ oder „wirkliche Vorstellung^* zu verstehen haben.
Allerdings kommt dieser Ausdruck auch als Bezeichnung itir die
Erscheinung vor, um ihre relative Existenz darzutun, so wird
z. B. der Raum „blofse Vorstellung^^ genannt,^) ebenso nennt
Kant wiederholt die Erscheinungen „bloUse Vorstellungen^^«)
Dafs aber in unserem Falle mit diesem Ausdrucke nur eine
von allem Sinnlichen freie Handlung unseres Denkens oder
unserer Einbildungskraft gemeint sein kann, geht mit aller
Deutlichkeit aus dem Angefllhrten hervor. Diese Feststellung
der Bedeutung des Terminus ,^blofse Vorstellung" in unserer
Widerlegung ist von nicht geringer Wichtigkeit Denn fttrs
0 Vorr. 2, XXXIX Anm.
'^) Lose Blätter 212.
*) Ebendft 101.
«) Reflexion Nr. 1195.
») Kr. A 374.
•) Kr. 164.
Digitized by
Google
29
erste geht aus dieser Feststellaog hervor, daüs in der Wider-
legnog nicht Ding an sich nnd Erscheinung, sondern Erscheinung
nnd Vorstellung (im engeren Sinne) einander gegenübergestellt
werden; yom Ding an sich ist hier also nicht die Bede. Damit
fallen aber zwei schwerwiegende Vorwürfe gegen Kant weg.
Erstens begeht er keinen Fehlschlufs von der Wirkung auf die
bestimmte Ursache. Zweitens kann man nicht einwerfen, dafs
zur Zeitbestimmung die Vorstellung eines Beharrlichen
genttgen wttrde; denn das eben ist Kants Meinung; >) er bekämpft
nur die Ansieht, dafs eine beharrliche Vorstellung der Einbildung
ausreichen wttrde, denn eine solche ist nach ihm unmöglich.
Außerdem geht aber ans unserer Feststellung hervor, dafs Kant
mit dieser Widerlegung nichts von seiner bisherigen Lehre auf-
zugeben, oder auch nur zu modifizieren braucht Im 4. Paralo-
gismus betont er die relative Existenz der Erscheinung gegenüber
dem common sense, der die Erscheinungen für Sachen an sich
nunmt, sowie gegen den psychologischen Idealismus, der dasselbe
tut, um die Anfsenwelt nachher zu bezweifeln. In unserer Wider-
legung legt er dagegen Gewicht darauf, dafs den Erscheinungen
des änfseren Smnes im Gegensatz zu den Vorstellungen der
Einbildungskraft ein Sein unabhängig von unserem blofsen
Denken zukommt^) Mit anderen Worten: einmal steht die
Erscheinung im Gegensatze zu an sich existierenden Dingen,
und dann ist sie nur in uns, weil selbst der Baum nur eine
Vorstellung in uns ist; das andere Mal steht die Erscheinung
im Verhältnis zu der blofsen Einbildung, und dann kommt ihr
ein von der Einbildungskraft unabhängiges Dasein zu; sie ist
dann aufser mir, aufser meinen spezifisch innerlichen Vor-
stellungsfähigkeiten — sie ist in dem Sinne. Wenn ich mir
also einen Pegasus vorstelle oder an Plato denke, so kommt
diesen Vorstellungen kein Sein aufser mir (aufser der Ein-
bildungskraft) zu; sehe ich hingegen einen Baum vor mir
stehen, so korrespondiert meinem Gedanken vom Baume eine
wirkliehe sinnliche Erscheinung, obwohl diese als Erscheinung
nur in mir ist, denn selbst der äufsere Sinn ist in mir. Aller-
dings wird die Erscheinung dem rezeptiven Sinne durch ein
^) Man vgl. Vorr. 2, Anm. S.XLI.
*) L.B1. 204 f.
Digitized by
Google
so
Ding an sieb geliefert, das ihn affiziert Ob dieses aber in
nns (in unserem transscendentalen Subjekt) oder anfser uns
sei, wird hier nicht entschieden, denn der Sinn sagt darüber
nichts aus.i)
Auf Grund des herangezogenen Materials scheint uns also
folgendes festzustehen:
1. Die in der 2. Auflage gegebene Widerlegung des Idealis-
mus will ebenso wie diejenige im 4. Paralogismus der 1. Auflage
nur das Dasein der Erscheinungen beweisen.
2. Dieser Beweis bedeutet eine notwendige Vertiefung der
entsprechenden Erörterungen in der 1. Auflage, da dort das
unmittelbare Bewufstsein von Dingen vorausgesetzt und sein
Zeugnis in Anspruch genommen worden ist; hier hingegen wird
dieses unmittelbare Bewufstsein durch einen giltigen SchluIjB
— also mittelbar — bemesen.
8. Kant begeht in dieser Widerlegung weder einen Fehl-
schlufs, noch gibt er von seiner bisherigen Lehre etwas auf.
Dies alles entspricht der Tatsache, dafs hier der Idealis-
mus bekämpft wird, der es fUr möglich hält, dafs die Auijien-
welt lediglich eine Ausgeburt unserer Phantasie sei. Dem-
gemäfs mufste in der Widerlegung vor allem auf die notwendige
Unterscheidung von Sinn und Einbildung oder Einbildungskraft
Gewicht gelegt werden. Es liegt also gar kein Anlals zu der
Behauptung vor, dafs Kant Ding an sich und Erscheinung ver-
wirre oder dafs er eine doppelte Affektion lehre. Denn, wie
gesagt, Überall da, wo er der Erscheinung selbständiges Sein
zuspricht, ist dies relativ zur Einbildung oder Einbildungskraft
gemeint; wo ihr hingegen absolutes Sein abgesprochen wird,
geschieht dies im Verhältnis zum Sinne.
^) Lose El. S.204. Man vergleiche noch besonders den Aufsatz: Wider-
legung des problematischen Idealismus, der fUr Kiese wetter bestimmt war und
aus dem ganz klar hervorgeht, dafs von einem Beweise fUr die Existenz
der Dinge an sich in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein kann.
Der Schlufs der genannten Widerlegung, die mit derjenigen in der Kritik
im allgemeinen Ubereiustimmt, wenn sie auch viel klarer und deutlicher
ausgeflihrt ist, lautet wie folgt: „£s hat also der äufsere Sinn Realität,
weil ohne ihn der innere Sinn nicht möglich ist.** WW. Ed. Hartenstein
IV, 503.
Digitized by
Google
81
Nun werden wir auch folgenden Satz beflser verstehen.
Im vierten ParalogismuB heifst es: „Alle änfsere WahrnebmuDg
also beweist unmittelbar etwas Wirkliches im Banme oder ist
vielmehr das Wirkliche selbst, nnd insofern ist also der em-
pirische Idealismns aafser Zweifel, d.i. es korrespondiert
unseren änliseren Ansehanangen etwas Wirkliches im Banme.^ 0
Dieser Satz wird von den Erfindern der Theorie der doppelten
Affektion bei Kant zum Beweise angefahrt, dafs bereits in der
ersten Anflage eine Verwirrung in beztig anf das affizierende
Ding stattfindet Denn in unserem zitat wird im Nachsatze der
räumlichen Erscheinung eine selbständige Existenz zugeschrieben,
während dieses im ersten Teil des Satzes noch nicht behauptet
wurde. 2) In der Tat ist der Satz so ausgedrückt, dafs sein
erster Teil im scheinbaren Gegensatze zu der Erläuterung steht.
Die äufsere Wahrnehmung ist zunächst das Wirkliche selbst;
gleich darauf wird aber gesagt, dafs unseren Anschauungen
etwas Wirkliches im Baume korrespondiert Gewifs kann
es gerechtfertigt sein, im Eantischen System lauter Widersprüche
aufzudecken; man sollte jedoch davor zurückschrecken, in einem
und demselben Satze Kant eines Widerspruches zu zeihen.
Zudem kommt in Betracht, dafs unmittelbar nach den zitierten
Worten der Satz folgt: „Freilich ist der Baum selbst, mit allen
seinen Erscheinungen, als Vorstellungen, nur in mir* ^) und etwas
weiter: «Das Beale äufserer Erscheinungen ist also wirklich nur
in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirk-
lich sein."»)
Ich finde, dafs der angegriffene Satz gerade sehr lehrreich
und ein Beleg daftlr ist, was Kant meint, wenn er sagt, dafs
der Anschauung etwas Wirkliches korrespondiert Nämlich:
obwohl man im Gegensatze zu den Vorstellungen der Ein-
bildungskraft von den Anschauungen der Wirklichkeit sagen
mufs, dafs ihnen etwas im Baume (im Sinne) korrespondiert,
so bekommen doch diese korrespondierenden Erscheinungen
kebe selbständige Existenz, sondern sie sind mit den äufseren
Wahrnehmungen identisch, weil der Baum selbst in uns ist
Das Wirkliche im Baume korrespondiert den Vorstellungen,
0 Kr. A 375.
^ Yaihinger a. a. 0.
») Kr. A 376.
Digitized by
Google
82
den Gedanken, die in uns infolge der von den Sianen ge-
lieferten Anschaanngen entstehen. Dem Gedanken Baum
korrespondiert, wie erwähnt, die sinnliche Wahrnehmung Banm,
die für uns das Letzte ist und den Gegenstand repräsentiert
Der Vorstellung „Pegasus'^ oder der soeben geplatzten Seifen-
blase korrespondiert kein wirklicher Gegenstand — dem
Pegasus nicht, weil er nur eingebildet ist, der geplatzten
Seifenblase nicht, weil sie als Gegenstand der Sinne nicht
mehr gegenwärtig ist.
Nur einen solchen — historisch vielleicht gar nicht vor-
handenen, von Kant aber dem Descartes unterschobenen —
Idealismus, denjenigen nämlich, der die Unterscheidung von
Sinn und Einbildung nicht anerkennt, oder als ununterscheidbar
hinstellt, wollte Kant an den genannten Stellen bekämpfen. >)
Anders verhält es sich mit der Stellung zum Berkeleyschen
Idealismus. Hier hätte die Widerlegung ganz anders geführt
werden müssen. Kant trennt deshalb wiederholt sehr deutlich
den Idealismus des Descartes von dem Berkeleys. Bei der
Widerlegung des letzten konnte es sich nicht mehr um die
Feststellung der Existenz der Erscheinung handeln; denn
diese hat Berkeley in Wirklichkeit gar nicht geleugnet 2)
^) Hit unserer Auffassung der Wideriegang stimmt auch die lange
Anmerkung in der 2. Vorrede und besonders die Anmerkung 2 zur
Widerlegung in der Kritik selbst überein (Kr. 277 f.). Jedoch können wir
dies hier nicht weiter ausführen, weil es uns zu weit führen würde. Und
nochmals sei es hervorgehoben, bei dieser Widerlegung brauchte das Ding
an sich gar nicht berührt zu werden, denn dies wäre die Frage nach der
Ursache der Erscheinung, nicht aber nach ihrer Existenz selbst.
*) Berkeley war ebenso wie Kant empirischer Realist, nur war er
dabei nicht transscendentaler sondern transscendenter Idealist. Man Tgl.
besonders Berkeley, Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis.
(Deutsch von Ueberweg.) Sekt. XXXV f. „Ich bestreite nicht die Existenz
irgend eines Dinges, das wir durch Sinneswahmehmung oder durch
Reflexion auf unser Inneres zu erkennen vermögen. DaCs die Dinge,
die ich mit meinen Augen sehe und mit meinen Händen betaste, exi-
stieren, wirklich existieren, bezweifle ich nicht im mindesten. Das
einzige, dessen Existenz wir in Abrede stellen, ist das, was die Philo-
sophen Materie oder körperliche Substanz nennen . . . Wenn jemand
glaubt, dies tue der Existenz oder Realität der Dinge Eintrag, so ist er
weit davon entfernt, das zu verstehen, was bisher . . . auseinandergesetzt
worden ist." Es ist sehr zu bedauern, dafs Kant zu den von Berkeley
Digitized by
Google
33
Wenn demnach Berkeley widerlegt werden sollte, so mnfsten
ganz andere Momente in Betracht gezogen werden. Erstens
mnlste der vermeintliche Gmnd, der nach Kants Meinung
diesen Idealismus hervorgerufen hat, beseitigt werden, und
zweitens mulste die Existenz der Dinge an sich betont werden.
Das erste konnte Kant leicht gelingen. Indem er glaubte,
Berkeleys Idealismus sei lediglich durch die Widerspruche, die
ihm der Baumbegriff verursacht habe, hervorgerufen worden,^)
brauchte er nur auf die transscendentale Ästhetik oder auf
die Auflösung der ersten beiden Antinomien hinzuweisen.
Nach Kants Andeutungen im 4. Paralogismus ist dies allein
auch das Prinzip, das Berkeleys Idealismus widerlegen soll. 2)
Im Anhang zu den Prolegomena wird noch besonders diese
Widerlegung als Abwehr gegen die Göttinger Rezension
ausgeführt. Dieses ist aber nur der erkenntnis- theoretische,
nicht der metaphysische Unterschied der beiden Lehren. Der
vermeintliche Grund dieses Idealismus ist zwar mit der
Kantischen Lehre von Raum und Zeit gehoben. Der Idealismus
selbst brauchte aber trotzdem nicht aufgegeben zu werden.
Zwar haben Raum und Zeit neben ihrer Subjektivilät noch
das Merkmal des Apriori. Deshalb braucht aber nicht das,
hier getadelten Lesern gehört hat: seine Widerlegung Berkeleys wtirde
sonst vielleicht ganz anders ausgefallen sein. Er würde dann nicht nur
betont haben, dais er den Dingen an sich ihr Sein lasse, sondern auch,
mit welchem Recht und aus welchem Grunde er an dieser ihrer Existena
festhalte.
^) Tatsächlich verhält sich die Sache umgekehrt. Nicht der populäre
Ranmbegriff hat den Idealismus Berkeleys hervorgerufen; vielmehr hat die
Unvereinbarkeit dieses Begriffes mit dem um 1709 bereits feststehenden
Idealismus Berkeleys den „Versuch einer neuen Theorie des Sehens**
zur Folge gehabt Dies geht aus folgender Bemerkung Berkeleys in den
Prinzipien Sekt XLIII ganz klar hervor: «Denn wenn wir in Wahrheit
einen auiser uns liegenden Baum und wirklich in ihm existierende Körper,
die einen in grölserer Nähe, die anderen in weiterer Entfernung von uns
wahrnehmen können, so scheint dies einigermalsen dem oben Gesagten,
dab sie nirgendwo außerhalb des Geistes existieren, zu widerstreiten.
Die Erwägung dieser Schwierigkeit war das, was meinen Versuch einer
neuen Theorie des Sehens veranlarste.**
') Man darf also nicht behaupten, dafs er seine Ankündigung, diesen
Idealismus zu wideriegen, nirgends ansgefllhrt habe (Vaihinger a. a. 0.)»
denn dies geschieht nach Kants Bewufstsein in der Antinomienlehre.
Philosopbiiclie Abb«ndlangen. XLI. 3
Digitized by
Google
'84
was diese Formen fliUt, von einem Dinge an sieh herznrtlhren,
sondern aneh weiterhin könnte Gott dafttr in Anspmeh ge-
nommen werden, ohne dals dieses Material der empirischen
Anschauung seinen aposteriorischen Charakter verlieren würde.
Die Dinge an sich würden auch jetzt noch in Frage stehen,
wenn auch das esse^percipi durch ein esse - intelligi ersetzt
werden müTste, falls man das Resultat der Analytik auch noeh
in bezng auf die Erscheinungen anerkennen wollte. Zur ersten,
negativen Widerlegung, nämlich zu der Beseitigung des Grandes
des Berkeleyseben Idealismus, hätte noeh eine zweite, positive,
hinzukommen müssen, die das Sein der Dinge an sich dartun
müTste.
Eine Betonung der Dinge an sich ist nun, wie wir wissen,
in den Prolegomena in dem bekannten Protest vorhanden.
Dieser kann aber nicht gut Widerlegung genannt werden.
Kant sträubt sieh hier gegen den Berkeleyschen Idealismus,
indem er zeigt, dafs ihn von Berkeley die Annahme wirkender
Dinge an sieh unterscheide. Es fehlt jedoch jede Spur von
einem Beweise für ihre Existenz, weil diese noch damals für
ihn so selbstverständlich war, da£s sie nicht bewiesen zu
werden brauehte.^) Der Beweis konnte aber auch spekulativ
von Kants Voraussetzungen aus gar nicht geführt werden ohne
dafs man einen Fehlschlufs begehen würde, und insofern ist
Kant tatsächlich in der theoretischen Philosophie dem Berkeley
die Antwort schuldig geblieben.
^) Interessant ist die hier vorkommende Variante der Deduktion ans
der Erscheinang, die zeigt, wie wenig Kant damals einen strikten Beweis
zu geben Bedürfnis hatte. Proleg. § 32 heifst es: „In der Tat, wenn wir
die Gegenstände der Sinne, wie billig, als blolse Erscheinungen ansehen,
so gestehen wir hierdurch doch zugleich, daüs ihnen ein Ding an sich
selbst zum Grunde liege . . . Der Verstand also eben dadurch, dals er
Erscheinungen annimmt, gesteht anch das Dasein von Dingen an sich
selbst zu, und sofern können wir sagen, daü^ die Vorstellung solcher
Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin blolser Ver-
standeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unyermeidlich sei. Unsere
kritische Deduktion schliefst dergleichen Dinge (noumena) anch keines-
wegs aus . . .'
Digitized by
Google
Wid ist das Ding an sich beschaffen?
Für denjenigen, der die Kritik der reinen Vernunft nur
einigermaljsen kennt, mufs es absurd erseheinen, eine derartige
Frage auch nar za stellen. Der Grundgedanke der Kritik
ist der, dals alles, was wir bei der jetzigen Beschaffenheit
unseres Erkenntnisvermögens erkennen können, lediglieh die
Erscheinung eines unbekannten und unerkennbaren Etwas ist.
Ist es demnach nicht eine Verkennung der Kantischen Lehre,
wenn man nach der Beschaffenheit dieses Etwas fragt? Sagt
doch Kant ausdrücklich: „Man kann zwar auf die Frage, was
ein transscendentaler Gegenstand für eine Beschaffenheit habe,
keine Antwort geben, nämlich was er sei, aber wohl, dafs
die Frage selbst niehts sei'', weil „eine Frage nach der
Beschaffenheit desjenigen Etwas, was durch kein bestimmtes
Prädikat gedaeht werden kann . . . gänzlich nichtig und leer
sei*.^) Und an einer andern Stelle: „Was Dinge an sich sein
mOgen, weils ich nicht und brauche es nicht zu wissen'^.
Und doch gibt es viele Anhaltspunkte, welche die obige
Fragestellung rechtfertigen. Wir wissen, dafs die trans-
scendentale Ästhetik eine Vielheit wirkender Dinge an sich
▼oranssetzt und dafs die transscendentale Analytik diese Vor-
aussetzung aufrechthält, auch nachdem diese Dinge zum Problem
geworden sind. Welche Konsequenzen in bezug auf die Be-
schaffenheit der Dinge an sich aus dieser Voraussetzung zu
ziehen sind, werden wir im Verlauf unserer Untersuchung
Uber den Anteil des Dinges an sich an der empirischen An-
schauung des näheren auszuführen haben. Hier wollen wir
uns mit der Andeutung begnOgen, dafs der kritische Haupt-
gedanke, dab wir Uber die Beschaffenheit Übersinnlicher Dinge
niehts aussagen dürfen, Kant nicht gestört hat, die Dinge an
sieh naeh der Art der Leibniz'schen Monaden zu denken.
») Kr. 507 Anm.
3*
Digitized by
Google
36
Diese PriyatmeinaDg Kants über die Dinge an sich auch
im kritischen Hauptwerke entdeckt zu haben, ist das Verdienst
B. Erdmanns. 1) Später haben seine Schüler O.BiedeP) und
Eumetaro Sasao') dies ausführlich zu begründen gesachi
Seither findet dieser Gedanke immer gröfsere Anerkennung
und hat sich fttr die richtige Einschätzung der Stellung des
Dinges an sich im Kantischen System als sehr fruchtbar
erwiesen. — Dieser Auffassung zufolge kommen den Dingen
an sich neben den negativen aach positive Bestimmungen zu.
Negativ läfst sieh zunächst sagen, dafs sie räum- und zeitlos
sind. Aus diesen Bestimmungen folgt weiter analytisch^) die
Beharrlichkeit (zeitloses Sein) und Einfachheit (weil alles Zu-
sammengesetzte sinnlich ist). Aber neben diesen Eigenschaften
kommen ihnen alle positiven Prädikate zu, die Gott als un-
endlichem Wesen zukommen, wenn auch nur in geringerem
Mafse.^) Sie wirken aufeinander durch eine gesetzmäfsige
Wechselwirkung, <^) die Gott zur Ursache hat
Wer diesen monadologischen Charakter der Dinge an sich
nicht zugeben will, mnis sich mit der dann überaus schwierigen
Stelle in den Bemerkungen zu L. M. Jakobs Prüfung der
Mendelssohnschen Morgenstunden auf irgend eine Weise
auseinander setzen. In diesen «Bemerkungen*'') zeigt Kant,
welcher Mittel sich Mendelssohn bedient, um die schwierigen
Probleme der Philosophie zu lösen. Er habe zu diesem Behufe
zwei Maximen von denen die eine darauf hinauslaufe «die
Nachforschung der reinen Vernunft ... zu hemmen und dem
Frager kurz und gut den Mund zu stopfen. In den Morgen-
stunden S. 116 heilst es: ,Wenn ich euch sage, was ein Ding
wirkt oder leidet, so fragt nicht weiter was es ist? Wenn ich
euch sage, was ihr euch von einem Dinge fttr einen Begriff
') Man vgl. Kants Eritizisrnns 74 f.
') Die monadologischen Bestimmungen der Dinge an sich 1888.
*) Prolegomena zur Bestimmung des Gottesbegriffes bei Kant Ab-
handlungen zur PhiloB. und ihrer Gesch., herausg. von B. Erdmann, 1900.
*) Denn die Existenz der Dinge an sich ist selbstverständliche yo^
aussetzung.
•) Man sehe weiter unten.
•) Sasao a. a. 0. 29.
') WW. Ed. Hartenstein IV, 465.
Digitized by
Google
37
zn maeben habt, so bat die fernere Frage: was dieses Ding
an sieb selbst sei? weiter keinen Verstand*
Nnn polemisiert Kant gegen diese Maximen nnd meint:
Jreilicb, wenn wir Wirkungen eines Dinges kennen, die in der
Tat Eigensebaften eines Dinges an sieb selbst sein können, so
dürfen wir niebt ferner fragen, was das Ding noeb anlser diesen
Eigenschaften an sieb sei, denn es ist alsdann gerade das, was
darch jene Eigensebaften gegeben ist* Nnn wissen wir aber,
dafs uns gar keine Eigenschaften der Dinge an sieb selbst
gegeben werden, «dafs wir von der körperlichen Natnr nichts
anderes erkennen als den Raum, . . . dafs das Ding im Ranme
. . . keine andere Wirkung als Bewegung . . . folglich keine
andere leidende Eigenschaft, als bewegende Kraft oder Be-
weglichkeit zn erkennen gibt, so mag nun Mendelssohn . . .
doch sagen ... ob, da ich nichts als Beziehungen von Etwas
kenne auf etwas Anderes . . . ohne dafs mir irgend ein Inneres
gegeben ist oder gegeben werden kann, ob ich da sagen könne,
ieh habe einen Begriff vom Di\ige an sich nnd ob nicht die
Frage ganz rechtmäfsig sei: was denn das Ding, das
in allen diesen Verbältnissen das Subjekt ist, an sich selbst
sei?* Nun könnte man zur Not, um mit der oben zitierten
Abweisung der Frage nach der Beschaffenheit der Dinge an sich
nicht in Widerspruch zu geraten, diese Stelle so auffassen: Kant
bekämpfe hier seinen dogmatischen Gegner von dessen eigenem
Standpunkte ans. Dieser behaupte, vom Ding an sich einen
Begriff zu haben; dies .jedoch werde durch den Hinweis auf die
Metaphysischen Anfangsgründe nsw.^ widerlegt. Wenn
der Gegner aber trotzdem behauptet, einen solchen Begriff zu
baben, so mttfste er weiter fragen, was dieses Ding eigentlich sei.
Kant aber — und das widerspricht dieser Auffassung — er-
kennt es gerade an, dafs vom Standpunkt des Gegners aus, der
da meint, die Eigenschaften der Dinge selbst (und nicht blof s ihre
Ersebeinnngen) zu erkennen, die weitere Frage keinen Sinn hat;
ndenn das Ding an sich ist dann gerade das, was durch jene
Eigenschaften gegeben ist* Was bekämpft wird, ist eben dieser
Standpunkt selbst, und vor allem die Maxime, «dem Frager den
Mund zu stopfen*. Der richtige Sinn unserer Stelle geht noeb
') Ebenda 467, ZeUe 12.
Digitized by
Google
38
besonders aas der Konklasion am Sehlasse dieser «BemerkaDgen*
hervor: «Also kann naeh allen Kenntnissen, die wir immer nar
dareh Erfahrung von Saehen haben mögen, die Frage: was
denn ihre Objekte als Dinge an sich selbst sein mögen?
ganz and gar nicht für sinnleer gehalten werden/
Daraufhin gibt Kant die Eigenschaften der Dinge an sieh
an: „Nan wird man fordern, ich solle doch dergleichen Eigen-
schaften nnd wirkliche Krttfte angeben ... ich antworte blofs:
dieses ist schon längst, and zwar von each selbst geschehen.
Besinnt each nur, wie Ihr den Begriff von Gott als höchster
Intelligenz zustande bringt Ihr denkt euch in ihm lauter
wahre Realität d. i. etwas was nicht blols . . . den Negationen
entgegengesetzt wird, sondern auch und yomehmlich den
Realitäten in der Erscheinung ... Nun vermindert alle diese
Realitäten (Verstand, Wille, Seligkeit, Macht usw.) dem Grade
nach, so bleiben sie doch der Art (Qualität) naeh immer die-
selben, so habt ihr Eigenschaften der Dinge an sich selbst, die
ihr auch auf andere Dinge aufser Gott anwenden könnt Keine
anderen könnt ihr euch denken und alles übrige ist nur
Realität in der Erscheinung . . . wodurch ihr niemals ein Ding
denkt, wie es an sich selbst ist''
Dieses Rezept zur Erlangung der Eigenschaften der Dinge
an sich muls einen jeden, der mit dem Kritizismus vertraut
ist, völlig dogmatisch anmuten. Uns bereitet jedoch diese Stelle
keine grölseren Schwierigkeiten, als die Behauptung, dals Dinge
an sich sind. Beides, sowohl die Setzung der Dinge an sich,
wie das Forschen nach ihren Eigenschaften, ist vom Standpunkt
des konsequenten Kritizismus unzulässig. Setzt man [aber die
intelligible Welt voraus und findet nachher, dafs die praktisehe
Philosophie diese Voraussetzung notwendig macht nnd zur
Wahrheit stempelt, so ist man auch berechtigt, nach der
Beschaffenheit dieser Dinge zu fragen. Allerdings mufs zu-
gegeben werden, dals man dann nur auf Vermutungen angewiesen
ist, weil spekulativ hierüber nichts ausgesagt werden darf, und
die strenge kritische Philosophie kann solche Vermutungen nicht
als Erkenntnis ansehen. — Somit haben wir die Stellung und
Bedeutung des Dinges an sich im Kantischeo System skizziert
und können nunmehr zur Frage der Anschauung übergehen.
Digitized by
Google
Wie kommt objectiv-gültige Anschauung
zustande?
Eb braucht kaam bemerkt zu werden, dafs fttr Kant die
psychologische Seite der AnBchanang nicht in Betracht kommen
dfljf. Ihm kommt cb immer darauf an, erkenntnistheoretisch
zn untersuchen, welcher Grad von Gültigkeit der jeweiligen
Anschauung zuzuschreiben ist. Wir werden mit Kant deshalb
nicht fragen dttrfen, ;,wie in einem denkenden Subjekt
ttberhanpt änfsere Anschauung, nämlich die des Baumes
(eine Erfüllung desselben, Gestalt und Bewegung) möglich
sei?* Denn abgesehen davon, dals diese Fragestellung eine
psjchologisch-genetische wäre, so ist es doch nach Kant «auf
diese Frage keinem Menschen möglich, eine Antwort zu finden
nnd man kann diese Lücke unseres Wissens niemals aus-
fUlen.* 1) Wir setzen also diese Fähigkeit anzuschauen voraus
und fragen nach der Gültigkeit erstens der reinen, zweitens der
empirischen Anschauung.
Die erste dieser Fragen bietet indessen keine besondere
Schwierigkeit Wir brauchen nur die allgemein bekannte Lehre
der transscendentalen Ästhetik in kurzen Worten wiederzu-
geben. Der Baum und die Zeit sind keine den Dingen selbst
inhärierenden Eigenschaften. Räumlich and zeitlich sind die
Erfahrungsobjekte deshalb, weil wir so beschaffen sind, dafs
wir die an sich räum- und zeitlosen Dinge nur so und nicht
anders wahrnehmen können. Daraus ergibt sich die Gültigkeit
dieser Anschauungsweise, denn alles Äufsere mufs lilumlich und
zeitlich, alles Innere zeitlich sein. Die Übereinstimmung der
') Kr. A 393.
Digitized by
Google
40
AnschaanDg mit dem Angeschaateii ist aber dadurch gegeben,
daffl wir es lediglieh mit unseren Erscheinungen zu tun haben
und nicht zu fragen brauchen, ob sie den Dingen selbst adäquat
sind; diese letzteren gehen uns nichts an. Wir fragen nach der
Übereinstimmung unserer Begriffe von der Erscheinung mit
ihr selbst, nicht mit dem transscendentalen Objekt, das sie
hervorruft. Wir bekommen so zwar nur eine «empirische
Wahrheit*; aber die formalen Bedingungen dieser Wahrheit
beruhen auf einem sicheren Prinzip, nämlich der apriorischen
Subjektivilät der Anschauungsformen Raum und Zeit Aus
dieser Subjektivität läfst sich nun ferner die Apodiktizität der-
jenigen Wissenschaften erklären, die ihre Elemente in diesen
Formen konstruieren (Geometrie durch die Apriorität des Raumes,
Arithmetik durch diejenige der Zeit).i)
Es mufs jedoch hervorgehoben werden — was oft über-
sehen worden ist — dafs Raum und Zeit allein noch nicht
imstande sind, fertige Anschauungen hervorzubringen. Gleich
am Anfang der transscendentalen Ästhetik deutet Kant an,
dafs Raum und Zeit lediglich das sind, „worin sich die
Empfindungen allein ordnen und in gewisse Formen gestellt
werden können''.^) Der Raum ist „die Vorstellung einer
blofsen Möglichkeit des Beisammenseins ^.3) Diese Ein-
schränkung der Bedeutung der Anschauungsformen für die
Anschauung, die naturgemäfs in der transscendentalen Ästhetik
nur angedeutet werden konnte, wird nachher in beiden De-
duktionen weiter ausgeflihrt: „Weil daher jede Erscheinung
ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen
im Gemttte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden,
so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem
Sinne selbst nicht haben können.^ ^) Ja der Raum und die
Zeit, die nicht nur Formen der Anschauung, sondern selbst
^) Ob wirklich durch die blofse Tatsache, dafs der allgemeine Raum
und die allgememe Zeit in dem Sinne a priori sind, dals ohne sie gar
keine Anschauung möglich wäre, auch diejenige Apriorität, durch welche
sie apodiktisch gültige Sätze möglich machen, gesichert sei, soll als sa
unserer Frage nicht gehörig, nicht untersucht werden.
«) Kr. 34.
») Kr. A 874.
0 Kr. A 120.
Digitized by
Google
41
Anscbaanngen sind^) (der erste mofs in der Geometrie als
Gegenstand yorgestellt werden), wären unmöglich ohne eine
synthetisehe Apprehension.^) Dieser Gedanke ist der Grand-
stein der Deduktion nnd Kant konnte mit Seeht anf ihn stolz
sein, indem er darauf hinwies, dafs es keinem Philosophen
eingefallen sei, die Einbildungskraft als notwendiges Ingredienz
der Wahrnehmung zu betrachten, „weil man glaubte, die
Sinne lieferten uns nicht allein Eindrucke, sondern setzten
solche auch sogar zusammen^.')
Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der empirischen
Anschauung, wenn wir die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
irgendwie ableiten wollen. Die Frage würde dann lauten:
Wie ist die Anschauung des Mannigfaltigen möglich? An-
schauung überhaupt ist durch die Aprioriiät von Baum und
Zeit ermöglicht worden. Ist aber die bunte, nnermefsliche
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in ihren Qualitäten und
Formen ebenfalls subjektiven Ursprungs? Dies wird von
Kant verneint: Das Mannigfaltige der Anschauungen wird
aposteriori gegeben, im Gegensatz zu Raum und Zeit, die
apriori gegeben werden. Wie ist aber diese Anschauung
möglich? Der Baum, der hier hauptsächlich in Betracht käme,
ermöglicht uns nur eine räumliche Anschauung überhaupt,
anders ausgedrückt, durch ihn sehen wir die äufseren Dinge
räumlich. Vermögen wir aber durch ihn die unendliche
Mannigfaltigkeit der räumlichen Gestalten — um von den
qualitativen Formen gar nicht zu reden — irgendwie zu be-
greifen? Kant erwidert darauf: „die nnermefsliche Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen^ kann nicht „aus der reinen
0 Man vgl Kr. 136 Anm. und 161 Anm.
*) Mut vgl. Kr. A 100.
*) Kr. A 120. Man denke hier an die GondiUac'sche Fiktion. Daia
Hobbes mit seiner Behauptung, dals zur Wahrnehmung Gedächtnis gehört,
dieser Entdeckung Kants keineswegs vorgegriffen hat (man vgl. dagegen
Biehl, KritiziBmuB I, 2. Aufl., 508 Anm.), geht daraus hervor, dafs Kant
hier von der produktiven Einbildungskraft redet, Hobbes aber nur die
reproduktive des Gedächtnisses gekannt hat. Niemand vor Kant hat es
gesehen, dals die Sinne nichts (auch nicht die sinnlichen Elemente) ver-
binden, und darin besteht die bedeutsame Entdeckung Kants. Man vgl.
auch Kr. 152, wo der Unterschied zwischen der produktiven und der
reproduktiven Einbildungskraft ganz scharf hervorgehoben ist.
Digitized by
Google
42
Form der siDnlichen ADSchaoang hinlänglich begriffen werden';
68 mttssen blofs „die Eraoheinangen, nnerachtet der Ver-
schiedenheit ihrer empirischen Form, dennoch jederzeit den
Bedingungen der reinen Form der Sinnlichkeit gemäfs sein.'^ 0
Diese Lücke in der Lehre von der empirischen Anschaniing,
die Kant durch die Unmöglichkeit ihrer AnsfÜlIang rechtfertigt,
ist vielfach angegriffen worden, jedoch nicht immer und vor
allem nicht in allen Punkten mit Recht Wir wollen an dem
Beispiele der Kritik Schopenhauers untersuchen, in weleher
Form dieser Vorwurf berechtigt ist
In seiner Kritik der Kantischen Lehre sagt Schopenhauer:
„Nachdem er [Kant] Raum und Zeit isoliert abgehandelt,
dann diese ganze Raum und Zeit füllende Welt der An-
schauung, in der wir leben und sind, abgefertigt hat mit den
nichtssagenden Worten: der empirische Inhalt der Anschauung
wird uns gegeben — gelangt er sofort mit einem Sprunge
zur logischen Grundlage seiner Philosophie, zur Tafel der
Urteile.^ 2) „Nicht blofs wie die reine und nur formale An-
schauung a priori, sondern auch wie ihr Gehalt, die empirische
Anschauung ins Bewufstsein kommt, hätte nun untersuobt
werden müssen."*)
Es ist nun zu überlegen, ob Kant mit der Erklärung, das
Empirische der Anschauung werde uns aposteriori gegebeo,
nicht bereits angedeutet hat, dafs bei dieser Aposteriorität des
Empirischen die Erörterung der Art seines Entstehens im
Bewufstsein nicht in die Kritik der reinen Vernunft hinein-
gehört. Kants Aufgabe ist die kritische Grenzbestimmung
unserer Erkenntnis, die Beantwortung der Frage, wie syn-
thetische Urteile a priori möglich sind; zu diesem Zwecke
mufste er zeigen, dafs der Verstand kein Vermögen der An-
schauung ist Sein Geschäft ist lediglich die Synthesis, die
Verbindung des Mannigfaltigen. Wie aber dieses Mannigfaltige
selbst ins Bewufstsein kommt, das lag gar nicht im Bereich
seines wissenschaftlichen Interesses. Ganz anders verhält es
sich bei Schopenhauer. Ihm ist es nicht um die erkenntnis-
1) Kr. A 127.
3) Schopenhauer, WW. Ed. Griesebach I, 549.
*) Ebenda 551
Digitized by
Google
48
&eoTetäache Frage der Gültigkeit unserer Erkenntnis, sondern
um dM metaphysische Frage nach dem Sein nnd dem Wesen
deT knfoenwelt za ton. Und da sein Idealismus erforderlich
maehte, dafs alles womöglich auf die Spontaneität unseres
Verstandes zurückgeführt werden könne, so maiste dem Ver-
stände auch das Vermögen anzuschauen zugeschrieben werden,
um das gegebene ungeordnete Material so einfach wie möglich
darzustellen. Wir werden deshalb sowohl den Einwurf wie
seine Stichhaltigkeit der Eantischen Lehre gegenüber nur dann
richtig einschätzen können, wenn wir Schopenhauers eigene
Theorie der empirischen Anschauung, wie er sie im Satze
vom Grunde § 21 auseinandersetzt, mit einigen Worten charak-
terisieren.
Bedingt durch den idealistischen Zug der Schopenhauerschen
Metaphysik, ist diese Lehre eine Theorie der Intellektualität der
empirischen Anschauung. Die Sinnesempfindung als solche ist
ein ärmliches Ding, ein lokales, spezifisches subjektives Gefühl,
welches nichts von Anschauung enthalten kann. Diese Emp-
findung, wenn sie auch später durch einen besonderen Akt des
Verstandes als von anisen herrührend angesehen wird, unter-
scheidet sich in nichts von den inneren Empfindungen unseres
Leibes. Erst wenn der Verstand in Tätigkeit gerät und sein
Gesetz der Kausalität in Anwendung bringt, geht eine mächtige
Verwandlung vor sich: aus den ärmlichen subjektiven Emp-
findungen wird objektive Anschauung der herrlichen Aufsen-
weit — So gefafst, ist diese Lehre nur eine Modifikation der
Kantischen Theorie der Anschauung. Auch bei Kant ist die
Anschauung intellektuell, jedoch in ganz anderer Weise. Es
wurde schon oben hervorgehoben, dafs auch für Kant Baum
und Zeit allein nicht genügen, um Anschauung hervorzubringen.
Sie sind das, was macht, dafs das Mannigfaltige in gewissen
Verhältnissen geordnet werden kann. Zur Hervorbringung
einer Anschauung bedarf es der Spontaneität unseres Ver-
standes. Der Hauptunterschied besteht jedoch in folgenden
zwei Momenten. Für Kant sind es die Kategorien, die das
Maunig<ige verbinden, und erst durch sie kann selbst der
Baum als solcher zur Vorstellung werden. Schopenhauer
dag^en behauptet, Baum und Zeit seien Continua, also ur-
sprünglich gar nicht getrennt Da sie Formen der Anschauung
Digitized by
Google
44
sind, wird alles, was m ihnen erscheint, schon von Anfang an
als Continaum auftreten nnd bedarf keiner Verbindong seitens
des Verstandes. Der weitaus wichtigere Unterschied ist jedoch
der: bei Kant wird das Mannigfaltige, der stoffliche Gehalt
der Anschauung, von einem Ding aufser uns gegeben, der
Verstand kann nur die Form schaffen und schaut selbst nichts
an. Dagegen mnfs Schopenhauer gemäfs seinem Prinzip: „kein
Objekt ohne Subjekt'' alles auf innere Empfindung zurtick-
ftthren. Die Materialität der Erscheinungen beruht also lediglich
auf der Kategorie der Kausalität (der einzigen, die Schopenhauer
gelten läfst), da das Wesen der Materie im Wirken besteht, sie
also durch und durch Kausalität ist. Auch alle empirischen
Eigenschaften der Dinge laufen auf diese Wirksamkeit zurück
und sind nur nähere Bestimmungen der Kausalität Auf
dieser erkenntnistheoretischen Grundlage baut Schopenhauer im
einzelnen seine Theorie der empirischen Anschauung auf und
zeigte wie der Verstand ans dem rohen Stoff der Empfindungen
mit Hilfe der apriorischen Formen: Baum, Zeit und Kausalität,
die unerschöpflich reiche, vielgestaltete anschauliche Welt zu-
stande bringt
Der objektiven Anschauung dienen eigentlich nur zwei
Sinne: das Getast und das Gesicht; die anderen Sinne bleiben
subjektiv. Drücke ich mit der Hand gegen den Tisch, so liegt
in dieser Empfindung noch nicht die Vorstellung des Zusammen-
hanges der Teile dieser Masse. Erst wenn mein Verstand von
der Empfindung zur Ursache übergeht, konstruiert er sich einen
Körper, der die Eigenschaft der Solidität, Undurchdringlichkeit
und Stärke hat Beim Gesicht ist die Tätigkeit des Verstandes
indem er die Empfindung in Anschauung umwandelt, eine viel
mannigfaltigere. Der rohe Stoff dieses Sinnes ist eine Empfindung
auf der Betina, welche gleich ist dem Anblick einer Palette mit
vielerlei bunten Farben, Klecksen, die bei der Einwirkung des
Verstandes sich zu einem reichen Bilde umwandeln. Das erste,
was der Verstand tut ist, dafs er das Bild umkehrt. Sodann
macht er das zwiefach Empfundene (durch jedes Auge besonders
Gesehene) zu einem einfachen Bild. Drittens konstruiert er
aus den blofsen Flächen dreidimensionale Körper. Viertens
erkennt er die Entfernung der Objekte vom Auge. Dies alles
geschieht nicht durch physiologische Ursachen, sondern auf
Digitized by
Google
45
Tem intoUektaellem Wege und ist das Werk des Verstandes,
deT yermittelst der Kansalität die Empfindang aaf ihre Ur-
sachen bezieht und anf diese Weise die Anschanung zustande
bringt
Es ist unleugbar, daij9 diese Theorie der empirischen An-
schauung tatsächlich eine notwendige Ergänzung der Kantischen
Lehre von der Anschauung bedeutet. Ob jedoch der von
Schopenhauer eingeschlagene Weg der richtige ist, ist eine
andere Frage. Kant hatte behauptet, Baum, Zeit und Kate-
gorien sind ftlr die Erscheinungen ordnende Prinzipien. Wie
der zu ordnende Stoff vor dem Eingreifen der apriorischen
Formen beschaffen sein müsse, hat Kant nicht erörtert. Das
darzutun hat Schopenhauer unternommen. Nachdem Kant diese
Frage offen gelassen hatte, konnte man entweder annehmen, dafs
dag Material bereits vom Ding an sich in einer gewissen, wenn
auch nur intelligiblen, Affinität geliefert wird. Die Formen, die
uns zngebote stehen, haben dann diese Ordnung nur in eine
empirische umzuwandeln. Oder aber es lag nicht fem — und
die Kantische Erkenntnistheorie drängte es oft geradezu aut
— anzunehmen, dalB der Stoff in TÖllig chaotischem Zustande
uns gegeben werde, und dalj» die Ordnung das ursprüngliche
Werk Ton Baum, Zeit und Kategorien sei. Diese Formen müssen
somit schöpferische Prinzipien sein, d. h. sie schaffen überhaupt
erst Verhältnisse unter den Erscheinungen und geben ihnen
Leben. Mit anderen Worten die Frage ist: handelt es sich
bei dem Ordnen der Erscheinungen nur um eine Übertragung
einer Ordnung in die andere, gleich der Aufgabe eines Bild-
hauers, der ein Gemälde in eine Marmor-Statue umzuwandeln
hat, oder hat es dieser Bildhauer nur mit einem Marmorblock
ohne jede Form zu tun, den er schöpferisch gestalten mnfs? —
DaÜB diese Frage vom strengsten kritischen Standpunkte aus
berechtigt ist, unterliegt keinem Zweifel. Denn bei ihrer Be-
antwortung braucht man nicht an das Ding an sich heran*
zutreten, um über seine Eigenschaften etwas auszusagen, sondern
mulB nur die Funktionen der apriorischen Formen genau
bestimmen, um zu wissen, was nach Abzug der Wirkung dieser
Formen noch übrig bleibt, d. h. wie dann der ungeordnete Stoff
beschaffen sein müsse. Wir haben es also hier unstreitig mit
einer Lücke zu tun und müssen untersuchen, erstens: warum sie
Digitized by
Google
46
Kant offen gelassen hat, zweitens: welche Folgen darans fllr
das System selbst entstehen.
So wttnsohenswert aber und notwendig eine dentliche
Aufserung Kants über die Beschaffenheit des Stoffes vor dem
Eingreifen der apriorischen Formen gewesen wäre, so klar
ist es doch andererseits, dafs eine solche Theorie, wie sie
Schopenhauer aufstellt, yon Kant nicht gelehrt werden konnte.
Denn was zunächst den Grundgedanken betrifft, so konnte
Kant bei dem realistischen Charakter seiner Denkweise unmög-
lich die Materialität der Erscheinungen auf ein lediglich sub-
jektives Prinzip zurückführen. Zweitens scheint, wie erwähnt,
eine Erörterung der besonderen Funktionen unseres Intellekts
beim Gestalten der Mannigfaltigkeit überhaupt nicht im Bereich
seines wissenschaftlichen Interesses gelegen zu haben. Endlieh
war die Ausgestaltung, welche die Theorie bei Schopenhauer
erfahren hatte, eine physiologisch -psychologische und gehörte
deshalb nicht in eine Kritik der reinen Vernunft. Die Methode
der Kritik ist eine transscendentale, wo jede psychologische
Untersuchung vermieden werden sollte, weil eine solche nach
Kants Auffassung zu keiner objektiven Gültigkeit führen kann.
Er selbst beanspruchte für diejenigen Teile der transscenden-
talen Deduktion (I.Auflage), die die „subjektiven" oder «psycho-
logischen* Momente enthalten, keine Allgemeingültigkeii^) Wäre
es möglich, eine transscendentale Deduktion der einzelnen Ge-
staltungen der Materie und ihrer qualitativen Verschiedenheit
zu geben, d. h. wäre unsere Sinnlichkeit so beschaffen, dals,
wenn wir uns alle Inhalte wegdächten, dann nicht nur Raum
und Zeit, sondern alle die unendlich vielen einzelnen Formen
und Qualitäten übrig blieben, so würden vnr schlielsen, dafs
ebenso wie Raum und Zeit, so auch diese Formen a priori
uns gegeben seien, und könnten dann wohl erklären, wie diese
Mannigfaltigkeit zustande kommt. Wenn dem aber nicht so
ist, so hat Kant zunächst Recht, wenn er lehrt, dafs die empirisch
und formal bestimmte Mannigfaltigkeit im Gegensatz zu Raum
und Zeit von aufsen gegeben werden mufs. Freilich nicht in
dem Sinne gegeben, dafs wir sie nur rezeptiv zu empfinden
hätten. Kein Gegebenwerden ohne tätige Wirkung unserer
1) Man sehe Vorr. 1, III. Man vgl. auch RieLl a. a. 0. 503 f.
Digitized by
Google
47
Spontaneitili Gegeben ist der Stoff, der nur diese bestimmten
nnd keine anderen Formen annebmen kann; aber wir yerarbeiten
nur das Mannigfaltige, wir produzieren es nicht.
Eine transscendentale Deduktion der mannigfaltigen Formen
der empirischen Anschannng zn geben, ist somit durch die Natur
dieser Formen ausgeschlossen; die Kritik hat deshalb diese
Ltteke offen gelassen; denn sie hat es nur „mit der Erkenntnis-
art von Oegenständen zu tun, sofern diese a priori möglich sein
soll*'. Es braucht aber kaum bemerkt zu werden, dafs Natur-
philosophie und Psychologie (fbr die objektive und subjektive
Seite des Prozesses) die hier offen gelassene Ltteke ausfüllen
können, ohne dals sie mit der Kantisehen Lehre in Konflikt
zu geraten brauchen. Man kann die Scheidung von Ding an
sich und Erscheinung aufrecht erhalten und z. B. mit Hilfe
einer mechanischen Naturauffassung und etwa eines Ent-
wieklungsprinzips den objektiven Bestand der mannigfachen
Qualitäten und der entstandenen Formen zu erklären suchen;
während Psychologie und Physiologie — wiederum in Über-
einstimmung mit den Kautischen Voraussetzungen — zu be-
schreiben hätten, wie die Anschauung dieser Mannigfaltigkeit
subjektiv zustande kommt ^)
Wir werden also nicht, wie Schopenhauer es tut, Kant zum
Vorwurf machen, dafs er keine vollständige Theorie der empi-
risehen Anschauung gegeben hat, denn „Kant wollte nur eine
Kritik des reinen, nicht eine Theorie des empirischen Verstandes
geben^.2) Es ist vielmehr die Frage, ob bei dieser Beschaffen-
heit der empirischen Formen f&r das System selbst nicht eine
Schwierigkeit entsteht
In der Vorrede zur 2. Auflage und öfters, besonders aber
in der zweiten Deduktion sagt Kant: „Nun sind nur zwei Wege,
auf welchen eine notwendige Übereinstimmung der Er-
fahrung mit den Begriffen von ihren Gegenständen gedacht
werden kann: entweder die Erfahrung macht die Begriffe,
oder die Begriffe machen die Erfahrung möglich."') (Unter
B^riff versteht hier Kant sowohl die Formen der Anschauung
>) Man vergleiche Prolegomena § 21 a, Anfang.
*) Biehl a.a.O. 446.
») Kr. 166.
Digitized by
Google
48
wie die Kategorien). Nun sieht sich Kant gezwnngen, den
zweiten Weg einzuschlagen, den er ein System der Epigenesis
der reinen Vernunft nennt In der transscendentalen Ästhetik
hatte er gezeigt, dafs Raum und Zeit Formen a priori unserer
Sinnlichkeit sind. Sie machen die Anschauung überhaupt erst
möglich, daher auch die Übereinstimmung der räumlichen Gegen-
stände mit der angeschauten Form, weil diese gar nicht einmal
räumlich sind, wenn sie nicht angeschaut werden. Die Mathema-
tik, die in der Geometrie räumliche Gröfsen, und in der Arith-
metik zeitliche Aufeinanderfolge behandelt, kann sich daher
ihre Objekte konstruieren und wird von ihnen objektiy gültige
Erkenntnis haben. Sie ¥nrd dadurch nicht erst begründet; denn
„es geht die Geometrie ihren sicheren Schritt ohne dafs sie
sich von der Philosophie einen Beglaubigungsschein erbitten
darf.^^) Es ist aber klar (oder soll wenigstens klar sein), wo
die Mathematik ihre objektive Gültigkeit her hat: sie kann sieh
nämlich ihre Begriffe sowohl der Quantität, wie der Qualität
nach (im engeren Sinne — der geometrischen Figuren) kon-
struieren. Können aber auch die mannigfachen Formen der
empirischen Anschauung aus reinen Anschauungsformen begriffen
werden? Wir haben gesehen, dafs Kant diese Frage verneint
Wie kommt also — um mit Schopenhauer zu reden, der dieses
Problem gesehen, wenn er es auch nicht in seiner Tragweite
ausgeführt hat — wie kommt die empirische Anschauung ins
Bewufstsein; wie entsteht die Erkenntnis dieser ganzen, für ans
so realen Welt? Die Leistung der transscendentalen Ästhetik
in bezug auf die besonderen Formen der Erscheinungen besteht
nur darin, dafs wir von ihnen a priori sagen können: jede Er-
scheinung wird notwendig räumlich oder zeitlich bestimmt sein.
Wie wir aber von der Räumlichkeit überhaupt zu dem einfach-
sten räumlichen Bilde gelangen, darüber gibt sie uns gar keinen
Aufschlufs. Wären die mannigfachen Formen von uns aus zu
erklären, so könnten wir sagen, dafs unsere Anschauung sie
möglich macht, ja wir hätten dann von ihnen eine apodiktische
Erkenntnis, weil die Begriffe — hier die Anschauungen — die
1) Rr. 120. Man vgl. auch Prolegomena § 40 Anfang: „Beine Mathe-
matik und reine Naturwissenschaft hätten zum Behuf ihrer eigenen
Sicherheit und Gewifsheit keiner derartigen Deduktion bedurft . , .*^
Digitized by
Google
49
Gegensiände möglich machen würden. Dann mUfsten sie sich
allerJUngs von den Dingen so wenig wegdenken lassen, wie
ihre allgemeinsten Formen, Raum and Zeit. Nun ist aber das
Mannigfaltige der äulseren Anschaanng a posteriori gegeben.
Die Mannigfaltigkeit ihrer Formen mttfste also anf die yer-
sebiedenartige Einwirkung der Substrate, der Dinge an sieb,
zarttckgefübrt werden, wenn anders wir die Erscheinungen nicht
geradezu erzeugen. Wie kann daher Kant dann noch sagen,
dafs sieb „der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der
Beschaffenheit unseres Anschauungsyermögens^' i) richten müsse.
Ist nicht vielmehr abzuwarten, in welcher Weise das von uns
Töllig unabhängige Ding an sich uns af&zieren wird?
Indessen läfst sich auch diese Schwierigkeit bis auf einen
Rest lösen. Mit der Konstatierung der Unmöglichkeit, die
mannigfaltigen Formen aus der reinen Form abzuleiten, wird
die Lehre Kants von der „Revolution der Denkart'' nicht wider-
legt, sondern nur in ihrer Tragweite eingeschränkt. Und das
Yeranlafst uns, den wahren Sinn der Grundlage seiner Er-
kenntnistheorie genauer zu bestimmen. Allgemein wurde und
wird vielfach noch heute Kants Lehre dabin verstanden, dafs
nach ihr ein Wissen tiberbaupt nur dann möglich ist, wenn
sieh die Gegenstände nach den Begriffen richten ; man glaubte,
daXs nur dieser eine Weg zur Erkenntnis fUhre.^) In Wahrheit
gibt es aber fbr Kant zwei Wege: sowohl wenn die Begriffe
die Gegenstände, als wenn die Gegenstände die Begriffe möglich
machen, ist Erkenntnis vorhanden. Beides ist möglich, und
beides ist der Fall. Nur ist die erste eine Erkenntnis a priori
und deshalb objektiv gültig. Die andere ist von der Erfahrung
abgeleitet und zufällig. Die Notwendigkeit, die die Verstandes-
begriffe bei sich führen, und die besondere, einzigartige Be-
schaffenheit der Anschauungsformen Raum und Zeit, zwangen
Kant zu der Annahme, dafs sie a priori, von aller Erfahrung
unabhängige Formen seien, und dafs ihre Übereinstimmung mit
der Erfahrung daher rühre, dafs diese Begriffe die Erfahrung
«) Vorr. 2, XVH.
*) Diese Mibdeutang, deren Qrand viel tiefer liegen mag als in
einer oberSächliolien Interpretation, war einer der bedeutendsten Faktoren
rar Ausbildung des naehkantischen Idealismus.
FUlotophitehe Abhandlungen. XLl. 4
Digitized by
Google
50
allererst möglich machen. Aber neben diesen Prinzipien, die
Erfahrnng Überhaupt ermöglichen, gibt es eine nnendliche Fttlle
Yon Begriffen und Ansehanangen, nämlich der Einzeldinge, die
von der Erfahrung abstrahiert sind und deshalb mit ihr über-
einstimmen, weil die Gegenstände diese Begriffe möglich machen.
In der Vorrede zur 2. Auflage werden gerade die Wissen-
schaften, die sich auf empirische Prinzipien gründen, unter
anderen die chemischen Experimente Stahls als diejenigen
bezeichnet, die den Heersweg der Wissenschaften getroffen
haben. Die Tatsache, da£s man bei diesen Fragen auf die
Belehrung der Natur angewiesen ist, hindert nicht, die An-
wendung der — wenn auch nur empirischen — Prinzipien
derart anzustellen, das man an die Natur herangeht «nicht in
der Qualität eines Schtllers, der sich alles vorsagen läfst, was
der Lehrer ¥nll, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen
nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt'')
Dafs unsere Auffassung richtig ist, geht ganz deutlich aus
dem bekannten Briefe an Herz hervor: „Auf welchem Grunde
beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung
nennt, auf den Gegenstand ?)) Enthält die Vorstellung nur die
Art, wie das Subjekt von dem Gegenstände affiziert wird, so
ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner
Ursache gemäfs sei und wie diese Bestimmung unseres Gemüts
etwas vorstellen, d. i. einen Gegenstand haben könne. Die
passiven oder sinnlichen Vorstellungen haben also eine be-
greifliche Beziehung auf Gegenstände . . . Ebenso wenn das,
was in uns Vorstellung heilst, in Ansehung des Objekts aktiv
wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht
würde ... so würde auch die Konformität desselben mit den
Objekten verstanden werden können. Es ist daher die Mög-
») Vorr. J, XUf.
*) Diese Frage ist etwas rnKsverständlieh aoBgedrückt und ist nicht
identisch mit der Frage nach der „Beziehung auf den Gegenstand* in
der Analytik, die erläutert wird durch folgenden Satz: „wie kommen wir
dazu, dafs wir . . . Vorstellungen ein Objekt setzen, oder über ihre sab>
jektive Realität . . . ihnen noch . . . eine objektive beilegen" (Er. 242).
Hier handelt es sich hauptsächlich um die Übereinstimmung der
Erkenntnis mit ihrem Gegenstande, die Beziehungsfrage ist zwar darin
mit enthalten, sie ist jedoch Nebensache.
Digitized by
Google
51
Uchkeit sowohl des intellectng arehetypi ... als des intellec-
tas eetypi, der die data seiner logischen Behandlung
ans der sinnliehen Ansehannng der Saehen schöpft zum
wenigsten verständlich.'' i) Hier wird also ganz deatlich ge-
sagt, dals Erkenntnis zustande kommen kann, auch wenn die
Dinge die Begriffe möglich machen. Man kann daher sagen, dafs
mit Ausnahme der Verstandesbegriffe (samt den sogenannten
Prädikabilien, die von ihnen abgeleitet werden können) und der
Formen unserer Sinnlichkeit, die keine empirische Ableitung ver*
tragen, alle unsere Begriffe von der Erfahrung geschöpft sind.
Der Grund der Mitsdeutung, als ob Kant nur den einen Weg,
auf dem die Begriffe die Gegenstände ermöglichen, als den allein
zur Erkenntnis führenden anerkannt hätte, liegt auf der Hand.
Überall da, wo Kant von seiner „Kopemikanischen Revolution
der Denkart'' spricht, speziell in der Vorrede zur 2. Auflage, 2)
kommt nur dieser eine Weg zum Ausdruck. Kant handelt immer
nur von seinen apriorischen Verstandesbegriffen, weil ihm das
andere kein Problem ist. „Die Möglichkeit synthetischer Sätze
a posteriori, d. i. solcher, welche aus der Erfahrung geschöpft
werden — bedarf keiner besonderen Erklärung; denn Er-
fahrung ist selbst nichts anderes, als eine kontinuierliche Zu-
Bammensetzung . . . der Wahrnehmungen^.^) Hingegen mufste
er den skeptischen Bedenken Humes gegenüber immer von
neuem betonen, dafs die Verstandesbegriffe, speziell die Kate-
gorie der Kausalität nicht von der Erfahrung abstrahiert werden
können. Man beachtete deshalb nicht, dafs Kant an vielen
Stellen die Tragweite der Kategorien nach beiden Seiten hin
eingesekrtnkt hat So wie sie einerseits nur zu empirischem,
nicht aber zu transsoendentalem Gebrauch tauglich sind, so
eraiOgliehen sie andererseits nur Erfahrung ttberhaupt, Gesetz-
mäbigkeit ttberhaupt und Dinge Überhaupt In allen besonderen
Fällen ist es der Gegenstand, der den Begriff möglich macht,
80 dafs dieser sieh nach jenem richtet
Hierfür läfst sich eine ganze Beihe von Belegen anführen.
So sagt Kant, dafs empirische Begriffe sich auf empirische
1) Brief an Hers vom 21. Februar 1772.
•) Voir.2, XVIff.
*) Prolegomena.
Digitized by
Google
52
AnsebannDgen gründen; ferner: wir können „unseren Begriff,
den wir nns yon einem Objekt der Ansebanung maeben, dnreb
neue Prädikate, die die Ansebannng selbst darbietet, in der
Erfabrnng synthetiscb erweitern.^ Dieses Urteil ist .aber nnr
a posteriori und empiriscb gewifs^.^) „Dafs ieb ttber einen
gegebenen Begriff meine Erkenntnis erweitem könne, lehrt
mieb die tägliebe Vermehmng meiner Kenntnisse dnreb die sieb
immer vergrölsernde Erfabrnng/^) „Die Natnrersebeinnngen'
sind Gegenstände, „die uns unabhängig von unseren Be-
griffen gegeben werden, zn denen also der Seblttssel niebt in
uns und unserem reinen Denken, sondern anlser uns liegt* ^)
Femer spriebt Kant von einer Deduktion, welebe die Art an-
zeigt, wie Begriffe dnreb Erfabrnng und Beflexion ttber dieselbe
erworben werden, und bebt rttbmlieb bervor, dafs Locke ein
solcbes Nacbspttren der ersten Bestrebungen unserer Erkenninis-
kraft, um von einzelnen Wabmebmungen zu allgemeinen Be-
griffen zu steigen, in die Wege geleitet bai^)
Noeb deutUeber als aus allen diesen Stellen, gebt die
Einteilung der Begriffe naob ibrem Ursprang aus folgenden
Beflexionen bervor: »Alle Begriffe sind entweder Urbilder,
welebe Gründe von den Bestimmungen, die den Objekten zu-
kommen und wodureb das Objekt unter allen möglieben be-
stimmt wird, oder es sind Nacbbilder, welche Folgen von
den Bestimmungen der Dinge sind^.&) ,Wir haben zweierlei
Arten von Begriffen : solche, die durch die Gegenwart der Sache
in uns entstehen können, oder diejenigen, wodurch der Verstand
das Verhältnis dieser Begriffe zu den Gesetzen seines eigenen
Denkens sieh vorstellt Zu den letzteren gehört der Begriff
des Grundes, der Möglichkeit, des Daseins. Daher die Grand-
sätze ttber jene objektiv, die ttber diese subjektiv sind.'«)
.Einige Begriffe sind von der Empfindung abstrahiert; andere
blols von dem Gesetze des Verstandes, die abstrahierten Be-
griffe zu vergleichen, zu verbinden oder zu trennen. Der
0 Daselbst
») WW. Ed. Hartenstein IV, 57.
>) Kr. 508.
*) Kr. 118 f.
^) Beflexion Nr. 066.
•) Ebenda Nr. 536.
Digitized by
Google
58
letzteren Uraprang liegt im Verstände, der ersteren in dem Sinne.
Alle Begriffe solcher Art heifsen reine Verstandesbegriffe.^ i)
Wir sehen also, wie wir die «Kopemikanische Drehang^ zu
verstehen haben. Indessen ist noch fraglich, ob die Syste-
matisiemng, die wir soeben vorgenommen haben nnd die hin-
sichtlieh der Begriflfe — nach alledem, was wir angeführt
haben — über allen Zweifel erhaben ist, auch fttr unser
spezielles Problem vom Ursprang der besonderen Anschannngs-
formen von Bedeutung sei. Hinsichtlich der Empfindung können
wir mit Bestimmtheit sagen, wo sie hingehört: ,die Qualität
der Empfindung ist jederzeit blofs empirisch und kann a priori
gar nicht vorgestellt werden (z.B. Farben, Geschmack usw.)." 2)
Wenn wir aber an die Kritik mit folgender Frage herantreten:
sind die besonderen Formen der anschaulichen Welt als Folgen
der Differenziertheit der Dinge an sich oder als selbständige
Modifikationen des Baumes anzusehen? so bekommen wir keine
genflgend klare Antwort Die von uns zu Anfang angeftlhrte
Einschränkung: «die unermefsliche Mannigfaltigkeit der Erschei-
nungen** kann nicht «aus der reinen Form der sinnlichen An-
Bchaaung hinlänglich begriffen werden ', gibt uns keinen genauen
Aufsehlufs darüber, was unter dem Ausdruck «Mannigfaltigkeit'
gemeint sei: versteht Kant darunter nur die Empfindung, oder
auch die räumlichen Gestalten? Dafs wir trotz der Wahr-
scheinlichkeit der letzten Deutung Anlafs haben, daran zu
zweifeln, wird sich bald zeigen. Der obige Satz enthält aulser-
dem eine Einschränkung, die im Worte «hinlänglich* zum Aus-
druck kommt. Sie läfst vermuten, dafs Kant selbst unsere Frage
nicht scharf genug ins Auge gefafst und nicht genau bestimmt
habe, was dem Dinge an sich und was der reinen Form als
modifizierender Tätigkeit zuzuschreiben sei.
Zu diesen Vermutungen gibt folgende Aulserung Kants
Anlals: „Es sind nur zwei Fälle möglich'^ — heifst es —
„unter denen synthetische Vorstellungen und ihre Gegenstände
zusammentreffen, sich aufeinander notwendigerweise beziehen
und gleichsam einander begegnen können. Entweder, wenn
der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand
>) Ebenda Nr. 513.
«) Kr. 217.
Digitized by
Google
54
allein möglich maebt. Ist das Erstere, so ist diese Beziehung
nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich.
Und dies ist der Fall mit Erscheinungen in Ansehung dessen,
was an ihnen zur Empfindung gehxirt.^^) Bier tritt die
Systematisierung der Erfahrungselemente nach ihrem Ursprünge
klar zu Tage. Es wird ausdrücklich betont, daüs in Ansehung
der Empfindung der Gegenstand die Vorstellung möglich
macht Wir wissen aber, wie eng der Begriff der Empfindung
bei Kant gefafst ist; dazu gehört wohl alles, was Locke
sekundäre Qualitäten genannt hat. Ob aber unter diesen
Begriff auch die räumlichen Modifikationen der empirischen
Anschauung mitzuzählen sind, daftir läfst sich in der ganzen
Kritik kein Beleg finden. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall.
Die Gestalt wird als etwas Apriorisches der aposteriorischen
Empfindung entgegengestellt: „Wenn ich von der Vorstellung
eines Körpers das . . . was davon zur Empfindung gehört, als
Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere, so bleibt
mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas ttbrig,
nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen
Anschauung, die a priori auch ohne wirklichen Gegenstand
... als eine blofse Form der Sinnlichkeit im Gemlite statt-
findet."^) Ist aber diese genetische Definition der Gestalt
richtig, so taucht die Schwierigkeit von neuem auf. Denn
wenn die Gestalten reine Anschauungen sind, so mttTste gezeigt
werden, wie sie vom Räume, als allgemeinster Form der
äufseren Sinnlichkeit, abgeleitet werden können. Zeigt sich
aber, dafs dies unmöglich ist, so ist dies nicht eine Lücke,
sondern ein Beweis fttr die Aposteriorität der räumlichen
Mannigfaltigkeit, denn der Beweis für die Apriorität der Formen,
der Sinnlichkeit wurde und konnte nur flir Baum und Zeit
geliefert werden, nicht aber für die unerschöpfliche Mannig-
faltigkeit ihrer figürlichen Entfaltung. Es scheint jedoch, dafs
Kants schwankende Stellung zur Bestimmung des Ursprungs
der Gestalt darauf zurückzuführen ist, dafs ihm die geo-
metrischen Konstruktionen vorgeschwebt haben, diese sind
wirklich a priori; nicht aber konnte er dies von der Gestalt
») Kr. 124 f.
») Kr. 85.
Digitized by
Google
55
der konkreten Dinge behaupten. Wir haben allen Grand,
nach der Art, wie sich Kant die Dinge an sich gedacht haben
mnla, anzunehmen, dafs er die Mannigfaltigkeit der räumliehen
Gestalten der empirischen Anschauung, in derselben Weise
wie dasjenige, was er zur Empfindung zählt, den bestimmenden
Gründen an den Dingen an sich zugeschrieben haben mufs
und nicht etwa der schöpferischen Tätigkeit der apriorischen
Formen der Sinnlichkeit, i)
Die weitere Frage, ob Kant mit diesem Zugeständnis dem
Resultat der transscendentalen Ästhetik Abbruch tut, scheint
mir, sofern es nur die Gestalt der Erscheinung betrifft, yer-
neinend beantwortet werden zu können. Wir können zwar
die besonderen Figuren der Erscheinungen nicht nach unserem
Gefallen gestalten, wir müssen vielmehr abwarten, in welcher
Wdse das yon uns yölUg unabhängige Ding an sich uns affi-
zieren und die determinierte Figur uns darbieten wird; wir
können aber trotzdem von dieser Erscheinung , vieles a priori
aussagen*', weil die allgemeine Form, nämlich der Raum, in dem
allein sie erseheinen kann, eine apriorische subjektive Form ist,
somit auch fbr die besondere Erscheinung seine Eigenschaften
bewahrt^ sie gleichsam in seine Form hineinzwingt und ihr
dieselbe aufdrängt Infolgedessen wird jede Erscheinung trotz
der Besonderheit ihrer Gestalt dieser allgemeinen Form des
Baumes entsprechen müssen. Sie wird dreidimensional sein und
alle Axiome der Geometrie, die vom Baume überhaupt gelten,
werden sieh auch an ihr bewahrheiten; und wenn sie derart
gestaltet ist, dafs ihre Figur sich auf eine mathematische Formel
bringen UUst, so werden alle die Begeln von ihr ausgesagt
werden können, die von einer entsprechend konstruierten Figur
der Geometrie gelten. Denn es ist ein und derselbe Raum, mit
dem wir in der Geometrie operieren, und in den sich die Er-
seheinungen kleiden müssen; beide Male ist er nur die Form
der äulseren Sinnlichkeit
Granz anders steht es mit der Frage nach dem Ursprung
der Bewegung. Die Beantwortung dieser Frage kann für die
Erkenntnistheorie Kants nicht gleichgültig sein. Die Bewegung
1) Man vgl Reflexion Nr. 658. „Die Figur ist QualltSt, darin lassen
flfeh Boeh Bäume untenehelden."
Digitized by
Google
56
der Erschemangen läfst sich ebenfalls nicht aus der Form des
Baumes ableiten, sondern mufs auf bestimmende Gründe in den
Dingen an sieh selbst zurückgeführt werden, und zwar so, dals
für jede Bewegung ein besonders bestimmter „Znstand* — ich
mufs mich in Ermangelung eines entsprechenderen, dieses phäno-
menomorphen Ausdruckes bedienen — im Dinge an sich voraus-
zusetzen sein wird. Abgesehen davon, dafs dies bei der Zeit-
losigkeit und ünveränderlichkeit der Dinge an sich nicht gut
denkbar ist (was aber schliefslich auf die Beschränktheit und
Einseitigkeit unseres Erkenntnisvermögens zurückgeführt werden
könnte), so taucht doch die Frage auf, wie kommt es, daTs
die Verhältnisse, die durch diese determinierte Bewegung anter
den Erscheinungen geschaffen werden, mit unserer Erkenntnis
dieser Verhältnisse übereinstimmen? Hiermit jedoch kommen
wir auf das Problem der empirischen Gesetze, das erst bei der
Untersuchung der Tragweite der Apriorität der Kategorien er-
örtert werden kann.
Wir wollten also folgendes feststellen:
1. Der Mangel einer Deduktion des Inhaltes der Anschauung
in Kants kritischem Werke ist nicht, wie Schopenhauer meint,
eine Folge der vermeintlichen Verwirrung von Anscha^png nnd
Denken. Vielmehr hat die Beschaffenheit dieses Inhaltes es
nicht gestattet, eine derartige Deduktion in eine Kritik der
reinen Vernunft aufzunehmen. Dafs es aber trotzdem wünschens-
wert wäre, dafs Kant sich deutlicher über den Charakter des
ungeordneten Materials ausgesprochen hätte, unterliegt keinem
Zweifel.
2. Die Tatsache der Aposteriorität des Mannigfaltigen, der
empirischen Anschauung, dem die Gestalt einzuordnen ist,
schränkt die Tragweite der „Kopernikanischen Drehung* zwar
auf ihr richtiges Mafs ein, widerlegt sie aber nicht
8. Das Besultat der transscendentalen Ästhetik wird durch
die festgestellte Beschaffenheit des Mannigfaltigen, sofern Emp-
findung und Gestalt in Betracht kommen, nicht beeinträchtigt
Hingegen bietet der Begriff der Bewegung Schwierigkeiten, die
aber die Ästhetik nicht antasten, denn sie gehören zum Problem
der Möglichkeit empirischer Gesetze.
Es sei noch hervorgehoben, dafs ähnlich wie Schopenhauer
auch Lotze eine Ableitung der Mannigfaltigkeit vermlCst Er
Digitized by
Google
57
sieht aber daraas die entgegengesetzte Konseqaenz. Er meint:
J)k Unznläogliehkeit dieser Ansicht lag darin, dafs sie dem
Geiste zwar die Anschannng des Baumes als angeborenen
Besitz zuschrieb, aber nicht versuchte, die Benutzung dieses
Besitzes zu erklären. Wir haben nicht nur eine Anschauung
des leeren Baumes, sondern eine räumliche Anschauung der
inhalt?ollen Welt, und es war nachzuweisen, wie in jener leeren
Form, die wir dem Wirklichen der Erfahrung entgegenbringen,
dieses Wirkliche seine bestimmten Plätze ein- und seine be-
stimmten Gestalten annimmt Die Lösung dieser Aufgabe war
unmöglich ohne die Voraussetzung, dafs zwischen den Dingen
selbst mannigfache Beziehungen bestehen, deren eigentümliche
Unterschiede nnd Bedeutungen durch entsprechende .Formen
räomlicher Beziehungen sich abbilden oder in die Sprache des
Ranmes übersetzen lassen/*^) Noch deutlicher heifst es an anderer
Stelle: „Es ist ganz unzulässig, so wie namentlich die populären
Darstellungen aus seiner [Kants] Schule förmlich in diesen Ge-
danken schwelgten, die Dinge an sich als völlig fremdartig den
Formen zu fassen, in denen sie uns doch erscheinen sollen ; fttr
die bestimmten Orte, Gestalten und Bewegungen, welche wir die
Erscheinungen im Räume einnehmen, behaupten oder ausführen
sehen, ohne sie nach unserem Gefallen ändern zu können, muls
es Bestimmongsgründe in dem Reiche der Dinge an sich geben." >)
Ebenso erblicken Laas und Bergmann in diesem Umstände
eine Schwierigkeit für die Erkenntnistheorie Kants. Bergmann
meint: „Man kann nur annehmen, dafs die bestimmte räumliche
nnd zeitliche Verbindung, in welcher der Verstand die Im-
pressionen vorfindet ihm keine Wahl lasse, in welcher Ordnung
er sie zusammenfassen wolle, damit sie der Forderung durch-
gängiger Regelung entsprechen."') Ähnlich schon vorher
Laas: „Wie grofs in Wirklichkeit Raum- und Zeitlängen, wie
intensiv Qualitäten angesetzt werden müssen, das ist doch
wohl auch eine Frage, welche Objektivität und gesetzlich
geordnete Erfahrung angeht, eben so angeht, wie die, welches
0 Lotze, Mikrokosmos, 2. Anf 1. 496.
*) Derselbe, Metaphysik, 2. Aufl. 201
■) Bergmann, Sein und Erkennen Ol. Man Tgl. auch Geschichte
der Philos. II, 63.
Digitized by
Google
58
die objektive Abfolge der Ersoheinangen sei. Dieselbe mrd
in der Theorie der Bedingnngen der Erfahrung nirgends erörtert
Mag sein, dafs diese Bedingungen, kantiseh geredet, a posteriori
sind und das Materiale betreffen: aber so ist ja wohl aach
sofort deatlioh, dafs ohne MitberUeksichtignng dieser Seite der
Erfahrung diese nicht aufzubauen war. Hätte Kant auf sie
eingehender Acht gehabt, so wäre es ihm yielleicht doch
rationeller erschienen, aus den Materialien die Formen zu
deduzieren." 1) Aber die angeftihrten Denker verquicken das
Problem der Mannigfaltigkeit mit der Frage der Synthesis
dieser Mannigfaltigkeit, Fragen, die wie wir gesehen haben,
getrennt behandelt werden mttssen.
0 Lau, Idealismus und PoBitivismus HI, 483.
Digitized by
Google
Wie ist eine notwendige Übereinstimmung
unserer Verknüpfung der Gegenstände der
Erfahrung mit ihrer tatsächlichen Affinität
zu erklären?
Diese Frage ist die positive Seite des Problems der trans-
scendentaleD Dedaktioa der reinen Yerstandesbegriffe. Ihre
Beantwortung ist nicht so einfach, wie diejenige der Ästhetik
hinaichtlich der Übereinstimmung der Form der Anschanang
mit der Erscheinung. Dort genttgte die Entdeckung, dafs der
Baum eine subjektive Anschauung ist. Der Raum ist aber so
allgemein und dabei so einfach, dafs alle äufseren Erscheinungen
trotz ihrer Mannigfaltigkeit in ihm aufgenommen werden können.
Anders steht es mit dem Verhältnis der Erscheinungen unter-
emander. Die Arten der Verknttpfung des Mannigfaltigen sind
sehr Ycrsehieden. Die Erscheinungen können zueinander im
Verhältnis yon Substanz und Akzidenz, vcfH Ursache und Wir-
kung, Yon Gemeinschaft oder Wechselwirkung stehen. Es
mufste daher ein apriorisches Prinzip gefunden werden, das
nicht nur alle möglichen Verknttpfungsarten umfafst, sondern
es mnisten noch ttberdies alle mannigfachen Arten der Synthesis
aus ihm abgeleitet werden können, was beim Baume hinsicht-
lieh der räumlichen Mannigfaltigkeit unmöglich war.
Dieses Prinzip entdeckt Kant in unserem ursprünglichen
Selbstbewurstsein und nennt es „die transscendentale Einheit
der Apperzeption^. Wie die Bäumlichkeit und Zeitlichkeit der
Erscheinungen erst durch die Anschauungsweise unserer Sinn-
lichkeit zustande kommt, weil die Dinge, die uns erscheinen,
an sich weder räumlich noch zeitlich sind, so wird die
Digitized by
Google
60
Verknüpfnng der Erscheinungen, ja sogar der einzelnen Ein-
drücke nicht bereits durch die Sinne vollzogen, sondern ist
das Produkt des spontanen Verstandes. Denn jede Synthesis
setzt Spontaneität voraus; die Sinnlichkeit ist aber nur rezeptiv.
Es ist demnach klar, woher die Übereinstimmung des ver-
bundenen Materials mit der von uns vollzogenen Verknüpfung
herrührt. Bekämen wir die Dinge bereits in fertigen, geord-
neten Verhältnissen und müfsten wir diese Ordnung von der
Natur ablesen, so wäre die Möglichkeit synthetischer Urteile
a priori gar nicht einzusehen. Denn die Erfahrung lehrt uns
nur, dafs etwas geschieht, oder dafs etwas zu einem anderen
in einem gevnssen Verhältnis steht; sie zeigt aber nicht die
Notwendigkeit jenes Geschehens oder dieses Verhältnisses.
Wird aber die Zusammensetznng erst von uns aus geschaffen,
ist die Ordnung der Erscheinungen das Produkt des spontanen
Verstandes, so kann man sagen, dafs wir der Natur Gesetze
vorschreiben und sie infolgedessen auch a priori erkennen
können. Denn unser Verstand steht dann zur allgemeinen
Gesetzmäfsigkeit der Natur in einem ähnlichen Verhältnis, wie
ein intellectus archetypus zur geschaffenen Welt
Kants Theorie ging davon ans, dafs der Sinn nichts ver-
bindet, und dafs keine AUgemeingttltigkeit möglich ist, wenn
die Verbindung durch Erfahrung gegeben wird. Es mufs also
dargetan werden, dafs die transscendentale Apperzeption diese
ursprüngliche Synthesis bewirken kann. Kants Beweis ist
folgender: das ,Ich denke^ mufs alle meine Vorstellungen be-
gleiten können. Denn sonst wären meine Vorstellungen nicht
mein. „Dieser ... Salz ist ... analytisch ... denn er sagt
nichts weiter, als dafs alle meine Vorstellungen in irgend einer
gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen,
unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem iden-
tischen Selbst rechnen und also ... durch den allgemeinen
Ausdruck ,Ich denke' zusammenfassen kann.'' Mit diesem
Urteil ,Ich denke' bin ich mir aber nicht nur bewnfst, dafs
ich alle Vorstellungen, so mannigfach sie auch sein mögen,
zu einem Ganzen zusammengefafst habe, sondern ich bin mir
aufserdem noch meines identischen loh bewn&t Daraus läGst
>) Er. 188.
Digitized by
Google
61
sieh zweierlei folgeni. ErsfeDS beweist die Tatsache der Ver-
binduog manoigfaeher VorstellaDgen zu einem Ganzen, dafs
die transseendentale Apperzeption ein Vermögen der Synthesis
ist Zweitens, da diese Vorstellungen nirgendwo anders als
in nnserem Bewofstsein diese Einheit bilden, ist überdies be-
wiesen, dals die transseendentale Apperzeption eine ursprüng-
liche Synthese schaffen kann, die sie als apriorische nicht
Ton aulsen her empfängt, i)
Dies genügt aber noch nicht znr Konstmktion einer apriori-
schen Erkenntnis. Wir ersehen zwar daraas, dars die trans-
seendentale Apperzeption der „höchste Punkt ist, an dem man
allen Verstandesgebrauch .... und .... die Transscendental-
Philosophie heften mufs*^;^) allein wir haben dadurch erst die
Möglichkeit der „metaphysischen Verbindung im Erkenntnis-
Tcrmögen a priori'^') erklärt, nicht aber auch „der physischen
der Erscheinungen untereinander**,') die sich zunächst auf eine
allgemeine Synthesis nicht zurückführen läfsi Wir müssen also
untersuchen:
1. In welchem Verhältnis steht die allgemeine meta-
physische Synthesis zur physischen?
2. Wie sind die besonderen Arten der Verknüpfuog der
Erscheinungen: nach den Verhältnissen von Substanz, Kausalität,
Gemeinschaft usw. aus dem obersten Prinzip der Syuthesis ab-
zuleiten ?
Hinsichtlich des ersten haben wir Kants Antwort bereits
augedentet Für das Verhältnis der metaphysischen Synthesis
zur empirischen Verwandtschaft der Erscheinungen kommen
drei Möglichkeiten in Betracht: Entweder sind sie einander
ähnlieh oder sie stehen zueinander im Verhältnis von Grund
und Folge. Wenn letztes der Fall ist, so kann wiederum
entweder die Affinität der Erscheinungen der Grund ihrer
metaphysischen Verknüpfung sein, oder aber umgekehrt die
metaphysische Synthesis ist der Grund und die empirische
Verwandtsehafl deren Folge.
<) Man vgl. L. Blätter 20: „das Gemfit ist sich selbst das Urbild
▼OB einer Synthesis dnreh das ursprüngliche, nicht abgeleitete Denken**,
uAd S. 19: „das Ich ist das Original aller Objekte**.
«) Kr. 134.
<) Man vgl. Er. 201 Anm.
Digitized by
Google
62
Die Ähnlichkeit oder Gleichheit der Verbindung mit der
Qualität des Verbundenen, ohne dafs sie irgendwie voneinander
abhängig sein sollten, kann keine synthetischen Urteile a priori
ermöglichen, wenn man nicht eine prästabilierte Harmonie oder
ein Präformationssystem der reinen Vernunft annimmt; diese
aber sind nach Kant aus bekannten Gründen abzuweisen.
Ebensowenig kann man mit der zweiten Möglichkeit aus-
kommen. Wäre die metaphysische Verbindung nur eine Folge
der den Erscheinungen immanenten Affinität, so wäre alle
Erkenntnis dieser metaphysischen Verbindung der Erscheinungen
untereinander von der Erfahrung abgeleitet, die Gesetzmäfsig-
keit der Natur wäre dann nur eine zufällige, könnte also
a priori gar nicht dargetan werden. Es ist demnach klar,
dafs fttr Kant nur die dritte Möglichkeit in Betracht kommen
kann. ^) Nur wenn die metaphysische Verknüpfung der Grund
der physischen ist, nur wenn das allgemeine Verhältnis der
Erscheinungen untereinander kein anderes sein kann als die
Ordnung, in der sie unser oberes Erkenntnisvermögen zu-
einander stellt, ist die Möglichkeit apriorischer Erkenntnisse
zu erklären.
Diese Ansicht hat — so lange sie nur von der allgemeinsten
Form der Synthesis handelt — nichts Befremdliches an sich.
Dafs die Erscheinungen dem allgemeinen Gesetze des Ver-
standes gemäfs sein, dafs sie einer begrifflichen Auffassung
fähig sein müssen, leuchtet ein, wenn man bedenkt, dafs sie
fttr uns anderenfalls nichts wären. „Daher wird alles, was
uns ... durch Sinne nur bekannt werden kann, unter der
allgemeinen Bedingung eines Begriffes stehen, d.i. der Regel
gemäfs sein, wodurch es möglich ist, von Dingen Begriffe zu
bekommen und alles mit den Begriffen der Dinge zu ver-
knüpfen.'* 2) Die Schwierigkeit beginnt erst, wenn man aus
der Einheit der Apperzeption die verschiedenen Kategorien
ableiten will. Die Natur ist nicht ein Aggregat von Er-
scheinungen, die in einem generellen Verhältnis der Synthesis
>) Man vgl. L.B1. 190 ZeUe 7 oder S.72 dieser Schrift.
>) Reflexton Nr. 947. Man vgl. auch Reflexion Nr. 955, wo es heilst:
.Weil wir ohne Begriff niclits denlcen Icönnen, so mufs ein jeder Qegen-
stand, den wir denicen sollen, ein Verhältnis der £mpfindang zum Begriff
überhaupt haben.**
Digitized by
Google
63
zneinandeT gteben; die wirkliche Affinität der uns gegebenen
Gegenstände läfst sich durch das blofse Zusammensein in
einem Bewnfstsein keineswegs erklären. Es mnfs also nicht
bloCs gezeigt werden, dafs die Erscheinungen schon so ins
Bewurstsein kommen müssen, dafs sie in ihm yereinigt werden
können, sondern auch wie sie durch diese Vereinigung in einem
transscendentalen Bewuistsein ihre notwendige Affinität unter-
einander erhalten, die sich in den mannigfachen Verhältnissen
(Kategorien) äufsert Wir können also unsere zweite Frage
auch so ausdrucken: Wie können Kategorien als Gesetzmäfsig-
keit schaffende Prinzipien aus der transscendentalen Einheit
der Apperzeption abgeleitet werden?
So paradox und gewagt auch dies klingen mag, so mufs
doch behauptet werden, dafs die transscendentale Deduktion
der Kategorien streng genommen nur als eine Deduktion der
transscendentalen Einheit der Apperzeption als obersten Prinzips
alles Verstandesgebrauchs angesehen werden darf. Hingegen
wird man in ihr umsonst eine Ittckenlose Ableitung der Ver-
standesbegriffe, wie dies der Titel yerheifst, suchen, denn diese
wird von Kant — hier wenigstens — nicht geleistet Bewiesen
wird das Merkmal der Apriorität von allen denjenigen trans-
seendentalen Funktionen, die die allgemeinsten Synthesen be-
wirken. Die Apriorität der Verknüpfung der Erscheinungen
durch die Kategorien wird jedoch nur behauptet, aber nicht
bewiesen. Der Übergang von den allgemeinsten zu den kate-
gorialen Formen der Verknüpfung kommt unvermittelt, und ihre
apriorische Bedeutung wird nur als Faktum hingestellt, i)
Wir ersehen dies am besten, wenn wir an Hand des von
Kant angegebenen kurzen Begriffs der Deduktion seinen Be-
weisgang verfolgen: „Sie [die Deduktion] ist die Darstellung
^ Mau vgl. besonders RIehl a. a. 0. 516 f. Es sei noch bemerkt,
dab es der folgenden Aosftlhniiig vollkommen fern liegt, eine Kritik der
Kategorienlehre sein zu wollen. Da jedoch im Folgenden gezeigt werden
wird, dab Kant die transscendentale Affinit&t der Erscheinungen als
den zureichenden Grund ihrer empirischen Verwandtschaft annimmt, so
ersebeint es notwendig, darauf hinzuweisen, dals Kant für diese seine
Behauptung keinen befriedigenden Beweis geliefert hat, damit nicht aus
dem Mangel des Beweises auf das Nichtvorhandoiisein der zu beweisenden
Behaoptong geschlossen werde.
Digitized by
Google
64
der reinen Verstandesbegriffe ... als Prinzipien der Möglichkeit
der Erfabmng, dieser aber als Bestimmnng der Erseheinnngen
in Ranm nnd Zeit überhaupt, — endlich dieser ans dem Prinzip
der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption
als der Form des Verstandes in Beziehung auf Baum nnd
Zeit als ursprüngliche Formen der Sinnlichkeit^
Die Sinne verbinden nichts, sie liefern isolierte Eindrücke.
Wenn wir das Vermögen, das die Synopsis der Eindrücke zu
„ganzen"^) Vorstellungen ermöglicht, Apprebension nennen,
60 ist zunächst nicht klar, ob diese Apprebension bei voller
Wahrung ihrer Spontaneität als Verbindungsfnnktion eine
empirisch bedingte oder eine rein transscendentale ist Eine
empirisch bedingte Apprebension könnte nur dann eine Ver-
bindung hervorbringen, wenn die Anleitung dazu von der
Erscheinung, genauer von dem affizierenden Dinge, also a
posteriori ausginge. Solch eine Apprebension könnte uns zu
unserem Zwecke nichts nützen, weil sie keine Erkenntnisse
a priori ermöglicht Die Synthesis der Apprebension mufs
deshalb eine transscendentale, d. i. eine solche Funktion
sein, die notwendige und allgemeingültige Erkenntnisse er-
möglicht Diese ihre Transscendentalität kann aber leicht
bewiesen werden. Baum und Zeit sind Anschauungsformen
unserer Sinnlichkeit, sie sind nicht von der Erfahrung her-
genommen, sondern a priori gegeben. Da sie aber ein Er-
zeugnis der Bezeptivität sind, so können sie zunächst nur die
Möglichkeit des Neben- und Nacheinanders darstellen. Baum
und Zeit sind aber mehr als dies, sie sind nicht nur An-
schauungsformen, sondern selbst Anschauungen, ganze Vor-
stellungen. Solche können sie aber nur werden durch das
Hinzutreten einer spontanen Funktion zu dem gegebenen
apriorischen Mannigfaltigen, die diese Synthesis a priori
bewirkt, weil auch das a priori gegebene Mannigfaltige der
Anschauungsformen keine Verbindung enthält — also haben
wir eine transscendentale Synthesis der Apprebension, die
auf aposteriorische Gründe nicht angewiesen ist
Ähnlich verhält es sich mit der Einbildungskraft, obwohl ihr
Geschäft ein viel komplizierteres ist Hat es die Apprebension
0 Kr. A 102 ZeUe 9.
Digitized by
Google
65
mit einfachen Elementen zn tnn, die sie — soweit es anf sie
als rein synthetisehes Vermögen ankommt — zu einem oder
vielen Ganzen zn verbinden hat, so mnis eine Einbildungs-
kraft, wenn sie transscendental sein soll, sehr versehiedenartig
mit den Erseheinnngen yerfahren. Die empirische, immer nur
reprodnktive Einbildungskraft assoziiert nicht nach Belieben
die Vorstellnngen miteinander, sondern nach bestimmten empi*
risehen Regeln. Dementsprechend wird die transscendentale
oder, wie sie von Kant anch genannt wird, produktive Ein-
bildungskraft als der apriorische Grund dieser empirischen
Regeln, d.h. der notwendigen, wenn auch besonderen Ver-
wandtschaft der Erscheinungen angesehen werden mttssen.
Könnte nun eine derartige TransscendentaUtät von der Ein-
bildungskraft nachgewiesen werden, so wäre dadurch mit
einem Schlage die positive Seite des Problems der trans-
seendentalen Analytik gelöst Es wäre damit sowohl die
notwendige Gtosetzmäfsigkeit und Verwandtschaft der Er«
scheinungen erklärt, wie die apriorische Beziehung der Kate-
gorien auf diese Erscheinungen bewiesen.
Indessen gelingt es Kant nicht, diese Fähigkeit der
produktiven Einbildungskraft zu deduzieren, obwohl er es von
ihr behauptet, indem er sagt, dafs die empirische Affinität
blob die Folge der transscendentalen ist^) Der Beweis fttr
die TransscendentaUtät der produktiven Einbildungskraft wird
ähnlieh wie derjenige fttr die Apprehension geftthrt Von
dieser wurde gezeigt, dafs selbst Raum und Zeit als Vor-
stellnngen unmöglich sein wttrden, wenn nicht die Apprehension
als transscendentale Funktion die Verknüpfung ursprünglich
zustande gebracht hätte. Kann aber ebenso gezeigt werden,
dab zur Ausfllhrung dieser ursprünglichen Synthesis nicht
minder Einbildungskraft notwendig ist, so scheint damit zugleich
ihre TransscendentaUtät bewiesen zn sein. Dafs dies tat-
sächlich der Fall ist, kann leicht gezeigt werden: Wttrde ich
beim Ziehen einer Linie in den Gedanken die ersten Teile
derselben „aus den Gedanken verlieren und sie nicht re-
produzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde
niemals eine ganze Vorstellung, ... ja gar nicht einmal die
<) Man vgl Kr. A 114 und 123.
PhlloMphliohe Abhandlvngen. XLI.
Digitized by
Google
66
reinsten und ersten Grandvorstellongen von Ranm und Zeit
entspringen können. Die Sjnthesis der Apprehension ist also
mit der Syntbesis der Reproduktion unzertrennlieh verbunden.
Und da jene den transsoendentalen Grund der Möglichkeit aller
Erkenntnisse überhaupt . . . ausmaeht, so gehört die reproduktive
Synthesis der Einbildungskraft zu den transscendentalen
Handlungen des Gemttts . . .^ 0
Prüft man aber diese Argumentation, so ist deutlieh zu
ersehen, daüs mit dieser Erörterung nur bewiesen ist, daTs zur
Wahrnehmung Gedächtnis notwendig ist; ans dieser Tatsache,
die nieht erst durch eine Deduktion bewiesen zu werden
brauchte, folgt aber nichts fttr die Erklärung der Möglichkeit
apriorischer Erkenntnisse. Sehen wir jedoch von einem Beweise
ab und untersuchen nur, was Kant hierüber lehrt, so zeigt
sich, dals er der transscendentalen Einbildungskraft eine viel
ursprünglichere Tätigkeit zuschreibt, als dies aus dem Beweise
ftlr ihre Transscendentalität zulässig ist Damit kehren wir
zur Frage der Kategorien zurück.
Wie sich Kant den Übergang von der transscendentalen
Apperzeption zur Affinität der Erscheinungen denkt, zeigt eine
lehrreiche Stelle aus den Losen Blättern: „Alles Verhältnis
der Vorstellungen durch Begriffe hat eine dreifache Dimension:
1. das Verhältnis einer Vorstellung zum Bewufstsein, 2. einer
anderen Vorstellung zum Bewufstsein, 3. beider Vorstellungen
zusammen in einem Bewufstsein. Dadurch wird allererst die
Verknüpfung der Vorstellungen untereinander möglieh (eon-
nexa uni tertio sunt connexa inter se).''^) Dieser letate
Satz drückt mit axiomatischer Kürze die Lehre der Deduktion
aus. Die transscendentale Apperzeption ist nicht nur das
Vermögen, mannigfache Vorstellungen in einem Bewnffitsein
zu vereinigen — das kann auch die empirische — ; sie ist
nicht nur das Gefäfs, das alle Vorstellungen in sich aufnehmen
kann, um sie zu einem zusammenhanglosen Aggregat zu ver-
binden. Sie ist vielmehr das Prinzip der Affinität und Asso-
ziabilität der Erscheinungen, die durch die AufDahme in dieses
ursprüngliche Selbstbewufstsein dergestalt geordnet werden,
') Kr. A 102.
') Lose Blätter 98.
Digitized by
Google
67
diifg sie in mannigfachen notwendigen Verhältnigsen zn stehen
kommen, in Verhältnissen von Substanz und Akzidenz, von
Ursaehe nnd Wirkung usf.
Die Auseinandersetzung dieses Gedankens wird in der
Deduktion durch folgende Betrachtung eingeleitet: „Wttrde
der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schw^
sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt
verändert werden, ana längsten Tage bald das Land mit
Früchten, bald mit Schnee und Eis bedeckt sein, so könnte
meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit
bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren
Zmnober in die Gedanken zn bekommen; oder^ würde ein
gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt . . .,
ohne dalB hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen
schon von selbst unterworfen sind, herrsohte, so konnte keine
empirische Synthesis stattfinden. <) Es mufs also etwas sein,
was selbst diese Reproduktion der Erscheinungen mOglich
macht, dadurch dafs es der Grund a priori einer notwendigen
synthetischen Einheit derselben ist Hierauf aber kommt
man bald, wenn man sich besinnt, dafs Erscheinungen
nicht Dinge an sich selbst, sondern das blofse Spiel
nnserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen
des innerea Sinnes auslaufen.^ ')
So bald indessen, wie Kant dies annimmt, kommt man
nicht darauf, was dieser Grund a priori einer notwendigen
synthetisclien Einheit sein möchte, um so weniger, als die
Funktion der transscendentalen Einbildungskraft noch nicht
anseinandergesetzt worden ist Dennoch lälst die Betonung
der Snbjektiyiat der Erscheinungen durch die Wendung, dals
rie das blofse Spiel der Vorstellungen sind, keinen Zweifel
darüber, dafis von einer von unserem Verstände unabhängigen
Äffinittt in den Erscheinungen nicht die Rede sein kann.
»Dingen an sich' selbst würde ihre GesetzmäTsigkeit notwendig,
>) Man beachte die HeterogenitiKt dieser Beispiele.
>) Kant beginnt hier eine neoe Zeile, daher kommt es, dafs in den
Haodbfiehem nnd anch sonst diese Stelle nur bis zn dem Worte „statt-
finden" zitiert wird. Wird aber der folgende Satz nicht mit angeführt, so
besagt diese Stelle genau das Gegenteil von dem, was Kant wirklich meint.
») Kr. A JOD f.
5*
Digitized by
Google
68
aneh aober einem Yerstande, der sie erkennt, zukommen.
Allein Erseheinongen sind nur Yorstellangen von Dingen, die
naeh dem, was sie an sieh sein mögen, unerkannt da sind. Als
blolse Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze
der Verknüpfung, als demjenigen, welebes das verknüpfende
Vermögen vorsehreibt.^ i)
Wir sehen somit, wie sieh Kant die notwendige Ver-
wandtschaft der Erscheinungen erklärt Auf die Frage, warum
der Zinnober nicht bald rot, bald schwarz erscheint, würden
wir antworten, dafs das Ding, das die Wahrnehmung Zinnober
in uns hervorruft, unsere Sinne auf eine bestimmte Weise
af&ziere und dafs diese Affektion eine konstante sei. Kant
kann sieh mit einer derartigen Antwort nicht zufriedengeben.
Erstens darf er über die Beschaffenheit der Dinge an sieh
nichts aussagen, was doch hier offenbar geschehen würde.
Viel wichtiger ist aber zweitens der Umstand, dab die Eonstanz,
von der hier die Rede ist, nur durch Erfahrung und nicht
a priori festgestellt werden kann. Die Wissenschaft muls
jedoch auf einen apriorischen Beweis der Gesetzmäßigkeit der
Erscheinungen und des Geschehens bestehen, wenn sie nicht
der Gefahr ausgesetzt sein will, dafs die Erfahrung von morgen
ihren heutigen Sätzen und Gesetzen zuwiderhandeln werde.
Die Afßnität der Erscheinungen muls daher auf einem
apriorischen Prinzip beruhen. Der Zinnober behält seine
Eigenschaften, weil er immer in dasselbe Bewufstsein auf-
genommen wird, das ihm diese Regel und Ordnung g^btl
Das Seltsame dieser Behauptung sucht Kant dadurch abzu-
schwächen, dafs er erinnert, der Zinnober sei eigentlich kein
Ding, sondern nur die Erscheinung eines Dinges. Dinge
können wir nicht gestalten; dagegen müssen Vorstellungen
diejenige Form annehmen, die ihnen der spontane Verstand
gibt, weil sie als solche nirgendwo anders als im Bewufstsein
existieren. Man mufs jedoch gestehen, dafs das Befremdende
dieser Lehre durch eine solche Überlegung nicht ganz be-
seitigt wird.
Dies ist der Grund, warum realistisch denkende Geister
sieh niemals mit diesem Paukte der Kantischen Lehre aus-
») Kr. 164.
Digitized by
Google
69
söhnen konnten, oder aber glanbten, diese Lehre im realistisehen
Sinne anffassen zu müssen. Dieser AnfTassung gegenüber
erscheint es notwendig, die Bedeutung der transscendentalen
Affinität ansfbhrlieher zn erörtern. Die hierhergehörigen Ans-
fdhningen sind so klar und unzweideutig, dafs wir sie nur
anzufllhren brauehen, um ihren Sinn richtig zu verstehen, aber
für unseren Zweck auch wörtlich anführen müssen.
„Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung . . •
Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin
verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und
einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben
nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.
Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses
Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen . . . Die
Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung
in ein Bild bringen; yorher mufs sie also die Eindrücke in
ihre Tätigkeit aufnehmen ... Es ist aber klar, dafs selbst diese
Apprehension des ilannigfaltigen allein noch kein Bild und
keinen Zusammenhang der Eindrücke hervorbringen würde,
wenn nicht ein subjektiver Grund da wäre, eine Wahrnehmung,
von welcher das Gemüt zu einer andern übergegangen, zu den
nachfolgenden herüberzurufen und so ganze Reihen derselben
darzustellen, d. i. ein reproduktives Vermögen der Einbildungs-
kraft) welches denn auch nur empirisch ist Weil aber, wenn
Vorstellungen, so wie sie zusammengeraten, einander ohne Unter*
schied reproduzierten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang
derselben, sondern blofs regellose Haufen derselben, mithin gar
keine Erkenntnis entspringen würde; so mufs die Reproduktion
derselben eine Begel haben, nach welcher eine Vorstellung viel-
mehr mit dieser als mit einer anderen in der Einbildungskraft
in Verbindung tritt Diesen subjektiven und empirischen
Grand der Beproduktion nach Begeln nennt man die Asso-
ziation der Vorstellungen. — Würde nun aber diese Einheit der
Assoziation nicht auch einen objektiven Grund haben, so dafs
es unmöglich 1) wäre, dafs Erscheinungen von der Einbildungs-
kraft anders apprehendiert würden, als unter der Bedingung
einer möglichen synthetischen Einheit dieser Apprehension,
<) Verständlicher and deutlicher wäre hier .möglich' statt «unmöglich*.
/Google
Digitized by ^
70
so wtlrde es aach etwas ganz Zufälliges sein, dafs sieh
Erseheinungen in einem Zasammenhang der mensehlichen
Erkenntnisse sehiekten. Denn, ob wir gleieh das Vermögen
hätten, Wahrnehmungen zn assoziieren, so bliebe es doch an
sieh ganz unbestimmt and zatällig, ob sie aneh assoziabel
wären; and in dem Falle, dafs sie es nicht wären, so wtlrde
eine Menge Wahmehmangen und auch wohl eine ganze Sinn-
lichkeit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewalstsein
in meinem Oemttt anzutreffen wäre, aber getrennt, und ohne
dafs es zu einem Bewufstsein meiner selbst gehörte, welches
aber unmöglich ist Denn nur dadurch, dafs ich alle Wahr-
nehmungen zu einem Bewufstsein . . . zähle, kann ich bei allen
Wahrnehmungen sagen, dafs ich mir ihrer bewufst sei Es
mufs also ein objektiver, d. i. vor allen empirischen Gesetzen
der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, woranf
die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle
Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht, sie nämlich
durchgängig als solche Data der Sinne anzusehen, welche an
sich assoziabel und allgemeinen Regeln einer durchgängigen
Verknüpfung in der Reproduktion unterworfen sind. Diesen
objektiven Grund der Assoziation der Erscheinungen nenne
ich die Affinität derselben. Diesen können wir aber nirgends
anders als in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption
in Ansehung aller Erkenntoisse, die mir angehören sollen, an-
treffen. Nach diesem müssen durchaus alle Erscheinungen
so ins Gemttt kommen^) oder apprehendiert werden, dafs sie
zur Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, welches ohne
synthetische Einheit in ihrer Verknüpfung, die mithin auch
objektiv notwendig ist, unmöglich sein würde . . . Die Affinität
aller Erscheinungen (nahe oder entfernte) ist eine notwendige
Folge einer Sjnthesis in der Einbildungskraft, die
a priori auf Regeln gegründet ist ... Es ist daher zwar
befremdlich, allein aus dem Bisherigen doch einleuchtend,
dafs nur vermittelst dieser transscendentalen Funktion der
Einbildungskraft sogar die Affinität der Erscheinungen . . .
die Reproduktion nach Gesetzen . . . möglich werde; weil ohne
0 Wohlgemerkt, es helfet nicht: sie mttssen derart sein, sondern
„sie müssen so ins Gemttt kommen^.
Digitized by
Google
71
«\^ gar keine Begriffe von Oegenständen in eine Erfahning
inftammenfliefsen wttrden.'^O
Dies ist deutlich genüg, jedooh als ob Kant jeder Mils-
ieatung vorbeugen wollte, resümiert er seine Lehre in folgenden
Worten: ,,Die Ordnung and BegelmäJsigkeit also an den Er-
seheinnngen, die wir Katar nennen, bringen wir selbst hinein,
und würden sie aueh nicht darin finden können, hätten wir
sie nicht oder die Katar anseres Gemttts arsprttnglich
hineingelegt Denn diese Katareinheit soll eine notwendige,
d. i. a priori gewisse Einheit der Verknüpf ang sein. Wie
sollten wir aber wohl a priori eine synthetische Einheit aaf
die Bahn bringen können, wären nicht in den nrsprünglichen
Erkenntnisqnellen nnseres Gemttts subjektive Gründe solcher
Einheit a priori enthalten, and wären diese sabjektiyen Be-
dingungen nicht zugleich objektiv gültig, indem sie die Gründe
der Möglichkeit sind, überhaupt ein Objekt in der Erfahrung
zn erkennen?^'')
Will man dem gegenttber behaupten, dals nach Kant die
Dinge an sich uns die Erscheinungen bereits in einer intelli-
giblen Ordnung geben, der Verstand aber nur die Aufgabe
habe, diese intelligible Ordnung in eine empirische umzusetzen,
so mnfs gesagt werden, daJüs Kant hier eine äufserst milsver-
ständliehe Sprache führe und da£s die Verhütung einer so groben
Mifsdeutung — wie sie die vorstehende Interpretation abgeben
würde — lediglich dem Umstände zu verdanken sei, dafs man
sieh mit dem Standpunkt, der aus der naiven Lektüre obiger
Erörterungen zu gewinnen ist, nicht so leicht versöhnen könne.
Dann hätten wir es nur diesem Zufall zu danken, dab der
richtige Sinn der Kantischen Lehre ans erschlossen worden sei.
Aber selbst wenn der angegebene Wortlaut der Deduktion
noch irgend welche Zweideutigkeit zulielse, so mülste folgende
Stelle aus den Losen Blättern jeden Zweifel über die Bichtig-
keit unserer Auffassung zerstreuen. „Die Zusammensetzung^
— heiist es dort — .ist in der Vorstellung des Zusammen-
gesetzten immer bloft^unser eigenes Werk. Wie können wir
non sagen, dafs das Objekt damit übereinstimme? Diese Über-
')Kr. AllOff.
9 Kr. A 126.
Digitized by
Google
72
einstimmQDg kaDn doch nicht darin bestehen, dafs die Qualität
der Zusammensetzung dem Zusammengesetzten ähnlich, sondern
dafs eines von beiden des anderen Grund oder Folge ist (das
letztere ist es, wenn das Objekt blofs Erscheinung
ist).''0 Diese Aufzeichnung spricht für sich selbst Bliebe es
bis jetzt noch unausgemacht, ob die Affinität, die allererst durch
die transscendentale Einbildungskraft möglich wird, bereits durch
die Dinge gegeben werde oder nicht, so geht aus dem An-
geführten mit aller Bestimmtheit hervor, dafs der Verstand ur-
sprünglich die Verwandtschaft schafft und daCs die empirische
Affinität in ihrer ganzen Qualität nur eine Folge der trans-
scendental geschaffenen ist
Der Sinn dieser Kantischen Lehre von der transscenden-
talen Schöpfung der Verwandtschaft unter den Erscheinungen
liegt nicht auf der Oberfläche und sie ist in der Tat nicht so
befremdend, wie sie zu sein scheint Es liegt Kant natürlich
fem zu behaupten, dafs es nur der Aufnahme mannigfacher
Vorstellungen ins Bewnistsein bedürfe, um aus ihnen einen
physischen Konnex zu schaffen. Man könnte ihm entgegen-
halten, dals eine unzusammenhängende Bede dadurch, dafs sie
in einem Bewufstsein vereinigt wird, noch keinen Zusammen-
hang und Sinn bekomme. Kants Lehre ist jedoch eine viel
tiefere. Die Sinne verbinden nichts; sie können nur unznsammen-
hängende, isolierte Elemente liefern. Trotzdem haben wir es
niemals mit diesem rohen Material, sondern stets mit fertigen,
ganzen Vorstellungen zu tun, die überdies noch im Konnex mit-
einander stehen. Zwischen der passiven Sinnlichkeit einerseits
und dem, im gewissen Sinne, nur rezeptivem empirischen Be-
wufstsein andererseits mnfs daher ein Vermögen tätig sein, das
aus den mannigfachen Empfindungen, die uns dasjenige Etwas
bietet, das für uns z. B. ein Apfel werden soll, zum Objekt
Apfel gestaltet Wie dies zustande kommt, wissen wir nicht
und können es auch niemals beobachten. Nun zeigt das trans-
scendentale Bewuistsein, dafs in dem Satze: „Ich denke^ sich
offenbart, anscheinend ein derartiges Vermögen. Dieses trans-
scendentale Selbstbewufstsein mufs es also sein, das die Objekte
gestaltet Muis aber ftlr das Znstandekommen eines Objektes
^) Lose Blätter 190.
Digitized by
Google
73
ein derartiges VermSgen in Anspruch genommen werden, so liegt
nichts im Wege, demselben Vermögen die Schöpfung der Affi-
nität zuzuschreiben, welche Tätigkeiten beide Male unbewnist
vor sich gehen können. Das transscendentale und nicht em- .
pirische Selbstbewufstsein ist es also, das die Affinität schafft
Deshalb kann in unserem Beispiel eine unzusammenhängende
Rede, die als solche sozusagen das transscendentale Be-
wofstsein durchgegangen ist, nicht wieder zusammenhängend
werden, weil sie ins empirische aufgenommen wird.
Wir wollen die Frage der Affinität noch von einer anderen
Seite ins Auge fassen. Gesetzt die Erscheinungen hätten eine
Tirtuell bestimmte Ordnung, die dem Konnex ihrer Substrate,
der Dinge an sieh, entspricht. Die Sinne, die die Sprache der
Verbindung nicht verstehen, liefern uns das Material der An-
schauung unyerbnnden. Der apriorische Verstand — abgesehen
davon, dafs er nicht anschaut — darf bei seiner verknüpfenden
Tätigkeit von der Erfahrung nichts ablesen; denn dann wäre
die Verknüpfung a posteriori. Trotzdem soll aber die Ver-
bindung, die er yoUzieht, mit der tatsächlichen Affinität der
Erscheinungen notwendig ttbereinstimmen. Ich frage, wie will
man hier ohne eine piästabilierte Harmonie oder etwas ähn-
liches auskommen? Ferner, wenn die Verknüpfung von einem
von uns unabhängigen Dinge herrühren soll, wie ist die Gesetz-
mälsigkeit der Erfahrung yerbürgt? Müssen wir dann nicht
viehnehr dem Dinge an sich vertrauen, dafs es uns keine
Überraschungen bereiten werde; dafs z. B. die Sonne, die bisher
das Wachs erweicht und den Ton gehärtet hat, morgen nicht
umgekehrt wirken werde, oder dafs der fallende Stein, der
bisher den Fallgesetzen folgte, morgen es nicht mehr tun, oder
gar naeh oben fallen werde? Dieser Schwierigkeit kann man
nicht dadurch aus dem Wege gehen, dafs man behauptet, falls
unsere Natur einer derartigen Ungesetzmäfsigkeit unterworfen
sein sollte, würde sie nicht erfahrbar sein. Denn nehmen wir
folgenden Fall: Wir sehen eines Tages glühende Kohlen in eine
helle Flüssigkeit fallen und sich daselbst zu leuchtenden Flammen
entzünden, werden wir dieses Phänomen nicht wahrnehmen
können? Wie nun aber, wenn in unserem Gefäls nicht flüssige
Lnfk, sondern H^O wäre und die glühende Kohle trotzdem auf-
loderte (denn wenn es nur vom Ding an sich abhängen sollte,
Digitized by
Google
74
80 iBt Dieht einzusehen, waram dies nieht möglieh sein könnte) ?
Warum sollten wir diesen Vorgang in unser Bewulstsein nieht
ebensogut aufnehmen können? Man wird vielleieht entgegen-
halten, dafs, wenn dereinst etwas derartiges eintreten sollte,
wir gleich nach der Ursache eines derartigen Verhaltens fragen
würden; aber dieses Fragen nach der Ursache: worauf beroht
es denn? Die Oesetzmäfsigkeit der Erfahrung ist ja erst voraos-
gesetzt, nicht bewiesen, denn wir haben soeben gesehen, dafs
die Erfahrbarkeit der Natur mit der Lückenhaftigkeit des
Eausalprinzips gar nicht aufgehoben wird. Freilieh, befände
sich unsere Natur in völlig chaotischem Zustande, so ginge
uns die Möglichkeit sie zu begreifen verloren. Wie aber, wenn
die Erfahrung, ähnlich wie eine Reihe von Sprachformen, im
ganzen regelmälsig wäre, in einigen Fällen aber Ausnahmen
von der aligemeinen Gesetzlichkeit aufwiese? Könnte in solchem
Falle die Naturforsehung nicht ebenso vonstatten gehen, wie
die Sprachforschimg möglieh ist, trotzdem sie es mannigfaeh
mit Ausnahmen und Unregelmäisigkeiten zu tun hat?^) Die
Möglichkeit der Erfahrung kann also in diesem Sinne von der
Gültigkeit des Kausalsatzes nicht abhängen. Nur wenn die
Deduktion so aufgefafst mrd, dafs die transscendentale Apper«
zeption es bewirkt, dals die Erscheinungen durch das Medium
der transscendentalen Synthesis ihre notwendige Affinität be-
kommen, ist die Gesetzmäfsigkeit der Natur a priori gesichert
Sollen hingegen die Erscheinungen schon von den Dingen an
sich in irgend einer Weise bestimmt sein, so wäre die Gesetz-
mäfsigkeit des Naturgeschehens nur ein Postulat, und es ist
nicht einzusehen, warum die von uns gänzlich unabhängigen
Dinge an sich eines Tages nicht anders zu wirken beginnen
sollten, als sie dies bis heute getan haben. Zwar mOftten sie
auch dann so erscheinen, dals sie zu unserem identischen Be-
wufstsein gehören könnten, weil sie widrigenfalls fttr uns nichts
wären; sie brauchten jedoch nicht mit unseren bisherigen Natur-
gesetzen übereinzustimmen.
Bevor wir weitergehen, ist es notwendig, noch «ine Stelle
zu betrachten, die scheinbar als entscheidendes Moment gegen
^) Man vgl. dagegen Erdmaan, Über Inhalt und Geltung des Kausal-
satses, 27 iL
Digitized by
Google
76
unsere Aaffassang der DednktioD sprieht Bei der Betonang der
Notwendigkeit einer Deduktion der Kategorien hebt Kant hervor,
dafs diese Deduktion mit schwierigeren Problemen, als diejenige
Ton Raum und Zeit, verbunden ist «Denn'' — meint er — ,es
könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, dafs
der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht
gemäfs fände und alles so in Verwirrung läge, dafs z. B. in der
Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine
B^el der Synthesis an die Hand gäbe und also dem Begriffe
der Ursaehe und Wirkung entspräche, so dafs dieser Begriff
abo ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre/^ ^^^
dieser Stelle scheint mit Bestimmtheit hervorzugehen, erstens,
dafs Erscheinungen einer vom Verstände unabhängigen Ordnung
unterliegen können, zweitens, dafs sie trotz des Vorhandenseins
eines Verstandes mit apriorischen Kategorien ihre jetztige Ord-
nung gar nicht haben mttssen. Wie kann man demnach die
Lehre Kants, dafs die Kategorien es sind, die die Ordnung
unter den Erscheinungen schaffen, so auffassen, als ob diese
Erscheinungen in völlig ungeordnetem Zustande unserem Ver-
stände gegeben wttrden, wenn die eben angeführte Stelle den
Erscheinungen eine gewisse Autonomie zugesteht? Die rea-
listische Auffassung der Deduktion seheint demnach die einzig
berechtigte zu sein?
Es ist jedoch klar, dals wenn man obige Stelle als definitive
Ansicht Kants aufihfst, sie nicht nur mit einer subjektivistischen
Interpretation, sondern mit dem Grundgedanken der Deduktion
selbst in Widerspruch steht Man vergleiche damit einen an-
deren, auf diesen Punkt bezüglichen Gedankengang in der
Deduktion: , Würde ... die Einheit der Assoziation nicht auch
einen objektiven Grund haben ..., so würde es auch etwas
ganz Zufälliges sein, dafs sich Erscheinungen in einem Zu-
sammenhang der menschlichen Erkenntnisse schickten. Denn
ob wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu asso-
ziieren, so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zu-
fällig, dad sie auch assoziabel wären; und in dem Falle dafs
sie es nicht wären, so würde eine Menge Wahrnehmungen und
auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher
') Kr. 129.
Digitized by VjOOQ IC
76
viel empirischeB Bewnfstsein in meinem Gemüt anzntreffen
wäre, aber getrennt, nnd ohne dals es zn einem Bewobtsein
meiner selbst gehörte, welches aber unmöglich ist*0
Diese beiden Stellen verhalten sich zueinander wie ja und
nein. Und man lese noch folgendes: «Dingen an sich selbst
würde ihre Gesetzmäfsigkeit notwendig auch aufiier einem
Verstände, der sie erkennt, zukommen. Allein Erscheinungen
sind nur Vorstellungen von Dingen ... als blofse Vorstellungen
aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung,
als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vor-
schreibt.* 2) Der scheinbare Widerspruch, der zwischen diesen
Auslassungen und der eingangs zitierten herrscht, verschwindet
aber sofort, wenn man die letzte als dasjenige betrachtet,
was sie wirklich ist, nämlich als transscendentale Frage. ^)
Kant stellt sich hier auf den Standpunkt des common sense,
der sich die Erscheinungen — die für ihn eigentlich mit den
Dingen identisch sind — als einer ihnen schon von selbst
immanenten Ordnung unterworfen denkt Dann fragte es
sich mit Recht, wenn diese von dem Verstände unabhängige
Ordnung mit ihm gar nicht übereinstimmte, wo käme dann
die apriorische Gesetzmäfsigkeit her? Von der Erfahrung
darf sie nicht abgeleitet werden, ein anderes Prinzip gibt es
zunächst auch nicht Dieses Problem fordert also zu einer
Deduktion auf, deren Ergebnis bei Kant folgendes ist: es gibt
nicht zwei Ordnungen, eine der Erscheinungen, die andere
des Verstandes, die dann miteinander übereinstimmen können
oder nicht, sondern es gibt nur eine Ordnung, und zwar die
des Verstandes, der die Erscheinungen unterworfen sind nnd
deshalb stimmen die Verhältnisse derselben mit den Begeln des
Verstandes überein.
») Kr. A 121.
*) Kr. 164. Man sehe auch Reflexion Nr. 960: „Alle Objekte, die
wir denken sollen, müssen in Ansehung aller logischen Funktionen des
Verstandes bestimmt sein, dadurch können wir allein denken . . .* Man
vgl. auch L. Bl. 20 und 284: „Der Satz, da(s sich alles in der Natur
mttsse a priori erkennen und bestimmen lassen: worauf grttodet er sich?
ohne Zweifel auf die Einheit der Erkenntniskraft, wodurch allein die
Erscheinungen Verhältnisse und Verbindung bekommen kOnnen.
*) Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 1871, 177.*.
Digitized by
Google
77
Die oben zitierte Stelle, die wir mit Cohen als transscen-
dentale Frage bezeiehnet haben, wird dnroh folgenden Satz ein*
geleitet: „Denn dafs Oegensttnde der sinnlichen Ansohaunng
den im Gemüt a priori liegenden formalen Bedingungen der
Sinnlichkeit gemäfii sein mttssen, ist daraus klar, weil sie
sonst nicht Gegenstände fttr uns sein würden; dafs sie aber auch
ttberdem den Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen
Einheit bedarf^ gemäfs sein müssen, davon ist die Schlulsfolge
nicht so leieht einzusehen.^ 0 ^^"^ wissen wir aber, dafs es
Kants Aufgabe eben war, diese schwierige Schlnfsfolge zu
ziehen, denn die Deduktion kommt zu folgendem Besultat:
vAlle Erscheinungen liegen als mögliche Erfahrungen
ebenso a priori im Verstände und erhalten ihre formale
Mögfichkeit von ihm, wie sie als blolse Anschauungen in der
Sinnlichkeit liegen/') So wenig also die Erscheinungen
hinsichtlich der äufseren Form eine andere Ordnung haben
können, als diejenige, in welche Raum und Zeit sie hinein-
zwingen, so wenig kOnnen sie hinsichtlich ihrer Verknüpfung
in einer anderen Ordnung stehen als der, die ihnen der spon-
tane Verstand rorschreibt. Denn „wir haben nicht Verstand,
weil es eine Natur gibt,^') sondern wir haben eine Natur,
weil wir einen Gesetzmälsigkeit schaffenden Verstand haben,
„Zu sagen, wir kOnnen a priori die Beschaffenheit der Dinge
bestimmen und zugleich, diese Dinge haben solche Beschaffen-
heit, unabhängig ron unserem Vermögen sie zu
bestimmen, ist ein Widerspruch, denn wo nehmen wir alsdann
nnsere [notwendige] Erkenntnis her?' «)
Wir haben oben henrorgehoben, daJTs der Übergang von der
transscendentalen Einheit der Apperzeption zu den Kategorien
nicht dureh eine lückenlose Deduktion geschehen ist Diesen
Mangel hat Kant bereits bei der Niederschrift der Vorrede zur
ersten Auflage gefühlt^) Er sucht daselbst den Wert der
subjektiven Deduktion etwas herabzusetzen. Aber abgesehen
davon, dafs eine strikte Scheidung der Deduktion in eine
>) Kr. lia.
«) Kr. A 127.
*) Eaflexion Nr. 991.
*) Daselbst
•) Vorr. XVn.
Digitized by
Google
78
subjektive nnd objektive im Werke selbst nielit ganz deotlieh
zu Tage tritt/) so ist dooh klar, dafs, wenn man die trans-
Bcendental-psyebologisehen Erörterungen, die die Bedingungen
der Möglichkeit des objektiv gültigen Denkens darstellen, aus
der Deduktion entfernt, der dann zurückbleibende objektive
Teil nicht genügen würde, nm die Gültigkeit der Kategorien
zu erklären. Übrigens ist im § 26 der 2. Auflage die sub-
jektive Deduktion wieder aufgenommen worden; nur werden
jetzt die Namen für die subjektiven Vermögen etwas spftrlieher
gebraucht und die Erörterung ist eine viel gedrängtere. Aach
Ulrich gegenüber 3) hat Kant bekanntlich zugegeben, dals die
positive Seite des Problems der Analytik nicht vollständig in
der 1. Auflage gelöst worden sei. Das neue Prinzip, das
er in der nächsten Bearbeitung anzuwenden verspricht und
in der Deduktion der 2. Auflage §§ 19 und 20 tatsächlich
anwendet, hilft jedoch nicht viel. Denn der Schlafs aus der
Definition eines Urteils als «einer Handlung, durch die gegebene
Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden*,^) ist
nicht ganz zwingend, weil die Definition selbst nicht stichhaltig
zu sein scheint^) Aber für Kant war die Gesetzmäfsigkeit
der Natur und das Vorhandensein einer Erkenntnis a priori
eine über alle Zweifel erhabene Tatsache. Er sah deshalb
seine Lösung des Problems selbst dann für die einzig mögliehe
an, wenn sie auch nicht in allen Punkten befriedigend sein
sollte. In diesem Sinne sagt er: „Gesetzt, die Art wie Er-
fahrung dadurch [durch Kategorien nämlich] allererst möglieh
werde, könnte niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt
doch unwidersprechlich gewüs, dafs sie blofs durch jene Be-
griffe möglich isf^^)
Sieht man jedoch von einem streng deduktiven Beweise
für die apriorische Gültigkeit der Kategorien ab, so lassen sieh
mehrere Beweise Kants anführen, die als nicht direkte an-
gesehen werden müssen. Erstens die Konsequenz aus dem
Resultat der transscendentalen Ästhetik. Nach diesem Resultat
0 Vgl. Erdmann, Kants Kritistsmns 24.
>) In der Vorr. zu den Met. Anfgr. d. Natw. WW. IV,474fif. Arno.
*) Ebenda 475 Anm.
«) Man ygl. auch Erdmann, Logik, 2. Auf L I, 291 ff.
») WW. IV, 476 Anm.
Digitized by
Google
•
sind die Dinge, mit denen wir es zn fan haben, lediglich
Eracbeinnngen, die als solche nnr in nns existieren nnd die wir
infolgedessen auch formen können. „Reine Verstandesbegriffe
sind . . . nur darum a priori möglich, ja gar in Beziehung aut
Erfahrung notwendig, weil unsere Erkenntnis mit nichts als
Erscheinungen zu tun hat, deren Möglichkeit in uns selbst
liegt, deren Verknüpfung und Einheit . . . blofs in uns an-
getroffen wird . . . Und aus diesem Grunde, dem einzig möglichen
unter allen, ist denn auch unsere Deduktion der Kategorien
gef&hrt worden/^ 9 ^^^ ^^^^ diesen Grund als zureichenden
und nicht, wie es uns seheinen wttrde, als blofs die Deduktion
ermöglichenden ansieht, geht aus folgender Erörterung mit
aller wünschenswerten Deutiichkeit hervor. „Dagegen wenn
wir es ttberall nur mit Erscheinungen zu tun haben, so ist es
nicht allein möglich, sondern auch notwendig, dafs gewisse
Begriffe a priori vor der empirischen Erkenntnis der Gegen-
stände vorhergehen. Denn als Erscheinungen machen sie einen
Gegenstand aus, der blofs in uns ist . . .^^)
Der zweite Beweis ist ein direkt apagogischer. Er geht
davon aus, dafs es Urteile a priori gibt und zeigt, dafs, wenn
man die gegebene (Kantische) Lösung nicht anerkennt, die
Mögliehkeit dieser synthetischen Urteile a priori nicht einzusehen
ist, da die Wege, die die anderen Philosophen vorgeschlagen
haben (intellectus archetypus, prästabilierte Harmonie, Prä-
formationssystem), aus mannigfachen Grttnden abzuweisen sind.
In diesem Sinne einer indirekten Beweisführung ist die Problem-
stellnng in dem bekannten Briefe an Herz vom Jahre 72 und
ebenso auch folgende Stelle aus der Vorrede zur 2. Auflage
zu verstehen. „Bisher nahm man an*^ -- heifst es da — „alle
unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegensttnden richten;
aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe
auszumachen, . . . gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte.
Man versuche es daher einmal, ob wir nicht . . . damit besser
fortkommen, dafs wir annehmen, die Gegenstände müssen sich
nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit
der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben
>) Kr. A 130.
*) Kr. A 129.
Digitized by
Google
«0
•
a priori znaammenstimmi^O Ahnlich die bereits angeftthrte
Stelle: „Die Ordnniig and Regelmäfsigkeit an den Erscheinungen
... bringen wir selbst hinein ... Denn diese Natareinheit soll
eine notwendige d.i. a priori gewisse sein. Wie sollten
wir aber wohl eine synthetische Einheit anf die Bahn bringen
können, wären nicht in den ursprünglichen Erkenntnisqnellen
unseres Gemüts subjektive Gründe solcher Einheit a priori ent-
halten und wären diese subjektiven BediDgungen nicht objektiv
gültig."^)
Diese hier vorausgesetzte Gesetzmäfsigkeit der Ersebei-
nungen und die Erkenntnis von ihr ist, wie gesagt, fttr Kants
Bewufstsein eine Tatsache, an der nicht gezweifelt werden
kann. Dieser Umstand erklärt es, wie Kant aus dem Begriffe
der Erfahrung einen apriorischen Beweis für das Vorhandensein
reiner Grundsätze führen konnte. Am Anfang der Einleitung
(2. Auf läge) sagt Kant: „Auch könnte man, ohne ... Beispiele
zum Beweise der Wirklichkeit reiner Grundsätze a priori in
unserer Erkenntnis zu. bedürfen, dieser ihre Uneutbehrlichkeit
zur Möglichkeit der Erfahrung selbst, mithin a priori dartnn.
Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewifsheit hernehmen,
wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder
empirisch, mithin zufällig wären; daher man diese schwerlich
für erste Grundsätze gelten lassen kann. Allein hier können wir
uns damit begnügen, den reinen Gebrauch unseres Erkenntnis-
vermögens als Tatsache dargelegt zu haben.'^^)
Will man aber diesen apriorischen Beweis nicht gelten
lassen, weil man, wie Ulrich,^) einen Begriff der Erfahrong,
wie er hier vorausgesetzt wird, bezweifelt, so würde unser
Beweis folgendermalsen lauten: Es ist Tatsache, dafis vriv
synthetische Urteile a priori besitzen. Diese Tatsache lälst
sich nur entweder durch die Annahme eines Präformations-
systems usw. oder einer Epigenesis erklären. Nun ist das
Präformationssystem usw. ausgeschlossen. Also Epigenesis.
Aber wie leicht zu ersehen ist, kann dieser Beweis nur einen
*) Vorr. 2, XVI.
*) Kr. A 125.
») Kr. 6.
«) Man vgl. Brief ao Kant vom 21. April 1785.
Digitized by
Google
81
Bationalisieii, nieht aber einen Empiriker oder gar Skeptiker
ttberzengen, weil diese den Obersatz nieht wollen gelten lassen,
indem sie behaupten, dals unser ganzes Wissen von der Natur
sieh auf Induktion gründe, ohne dafs wir jemals reine Grund-
sätze anzuwenden imstande wären, weil wir solche nicht be-
Bitzen. Die Apodiktizität der mathematischen Axiome könnte
ihnen nieht entgegengehalten werden. Denn wenn sie sich selbst
mit der Lehre der transscendentalen Ästhetik einverstanden
erklären mtifsten, wttrde daraus fttr sie noch nicht die Möglich-
keit synthetischer Urteile a priori auf dem Gebiete der Natur-
wiBsenschaft hervorgehen. Diesen Beweis kann man also nur
als Nebenbeweis betrachten. Hingegen mttlste die Deduktion,
wollte sie nicbt auf einem unsicheren Erfahrungssatz gegründet
sein, wodurch sie ihren transscendentalen Charakter einbüfsen
wttrde, mit Hilfe der synthetischen Methode geführt werden.
Und tatsächlich ist selbst die zweite Bearbeitung der Kritik
naeh Kants Bewufstsein so geführt worden, wenn auch die
ans pädagogischen Gründen analytisch ausgearbeiteten Pro-
legomena sie ein wenig mit ihrer Methode affiziert haben.
Der indirekte Beweis, der für den transscendentalen Idea-
lismus aus den Antinomien fliefst und auf den Kant das gröfste
Gewicht legt, kommt für unsere gegenwärtige Frage nicht in
Betracht Die Antinomien beweisen indirekt nur, dafs die
Scheidung von Ding an sieh und Erscheinung richtig ist Hin-
gegen beweist die von Kant gegebene Auflösung des Wider-
streites unserer Vernunft mit sich selbst gar nichts für die eine
oder andere Art der Entstehung unserer Erfahrungserkenntnis. 0
Wir glauben somit zu folgendem Ergebnis gekommen
zu sein:
1. Naeh der Kantischen Deduktion der reinen Yerstandes-
begriflfe ist die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori nur
daun einznseben, wenn die Ordnung und Regelmälsigkeit der
Erscheinungen vollständig und ausschliefslich vom Ver-
stände herrührt; demgemäfs kann von einer den Erscheinungen
schon von selbst inhärierenden, von unserem Verstände jedoch
unabhängigen Ordnung nicht die Rede sein. Daher sind auch
') Welche Schlflsse aus der Auflösung der dritten Antinomie fUr
oiuer spexielles Problem der empirischen Gesetze zu ziehen sind, werden
wir noch zu untersuchen haben.
Piüloiophiioh« AbbaadloDgen. XLI. 0
Digitized by
Google
82
die im § 13 der Kritik enthaltenen Erörternngen, die das
Gegenteil zu besagen scheinen, sind als transscendentale Frage
aufzufassen.
2. Es ist Kant nioht gelungen, die einzelnen Kategorien
durch eine lückenlose Deduktion ans der transseendentalen
Einheit der Apperzeption abzuleiten.
Nachdem wir so die allgemeinen Prinzipien der Kantisehen
Erkenntnislehre besprochen haben, können wir zu unserem
eigentlichen Problem, zur Frage der empirischen Gesetze fiber-
gehen.
Digitized by
Google
Wie ist das Ergebnis der Deduktion mit der
Möglichkeit empirischer Gesetze in Einklang
zn bringen?
Kaam sind wir zum Schlnfs der Deduktion gelangt, and
fMshon erhebt sich eine Schwierigkeit, an der das ganze Gebände
der Kantisehen Erkenntnistheorie zn zerschellen droht Es ist
dies das nämliche Problem, das nns schon bei der Anseinander-
setzong tiber die transscendentale Ästhetik beschäftigt hat,
jedoch mit einer kleinen Modifikation. Dort interessierte- uns
hauptsächlich die Frage, ob und wie die bunte Mannigfaltig-
keit der empirischen Formen aus der reinen Form der An-
schauung abgeleitet werden kOnne. Hier hingegen ist die Frage
der Ableitung gegenstandslos, denn das blofse Vorhandensein
emer empirischen Gesetzmäisigkeit bereitet die hier in Betracht
kommenden Schwierigkeiten. Am Schluls beider Deduktionen
sagt Kant: ,Auf mehrere Gesetze ... als die, auf denen eine
Natur ttberhaupt als Oesetzmäfsigkeit der Erscheinungen in
Baum und Zeit beruht, reicht auch das reine VerstandesyermOgen
nicht zu, durch blolse Kategorien den Erscheinungen a priori
Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch
bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht voll-
ständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter
jenen stehen. Es mufs Erfahrung dazu kommen, um die letzteren
ttberhaupt kennen zu lernen.* 0 Und ebenso in der 1. Auflage:
Es «können empirische Gesetze . . . ihren Ursprung keines-
wegs vom reinen Verstände herleiten, so wenig als die un-
ermefsliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ans der reinen
0 Kr. 165.
6»
Digitized by
Google
84
Form der sinnlichen AnBchannng hinlänglich begriffen werden
kann/' i) Die apriorische Erkenntnis von der Natnr in formalem
Sinn beschränkt sich also nur auf die Gültigkeit der Kategorien.
Diese Gültigkeit genügt zwar vollständig, nm auf ihr eine Natur-
wissenschaft aufzabaaen; wie ist jedoch das Vorhandensein
und die Möglichkeit empirischer Gesetze mit der sonstigen
Lehre Kants in Einklang zu bringen? Die Voranssetznng für
die Gültigkeit der Kategorien war, dafs die Erscheinungen die
Ordnung annehmen müssen, die ihnen der Verstand vorschreibt^)
Gibt es aber in der Erfahrung Verhältnisse, die ihren Ursprung
von dem Verstände nicht herleiten können, sondern aus der
Erfahrung geschöpft werden müssen, so ist damit zugleich
zugegeben, dafs die Erscheinungen eine ihnen eigentümliche
Qesetzmäfsigkeit haben. Und es entsteht jetzt die Frage:
worauf beruht die notwendige Übereinstimmung dieser apo->
steriorischen, besonderen, von den jeweiligen empirischen Be-
stimmungen abhängenden Gesetzmäfsigkeit der Erscheinungen
mit der apriorischen, allgemeinen von uns aus geschaffenen?
War ja doch der Ausgangspunkt der Deduktion der Gedanke,
dafs die Verbindung von uns geschaffen wird. Dies konnte
nicht so gemeint sein, dafs wir die Erscheinungen so verbinden
müssen, wie ihre empirischen Bestimmungen gebieten, weil
dann alle Erkenntnis a posteriori sein müfste. Die Spontaneität
des Verstandes mufs daher unbedingt ursprünglich sein. Wird
aber jetzt wiederum den Erscheinungen eine Art Autonomie
zugestanden, so ist damit das Prinzip der Deduktion yemichtet
Denn dafs die Erscheinungen in einer begriffliehen Form ins
Bewufstsein kommen müssen, hat noch gar keine Bedeutung für
die Art ihrer Affinität — Dafs die mannigfachen sinnlichen
Formen, so verschieden sie auch sein mögen, mit der Form
des Raumes übereinstimmen müssen, ist klar, weil sie sonst
») Kr. A 127.
*) Besonders klar drückt Kaut dies fai folgender Stelle aas: ,Wie
können wir uns die PoBition d^r PostuUte der Syntbesis a priori vor-
stellen. Es sind die drei Funktionen der Apprehension, welche bei dem
Denken unseres Znstandes überhaupt angetroffen werden und worunter
alle Erscheinung deswegen passen mufs, weil in ihr keine Synthesis
an sich selbst liegt, wenn das Gemfit solche nicht hinznfttgt oder aus
den Datis derselben macht." L. El. 20.
Digitized by
Google
85
überhaupt nicht erscheinen könnten, da die AnBchauungs-
forin nur subjektiv ist. Hingegen brauchen die besonderen
empirischen Verhältnisse mit den allgemeinen Gesetzen des
Verstandes nicht tlbereinznstimmen, weil sie trotzdem gedacht
werden könnten. Ich kann z. B. in einer Zanberbade eine
ganze Reihe von Zauberkttnsten apprehendieren, ohne dafs
dadurch die Einheit meines Selbstbewnfstseins im mindesten
gestört wtirde. Wenn ferner nach Kants Lehre die Erscheinungen
hinsichtlich ihrer Qualität, die er Empfindung nennt, durch die
Objekte bestimmt werden, so wird dadurch die Apriorität der
Kategorien auch noch nicht angetastet. Sowie aber die Mög-
lichkeit irgendeiner Verbindung durch andere als apriorische
Prinzipien zugestanden wird, so ist die Ottltigkeit der Kategorien
nicht mehr einzusehen. Denn die besonderen Gesetze stehen
mit den apriorischen in einer Reihe und unterscheiden sich
voneinander nur hinsichtlich ihrer Allgemeinheit oder Besonder-
heit; demnach wird jede Abweichung eines besonderen Gesetzes
Ton der allgemeinen Regel — und wenn es nur von empirischen
Bestimmungen abhängen soll, so ist eine Abweichung nicht
ausgeschlossen — diese Regel in ihrer Allgemeinheit beein-
trächtigen. Endlich, wenn alle Verknüpfung durch den Ver-
stand vollzogen wird, wie kommt es, dafs wir zwei Arten von
Erkenntnissen haben, eine empirische und eine reine, warum
verbindet ein und derselbe Verstand das eine Mal allgemein-
gttltig, das andere Mal aber nicht? Die Einteilung in Wahr-
nehmungs- and Erfahrungsurteilei) kann hier keine Auskunft
geben, denn man nehme z. B. das Gravitationsgesetz, das zu
den empirischen Gesetzen gezählt werden mufs, weil es a priori
aas dem Verstände nicht abzuleiten ist, nnd das wohl niemand
ein Wahmehmungsurteil nennen wird. Die Tatsache empirischer
Gesetze kann also nur auf die Verhältnisse, die die Substrate
der Erscheinungen, die Dinge an sich bewirken, zurtlckgeführt
werden. Wie kann demnach Kant die Phänomenalität der
Erseheinnngen als den zureichenden Grund seiner Deduktion
ansehen? Wenn wir es mit Dingen zu tun haben, die einer
anderen Ordnung als der, die ihnen der spontane Verstand vor-
sehreibt, gehorchen, und wenn trotzdem eine notwendige Uber-
^) Über Wahmehmnogs- und Erfahningsurteile vgl. man des Anhang.
/Google
Digitized by ^
86
einstiminnDg dieser Ordnung mit der allgemeinen apriorischen
vorhanden sein soll, so mnis ein neues Prinzip gefunden werden,
denn das alte reicht nicht mehr ans. Es ist anfserdem nicht
einzusehen, inwiefern wir es dadurch leichter haben sollten,
dafs unsere Erscheinungen mit ihren Substraten gar keine
Ähnlichkeit haben. Soll die Tatsache, dafs die Kategorien
von der Erfahrung nicht abgeleitet sind, schon zur Konstruktion
einer Wissenschaft genügen, selbst wenn die Erscheinungen,
mit denen es diese Wissenschaft zu tun hat, ihren eigenen
besonderen empirischen Bestimmungen unterworfen sind, so
könnten die letzteren getreue Abbilder ihrer Substrate sein, und
es müfste trotzdem eine apriorische Erkenntnis von ihnen möglich
sein. Denn ihren Charakter als Vorstellungen würden sie auch
dann bewahren. Wir stehen also vor folgender Alternative:
entweder müssen die Erscheinungen so beschaffen sein, dafs
die Kräfte unseres Gemüts in jeder Hinsicht, also auch
hinsichtlich derjenigen Bestimmungen, die wir aus der Natur
unseres Verstandes abzuleiten nicht imstande sind, sie formen und
ordnen können: dann hätte die Betonung der Phänomenalität
der Erscheinungen ihren Sinn; — oder aber, soll den Er-
scheinungen eine ihnen zugrunde liegende, von dem Verstände
nicbt geschaffene Ordnung zugestanden werden, so mufs ein
neues Prinzip gefunden werden, um die Übereinstimmung dieser
empirischen Ordnung mit den allgemeinen Gesetzen des Ver-
standes erklärlich zu machen.
Bevor wir dieses neue Prinzip in Betracht ziehen, wollen
wir noch untersuchen, ob vielleicht Kants Lehre von der
doppelten Kausalität uns irgendwelche Aufklärung über unser
Problem zu geben vermag.
Die EausaUtät dnrch Freiheit und die AfOnität
der Erscheinimgen.
Die dritte Antinomie behandelt bekanntlich den Widerstreit
der Vernunft hinsichtlich der Ableitung der Weltbegebenheiten
aus ihren Ursachen. Das Gesetz der Kausalität besagt, dafs
alles, was geschieht, etwas voraussetzt, wonach es nach einer
Kegel folgt. Auf diesem Gesetz baut sich die dritte Antinomie
auf. Sie wird dadurch gegeben, dafs nach einer ersten Ursache
Digitized by
Google
87
gefr^ wird. Die Thesis behauptet: eg mnb neben der
Kausalität nach Gesetzen der Natnr noch eine Kausalität
durch Freiheit angenommen werden. Wir haben z. B. die
Reihe von Erscheinungen a, b, c ..., die eine Kausakeihe
bildet, indem a die Ursache von b, b die von c usw. vorstellt.
Wenn wir von a aus einen Begressus unternehmen wollen, so
würden wir eine ganze Unendlichkeit von Ursachen und deren
Vorursachen durchlaufen, ohne jemals zu einer bestimmten
Ursache zu gelangen. ,Nun besteht aber eben darin das Gesetz
der Natur, dafs ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache
nichts geschehe.*' i) Also widerspricht der Grundsatz der
Kausalität sich selbst Es mufs daher eine Kausalität an-
genommen werden, bei der die Ursache nicht wiederum durch
eine andere hervorgebracht zu werden braucht, nämlich eine
Kausalität durch Freiheit >)
Die Antithesis dagegen behauptet: es gibt keine andere
Kausalität als die der Naturnotwendigkeit. Denn mit dem
0 Kr. 474.
') Der Beweis der Thesis scheint mir nicht ganz zwingend zu sein.
Er basiert auf der eben zitierten Fassung der Definition des Kausalsatzes,
wonach jede Ursache eine a priori bestimmte sein müsse. Da wir es
aber (beim Regressus) immer nur mit subalternen und nicht a priori be-
stimmten Ursachen zu tun haben, so widerspricht der Grundsatz sich
selbst Nun ist es wohl richtig, dals fttr uns^ für unser Erkennen hier,
wie in vielen anderen Fällen die Ursache unbestimmt bleibt. Eine der-
irtige Bestimmbarkeit ist aber auch gar nicht notwendig. Der Grundsatz
verlangt nur, dafs die Ursache hinsichtlich ihrer Wirkung die be-
stimmte sei, dafs nSmlich jede Wirkung ihre bestimmte Ursache haben
soll. Dies ist aber bei jedem Geschehen erfüllt — Den richtigen Grund
oder vielmehr den psychologischen Zwang zur Annahme einer Kausalität
dnrch Freibeit hat Kant in der Begründung der Thesis der vierten Anti-
nomie angegeben. Dort sagt er: „Nun setzt ein jedes Bedingte, was ge-
geben ist . . . eine vollständige Reihe von Bedingungen ... voraus.**
Hier beruft sich Kant einfach auf das Bedürfnis der Vernunft, eine
Totalitilt zu haben, mithin nach einer ersten Ursache, nach dem Un-
bedingten zu fragen, indem sie den festen Punkt sucht, an dem sie Halt
machen kOnnte. Es kommt aber darauf gar nicht an, ob Thesis und
Antithesis auch wirklich bewiesen werden kOnnen, viehnehr darauf, dafs
sowohl die These wie die Antithese unserer Vernunft keine Befriedigung
an versebaffen vermag. Kants scholastische Schulung hat es mit sich
gebracht, dafs er für die Antinomien Beweise gesucht hat und dafs er
sieh für ihre Richtigkeit sogar verbürgt hat
Digitized by
Google
88
Moment, wo man eine erste Ursacbe setzt, hat man das Kausal-
gesetz darchbrochen nnd man hat kein allgemeingültiges Prinzip
mehr zur durchgängigen Erklärung des Natui^eschehens.
Kant lOst diese Antinomie auf, indem er zeigt, dafs sowohl
Thesis wie Antithesis Recht behalten, wenn beide von den
richtigen Standpunkten aus gedacht sind. Die Ästhetik hat
gezeigt, dafs die Gegenstände der Erfahrung nur Erscheinungen
sind, die an sich in ihrer räumlich-zeitlichen Bestimmtheit gar
nicht existieren. Sie sind blofse Vorstellungen von Dingen an
sich, von denen die sinnlichen Formen gar nicht prädiziert
werden kOnnen. Wird diese dort festgelegte Unterscheidung
von Ding an sich und Erscheinung eingehalten, so ist die
Möglichkeit vorhanden, die Antinomie zu beseitigen.
Die Antithesis, die unter keinen Umständen eine Unter-
brechung in der Eausalreihe zuläfst, ist giltig, solange von
Erscheinungen gehandelt wird. Der Regressus kann uns aber
zu keiner zeitlich ersten Ursache ftthren, weil die Zeit die
Form unserer Anschauung ist Daher wird, so oft etwas er-
scheint, es in der Zeit auftreten, ohne dafs jemals «ein erster
Anfang gegeben werden konnte. Die Erscheinungen sind je-
doch nur die eine Seite des Seins. Ihnen liegen Dinge an
sich zugrunde. Von diesen dürfen wir zwar nichts erkennen;
es liegt jedoch nichts im Wege, auch von ihnen sich eine Art
Kausalität zu denken. Von vornherein ist klar, dafs diese
Kausalität von allem Empirischen frei sein wird, denn mit
der Zeitlichkeit ist zugleich jede Veränderung, jedes Geschehen
von den Dingen an sich ausgeschlossen. Man wird sich daher
von ihnen eine Kausalität durch Freiheit zu denken haben.
Durch die Annahme einer derartigen Kausalität würden aber
mit einem Schlage zwei Probleme gelOst werden. Erstens würde
dadurch die kosmologische Freiheit ermöglicht werden, d. i.
das Vermögen der Dinge an sich einen Zustand von selbst
anzufangen. Würde aber diese Art von Freiheit zugelassen, so
bedürfte es nur noch eines weiteren Schrittes, um „mitten im
Laufe der Welt verschiedene Reihen der Kausalität nach
von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben
ein Vermögen beizulegen aus Freiheit zu handeln'', i) Dadurch
>) Kr. 478.
Digitized by
Google
89
würde auch das weitaus wichtigere Problem der praktischen
Freiheit (Unabhängigkeit von der Nötigung dnreh Antriebe der
Sinnlichkeit) lOsbar. Da nun die empirische und intelligible
Kausalität ihre yerschiedenen Gebiete haben, so stören sie
einander nicht, und sowohl Thesis wie Antithesis bleiben zu
Recht bestehen, wenn die erste sich auf Dinge an sich, die
andere auf Erscheinungen bezieht
Diese Auflösung unserer Antinomie fordert zum Nach-
denken au£ Es ist zunächst unverständlich, warum Kant
diese Antinomie nicht in der gleichen Weise aufgelöst hat, wie
die beiden mathematischen. Jener Widerstreit wurde gehoben,
indem gezeigt wurde, dafs jede Frage nach der Endlichkeit
oder Unendlichkeit der Welt als Ganzes mttüsig ist, da Raum
and Zeit lediglich subjektive Formen unserer Sinnlichkeit sind.
Es hat deshalb keinen Sinn zn fragen, ob etwas, was uns
niemals in seiner Totalität als Erscheinung gegeben werden
kann, endlich oder unendlich sei, da es als Nicht- Erscheinung
nicht einmal räumlich oder zeitlich ist^)
Ganz analog hätte die Frage nach der Kausalität des-
jenigen, was dem Geschehen zugrunde liegt, beantwortet werden
können. Wenn die mathematischen Antinomien durch die Be-
rnfang auf den transscendentalen Idealismus aufgelöst werden'
konaten, so hätten beide dynamischen 2) durch den Hinweis
auf das Besoltat der Analytik beseitigt werden können. Hat
nämlich die Ästhetik gezeigt, dafs Raum und Zeit keine Eigen-
schaften der Dinge selbst sind, ^ so war es der Grundgedanke
^) Dasselbe gilt hinsichtlieh der Einfachheit oder Zosammengesetzt-
heit der Snbstansen.
') Es sei bemerkt, dala ftlr den Common sense die dritte Antinomie
— soweit nur die kosmologische Seite in Betracht kommt — mit der
▼ierten zusammenfällt Hat er einmal mit der Thesis der vierten Anti-
nomie ein notwendiges Wesen gesetzt, so kann dies von ihm zugleich
^ die seitlich und kausal erste Ursache des Geschehens angesehen
werden. Man hat dann einen ersten Beweger und kann die Welt ihren
eigenen Lanf nehmen lassen. Nach Kant sind aber die Gegenstände der
Erfahmng blolse Vorstellungen, als solche kennen sie nicht aufeinander
wie Dinge wirken. Eine Erscheinung kann keine andere Erscheinung
her?orbringen. Neben dem ersten Beweger mnüiten daher wirkende Dinge
>n sieh als Ursachen der Erscheinungen und mit ihnen eine besondere
Art von EausalitSt angenommen werden, fiills man nicht zu Berkeley
zorfiekkehren wollte.
Digitized by
Google
90
der kritischen Grenzbestimmang unserer Erkenntnis in der
Analytik, dafs Kategorien von keinem anderen als empirischen
Gebrauch sein dUrfen.0 Wie kann demnach nach der Kausalität
des Unbedingten gefragt werden — denn nur darum ist es in
den dynamischen Antinomien zu tun — wenn Ursachsein nur
bei Erscheinungen stattfindet, die ganze Frage also müfsig ist?
Eine derartige Lösung unseres Problems hätte den Vorzug*
gehabt, dafs sie erstens zu keiner problematischen Annahme
— wie Kant dies selbst hervorhebt — einer intelligiblen
Kausalität Zuflucht zu nehmen brauchte. Andererseits würde
aus der so aufgefafsten dynamischen Antinomie ein indirekter
Beweis fttr die kritische Tendenz der Analytik herfliefsen,
>) Um die scheinbare Inkonsequenz Kants zu rechtfertigen, dafii er
trotz dem eigenen Verbote, von Kategorien einen transacendentalen Ge-
brauch zu machen, selbst die Kategorien der Substanz, Realität und
Kausalität auf die Dinge an sich anwendet, — hat man versucht, den
Kategorien im Gegensatz zu Raum und Zeit einen mehr objektiven Wert
einzuräumen. Tatsächlich stehen die Kategorien hinsichtlich ihrer Sub-
jektivität nicht in derselben Reihe wie Raum und Zeit Zwar wird auch
von ihnen gesagt, dafs sie .blofs subjektive Formen der Verstandes-
einheit*' (Kr. 343) sind, wie Raum und Zeit nur als subjektive Formen
der Sinnlichkeit angesehen werden mllssen: aber die Subjektivität der
Verstandesbegriffe und mit ihr ihre Unanwendbarkeit auf intelligible
Gegenstände rührt nur daher, dafs Kategorien ohne sinnliche Schemata
keine andere als logische Bedeutung haben. Man hat deshalb untersucht,
ob vielleicht doch einige Kategorien die sinnliche Anschauung entbehren
können, wodurch die von Kant angeblich vollzogene Anwendung auf
Dinge an sich gerechtfertigt sein könnte. — Alle diese Versuche scheitern
jedoch an der Tatsache, dafs Kant selbst wiederholt betont, dafo keine
von den Kategorien hierbei eine Ausnahme erleidet, und dals er gerade
die hier in Frage kommenden Verstandesbegriffe herausgreift, um an ihnen
zu exemplifizieren, dafs sie ohne Anschauung gar keine Bedeutung haben
(man vgl. z. B. Kr. 291 ff.). Kant begeht aber auch gar nicht die ihm zur
Last gelegte Inkonsequenz. Solange er spekulativ über die Dinge an
sich denkt, denkt er sie durch gar keine Kategorie, wenigstens ist er
sich ihres Gebrauches nicht bewufst. So heifst es Kr. 844: „Der Verstand
denkt sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transscendentales
Objekt, das die Ursache der Erscheinung ... ist, und weder als Gröfse
noch als Realität noch als Substanz usw. gedacht werden kann (weil
diese Begriffe immer sinnliche Formen erfordern . . .).^ Hier wird also
für Kants Bewufstsein nur von der Kausalität Gebrauch gemacht Damit
er aber dies tun darf, hat er eine neue Art von Kausalität eingeführt, wie
dies gleich des nähren erörtert werden soll.
Digitized by
Google
91
äbniieh wie die mathematischen Antinomien eine mittelbare
Bestätigung der Lehre der transseendentalen Ästhetik ab-
gegeben haben.
Es mttssen daher wichtige Gründe vorhanden gewesen
sein, die Kant veranlafst haben, die vorliegende anerwartete
Aaflösang an Stelle der vom kritischen Standpunkt allein be-
rechtigten vorzanehmen. Solche Gründe lassen sich in der
Tat finden. Aach hier war es das praktische Interesse, das
das theoretische überwogt) Mit dem Problem der kosrao-
logischen Kausalität war ftlr Kants Bewafstsein dasjenige der
praktischen Freiheit unzertrennlich verbunden. Die psycho-
logische Seite unseres Problems ist es ja gerade, die von jeher
der Philosophie die gröfsten Schwierigkeiten bereitet hat Die
praktische Freiheit war jedoch ohne die Annahme einer in-
telligiblen Kausalität gar nicht zu retten. >)
Aber das kosmologische Problem selbst hat fttr Kant eine
besondere Bedeutung gewonnen. Die dritte Antinomie durfte
nicht anders gelöst werden, sollte der transscendentale Idealismus
in seinem ganzen Umfang aufrecht erhalten bleiben. Die Vor-
anssetzung einer intelligiblen Welt als Ursache der phänomenalen
— die, wie wir gesehen haben, Kant niemals verlassen hatte —
hat es erforderlich gemacht, die Art ihrer Einwirkung auf das
wahrnehmende Subjekt in irgend einer Weise zu erklären.
Die gewöhnliche; empirische Kausalität mufste sich zu dieser
Erklärung untauglich erweisen. Kategorien dürfen nur auf
') Schon Garve hat dies gefühlt, wenn er in seiner RezeDsion des
Eantischen Werkes über die dritte Antinomie urteilt: „Es ist unmöglich,
die Vereinigung, die Herr Kant stiften will, deutlich mit kurzen Worten
▼orznstellen, unmöglich, glaube ich, sie deutlich einzusehen. Aber das ist
deutlich, daib der Verfasser gewisse Sätze fUr höher und heiliger
bftlt als sein System und dafs er bei gewissen Entscheidungen mehr
Rücksicht auf die Folgen nahm, die er durchaus stehen lassen wollte, als
auf die Prinzipien, die er festgesetzt hatte.** Zitiert bei Erdmann, Kants
Kridzismas S. 100 aus der „Allgemeinen Bibliothek*, Anhang zu Bd. 37— 52,
Bd. 11,838 ff.
*) Die Yerquickung beider Probleme bei Kant hat es bedingt, dafs
ihm während der ^nzen Auflösung der dritten Antinomie das frei
handelnde Subjekt vorgeschwebt und zum Schema gedient hat, und zwar
nicht nur da, wo er die willkürliche Handlung des Menschen direkt als
Beispiel anwendet. Man vergleiche z. B. Kr. 572 f.
Digitized by
Google
92 I
Erscbeinangen angewandt werden, weil das Zeitmoment, das |
in jedem empirisehen GeBchehen enthalten ist, bei einem in- i
telligiblen Gegenstande wegfallen mnfs. Mit der Setznng der i
Dinge an sich war also zngleicn stillschweigend eine intelligible I
Kausalität angenommen, die jetzt gleichzeitig znr Lösang des |
Problems der praktischen Freiheit gedient hat
Um nnn zn unserer besonderen Frage, des Verhältnisses
der empirischen Affinität der Erscheinungen zu der Kausalität
durch Freiheit zu gelangen, ist es notwendig, einen Punkt zu
besprechen, der, soweit ich sehe, von der Interpretation niemals
mit genügender Deutlichkeit herrorgehoben worden ist Die
gröfste Schwierigkeit in der Lehre von der doppelten Kausalität
hat von jeher der Umstand bereitet, dafs man sich nicht vor-
stellen konnte, wie es möglich sei, ein und dasselbe Geschehen
einerseits als frei, andererseits als dem Naturgesetze gehorchend
anzusehen. Man verstand Kants Lehre so, als ob nach ihm
unter den Dingen an sich selbst Freiheit herrsche; dasselbe
Verhältnis aber ins Empirische übersetzt, durch die empirische
Kausalität ausgedrückt werde. Indessen trifft diese Auffassung
nur die Lehre von der praktischen Freiheit: die kosmologische
Kausalität mufs anders aufgefalst werden. Der richtige Sinn
dieser' letzten Kausalität kann nur verstanden werden, wenn
man sich streng an der Definition der Freiheit hält Freiheit
im kosmologischen Sinne bedeutet das Vermögen, einen Znstand
von selbst anzufangen. Daraus geht aber hervor, dafs diese
Ereiheit nicht die Kausalität der Dinge an sich unter-
einander, sondern ihre Kausalität im Verhältais zum affizierten
Subjekt bedeutet Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung eine
Anmerkung Kants in den Prolegomena: „Die Idee der Freiheit
findet lediglich in dem Verhältnis des Intellektuellen, als
Ursache, zur Erscheinung als Wirkung statt Daher können
wir der Materie in Ansehung ihrer unaufhörlichen Handlung
. . . nicht Freiheit beilegen, obschon diese Handlung aus innerem
Prinzip geschieht Ebensowenig können wir fttr reine Ver-
standeswesen, z. B. Gott, sofern seine Handlung immanent ist,
einen Begriff von Freiheit angemessen finden. Denn seine
Handlung, obzwar unabhängig von äufseren bestimmenden Ur-
sachen, ist dennoch in seiner ewigen Vernunft, mithin in der
göttlichen Natur, bestimmt Nur wenn durch eine Handlung
Digitized by
Google
93
etwas anfangen soll, mithin die Wirkung in der Zeitreihe,
folglicli der Sinnenwelt anzatreffen sein soll (z. B. Anfang der
Welt), da erhebt sieh die Frage, ob die Kausalität der Ursache
selbst aneh anfangen müsse, oder ob die Ursache eine Wirkung
anheben könne, ohne dafs ihre Kausalität selbst anfängt . . .
Hieraus wird der Leser ersehen, dafs, da ich Freiheit als das
Verminen eine Begebenheit von selbst anzufangen erklärte,
ich genau den Begriff traf, der das Problem der Metaphysik
isf 0 ^^B dieser Darlegung erhellt, wie wir uns die Auf-
lösung des kosmologischen Problems zu denken haben. Die
Welt labt sich vom Standpunkt der Erfahrung aus nur als
eine empirische Kausalreihe auffassen. Jedes Geschehen mufs
in ihr eine empirische Ursache haben, die wieder zur Ursache
wird f&r eine kttnftige Wirkung. Der Begressus ftlhrt zu
immer entfernteren Ursachen zurttck; aber wie weit wir auch
diese verfolgen mögen, immer werden wir auf empirische Ur-
saehen geführt, ohne irgendwann eine solche anzutreffen, die
von selbst zu wirken angefangen hätte. Nun hat aber die
Kritik gezeigt, dafs die ganze Erfahrungswelt an sich in
dieser ihrer Beschaffenheit und Gestalt gar nicht existiert.
Sie ist nur die Vorstellung, das empirische Abbild eines für
unsere Erkenntnis unzugänglichen Beiches von intoUigiblen
Gegenständen, die weder entstehen noch vergehen.
Der raum-zeitliehen empirischen Kausalreihe steht also
ein X gegenüber. Beide stehen wiederum zueinander in einem
kausalen Verhältnis, in welchem das x die Ursache, die
empirische Welt die Wirkung ist Eigentlich ist das x mit
der empirischen Welt identisch. Denn nur fttr das wahr-
nehmende Subjekt spaltet es sieh in eine phänomenale und
unerkennbare Welt, indem es diesem affizierten Subjekt in der
Gestalt der Erfahrung erscheint Dies alles war, mehr oder
weniger deutlich, bereits in der transscendentalen Ästhetik
vorgetragen. Werden aber diese Prämissen angenommen, so
brauchen wir, ^um zur intelligiblen Kausalität zu gelangen,
gar keine neue Annahme zu machen, sondern können auf rein
analytischem Wege das Verhältnis der Dinge an sich zur Er-
scheinung bestimmen.
*) rrolegomena § 53
/Google
Digitized by ^
94
Dieses Verhältnis, haben wir gesagt, ist kansal: das x ist
die Ursache der Empirie. Diese Kausalität ist jedoch keine
empirische, denn die Ursache ist nicht in der Zeit Dadnreh
zeigt sie aber die Fähigkeit, einen Zustand von selbst anzu-
fangen, ohne selbst eine andere Ursache zu ihrer eigenen Ent-
stehung zu bedürfen, weil sie ja als zeitlos gar nicht entsteht
Also ist die Kausalität, die das Verhältnis des Dinges an sieh
zur Erscheinung ausdrückt, eine Kausalität durch Freiheit 0
Wenn wir also die Kausalreihe . . . Un Un+i Un+s ... be-
trachten, so ist es nur Schein, wenn wir glauben, Un+i sei die
Wirkung von Un, denn sowohl Un wie Un+i sind keine Dinge,
sondern blofse Vorstellungen von Dingen, als solche können
sie aber einander gar nicht herrorbringen. Vielmehr ist die
ganze Kette der Erscheinungen mit samt ihrer gesetzmälsigen
Verknüpfung nur eine unmittelbare Wirkung eines — oder
mehrerer — ihnen zugrunde liegenden x. Die ganze Empirie
ist der unmittelbare Ausdruck der intelligiblen Welt Wenn
wir demnach einen Begressus zur ersten Ursache unternehmen
wollten, so würden wir umsonst die Reihe von Un bis zu Ub— <»
durchzulaufen suchen — wir würden immer nur subalterne
Ursachen bekommen. Hingegen genügt der Bückgang zur
wirklichen Ursache der Erscheinung — zum Ding an sich.
0 Es sei mir gestattet, trotz der Unanscbaulichkett des zu be-
handelnden Gegenstandes, folgendes Schema anfzustellen:
. . . X-^ ►X'^ ►!-• ^X-i ►X
i i l i l
... Un — ► Un+l— ►Un+S— *^Un+8"-*Un+4« • .
Wir nehmen der Einfachheit halber an, dafs es mehrere Dinge an sich
gibt, und zwar, dafs jeder Erscheinung ein besonderer tranascendentaler
Gegenstand substituiert. Die Dinge an sich seien durch die xx symbolisiert.
Ihr empirisches Equivalent ist die Reihe der Erscheinungen Un, Uo+i usw.
Nun findet nach Kants ausdrücklicher Lehre die Idee der Freiheit ledig-
lich statt „in dem Verhältnis des Intellektuellen, als Ursache, zur Er-
scheinung als Wirkung*'. Die intelligible Kausalität kann also nur durch
den von uns gezeichneten vertikalen Pfeil symbolisiert werden. Daraus
ist aber zugleich ersichtlich, dafs die intelligible Kausalität allein noch gar
nicht über den Charakter und die Gesetzmäfsigkeit der Erscheinungen
untereinander entscheidet. Die von Kant gelehrte Freiheit Undert also
nicht, daijs das durch Freiheit entstandene Geschehen in der Empirie
als dem Kausalgesetze gehorchend angesehen wird.
Digitized by
Google
95
Wir haben dann keinen weiten Weg znrttekzalegen, wenn wir
ans aach gestehen müssen, dafs wir einen Spmng in die
Transseendenz nnternommen haben. — Das ist die durehans
begreifliehe nnd — solange nnr als problematisehe Ansieht
Torgetragen — vom kritisehen Standpunkt zulässige Lösnng
des Problems der kosmologisehen Freiheit. Sie ftthrt, wie ge-
sagt, nichts Nenes ein, sie ist nnr eine Konsequenz der bereits
in der Ästhetik vollzogenen Scheidung der Gegenstände in
Phänomena nnd Noumena.
Ganz anders verhält sich die Sache, wenn man diese
Losung auf das Problem der praktischen oder psychologischen
Freiheit überträgt Dann erheben sich Schwierigkeiten, die
den scharfsinnigsten Erklärungsversuchen Trotz bieten. Die
Lebre von der praktischen Freiheit hat denn auch von Anfang
aui) den eigentlichen Stein des Anstofses in der Antinomien-
lebre gebildet Zwar klingt es sehr plausibel, wenn Kant sagt,
dafs, wenn man einmal ein Vermögen angenommen habe, das
imstande ist, eine Reihe von selbst anzufangen, dann nichts
im Wege stehe, auch „mitten im Laufe der Welt verschiedene
Beihen der Kausalität nach von selbst anfangen zu lassen,
und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, ans
Freiheit zu handeln*« Will man aber die Konsequenz dieser
weiteren Annahme mit in Kauf nehmen, so scheint es, dafs
die Naturnotwendigkeit überhaupt geopfert werden müsse.^)
Solange nur gesagt wird, die ganze empirische Kausal-
kette sei der phänomenale Ausdruck einer intelligiblen Kausalität,
so ist dagegen nichts einzuwenden. Sollen aber in dieser Kette
selbst hie nnd da frei handelnde Subjekte eingeschaltet werden,
80 ist es unbegreiflich, wie das Naturgesetz in seiner Integrität
gewahrt bleiben kann. Wenn die praktische Freiheit nur darin
bestehen soll, dafs unter den sonstigen Dingen an sich unsere
Vernunft ebenfalls als Noumenon von selbst zu handeln anfängt,
80 ist nicht einzusehen, warum die Handlungen der Vernunft
gegenüber der Naturnotwendigkeit eine besondere Wertung
*) Man vgl. oben S. 91 Anm. 1.
*) IXiese Schwierigkeit scheint Er dm an n anzudeuten, wenn er sagt,
er wolle nicht untersuchen, „ob nicht die praktische Freiheit mit dem
kosmologisehen Begriff derselben ebenso unverträglich sei, wie das
theoretische mit dem praktischen A- priori^; a. a. 0. 159.
Digitized by
Google
96
erhalten sollten, da doch alles, was geschieht, eigentlich nur
der Aasdmek frei handelnder Dinge an sieh ist Femer ist
das Sollen im Gegensatz zu dem, was bereits geschehen ist,
unverständlich, denn es ist nach Kants ausdrttcklicher Lehre
nicht möglich, dafs die Sinnlichkeit aaf eine Vernunft, die
Noumenon ist, irgend eine Wirkung ansttben könnte, um deren
Handlung unfrei zu machen. Endlich scheinen die Beweise,
die Kant für diesen Punkt anführt, nicht zwingend zu sein.
Wenn unsere abfällige Beurteilung einer bösen Tat als Beweis
für die Möglichkeit freier Handlungen angeführt, indem be-
hauptet wird: ,wenn wir sagen, dafs unerachtet seines ganzen
bis dahin geführten Lebenswandels der Täter die Lttge doch
hätte unterlassen können, so bedeutet dies nur, dafs . . . die
Vernunft in ihrer Kausalität keinen Bedingungen der Erscheinung
. . . unterworfen ist*",!) — so kann demgegenüber geltend ge*
macht werden, dafs aus eben dieser Zurechnung mit nicht
geringer Evidenz hervorgeht, dafs unsere Beurteilung mensch-
licher Hanndlungen falsch ist. Übrigens, was bedeuten eigent-
lich die hier oft angeführten „Bedingungen der Erscheinung*,
sind sie etwas anderes als der phänomenale Ausdruck einer
intelligiblen Gesetzmäfsigkeit? Wir brauchen jedoch die
Schwierigkeiten, die der Begriff der praktischen Freiheit mit
sich führt, nicht weiter auszuführen. Für unseren Zweck
müssen wir vielmehr den Sinn der kosmologisehen Kausalität
näher ins Auge fassen.
Zu diesem Zwecke wollen wir unser obiges Schema noch
einmal anführen:
x^
^X<
-♦X-«
■►X
i
i
i
i
Hn
— >
Un+1-
->Un+«-
■*Un+8
Wir haben gesagt, dafs die Kausalität durch Freiheit nur
das Verhältnis des Intelligiblen zur Reihe der Erscheinungen
ausdrücken kann. Dieses Verhältnis wurde durch die vertikalen
Pfeile angedeutet Hingegen haben wir zwei andere Verhält-
nisse anfser Betracht gelassen: das Verhältnis der Erscheinungen
untereinander und dasjenige der Uinge selbst zueinander. Die
kosmologische Freiheit als solche kann auf die Art dieser
*) Kr. 584.
Digitized by VjOOQ IC
97
Verhältnisse keinen EinfloTs üben. Nnn wissen wir — a priori
oder dnreh Erfahrung, bleibt sieh hier gleich — , dals nnter
den Erseheinnngen eine kansale Naturnotwendigkeit herrseht
(sie wird in unserem Schema durch die unteren horizontalen,
nach rechts gerichteten Pfeile ausgedrückt). Was Air Verhält-
nisse unter den Dingen an sieh herrsehen, können wir nicht
wissen. Das eine wissen wir jedoch, dab Gesetzmäfsigkeit
kein aussehlieislich empirischer Begriff ist Man lese noch
emmal: „Ebensowenig können wir fttr reine Verstandeswesen,
z, B. Gott, sofern seine Handlung immanent ist, einen Begriff
von Freiheit angemessen finden. Denn seine Handlung, obzwar
unabhängig von äulseren bestimmenden Ursachen, ist dennoch
... in der gStttliehen Natur bestimmt^ 0 ^^ Verhältnis der
Noumena ist also eine bestimmte Gesetzmäfsigkeit (in unserem
Schema dureh die Doppelpfeile symbolisiert). Nunmehr handelt
es sich um die Bestimmung des Verhältnisses, welches zwischen
der intelligiblen Gesetzmäfsigkeit und der Kausalität der Er-
scheinungen herrscht. Bewirkt die intelligible Kausalität nur,
dafs Erscheinungen sind, während die notwendigen Gesetze
anter ihnen von dem spontanen Verstand geschaffen werden;
— oder igt sowohl die Existenz, wie die Ursächlichkeit der
Erscheinungen ausschliefslioh durch ihre Substrate und die
nnter ihnen selbst herrschende Gesetzmäfsigkeit bedingt?
Fttr beide Teile der Altemattve lassen sich in der Kritik
positive Antworten finden. Die Deduktion hat gelehrt, dafs
wir der Natnr Gesetze Yorschreiben. Hier wiederum fragt
Kant, ob es denn nicht möglich sei, „dafs, obgleich zu jeder
Wirkung in der Erscheinung eine Verknüpfung mit ihrer Ur-
sache nach Gesetzen der empirischen Kausalität erfordert wird,
dennoch diese empirische Kausalität selbst . . . eine
Wirkung einer nicht empirischen, sondern intelligiblen
Kausalität sein könne^.^) Und an einer anderen Stelle heilBt
es noeh bestimmter: „. . • ein anderer intelligibler Charakter
wttrde einen anderen empirischen gegeben haben.* 3) Wie
sind diese beiden entgegengesetzten Ansichten zu yereinigen?
>) Man Tgl. aolserdem Er. 164: , Dingen an sich selbst würde ihre
Geaetsmälsigkeit notwendig . . . zukommen.^
•) Kr. 572.
») Kr. 584.
PliiloiophifclM Abhandlimgeii. XLI. 7
Digitized by
Google
98
Aach das Problem der empirischen Gesetze fällt noch ins
Gewicht Wäre die Gesetzmäfsigkeit der Erscheinnngen das
Werk des spontanen Verstandes, dann mttfste sie sich ins-
gesamt a priori ans dem Verstände ableiten lassen. Dies trifft
jedoch fttr die empirischen Gesetze nicht zn. Um sie zu er-
klären, bleibt also nichts anderes übrig, als anf die Dinge an
sieh zu rekurrieren. Ist es aber einleuchtend, dals die mindeste
Abweichung eines empirischen Gesetzes von demjenigen des
reinen Verstandes, dieses Verstandesgesetz yemichten würde,
so taucht die Frage von neuem auf: auf welchem Prinzip be-
ruht die Übereinstimmung der empirischen, vom Verstände
völlig unabhängigen Gesetzmäfsigkeit der Erscheinungen mit
den reinen Gesetzen, die der Verstand diesen Erscheinungen
vorschreibt? Soll aber die gesamte Naturnotwendigkeit nur
der phänomenale Ausdruck der intelligiblen Gesetzmäfsigkeit
sein, so ist es unbegreiflich, wie noch von einem der Natnr
Gesetze vorschreibenden Verstände die Rede sein kann. — Wir
sehen also, die Auflösung der dritten Antinomie vermag den
Widerspruch, der im Kantischen System entsteht, wenn em-
pirische Gesetze zugegeben werden, nicht zu lösen. Vielmehr
wird dieser Widerspruch durch die genaue Feststellung des
Sinnes der intelligiblen Kausalität noch verschärft. Nunmehr
wollen wir zusehen, welchen Ausweg Kant findet, als ihm
dieses Problem durch die Kritik vor Augen geführt wird,
und ob die Einführung des neuen Prinzips, von dem gleich
gehandelt werden soll, die Schwierigkeit zn beseitigen vermag.
Die prästabilierte Harmonie und die empirischen Gesetze.
Das Problem der empirischen Gesetze hat Kant in der
Kritik der reinen Vernunft selbst noch nicht beunmhigt
Dort heifst es noch: „. . . alle empirischen Gesetze sind
nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Ver-
standes, unter welchen und nach deren Norm jene aller-
erst möglich sind und die Erscheinungen eine gesetzliche
Form annehmen . . .* 0 ^^^ entsprechende Stelle in der 2. Auf-
lage ist schon etwas schüchterner gehalten. In den Losen
0 Kr. A 128.
Digitized by VjOOQ IC
99
Blättern findet sich zwar eine Aufzeichnung, die anscheinend
nach dem Jahre 87 niedergeschrieben worden ist and die zeigt,
dals das Problem der empirischen Gesetze Kant zu bennmhigen
beginnt So sehreibt er dort: ,Es mttssen zweierlei Prinzipien
der Einheit a priori sein, Einheit der Intellektion ^ der Er-
seheinnngen a priori, sofern wir dnrch sie bestimmt werden,
und Einheit der Spontaneität des Verstandes, sofern die Er-
scheinungen dnreh ihn bestimmt werden." 2) Aber auch hier
findet sich noch kein Wort darüber, wie diese beiden Prinzipien
in eine Einheit der Erfahmngen zosammenstimmen müssen.')
Jedoch schon zwei Jahre nach dem Erscheinen der 2. Auflage
der Kritik sieht sich Kant infolge der Einwände Maimons
gezwungen, ein neues Prinzip in seine Erkenntnistheorie ein-
zofllhren. Es ist dies das Prinzip einer transscendentalen
prästabilierten Harmonie zwischen der Sinnlichkeit und
dem Verstände, die yielleieht Gott beim Schöpfungsakt in unser
Erkenntnisvermögen gelegt hat Ein alter Gedanke Kants, der
ihn in der Periode des strengsten Kritizismus nicht verlassen
hatte, und der als private Meinung neben dem kritischen
Ignoramos einherging. ^) Jetzt wird dieser Gedanke genau
präzisiert, and es wird der Versuch gemacht, diese transscen-
dentale prästabilierte Harmonie mit dem Ergebnis der Analytik
in Einklang zu bringen.
In einem Briefe an Herz, der fttr Maimon bestimmt war,
heilst es: .Nun fragt Hr. Maimon: Wie erkläre ich mir die
Möglichkeit der Zusammenstimmung der Anschauung a priori
zu meinen Begriffen a priori, wenn jede ihren spezifischen ver-
sebiedenen Ursprung hat, da dieselbe zwar als Faktum gegeben,
aber ihre Bechtmäfsigkeit oder die Notwendigkeit der Über-
einstimmung zweener so heterogener Vorstellungsarten nicht
^) Intellektion s „Einstimmung der Erscheinungen untereinander**,
L. 6L S7.
>) Ebenda 111.
■) Der Versuch einer ErklSrung, die Kant an einem anderen Orte
gibt, Ist lediglich eine Konstatiemng der Tatsache. «Die intellektuellen
Funkttouen machen den An&ng bei der Apprehension, allein die Spezi-
fikation gibt uns die Regel der Anwendung dieses Begriffs, daher können
bestimmte Regeln der Synthesis nur durch Erfahrung gegeben werden,
die allgemeine Norm derselben aber a priori.** L. Bl. 39.
*) Man vgl. Kumetaro Sasao a. a. 0. 29.
7*
Digitized by
Google
100
begreiflich gemacht werden kann; und umgekehrt, wie kann
ich durch meinen Verstandesbegriff z. B. der Ursaehe, dessen
Möglichkeit an sich doch nur problematisch ist, der Natar,
d. i. den Objekten selbst, das Gesetz vorschreiben; zuletzt gar,
wie kann ich selbst von diesen Funktionen des Verstandes,
deren Dasein in demselben auch blofs ein Faktum ist, die
Notwendigkeit beweisen, die doch vorausgesetzt werden mntsj
wenn man ihnen Dinge, wie sie uns immer vorkommen
mögen, unterwerfen will* i) Kant erwidert darauf, indem er das
Resultat seiner Analytik rekapituliert, wobei er kein Jota von
seiner Lehre aufgibt, er bemerkt jedoch am Schluis: ,Wie
aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum und Zeit)
so von unserer Sinnlichkeit oder solchen Funktionen des Ver-
standes, als deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst möglich
sei, oder wie es zugehe, dafs eine Form mit der anderen
zu einem möglichen Erkenntnis zusammenstimme, das ist uns
schlechterdings unmöglich weiter zu erklären ... Es ist miislich,
den Gedanken, der einem tiefdenkenden Manne obgeschwebt
haben mag und den er sich selbst nicht recht klar machen
konnte, zu erraten; gleichwohl überrede ich mir sehr, dafs
Leibniz mit seiner vorherbestimmten Harmonie . . . nicht die
Harmonie zweier verschiedener Wesen, nämlich Sinnen- und
Verstandeswesen, sondern zweier Vermögen eben desselben
Wesens, in welchem Sinnlichkeit und Verstand zu einem Er-
fahrnngserkenntnisse zusammenstimmen, vor Augen gehabt habe,
von deren Ursprung, wenn wir ja darttber urteilen wollten,
obzwar eine solche Nachforschung gänzlich über die mensch-
liche Vernunft hinausliegt, wir weiter keinen Grund ala den
göttlichen Urheber von uns angeben können.*
Man sieht deutlich, dafs die von Kant hier interpretierte
prästabilierte Harmonie, die sich infolge dieser Interpretation
in eine transscendentale verwandelt, Kants eigene Ansicht ist
Noch deutlicher ist Kant am Schlüsse der Streitschrift gegen
Eberhard, wo besonders das Problem der empirischen (besetze
ganz deutlich hervorgehoben wird. Kant sagt daselbst: ^Eb
läfst sich die Gemeinschaft zwischen Verstand und Sinnlich-
keit in demselben Subjekt nach gewissen Gesetzen a priori
1) Brief an Herz vom 26. Mai 1789.
/Google
Digitized by ^
101
wohl denken and doch zugleich die notwendige natürliche
Abhängigkeit der letzteren von änfseren Dingen, ohne diese
dem Idealismns preiszugeben. — Von dieser Harmonie zwischen
dem Verstände and der Sinnlichkeit, sofern sie Erkenntnisse
von allgemeinen Naturgesetzen a priori möglich macht, hat
die Kritik genügende Gründe angegeben, dafs ohne diese keine
Erfahrung möglich ist, mithin die Gegenstände . • . von uns in
die Einheit des Bewufstseins gar nicht aufgenommen werden
und in die Erfahrung hineinkommen, mithin für uns nichts
sein würden. Wir konnten aber doch keinen Grund angeben,
warum wir gerade eine solche Art der Sinnlichkeit und eine
solche Natur des Verstandes haben, durch deren Verbindung
Erfahrung möglieh wird; noch mehr, warum sie als sonst völlig
heterogene Erkenntnisquellen zu der Möglichkeit eines Er«
fahrungserkennlnisses überhaupt, hauptsächlich aber zu der
Möglichkeit einer Erfahrung von der Natur unter ihren mannig-
fachen besonderen und blofs empirischen Gesetzen, von
denen uns der Verstand a priori nichts lehrt, doch so gut immer
zQsammenstimmen, als wenn die Natur für unsere Fassungs-
kraft absichtlich eingerichtet wäre; dieses konnten wir nicht
(und das kann auch niemand) weiter erklären. Leibniz nannte
den Grund davon . . . eine vorherbestimmte Harmonie, wodurch
er augenscheinlich jene Übereinstimmung nicht erklärt hatte,
auch nicht erklären wollte, sondern nur anzeigte, dafs wir da-
doreh eine gewisse Zweekmäfsigkeit in der Anordnung der
obersten Ursache unserer selbst sowohl, als aller Dinge aufser
uis zu denken hätten und diese zwar schon als in die Schöpfung
gelegt (vorherbestimmt), aber nicht Vorherbestimmung aufser-
einander befindlicher Dinge, sondern nur der Gemütskräfte in
ims, der Sinnlichkeit und des Verstandes nach jeder ihrer eigen-
tamlichen Beschaffenheit füreinander, so wie die Kritik lehrt, dafs
sie zum Erkenntnisse der Dinge a priori stehen müssen/ 1)
Diese transscendentale prästabilierte Harmonie ist aller-
dings eine dogmatische Hypothese, die Kant auch deshalb
mit einer gewissen Reserve erwähnt Sie steht jedoch nicht —
wie es auf den ersten Blick scheinen könnte — mit dem
Besultat der Analytik im Widersprueh. Sowohl hier, wie in
') Über eine Entdeckung usw. gegen Ende,
/Google
Digitized by ^
102
dem erwähnten Briefe an Herz wird aasdrttcklieh hervorgehoben,
dafs hier nieht die Rede ist von einer , Vorherbestimmang aofser-
einander befindlieher Dinge, sondern der Gemtttskräfte in ims*,
nieht von einer «Harmonie zweier verschiedener Wesen, nämlich
Sinnen- and Verstandeswesen, sondern zweier Vermögen eben
desselben Wesens, in welchem Sinnlichkeit and Verstand za
einem Erfahrangserkenntnisse zusammenstimmen*. In dieser
Fassang ist aber die Harmonie nar eine weitere Konsequenz
der Analytik. Diese hat gezeigt, dafs wir deshalb von der
Natar eine Erkenntnis a priori besitzen, weil die Erscheinongen,
wenn sie überhaupt gedacht werden sollen, den allgemeinen
Gesetzen des Verstandes gemäfs sein mttssen. Die Tatsache der
Erfahrung, die wissenschaftliche Erfahrbarkeit der Natur, beweist
also die Konformität der Erscheinungen mit unserem Erkenntnis-
vermögen. Nunmehr fragt es sich, wie ist diese, auf transscenden-
talem Wege bewiesene Übereinstimmung zu erklären? Wohl
nicht anders, als durch die Annahme einer vorherbestimmteD
Harmonie zwischen dem Verstände und der Sinnlichkeit
Es wäre jedoch Übereilt, anzunehmen, dafs durch die
Betonung dieser Harmonie die Schwierigkeit, die das Vor-
handensein empirischer Gesetze der Kantischen Erkenntnislelire
bereitet, tatsächlich beseitigt worden sei. Denn Kant bringt
hier zwei Fragen zusammen, die miteinander nichts zu tun
haben. Es ist für die Erkenntnistheorie von gar keiner Be-
deutung, «warum wir gerade eine solche Art der Sinnlichkeit
und eine solche Natur des Verstandes haben*^, so wenig wie
es uns interessieren kann, warum wir gerade zwölf Kategorien
haben, oder warum der intelligible Charakter gerade diesen
empirischen gebe. Derartige Fragen wurden auch schon in der
Kritik und in den Prolegomena gestreift. Nicht minder belanglos
ist es, nach dem letzten Grund der Übereinstimmung des Ver-
standes mit der Sinnlichkeit zu fragen, wenn die Erkenntnis-
lehre nur gezeigt hat, dafs sie miteinander übereinstimmen
mttssen. Von gröfster Bedeutung ist jedoch die Frage von
dem Verhältnis der empirischen zur reinen Erkenntnis. Hier
darf Kant sich nicht auf die Beschränktheit unserer Einsicht
berufen. Denn wird dieses Verhältnis nicht genau bestimmt
und wird nicht gezeigt, wie empirische Gesetze neben den
reinen möglich sind, so ist die Deduktion selbst nicht zu
Digitized by
Google
103
begreifen. Zar ErUärang der Möglichkeit «einer Erfabrang
Ton der Katar unter ibren mannigfachen besonderen and blols
empirisehen Gesetzen, von denen ans der Verstand a priori
nichts lehrt*, genttgt es aber nicht eine Harmonie zwischen
den Erkenntniskräfken unseres Gemüts anzunehmen. Es mttfste
vielmehr gezeigt werden, wie es zugehe, dafs «alle empirischen
Gesetze* trotz ihrer Aposteriorität ,nur Bestimmungen der reinen
Gesetze des Verstandes* sein müssen. Am leichtesten könnte
diese Frage dadurch gelöst werden, wenn man eine Vorher-
bestimmung der Dinge aufsereinander annehmen würde. Diesen
Aasweg muüste Kant jedoch mit aller Entschiedenheit zurück-
weisen. Denn die Annahme einer derartigen Harmonie würde
die Bückkehr zam dogmatischen Bationalismus bedeuten. Aber
aneh die kritische Lösung unseres Problems kann nicht ganz
befriedigen. Die strickte Durchführung des «Kopemikanischen
Gedankens*, dals die Dinge sich nach den Begriffen richten
mttssen, hätte zu dem Ergebnis führen müssen, daCs jede
Bewegung, Lage oder jedes besondere Verhältnis unter den Er-
scheinungen darch den spontanen Verstand geschaffen werden.
Denn das Erfahrangsmaterial müfste uns völlig ungeordnet
gegeben werden, damit es sich den apriorischen Formen füge.
Dann dürfte es aber gar keine empirische Gesetzmäfsigkeit,
sondern nur reine Erkenntnisse geben. Oder aber es müfste
der aposteriorische Charakter der besonderen Gestaltungen der
Materie und ihrer empirischen Verhältnisse auf die Unbewulst-
heit der entsprechenden Funktionen der Kräfte unseres GemUts
snrüekgefllhrt werden, was jedoch zu gewagt gewesen wäre.
Denn erstens war für eine derartige Annahme kein Beweis zu
erbringen; zweitens wäre nicht einzusehen, warum man bei
der Schöpfung der besonderen Formen stehen bleiben, und
nicht aach die Hervorbringung der Materie dem unbewufst
schaffenden Verstände zuschreiben solle. Dies wäre jedoch
weder mit dem Bealismus Kants, noch mit seinen praktischen
Intentionen zu versöhnen gewesen. Kant hat deshalb auch
die Konsequenz seiner Lehre von der «Bevolntion der Denk-
art* niemals so weit ausgeftlhrt Das Problem der empirischen
Gesetze blieb deshalb ungelöst Denn so wenig wie der Über-
gang von der transscendentalen Einheit der Apperzeption zu
den einzelnen Kategorien durch eine lückenlose Deduktion
Digitized by
Google
104
geschehen ist, so wenig ist es Kant gelungen, die empirisehen
Gesetze aas diesen Kategorien abzuleiten and mit ihrer Apriorität
in Einklang za bringen. Kant ist sieb dieser Lücke and dieses
Widerspruchs in seinem System niemals ganz klar bewolst
geworden. Trotzdem war das eigentliche and wichtigste Ziel
seiner Untersuchungen erreicht Aus seinen unumstöfslichen
Prämissen folgt mit völliger Sicherheit, „dafs aller Gebrauch
der reinen Vernunfk niemals worauf anders, als auf Gegenstände
der Erfährung gehen kOnne, und, weil in Grundsätzen a priori
nichts Empirisches die Bedingung sein kann, sie nichts weiter
als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung ttberhanpt
sein können. Dieses allein ist das wahre und hinlängliche
Fundament der Grenzbestimmung der reinen Vernunft, aber nicht
die Aufgabe: wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien
und nur allein durch diese möglich sei . . . und gesetzt, die
Art wie Erfahrung dadurch allererst möglich werde, könnte
niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch un wider-
sprechlich gewifs, dafs sie blols durch jene Begriffe möglich,
und jene Begriffe umgekehrt auch in keiner anderen Beziehung,
als auf Gegenstände der Erfahrung einer Bedeutung und irgend-
eines Gebrauchs fähig sind.*i)
Von hieraus läfst sich nunmehr auch die Bolle des Dinges
an sich beim Zustandekommen der empirischen Anschauung
genauer bestimmen. .Was den Veränderungen in den intellec-
tualibus respondiere, wissen wir*^ zwar nach wie vor „nichts ')
noch weniger, was den Qualitäten, Formen, Bewegungen und
Gestalten, oder sogar einzelnen Individuen in den Substraten
entspricht. Ist aber die Mannigfaltigkeit der empirisehen
Anschauung und ihrer besonderen Verhältnisse nicht das Werk
des spontanen Verstandes, so müssen wir auf die Dinge an
sich zurückgehen und die Mannigfaltigkeit der Qualitäten, der
Formen und des Geschehens auf die mannigfache, differenzierte
Wirkung dieser Dinge zurückfahren, s) Trotzdem bleibt es
») Met. Anfgr. der Natw., Vorr. WW. IV, 476 Anm.
*) Reflexion Nr. 1164.
*) Das schemt auch eine Aufzeichnung bei Beicke anzudeuten: JAe
blofse Apprehension", heifst es dort, „erklärt schon, dals hinter der
Erscheinung eine Substanz, Ursache oder Zusammensetzung sein
müsse ..." L. Bl 89.
Digitized by
Google
105
iweifelliaft, ob das Ding an sich .in ans oder auch aofser
uns anzutreffen sei'',^ ja man darf nicht einmal mit Bestimmt-
heit sagen, dafs es mehrere Dinge an sich gibt^) oder endlich,
dals sie verschieden sind. Denn wir haben in .unserer absolut
spontanen Vernunft, im freien Willen ein Analogen dafür, wie
aus einem allem Anscheine nach einfachen Vermögen die mannig-
fachsten Wünsche entstehen können, weil der Wille in dieser
Beziehung tatsächlich unendlich ist
>) Man TgL Kr. 344.
*) Man Tgl. L. Bl. 209. „Dafs die Idealität des Raumes und der
Zeit . . . nicht den realen Idealism enthalte, der vorgibt, dafs der Wahr-
nehmung ... gar kein Gegenstand ... gegeben sei, sondern dafs diesem
Gegenstande oder diesen äufseren Gegenstiinden (welches
nnausgemacht bleibt) nur nicht dieselbe Form des Raumes an sich
zukomme . . ." Und an einer anderen Stelle sagt Kant: „Viele Leser der
Kritik stehen noch immer in dem Wahne, dais wenn ich sage, dem Zu-
sammengesetzten im Raum liege das intelligible Einfache zum Grunde,
als ob ich sagen wollte: so viele Punkte, so viele Monaden.^ Ebenda 230.
Digitized by
Google
Anhang.
Von den Wahmehmungs- und Erfahrnngsurteilen.
Die Lehre von den Wahraehmnngs- und Erfahrangsurteilen
gehört bekanntlich za denjenigen, die von jeher der Inter-
pretation die gröfsten Schwierigkeiten bereitet haben. Ich
glaube jedoch, dafs ein erheblicher Teil dieser Schwierigkeiten
beseitigt wird, wenn man nur genan feststellt, was Kant eigent-
lich mit dieser seiner Einteilung bezwecken wollte.
Ein Wahrnehmangsarteil ist eine Synthesis von Wahr-
nehmungen in einem Subjekt Wenn ich z. B. das Urteil fälle:
,der Zucker ist sttfsS so geschieht dies auf Grund der Emp-
findungen, die der Zucker in mir hervorrufL Was ich mit
einem derartigen Urteil zunächst aussagen will, ist nicht die
Qualitätsbezeichnung des Zuckers, sondern die Konstatiernng
der Empfindung, die beim Genüsse des Zuckers in meinem
Subjekt auftritt. Zwar ist das erwähnte Urteil der Form nach
objektiv, jedoch dem Inhalte nach ist es nicht minder subjektiv,
als das Urteil: ,es friert mich^ Derartige Urteile haben deshalb
nur Gültigkeit für mich und meinen gegenwärtigen Zustand;
ob ein anderer Mensch und ob ich selbst morgen beim Genüsse
des Zuckers dieselben Empfindungen haben werde, kann ich
nicht vorausbestimmen. Anders verhält es sich beim Urteil:
,die Luft ist elastisch^ Auch dieses Urteil ist zunächst nur ein
Wahrnehmungsurteil, es kann aber unter gewissen Umständen
ein Erfahrungsurteil werden, d.i. ein Urteil, das vom Objekt,
hier von der Luft gilt; denn was Erfahrung unter gewissen
Umständen mich lehrt, muüs sie mich immer und auch jeder-
mann lehren. Wie kommt es aber, dafs ein und dasselbe
Urteil das eine Mal nur subjektive und momentane, das andere
Mal allgemeine Gültigkeit besitzt? Kants Antwort lautet: Eine
Digitized by
Google
107
Wahrnehmung wird in eine Erfahrnng verwandelt, wepn ein
Verstandesbegriff znm Wahmehmangsnrteil hinzutritt Znr Er-
läuterung gibt Kant folgendes Beispiel »Wenn die Sonne
den Stein bescbeint, so ?nrd er warm. Dieses Urteil ist ein
blofses Wahrnehmungsurteil und enthält keine Notwendigkeit,
ieh mag dieses noch so oft und andere auoh noch so oft
wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich nur
gewöhnlich so verbnuden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt
den Stdn, so kommt ttber die Wahrnehmung noch der Ver-
standesbegriff, der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des
Sonnenscheins den der Wärme notwendig yerknttpft, und das
synthetische Urteil wird notwendig allgemeingliltlg, folglich
objektiy und aus einer Wahrnehmung in eine Erfahrung ver-
wandelt'' 0
Diese Einteilung der Urteile und ihre Wertschätzung fllr
die Wahrheit scheint nun folgende Schwierigkeiten zu enthalten:
1. geht aus dem Wortlaut Kants hervor, dafs die Um-
wandlung des Wahrnehmnngs- in ein Erfahrnngsurteil, mithin
die Subjektivität einer Aussage in eine notwendige Wahrheit,
lediglich von unserem Willen abhängt, denn er sagt: «Will
ieh, es soll Erfahrungsurteil heifsen, so verlange ich*\ usw.
nleh will also, dafs ich jederzeit und auch jedermann die-
selbe Wahrnehmung unter denselben Umständen notwendig
Tcrbinden mttsse.*^)
2. gibt Kant hier eine Anweisung, wie man aus subjek-
tiven notwendige und allgemeingültige Urteile schafft, und
zwar durch die Anwendung des Verstandesbegriffes, in unserem
Falle der Kategorie der Ursache. Aber wie oft sehen wir,
dafs Urteile, die einen Verstandesbegriff enthalten, falsch sind.
Die Geschichte der Wissenschaften kann eine Unmenge der-
artiger falschen Urteile aufweisen.
3. Das Charakteristische der Erfahrungsurteile ist die Be-
2iehung aufs Objekt, diese Urteile sind allgemeingültig. Nun
sind >/,o unserer Urteile objektiv, d. h. sie beziehen ihre
Prädikate auf einen Gegenstand, aber wie selten sind sie not-
wendige Urteile?
>) Prolegomena § 20 Anm.
*) £benda § 19.
Digitized by
Google
108
4. Wie kann selbst das Urteil in nnserem Beispiel: ,die
Sonne erwärmt den Stein ^ als notwendig angesehen werden?
Lehrt doch Kant aasdrtteklich, dafs in jeder Erkenntnis nnr
soviel Wissenschaft enthalten ist, als Mathematik in ihr Ver-
wendung findet?
Indessen lassen sich alle diese Schwierigkeiten beseitigen,
sobald man auf das wahre Ziel der Kantischen Einteilung der
Urteile seinen Blick richtet Dann zeigt sich, dafs Kant hier
keineswegs eine Theorie der Urteilsgeltang, der Wahrheits- and
Gewifsheitskriterien aufzastellen beabsichtigt, sondern lediglieh
eine Deduktion der Kategorien geben will, die in eine meta*
physische nnd eine transscendentale zerfällt Nnr täaseht die
synthetische Methode, die er in den §§ 18 und 19 and znm Teil
§ 20 anwendet, über das eigentliche Vorhaben Kants hinweg.
Das Ziel ist, wie gesagt, eine Deduktion der Kategorien; die
metaphysische Deduktion hat den apriorischen Charakter der
Verstandesbegriffe nachzuweisen. Wenn gezeigt werden kann,
dafs in einigen unserer Urteile Begriffe enthalten sind, die ans
der Erfahrung nicht abgeleitet werden können, so ist dadareh
bewiesen, dafs sie ihren Ursprung im Verstände haben. Diese
metaphysische Deduktion gipfelt in dem Satze: ,Es geht ein
ganz anderes Urtel voraus, ehe aus Wahrnehmung Erfahrang
werden kann." i) Neben dieser metaphysischen Deduktion ver-
sucht Kant die Bechtmäfsigkeit der Kategorien zu be-
weisen, indem er zeigt, daljs die Kategorien es sind, die
allererst unseren Wahrnehmungen die Beziehung aufs Objekt
verschaffen.
In der Analytik der Grundsätze, in der Kritik heifst es:
,Zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand,
und das erste, was er dazu tut, ist . . ., dafs er die Vorstellnng
eines Gegenstandes überhaupt möglich macht**) Denn es
fragt sich: „Wie kommen wir nun dazu, dafs wir den Vor-
stellungen ein Objekt setzen, oder ttber ihre subjektive Realität
als Modifikationen ihnen noch, ich weils nicht was für eine
objektive beilegen?"') Nun sucht Kant zu zeigen, dab die
^) Prolegomena § 20.
*) Kr. 244.
•) Kr. 242.
Digitized by
Google
109
Kategorien unsere Anscbannngen objektivieren. So ist der
Begriff der GrOfse dasjenige, wodareh ^die Vorstellung eines
Objekts zuerst möglich wird.^^) Ein zweites Objektivienings-
mittel ist die Kategorie der Kansalität „Wenn wir antersachen,
was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren
VorsteUungen für eine neue Beschaffenheit gebe und welches
die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dafs
sie niehts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen
auf eine gewisse Art notwendig zu machen und sie einer Regel
[gemeint ist hier die Kausalität] zu unterwerfen."') Nicht
minder ist die Kategorie der Gemeinschaft ein Objektiviernngs-
mitteL Von ihr sagt Kant: Es „wird ein Verstandesbegriff
TOD der wechselseitigen Folge der Bestimmungen dieser anlser-
einander zugleich existierenden Dinge erfordert, um zu sagen,
daüs die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen im Objekte
gegründet sei, und das Zugleichsein dadurch als objektiv vor-
zostellen^s)
Nichts anderes meint Kant hier in den Prolegomena, wenn
er sagt: „Zergliedert man alle seine synthetischen Urteile,
sofern sie objektiv gelten, so findet man, dafs sie niemals aus
blo&en Anschauungen bestehen, die blofs . . . durch Vergleichung
in ein Urteil verknüpft worden, sondern dafs sie unmöglich sein
wflrden, wäre nicht über die von der Anschauung abgezogenen
Begriffe noch ein reiner Verstandesbegriff hinzugekommen, unter
dem jene Begriffe subsumiert und so allererst in einem objektiv
gültigen Urteile verknüpft worden."*)
Will man daher den §§18—20 keine anderen Absichten
zumuten, als diese Feststellung der Apriorität der Kategorien
und ihrer Bechtmälingkeit und sucht man in ihnen nicht eine
Theorie der Urteilsgeltnng und der Wahrheitskriterien, so
ver8ch?rinden alle Schwierigkeiten, die uns oben zugestofsen
sind. Die Voraussetzung fttr obige Schwierigkeiten war die
Auffassung, dab ein Erfahrungsurteil eo ipso ein objektiv
gültiges Urteil ist Kant sagt jedoch nnr, „Urteile, sofern sie
«) Kr. 208.
«) Kr. 242.
■) Kr. 267.
*) Prolegomena § 20.
Digitized by
Google
tio
objektive Gültigkeit haben, sind ErfabrangsiiTteile^; dieser Satz
ist aber nieht umkehrbar. „Objektive Gültigkeit and notwendige
AUgemeingttltigkeit sind Wechselbegriffe. '^ Das Erfabrongs-
nrteil ist aber zanäehst nur objektiv, nicht immer aber objektiv-
gttltig. Das was das Erfahrnngsnrteil vom Wahmehmnngsnrteil
unterscheidet, ist die Beziehung aufs Objekt; diese Beziehung
beweist, dafs dem Urteil ein Verstandesbegriff vorangegangen
ist, und ist die conditio sine qua non fbr eine Aussage, die
allgemeingültig werden will; sie ist aber noch nieht der za-
reichende Grund, der sie zur Wahrheit stempelt Immer wenn
wir ein objektiv gültiges Erfahrungsurteil zergliedern, finden
wir den Yerstandesbegriff darin enthalten, nicht aber genügt
schon der Hinzutritt des Verstandesbegriffs, das nunmehr ob-
jektiv gewordene Urteil (Erfahrungsurteil) objektiv- gültig zn
machen. Wie gesagt, die synthetische Art, die Kant bei dieser
Deduktion anwendet, die in keiner Weise etwas Neues zn
dem hinzufügt, was nicht bereits in der Kritik gesagt worden
wäre, täuschte über sein Vorhaben. Man glaubte hier nun
einmal das Rezept gefunden zu haben, wie man aus den
Wahrnehmungen Wissenschaft konstruiere, was sehr schön zum
Text der zweiten Hauptfrage der Prolegomena pafste. Daher
die Schwierigkeiten, die aber insgesamt verschwinden, sobald
man einsieht, dafs Kant nirgends gesagt hat, dafs ein Er-
fahrungsurteil durch diesen seinen Charakter objektiv-gültig
sei. Dies wird übrigens dureh eine spätere Erörterung in der
2. Auflage der Kritik ausdrücklich betont Kant führt da das
Erfahrungsurteil an: „der Körper ist schwer^' im Gegensatz
zur subjektiven Aussage: „wenn ich einen Körper trage, so
fühle ich den Druck der Schwere^ und bemerkt, dafs das
genannte Erfahrungsurteil zufällig sei, dafs die Vorstellungen
Körper und Schwere in der empirischen Anschauung nicht not-
wendig zueinander gehören, sondern sie werden verbunden
„nach Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Vorstellungen,
sofern daraus Erkenntnis werden kann.'^^)
Ob der Gedanke, der der Einteilung der Urteile in Wahr-
nehmungs- und Erfahrungsnrteile zugrunde liegt, richtig ist;
ob ein Wahrnehmungsurteil, wie es in der Kantischen Fassung
») Kr. § 19.
Digitized by
Google
111
dasteht, ttberhanpt möglich ist, da doch jedes Urteil bereits
Verbindung darch Kategorien voranssetzt; ob endlich die Be-
ilehnng anfs Objekt erst vermittelst apriorischer Kategorien
möglich wird, ist eine andere Frage. Das letzte ist jedoch
keine Spezialität der Prolegomena, sondern eine Ansicht Kants,
die er in der Kritik sehr energisch vertreten mafiite, da sie
ihm zum Haaptbeweise für die Apriorität der Grundsätze ge-
dient hat
Dmckfehleryerbessemng.
S. IJ, Z. 8 ist zu lesen: weniger statt: mehr.
S. IS» Z. 17 Y. u. ist zu lesen: Noamena statt: Noumene.
S. 18, Z. 16 ist zu lesen: mir statt: mich.
S. 31, Z. 10 ist zu lesen: Zitat statt: zitat.
S. 82, Z. 2 ist ySind' zu streichen.
S. 92, Z. 14 V. u. ist zu lesen: Freiheit statt: Ereiheit.
S. 93, Z. 8 V. u. ist zu lesen: eine unerkennbare statt: unerkennbare.
S. 106, Z. 4 ist zu lesen: Schwierigkeit statt: Schwiorigkeit
Digitized by
Google
Drnck von Ehrhardt KarraSi Halle a. S.
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Verlag von Max Niemeyer in Halle a. 8.
Bergmann y Hugo, Das philosophische Werk Bernard Bolzanos. Mit
Benutzung ungedruckter Quellen kritisch untersucht Nebst einem
Anhange: Bolzanos Beiträge zur philosophischen Grundlegung
der Mathematik. 1909. 8. XIV, 230 S. Jk 7,—
— Untersuchungen znm Problem der Evidenz der inneren Wahr-
nehmung. 1908. 8. Vm, 96 S. Jk 2,80
Dubs, Arthur, Das Wesen des Begriffs und des Begreifens. Ein Bei-
trag zur Orientierung in der wissenschaftlichen Weltanschauung.
1911. gr. 8. vm, 157 u. 207 S. . Ji 10,-
Erdmann, Benno, Historische Untersuchungen über Kants Prolegomena.
1904. 8. V, 144 S. Jk 3,60
— Logik. Bd. I: Logische Elementarlehre. 2. völlig umgearbeitete
Auflage. 1907. gr. 8. XVI, 814 S. geh. Jk 18 —
in Leinen gebd. Jk 19, — ; in Halbfranz gebd. Jk 20, —
Freytag, W., Ueber den Begriff der Philosophie. Eine kritische
Untersuchung. 1904. 8. 47 S. ^ 1,—
— Die Entwicklung der griechischen Erkenntnistheorie bis Aristoteles.
In ihren Grundzügen dargestellt. 1905. 8. IV, 126 S. Jk 3,—
— Die Erkenntnis der Aussenwelt. Eine logisch-erkenntnistheoretische
Untersuchung. 1904. 8. 146 8. ^4,—
— Der Realismus und das Transzendenzproblem. Versuch einer Grund-
legung der Logik. 1902. 8. IV, 164 S. jM>. 4,—
Goedeckemeyer, Albert, Die Gliederung der aristotelischen Philosophie.
1912. 8. VI, 144 S. Jk. 4,—
Linke, Paul, Die phänomenale Sphäre und das reale Bewnsstsein.
Eine Studie zur phänomenologischen Betrachtungsweise. 1912.
8. IV, 50 S. Jk 2,—
Losskij, Nikolaj, Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine pro-
pädeutische Erkenntnistheorie. Uebersetzt von Johann Strauch.
1908. 8. IV, 350 S. Jk 8,—
Mill, John Stuart, Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons.
Deutsch von Hilmar Wilmanns. 1908. gr. 8. XU, 709 S.
geh. ^Ä 18,—; gebd. Jk 20,—
Schapp, Wilhelm, Beiträge zur Phänomenologie der WahmehmUDg.
1910. 8. V, 157 S. Jß4,—
Scheler, IM., Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefflhle
und von Liebe und Hass. 1913. 8. V, 154 S. ^S 3,60
V. Sydow, E., Kritischer Kant-Kommentar. Zusammengestellt aus den
Kritiken Fichtes, Schellings, Hegels und mit einer Einleitung
versehen. 1913. 8. VII, 91 S. Jk 2,40
UtitZ, Emil, Die Funktionsfreuden im aesthetischen Verhalten. 1911.
8. vm, 152 S. Ji 4,—
Druck von Ehrhardt Karra>, Halle a. S.
Digitized by
Google
■■^A'"^ '^
jABHANDLUNGEN
Z\3R PHILOSOPHIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN VON BENNO EBDHANN
XLn
DIE LEHRE VON
DER EMPIRISCHEN ANSCHAUUNG
BEI SCHOPENHAUER
UND IHRE HISTORISCHEN VORAUSSETZUNGEN
//'i
w
■'i,
VON
JOHANN BAPTIST RIEFFERT
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
r: v.
1
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZUR
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
ZWEIUNDTIERZIGSTES HEFT
JOHANN BAPTIST RIEFFERT
DIE LEHBE
VON DEB EMPIRISCHEN ANSCHAUUNG BEI SCHOPENHAUEB
UND IHBE HI8TOBI8GHEN VOBAUSSETZUNGEN
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
DIE LEHRE VON
DER EMPIRISCHEN ANSCHAUUNG
BEI SCHOPENHAUER
UND IHRE HISTORISCHEN VORAUSSETZUNGEN
TON
JOHANN BAPTIST RIEFFERT
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Dem Andenken meines Vaters und ersten Lehrers
Konstantin Rieffert
weiland !Lehrer an der Volksschule an St Martin zn Cöln
Digitized by
Google
Digitized by
Google
InhaltsYerzeichms.
Selta
Vorwort IX
I. Teil DantelluDg der Lehre Schopenhauers von der empirlichen
Anschaaang.
Hethodolagiflche Vorbemerkangen 1
Inhaltliche Vorbemerkungen 5
Das Zustandekommen der empiriachen Anschauung .... 9
Physioloe^sche Erörterungen 21
Die blolsen Empfindungen 25
Die formalen Bestandteile der empirischen Anschauung. Materie.
Körper. Naturkraft. Naturgesetz 41
Sehlnb 57
IL TeiL Die historischen Voraussetzungen der Lehre Schopenhauers
von der empirischen Anschauung.
Skizze der Entwicklung der Lehre von der empirischen An-
schauung bei Schopenhauer 58
Über die allgemeinen historischen Grundlagen der Lehre
Schopenhauers 70
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers von der empirischen
Anschauung zur Lehre Kants.
Ln allgemeinen 78
Gegenstand der empirischen Anschauung und Zustande-
kommen derselben 82
Kausalität 111
Materie 129
Zusammenfassung 143
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers von der empirischen
Anschauung zur Lehre von
Gottlob Ernst Schulze 145
Johann Gottlieb Fichte 162
Thomas Reid 190
Digitized by
Google
VIII
B«ite
Die historisohen Grundlagen der speziellen Aasgestaltung der
Lehre Schopenhauers von der empirischen Anschauung
Im allgemeinen 196
Die physiologischen Annahmen 203
Anmerkung zu £. Chr. Fr. Krause 218
Die speziellen psychologischen Annahmen 220
Anmerkung zu Berkeley 231
Zusammenfassung 234
Anhang. Das Verhältnis der Lehre Schopenhauers von der empi-
rischen Anschauung zur Lehre von v. Helmholtz. 236
Digitized by
Google
Vorwort,
Die Schopenhanerzitate in der naehstehenden Abhandlung
sind entnommen teils der Aasgabe von Eduard Grisebach,
Arthur Schopenhauers sämtliche Werke in sechs Bänden, und
Arthur Schopenhauers handschriftlicher Nachlafs. Verlag von
Philipp Reklam, Leipzig, jene zitiert mit römischen Ziffern,
I— VI, dieser mit arabischen, 1 — 4, teils der Ausgabe von
Paul Deussen, Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, neunter
Band: Philosophische Vorlesungen. Erste Hälfte. Theorie des
Erkeunens, teils den Originalausgaben der ersten Auflagen der
Werke Schopenhauers und der zweiten Auflage der Welt als
Wille und Vorstellung, und teils den auf der Königlichen
Bibliothek in Berlin verwahrten Manuskripten, Manuskript-
bttehem und Eollegienheften Schopenhauers über die Vor-
lesuDgen G. E. Schulzes über Metaphysik (die über Psychologie
enthält nichts für diese Arbeit Bemerkenswertes) und J. G. Fichtes
fiber die Tatsachen des BewuTstseins und die Wissenschaftslehre.
Es dürfte, sobald die von Deussen besorgte Gesamtausgabe
vollendet sein wird, zweckmäfsig sein, diese vollständige und
in den bisher erschienenen Bänden einwandfreie Ausgabe der
Sehopeuhauerforschnng allgemein zugrunde zu legen.
Die im folgenden in den Zitaten vorkommenden runden
Klammem Q bedeuten entweder im Text vorhandene Klammern
oder sehliefsen aus dem unmittelbaren Zusammenhange der
zitierten Stelle genommene Ergänzungen ein; die eckigen
Klammem [] dagegen enthalten Bemerkungen vom Verfasser
dieser Schrift.
In den Zitaten sind nur kleine und unwesentliche
Änderungen, wie z. B. Umstellung des Prädikates ans der
Digitized by
Google
Stellung eines Neben- in die eines Hauptsatzes u. ähnl., wo es
geboten war, zugelassen worden.
Der erste Teil nachstehender Abhandlung hat im Winter-
Semester 1909/10 der philosophischen Fakultät der Rheinischen
Friedrich Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation vor-
gelegen. Die ganze Arbeit erscheint nicht, wie angekündigt,
als XXXY., sondern als XLILHeft der Abhandlungen zur Philo-
sophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von Benno Erdmann.
Die Ausführungen des ersten Teils über Kausalität und
Materie erhalten in dem zweiten Teile eine Ergänzung in dem
Abschnitt über Kant.
Die Behandlung der Lehre Fichtes mufste bei dem Mangel
an geeigneten Vorarbeiten etwas eingehender gestaltet werden,
als es für den Zweck vorliegender Untersuchung unmittelbar
erforderlich war.
Wie zu dem ersten Teil vorliegender Untersuchung, so
verdanke ich auch die Anregung zu dem zweiten Teile Herrn
Geheimrat Prof. Dr. Benno Erdmann, dessen Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie und Seminarübungen über Kant
und Schopenhauer ich sowohl die Hauptgesichtspunkte als auch
viele spezielle Gedanken dieser Arbeit entnommen habe. Es
ist schlechterdings unmöglich, sie alle im einzelnen zu kenn-
zeichnen.
Die Anregung zur Prüfung des Verhältnisses Schopenhauers
zu K. Gh. Fr. Krause und den Hinweis auf eine Beziehung der
psychologischen Voraussetzungen Fichtes zu Resultaten der
experimentellen Psychologie danke ich Herrn Prof. Dr. Oswald
Külpe.
Digitized by
Google
L TeU.
I. Methodologische Vorbemerkungen.
Der erste Teil der yorliegenden Schrift ist ein Versnob,
die in den Schriften Sehopenhaners mannigfaltig yerstrente
Lehre von der empirischen Anschannng in ihrem inneren Zu-
sammenhang zur Darstellung zu bringen. Ein solcher Versuch
bringt es mit sich, dafs mit ihm in die Darstellung ein Moment
eindringt, das Schopenhauer nicht in dem Mafse eigentümlich
ist, wie es hier zur Geltung kommt, nämlich das Bestreben,
diese Lehre von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus zu
erfassen. Dieser wird, der Natur des darzustellenden Inhalts
entsprechend, der psychologische sein. Wie weit sich dies
durchftthren lälst, wird im Laufe der Darstellung deutlich
werden. Der Versuch stellt sich somit zugleich als eine Prüfung
des psychologischen Zusammenhangs der Lehre Schopenhauers
Ton der empirischen Anschauung dar. In welchem Sinne hier
psychologisch genommen ist, wird weiter unten erörtert werden.
Die Kritik soll sich nicht darttber hinaus auf den Inhalt der
psychologischen Voraussetzungen Schopenhauers erstrecken.
Im Zusammenhange mit den psychologischen sind die in
Betracht kommenden physiologischen Beziehungen zu erörtern.
Es wird sich als zweckmäfsig erweisen, bei der Erörterung
der formalen Bestandteile der empirischen Auschauung auch
deren logische Beziehungen zu einander eingehend darzustellen.
Die Empfindung nach der subjektiven, die Materie nach der
objektiven Seite hin, bedttrfen einiger ergänzender Bemerkungen
Über ihre metaphysischen Beziehungen. Soweit für das Ver-
Btändnis dieser Lehre Schopenhauers erforderlich, sollen ver-
wandte Momente der Lehre Kants schon hier hinzugezogen
Philocophische Abhandlonsen. XXXV. 1
Digitized by
Google
werden; die historischen Voraussetzungen der Lehre Schopen-
hauers von der empirischen Anschauung werden im zweiten
Teile der vorliegenden Schrift besonders behandelt werden.
Die Bezeichnung psychologisch soll fllr den erwähnten
Zweck nicht in dem engeren Sinne, der dem Terminus „Psycho-
logie^ bei Schopenhauer entspricht, sondern in einem weiteren,
und zwar dem landläufigen Sinne, genommen werden. Die
Philosophie zerfällt nach Schopenhauer in die Lehre vom
Erkenntnisvermögen und die Philosophie im engeren Sinne
oder Metaphysik. Erstere teilt er ein in „die Betrachtung der
primären oder anschaulichen Vorstellungen ",9 welchen Teil er
Dianoiologie nennt, und in „die Betrachtung der sekundären,
d. i. abstrakten Vorstellungen, nebst der Qesetzmäfsigkeit ihrer
Handhabung, als Logik oder Vernunftlehre'^l) Der allgemeine
Teil der Metaphysik „weist das Ding an sich, das innere und
letzte Wesen der Erscheinungen in unserem Willen naeh^.^)
Es genügt ftkr den vorliegenden Zweck festzuhalten, dafs die
Djanoiologie einen Teil dessen ausmacht, was man landläufig
als Psychologie bezeichnet, und dafs auch der allgemeine Teil
der Metaphysik in das Gebiet der Psychologie in diesem Sinne
ttbergreift, nämlich insofern er sich auf der inneren Erfahrung
aufbaut. Es möge dieses Moment ftkr den Zweck der vor-
liegenden Schrift als ein metaphysisch -psychologisches be-
zeichnet werden. Dieses macht mit dem dianoiologisehen oder
erkenntnispsychologischen das Gebiet aus, das unserer psycho-
logischen Betrachtung unterliegt. Das Wort Psychologie wird
von Schopenhauer in einem engeren Sinne genommen: „Die
blolse empirische Psychologie [ein rationale kommt fllr Schopen-
hauer nicht in Betracht] ist die aus der Beobachtung geschöpfte
Kenntnis der moralischen und intellektuellen Äufserungen und
Eigentümlichkeiten des Menschengeschlechts, wie auch der
Verschiedenheit der Individualitäten in dieser Hinsicht.^) Die
Psychologie ist in diesem Sinne für Schopenhauer eine Einzel-
wissenschaft. Die Scheidung ist dadurch gegeben, dals die
Philosophie auf das Allgemeine gerichtet ist, die Wissenschaften
aber auf das Einzelne gehen.
>)V,25. «)V,26. ■)V,27.
Digitized by VjOOQ IC
Was Schopenhauer zu dieser engeren Fassang veranlafst,
ist in folgendem ausgesprochen : ^Dle an das Innere des Menschen
geknttpfte Betrachtang durchzieht und erfüllt die ganze Meta-
physik, in allen ihren Teilen, kann also nicht wieder gesondert
auftreten, als Psychologie^'.*) Die Berechtigung für unseren
Zweck „psychologisch^* in dem dargelegten weiteren Sinne zu
nehmen, liegt darin, dals bei Schopenhauer die Metaphysik
auf die an das Innere des Menschen geknüpfte Betrachtung
geht. Die letzte angefahrte Bemerkung kann keinen Grund
dafür abgeben, die psychologische Betrachtung nicht zu einer
von der metaphysischen gesonderten Darstellung zu bringen,
sondern nur dafür, die in Betracht kommenden metaphysischen
Berührungspunkte nicht auüser acht zu lassen.
Die Lehre von der empirischen Anschauung hat von
Schopenhauer keine zusammenfassende Darstellung erfahren,
sondern ist in seinen Werken verstreut. Ein Versuch, das Ver-
streute nachträglich zu sammeln, steht vor der Frage nach
einem Einteilungsgrund fttr die Ordnung des gegebenen Materials.
Deutlich ausgesprochen ist ein solcher von Schopenhauer nicht,
aber es zeigt sich, dafs leitende Gesichtspunkte vorhanden
sind. Auf diese führt die Definition der empirischen An-
schauung im Satz vom Grunde: „Die empirische Anschauung
nmfafst die erste (der vier Klassen) der möglichen Gegenstände
unseres Vorstellungsvermögens, die der anschaulichen, voll-
ständigen, empirischen Vorstellungen. Sie sind anschauliche
im Gegensatz der blofs gedachten, also der abstrakten Begriffe;
vollständige, sofern sie, nach Kants Unterscheidung nicht blofs
das Formale, sondern auch das Materiale der Erscheinungen
enthalten; empirische, teils sofern sie nicht aus blofser Ge-
dankenverknüpfung hervorgehn, sondern in einer Anregung der
Empfindung unseres sensitiven Leibes ihren Ursprung haben,
auf welchen sie, zur Beglaubigung ihrer Realität, stets zurück-
weisen.''>) Zu diesen Bestimmungen, von denen die beiden
eisten auf den Bestand, die dritte auf den Ursprung der
empirischen Anschauung gehen, tritt noch die erkenntnis-
theoretische, dafs jene Vorstellungen empirische auch deshalb
sind, „weil sie gemäfs den Gesetzen des Raumes, der Zeit und
0V,27. «)m,41.
1*
Digitized by VjOOQ IC
der Kausalität im Verein, zu demjenigen end- und anfangslosen
Komplex verknüpft sind, der unsere empirische Realität aus-
macht ^^0 1° dieser Definition ist das Znstandekommen der
empirischen Anschauung nicht berücksichtigt. Hierüber gibt
Schopenhauer in Kürze folgende Darstellung: „Der Verstand
schaflft mittelst der ihm eigentümlichen Form der Kausalität
und der dieser untergelegten reinen Sinnlichkeit, also Zeit
und Raum, aus dem rohen Stoff einiger Empfindungen in den
Sinnesorganen diese objektive Aufsenwelt allererst".*) Wir ge-
winnen somit als leitende Gesichtspunkte für die Auffassung
des inneren Zusammenhangs der Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung: Bestand, Verlauf und Ursprung
der geistigen Vorgänge, die nach Schopenhauer die empirische
Anschauung ausmachen, damit also diejenigen Gesichtspunkte,
die überhaupt für die Psychologie als Erfahrungswissenschaft
methodologisch mafsgebend sind. Diese Gesichtspunkte sind
von Schopenhauer nicht als solche ausgesprochen und werden,
wie wir sehen werden, von ihm auch nicht streng beibehalten.
Sie erweisen sich aber als zweckmäfsig für eine Prüfung des
psychologischen Zusammenhangs seiner Lehre von der empi-
rischen Anschauung.
Einer ungezwungenen Darstellung dieser Lehre ist es
dienlich, diese methodologischen Gesichtspunkte nicht auch der
Einteilung der äufseren Darstellung zu Grunde zu legen,
sondern zweckmäfsiger, gewisse sachlich bedeutsame Momente,
die jenen nicht ganz entsprechen, gesondert zur Darstellung
zu bringen und dabei die erwähnten methodologischen Gesichts-
punkte zur Geltung kommen zu lassen. Demzufolge sollen
nach einigen allgemeinen Vorbemerkungen dargestellt werden:
L Das Zustandekommen der empirischen Anschauung, be-
handelt bis zu dem Punkte, wo die Empfindungen zu räumlich
und zeitlich geordneten objektiven Vorstellungen werden.
IL Die physiologischen Bedingungen.
IIL Soweit sie nicht schon im Vorhergehenden zur Sprache
gebracht worden sind, die blofsen Empfindungen, losgelöst von
den raumzeitlichen und kausalen Beziehungen, und zwar nach
Ursprung und Bestand.
«) 1X1,41. ») in,64, 65.
/Google
Digitized by ^
IV. Die formalen Bestandteile der empirischen Anschauung,
gleichfalls nach Ursprang and Bestand^ wobei aoch ihre logischen
Beziehungen zu einander zur Sprache kommen werden.
n. Inhaltliche Yorbemerkimgeii.
Wie jedes Moment der Lehre Schopenhauers nur aus dem
Zusammenhange des ganzen Systems heraus zu verstehen ist, so
auch seine Lehre von der empirischen Anschauung. Zum Yer-
Btiindnis dieser im besonderen bedarf es einer Kenntnis der
allgemeinen psychologischen Voraussetzungen Schopenhauers,
und da diese zum Teil in engstem Zusammenhange stehen
mit seinen metaphysischen Annahmen, auch der Grundzttge
dieser. Von ersteren sei das dem Verständnis dieser Schrift
unmittelbar Dienende im folgenden zusammengestellt.
Die ihm von Kant überlieferte Dreiteilung des geistigen
Geschehens in Vorstellen, Ftthlen und Wollen hält Schopenhauer
nicht fest, sondern unterscheidet nach altem Muster ein Vor-
stellen and ein Wollen, wobei er die mannigfaltigen Gefühle
der Lust and Unlust, die körperlichen angenehmen oder schmerz-
heben Gefühle oder Empfindungen einbegriffen, zu dem Gebiet
des Willens rechnet. Diese Zweiteilung ist mit der Scheidung
der Welt als Vorstellung von der Welt als Willen gegeben.
Letztere Scheidung aber ist eine metaphysische. Wir haben
zu untersuchen, inwiefern jene als eine psychologische ge-
nommen werden kann. Dies geschieht zweckmäfsig im An-
sehluls an eine Erörterung des Begriffs BewuXstsein. Das
Bewulstsein ist von dem Willen so geschieden, dafs „diese
Duplieität anseres Wesens nicht in einer für sich bestehenden
Einheit ruht: sonst würden wir uns unserer selbst an uns selbst
und unabhängig von den Objekten des Erkenneus und Wollens
bewofst werden können: dies können wir aber schlechterdings
nicht" ;i) denn „der Wille an sich selbst ist bewuf stlos." 2) aber:
») I, 363. «) II, 324.
Digitized by
Google
6
„auch das Selbstbewnfstsein enthält ein Erkennendes and ein
Erkanntes/' ^) denn „das Bewnfstsein hat zwei Seiten : teils ist
es Bewnfstsein vom eigenen Selbst, welches [Selbst] der Wille
ist, teils Bewnfstsein von anderen Dingen, und als solches zu-
nächst anschauende Erkenntnis der Änfsenwelt, Anffassnng der
Objekte." 2) „Das Bewnfstsein besteht im Erkennen." ») „Unser
erkennendes Bewnfstsein zerfUUt in Snbjekt nnd Objekt"^)
„Bewnfstsein ohne Gegenstand ist kein Bewnfstsein." ^) Daher
ist die Zweiteilung in Bewnfstsein nnd Willen offenbar keine
psychologische, sondern eine metaphysische. Sie ist gefolgert
ans der Annahme, dafs der Wille das Ding an sieh sei. Sie
gestattet daher anch keinen Gattungsbegriff im psychologischen
Sinne. Schopenhauer nennt das Verhältnis vielmehr die „Dupli-
zität unseres Wesens". In metaphysischer Hinsicht sei noch
erwähnt, dafs der Wille auch das dem Intellekt zu gründe
liegende Ding an sich ist. In diesem Sinne heifst es: Der
Wille tritt im Menschen „als ein bewufster Wille" auf.«)
Das Erkennen ist ein „Erkennenwollen." ^) Insofern, d. L
in metaphysischer Hinsicht, ist die Hypothese Schopenhauers
über den Bestand des Geistigen als eine monistische, nnd
zwar voluntaristische zu bezeichnen. Für unseren Zweck sei
aber festgehalten, dafs der Wille auch im Selbstbewnfstsein
gegeben ist, als ein Vorgestelltes. Er ist insofern etwas „a
posteriori, nämlich durch Erfahrung, hier durch innere'',^)
also ein psychologisch Gegebenes. Dennoch würde man gegen
den Sinn der Lehre Schopenhauers verstofsen, wenn man zu
dem im Selbstbewnfstsein gegebenen Willen und dem Erkennen
einen psychologischen Gattungsbegriff konstruieren wollt«.
Der Wille ist vielmehr dem Selbstbewnfstsein auch als Ding
an sich auf irgend eine Weise als gegeben zu denken:^)
„Unser Wollen ist das Einzige uns unmittelbar Bekannte und
nicht, wie alles Übrige, blofs in der Vorstellung Gegebene." ^^)
Auf die Frage, wie es zu denken sei, dafs der Wille der an
sich bewufstlos ist, eine Tatsache des Bewufstseins, dafs also
0 II, 233. 0 II, »31. ») II, 233. *) HI, 39.
=) II, 24. •) II, 293. ') II, 303. •) lU, 161.
^) Vgl. die entgegen gesetzte Ansicht in der Schrift von Hichelis:
„Schopenhauers Stellung zum psychophysisohen Paralleliamus.' Dlss.
Königsberg i. Pr. 1903. ") II, 227.
Digitized by
Google
^das Ding an sich . . . sich selbst seiner bewufst^ werde, i)
einzugeben, würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiteD.
Um einer ErOrternog des Problems ans dem Wege geheo zu
kennen, sei die Bezeichnung des WoUeos als eines Metaphysisch-
psychologisehen gestattet.
Von den allgemeinen psychologischen Voraussetzungen
Schopenhauers möge noch folgendes erwähnt werden:
Das ,,Organ^ des Selbstbewufstseins ist der innere Sinn,
welche Bezeichnung in den späteren Schriften eine engere
Bedeutung hat als im Satz vom Grunde. Hier wird die
Unterscheidung des inneren und äufseren Sinnes noch in An-
lehnung an Kant gebraucht, entsprechend der Bestimmung bei
diesem, dafs der innere Sinn „das Anschauen unserer selbst
und unseres inneren Zustandes sei und alle Vorstellungen, sie
mögen nun äulsere Dinge zum Oegenstande haben oder nicht,
doch an sich selbst als Bestimmungen des Gemütes zum
inneren Zustande gehören.^ 2) Iiq ßatz vom Grunde ist dem-
entsprechend der äulsere Sinn „wieder Objekt des inneren,
und werden die Wahrnehmungen jenes von diesem wieder
wahrgenommen.^') Dagegen erfahren wir in Welt als Wille
und Vorstellung, Band II [in Welt als Wille und Vorstellung,
Band I, ist von dieser Unterscheidung ganz abgesehen] „dafs
der alleinige Gegenstand des inneren Sinnes der eigene Wille
des Erkennenden'' sei.^) Im Sinne dieser Wendung des Ge-
dankens steht die Einschränkung des inneren Sinnes, „der
mehr im bildlichen als im eigentlichen Verstände zu nehmen
ist: denn das Selbstbewufstsein ist unmittelbar.''^) Die Form
des inneren Sinns in Jener wie in dieser Fassung ist die Zeit;
daher können die Aufserungen des Willens nur sukzessiv
erkannt werden. „Die Form (des inneren Sinnes) ist die Zeit,
mittelst welcher dem ursprünglich und an sich selbst erkenntnis-
losen individuellen Willen die Selbsterkenntnis möglich wird.
In ihr nämlich erscheint sein an sich einfaches und iden-
tisches Wesen auseinandergezogen zu einem Lebenslauf.''^)
Der äulsere Sinn ist „lediglich die Empfänglichkeit fttr
äulsere Eindrücke.''^)
») ü, 227.
*) Kant, nKritikderreinen Vernunft". Originalau8g.der2.Aufl.S.49,50.
») m, 43. *) n, 47. ») 111, 390. •) U, 47. ') II, 38.
Digitized by VjOOQ IC
8
Schopenhauer spricht auch von einer „äafseren Selbst-
erkenntnis.'^ ^) Diese Bezeichnung ist zwar nur im uneigentlichen
Sinne zu nehmen; denn „Erkenntniskräfte sind uns nicht
dadurch bekannt, dafs das Erkennen Objekt ftlr uns geworden
ist, sonst würden über selbige nicht so viele widersprechende
Urteile vorhanden sein; vielmehr sind sie erschlossen, oder
richtiger: sie sind allgemeine Ausdrücke für die aufgestellten
Klassen der Vorstellungen, die man zu jeder Zeit, eben in
jenen Erkenntniskräften, mehr oder weniger bestimmt unter-
schied."*)
Das Bewulstsein anderer Dinge bezeichnet Schopenhauer
gelegentlich im Gegensatz zum Bewufstsein des eigenen Selbst
als das ^Erkenntnisvermögen". 3) Anderenorts aber gebraucht
er dieses Wort in einem weiteren Sinne: „Jede besondere
Klasse von Vorstellungen ist nur für eine ebenso besondere
Bestimmung im Subjekt da, die man ein Erkenntnisvermögen
nennt." ^) Hier also geht die Bezeichnung auch auf das Selbst-
bewufstsein, als das subjektive Korrelat zur vierten Klasse
der Vorstellungen, also zum objektiv gegebenen Wollen. Diese
weitere Fassung bleibt die mafsgebende. In Übereinstimmung
damit heilst es in der 1. und 2. Auflage des Satzes vom
Grunde: „Unser erkennendes Bewufstsein, als äufsere und
innere Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft auftretend ..."*)
und in Welt als Wille und Vorstellung, Band II: „Das
Bewufstsein besteht im Erkennen." <^) Die Erkenntniskräfte,
von denen oben die Rede war, sind: der Verstand, als das
subjektive Korrelat zu den anschaulichen, empirischen Vor-
stellungen, die Vernunft als das Korrelat zu den ab-
strakten, die reine Sinnlichkeit als das Korrelat zu den reinen
Anschauungsformen des Baumes und der Zeit und der innere
Sinn, oder das Selbstbewufstsein, als das Korrelat zu dem
objektiv gegebenen Wollen. 7)
Sodann sei noch einiges über den Sinn des Wortes Vor-
stellung bei Schopenhauer gesagt:
Ein Vorstellen ist jedem Bewufstsein eigen: „Bewulstsein,
dessen Begriff . . . mit dem des Vorstellens überhaupt, welcher
») III, 160. ») III, 159. •) III, 389. *) I, 43.
•) III, 39. •) n, 233. ') in, 161.
Digitized by
Google
9
Art es aneh sei, zasammenfäUt." i) Bewolstsein, Erkennen, Vor-
stellen sind insofern für Sehopenhaner Begriffe von gleich-
weitem Umfange.
Sie sind gleichbedeutend auch ihrem Inhalte nach; denn
das Begriffsmaterial, das ihren alleinigen Inhalt ausmacht, die
Beziehung von Subjekt und Objekt, kommt ihnen in gleicher
Weise zu: „Unser erkennendes BewuXstsein . . . zerfällt in
Subjekt und Objekt und enthält nichts aufserdem.'' 2) „Das
Zerfallen in Objekt und Subjekt ist ihre (der Vorstellung)
erste, allgemeinste und wesentlichste Form.^ ^)
Das Wort Vorstellung wird von Schopenhauer auch in
einem engeren Sinne gebraucht und ist gleichbedentend mit
Objekt; es hebt in diesem Sinne die Beziehung zum Subjekt
nicht auf, sondern fordert sie denknotwendig: „Objekt für das
Subjekt sein und unsere Vorstellung sein ist dasselbe. Alle
unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts und alle Ob-
jekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen.^ ^)
„Die Vorstellungen [objektiv genommen] stehen unter ein-
ander in einer gesetzmäfsigen und der Form nach a priori
bestimmbaren Verbindung . . . Diese Verbindung ist es, welche
der Satz vom zureichenden Grunde in seiner Allgemeinheit
ausdrückt^ ^) Man kann also sagen, dafs das Gebiet der
Vorstellnng zusammenfalle mit dem Bereiche der Geltung des
Satzes vom Grunde.
ni. Das Zustandekommen der empirischen
Anschauung.
Die Lehre von dem Zustandekommen der empirischen
Anschauung erfährt eine fortschreitende Ausgestaltung von
den Werken der ersten Schaffensperiode Schopenhauers, im
besonderen der ersten Auflage von Sehn und Farben zu denen
der zweiten hin. Dies wird im IL Teil meiner Schrift ein-
gehender dargelegt werden.
») I, 92. •) m, 39. 40. •) I, 60. *) III, 40. ») UI, 40.
/Google
Digitized by ^
10
Am ausführlichsten spricht Schopenhauer ttber die ge-
nannte Lehre im Satz vom Grunde, 2. Auflage § 21. Hier
heifst es zunächst im allgemeinen: „Selbst in den edelsten
Sinnesorganen ist (die blofse Sinnesempfindung) nichts mehr,
als ein lokales spezifisches, innerhalb seiner Art einiger Ab-
wechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets sabjektives
Gefühl, welches als solches gar nichts Objektives, also nichts
einer Anschauung Ahnliches enthalten kann . . . Erst wenn
der Verstand ... in Tätigkeit gerät und seine einzige and
alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung
bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem ans der
subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er
nämlich f afst, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori,
d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht
möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung
auf (ein Wort, welches er allein versteht), die als solche not-
wendig eine Ursache haben mufs. Zugleich nimmt er die
ebenfalls in Intellekt, d. i. im Gehirn, prädisponirt liegende
Form des äufseren Sinnes zu Hilfe, den Raum, um jene Ur-
sache auf serhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch
erst entsteht ihm das Aufserhalb, dessen Möglichkeit eben der
Kaum ist; sodafs die reine Anschauung a priori die Grundlage
der empirischen abgeben mufs." i)
Diese Tätigkeit des Verstandes nennt Schopenhauer ge-
legentlich einen „Verstandesschlufs",^) und sagt, dafs „die
Empfindung hier gleichsam die Prämissen zu jenem Verstandes-
sehlufs liefert".^) Dies ist sie jedoch nur im nneigentlicheu
Sinne: „Diese Beziehung (zwischen Ursache und Wirkung) ist
kein Schlufs in abstrakten Begriffen, geschieht nicht dnreh
die Reflexion . . . sondern unmittelbar ... sie ist die Erkennt-
nisweise des reinen Verstandes".*) „Die Verstandesoperation
ist keine diskursive, reflektive, in abstracto, mittelst Begriffen
und Worten vor sich gehende, sondern eine intuitive und ganz
unmittelbare".^) Diese Tätigkeit vollzieht sich meist onbe-
wufst: „Wir sind so sehr gewohnt, von der Empfindung so-
gleich zu ihrer Ursache überzugehen, dafs diese sieh uns dar-
») III, 66. 67. ») VI, 26. ») III, 68. *) I, 43.
.*) IU,67, ähnUobBO UI, 87.
Digitized by
Google
11
stellt, ohne daf8 wir die Empfindungen ... an nnd fttr sich
beachten.'' ■) „Diese Verstandesoperation wird so nnmittelbar
und schnell vollzogen, dafs von ihr nichts als blofs das Be-
Bultat ins Bewalstsein kommt." 2) yWt gewisse Sinnesgebiete
gilt zwar eine Ausnahme: „Bei der empirischen Wahrnehmung
findet die Bewulstlosigkeit, mit welcher der Übergang von der
Empfindung zur Ursache derselben geschieht, eigentlich nur bei
der Anschauung im engsten Sinn, also beim Sehen statt; hingegen
geschieht er bei allen ttbrigen sinnlichen Wahrnehmungen mit
mehr oder minder deutlichem Bewufstsein, daher, bei der Ap-
prehension durch die gröberen vier Sinne seine Bealität sich
anmittelbar faktisch konstatieren läfst.'' ^)
Fttr das Zustandekommen der empirischen Anschauung be-
nutzt Schopenhauer gelegentlich den von Kant entlehnten und
auf die Kausalität eingeschränkten Ausdruck „Apprehension".^)
Davon soll im zweiten Teile dieser Schrift mehr die Rede sein.
Fttr das Zustandekommen der empirischen Anschauung im
einzelnen sind zwei Momente von Bedeutung:
1. Die Beihilfen, die dazu die einzelnen Sinnesempfin-
duDgen liefern und
2. der Umstand, dals die Anwendung des Kausalgesetzes
im einzelnen Falle geübt werden mufs.
Fttr den Anteil der einzelnen Sinnesempfindungen gilt nun,
dafs „der Verstand selbst die minutiösesten Data der gegebenen
Empfindung zu Hilfe nimmt, um ihnen entsprechend die Ur-
sache derselben im Räume zu konstruiren.'' ^) Dabei sind in
der Hauptsache zwei Sinnesgebiete beteiligt. „Der objektiven
ÄDsehauung dienen eigentlich nur zwei Sinne : das Getast und
das Gesicht. Sie allein liefern die Data, auf deren Grundlage
der Verstand durch den angegebenen Procefs die objektive
Welt enstehn läfst. Die andern drei Sinne bleiben in der Haupt-
sache subjektiv; denn ihre Empfindungen deuten zwar auf eine
äulsere Ursache, aber enthalten keine Data zur Bestimmung
») m, 68. •) III, 80. ») II, 33 (speziell III, 80).
*) m, 6S. III, 79. II, 33. VI, 34 schon 1. Auflage von Sehn und
FarbeD, S. 11.
») m, 67.
Digitized by
Google
12
räamlieher Verhältnisse derselbeD. . . . Jene drei Sinne können
zwar dienen, ans die Gegenwart der nns schon anderweitig
bekannten Objekte anzukündigen; aber auf Grundlage ihrer
Data kommt keine räumliehe Konstruktion, also keine objektire
Anschauung zu Stande. Aus dem Geruch können wir nie
die Rose konstruiren . . . Der Ton deutet nie auf räumliehe
Verhältnisse • . .
Getast und Gesieht haben . . . jedes seine eigenen Vorteile;
daher sie sich wechselseitig unterstützen. Das Gesicht bedarf
keiner Berührung, ja keiner Nähe: sein Feld ist unermefslieb,
geht bis zu den Sternen. Sodann empfindet es die feinsten
Nuancen des Lichts, des Schattens, der Farbe, der Durchsichtig-
keit : es liefert also dem Verstände eine Menge fein bestimmter
Data . . . Hingegen ist das Getast zwar an den Kontakt gebunden,
gibt aber so untrügliche und vielseitige Data, dass ea der
gründlichste Sinn ist. Die Wahrnehmungen des Gesichts be-
ziehen sich zuletzt doch auf das Getast; ja das Sehen ist als
ein unvollkommenes, aber in die Ferne gehendes Tasten zu
betrachten . . .
Das Getast liefert 1. ganz unmittelbar die Data znr
Erkenntnis der Gröfse, Gestalt, Härte, Weiche, Trockenheit,
Nässe, Glätte, Temperatur usw.; 2. es wird dabei unterstützt
teils durch die Gestalt und Beweglichkeit der Arme, Hände
und Finger, aus deren Stellung beim Tasten der Verstand die Data
zur räumlichen Konstruktion der Körper entnimmt, teils durch
die Muskelkraft, mittelst welcher er die Schwere, Festigkeit,
Zähigkeit oder Spröde der Körper erkennt^ 0 ^^ ^^^'
anschaulicht Schopenhauer an einigen Beispielen:
,,Erst indem mein Verstand von der Empfindung (beim
Tasten eines Tisches) zur Ursache derselben übergeht, kon-
struirt er einen Körper, der die Eigenschaft der Soli-
dität, Undurchdringlichkeit und Härte hat. Von dem
gefühlten Widerstände macht der Verstand den unmittel-
baren und intuitiven Schlnfs auf eine Ursache desselben,
die jetzt eben dadurch sieh als fester Körper darstellt"^)
„Beim Betasten eines Körpers mit zehn Fingern, deren
jeder einen anderen Eindruck und in anderer Richtung erhält,
») III, 67, 68, 69.
•) m, 69, 70.
Digitized by
Google
13
erkennt der Verstand die sämtlichen Eindrücke als von
einem Körper herrührend, dessen Gestalt und Grösse er
danach apprehendirt nnd ränmlieh konstrnirt/' <) „(Beim
Betasten einer Fläche oder Kugel im Finstern) sind es
in beiden Fällen dieselben Teile der Hand, welche den
Druck empfinden: blofs ans der verschiedenen Stellung, die
im einen oder anderen Falle meine Hand einnimmt, kon-
struiert mein Verstand die Gestalt eines Körpers . . . und er
bestätigt sie sieh dadurch, dafs ich die Berührungsstellen
wechseln lasse. Betastet ein Blindgeborener einen kubischen
Körper, so sind die Empfindungen der Hand dabei ganz ein-
förmig . . . aber ans den Bewegungen, die beim Tasten seine
Arme maehen, während die Empfindung der Hände dieselbe
bleibt, konstraiert er in dem ihm a priori bewu£sten Räume
die kubische Grestalt des Körpers . . . Läfst man durch seine
geschlossene Hand einen Strick laufen, so wird er als Ursache
der Reibung nnd ihrer Dauer, bei solcher Lage seiner Hand,
einen langen cylinderförmigen sich in einer Richtung gleich-
förmig bewegenden Körper konstruiren/' ^) Über die Beihilfe
der Muskelkraft führt Schopenhauer nichts aus.
Es sei hier herrorgehoben , dafs die Beihilfen, die die
Tastempfindungen zur räumlichen Konstruktion der Körper
liefern, selbst räumlicher Natur sind. Auch ein Zeitmoment
iBt ihnen eigen. Über beides wird an anderer Stelle meiner
Sehrift zusammenfassend gesprochen werden.
„Bei dem Sinne des Gesichts ... ist das umittelbar Ge-
gebene beschränkt auf die Empfindung der Retina, welche zwar
viele Mannigfaltigkeit zuläfst, jedoch zurückläuft auf den Ein-
druck des Hellen und Dunkeln, nebst ihren Zwischenstufen,
ood den der eigentlichen Farben . . . Dafs nun aus einem so
beschränkten Stofi*; wie Hell, Dunkel, Farbe der Verstand durch
seine so einfache Funktion des Beziehens der Wirkung auf
eine Ursache, unter Beihilfe der ihm beigegebenen Anschauungs-
fonn des Auges, die so unerschöpflich reiche und vielgestaltete
sichtbare Welt heryorbringen kann, beruht zunächst auf der
Beihilfe, die hier die Empfindung selbst liefert. Diese besteht
darin, dass erstlich die Retina, als Fläche, ein Nebeneinander
') III, 77. ») III, 70.
Digitized by VjOOQ IC
u
des Eindrucks zalä£st, zweitens, dafs das Licht stets in ge-
raden Linien wirkt, auch im Ange selbst geradlinigt gebrochen
wird und endlich, dals die Retina die Fähigkeit besitzt,
auch die Richtung, in der sie vom Lichte getroffen wird, un-
mittelbar mit zu empfinden, welches wohl nur dadurch zu er-
klären ist, dafs der Lichtstrahl in die Dicke der Retina ein-
dringt. Hierdurch aber wird gewonnen, dafs der blofse Eindruck
auch schon die Richtung seiner Ursache anzeigt, also auf den
Ort des das Licht aussendenden oder reflektirenden, Objekts
geradezu hindeutet ..." 0
Es sei darauf hingewiesen, dafs auch die Beihilfen, die
die Gesichtsempfiadungen zur Bestimmung des Ortes des Ob-
jekts im Räume liefern, selbst räumlicher Natur sind.
Das Verfahren des Verstandes im einzelnen ist nun
folgendes: „Das Erste, was er tut, ist, dafs er den Ein-
druck des Objekts, welcher verkehrt, das Unterste oben, auf
der Retina eintrifft, wieder aufrecht stellt . . . Bestände nun
das Sehen im blofsen Empfinden, so wttrden wir den Eindruck
des Gegenstandes verkehrt wahrnehmen; weil wir ihn so
empfangen: sodann aber wttrden wir ihn auch als etwas im
Innern des Auges Befindliches wahrnehmen, indem wir ebeu
stehen blieben bei der Empfindung. Wirklich hingegen tritt
sogleich der Verstand mit seinem Kausalgesetz ein, bezieht
die empfundene Wirkung auf ihre Ursache, hat von der Emp-
findung das Datum der Richtung, in welcher der Lichtstrahl
eintraf, verfolgt also diese rttckwärts zur Ursache hin, auf
beiden Linien : Die Kreuzung wird daher jetzt auf umgekehrtem
Wege wieder zurückgelegt, wodurch die Ursache sich draufsen,
als Objekt im Raum, aufrecht darstellt, nämlich in der Stellung,
wie sie die Strahlen aussendet, nicht in der, wie sie ein-
trafen." 2)
„Das Zweite, was der Verstand bei seiner Umarbeitung
der Empfindung in Anschauung leistet, ist, dafs er das zwei-
mal Empfundene zu einem einfach Angeschauten macht; . . .
Der Prozefs, durch den dies zu stände kommt, ist folgender:
... Bei gerade vor uns liegendem Objekt treffen (die Augen-
0 in, 71, 72, ähnUch U, 34.
*) III, 78, angelegt schon I.Auflage von Sehen und Farben, S.27.
Digitized by
Google
15
axen) genan io die Mitte jeder Retina, mithin anf zwei in
jedem Ange einander genau entsprechende Punkte. Alsbald
erkennt der Verstand . . . dafs, obwohl hier der Eindruck
doppelt ist, derselbe dennoch von nur einem äufseren Punkte
ausgeht, also nur eine Ursache ihm zum Grunde liegt: dem-
nach stellt nunmehr diese Ursache sich als Objekt und nur
einfach dar. . . . Was vom Objekt seitwärts vom Scheitel-
punkte des optischen Winkels liegt, . . . wirft seine Strahlen
nicht mehr in den Mittelpunkt jeder Retina, sondern ebenso
seitwärts von demselben . . . : die Stellen welche diese Strahlen
daselbst treffen, sind ebenso gut wie die Mittelpunkte, ein-
ander symmetrisch entsprechende, oder gleichnamige Stellen.
Der Verstand lernt diese bald kennen und dehnt demnach die
obige Regel seiner kausalen Auffassung auch auf sie aus, be-
zieht folglich . . . auch die Lichtstrahlen welche die Übrigen
einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen
treffen, auf einen und denselben, solche aussendenden Punkt
im Objekt, schaut also auch alle diese Punkte, mithin das
ganze Objekt, nur einfach an . . .
Das Dritte, wodurch der Verstand die Empfindung in
Anschauung umarbeitet, ist, dafs er aus den bis hieher ge-
wonnenen blofsen Flächen Körper konstruirt, also die dritte
Dimension hinzufügt, indem er die Ausdehnung der Körper in
dem ihm a priofi bewufsten Räume, nach Mafsgabe der Art
ihrer Einwirkung auf das Auge und der Gradationen des
Lichtes und Schattens, kausal beurteilt . . . Die Empfindung
beim Sehen ist, infolge der Natur des Organes, blofs plani-
metrisch, nicht stereometrisch. Alles Stereometrische der An-
8ebaaung wird vom Verstände allererst hinzugetan: seine
alleinigen Data hierzu sind die Richtung, in der das Auge
den Eindruck erhält, die Grenzen desselben und die verschie-
denen Abstufungen des Hellen und Dunkeln, welche unmittelbar
auf ihre Ursache deuten, und wonach wir erkennen, ob wir
z. B. eine Scheibe oder eine Kugel vor uns haben . . ."
Der dritten „sehr nahe verwandt" ist eine vierte Ver-
Btandesoperation ; diese „besteht nämlich im Erkennen der Ent-
fernung der Objekte von uns . . . Die Empfindung beim Sehen
liefert uns zwar ... die Richtung, in welcher die Objekte
liegen, aber nicht ihre Entfernung, also nicht ihren Ort. Die Ent-
Digitized by
Google
16
fernang mnfs also erst dnreh den Verstand herausgebracht
werden, folglich ans lanter kausalen Bestimmungen sieh er-
geben. Von diesen nun ist die vornehmste der Sehwinkel,
unter dem das Objekt sich darstellt: dennoch ist dieser durch-
aus zweideutig und kann für sich allein nichts entscheiden . . .
Nur wenn uns seine (des Objekts) Gröfse anderweitig schon
bekannt ist, können wir aus dem Sehwinkel seine Entfernung
erkennen, wie auch umgekehrt, wenn uns diese anderweitig
gegeben ist, seine GrOfse . . . Auf der Abnahme des Seh-
winkels beruht die Linearperspektiye . . . Soweit wir eine
ununterbrochene Folge sichtbarlich zusammenhängender Gegen-
stände Yor uns haben, können wir aus dem allmählichen Zu-
sammenlaufen aller Linien, also aus der Linearperspektire,
allerdings die Entfernung erkennen. Hingegen aus dem bloüsen
Sehwinkel für sich allein können wir es nicht, sondern als-
dann mufs der Verstand immer noch ein anderes Datum zu
Hilfe nehmen, welches gleichsam als Eomentar des Seh-
winkels dient, indem es den Anteil, den die Entfernung an
ihm hat, bestimmter bezeichnet.
Zu den subsidiarischen Datis, . . . gehören erstlich die
mutationes oculi internae, vermöge welcher das Auge seinen
optischen Brechungsapparat, durch Vermehrung oder Vermin-
derung der Brechung, verschiedenen Entfernungen anpafst . . .
Wir haben von diesen inneren Veränderungen *de8 Auges, wenn
auch keine deutliche Wahrnehmung, so doch eine gewisse
Empfindung, und diese benutzen wir unmittelbar zur Schätzung
der Entfernung. Da aber jene Veränderungen nur dienen, von
etwa 7 Zoll bis auf 16 Fuls weit das vollkommen deutliche
Sehen möglich zu machen, so ist auch das besagte Datum für
den Verstand nur innerhalb dieser Entfernung anwendbar.
Darttber hinaus findet dagegen das zweite Datum An-
wendung, nämlich der bereits oben, beim Einfach-Sehen, er-
klärte, von den beiden Augenaxen gebildete optische Winkel.
. . . Das verschiedene Richten der Augen gegen einander ist
nicht ohne eine gewisse, leise Empfindung davon, die aber
auch nur sofern ins Bewufstsein kommt, als der Verstand sie
bei seiner intuitiven Beurteilung der Entfernung als Datum
gebraucht Dieses Datum läfst zudem nicht blofs die Ent-
fernung, sondern auch genau den Ort des Objekts erkennen,
Digitized by
Google
i7
vermöge der Parallaxe der Augen, die darin besteht, dafs
jedes derselben das Objekt in einer etwas anderen Richtung
sieht ... Da aber, sobald der Gegenstand zweihundert Fafs
oder weiter abliegt, die Angen sich parallel richten, also der
optische Winkel ganz weg fällt, so gilt dieses Datum nur
ionerhalb der besagten Entfernung.
Über diese hinaus kommt (drittens) dem Verstände die
Luftperspektive zu Hülfe, als welche durch das zunehmende
Dnmpfwerden aller Farben, das Erscheinen des physischen
Blau Tor allen dunkeln Gegenständen . . . und das Yer-
sehwimmen der Kontoure ihm eine gröfsere Entfernung an-
kündigt . . .
Endlich (viertens) bleibt uns noch die Schätzung der
Entfernung mittelst der uns intuitiv bekannten Gröfse der da-
zwischen liegenden Gegenstände . . .^ Sie ist nur bei un-
nnterbrochenem Zusammenhang, also nur auf irdische, nicht
auf himmlische Objekte anwendbar . . .^.
Im Anschlufs daran kommt Schopenhauer auf die Gröfsen-
Schätzung der Gegenstände am Horizont und das Sehen durch
Teleskop und Lupe zu sprechen.
„Dafs beim Sehen der Übergang von der Wirkung zur
Ursache ganz unbewnist geschieht, . . . hat seinen Grund teils
in der hohen Vollkommenheit des Organs, teils in der aus-
schlielslich geradlinigen Wirkungsart des Lichtes. Vermöge
dieser letzteren leitet der Eindruck selbst schon auf den Ort
der Ursache hin." 2) über die Unbewufstheit des Vorganges
bellst es im besonderen: „Auch diese Verstandesoperation
(das Hinzufügen der dritten Dimension) wird, gleich den
Torhergehenden, so unmittelbar und schnell vollzogen, dafs von
ihr nichts, als blofs das Resultat, ins Bewufstsein kommt." s)
Die flir die Übung des Verstandes, die bei dem Zu-
standekommen der empirischen Anschauung eine Rolle spielt,
banptsächlich in Betracht kommenden Ausführungen seien
im folgenden zusammengestellt: „Obgleich der rein formale
Teil der empirischen Anschauung . . . a priori im Intellekt
>) in, 73-85. «) n, 84. >) III, 80.
PhilOMphiaehe Abhftndlwagon. XXXV.
Digitized by
Google
18
liegt, BO ist ihm doch nicht die Anwendung desselben auf
empirische Data zugleich mitgegeben: sondern diese erlangt
er erst durch Übung und Erfahrung. Daher kommt es, dafs
neugeborene Kinder zwar Licht- und Farbeneindrnck empfangen,
allein noch nicht die Objekte apprehendiren und eigentlich
sehn; sondern sie sind die ersten Wochen hindurch in einem
Stupor befangen, der sich alsdann yerliert, wann ihr Verstand
anfängt, seine Funktion an den Datis der Sinne, zumal des
Getasts und Gesichts, zu üben, wodurch die objektive Welt
allmählich in ihr Bewufstsein tritt . . .^ 0 ^^^^ '^^ näher aus-
geftohrt in Sehn und Farben: „Da aber jedes Objekt auf
alle fünf Sinne verschieden wirkt, diese Wirkungen dennoch
auf eine und dieselbe Ursache zurttckleiten, welche sich eben
dadurch als Objekt darstellt, so yergleicht das die Anschauung
erlernende Kind die verschiedenartigen Eindrücke, welche es
vom nämlichen Objekte erhält; es betastet, was es sieht, besieht,
was es betastet, geht dem Klange nach zu dessen Ursache,
nimmt Geruch und Geschmack zu Hilfe, bringt endlich auch
für das Auge die Entfernung und Beleuchtung in Anschlag,"^)
und lernt auch die übrigen Beihilfen zur Beurteilung des Ortes
des Objekts kennen. Ähnliches sagt Schopenhauer von ope-
rierten Blindgeborenen: „Diese sehen zwar gleich nach der
Operation Licht, Farben und Umrisse, haben aber noch keine
objektive Anschauung der Gegenstände: denn ihr Verstand
mufs erst die Anwendung seines Kausalgesetzes auf die ihm
neuen Data und ihre Veränderungen lernen . . . Bei solchen
hergestellten Blinden mufs das Getast, als welchem die Dinge
schon bekannt sind, diese dem Gesicht erst bekannt machen,
gleichsam sie präsentiren und einführen . . .^')
Das Mitwirken der Erfahrung bei der Ausübung der
Verstandestätigkeit kommt auch bei der Erklärung des Scheins
zur Sprache: „Schein entsteht allemal entweder dadurch, dafs
der stets gesetzmäfsigen und unveränderlichen Apprebension
des Verstandes ein ungewöhnlicher (d. h. von den, auf welchen
er seine Funktionen anzuwenden gelernt hat, verschiedener)
Zustand der Sinnesorgane untergelegt wird; oder dadurch, dals
eine Wirkung, welche die Sinne sonst täglich und stündlieh
») III, 88. «) VI, 24. >) III, 88, 89.
/Google
Digitized by ^
19
doreh eine and dieselbe Ursache erhalten, einmal durch eine
ganz andere Ursache hervorgebracht wird . . ." i) „Wenn ich
eine Engel mit gekreuzten Fingern betaste, glaube ich sofort,
zwei Kugeln zu ftthlen, weil mein auf die Ursache zurück-
gehender und diese den Gesetzen des Raumes gemäfs kon-
Btruirender Verstand, die natürliche Lage der Finger voraus-
setzend, zwei Kugelflächen, welche die äufseren Seiten des
Mittel- und Zeigefingers zugleich bertthren, durchaus zweien
verschiedenen Kugeln zuschreiben mufs.''^) Als Beispiele ftir
TäQschungen des Verstandes bei der Deutung von Gesichts-
wahmehmungen führt Schopenhauer an: das Doppeltsehen
eines Objektes beim Schielen und beim Fixieren eines weiter
oder näher stehenden Objektes, sowie das Einfachsehen zweier
Yor zwei parallelen Röhren angebrachter Geldstücke^) und
das Einfachsehen im Stereoskop.^)
Wir hatten bisher das Zustandekommen der empirischen
Anschauung bis zu dem Punkte verfolgt, wo durch die Tätig-
keit des Verstandes aus der blofsen Empfindung die räumlich
geordnete objektive Vorstellung wird. Es erübrigt einiges
Spezielle beizufügen über das Zustandekommen der zeitlichen
Ordnung in der empirischen Anschauung. Im allgemeinen
wurde dies bereits oben charakterisiert. Einer speziellen Be-
Btimmung begegneten wir in der Bemerkung, dafs der Verstand
von „jener successiven Empfindung in der Hand^^) ausgehe.
Dies beruht auf folgendem: „Die Veränderungen (der Em-
pfindungen) gelangen unmittelbar [bevor die Verstandestätigkeit
einsetzt] blofs in der Form des inneren Sinnes, also der Zeit
allein, d.h. suecessiv, zum Bewufstsein/^ *) In diesem Sinne
beiist es auch: „Ohne Verstand . . . wäre die blofse Emp-
findung ein Wechsel bedeutungleerer Zustände."'^)
Schon die blofsen Empfindungen also tragen einen zeit-
liehen Charakter an sich. Die Empfindungen aber reichen
allein nicht aus, die zeitliche Ordnung in der Anschauung her-
zustellen: „Nimmermehr aber könnte aus jener Empfindung
[der successiven Empfindung] in der Hand die Vorstellung der
0 VI, 80.
») m, 70.
•)ui,
•) in,
77,
66.
78.
•) m, 78.
») VI, 21.
*) VI, 29
2*
Digitized by
Google
20
Bewegung, d. i. der VeräDderung des Ortes im Banm, mittelst
der Zeit, entstehen: denn so etwas kann in ihr nicht liegen,
noch kann sie allein es jemals erzeugen. Sondern sein Intellekt
mnfs, vor aller Erfahrung die Anschauungen des Raumes, der
Zeit, und damit die Möglichkeit der Bewegung, in sich tragen,
und nicht weniger die Vorstellung der Kausalität, um nun von
der allein empirisch gegebenen Empfindung überzugehen auf
eine Ursache derselben und solche dann als einen sich also
bewegenden Körper, von der bezeichneten Gestalt, zu kon-
struiren." »)
Ein Rückblick auf die bisherigen Ausführungen lälst be-
merkenswert erscheinen, dafs als die Aufgabe des Verstandes
die Konstruktion alles dessen in der empirischen Anschauung
gedacht wird, was in ihr mehr enthalten ist, als blolse Emp-
findung und die reinen Formen Raum und Zeit. Dabei flielsen
zwei Beetimmungen der Aufgabe des Verstandes zusammen:
Erstens das Erkennen der Empfindung als Wirkung einer
Ursache,
Zweitens die raumzeitliche Anordnung der Empfindungen.
Damit erscheint die ursprünglich eng begrenzte Funktion
des Verstandes [„Kausalität erkennen ist seine einzige Funk-
tion"]*) erweitert. Zu der kausal beziehenden tritt eine formal-
beziehende Tätigkeit des Verstandes. Im einzelnen aber reichen
die a priori gegebenen Vorstellungen für die raumzeitliche
Einordnung der Empfindungen nicht aus. Sie wird yielmehr
erst hergestellt durch Erfahrungsmomente, die in den Emp-
findungen liegen, hauptsächlich denen des Tast- und Gesichts-
sinnes. Dafs der Verstand „ein Nebeneinander des Eindrucks
zu Hilfe nimmt" und „der blofse Eindruck auch schon die
Richtung seiner Ursache anzeigt", ist psychologisch gleich-
bedeutend damit, dafs den Gesichtsempfindungen aufser ihrem
Empfindungsinhalt ein Bewufstsein ihres Nebeneinander auf
der Netzhaut und ein Bewnüstsein der Richtung ihrer Ursache
zukomme. Wir fanden, dafs ihnen auch ein zeitlicher Charakter
eigen ist Sie werden auf Grund ihrer räumlichen Beihilfen
der allgemeinen Form des Raumes eingeordnet In analoger
1) III, 70. ») I, 43.
/Google
Digitized by ^
21
Weise werden sie, so können wir interpretieren, anf Grand
ihres zeitlichen Charakters der allgemeinen Form der Zeit
eingeordnet.
Dals den blofsen Empfindangen ein räumlicher nnd zeit-
licher Charakter eigen sei, ist nnyereinbar mit der Annahme,
dafs der Intellekt a priori sie ihnen allererst beifUge. Wir
werden bei der Erörterung der blofsen Empfindung kennen lernen,
was Schopenhauer zu einem Teil dieser Unzulänglichkeiten ver-
anlassen konnte, ohne dafs dadurch der bestehende Wider-
spruch aufgehoben wttrde.
Ferner ist bemerkenswert, dafs der Verstand die Anwen-
dung seiner Form erlernen mufs und sich in dieser Anwendung
täuschen kann. Dabei spielt ein Vergleichen der Data des
last- und Gesichtssinns eine Rolle. Wie dies psychologisch
zu verstehen sei, führt Schopenhauer nicht näher aus. Es
wäre nur dann verständlich, wenn dem Verstände ein Ge-
dächtnis zugeschrieben werden könnte. Diese Annahme liefse
sieh zwar zur Not vereinigen mit der Definition des Ge-
dächtnisses bei Schopenhauer als einer „blofsen Übungs-
tahigkeit". ^) Aber erstlich liegt Schopenhauer eine solche
Annahme fern; sodann mttfste zur Auflösung der genannten
Schwierigkeit dem Verstände auch ein vergleichendes Denken
nnd damit eine Fähigkeit zu abstrahieren zugeschrieben
werden, womit er in das Gebiet der Vernunft im Sinne
Sehopenhauers ttbergrifie.
IV. Physiologische Erörterungen.
Der Gang unserer Darstellung ftlhrt uns zur Besprechung
der Bestandteile der empirischen Anschauung. Zuvor mögen
die in Betracht kommenden physiologischen Bedingungen dar-
gelegt werden.
In dieser Hinsicht ist hervorzuheben, dafs Schopenhauer
die Empfindungen mit den Vorgängen in den Sinnesorganen
») II, 162.
Digitized by
Google
22
in eins setzt. ,,Die Empfindungen sind eine Funktion einzelner
zarter Nervenenden", wie der Verstand „eine Funktion des
Gebims", sie „sind beschränkt auf das Gebiet unter der Haut^
und „in den Sinnesorganen dureh Zusammenflufs der Nerven-
enden erhöhte, wegen der Ausbreitung und dünnen Bedeckung
derselben leicht von auf sen erregbare und zudem einem speziellen
Einflufs, Licht, Schall, Luft, besonders offenstehende", >) während
„die Vorstellung ein sehr komplizirter physiologischer Vorgaug
im Gehirn . . . ist". ^) „Die Retina ist der unbezweifelte Sitz
dessen, was beim Sehen in der blofsen Empfindung besteht."^)
Für das Hören findet sich an einer Stelle eine etwas abweichende
Bestimmung: „Das Hören geht vermöge einer mechanischen
ErschtttteruDg des Gehirnnerven vor sieh, die sich sogleich
bis ins Gehirn fortpflanzt, während hingegen das Sehen eine
wirkliche Aktion der Retina ist ..." 0
Über die Abhängigkeitsbeziehungen des physiologischen
und psychologischen Geschehens heilst es schlechthin: „Unser
Auge ist es, welches Grün, Rot und Blau hervorbringt", wie
„unser Gehirn es ist, welches Zeit, Raum und Kausalität
hervorbringt." *») „Verleihen die Nerven der Sinnesorgane den
erscheinenden Objekten Farbe, Klang, Geschmack, Geruch.
Temperatur usw., so verleiht das Gehirn denselben . . . alles,
was mittelst Zeit, Raum und Kausalität vorstellbar ist."* ^)
„Die Sinne sind also blofs die Sitze einer gesteigerten
Sensibilität, sind Stellen des Leibes, welche für die Einwirkung
anderer Körper in höherem Grade empfänglich sind, und zwar
steht jeder Sinn einer besonderen Art von Einwirkung offen,
für welche die übrigen entweder wenig oder gar keine
Empfänglichkeit haben. Diese spezifische Verschiedenheit
der Empfindung jedes der fünf Sinne hat jedoch ihren
Grund nicht im Nervensystem selbst, sondern nur in der Art,
wie es affiziert wird . . . Denn die Substanz der Nerven (ab-
gesehen vom sympathischen System) ist im ganzen Leibe eine
und dieselbe, ohne den mindesten Unterschied. Wenn sie nnn,
vom Lichte durch das Auge, vom Schalle durch das Ohr ge-
troffen, so spezifisch verschiedene Empfindungen erhält, so
0 III, 6«. •) II, 222. ») VI, 37. *) II, 39.
») IV, 107. a) II, 80.
Digitized by
Google
23
kaoQ dies Dieht an ihr selbfit liegen, sondern nnr an der Art,
wie sie affizirt wird. Diese aber hängt ab teils von dem
fremden Agens, von dem sie affizirt wird (Lieht, Schall, Dnft,)
teils von der Vorriehtnng, dnrch welche sie dem Eindruck
dieses Agens ansgesetzt ist, d. i. von dem Sinnesorgan . . .^ 0
„Indem der änJjsere Sinn, d. h. die Empfänglichkeit fUr äufsere
Data f&r den Verstand, sich in fttnf Sinne spaltete, richteten
diese sich nach den vier Elementen, d. h. den vier Aggrega-
tioDszaständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der Sinn
fbr das Feste (Erde) das Getast, fUr das Flttssige (Wasser)
der Geschmack, fUr das Dampfförmige, d. h. Verflüchtigte
(Danst, Dnft) der Gerach, für das permanent Elastische (Luft)
das Gehör, für das Impondrabile (Fener, Lieht) das Gesicht.
Das zweite Imponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegen-
stand der Sinne, sondern des Gemeingefllhls/' ^)
Die Ansdrncksweise in diesen Ausftthrnngen ist geeignet,
ZQ einer materialistischen Dentung Veranlassung zn geben. 3)
Eine solche Aaffassnng besteht indes nicht zu Recht. Erstlich
iät jene Ansdrncksweise Schopenhauers nicht streng fest-
gehalten. Er sagt zwar: „Das Sehen ist eine wirkliche Aktion
der Retina",*) doch sagt er auch, dals „die Retina der Sitz
d^sen ist, was beim Sehen in der blofsen Empfindung be-
ßteht**,*) zwar, dafs „die Modifikationen der Sinne die blofsen
Empfindungen sind^,^) doch auch, dafs „die Modifikationen
des Auges unmittelbar blofs empfunden werden"; 7) er fordert
zwar, dals sich „eine Farbentheorie zunächst an die Empfindung
selbst wenden solle, um zu erforschen, ob nicht aus ihrer
Beschaffenheit und Gesetzmäfsigkcit sich herausbringen liefse,
^orin sie an und fttr sieh, also physiologisch bestehe",») doch
erklärt er an derselben Stelle auch, dafs „die spezifische
Empfindung sich nicht beschreiben, sondern nur sinnlich nach-
weisen lasse".
») VI, 22, 23. «) II, 38.
') In der Tat ist dies geschehen in Kano Fischers „Kritik der
Sdkopenhaoerschen Philosophie^. In Band IX seiner „Geschichte der
Beneren Phflosophle''. 2. Auflage. 1898.
0 II, 39. *) VI, 87. •) VI, 34. ') VI, 85.
») VI, 35, 36.
Digitized by
Google
24
Das entscheidende Argament aber ergibt sich ans dem
Zusammenhang der Lehre Schopenhauers Überhaupt. Er
polemisiert nicht nur heftig gegen den Materialismus, sondern
ist auch sachlich weit davon entfernt, Materialist zu sein. Im
materialistischen Sinne zu behaupten, die Sinnesempfindungen
seien nichts als physiologische Vorgänge in den Sinnesorganen,
ist für Schopenhauer deshalb unmöglich, weil „der Materialis-
mus vom Objekte ausgeht, ein Objektives zum letzten Er-
klärungsgrunde nimmt, sei nun dieses die Materie . . . oder
der Stoff . . .^,i) und dieses „als an sich und absolut existierend
annimmt, um daraus die organische Natur und zuletzt das
erkennende Subjekt hervorgehen zu lassen und diese voll-
ständig zu erklären ^^2) Schopenhauer wendet sich schon in
der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung
Band I gegen den konsequenten Materialismus, weil dieser
„als das letzte Glied der Kette des materiellen Geschehens
die tierische Sensibilität, das Erkennen" setzen mnfs, „welches
folglich jetzt als eine blofse Modifikation der Materie, ein
durch Kausalität herbeigeführter Zustand derselben aufträte''. 3)
An ein Hervorbringen der Empfindung durch den Leib im
materialistischen Sinne ist bei Schopenhauer also deshalb
nicht zu denken, weil der Satz vom zureichenden Grunde
des Werdens nur zwischen materiellen Objekten, nicht aber
zwischen diesen und dem erkennenden Subjekt Gültigkeit hat
Dennoch kann Schopenhauer von einer Identität der Empfindung
und des Vorganges im Sinnesorgan reden, nämlich im metaphysi-
schen Sinne, insofern beide an sich ein und dasselbe, nämlich
Wille, sind. Der Leib bringt die Empfindungen und Vorstellungen
hervor, insofern er die Sinnesorgane und das Gehirn hervorbringt,
und das „was im Selbsbewufstsein, also subjektiv, der Intellekt ist,
im Bewufstsein anderer, also objektiv, sich als Gehirn darstellt''^)
und in analogerweise die Empfindungen in den Sinnesorganen
sich darstellen. Gemeint sein kann als das Hervorbringende,
wenn von einer Hervorbringung des Intellekts und der Emp-
findungen die Rede ist, immer nur das am Leibe zugrunde
Liegende, der Wille. „Vorstellung und Gedanke können . . .
0 1, 63. «) I, 63. ») 1. Auflage Seite 40, 3. Auflage 1, 62.
*) II, 286.
Digitized by
Google
25
als die EfiOorescenz des Willens angesehen werden, sofern sie
ans der höchsten Vollendung und Steigerang des Organismus
entspringen, dieser aber an sieh selbst und auf serhalb der
Vorstellung der Wille ist. Allerdings setzt in meiner Er-
klärung, das Dasein des Leibes die Welt der Vorstellung
Yoraus, sofern aueh er, als Körper oder reales Objekt, nur
in ihr ist: und anderseits setzt die Vorstellung selbst eben so
sehr den Leib voraus, da sie nur durch die Funktion eines
Organs desselben entsteht. Das der ganzen Erscheinung zum
Grunde Liegende, das allein an sich selbst Seiende und
Ursprüngliche darin, ist ausschlief slich der Wille: denn er ist
es, welcher eben durch diesen Prozefs die Form der Vor-
stellung annimmt, d. h. in das secundäre Daseyn einer gegen-
ständlichen Welt, oder die Erkennbarkeit, eingeht." i) Nur
ist hierbei zu beachten, dafs bei dem Willen als Ding an sich
?0Q einem Hervorbringen im eigentlichen Sinne nicht die Rede
sein kann; denn dieser ist dem Satze vom zureichenden Grunde
nicht unterworfen; sondern, wenn der Organismus das Gehirn
hervorbringt, ist das mit diesem auftretende Bewufstsein nur
scheinbar etwas Hervorgebrachtes. Insofern sind Ausdrücke
wie „ Efflorescenz des Willens", oder dafs „der Intellekt ...
aus dem Willen entspringt ",2) u. a. m. geeignet, zu Mifs-
verständnissen zu ftthren. Der Ursprung der Empfindungen,
wie auch des Intellektes kann somit, entsprechend den Vor-
bemerkungen meiner Schrift, als ein metaphysisch -psycho-
logischer bezeichnet werden.
V, Die blofsen Empfindungen,
Der Ursprung der Sinnesempfindungen wurde bereits im
vorigen Abschnitte als ein metaphysisch -psychologischer ge-
kennzeichnet. Die dadurch angeregte Frage, wie dieser
Ursprung im Zusammenhange der ganze Lehre Schopenhauers
lü verstehen sei, kann hier nicht näher erörtert werden. Eine
0 n, 322. >) U, 828.
/Google
Digitized by ^
spezielle psychologische Bestimmang finden wir in folgender Stelle:
„Die einfachste, unbefangene Selbstbeobachtung, zusammen-
gehalten mit dem anatomischen Ergebnis, führt zu dem Resultat,
dafs der Intellekt, wie seine Objektiyation, das Gehirn, nebst
diesem anhängenden Sinnenapparat, nichts anderes sei, als
eine sehr gesteigerte Empfänglichkeit für Einwirkungen von
aufsen ...i) Ferner: „Man kann jede Sinnesempfindung an-
sehen als eine Modifikation des Tastsinnes, oder der über den
ganzen Leib verbreiteten Fähigkeit zu Ftihlen".^) Diese Aus-
führungen enthalten den Gedanken einer Herleitung des
Mannigfaltigen der Empfindungen aus einem einzigen und
einfachsten Elemente, nämlich — wenn wir die beiden Aus-
führuDgen interpretierend miteinander verbinden — der Emp-
fänglichkeit für Einwirkungen von aufsen, und zwar der
Fähigkeit zu tasten oder zu fühlen. Jedoch ist dieser Gedanke
bei Schopenhauer nicht prinzipiell gefafst Was er darüber
Näheres sagt, bewegt sich in bildlicher Darstellung. 3)
Hinsichtlich des Bestandes der blofsen Empfindungen ist eine
Bemerkung Schopenhauers anzuführen, die den oben zitierten
insofern widerspricht, als sie die blofse Sinnesempfindung als ein-
fachen Inhalt darstellt: „Jene specifische Empfindung im Auge,
die sich nicht beschreiben, sondern nur sinnlich nachweisen
läfst^^^) Auf die Ausführungen Schopenhauers über die speziellen
Empfindungen, im besonderen auf seine Farbenlehre kann im
Zusammenhange der vorliegenden Schrift nicht eingegangen
werden.
Es soll vielmehr im folgenden die für das Verständnis
der Lehre Schopenhauers bedeutsame Frage erörtert werden,
wie sich die blofsen Empfindungen in den Zusammenhang des
geistigen Bestandes überhaupt einordnen. Dieselbe hat in
den späteren Schriften Schopenhauers eine etwas andere
Beanwortung gefunden als in den früheren; um dies dar-
zulegen, mögen die einzelnen Schriften in dieser Hinsicht
geprüft werden.
In der ersten Auflage des Satzes vom Grunde, wie auch
in der zweiten Auflage, werden die Sinnesempfindungen in
0 V, 65. ») VI, 22, ähnlich so III, 66. >) V, 55, 56.
*) VI, 35.
Digitized by
Google
27
AnlehnuDg an Kant als das Materiale der ErBcheinnngen anf-
gefabt, auf welches der Verstand seine Tätigkeit richtet, in
der ersten Anfinge aber in engerer Anlehnung an Kant, als
in der zweiten Auflage: In jener heifst es: „Ohne Anwendung
des Verstandes überhaupt bliebe es bei der blofsen Emp-
findang".!) „Durch Anwendung der Kategorien der Subsisteoz,
Realität, Einheit usw.^ ^) auf dieselbe ersteht nun das unmittel-
bare Objekt. Nun wird „von der Veränderung ... im Organ
auf eine Ursache geschlossen, und solche wird im Räume
dahin, von wo ihre Wirkung ausgeht, . . . gesetzt . . . Durch
die Kategorie der Kausalität allein erkennen wir die Objekte
als wirklich, d. i. auf uns wirkend",^) d. h. „es werden die
anderen Objekte als zum Ganzen der Erfahrung so gut als
das unmittelbare gehörend erkannt ".3) „Das unmittelbare
Objekt ist der eigene Leib, die Hand indem sie tastet, das
ÄBge, indem es sieht. Indem der Leib getastet, gesehen usw.
wird, ist er nicht mehr unmittelbares, sondern vermitteltes
Objekt. Das unmittelbare Objekt ist . . . eine unmittelbare im
Gegensatz aller anderen Vorstellungen, welche durch sie
vermittelt sind.^'^) Diese Voraussetzung eines unmittelbaren
Objekts als des Ausgangspunktes für den Übergang zum
vermittelten entspricht der Forderung, dafs der Satz vom
Grunde nur zwischen Objekten, nicht aber zwischen Subjekt
und Objekt statthabe.'^) Das unmittelbare Objekt, das durch
Anwendung der Kategorien der Subsistenz, Realität, Einheit
Qsw., aufser der der Kausalität, auf die blolse Empfindung
erstanden ist, könnte dabei vielleicht als im psychologischen
Sinne gleichbedeutend mit der auf diese Weise zur Vorstellung
erhobenen, insofern also unmittelbar objektiv gewordenen Emp-
findung genommen werden. Im Widerspruch damit steht, dafs
.Schopenhauer gelegentlich in dieser Auflage von dem „unmittel-
baren Objekt im Räume'' redet.
Die Forderung des Ausgehens vom unmittelbaren Objekt
Air den Kausalschlufs auf das vermittelte ist in der ersten
und den folgenden, nur in Unwesentlichem veränderten Auf-
lagen der Welt als Wille und Vorstellung Band I festgehalten.
0 S. 54. *) S. 53. •) S. 54. *) S. 36.
^) S. 67, auch schon Nachlala 3, S. 160, aus dem Jahre 1800.
Digitized by
Google
28
weil die ftlr die Erkenntuislehre SchopenhanerB grandlegeode
Annahme bestehen bleibt, dafs zwischen Subjekt und Objekt
nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung obwalten kann.
Jedoch findet schon hier eine Einschränkung des Ausdrucks
„unmittelbares Objekt", als nur im uneigentlichen Sinne zu
verstehen, statt. „Der Leib ist uns unmittelbares Objekt, d.
h. diejenige Vorstellung, welche den Ausgangspunkt der Er-
kenntnis des Subjekts macht, indem sie selbst mit ihren
unmittelbar erkannten Veränderungen der Anwendang des
Gesetzes der Kausalität vorhergeht und so zu dieser die ersten
Data liefert".») „Man hüte sich aber vor dem greisen Mifs-
Verständnis, dafs, weil die Anschauung durch die Erkenntnis
der Kausalität vermittelt ist, deswegen zwischen Objekt und
Subjekt das Verhältnis von Ursache und Wirkung bestehe;
da vielmehr dasselbe immer nur zwischen unmittelbarem und
vermitteltem Objekt, also immer nur zwischen Objekten statt-
findet".^) „Insofern die blofsen Veränderungen, welche die
Sinnesorgane . . . erleiden, . . . nur für die Erkenntnis da sind
. . ., sage ich, dafs der Leib unmittelbar erkannt wird, un-
mittelbares Objekt ist: jedoch ist hier der Begriff Objekt nicht
einmal im eigentlichsten Sinne zu nehmen: denn durch diese
unmittelbare Erkenntnis des Leibes, . . . steht der Leib selbst
nicht eigentlich als Objekt da ... d. h. als anschauliche
Vorstellung im Raum."^) „Nicht eigentlich", d. i., wie wir
fanden, insofern der Leib, hier das Sinnesorgan, im uneigent-
lichen, d. h. metaphysischen Sinne identisch ist mit der
Sinnesempfindung. Da von den Kategorien in dieser Schrift
nur noch die der Kausalität beibehalten wird, so wird die
psychologische Erklärung des Zustandekommens des unmittel-
baren Objekts, wie wir sie in dem Rahmen der ersten Auflage
des Satzes vom Grunde versuchten, unmöglich. Beiläufig sei
erwähnt, dafs die Begrenzung in dem Gebrauche der Kategorien
schon in der ersten Auflage von Sehn und Farben angelegt
ist, wo von den Kategorien anfser der Kausalität nicht
mehr gesprochen wird; es heifs vielmehr: „Die Anschauung
') 1. Auflage S. 27, 28. 3. Auflage I, 52—53.
') 1. Auflage S. IS. 3. Auflage I, 45.
>} U Auflage S. 29. 3. Auflage I, 53.
Digitized by
Google
20
d. h. die Apprehension einer objektiven Welt, deren Teile
dnreb den Raum getrennt, nnd darch das Gesetz der Kausalität
... verbanden sind ...^.^) Es bleibt daher, soll die Eansal-
beziehnng zwischen Subjekt und Objekt vermieden werden, nur
übrig, der biolsen Empfindung schon den Objektcharakter zu-
zuschreiben. Dieser Gedanke ist zwar in dieser Wendung von
Schopenhauer nicht ausgesprochen, auch wenn er das unmittel-
bare Objekt als eine Vorstellung erklärt. Schopenhauer gelangt
aber zu demselben Ergebnis, dafs die Empfindung als Vor-
BtelluDg anzusehen sei, von einer anderen Seite her, nämlich
vom Standpunkte des Willens aus. „Die blofsen Veränderungen,
welche die Sinnnesorgane durch die ihnen spezifisch angemessene
Einwirkung von aufsen erleiden, sind zwar schon Vorstellungen
za nennen, sofern solche Einwirkungen weder Schmerz noch
Wollast erregen, d. h. keine unmittelbare Bedeutung fUr den
Willen haben, und dennoch wahrgenommen werden, also nur
für die Erkenntnis da sind.'^^) Angelegt ist auch dieser
Gedanke schon in der ersten Auflage von Sehn und Farben:
^Die blofse Empfindung, die allenfalls als Schmerz oder Wohl-
behagen eine Bedeutung in bezug auf den Willen haben konnte,
übrigens aber ein Wechsel bedeutungsleerer Zustände . . .
wäre". 3) Dafs hier die Empfindung als bedeutungsleerer Zu-
stand gedeutet ist, was hier nur heifsen soll, dafs sie keine
„objektive'^ Bedeutung habe, sei vorerst nicht beachtet, sondern
nar, dafs sie in gewissen Fällen den Willen nicht berühre.
Diese Bestimmung, die insofern eine metaphysische ist, als die
Empfindung in Gegensatz gesetzt ist zum Willen, also dem
Ding an sich, kann auch als psychologische gelten, in dem
Sinne, der in der Einleitung der vorliegenden Schrift dar-
gelegt wurde. Wir können somit verstehen, dafs Schopenhauer
ans der negativen, metaphysisch -psychologischen Bestimmung,
dab die Empfindung den Willen nicht berühre, die positive,
erkenntnispsyohologische gewinnt, dafs sie Vorstellung sei. Die
bereits angedeutete Beschränkung dieser Folgerung auf gewisse
SiDsesgebiete wird an einer anderen Stelle der Welt als Wille und
') 1. Auflage S.«26; umgeändert 2. Auflage VI, 34.
^ 1. Auflage S. 28. 3. Auflage I, 53.
") 1. Auflage S. 11. 2. Auflage VI, 21.
Digitized by
Google
30
Vorstellung Band I genauer bestimmt: „Unmittelbar als blofse
Vorstellungen zu betrachten und daher von dem eben Gesagten
auszunehmen, — (dafs Gefühle nicht Vorstellungen zu nennen
seien) — sind nur gewisse wenige Eindrücke auf den Leib,
die den Willen nicht anregen . . . Das hier Gemeinte sind
nämlich die Affektionen der rein objektiven Sinne des Gesichts,
Gehörs und Getastes, wiewohl auch nur, sofern diese Organe
auf die ihnen besonders eigentümliche, spezifische, naturgemäfse
Weise affiziert werden . . . Jede stärkere oder anderartige
Affektion jener Sinneswerkzeuge ist aber schmerzhaft, d. b.
dem Willen entgegen, zu dessen Objektität also auch sie
gehören".»)
In Welt als Wille und Vorstellung Band I kommt noch
eine andere Bestimmung der Empfindung in Betracht, nämlich
eine terminologische. „Da wir im Deutschen noch das ziemlich
(mit Gefühl) gleichbedeutende Wort Empfindung haben, so
würde es dienlich sein, dieses für die körperlichen Gefühle
als eine Unterart in Beschlag zu nehmen." 2) Dafg die körper-
lichen Gefühle für Schopenhauer in das Gebiet des Willens
gehören, geht aus einer Stelle der Freiheit des Willens her-
vor: Das Gebiet des Willens „erstreckt sich bis auf die
körperlichen, angenehmen oder schmerzlichen, und alle zwischen
diesen beiden liegenden zahllosen Empfindungen".') Von diesen
bilden also die Sinnesempfindungen eine Unterart, wenngleich
sie zum Teil in das Gebiet des Willens nicht hinein gehören.
Der Ausdruck „unmittelbares Objekt" ist schon in der
ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung Band II
vermieden; ebenso in den Zusätzen der zweiten und dritten
Auflage der Kritik der Kantischen Philosophie. In der
zweiten Auflage des Satzes vom Grunde kehrt die Re-
striktion in Bezug auf den Ausdruck „unmittelbares Objekt"
wieder; im übrigen ist dieser gleichfalls vermieden. Auch in
den Parerga und Paralipomena kehrt er nicht wieder. In
der zweiten Auflage der übrigen Werke findet er sieh nur
noch in Sehn und Farben, an einer Stelle, wo er anch in
0 1. Auflage S. 149. 3. Auflage 1, 152.
>) 1. Auflage S. 78. 3. Auflage I, 93*
•) III, 392.
Digitized by VjOOQ IC
31
der ersten Auflage schon enthalten ist,*) während er an anderen
Stellen der zweiten Auflage von Sehn und Farben, wo er in
der ersten Auflage vorkommt, fortgefallen ist 2)
Die Vermeidung dieses Ausdruckes in den genannten
Schriften steht im Zusammenhang damit, dafs auch die
Bezeichnung der Empfindung als Vorstellung in diesen Schriften
fehlt: in der zweiten und dritten Auflage der Kritik der
Kantigehen Philosophie, in der ersten und zweiten Auflage
der Welt als Wille und Vorstellung Band II, in der zweiten
Auflage des Satzes vom Grunde in Parerga und Paralipomena
nnd auch in den späteren Auflagen der anderen Schriften
anber Welt als Wille und Vorstellung Band I ist er aus-
gefallen, — was ich durch eine mehr zeitraubende als frucht-
briDgende Arbeit festgestellt habe.
In der Tat ergibt sich aus Welt als Wille und Vorstellung
Band 11 und der zweiten Auflage der Kritik der Kantischen
Philosophie in erster Linie, dafs die Empfindung nicht mehr
Vorstellung genannt werden kann: „Nach Kant . . . wäre der
Eindruck, für den allein wir blofse Receptivität haben, der
also von Aufsen kommt und allein eigentlich „gegeben" ist,
Bchon eine Vorstellung, ja sogar schon ein Gegenstand. Er
ist aber nichts weiter, als eine blofse Empfindung im Sinnes-
organ, und erst durch Anwendung des Verstandes . . . und der
Ansehauungsformen des Baumes und der Zeit wandelt unser
Intellekt diese blofse Empfindung in eine Vorstellung um ".3)
Entsprechend heifst es in Welt als Wille und Vorstellung
Band II „Beim Sehen tritt der Verstandesakt . . . keineswegs
iog deutliche Bewufstsein: daher sondert sich die Sinnes-
empfindong nicht von der aus ihr, als dem rohen Stoff, erst
vom Verstände gebildeten Vorstellung. Noch weniger kann
ein Überhaupt nicht statthabender Unterschied zwischen Gegen-
stand und Vorstellung ins Bewufstsein treten".^)
Es werde zuerst festgestellt, was an die Stelle der Be-
stimmung der Empfindung ab einer Vorstellung tritt
An einigen Stellen läfst Schopenhauer die Empfindung
unbestimmt und sagt schlechthin: „Diese Empfindung bezieht
») 1. Auflage S. 18. 2. Auflage VI, 22.
^ 1. Auflage S. 22. 2. Auflage VI, 31 nnd 1. Auflage S. 26. 2. Auf-
lage VI, 33. ») I, 560. *) n, 32.
Digitized by VjOOQ IC
S2
der Verstand . . ." *) „Erkenntnis der Kausalität, welche die
blofse Empfindung in objektire, empirische Anschauung ver-
wandelt." 2) „Die zu der gegebenen Empfindnng vorausgesetzte
Ursache . . ." ») „Übergang von der Empfindung zu ihrer Ur-
Ursache"*) „Der Eindruck ... ist nichts weiter als eine blofse
Empfindung im Sinnesorgan."^)
An anderen Stellen charakterisiert er die blofse Empfindung
als „unmittelbar wahrgenommen": „In den objektiven Sinnes-
organen (Gesicht, Gehör) werden die ihnen angemessenen, höchst
zarten Affektionen empfunden . . . (so,) dafs sie als an sich
gleichgültige, blofs wahrgenommene Empfindungen ins Bewofst-
sein treten." <^) „Die Wahrnehmung seiner Empfindungen eine
schlechthin unmittelbare." ^) „Die diesem [der Anschauung des
Körpers] vorhergegangene unmittelbare Wahrnehmung (der
Farbe) . . ."^) „Unmittelbar steht im Gegensatz zu der Ver-
mittlung durch den Verstand, enthält also nur eine negative Be-
stimmung. Der Ausdruck „wahrnehmen" wird von Schopenhauer
in doppelter Weise angewandt. Erstlich, um einen Gegensatz
zum Empfinden zu bezeichnen. Dann bedeutet er : wahrnehmen
äufserer Objekte; so in der zweiten Auflage des Satzes vom
Grunde, wo Schopenhauer an Kant rügt, dass dieser „Wahr-
nehmung und Empfindung geradezu identifizire".*) In derselben
Schrift heifst es, dafs „die Empfindungen der Ausgangspunkt
aller Wahrnehmungen" seien, ^o) la Parerga und Paralipomena
Band IL ferner: „Die Empfänglichkeit . . . wird zur Empfindung,
begleitet von der Fähigkeit, diese auf ihre Ursachen zu be-
ziehen und so am Ende zur Wahrnehmung." ^^ Wenn aber
die blofse Empfindung als unmittelbar wahrgenommene ge-
kennzeichnet wird, so ist hier „wahrnehmen" in einem
weiteren Sinne gebraucht. Es fügt offenbar zur blofsen „Emp-
findung" kein neues Merkmal hinzu und ist daher mit
„empfinden" gleichbedeutend. Der Ausdruck „bloss wahr-
genommene Empfindung", ist, wie deutlich aus einer der an-
geführten Stellen 1^) hervorgeht, nur gesetzt, um das Nicht-
bertthren des Willens zum Ausdruck zu bringen.
*) I, 575. •) II, 19. 4) II, 19, iOuÜich so U, 50.
•) n, 321, ähnlich so H, 322. *) IH, lül. «) VI, 54.
»•) m, 103. ") V, 55, 56. ") U, 321.
0 1,567.
») 1,560.
•) ni,97
Digitized by
Google
33
Wenn die Empfindang nicht mehr VorstellaDg genannt
werden kann, so liegt der Gedanke nahe, sie als Gefühl zu
bestimmen. Dies geschieht in der 2. Auflage des Satzes vom
Grande: „Selbst in den edelsten Sinnesorganen ist sie (die
blolse Empfindang) nichts mehr als ein lokales, spezifisches
innerhalb seiner Art einiger Abwechslung fähiges, jedoch an
sich selbst stets subjektives Gefühl.^ ^ Ähnlich so in der 2.
Auflage Yon Sehn und Farben: ^Man kann jede Sinnesempfindung
ansehen als eine Modifikation des Tastsinnes, oder der ttber
den ganzen Leib verbreiteten Fähigkeit zu fühlen.''^) Beide
Stellen sind je in der 2. Auflage dieser Schriften zugefügt.
Dies kann wohl als eine weitere Bestätigung dafür angesehen
werden, dals Schopenhauer sie bewufsterweise hier als Gefühle
in Anspruch nimmt. Wenn nun aber die blofsen Empfindungen
in das Gebiet des Fühlens hineingehören, so können wir folgern,
daffl sie damit auch in das Gebiet des Willens hineinfallen;
denn dieses erstreckt sich: „bis auf die körperlichen angenehmen
oder schmerzlichen, und allen zwischen diesen beiden liegenden
zahllosen Empfindungen ; da das Wesen aller dieser Affektionen
darin besteht, dafs sie als ein dem Willen gemäfses, oder ihm
Widerwärtiges , unmittelbar ins Selbstbewufstsein treten." ^)
Daraus erwächst nun eine Schwierigkeit für die Interpretation
der für die objektiven Sinne geltenden Einschränkung, die wir
in Welt als Wille und Vorstellung Band I. 1. Auflage kennen
gelernt haben, und die auch in den späteren Schriften Schopen-
hauers beibehalten ist, nämlich dafs sie den Willen „eigentlich
unberührt lassen"^) und empfunden werden, „ohne an sich selbst
und unmittelbar den Willen zu affiziren.'^^) „Unmittelbar '^y das
ist im Gegensatz zu einer Vermittlung auf dem Wege des Vor-
stellens. „TJneigentlich" gehören sie zum Willen nur im meta-
physischen Sinne in eben der Weise, wie auch das Vorstellen
im metaphysischen Sinne in das Gebiet des Willens gehört.
An anderer Stelle erscheint der Unterschied zwischen den
niederen und höheren Sinnen als ein gradueller: „Die beiden
niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, sind schon nicht
mehr frei von einer unmittelbaren Erregung des Willens, das
0 in, 66. «) VI, 22. ») III, 392. *) II, 36.
») II, 321.
PhilosopliiMli« AbhAndloBgen. XXXV. 3
Digitized by
Google
34
heifst, sie werden stets aogeDehm oder aDangeDehm affizirt,
sind daher mehr subjektiv als objektiv.'^ ^ Sie sind mehr
subjektiv als objektiv, das ist genau ausgedruckt : es kommt
ihnen die sabjektiv-objektive Beziehung, die den Vorsteliongs-
eharakter ausmacht, in weniger deutlichem Mafse zu als den
höheren Sinnen. Diese sind objektiver, weil sie mehr nach
dem Gebiete des Vorstellens hin liegen, jene subjektiver, weil
sie mehr nach dem Gebiete des Fohlens und somit des Willens
hin liegen.
Die Sinnesempfindungen der objektiven Sinne werden also
einmal charakterisiert im Unterschiede von den Vorstellangen,
anderen Orts aber im Unterschied von denjenigen Sinnes-
empfindungen, die den Willen nicht unberührt lassen. Dort
werden sie zu den Gefühlen gerechnet, um sie von den Vor-
stellungen zu scheiden, hier werden sie aus dem Gebiete des
Willens ausgeschieden, um ihre Fähigkeit, Vorstellung zu werden,
zu motivieren; denn „so verlangt es der Primat des Willens.*^
Es mttfste ihnen daher eine Sonderstellung zugesprochen werden,
wenn dies nicht im Widerspruch stände mit der „Duplizität
unsers Wesens", das aus Wille und Vorstellung besteht
Wir können als das Resultat unserer bisherigen Unter-
suchung ttber die blofsen Empfindungen feststellen, dafs in den
Schriften und Ausgaben, die nach der 1. Auflage der Welt
als Wille und Vorstellung Band I. liegen, [die 2. and 3. Auf-
lage von Welt als Wille und Vorstellung natürlich ausgenommen]
die Empfindungen nicht mehr als Vorstellungen genommen
werden, dafs aber im übrigen ihre Stellung in dem Gesamt-
bereiche des psychologischen Bestandes undeutlich bestimmt
bleibt.
Die erkannte Schwierigkeit ist von Bedeutung für die
Frage, in welchem Sinne die Empfindung subjektiv genannt
werden könne, wenn es heilst, dafs aus ihr der Verstand die
objektive Anschauung mache. Zum Zweck der Beantwortung
dieser Frage seien einige Bemerkungen terminologischer Art,
betreffend den Gebrauch der Worte subjektiv und objektiv
bei Schopenhauer, vorausgeschickt, und zwar zunächst unter
0 II, 88.
/Google
Digitized by ^
35
BerüeksiebtigUDg der Fälle, in denen die Empfindang nicht
in Betracht kommt
Eine erkenntnistheoretische Scheidung ist gegeben in der Be-
ziehuDg von Subjekt nnd Objekt, die den Inhalt des Begriffs Vor-
stellnng ausmacht: „Das Zerfallen in Objekt und Subjekt ist die
erste, allgemeinste und wesentlichste Form der Vorstellung^. ^)
In transcendenter Beziehung steht subjektiv im Gegensatz
ZQ dem Ding an sieh des empirischen Objektes: „Der Ursprung
des Kausalgesetzes ist ebenso subjektiv wie die Sinnesempfin-
dang . . ., und dann ist klar, dafs wir damit stets im Sub-
jektiven bleiben . . . Auch die Formen Raum und Zeit sind
wieder ganz subjektiven Ursprungs . . . Jener Übergang von
der Sinnesempfindung zu ihrer Ursache, der . . . aller Sinnes-
anschaunng zu Grunde liegt, ist zwar ausreichend, uns die
empirische Gegenwart eines empirischen Objektes anzuzeigen . . .,
aber er reicht keineswegs aus, .uns Aufschlnfs zu geben über
dag Dasein und Wesen an sich der auf solche Weise fUr uns
entstehenden Erscheinungen oder vielmehr ihres intelligibeln
Substrats.^ ^ Empfindung, Raum, Zeit, Kausalität und somit
aneh das empirische Objekt sind also subjektiv im Gegensatz
ZQ dem Ding an sich des empirischen Objekts, d. i. zu dem
im transeendenten Sinne aufser uns Vorhandenen.
Von gewechseltem Standpunkt aus heilst es an anderer
Stelle umgekehrt, aber gleichfalls im transeendenten Sinne:
„Der Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung
läÜBt sich ausdrucken als der zwischen dem subjektiven und
objektiven Wesen eines Dinges: Sein rein subjektives Wesen
ist eben das Ding an sich^.^)
Psychologisch und transcendent deutbar ist subjektiv an
folgender Stelle: „Alles Objektive, alles [empirisch] Äufsere,
da es stets nur ein Wahrgenommenes, Erkanntes ist, bleibt
aneh immer nur ein Mittelbares und Sekundäres, kann daher
sebleehterdings nie der letzte Erklärungsgrund der Dinge oder
der Ausgangspunkt der Philosophie werden. Diese nämlich
verlangt notwendig das schlechthin Unmittelbare zu ihrem
Ausgangspunkt: ein solches aber ist ofienbar nur das dem
Selbsthewulstsein Gegebene, das Innere, das Subjektive.'^ ^)
>) I, 60. *) II, 19, ähnlich so II, 223 und II, 357.
^) V, 105. *) II, 367.
3*
Digitized by
Google
Insofern dieses Subjektive ein durch das Selbstbewofstsein
Gegebenes ist, steht es im psychologischen Gegensatz zur Vor-
stellang des äufseren Objekts; insofern es von Schopenhauer
metaphysisch gedeutet wird, im transeendenten Gegensatz zum
äufseren Objekt als Erscheinung, analog dem zweiten oben
erörterten Falle.
In welchem Sinne ist nun die Empfindung subjektiv, wenn
aus ihr der Verstand die objektive Anschauung macht? Aus-
geschlossen ist nach dem bisher Erörterten, dafs hier der Ge-
gensatz zwischen dem Subjektiven und Objektiven in dem
erkenntnistheoretischen Sinne zu nehmen sei, wie wir ihn in
der Definition der Vorstellung fanden: „Man hüte sieh vor
dem grofsen Mifsverständnis, dafs, weil die Anschauung dnreh
die Erkenntnis der Kausalität vermittelt ist, deswegen zwischen
Objekt nnd Subjekt das Verhältnis von Ursache und Wirkung
bestehe." i) Die Lehre, dafs der Satz vom Grunde immer nur
zwischen Objekten statthabe, bleibt auch fttr die späteren
Schriften Schopenhauers als ein wesentliches Grundstück seiner
Lehre bestehen.
Auch ein Gegensatz im transeendenten Sinne ist nicht
angängig; denn der Satz vom Grunde, weil beschränkt auf
das Gebiet des Vorstellens, gilt nicht fttr die Beziehung
des Dinges an sich zur Erscheinung oder umgekehrt Der
Gegensatz zwischen subjektiver Empfindung and objek-
tiver Anschauung kann erkenntniskritisch betrachtet werden,
d. h. es kann gefragt werden, welche Geltung das objektiv
Angeschaute fttr unsere Erkenntnis des Dinges an sich
habe. Da aber findet sich vom Standpunkt Schopenhauers
aus, das durchaus negative Resultat, dafs in der objek-
tiven Anschauung kein Hinweis auf etwas Transcendentes
enthalten sei.^)
Der Gegensatz zwischen subjektiver Empfindung nnd ob«
jektiver Anschauung ist somit lediglich ein psychologischer.
Prüfen wir, in welchem speziellen Sinne ein psychologischer
Gegensatz in Betracht kommen kann. Dieser kann nicht
innerhalb des Gebietes der Vorstellung liegen; denn die blofse
Empfindung kann, wie wir fanden, nicht als Vorstellung ange-
*) I, 45. «) m, 99.
/Google
Digitized by ^
87
sehen werden. Es bleibt nur die Annahme ttbrig, dafs der
Gegensatz zwischen subjektiver nnd objektiver Ansehannng
zosammenfalle mit dem psychologischen Gegensatz der Emp-
findung als körperlichem Gefbhl, [abgesehen von dessen meta-
physischer Bedeatnng, nämlich ihrer Zugehörigkeit zum Willen
ab Ding an sich] nnd der ans ihr gebildeten Vorstellung.
Di^er Annahme aber steht entgegen die Forderung, dafs der
Satz Yom zureichenden Grunde nur innerhalb des Gebietes der
Vorstellung Geltung habe: „Der Satz vom zureichenden Grunde
drückt die Verbindung unserer Vorstellungen untereinander
aus.« 1)
Es möge aber im folgenden der Versuch einer Zurecht-
legang dieses Mifsverhältnisses gemacht werden: Die Vor-
stellnng, zu der die blofse Empfindung im Gegensatz steht,
könnte vielleicht als Vorstellung im engeren Sinne genommen
werden, in der Weise, dafs sie mit der blofsen Empfindung
als Vorstellung im weiteren Sinne zu vereinigen wäre.
Schopenhauer setzt an einigen Stellen „Objekt" im engeren
Sinne fbr empirisches Objekt: „alles Objekt, also das em-
pirisch Reale überhaupt." 2) Entsprechend könnte, da „Objekt-
sein" und „unsere -Vorstellungsein" dasselbe ist, auch Vor-
stellnng im engeren Sinne gebraucht sein, so dafs die Vor-
Btellong im engeren Sinne, d. i. die anschauliche Vorstellung,
mit den drei übrigen Klassen von Vorstellungen zusammen
das Gebiet der Vorstellung im weitesten Sinne ausmachten.
Die blofse Empfindung könnte ihrerseits vielleicht als eine
Vorstellung der vierten Klasse genommen werden: „Das Sub-
jekt erkennt den Willen auch nur wie die Aufsendinge an
seinen Äufserungen, also an den einzelnen Willensakten und
sonstigen Affektionen, die man unter dem Namen der Wünsche,
Affekte, Leidenschaften und Gefühle begreift, folglich erkennt
es ihn immer noch als Erscheinung ..." 3) Wir könnten
daraus ableiten, dafs die blofsen Sinnesempfindungen, als Ge-
ftkle, auch als Erscheinungsformen des Willens, und somit als
Vorstellungen der vierten Klasse angesehen werden müfsten.
Wir würden damit zu einer Annahme gelangen, die der ur-
sprüngiichen Meinung Schopenhauers entspräche, dafs „die
0 m, 40. . ») II, 15, ähnUch so I, 86, II, 431. •) V, 54.
/Google
Digitized by ^
38
blofse EmpfinduDg schon Yorstellnng zu nennen sei", die Bich
aber von jener dadarch nnterschiede, dafs dort die Empfin-
dung Yorstellnng genannt wurde, weil sie „keine unmittelbare
Bedeutung für den Willen habe",^) hier aber so genannt
wttrde, weil sie Äufserung des Willens wäre. Der Übergang
des Verstandes von der subjektiven Empfindung zu der ob-
jektiven Anschauung wttrde bei dieser Zurechtlegung inner-
halb des Gebietes der Vorstellung bleiben.
Dieser Gedanke findet sich bei Schopenhauer nicht aus-
gesprochen, sondern ist nur mit Mtthe in der angefUhrten
Weise herauszuentwickeln. Er mufs schon aus diesem Grunde
als ein nachträglicher Versuch einer Harmonisierung bestehen-
der Widersprüche bezeichnet werden.
Auch zieht er andere Widersprüche nach sich. Wir fan-
den, dafs die Stellung der mehr objektiven Sinnesempfindungen
bei Schopenhauer undeutlich bestimmt ist Es ist zweifelhaft
ob sie, wenn sie den Willen nicht wie die übri^n Empfin-
dungen unmittelbar berühren, noch wie diese als Aufserungen
des Willens angesehen werden können.
Femer würde die abgeleitete Annahme voraussetzen, dafs
das Gesetz der Kausalität statthabe zwischen Vorstellungen
verschiedener Klassen. Es würde dann ein analoges, wenn-
gleich umgekehrtes Verhältnis vorliegen, wie für das Gesetz
der Motivation, das zwischen einer Vorstellung nnd einem
Willensakte gilt: „Wir wissen aus der an uns selbst ge-
machten inneren Erfahrung, dafs (das Innere der Bewegungen
und Handlungen der Menschen) ein Willensakt ist, welcher
durch das Motiv, das in einer blofsen Vorstellung besteht,
hervorgerufen wird." 2) Nun aber ist der Geltungsbereich der
Kausalität bei Schopenhauer enger begrenzt: Das Kausalitäts-
gesetz „bezieht sich allein und ausschliefslich auf Verände-
rungen materieller Zustände und schlechterdings auf nichts
anderes",^) und „die ganze Kausalität ist nur die Gestalt des
Satzes vom Grunde in der ersten Klasse der Objekte, also in
der in auf serer Anschauung gegebenen Körperwelt". ^)
Erweist sich aber auch so die versuchte Annahme als un-
zulänglich, so findet sich offennbar keine Möglichkeit, den
») I, 53. •) ni, 162. ») III, 49. ") III, 161
«
, Google
Digitized by ^
39
Übergang des Verstandes von der subjektiven Empfindung znr
Objektiren Anschauung vom Standpunkte Schopenhauers aus
psychologisch begreiflich zu machen, weil ein solcher Versuch,
wie wir fanden, mit grundlegenden Sätzen seiner Lehre in
Widerspruch gerät.
Eine andere Frage ist die, wie der Übergang des Ver-
standes von der subjektiven Empfindung zur objektiven An-
schauung im Zusammenhange der Lehre Schopenhauers sich
darstelle, eine andere die, wie er sich dem geistigen Auge
Schopenhauers in der Tat dargestellt habe. Letztere seheint
anf folgendem Wege eine Beantwortung zu finden.
Schon in Welt als Wille und Vorstellung, Band I, 1. Auf-
lage, wo die Einschränkung des Ausdrucks ,,unmittelbares
Objekt", sieb schon findet,') bleibt dieser Ausdruck, ersicht-
nicht im uneigentlichen Sinne angewandt, bestehen. „Ihre
(der Materie) Einwirkung auf das unmittelbare Objekt, das
selbst Materie ist, . . ."2) Wir stellten fest, dafs in den
späteren Schriften der Gebrauch des Ausdruckes fast ganz
zurücktritt. Dennoch aber wird er in einem Zusammenhange,
^0 er, im uneigentlichen Sinne gebraucht, bedeutungslos wäre.
Dämlich Sehn und Farben, 2. Auflage, gesetzt. Hier werden
mar an einigen Stellen, wo in der 1. Auflage „unmittelbares
Objekt^ steht, andere Ausdrucke gebraucht, so statt „Affektion
des unmittelbaren Objektes" „empfundene Affektionen", 3) statt
rUnmittelbare Objekte" „Sinne",*) statt „Affektion" „emp-
fundene Affektion", ^) was alles anf eine psychologisch ge-
änderte Betrachtungsweise hindeutet. Aber es bleibt der Satz:
nMittelst derselben (der Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität)
werden die Empfindungen des Leibes der Ausgangspunkt ftlr
die Anschauung einer Welt, indem nämlich das a priori uns
bewnJste Gesetz der Kausalität angewandt wird auf das Ver-
hältnis des unmittelbaren Objekts, des Leibes, zu den anderen
nur mittelbaren Objekten." e)
0 1. Auflage S. 29. 3. Auflage I, 53.
^ 1. AnfUge S. 11. 3. Auflage I, 40.
>) 1. Auflage S. 22. 2. Auflage VI, 31.
*) 1. Auflage S. 26. 2. Auflage VI, 34.
>) 1. Auflage S. 22. 2. Auflage VI, 31. •) VI, 22.
Digitized by
Google
40
Schwerwiegender noch als dies ist, dafs der Verstand znr
Bestimmung des Ortes des Objekts im Ranme sich der Bei-
hilfen bedient, die in den Empfindungen selbst liegen, und die
in Wirklichkeit nur physiologische Verhältnisse sind, von denen
die Empfindungen ein Bewufstsein liefern sollen.
Die angeführten Momente, zusammen mit der Unmöglich-
keit einer psychologischen Erklärung, drängen den Gedanken
auf, dafs Schopenhauer, indem er sagt, der Verstand schaffe
aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung, in
der Tat einen Übergang vom Sinnesorgan zum äufseren Objekt
vor Augen habe. So wird verständlich, wie Schopenhauer dazu
kommt, statt „des Ausgehens von der Empfindung'' unbedenklich
„das Ausgehen von dem unmittelbaren Objekt d. i. dem Leib''
zu setzen; sodann auch, dafs der Verstand fUr die Anordnung
des Objekts im Räume in der Gesichtsempfindung gewisse
Beihilfen findet: Indem Schopenhauer Gesichtsempfindung sagt,
hat er die Retina und damit die physiologischen Eigentümlich-
keiten des Auges vor seinem geistigen Blick. Von hier ans
fällt auch ein Licht auf den Ausdruck, der uns in der ersten
Auflage des Satzes vom Grunde begegnet ist, nämlich „das
unmittelbare Objekt im Räume". 0
Diese Anschauungsweise Schopenhauers ist freilich mit
den Grundzttgen seiner Theorie nicht vereinbar; denn die
Identität von Sinnesempfindung und Erregung im Sinnesorgan
ist, wie wir nachwiesen, fttr Schopenhauer nur eine meta-
physische. Jenes Einfliefsen physiologischer Daten als psycho-
logischer erscheint also, vom Standpunkte der Lehre Schopen-
hauers aus gesehen, als ein unberechtigtes Ineinssetzen des
metaphysisch Identischen mit einem fttr das Bewufstsein Iden-
tischen.
Endlich verstehen wir von diesem Gesichtspunkte aus
auch, dafs die Frage nach der Einordnung der blofsen Emp-
findung in den Bestand des psychologisch Fafsbaren für
Schopenhauer keine sehr brennende ist. Der von der An-
schauung erfüllte Denker hat als selbstverständliche Tatsache
zunächst vor Augen, dafs die Empfindung im Sinnesorgan sei,
und der Verstand von diesem aus den Übergang zum äufseren
0 1. Auflage des Satzes vom Qrande S. 53.
Digitized by
Google
41
Objekt mache. Nachträgliche theoretische Erwägungen lassen
ihn dann sagen, dafs das nnmittelbare Objekt nnr im nneigent-
liehen Sinne zu nehmen sei, dafs die Empfindung „noch nicht
Vonitellung genannt werden könne^^ und dafs „die rein ob-
jektiven Sinne den Willen unberührt lassen". Eine rein psycho-
logische Betrachtungsweise dieser Verhältnisse liegt Schopen-
hauer im Grunde fern.
YL Die formalen Bestandteile der
empirischen Anschauung.
Materie. Körper. Naturkraft. Naturgesetz.
Der Gang unserer Darstellung führt uns zu den formalen
Bestandteilen der empirischen Anschauung. Als solche nennt
Schopenhauer im Satz vom Grunde i) im Anschlufs an Kant
Zeit und Raum, zu denen als weitere subjektive Bedingung
die Kausalität kommt. Schon in der ersten Auflage der
Welt als Wille und Vorstellung, Band I, und vielfach später-
hin nennt Schopenhauer als Formen der empirischen An-
schauung schlechthin Zeit, Raum und Kausalität, ohne dafs
mit diesem etwas anderen Sprachgebrauch Sachliches geändert
würde. Im Unterschied von der ersten Auflage des Satzes
vom Grunde ist in den Schriften von der ersten Auflage der
Welt als Wille und Vorstellung, Band I, an die Kausalität die
einzige Kategorie, die von den zwölf Kategorien Kants bei-
behalten wird. Näheres darttber siehe in dem Abschnitt der
?orliegenden Schrift ttber „Die blofsen Empfindungen ^^
Über den Ursprung dieser Formen ist zunächst das, was
in metaphysisch-psychologischem Sinne gesagt wird, in Er-
innerung zu bringen. Wir haben es im Zusammenhange mit
den Empfindungen schon erörtert.
Psychologisches erfahren wir über den Ursprung dieser
Fonnen folgendes: „Die wesentlichen und daher allgemeinen
0 UI, 41. 1. Auflage S. 29.
Digitized by VjOOQ IC
42
Formen alles (änfsereD) Objekts, welche Zeit, Raum und
Kausalität sind, können auch ohne die Erkenntnis des Objekts
selbst, vom Snbjekt ausgehend gefunden und vollständig er-
kannt werden, d. h. in Kants Sprache, sie liegen a priori in
unserm Bewufstsein.^ ^) „Sie sind ihrer ganzen Gesetzmäfsig-
keit und der Möglichkeit ihrer Formen nach, in unserem Be-
wnfstsein vorhanden, ganz unabhängig von den Objekten, die
in ihnen erscheinen, die ihren Inhalt ausmachen, oder mit
anderen Worten: sie können ebensowohl, wenn man vom
Subjekt, als wenn man von dem Objekt ausgeht, gefunden
werden/'^) „Sie mttssen schon mit dem blofsen Gegensatz
von Subjekt und Objekt (nicht im Begriff, sondern in der
Tat) gegeben sein, folglich nur die nähere Bestimmung der
Form der Erkenntnis überhaupt sein, deren allgemeinste Be-
stimmung jener Gegensatz selbst ist/^ ^) Zeit und Raum
„sind als reine Anschauungen fttr sich und abgesondert
von den vollständigen Vorstellungen . . . Gegenstände des
Vorstellungs Vermögens ".4) ,. Hingegen ist die Verstandesform
der Kausalität nicht für sich und abgesondert ein Gegen-
stand des Vorstellungsvermögens, sondern kommt erst mit
und an dem Materiellen der Erkenntnis ins Bewufstsein." ^)
Sie ist ein „Gesetz, dessen bestimmten Inhalt die Er-
fahrung gelehrt hat, dessen allgemeine Form und Not-
wendigkeit jedoch unabhängig von ihr uns bewufst ist".«) In
der Annahme der Apriorität des Raumes und der Zeit stützt
sich Schopenhauer auf Kant: „Die Zeit, die erste Bedingung
der Möglichkeit jeder Veränderung, also auch der, auf deren
Anlafs die Anwendung des Kausalitätsbegriffs erst eintreten
kann, nicht weniger der Raum, welcher das Nach -aussen-
verlegen einer Ursache . . . allererst möglich macht, ist, wie
Kant sicher dargetan hat, eine subjektive Form des In-
tellekts".7)
Den von Kant aufgestellten Beweis der Apriorität des
Kausalgesetzes bestreitet Schopenhauer: „Wirklich liegt in der
Notwendigkeit eines von der empirisch allein gegebenen Sinnes-
empiindung zur Ursache derselben zu machenden Überganges,
^) I, 36. «) I, 174. ») I, 175. *) m, 147.
») III, 148. •) I, 147. ') III, 98.
Digitized by
Google
48
damit es znr AuBchaniing der Aafsenwelt komme, der einzige
echte Beweiflgrand dayon, dafs das Gesetz der Kausalität vor
aller Erfahrung uns bewnfst ist. Daher habe ich diesen
Beweis dem Eantischen substitnirt, dessen Unrichtigkeit ich
dargetan hatte ^.i) Zu diesem auf eine logische Tatsache, die
Denknotwendigkeit der Beziehung zwischen Wirkung und
Ursache, gestützten Beweise tritt in Welt als Wille und Vor-
stellung Band II ein physiologischer Nachweis: „Physiologische
Bestätigung erhält die hier dargelegte Intellektualität der
Anschauung durch Flourens . . .'^^) In der Wtlrdigung der
historischen Grundlagen der von uns behandelten Lehre Schopen-
hauers werden wir auf diesen Punkt näher eingehen.
Über den Bestand dieser Formen ist im allgemeinen dies
ZQ sagen: Die reinen Anschauungen Zeit und Kaum machen
die dritte Klasse der Gegenstände für das Yorstellnngs-
vermögen aus.
Auf dieselben und die in ihr herrschende Form des Satzes
vom Grunde näher einzugehen, würde den Rahmen dieser
Schrift ttberschreiten.
Über den Bestand der dritten Form, die Kausalität, ist
zunächst zu bemerken: Die Kausalität ist ein Gesetz, „dessen
bestimmten Inhalt die Erfahrung gelehrt hat, dessen allgemeine
Form und Notwendigkeit jedoch, unabhängig von ihr uns
bewnist ist".^) Als solche ist sie keine Anschauung, aber auch
kein Begriff im eigentlichen Sinne, sondern nimmt als Funktion
des Verstandes eine Sonderstellung ein. Dafs sie auch kein
Begriff sein soll, geht aus folgenden Stellen hervor: „Diese
Beziehung (zwischen Ursache und Wirkung) ist kein Schlufs
in abstracten Begriffen, geschieht nicht durch die Reflexion
. . . sondern unmittelbar ... Sie ist die Erkenntnisweise des
reinen Verstandes".*) „Die Verstandesoperation ist keine
diskursive, reflexive, in abstracto, mittels Begriffen und Worten
vor sich gehende, sondern eine intuitive und ganz unmittel-
bare."^) „Das Gesetz der Kausalität ist als abstracter Grund-
99tz freilieh, wie alle Grundsätze in abstracto, Reflexion, also
Objekt der Vernunft: Aber die eigentliche lebendige, un-
0 n, 49. . •) DI, 90. ») 1,147. *) I, 48. ») lU, 67.
/Google
Digitized by ^
44
vermittelte, notwendige Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität
geht aller Reflexion wie aller Erfahrung vorher nnd liegt
im Verstände." 1)
Nach diesen Erörterungen erttbrigt eine solehe über den
psychologischen Zusammenhang dieser Formen untereinander.
Da dieser bei Schopenhauer aus ihren logischen Beziehungen
abgeleitet ist, so ist es notwendig, diese zuerst zu erörtern.
Diese logischen Beziehungen gelangen in folgendem zum
Ausdruck: „Das Gesetz der Kausalität erhält seine Bedeutung
und Notwendigkeit allein dadurch, dafs das Wesen der Ver-
änderung nicht allein im blofsen Wechsel der Zustände an
sich, sondern vielmehr darin besteht, dafs an demselben Ort
im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein anderer, und
zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser Zustand
und dort jener: Nur diese gegenseitige Beschränkung der Zeit
und des Raumes durcheinander gibt einer Regel, nach der die
Veränderung vorgehen mufs, Bedeutung und zugleich Not-
wendigkeit. Was durch das Gesetz der Kausalität bestimmt
wird, ist also nicht Sukzession der Zustände in der blofsen
Zeit, sondern die Sukzession in Hinsicht auf einen bestimmten
Raum, und nicht das Dasein der Zustände an einem bestimmten
Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die
Veränderung, d. h. der nach den Kausalgesetz eintretende
Wechsel, betrifft also jedesmal einen bestimmten Teil des
Raumes imd einen bestimmten Teil der Zeit zugleich und im
Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit
der Zeit." 2) Letzterer Satz, wenn er im logischen Sinne und
wörtlich genommen wird, ist gleichbedeutend mit dem Satze:
Der Begriff der Kausalität enthält als eines seiner Merkmale
die Beziehung des Nebeneinander zum Nacheinander. Nun
aber sind, was in die Beziehung von Ursache und Wirkung
gesetzt wird, die Veränderungen. Die Veränderung begreift
eine Beziehung des Nebeneinander zum Nacheinander. Aber
diese ist keine kausale. Also kann nicht gefolgert werden,
dafs der Begriff Kausalität die Beziehung von Raum und Zeit
enthalte, in diesem Sinne Raum und Zeit vereinige. Im
>} VI, 22 (1. Auflage von Sehn und Farben S. 18). >) 1, 41.
Digitized by VjOOQ IC
45
logisehen Sinne also genommen, enthält der besprochene Satz
eine Ungereimtheit Dagegen ist er, yom Standpunkte Sehopen-
haners aas im psychologischen Sinne genommen, zu verstehen:
Die Kausalität, gemeint ist der Verstand, bezieht die Ursache,
die er zur blofsen Empfindung als der Wirkung setzt, auf
Raum und Zeit; er verknüpft räumliche und zeitliche Be-
stimmungen in der Vorstellung des äufseren Objekts. Nun
aber schiebt sieh in der Tat an der angeführten Stelle und
in der weiteren Deduktion der genannte Satz als in logischem
Sinne genommen unbesehen unter, was auch von Bedeutung
für den Begriff Materie ist.
Die logischen Beziehungen von Raum, Zeit und Kausalität
fliefsen zusammen in dem Begriff Materie. Die Merkmale
dieses Begriffes werden in folgenden Gedankenreihen ab-
geleitet:
Die erste Gedankenreihe stellt sich dar als eine Deduktion
aas dem Begriffe der Kausalität.
„Wer diejenige Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche
den Inhalt jener Formen (der Zeit und des Baumes), ihre
Wahrnehmbarkeit, d. i. die Materie, beherrscht, also das Gesetz
der Kausalität erkannt hat; der hat eben damit das ganze
Wesen der Materie als solcher erkannt: Denn diese ist durch
und durch nichts als Kausalität.** >) Dieser Satz ist ab-
geleitet aus folgendem: „Ihr Sein nämlich ist ihr Wirken^,
und dieser Satz letzten Grundes aus dem nachstehenden:
„Ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst
Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein
existirt: Die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen
Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere
jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt,
besteht nur darin ".«)
Diese Beweisführung, besonders der letzte Satz läfst
deutlich erkennen, dals der Grund, auf den hier die Deduktion
folst, die psychologische Tatsache des Zustandekommens der
angeschauten Welt durch die kausalbeziehende Funktion des
Verstandes ist Genau betrachtet findet also die Deduktion
») I, 39. •) I, 40.
Digitized by
Google
46
Btatt aus der Art der Kausalität, die fUr das Zustandekommen
der empirischen Anschauung malsgebend ist. Daraus würde
folgender erkenntnistheoretische Schluls herflieXsen: Die reale
Welt wird als seiend erkannt nur, indem sie als auf uns wirkend
erkannt wird. Ihr Sein für uns ist also ihr Wirken auf uns.
Nun aber schiebt sich in der oben angefUhrten Argumen-
tation das unmittelbare Objekt als in objektivem Sinne ge-
nommen unter: ,,Das unmittelbare Objekt, welches selbst
Materie ist."
Damit wird von Schopenhauer die kausale Beziehung der
äufseren Objekte zum unmittelbaren Objekt der kausalen Be-
ziehung der äufseren Objekte untereinander koordiniert; dadurch
aber verliert der Schlufs seine erkenntnistheoretische Bedeutung
und erhält die logische der Gattungsbestimmung zu allem
konkreten Wirken: „Das Wesen [der Begriff] der Materie ist
Kausalität." .
Der Gang der Deduktion stellt sich in folgender Schlub-
reihe dar:
Das Sein jeden äufseren Objektes, einschliefslich seines
Wirkens auf ein anderes äufseres Objekt, besteht in seinem
Wirken auf das unmittelbare Objekt.
Die Gesamtheit der äufseren Objekte ist Materie.
Das Sein der Materie besteht in ihrem Wirken auf das
unmittelbare Objekt.
Dieses ist selbst Materie.
Das Sein der Materie besteht im Wirken auf andere
Materie. Ihr Wesen (Begriff*) besteht im Wirken überhaupt,
in der Kausalität.
Die zweite Gedankenreihe stellt sich dar als eine De-
duktion aus den Formen Raum und Zeit:
Die Beziehung des Nebeneinander im Baume zum Nach-
einander in der Zeit macht für Schopenhauer das wesentliche
Merkmal des Begriffs Zugleichsein aus. Daraus folgt unmittel-
bar die Dauer im Gegensatz zum Wechsel des damit zugleich
Vorhandenen, hieraus auf Grund einer erkenntnistheoretischeo
Wendung des Gedankens das Dauernde im Wechsel der Za-
Digitized by
Google
i1
stände. Jenes ist die Materie, diese sind die Veränderungen
ihrer Formen and Qualitäten.
Dieser (xedankengang enthält folgenden Schlafs:
Die Materie ist das Beharrende im Wechsel der Zustände.
Das Beharrende begreift eine Vereiniguag von Raum und
Zeit in sich.
Das Wesen (Begriff) der Materie ist die Vereinigung von
Raom und Zeit
Der Begriff der Materie, als des Beharrenden, vereinigt
somit Raum- und Zeitbestimmungen in sich:
qDas Zugleichsein der Zustände macht eigentlich das Wesen
der Wirklichkeit aus: Denn durch dasselbe wird allererst die
Dauer möglieb, indem nämlich diese nur erkennbar ist an dem
Wechsel des mit dem Dauernden zugleich Vorhandenen; aber
aoeh nur mittelst des Dauernden im Wechsel erhält dieser jetzt
den Charakter der Veränderung, d. h. des Wandels der Qualität
and Form, beim Beharren der Substanz, d. i. die Materie.'* ^)
„Erst durch die Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die
Materie, d. i. die Möglichkeit des Zugleichseins und dadurch
der Dauer, durch diese wieder des Beharrens der Substanz,
bei der Veränderung der Zustände." ^) „Auf dieser Ableitung
der Grundbestimmungen der Materie aus den uns a priori be-
wuTgteD Formen unserer Erkenntnis beruht es, dafs wir ihr
gewisse Eigenschaften a priori zu ererkennen, nämlich Raum-
erfttlluDg, d. i. Undurchdringlichkeit, d. i. Wirksamkeit, sodann
Ausdehnung, unendliche Teilbarkeit, Beharrlichkeit, d. h. Un-
zerstörbarkeit, und endUch Beweglichkeit"^)
Die Beziehung der beiden angefahrten definitorischen Be-
stimmungen zu einander ergibt sich aus folgenden Schlüssen:
1. „Die Kausalität vereinigt den Raum mit der Zeit".
„Im Wirken, also in der Kausalität, besteht das ganze
Wesen der Materie."
„Folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt
8eio".4)
0 1, 41. •) 1, 42. ») 1, 42 (Zusatz zur 1. Auf läge). *) 1, 41.
Digitized by VjOOQ IC
48
2. „Die Kausalität vereinigt den Ranm mit der Zeit,^
„Das Wesen der Materie besteht in der gänzlichen Ver-
einigung von Raum und Zeit.^
Die Materie ist Kausalität, i)
Wir fanden also bisher:
Der Begriff Materie enthält
als erstes Merkmal: das der Kausalität,
als zweites Merkmal: das der Vereinigung von Baum und Zeit
Das erste ist ein logisches: es enthält den Gattungsbegriff
zu allem besonderen Wirken. Das zweite ist gleichfalls ein
logisches: es enthält die Beziehung zweier „Formen" zueinander.
Dazu kommt ein drittes, ein erkenntnistheoretisches: es enthält
die objektive Geltung des Begriffs Materie im empirischen
Angeschauten überhaupt:
Das erste Merkmal, in Beziehung gedacht zur empirischen
Anschauung, stellt sich dar als „die objektivierte, das heiTst
als die nach aufsen projicirte Yerstandesfunktion der Kau-
salität", 2) kurz „die Kausalität objektiv gedacht".») (3 a)
Das zweite Merkmal stellt sich dar als „das Beharrende
im Wechsel der Zustände".«) (3b)
Beide fliefsen zusammen in dem Urteil: „Die Materie ist
die keinem Werden und Vergehen unterworfene Grundlage
aller Dinge." (3 c)
Der Gedanke 3 a tritt, wie wir fanden, in der Deduktion
des ersten Merkmals zurück. Der Gedanke 3 b ist in der
Deduktion des zweiten Merkmals schon mit ausgesprochen,
insofern nämlich dort von Zuständen der beharrenden Materie
geredet wird.
Der Satz 3c wird in folgender Weise abgeleitet:
a) „Die Kausalität erstreckt sich nur auf Veränderungen.
Die Materie ist der Träger aller Veränderungen.
Die Kausalität läfst die Materie unberührt." &)
>) So der Sache nach I, 602. «) V, 119. ») U, 358.
*) I, 623, ähnlich I, 41, 42, V, 119. ») III, 58.
Digitized by
Google
49
Daraus wird positiv gewandt: Sie erscheint nnserm Be-
wafstsein als die keinem Werden und Vergehen unterworfene,
mithin immer gewesene, immer bleibende Grundlage aller
Dinge."!)
ß) Der Schlufssatt des Syllogismus a wird aueh in folgender
Weise abgeleitet:
Materie = Wirken = Kausalität
„Kausalität kann nicht auf sich selbst angewandt werden."
„Die Materie ist der Kausalität nicht unterworfen."^)
Die Scheidung der logischen Bestimmungen und der
erkenntnistheoretischen ist deutlich aus folgender' Stelle heraus-
zulesen: „Das ganze Wesen der Materie besteht im Wirken:
Kur durch dieses erfallt sie den Raum und beharrt sie in der
Zeit: sie ist durch und durch Kausalität Mithin, [erkenntuis-
theoretisch gewandt] wo gewirkt wird, ist Materie, und das
Materielle ist das Wirkende überhaupt"') Dort also: die
Materie ist Kausalität, ist Wirken Überhaupt; hier: die Materie
ist das Wirkende überhaupt.
In dem Satze 3 c ist eine der Erweiterung, die wir in der
Deduktion des ersten Merkmals fanden, entsprechende Ver-
engerung des Begriffs Kausalität festzustellen. Dies ist aus
folgender AusfbhruDg ersichtlich: „Unter Materie denken wir
das, was noch übrig bleibt, wenn wir sie von ihrer Form und
allen ihren specifischen Qualitäten entkleiden, welches eben
deshalb in allen Körpern ganz gleich, eins und dasselbe sein
mnis. Jene von uns aufgehobenen Formen und Qualitäten
nun aber sind nichts anderes, als die besondere und speciell
bestimmte Wirkungsart der Körper, welche eben die Ver-
Bchiedenlieit derselben ausmacht. Daher ist, wenn wir davon
absehen, das dann noch Übrigbleibende die blofse Wirksamkeit
überhaupt, das reine Wirken als solches, die Kausalität selbst
objektiv gedacht Daher läfst die Materie sich blofs denken:
Sie ist ein zu jeder Realität als ihre Grundlage Hinzugedachtes." ^)
») I, 602, ilmfich so lU, 56, III, 67, IH, 99, H, 357, V, 119.
*) U, 62 und III, 99.
>) II, 358.
0m,99.
PUlotophlflehi» AbhaadlvDfm. ZLH. 4
Digitized by
Google
50
Der Sehlnlüssatz ist nur verBtändlich, wenn Wirksamkeit als
Wirksamkeit auf ans, das ist, mit Schopenhaner zu reden, auf
„das unmittelbare Objekt", dieses subjektiv genommen, ver-
standen wird.
Diese Einschränkung findet sieh schon in einer Bemerkung
der 1. Auflage des Satzes vom Grunde: „Durch die Kategorie
der Kausalität allein erkennen wir die Objekte als wirklich,
das ist auf uns wirkend." i)
In diesem Sinne ist auch folgende Ausführung zu ver-
stehen: „Die Materie ist die objektiv aufgefalste Kausalität
selbst, indem ihr ganzes Wesen im Wirken überhaupt besteht,
sie selbst also die Wirksamkeit (energeia = Wirklichkeit) der
Dinge überhaupt ist, gleichsam das Abstractum alles ihres ver-
schiedenartigen Wirkens ... Sie hat keine anderen Attribute als
das Dasein selbst überhaupt und abgesehen von aller näheren
Bestimmung desselben."'^) Der Ausdruck „gleichsam das Ab-
straktum" ist in diesem Znsammenhange zu interpretieren als
nicht auf das im logischen Sinne Gemeinsame gehend, sondern
auf das, was allen besonderen Wirkungsarten im erkenntnis-
theoretischen Sinne gemeinsam ist; dies ist ihre Beziehung
auf das anschauende Subjekt.
Die dargelegte Schlufsreihe möge durch folgendes Schema
deutlich gemacht werden:
A. Logisch.
Kausalität vereinigt Raum und Zeit
Materie = Wirksamkeit über- - • Materie = Vereinigung- von
haupt Raum und Zeit
Die Identität von A^ und A3 erschlossen aus Aj.
B. Erkenntnistheoretisch.
Kausalität betrifft nur Veränderungen.
Materie = Kausalität, objektiv Materie = Beharrendes im
gedacht. Wechsel der Zustände.
Materie = keinem Werden und Vergehen unterworfene objektive
Grundlage alles Seins.
0 1. Auflage des Satzes vom Grande, S. 54. >) 11,59.
Digitized by VjOOQ IC
51
Fassen wir die Bestimmimgen znsammeD, die dem Begriff
Materie, wie er bisher definiert wurde, zukommen, so können
wir sagen: Die Materie vereinigt in ihrem Begriff Raum and
Zeitbestimmangen. Das beide vereinigende Begrifibmerkmal
ist Wirksamkeit Dieses ist insofern das einzige Merkmal des
Begriffs Materie; in ihm ist die Bestimmung „objektive Grnnd-
lage alles realen Seins^, mitgedacht
Aus diesem Begriffe der reinen Materie gewinnt nmi
Sehopenhaner doreh ein abstrahere ab aliqna re einen Begriff,
den er als gleichbedeutend setzt mit Substanz: „Von diesem
Begriff der Materie ist nun Substanz wieder eine Abstraktion,
folglich ein höheres Genus und ist dadurch entstanden, dafs
man von dem Begriff der Materie nur das Prädikat der Be-
harrlichkeit stehen liefs. Alle ihre ttbrigen wesentlichen
Eigenschaften, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit
usw. aber wegdachtet ^ Mit dem Prädikat der Beharrlichkeit
kommt der Substanz auch das Prädikat der objektiven Unter-
lage alles Realen zu: „Die Beharrlichkeit der Substanz, d.i.
der Materie [in dem begrenzten Sinne] . . . leite ich davon
ab, dals . • . das Gesetz der Kausalität . . . ganz wesent-
lich nur die Veränderungen, d. h. die sukzessiven Zustände
der Materie betrifft, also auf die [spezielle] Form beschränkt
ist, die Materie aber unangetastet läfst, welche daher in
uns^em Bewulstsein als die keinem Werden und Vergehen
unterworfene, mithin inmier gewesene und immer bleibende
Grundlage aller Dinge dasteht ^^.2)
In dieser inhaltsärmeren Bedeutung gebraucht Schopen-
hauer an einigen Stellen auch ohne besondere Erklärung das
Wort Materie: „Alle« Objekt, also das empirisch Reale ttber-
haupt, ist durch das Objekt zwiefach bedingt; erstlich materiell
oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Dasein nur
einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar
ist, zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz
des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität),
Tom Subjekt ausgeht, im Subjekt praedisponirt ist.^ Femer:
„Berauben wir nun das Subjekt aller näheren Bestimmungen
und Formen seines Erkennens, so verschwinden auch am
0 1, 624 «) I, 602.
4*
Digitized by
Google
52
Objekt alle Eigenschaften, and nichts bleibt ttbrig als die
Materie ohne Fonn und Qualität, welche in der Erfahmng so
wenig vorkommen kann, wie das Subjekt ohne Formen seines
Erkennens, jedoch dem nackten Subjekt als solchem gegen-
über stehen bleibt, als sein Reflex, der nur mit ihm zugleich
verschwinden kann. Denn wenn auch der Materialismus nichts
weiter als diese Materie, etwa Atome, zu postuliren w&hnt:
So setzt er doch unbewulst nicht nur das Subjekt, sondern
auch Raum, Zeit und Kausalität hinzu, die auf speciellen Be-
stimmungen des Subjekts beruhen''.^)
Der inhaltsärmere Begriff der reinen Materie unterscheidet
sich von demjenigen, aus dem er abstrahirt ist, auch inbezug
auf Raum und Zeit: Dieser enthält die Bestimmung der Aus-
dehnung und der Raumerftillung, jener, wie der Substanz-
begriff, nicht. Für diesen gilt: „Die reine Materie ... ist die
Kausalität selbst, objektiv, mithin als im Raum und daher als
diesen erfUUend gedacht".') Für jenen gilt: „Die ihm (dem
aller näheren Bestimmungen und Formen seines Erkennens
beraubten Subjekt) gegenttberstehende Materie ... ist eigent-
lich nicht einmal ausgedehnt, weil Ausdehnung Form gibt,
also nicht räumlich".') „Die Materie selbst ist nicht aus-
gedehnt, folglich ist sie unkörperlich."*)
Beiläufig sei bemerkt, dafs Schopenhauer die Raumerftillung
der Undurchdringliehkeit gleichsetzt: „Was man die Raum-
erfttUung oder Undurchdringlichkeit nennt und als das wesent-
liche Merkmal des Körpers, d. i. des Materiellen, angibt, ist
blols diejenige Wirkungsart, welche allen Körpern ohne Aus-
nahme zukommt, nämlich die mechanische".^) Sie enthält
streng genommen ein empirisches Moment im Gegensatz zur
Ausdehnung.
Die dargelegte begriffliche Scheidung von Materie im
weiteren Sinne und Substanz geben das Verständnis für die
in den „Praedicabilia a priori" angefahrte erste Bestimmung der
Materie: „Es gibt nur eine Materie, und alle verschiedenen
Stoffe sind verschiedene Zustände derselben: Als solche heilst
sie Substanz".<^) „Als solche", d. i. sofern hier nur das Prädikat
der Beharrlichkeit in Betracht kommt
0 II, 24. •) U, 858. ») II, 24. 0 H, 360. ») II, 62.
•) II, 62, 63.
Digitized by
Google
53
Von hier ans ist auch folgende Stelle zn verstehen: „Da
Substanz identisch ist mit Materie, so kann man sagen : Sub-
stanz ist das Wirken in abstracto anfgefalst; Aceidenz die be-
soDdere Art des Wirkens, das Wirken in concreto". ^ In diesem
Sinne ist anch folgende Stelle anszalegen : „Die reine Materie,
welche allein . . . den wirklichen nnd berechtigten Inhalt des Be-
griffes der Substanz ausmacht, ist die Kausalität selbst, objektiv,
mithin als im Raum und daher als diesen erfüllend, gedacht".^)
Man hat zu interpretieren: „Welche mit einem ihrer Merkmale,
Bämlich der Beharrlichkeit, den Inhalt des Begriffs Substanz
ausmacht''.
Der reinen Materie steht gegenüber die empirische. „In
der Anschauung konunt die Materie nur in Verbindung mit
der [speciellen] Form und Qualität vor, als Körper, d. h. als
eine bestimmte Art des Wirkens . . . Das näher bestimmte
Wirken fassen wir dann als Aceidenz der Materie auf, aber
erst mittelst dieser wird dieselbe anschaulich.'^') „Die empirisch
gegebene Materie, also der Stoff ist schon in die Hülle der
[speciellen] Formen eingegangen und manifestirt sich allein
durch deren Qualitäten und Accidenzien, weil in der Erfah-
nmg jedes Wirken ganz bestimmter und besonderer Art ist,
nie ein blols allgemeines.^^)
Wir erkennen von hier aus, dafs in die Ausführungen
über die Materie, die wir in Welt als Wille und Vorstellung
Band I finden, auch Bestimmungen, die der empirischen Materie
zukommen, unbesehen miteinfliefsen, insofern dort gesagt wird:
^Das, worauf sie (die Materie) wirkt, ist allemal wieder
Materie".!^)
Diese empirische Materie kann, um wiederum mit einer
Schopenhauer nicht eigentümlichen logischen Betrachtungsweise
einzusetzen, als aus der reinen Materie durch Determination
gewonnen angesehen werden. Die Merkmale, die zu der
reinen Materie, logisch betrachtet, hinzutreten, sind durch die
speziellen, raumzeitlichen Formen und die speziellen kausalen
Beziehungen gegeben, welche die einzelnen Veränderungen als
einzehe kennzeichnen.
') m, 99. *) U, 357, 358, desgleichen HI, 58. *) II, 357.
*) n, 59. ») I, 40.
Digitized by
Google
54
Es wäre verfehlt, anzanehmen, dals das Verhältnis der
reinen zur empirischen Materie das des a priori Gegebenen
znm erschlossenen Transzendenten wäre; es ist vielmehr ledig-
lich das des a priori za dem a posteriori Vorgestellten. Schon
in jenem ist die Vorstellung des Objektseins mitgedacht
Es wnrde erwähnt, dafs „in der Anschannng die Materie
als Körper vorkomme." *)
Das, was den Begriff des Köqiers ausmacht, ist aofser
den Bestimmungen, die ihn „als geformte und spezifisch be-
stimmte Materie" 2) kennzeichnen, noch ein weiteres Merkmal,
nämlich das, der Träger einer Kraft zu sein. „Man hat sich
zu erinnern, dafs die empirisch gegebene Materie sich überall
nur durch die in ihr sich äufsemden Kräfte manifestirt; wie
auch umgekehrt jede Kraft immer nur als einer Materie in-
härirend erkannt wird; beide zusammen machen den empirisch
gegebenen Körper aus." 3) Damit sind wir an den Begriffen
der Naturkraft und des Naturgesetzes angelangt, die zur Ver-
vollständigung der Lehre von der empirischen Anschauung
einer Erörterung bedürfen.
Die Naturkraft ist zunächst, d. h. solange wir innerhalb
des Gebietes der Vorstellung bleiben, ein durch Induktion
gewonnenes Allgemeines. Die logische Beziehung zwischen
Ursache und Naturkraft ist die zwischen „dem flüchtigen
Phänomen und der ewigen Tätigkeitsform." «) Dieses Allgemeine
ist nicht die Eigenschaft des Ursachseins überhaupt, sondern
ein Allgemeines, das aus den a posteriori gegebenen Momenten,
welche die einzelnen Ursachen als einzelne kennzeichnen, ge-
wonnen ist: Die Naturwissenschaften finden, dafs gewisse
Ursachenunter gewissen aus der Erfahrung bekannten Beding-
ungen gleichförmig wirken. Das gleichförmig Wirkende ist das
was sie Kraft nennen. „Die Aetiologie (d. i. diejenige Natur-
wissenschaft, deren Aufgabe „die Erklärung der Veränderungen
ist," 5) gibt Rechenschaft von den Ursachen, welche die ein-
zelne zu erklärende Erscheinung notwendig herbeiftihrten, und
zeigt als die Grundlage aUer ihrer Erklärungen die aUgemeinen
0 II, 357. •) V, 119. ») V, 119. *) in, 69. •) 1, 146.
Digitized by VjOOQ IC
55
Klüfte auf, die in allen diefien Ursachen und Wirkungen tätig
uui, beBtimmt diese Kräfte genau, ihre Zahl, ihre Untersehiede,
nnd dann alle Wirkungen, in denen jede Kraft, naeh Maüsgabe
der Verschiedenheit der Umstände verschieden hervortritt,
immer ihrem eigentümlichen Charakter gemäls, den sie nach
einer unfehlbaren Regel entfaltet, welche ein Naturgesetz heifst 0
Das Naturgesetz ist dementsprechend „die Norm, welche
eine Naturkraft befolgt.'^ ^) Es ist das Gesetz, welches „die
anwandelbare Konstanz des Eintritts derselben, sobald am Leit-
faden der Kausalität die [a posteriori bekannten] Bedingungen
dazu vorhanden sind'', 3) ausdrückt. Das Allgemeine in dem
Naturgesetz ist, in analoger Weise wie in der Naturkraft, nicht
die Beziehung von Ursache und Wirkung überhaupt, sondern
ein Allgemeines, das aus den aposteriorischen Momenten in
den einzelnen kausalen Beziehungen gewonnen ist Es bleibt
blols die der Natur abgemerkte Regel^.^) Insofern verlassen
wir mit dieser Betrachtung nicht das Gebiet der Welt als Vor-
stellong, also nicht das des Satzes vom Grunde.
In der Physik muXs die Kraft „als qualitas occdta^ stehen
bleiben. Die Naturkraft wird nun schon an den angeführten
Stellen nicht nur als Allgemeines angesehen, demzufolge sie
lediglich ein Begri£f wäre, sondern auch als ein „zu Grunde
liegendes", als ein „Vorausgesetztes", als „etwas, was der Ur-
sache die Fähigkeit zu wirken allererst erteilt". Damit kommt
ein transzendentes Moment in die Lehre von der empirischen
Anschauung. Hierauf und auf die Frage, ob die Forderung,
dafs den empirisch bestimmten Kräften etwas Transzendentes
entsprechen müsse, nicht schon über den Bereich, den Schopen-
hauer der Geltung des Satzes vom Grunde anweist, hinausgehe,
und auf die Frage, in welcher Weise er dieses Transzendente
deutet, näher einzugehen, würde den Rahmen der vorliegenden
Arbeit überschreiten.
Es erübrigt nunmehr, den psychologischen Zusammmen-
hang der drei Formen Raum, Zeit und Kausalität bei Schopen-
hauer zu erörtern. Darüber ist nur weniges zu erwähnen.
Das logisch allgemeine wird ihm zur genetischen Wurzel
') I, 200. ») in, 59. ») 1, 190. *) I, 200.
Digitized by
Google
56
des psychologisch za erklärenden Gewordenen, and die logi-
schen Beziehungen stellen sich ihm als psychologische Zusam-
menhänge dar. Daher kommt es, dafs die psychologisch ge-
wandten Ansfahrongen nnr in eine biologische Form gekleidete
logische sind: „Der Verstand vereinigt Baum und Zeit in
der Vorstellung der Materie.'' ^) „Der Verstand nimmt die im
Intellekt prädisponirt liegende Form des äufseren Sinnes, den
Raum zu Hilfe." 2) „Was die Vereinigung beider (des Baumes
und der 2^it) schafft, ist der Verstand, der mittelst seiner
Funktion jene Formen verbindet . . . Wechselseitige Durch-
dringung (von Baum und Zeit)."') „Bei der objektiven
Auffassung der Körperwelt gibt der Intellekt die sämtlichen
Formen derselben aus eigenen Mitteln, nämlich Zeit, Baum und
Kausalität, und mit dieser auch den Begri£f der abstract ge-
dachten, Eigenschafts- und formlosen Materie."^) Die ursprüng-
lich eng begrenzte Funktion des Verstandes, [„Kausalität erkennen
ist seine einzige Funktion"]^) erscheint hier wiederum erweitert:
zu der kausalbeziehenden tritt wieder eine formalbeziehende
Tätigkeit des Verstandes. Der Begriff der reinen Materie, als
durch die Tätigkeit des Verstandes bewerkstelligt, gilt insofern
als etwas a priori Glegebenes:
„Die Materie ist Kausalität."
„Die Kausalität selbst ist die Form des Verstandes; denn
sie ist . . . uns a priori bewufst".
„Also gehört auch die Materie insofern und bis hierher
dem formellen Teil unserer Erkenntnis an." <^) „Ihr subjektives
Korrelat ist der Verstand."^)
Der Übergang von der reinen zur empirischen Materie ist
der Sache nach auch noch als Funktion des Verstandes auf-
gefalst, wenngleich Schopenhauer hier schlechthin Intellekt
sagt Auch fttr die psychologische Erklärung dieses Geschehens
durch Schopenhauer gelten die vorhin genaimten Kennzeichen:
„Sobald der Intellekt, mittelst dieser Formen (Baum, Zeit,
Kausalität und damit der reinen Materie) und in ihnen, einen,
stets nur von der Sinnesempfindung ausgehenden realen Gtehalt
0 I, 44. «) m, 66. •) in, 42. *) V, 119.
») I, 48, •) U, 358. ') I, 4a.
Digitized by
Google
57
das heilst etwas von seinen eigenen Erkenntnisfonnen Un-
abhänges spttrt, welches nicht im Wirken überhaupt, sondern
in einer bestimmten Wirkongsart sich kundgibt; so ist es
dies, was er als Körper, das heilst als geformte und speeifisch
begtimmte Materie setzt.'^i)
Mit der letzten Ausftlhrung ist zugleich der psychlogische
Zusammenhang zwischen Materie und Empfindung berührt.
Näheres erfahren wir darüber bei Schopenhauer nicht. Wir
erkennen, dals diese Frage ihm in den Parerga und Paralipomena
Band II etwas näher liegt, als in den früheren Schriften,
wenngleich sie auch in der späteren keine Lösung findet.
Vn. Schlufs.
Die Lehre von der empirischen Anschauung bei Schopen*
haner erseheint mir in ihrem wesentlichen Funkte, der Annahme,
dals der Verstand, indem er zur Empfindung, als der Wirkung,
die Ursache in den Baum setze, aus der Empfindung allererst
eine Vorstellung mache, wenn diese Annahme unter der Voraus-
sehnng Schopenhauers von der Geltung der objektiven Vor-
stellung stattfinden soll, als verfehlt. Wenn wir mit ihm unter
der Ursache unserer Empfindungen, so lange wir im Gebiete der
Welt als Vorstellung bleiben, in keiner Weise ein Transzendentes
mitverstehen, also nicht einmal annehmen, dafs es wirke, ge^
sebweige denn was es sei, oder wie es wirke, so sind die
blolse Empfindung und die ihr entsprechende Vorstellung nur
darin fllr das Bewnfstsein unterschieden, dafs diese raumzeitlich
bezogen ist, jene noch nicht. Abgesehen davon sind sie für
das Bewulstsein in nichts unterschieden, und die eine als Ur-
sache der anderen als Wirkung aufzufassen, würde gleich-
bedeutend sein mit einem Zusammenfallen von Ursache und
Wirkung.
0 V, 119.
Digitized by
Google
IL TeU.
Skizze der Entwicklnng der Lehre von der
empirischen Anschauung bei Schopenhauer.
Von einer prinzipiell bedeutsamen Entwicklang kann man
in der Philosophie Schopenhaaers nar bei dem Fortschritt von
der ersten Auflage des .Satzes vom Gronde* zur ersten Auf-
lage der „Welt als Wille und Vorstellung* reden. Die Ein-
schränkung des inneren Sinnes als nur auf den Willen gehend,
die Gleiohsetznng des Willens mit dem Ding an sich, und die
Einschränkung der Kategorien auf die eine der Kausalität sind
die hervorragenden Kennzeichen der Entwicklung des meta-
physisch-erkeuntnistheoretischen Bestandes seiner Lehre in
dieser Periode. 0 In den späteren Werken dagegen finden
keine Änderungen dieses Bestandes statt, die geeignet wären,
dessen Grundlagen zu erschüttern, sondern nur solche, die in
der Gedankenfolge desselben liegen. Die Ausgestaltung der
Lehre vom Willen in der Natur ist hier besonders hervor-
zuheben.^)
Eine ähnliehe Gestaltung zeigt insbesondere auch die Ent-
wicklung der Lehre Schopenhauers von der empirischen An-
schauung.
^) Sieh darüber Theodor Lorenz «Zur Entwicklangsgeschichte der
Metaphysik Schopenhauers", Diss. Berlin 1897; Bernhard Willems .Über
Schopenhauers Erkenntnistheorie. Eine historisch-kritische Abhandlang.*'
Diss. Königsberg 1908.
*) Sieh Robert Schlüter .Schopenhauers Philosophie in seinen Briefen",
Diss. Rotsock 1900 nnd die während des Druckes vorliegender Arbeit
erschienene sorgfaltige nnd tiefdringende Abhandlang von Heinrich Hasse
.Schopenhauers Erkenntnislehre als System einer Gemeinschaft des
Rationalen nnd Irrationalen". Leipzig, F. Meiner, 1918; insbesondere S. 77 f.
Digitized by
Google
59
Scbon in der ersten Auflage des Satzes 7om Grunde
ist der Grundgedanke dieser Lehre ausgesprochen, da£s der
Verstand von dem unmittelbaren Objekt als der Wirkung den
Sehlnfs auf die Ursache derselben im Räume mache, so zwar,
dab hier aulser der Kausalität auch noch die andern Kategorien
Kants fttr das Zustandekommen der empirischen Anschauung
in Anspruch genommen werden, i) Auch besteht hier bereits
die Voraussetzung des eigenen Leibes als des «unmittelbaren
Objektes', femer schon die Ineinsetzung, wenn nicht der
Empfindung, so doch der «unmittelbar gegenwärtigen Vor-
stellung" mit dem „unmittelbaren Objekt^^) Hier auch findet
schon die unbesehene Koordination der kausalen Beziehung
des unmittelbaren Objektes zu den vermittelten mit der dieser
QDtereinander statt, 3) und dies trotz des prinzipiellen Unter-
schiedes zwischen dem „unmittelbaren^' und dem „vermittelten
Objekt''^). Die Einschränkung des „unmittelbaren Objekts''
als nnr im uneigentlichen Sinne zu verstehen, ist noch nicht
ausgesprochen. Aber hier tritt schon der Gedanke auf, dafs,
was die Vereinigung von Raum und Zeit zustande bringe, der
Verstand sei, auch dies zwar noch unter Anwendung auch der
Kategorien aulser der Kausalität. &) Die Tätigkeit des Ver-
standes, genauer der Kausalschlnfs desselben, wird bereits von
einem Vemunftsehlufs, als einer „Verknüpfung von Urteilen^' unter-
schieden und als unbewufst charakterisiert«) „Eine vollständige
Analysis der Erfahrungen" wird hier bereits als „ein eigenes
sehr mtthsames und schwieriges Gescbäft"'') ins Auge gefafst
Beide Ableitungen der Beharrlichkeit der Materie sind
schon hier angelegt, die aus der Vereinigung von Baum und
Zeit in den ViTorten: „Er (der Verstand) schafft durch die innige
Vereinigung jener heterogenen Formen der Sinnlichkeit (des
Raumes und der Zeit) die Erfahrung; ... in der ungeachtet
der Unaufhaltsamkeit der Zeit die Substanz beharrt und
ungeachtet der starren Unbeweglichkeit des Baumes ihre Zu-
stände wechseln,''^) die Ableitung aus der Kausalität deutlicher
0 1* Auflage des Satzes vom Gmnde S. 54.
>) Ebenda S. 36. *) Ebenda S. 85 f.
') Ebenda S. 53, 54. «) Ebenda S. 80, 46.
*) Ebenda S. 54, 55. 0 Ebenda S. 31.
') Ebenda S. 301.
Digitized by
Google
60
noeh in dem Satze: „Aas dieser BetrachtaDg, dafs das Gesetz
der Kansalität sich nur anf Zustände bezieht, und nieht auf
Dinge, dafs nnr Zustände entstehen nnd vergehen, werden und
aufhören, nicht Dinge, ergibt sieh der Satz von der Beharrlich-
keit der Substanz von selbst, folglieh durch blofse Analysis
des Begriffs Kausalität, ohne Synthesis/^ >) Schon in der Bei-
lage zn den Anmerkungen zu Kants „Metaphysik der Natur-
wissenschaft*', die Grisebach in die Jahre 1812, 1813 verlegt,
finden sich einige grnndlegende Gedanken der Lehre von der
Materie. Hier heifst es: „Das Dasein der Materie, d.h. ihre
Wirklichkeit, ist nichts als ihr Wirken, d. i. ihre Kansalität
Wo also Materie ist, ist Kausalität, aber auch, wo Kausalität
ist, ist Materie. '^2) Dafs weder in den Anmerkungen selbst,
noch auch in der ersten Auflage des Satzes vom Grunde diese
grundlegenden Gedanken der Lehre von der Materie in dieser
mit der in der ersten Auflage der Welt als Wille und Vor-
stellung gegebenen Formulierung vorkommen, ist einigermafsen
auffallend.
Auf einige Unterschiede der iu der ersten Auflage des
Satzes vom Grunde gegebenen Kritik des Kantischen Beweises
fttr die Apriorität des Gesetzes der Kausalität von der späteren
werden wir in dem Abschnitt über die Beziehungen zwischen
Schopenhauer und Kant noch zu sprechen kommen.^)
In der ersten Auflage von Sehen und Farben gelangt
die angekündigte Analysis der Erfahrung zur ersten Ausführung.
Hier begegnen wir zuerst dem Satze: „Die Anschauung ist
intellektual, und nicht blofs sensual." ^) Die Sinnesempfindungen
sind hier schon, wenn auch nicht deutlich ausgesprochen, in
den Sinnesorganen lokalisiert: .Die Sinne sind die Sitze einer
gesteigerten Sensibilität^) Jeder Sinn gilt als , einer besonderen
Art von Einwirkung offenstehend.* ^) Psychologisch genommen
gilt die Sinnesempfindung hier, wie ich im ersten Teile meiner
>) 1. Auflage des Satzes vom Grunde S. 81.
>) Nachlafs IU, S. 19.
*) 1. Auflage von Sehen und Farben S. 17.
*) Ebenda S. 13, auch in der Kritik der Lehre des Dr. Weber,
ebenda S. 13.
>) Ebenda S. 13.
•) S. 76f. u. 102£ dieser Schrift.
Digitized by
Google
61
Sehrift nachgewiesen habe, Hoch als Yorstellnng. Ihre Subjek-
tiTiült gegenüber der objektiven Anscbaanng wird dabei hervor-
gehoben. Die Data des Gesichtssinnes werden schon geschieden
in den Eindmek des Lichtes anf das Ange nnd die Farbe. ^
Eine biologische Betrachtungsweise ftthrt zn dem Gedanken,
dafjs „das Kind in den ersten Wochen seines Lebens anfängt
des Veistand za gebranchen.* ^) Dazn gehört n. a. auch, daij9
es „obwohl es mit zwei Angen sieht, . . . dennoch nur einen
Gegenstand sehen lernt ^'') Daran reiht sieh zur Erklämng
des Einfachsehens eine Ansftthmng ttber die Angenaxen, den
optischen Winkel und die gleichnamigen Stellen der Retina,
ferner eine solche ttber das Doppeltsehen, das Schielen, das
Doppelttasten und ttber Schein nnd Irrtum.^) Noch nicht ist
hier, wie in der Theoria colorum vom Anfrechtsehen der Gegen-
stände die Rede. Von den Kategorien kommt nur noch die
der Kausalität zur Sprache.
In der ersten Auflage der Welt als Wille und Vor-
stellung Band I findet zuerst eine ausdrückliche Einschränkung
des Ausdrucks „unmittelbares Objekt^^ als nur im uneigent-
lichen Sinne zn verstehen, statt ^) Hier ferner gelangt die
Ineinssetzung der blofsen Empfindung und „des unmittelbaren
Objekts^ zam deutlichen Ausdruck: „Die blofse Empfindung,
das nnmittelbare Bewulstsein der Veränderungen des Leibes,
yermöge dessen dieser unmittelbares Objekt ist^^) Wir fanden^),
dals diese Ineinssetzung sich als ein Unterfliefsen eines meta-
physisch Identischen als eines fUr das Bewulstsein Identischen
dem Nachprttfenden darstelle. Die Manuskripte Schopenhauers,
die vor der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung
liegen, weisen für diese Auffassung einige Belege anf Hier
heibt es n. a.: „Ein Hauptfehler aller bisherigen Philosophie,
der damit zusammenhängt, dafs man sie als Wissenschaft
sachte, ist der, dafs man mittelbare Erkenntnis, d. h. Erkenntnis
ans Grttnden, auch da suchte, wo nnmittelbare gegeben ist
0 1. Auflage Yon Sehen nnd Farben S. 27.
*) Ebenda S. 15 u. 27. *) Ebenda S. 16.
«) Ebenda S. 16, 17, 20, 21.
^ 1. Auflage der Welt als Wille nnd Voratellnng S. 29, 3. Auflage 1, 58.
*) Ebenda 1. Auflage S. 28, 3. Auflage 1, 53.
^ S. 40 dieser Schrift
Digitized by
Google
62
So ist z. B. Identität meines Leibes mit meinem Willen eine
anmittelbare Erkenntnis, yondefiman also nieht zngeben darf;
dafs sie der Begrttndang biedtlrfe, weil man sonst sieh einer
unmittelbaren Erkenntnis entänfsert, die man, eben weil sie
unmittelbar ist, nie hoffen darf, nachher als mittelbare wieder-
zuerhalten . . .* ^) Ferner: „Der Menseh erkennt nur, sofern
sein Leib ein mit dem Willen Identisches, eine Erscheinung,
Objektivierung des Willens, eben in dieser letzteren Eigen-
schaft unmittelbares Objekt des Subjekts ist: die mittelbaren
Objekte (d. h. die Übrige Welt erkennt das Subjekt, sofern es
in diesem einzelnen Menschen erkennt, nur vermöge ihrer Ein-
wirkung auf dies unmittelbare Objekt, also durch das Gesetz
der Kausalität, also im Verstände. An dem unmittelbaren
Objekt hat das Subjekt also immer einen Befestigungspunkt,
von dem alle übrige Erkenntnis ausgeht, und an den sie nur
durch das Gesetz der Kausalität geheftet isf )
Die Lehre von der Materie ist in allem Wesentlichen ent-
wickelt, sowohl die Deduktion aus den Formen Raum und Zeit, als
auch die aus der Kausalität Die Ableitung speziell der Beharr-
lichkeit der Materie aus der Anteilnahme des Raumes an der Ver-
einigung von Raum und Zeit wird klarer formuliert, dagegen tritt
die Ableitung der Beharrlichkeit aus der Kausalität hier vorerst
zurttck. Das Verhältnis von Substanz und Akzidenz wird an
den entscheidenden Stellen noch als das des Beharrenden zum
Wechselnden dargestellt. Nur gelegentlich kommt schon die
spätere Bestimmung dieses Verhältnisses als des zwischen
Wirken in abstracto und Wirken in concreto zum Vorschein:
^,Der Begriff Substanz hat keinen andern wahren Inhalt als
den des Begriffs Materie. Akzidenzen aber sind ganz gleich-
bedeutend mit Wirkungsarten."') In den vor der ersten Auf-
lage der Welt als Wille und Vorstellung liegenden Manuskripten
kommt ein zeitweiliges Schwanken hinsichtlich der Bestimmung
der Materie zum Vorschein. Hier heifst es an einer Stelle:
>) SchopeDhaaera NaohlaTs Nr. 20; Philosophische Manuskripte Bogen
TY, S. 5f., Dresden 1814.
') Schopenhauers Nachlaüs Nr. 19; Philosophische Manuskripte Bogen
QQQ, S. 7 (Anmerkung), Dresden 1816; ähnlich so Nr. 20, Bogen ££, S. 2,
Dresden 1814; Nr. 19, Bogen DDD, S. 5, Dresden 1815.
•) 1, 585.
Digitized by
Google
68
„Aber warum wnndert man sieh nicht ttber die Materie? Was
erkUrt Materie? Eangalität nicht, die erklärt blofs Znstand
der Materie . . .'^ 0 Dieses Schwanken hängt yermntlich damit
zusammen, dafs Schopenhauer hier vorübergehend Kausalität
und Wille als koordinierte Ursachen von Bewegungen behandelt:
«Die Bewegung der Materie geschieht nicht immer nach dem
Gesetz der Kausalität; sondern nur entweder nach diesem oder
durch Willen, d. i. ohne Grund. Eine solche ist nicht nur die
Bewegung der Tiere, sondern auch alle Vegetation und das
ÄDschielsen der Krjstalle.'' 2) Diesen Gedanken läfst er aller-
dings schon bald fallen; denn in einer Anmerkung zu der
zitierten Stelle fttgt er bei: ,Dies ist falsch: alles was in der
Zeit geschieht, hat eine nach dem Satze vom Grunde bestimmte
Stelle in derselben; es gibt also keine grundlose Bewegung.
Wohl aber ist der Wille grundlos; denn der Satz vom Grunde
gilt nur ftlr die Erscheinung der Idee (welche selbst Objektität
des Willens ist) in Zeit und Raum*".
Auch in der „Vorlesung tlber die gesamte Philo-
sophie^ speziell in der „Theorie des gesamten Vor-
stellens, Denkens und Erkennens,** deren erste Entwürfe
nach den yerdienstvoUen und sorgfältigen Untersuchungen von
Franz Mokrauer noch in das Jahr 1819 fallen, und für deren
Znsatze ein Spielraum bis Herbst 1831 anzusetzen ist,') gelten
die Empfindungen noch als Vorstellungen: „Diese Verände-
nmgen (welche die Sinnesorgane durch die ihnen spezifisch
angemessene Einwirkung von aufsen erleiden) sind nun zwar,
da sie nicht als Schmerz oder Wollust den Willen unmittelbar
af&ieren und dennoch ins Bewulstsein kommen, wirkliche Vor-
stellungen, d. h. sind nur fttr die Erkenntnis da.'^^) Auffallend
H dafs hier schon alle vier Momente in der Tätigkeit des
Verstandes beim Gesichtssinn: Einfachsehen, Aufrechtsehen,
Sehätzen von Gröfse und Entfernung und Hinzufügen der dritten
0 Schopenhauers Nachlals Nr. 20; Philosophische Manuskripte Bogen
W, S. 6, Weimar 1814.
^ Schopenhauers Nachla(s Nr. 19; Philosophische Manuskripte Bogen
£EE,S.S, Dresden 1815.
') Arthur Scbopenhauers sämtliche Werke, herausgegeben von Paul
Deufaen. IX. Band, Voirede der Herausgeber S. XIX f.
1 Ebenda S. 20S, Z. 16 --19.
Digitized by
Google
64
Dimension ausführlich behandelt werden, während von diesen
vier Momenten in der Theoria colornm (1830)0 nur erst die
ersten beiden, in der ersten Anflage des zweiten Bandes der
Welt als Wille und Vorstellang (1844)2) nur die ersten drei
genannten Momente znr Sprache kommen. Znr Lehre von der
Materie ist für die Vorlesungen anzumerken, dafs die Be-
ziehungen dieser zu Baum und Zeit etwas ausführlicher behandelt
werden. Zudem tritt die Wendung wieder hervor, dals die
Beharrlichkeit der Materie daraus ableitbar sei, dafs die
Kausalität nur auf die Zustände, nicht auf die Materie gehe.')
Auch hier ist die spätere präzisere Formulierung des durch
ihre Beziehung auf die Kausalität gedeuteten Verhältnisses von
Substanz und Akzidenz schon angelegt in den Sätzen: „Ich
. mufs hier anmerken, dafs wir unter dem Begri£P Substanz nicht
etwas anderes zu denken haben als die Materie an sich, mit
Abstraktion von ihren Akzidenzen (Form, Qualität) • . . Unter
einer Materie ohne Form und Qualität denken wir eigentlich
reines Wirken ohne Bestimmung der Wirkungsart . . ."*) Prinzi-
piell bedeutsame Änderungen in der Lehre von der Materie
liegen in den Vorlesungen nicht vor.
In der Theoria eolorum physiologica ist aufser dem
bereits genannten Funkte nur noch anzumerken, dafs hier
die Beziehung der Sinnesempfindungen aller Sinnesorgane auf
ein gemeinsames Objekt besonders hervorgehoben wird.
In der ersten Auflage des Willens in der Natar und
der Grundlagen der Ethik ist von dem Zustandekommen
der empirischen Anschauung nicht die Bede.
In der zweiten Auflage der Welt als Wille und Vor-
stellung tritt zuerst die Wendung in der Auffassung der
blofsen Empfindung hervor; sie gilt fortan als etwas, dem der
Charakter der Vorstellung noch nicht zukommt Die Lokalisation
der Sinnesempfindungen in die Sinnesorgane wird deutlicher
ausgesprochen: „Das Sehen ist eine wirkliche Aktion der
Betina.'^^) Zu den Verstandesoperationen tritt als dritte die,
1) VI, 121. «) II, 34f. ») A. a. 0. S. 224, Z. 31, 32.
*) A. a. 0. S. 225, Z. 13—20.
') 1. Auflage von Welt als Wille und VorsteUung, BcL 2, S. 32,
2. Auflage U,39
Digitized by
Google
65
„aus fttnf DatiB — die nicht genannt werden, sondern fttr die
auf Thomas Reid hingewiesen wird — Gröfse and Entfemang
abzusehätzen/* 1) Die Lehre von der Materie zeigt eine Fort-
bildang in der deutlicheren Formnliemng ihrer erkenntnis-
theoretisehen Bestimmung „als der keinem Werden und Ver-
gehen unterworfenen . . . Grundlage aller Dinge/'^) femer in
der deatlieheren Formulierung der Ableitung der Beharrliehkeit
der Materie aus der Kausalität und der der Gleiohsetzung des
Verhältnisses von Substanz und Akzidenz mit dem von Wirk-
samkeit überhaupt und Wirkungsart >)
Eine Fortbildung zeigt sieh auch in den Ausführungen
über die Beziehungen des Empirischen in der Materie zu dem
Willen als dem Ding an sich der Objekte.^)
In der zweiten Auflage des Satzes vom Grunde
setzen folgende neuen Momente ein: Das Verfahren des Ver-
standes beim Zustandekommen der empirischen Anschauung
erfährt eine nochmalige Erweiterung. Zu den drei genannten
Momenten kommt als viertes, dafs der Verstand die dritte
Dimension hinzufüge. Die Beihilfen bei der Abschätzung der
Entfernung werden ausführlich behandelt und auf vier reduziert:
1. Die mutationes oculi,
2. der optische Winkel,
3. die Luftperspektive,
4. die bekannte Gröfse dazwischen liegender Gegen-
stände.^)
Ferner werden die Beihilfen, die das Getast zur Konstruktion
der empirischen Anschauung bietet, und diejenigen, die beim
Sehen die Empfindung liefert, ausgeführt; letztere sind:
1. Das Nebeneinander der Retina,
2. Die Gradlinigkeit des Lichtes, das im Auge selbst
gradlinig gebrochen wird, und
3. die Fähigkeit der Retina, die Richtung des ein-
dringenden Lichtstrahles zu empfinden.
>) Ebenda, 1. Auflage S. 28, 2. Auflage 11,85.
>) Sieh S. 49 dieser Schrift.
>) U,35f., ShnUch 11,59 u.62.
*) 11,860. »)in,84f.
Philosophische Abhuidlmi|rei>. XLII. 5
Digitized by
Google
66
Hier finden wir zuerst den Satz ansgesproehen, dafs „der
Lichtstrahl in die Dieke der Retina eindringe.^ i) Die Lehre
von der Materie weist eine zusammenfassende Darstellung, aber
keinen sachlichen Fortschritt auf.^)
In Parerga und Paralipomena Band II kommt ein
schon in Welt als Wille und Vorstellung') angelegter neuer
Beweis für die Idealität von Zeit und Baum zur klareren
Formulierung. Er ist darin gegeben, daTs .„die blofse Zeit
keine physische Wirkung hervorzubringen vermag* und .die
Materie durch alle sie ausdehnende Zerteilung oder auch
wiederum Zusammenpressung im Räume weder vermehrt noch
vermindert werden kann, wie auch darin, dals im absoluten
Räume Ruhe und geradlinige Bewegung phoronomisch zu-
sammenfallen und dasselbe sind."^) Die kausale «Notwendig-
keit alles Geschehenden, d. h. in der Zeit sukzessiv Eintretenden,"
und damit der Sache nach die in den früheren Schriften ge-
lehrte «innige Vereinigung* &) des Raumes mit der Zeit, erhält
eine ergänzende definitorische Bestimmung. Hier „ist die sieh
uns vermittelst der Kette der Ursachen und Wirkungen dar-
stellende Notwendigkeit alles Geschehenden, d.h. in der Zeit
sukzessiv Eintretenden blofs die Art, wie wir, unter der Form der
Zeit, das einheitlich und unverändert Existierende wahrnehmen,
oder auch sie ist die Unmöglichkeit, dafs das Existierende,
obgleich es von uns heute als zukünftig, morgen als gegen-
wärtig, übermorgen als vergangen erkannt wird, nicht dennoch
mit sich selbst identisch. Eins und unveränderlich sei.**)
Zusammenfassend können wir somit sagen: Von vornherein
grundlegend für die Lehre Schopenhauers von der empirischen
Anschauung ist die Einsicht in die besondere Bedeutung der
Kausalität für die Realität der Anfsenwelt. Die psychologische
Wendung dieses Gedankens in der Deutung des Zustande-
kommens der Erkenntnis der Anfsenwelt durch die kausal-
beziehende Tätigkeit des Verstandes ist schon in der ersten
Auflage des Satzes vom Grunde angelegt Die Entwicklung
auch der Lehre von der empirischen Anschauung weist zwei
>) 111,72. «)ni,99.
') II, 352, auch schon in der ersten Aufl. dieses Bandes (1844).
*) V, 47f. ») ni,42.
*) y, 51. Die letzte Sperrung findet sieb nicht im Text.
Digitized by
Google
67
QDgleieh bedeatsame Stufen auf: die erste, sprunghafte, von der
ersten Auflage des Satzes vom Grande zar ersten Auflage der
Welt als Wille und Vorstellung hin; die zweite, kontinuierliehe,
Ton da ab zu den späteren Werken. Jene ist wesentlich
gekennzeichnet durch die Einschränkung der Kategorien auf
die eine der Kausalität; weniger bedeutsam ist die Einschränkung
des unmittelbaren Objektes ; neu ist die Lehre von der Materie.
Die zweite Stufe können wir folgendermafsen zusammenfassen:
War schon die Einschränkung des Ausdrucks „unmittelbares
Objekt^, als nur im uneigentlichen Sinne zu verstehen, eine
Konsequenz der Forderung, dafs allererst durch die kausale
Erkenntnis des Verstandes die Vorstellung des Objektes entstehe,
so stellt sich als eine weitere Konsequenz dieser Forderung
die mit der zweiten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung
anhebende Wandlung in der Deutung der bis dahin im Hin-
blick auf ihre Nichtzugehörigkeit -zum Willen noch als Vor-
Btellnng in Anspruch genommenen Empfindung dar. Sie gilt
fortan als etwas, dem der Charakter der Vorstellung noch
nicht zukommt. Die Annahme des unmittelbaren Objektes als
des Ausgangspunktes für den Verstand, welche Annahme sieb
als eine Konsequenz der Einschränkung der Geltung der
Kanaalbeziefanng lediglich fttr die Beziehungen von Objekten
darstellt, bleibt indes bestehen. Wir fanden früher, dafs dieser
Widerspruch durch die metaphysische Ineinssetzung von blofser
Empfindung und physiologischer Erregung im Sinnesorgan zwar
verständlich, aber nicht aufgehoben wird. Weiter haben wir
za sagen, dafs eine kontinuierliche Entwicklung des empirischen
Nachweises der Verstandestätigkeit von der ersten Auflage von
Sehen und Farben bis zur zweiten Auflage des Satzes vom Grunde
bemerkbar ist Die Lehre von der Materie erfährt von der ersten
Auflage der Welt als Wille und Vorstellung an keine prinzipielle
Änderung, sondern nur eine Weiterbildung von solchen Gedanken,
die dort und zum Teil schon in der ersten Auflage des Satzes
Tom Grunde angelegt sind. Allein dem aufmerksamen Leser
wird es nicht entgehen, dafs Schopenhauer in den späteren
Werken mit der Formulierung insbesondere von zwei Gedanken
ringt Der eine ist die Deutung der Materie als der Grundlage
^es Realen, der andere, damit zusammenhängende, die Deutung
des Verhältnisses von Substanz und Akzidenz als des zwischen
5*
Digitized by
Google
68
Wirksamkeit überhaupt und Wirknngsart. Dies ist in der Tat
von historischer Bedentang, wie wir noch sehen werden.
Es sei hier gestattet, za einer von Theodor Lorenz <)
vertretenen Auffassung einiges zu bemerken. Dieser nämlich
sagt, dafs nach der Darstellung in der ersten Auflage des
Satzes vom Grunde, nach welcher ,das unmittelbare Objekt
erst durch die Anwendung der Kategorien der Einheit, Sab*
sistenz, Realität usw. zum Objekt wird*^,') «die sinnliehe
Anschauung des eigenen Leibes auf einem ganz anderen
psychischen Wege zustande käme, als die aller anderen
Körper",^) und dafs diese Darstellung, wenngleich «psycho-
logisch noch weniger haltbar als die spätere^, so doch «den
Widerspruch, welcher dem Aprioritätsbeweis in den späteren
Schriften anhaftet, die nur noch die Kategorie der Kausalität
gelten lassen, klärt*. ^) Diese Zurechtlegung der Oedanken
Schopenhauers hat nur dann ein, wenngleich noch einzu-
schränkendes Recht, wenn sie darauf fnfst, dafs in der ersten
Auflage des Satzes vom Gründe ein Vorstellungsmälsiges den
Ausgangspunkt ftlr den Kausalschlufs auf das reale Objekt
bildet Nicht, dafs ftlr das unmittelare Objekt die Kategorien
auiser der Kausalität in Anspruch genommen werden — denn
die Ineinssetzung des unmittelbaren Objekts mit der „unmittel-
bar gegenwärtigen Vorstellung* enthält dieselbe prinzipielle
Schwierigkeit, wie die spätere mit der blolsen Empfindung,
deshalb nämlich, weil sie nicht als psychologische gelten
kann — sondern lediglich, dafs die Annahme eines kategorial
bestimmten und insofern vorstellungsmäfsigen Ausgangspunktes,
nämlich in der «unmittelbar gegenwärtigen Vorstellung",
möglich sei, würde geeignet sein, die Schwierigkeiten, die sich
ftlr den Ausgangspunkt der kausalen Erkenntnisweise des Ver-
standes in den späteren Schriften ergeben, zu mildem. Dafs
in diesem Sinne die «unmittelbar gegenwärtige Vorstellang*
genommen werden kann, ist eine naheliegende Folgerung aus
den Erörterungen des § 21 der genannten Schrift. Dort lesen
wir: „Vorstellungen sind unmittelbar gegenwärtig, heifst: sie
werden nicht nur in der vom Verstände vollzogenen Vereinigung
») A. a. 0. S. 8.
>) 1. Auflage des Satzes vom Qrnnde S. 54.
•) A. a. 0. S. 8.
Digitized by
Google
69
Yon Zeit und Raum, d. h. im Ganzen der Erfahrang, sondern
sie werden al8 Yorstellnng des inneren Sinnes in der blofsen
Zeit erkannt^' i) Es kommt ihnen, so dürfen wir folgern, alles
das za, was den objektiven Vorstelinngen noeh anüser ihren
raamzeitlichen nnd kausalen Bestimmungen eigen ist Es
bleiben ihnen also die kategorialen BestimmaDgen aufser
der Kausalität Betrachten wir die ,, unmittelbar gegenwärtige
Vorstellung' als Aasgangspunkt fUr die Verstandestätigkeit, so
bat dieser also den Charakter des VorstellnngsmäTsigen. So
naheliegend diese Folgerung aber auch ist, so ist sie doeh
nieht ansdrtteklich von Schopenhauer gezogen. Sie mnfs viel-
mehr schon deshalb eine nachträglieh harmonisierende Dentung
genannt werden, weil Schopenhauer der dabei geltend ge-
machte psychologische Gesichtspunkt fernliegt Dies zeigt
sieh nicht nur darin, dals er von Schopenhauer nicht zum
Problem erhoben wird, es zeigt sich deutlicher noch in einer
Reihe yon Unstimmigkeiten. Eine Unstimmigkeit zeigt sich
darin, dafs die oben als möglich aufgewiesene Auffassung,
die Anwendung der Kategorien aufser der Kausalität auf die
„unmittelbar gegenwärtige Vorstellung' gehe, psychologisch be-
trachtet, dem Kausalschlnis auf das Vermittelte vorher, sich nicht
reinlich dnrchf&hren läfst; denn es heifst im §24 derselben Schrift:
«Die Erkenntnis der vermittelten Objekte aber fängt nun mit
der Kategorie der Kausalität an, geht von dieser aus. Von
der Veränderung im Auge, Ohr oder jedem andern Organ wird
auf eine Ursache geschlossen, und solche wird im Raum dahin,
von wo ihre Wirkung ausgeht, als das Substrat dieser Kraft
gesetzt, und dann erst können die Kategorien der Subsistenz,
Dasein usw. auf sie angewandt werden.''^) Auch der Satz:
«Ohne Anwendung derselben (der Kategorie der Kausalität)
bliebe es bei der blofsen Empfindung 'S) pafst nicht zu dem
genannten psychologischen Deutungsversuch. Dazu kommt,
dals es fraglich bleibt, ob der oben genannte Satz: „Das un-
mittelbare Objekt selbst wird erst durch die Anwendung der
Kategorien der Subsistenz, Realität, Einheit usw. zum Objekt'
in dem Sinne gedeutet werden darf, dafs es hier durch die
>) 1. Auflage des Sutses vom Grunde S. 35, 36.
>) Ebenda S. 54.
>) Ebenda S. 54.
Digitized by
Google
70
AnwenduDg der Kategorien anfser der Eansalität zam anmittel-
baren Objekt werde. Es bleibt vielmebr aaeb die Auffassung
mSglicb, dafs Objekt bier die Dentang von vermitteltem Objekt
habe and anter jenen Kategorien die der Kaasalität ein*
gesehlossen sei, was der oben genannten Anwendung der
übrigen Kategorien zeitlieh nach der der Kaasalität entsprechen
würde. Daza kommt endlieh noeb, dafs aaeb mit jener
Deatang der „anmittelbar gegenwärtigen Vorstellang* als des
Yorstellangsmäfsigen Ansgangspanktes fllr den Kaasalsehlofs
aaf das vermittelte Objekt der Widersprach za dem Gleltangs-
bereiche der Kaasalität, als lediglich innerhalb des (jebietes
der ersten Klasse der Vorstellangen, «der Welt der realen
Objekte ',!) geltend, nicht gehoben würde. Diese Unstimmig-
keiten drängen za der Aaffassang, dafs aaeb schon für die
erste Auflage des Satzes vom Grande diejenige Dentang die
wahrscheinliche ist, die wir fttr die späteren Schriften als die
zutreffende aufwiesen,') nämlich die unbesehene Ineinsetzung
hier der psychologischen Tatsache der unmittelbar gegen-
wärtigen Vorstellung mit der physiologischen der Erregung in
dem Sinnesorgan, wodurch dieses zum unmittelbaren Objekt wird.
Über die aUgemeinen historischen Grundlagen
der Lehre Schopenhauers.
Die Problemlage der Philosophie zu der Zeit, in die die
Entwicklung der Grundgedanken der Lehre Schopenhauers
fällt,*) ist in Deutschland durch die Wirksamkeit derjenigen
Elemente der kantischen Philosophie gekennzeichnet, die zu
einer metaphysischen Reaktion gegen die Kritik der reinen
Vernunft drängten. Eine Schwierigkeit in dem Gedanken-
0 Ebenda S. 67.
3) S. 40 dieser Schrift.
*) Sieh Paul Wapler «Die geschichtlichen Gnindhigen der WeU-
anschaunng Schopenhauers''. Archiv für Geschichte der Philosophie,
Band 18, 1905, S. 369f.; ehie ihr Thema zwar nicht erschöpfende, aber
manches Brauchbare enthaltende Abhandlung.
Digitized by
Google
71
gange der Kritik ist es, die fllr die naehkantische Philosophie
entscheidend wird. Sie liegt in dem Widersprach zwischen
der Voraassetzung wirkender Dinge an sich in der transzenden-
talen Ästhetik and dem kritischen Ergebnis der Analytik, der
Beschränktheit aller unserer Erkenntnis durch das Oebiet
möglicher Erfahrung, i) Das Aufgeben der Voraussetzung
wirkender Dinge an sich und das Hineinverlegen der ihnen
abgesprochenen Funktionen in das Ich ffthrt, unter Berührung
mit spinozistischen Gedanken, zu der Entwicklung, die durch
die Lehren Fiehtes, Schellings und Hegels repräsentiert wird.
unter Beibehaltung der Dinge an sich, aber empiristischer
Wendung der Lehre Kants von Sinnlichkeit und Verstand wird
Herbart, mitbestimmt durch Leibnizsche Gedanken, zu einem
sobstanzialen Pluralismus geführt Die dritte Form der meta-
physischen Reaktion gegen die Kritik der reinen Vernunft ist
in der Liehre Schopenhauers gegeben, der diesen gemeinsamen
Zog insbesondere mit Fichte, Schelling und Hegel nicht in
dem Ifalse erkannt hat, wie es der historischen Entwicklung
tatsächlich entspricht Waren die beiden zuerst gekenn-
zeiehneten Sichtungen wesentlich bestimmt durch den Inhalt
der theoretischen Lehre Kants, so kommen bei Schopen-
hauer die Gedankengänge der praktischen entscheidend zur
Geltung. Die intelligibele Kausalität, die sich nach Kant in
unserem sittlichen Wollen geltend macht, und die uns als
Glieder der Welt der Dinge an sich kennzeichnet, ist es im
besonderen, die von Schopenhauer zu dem, auch von seinen
Zeitgenossen, namentlich Schelling, berührten Gedanken weiter-
gebildet wird, dafs der Wille nicht eine Bestimmung des
I^ges an sieb, sondern das Ding an sich selbst sei. Ergriffen
^on verwandten Gedanken der indischen Philosophie, und in
Anlehnung an die nach der Analogie des Dinges an sich auf-
gefalste Ideenlehre Piatos, gelangt Schopenhauer zur Aus-
gestaltung seiner Lehre. Was ihn von Herbart unterscheidet
^d ihm mit Fichte, Schelling und Hegel gemeinsam ist, ist
der Gedanke, der das Absolute als absolute Tätigkeit auf-
fassen labt, bei Schopenhauer aber so gewandt, dafs alle die
^) Sieh Benno Erdmaan, Znr Charakteristik der Philosophie der
^enwart in Deutschhnd. Deutsche Randschau Bd. 19, S. 400.
Digitized by
Google
72
Bestimmangen fehlen, die bei Fichte, Schelling und Hegel das
Absolute als vernnnftmäfsig charakterisieren J)
Der unmittelbare Ausgang von Kant ist jfiir Schopenhauers
Lehre entscheidend. Er anerkennt die geschichtliche Bedeutung
Kants in der Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an
sich «auf Grund der Nachweisung, dafs zwischen den Dingen
und uns immer noch der Intellekt steht, weshalb sie nicht
nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, erkannt weiden
können." 2) Seine Auffassung von der Lehre Kants ist mit-
bestimmt durch die Interpretation und Kritik, die 6. K Schuhe,
sein Lehrer in Göttingen, an ihr geübt hatte. Angeregt durch
Jakobis Kritik an der kantisohen Philosophie, hatte Schulze
den Gedanken, dafs Dinge an sich zwar unerkennbar seien,
aber doch als Gegenstände des reinen Denkens vorausgesetzt
werden mttfsten, dahin aufgelöst, daüs Dinge an sich Ober-
haupt undenkbar seien. . Gegen Reinhold und damit gegen
Kant gewandt, hatte er festgestellt, daüs diese einen Beweis
für die Existenz der Dinge an sich nicht geliefert hätten, und
hatte in scharfer Kritik besonders auf den Widerspruch zwischen
der Annahme wirkender Dinge an sich und dem Resultat der
transzendentalen Analytik, der Einschränkung des Erkenntnis-
gebrauches der Kategorien durch die Erfahrung hingewiesen.
Mit Jakobi und Schulze hat Schopenhauer das Verdienst, auf
die realistischen Voraussetzungen, die der Kritik der reinen
Vernunft zugrunde liegen, kritisch hingewiesen zu haben.
Mit Schulze stimmt er auch darin ttberein, dafs die Kritik der
reinen Vernunft konsequenterweise idealistisch zu inter-
pretieren sei.
Von seiner metaphysischen Basis aus wird es fttr Schopen-
hauer methodisch möglich, Kants kritischen Grundgedanken
der Beschränktheit aller unserer Erkenntnis durch das Gebiet
möglicher Erfahrung fttr die Kausalität der auf uns wirkenden
Dinge aufrechtzuerhalten. Von der Voraussetzung der intuitiven
Erfassung des Dinges an sich in unserm Willen und der ana-
logen Deutung des Dinges an sich in dem auüser uns Vor-
0 Aus Benno Erdmanns Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie, denen auch viele andere Gedanicen dieser Schrift teils entstammen,
teils ihre Anregung verdanken.
«) 1, 534.
Digitized by
Google
73
^anäeuen aus ist nämlich Sehopcnbaner, wenigstenB formal,
iei li(otweiidigkeit enthoben, eine Wirksamkeit der Dinge an
ue\i, die sich in den Sinnesempfindungen geltend maehe, zu
dedmeien. Das Verhältnis des Willens als des Dinges an sieh
des aufser nns Vorhandenen zu dem Inhalt unserer subjektiven
Sinnesempfindungen ist fllr ihn vielmehr dasjenige meta-
physische, unserm Erkennen unzugängliche Verhältnis, das sieh
onserm Vorstellen als das von Ursache und Wirkung darstellt. 0
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung zur Lehre Kants.
Im aUgemeinen.
Zu dem angeführten, das allgemeine Verhältnis der
metaphysischen und erkenntnistheoretischen Lehre Kants zu
der Sehopenhauers kennzeichnenden, kommt eine Reihe
spezieller erkenntnistheoretiseher und psychologischer Be-
rührungspunkte in der Lehre von der empirischen Anschauung.
Indem wir auf eine Untersuchung derselben näher eingehen,
wollen wir prüfen, welches die Auffassung Sehopenhauers von
der Lehre Kants und seines Verhältnisses zu derselben in den
in Betracht kommenden Punkten ist, und wie sich das tat-
sächliche Verhältnis beider Lehren zueinander darstellt.
In Übereinstimmung mit Kant sind bei Schopenhauer die
Empfindungen der gegebene Stoff, bei dessen Aufnahme der
Intellekt sich rezeptiv verhält. Eine Empfindung ist nach
Schopenhauer ,der Eindruck, für den allein wir blofse Rezep-
tivität haben. 2)'' Eine Abweichung von Kant ist darin gegeben,
daffl Schopenhauer lediglich der Empfindung Rezeptivität zu-
schreibt, während bei Kant auch die reine Anschauung des
Baumes und der Zeit dazu gehört Diese Rezeptivität der
Empfindung hat jedoeh bei Schopenhauer eine andere meta-
0 Vgl. S. 25 dieser Schrift
«) 1,560.
Digitized by
Google
74
physische Grnndlage, als bei Kant, insofern nämlich einer Wirk-
samkeit von Dingen an sich aaf uns fllr ihn ansgeschlossen bleibt.
In welchem Sinne die Rezeptivität der Empfindangen bei Schopen-
haner eine metaphysische Bedeutung hat, geht aus folgender
Stelle hervor: „Könnten wir eine gegebene Materie von allen ihr
a priori zukommenden Eigenschaften, d. h. von allen Formen
unserer Anschauung und Apprehension entkleiden, so wtlrden wir
das Ding an sich übrig behalten, nämlich dasjenige, was mittels
jener Formen als das rein Empirische an der Materie auftritt,
welche selbst aber alsdann nicht mehr als ein Ausgedehntes
und Wirkendes erscheinen würde, d. h. wir würden keine Materie
mehr vor uns haben, sondern den Willen.^ i) Die bloCsen
Empfindungen also, so dürfen wir interpretierend sagen, sind
in derjenigen unserm Erkennen unzugänglichen Weise ent-
standen zu denken, die für die methaphysische Beziehung des
Willens als des Dinges an sich der aufser uns vorhandenen
Materie zu dem Willen als dem Ding an sich in uns selbst
gilt, und sich unserm Vorstellen als die Wirksamkeit der
Materie auf unsere Sinnesorgane darstellt Insofern sie, so
kann im Sinne Schopenhauers gefolgert werden, ihren meta-
physischen Ursprung nicht lediglich in dem Willen als dem
Ding an sich in uns selbst, sondern zum andern Teil auch in
dem Willen als dem Ding an sich der Materie aufser nns
nehmen, sind sie rezeptiv^ im Gegensatz zur Spontanität unseres
Intellektes, der als Wille zum Erkennen lediglich unserm
eigenen Willen metaphysisch entspringt.^) Die Lehre Schopen-
hauers von der Rezeptivität der Sinnesempfindungen enthält
jedoch trotz der formalen Ablehnung der Kausalität für das
Verhältnis der Dinge an sich zu uns, und trotz des heftigen
Widerspruchs Schopenhauers gegen die der Lehre Kants tat-
sächlich zugrunde liegende Voraussetzung wirkender Dinge
an sich eine analoge Schwierigkeit wie die Lehre Kants. Sie
liegt darin, dafs für eine kritische Betrachtung die Annahme
eines metaphysischen Zusammenhanges des Willens in dem
aufser uns Vorhandenen mit unserem eigenen metaphysischen
Willen nicht anders als im Sinne eines kausalen Znsammen-
») ir, 360.
*) Vgl. S. 6 dieser Schrift.
Digitized by
Google
75
hangea ^eTständlieh ist. Dazu kommt bei Sobopenbaner, dafs
dei Aufweis des Willens in dem anfser uns Vorbandenen sich
ala eme Beibe von Analogiescbltlssen darstellt, der die Vor-
anBsetziiBg des im Prinzip ansgescblossenen Kausalgesetzes in
der Tat doeb wieder zngrnnde liegt, nämlieb in dem still-
schweigend Yoransgesetzten Postnlat, dafs in den Körpern
anlser nns in dem Halse, wie sie dem unseren ähnlich sind,
ähnliehe Ursaehen wirksam sind.^)
völlig gewonnen ist Sebopenbauer von Kants Lehre in
der transzendentalen Ästhetik. Er ist mit Kant, auch den
Beweisgründen nach, einverstanden, dafs ein Verständnis der
Sinnenwelt nur dadurch mögUeh ist, dafs Baum und Zeit als
apriorische Formen der sinnlichen Anschauung angesehen
werden.*)
Ein Schopenhauer eigentttmlicbes Argument ist darin ge-
geben, dafs „die blofse Zeit keine physische Wirkung bervor-
znbringen vermag^,') sie „vielmehr über die Dinge binfliefst,
ohne ihnen die leiseste Spur aufzudrücken'' ,3) und dafs ,die
Materie durch alle sie ausdebnende Zerteilung oder auch
wiederum Zusammenpressung im Baume weder vermehrt noch
vermindert werden kann, wie auch dafs im absoluten Baume
Bähe und geradlinige Bewegung phoronomisch zusammenfallen
und dasselbe sind',^) ein Argument also, das diesem Besultat
nach zwar in Übereinstimmung mit Kant, die funktionale
Unabhängigkeit der Baum- und Zeitbeziehung von der Kausali-
tät und damit von der Wirklichkeit dartut. Dieser Gedanke
ist schon in Welt als Wille und Vorstellung Band 11. 1. Aufl.
angelegt. Dort heifst es: «Man kann selbst, indem man die
Machtlosigkeit der Zeit den Naturkräften gegenüber ins Auge
fiabt, von der blofsen Idealittt dieser Form unserer Anschauung
gewissermafsen sieh empirisch und faktisch tlberzengen.*^) Mit
1) VglBudolf Seydel „Schopenhauers phUosophisches System", S.22ff.,
64 f., Johannes Volkelt, Arthur Schopenhauer, Fromnums Khisslker der
Philosophie, Band X, 3. Aufl. 1907, S. 107 und Robert Schlüter a. a. 0.,
S.23f.
*) Sieh Oswald Külpe, Immanuel Kant, »Aus Natur und Geisteswelt*
146. Biadehen, 3. Aufl., Leipzig 1912, S. 57.
») V, 47; Shnlich IV, 105. *) V, 49.
0 II, 852.
Digitized by
Google
76
dieBem Gedanken, so haben wir za sagen, ist die Idealität des
Ranmes nnd der Zeit auch, gegenüber der empirischen Wirk-
lichkeit dargetan; denn es «folgt, dafs die Zeit etwas die
Körper nicht Berührendes ist, ja dafs beide heterogener Katnr
sind, indem diejenige Realität, welche den Körpern zakommt,
der Zeit nicht beizulegen ist, wonach denn diese absolut ideal
ist, d. h. der blofsen Vorstellung und ihrem Apparat angehört' 0
Sie ist , nichts Wahrnehmbares, nichts äufserlich Gegebenes
und auf uns Einwirkendes, also kein eigentlich Objektives.' 2)
Mit dieser Argumentation für die Idealität des Raumes und
der Zeit bleibt die schon in den früheren Schriften Schopen-
hauers gegebene zugleich bestehen: Die «Materie ist demnach
nur die objektivierte, d. h. nach aufisen projizierte Verstandes-
funktion der Kausalität selbst, demzufolge gibt, bei der
objektiven Auffassung der Körperwelt der Intellekt die sämt-
lichen Formen derselben aus eigenen Mitteln, nämlich Zeit,
Raum und Kausalität, und mit dieser auch den Begriff der
abstrakt gedachten, eigenschafts- und formlosen Materie, die
als solche in der Erfahrung gar nicht vorkommen kann.* ') .Mit
unendlich überlegener Besonnenheit zeigte nun später Kant,
dafs auch diese Eigenschaften [die primären Qualitäten Lecks]
nicht dem rein objektiven Wesen der Dinge oder dem Dinge
an sich selbst zukommen, also nicht schlechthin real sein
können, weil sie durch Raum, Zeit und Kausalität bedingt
seien, diese aber, und zwar ihrer ganzen Gesetzmälsigkeit und
Beschaffenheit nach uns vor aller Erfahrung gegeben und
genau bekannt seien; daher sie präformiert in uns liegen
müssen, so gut wie die spezifische Art der Empfänglichkeit
und Tätigkeit jedes unserer Sinne.* ^)
Einen doppelten Sinn der Idealität des Raumes und der
Zeit, so seheint es, haben wir zu unterscheiden; sie sind erstens
ideal gegenüber der empirischen Wirklichkeit und zusammen
mit dieser im weiteren Sinne ideal gegenüber der Welt des
Willens als des Dinges an sich. Es scheint allerdings nur so;
denn dem aufmerksamen Leser der Parerga und Paraligomena;
insbesondere des zweiten Bandes, wird es nicht entgehen, dafs
») V, 48. ») V, 50.
») V, 119. *) IV, 106, 107.
Digitized by
Google
77
hier ein Gedanke sich darcbzariDgen sncht, der der Sache
nach eine Einschränkung der Idealität der Welt als Vorstellung
bedeutet An der oben zitierten Stelle heifst es nämlich weiter:
„Während hingegen die Körper dorch die mannigfaltige Ver-
Bchiedenheit ihrer Qualitäten und deren Wirkungen an den
Tag legen, dafs sie nicht blofs ideal sind, sondern zugleich ein
objektiv Reales, ein Ding an sich selbst, in ihnen sich offen*
bart, so verschieden solches auch von dieser seiner Erscheinung
sein möge.^ >) Schon in der ersten Auflage des II. Bandes der
Welt als Wille und Vorstellung findet sich eine ähnliche, bereits
oben einmal zitierte Ausführung: „Könnten wir eine gegebene
Materie von allen ihr a priori zukommenden Eigenschaften ....
entkleiden, so würden wir das Ding an sich ttbrig behalten,
Dämlich dasjenige, was mittelst jener Formen als das rein
Empirische an der Materie auftritt . . .^ ') In diesem Sinne
ist aneh die, die transzendentale Problemstellung Kants freilich
verkennende Interpretation der Kantischen Philosophie ge-
halten, die Schopenhauer im ersten Band der Parerga und
Paralipomena gibt, dort heifst es: „Nach Kants Entdeckungen
enthält . . . unsere empirische Erkenntnis ein Element, welches
nachweisbar subjektiven Ursprungs ist, und ein anderes,
Ton dem dieses nicht gilt: dieses letztere bleibt also objektiv,
weil kein Grund ist, es fttr subjektiv zu halten. Demgemäfs
leugnet Kants transzendentaler Idealismus das objektive Wesen
der Dinge oder die von unserer Auffassung unabhängige
Realität derselben zwar soweit, als das Apriori in unserer
Erkenntnis sich erstreckt, jedoch nicht weiter, weil eben der
Crrnnd zum Ableugnen nicht weiter reicht: was darüber hinaus-
liegt, läfst er demnach bestehen, also alle solche Eigenschaften
der Dinge, welche sieh nicht a priori konstruieren lassen.
Denn keineswegs ist das ganze Wesen der gegebenen Er«
scheinungen, d. h. der Körperwelt, von uns a priori bestimmbar,
Bondem blofs die allgemeine Form ihrer Erscheinung ist es,
und diese läfist sich zurückfahren auf Raum, Zeit und Kausali-
tät, nebst der gesamten Gesetzlichkeit dieser drei Formen.
Hingegen das durch alle jene a priori vorhandenen Formen
unbestimmt Gelassene, also das hinsiohtlich auf sie Zufällige,
0 V, 48. «) II, 360.
Digitized by
Google
78
ist eben die Manifestation des Dinges an sich selbst^ 0 ^^^^
hier ist zwar die Kausalität als a priorische Form dem Baum
und der Zeit wiederam koordiniert; doch gibt es auch hier einen
empirischen Bestand der Materie, der in einem weiteren Sinne
real ist als die blofs vorgestellte Wirklichkeit, weil er nämlich
anf das zagrnnde liegende Ding an sich hinweist Dieser
empirische Bestand ist eben das, was sich als die spezifischen
Körper darstellt, die an der oben genannten Stelle als das
physisch Beale der Idealität von Raum und Zeit gegenttber-
gestellt wurden. In diesem Sinne wird anch folgende Aus-
führnng verständlich: „Sobald nun aber der Intellekt mittelst
dieser Formen und in ihnen einen (stets nnr von der Sinnes-
empfindang aasgehenden), realen Gehalt, d. h. etwas von seinen
eigenen Erkenntnisformen Unabhängiges spürt, welches nicht
im Wirken Überhaupt, sondern in einer bestimmten Wirkungs-
art sich kundgibt, so ist es dies, was er als Körper, d. h. als
geformte und spezifisch bestimmte Materie setzt, welche also
als ein von seinen Formen Unabhängiges auftritt, d. h. als ein
durchaus Objektives. Hierbei hat man sich aber zu erinnern,
dafs die empirisch gegebene Materie sich Überall nur durch
die in ihr sich äufsernden Kräfte manifestiert . . . Beide zu-
sammen machen den empirisch realen Körper aus. . . . Das in
einem solchen empirisch gegebenen Körper, also in jeder Er-
scheinung, sich darstellende Ding an sich selbst, habe ich als
Willen nachgewiesen.' 2)
Wird nun aber so auch verständlich, wie der Begriff der
Materie überhaupt zwar eine a priorische Form unseres In-
tellektes, die spezifische Art des Wirkens aber von diesen
Formen unabhängig sei, so bleibt doch noch eine innerhalb
des Gedankenganges Schopenhauers unaufhebbare Schwierig-
keit; denn anch für die Parerga und Paralipomena gilt: .Unsere
ganze empirische Erkenntnis löst sich in zwei Bestandteile auf,
welche beide ihren Ursprung in uns selbst haben, nämlich die
Sinnesempfindung und die a priori gegebenen, also in den
Funktionen unseres Intellekts oder Gehirns gelegenen Formen
Zeit, Raum und Kausalität . . . Demzufolge liefert die anschau-
liche Vorstellung und unsere auf ihr beruhende empirische
')1V, 111. «)V, 119.
Digitized by
Google
79
Erkenntnis in Wahrheit keine Data zu Sehlttssen anf Dinge
an sich.^1) „In der Tat ist das Ding an sieh auf diesem
Wege [dureh den Übergang von der Wirkung zur Ursache]
nimmermehr zu erreichen, und überhaupt nicht auf dem der
rein objektiven Erkenntnis, als welche immer Vorstellung bleibt,
als solche aber im Subjekt wurzelt und nie etwas von der
Vorotellong wirklich Verschiedenes liefern kann.^^) Entgegen
dieser prinzipiell festgehaltenen «gänzlichen Diversität des
Realen und Idealen*^) enthalten die oben angeftthrten
Wendungen Schopenhauers den Gedanken eines empirischen
Kriteriams für die Zogehörigkeit des vorerst blols vorge-
stellten Wirklichen zum transzendenten Wirklichen. Em-
piriseh ist dieses Kriterium im Gegensatz zu der dem Satz
vom Grunde nicht unterworfenen Kontemplation der Idee als
der Objektität des Willens; denn „die Idee . . . geht in jenes
Prinzip nicht ein: daher ihr weder Vielheit noch Wechsel
zakommi Während die Individuen, in denen sie sich darstellt,
unzählige sind und unaufhaltsam werden und vergehen, bleibt
sie unverändert als die eine und selbe stehen, und der Satz
Tom Grunde hat ftir sie keine Bedeutung.''^)
Mit den angeführten realistischen Wendungen nähert sich
Sehopenhauer der von ihm im Prinzip verkannten transzenden-
talen Problemstellung Kants in der Frage nach der objektiven
Gflltigkeit unseres Erkennens: ,Auf welchem Grunde beruhet
die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt,
anf den Gegenstand?*" &), sofern nämlich hierbei Gegenstand
nicht gleichbedeutend ist mit Vorstellung, sondern mit Ding
an sieh. Die beiden Merkmale des Begriffes des a priori, die
wir bei Kant unterscheiden können, das genetische, demzufolge
ein Begriff nicht in dem Empirischen der Erfahrung seinen
Ureprung hat, und das erkenntnistheoretische, demgemäfs er
onabhängig von jeder Bestätigung durch die Erfahrung gültig ist,
können mi zwar auch bei Schopenhauer aufweisen. Für ersteres
sprechen alle die Bemerkungen, die das apriori Gegebene als
*) IV, 113f. «) IV, 114.
»)IV, 106. *) 1,233.
<) Brief Kants %rk Markus Herz, 21. Febr. 1772; ähnlich so Kritik
der remen Vernunft, 2. Aufl. S. 122.
Digitized by
Google
80
«Dicht anf dem Wege der Erfahrnng gewonnen, also nieht
von anf gen in nns gekommen* i) kennzeichnen, ftlr letzteies
alle diejenigen, die die Erkenntnisse a priori als Bedingungen
möglicher Erfahrung^) charakterisieren. Die Frage naeh der
objektiven Gültigkeit unseres Erkennens aber hat Air Schopen-
haner im Prinzip wenigstens lediglich für die vorgestellten
Objekte einen Sinn.
Aber auch wenn wir die angeführten realistischen
Wendungen Schopenhauers einmal gelten lassen, so bleibt die
Behauptung der Idealität von Baum und Zeit gegenüber dem
empirisch Wirklichen ein Kant nicht eigentümlicher Gedanke;
denn Raum und Zeit haben für Kant eine empirische Realität
in demselben Sinne wie jede empirische Erkenntnis; sie sind
für ihn nicht blofse Vorstellungen, sondern Erscheinungen und
weisen als solche ebenso wie das Mannigfaltige der Sinnes-
empfindungen auf das ihnen zugrunde liegende Transzendente
hin, freilich nicht wie das Empirische an der Materie bei
Schopenhauer vermöge ihrer Unabhängigkeit von den Er-
kenntnisformen, sondern vermittelst dieser.
Zu den beiden genannten kommt ein dritter Berührungs-
punkt, nämlich in der Lehre vom Gegenstande überhaupt
«Das was allen unsem empirischen Begriffen überhaupt
Beziehung auf einen Gegenstand, die objektive Realität, ver-
schaffen kann", ist nach Kant „der reine Begriff von dem trans-
zendentalen Gegenstande.* Diese Beziehung aber ist nichts
Anderes, als die notwendige Einheit des Bewufstseins, mithin
die Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche
Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden^),
die Einheit der «transzendentalen Apperzeption^. „Das Denken
eines Objektes überhaupt" ist bei Kant nicht eine selbständige,
anderen koordinierte Funktion des Denkens, es ist vielmehr
das den reinen Kategorien gemeinsame Merkmal. „Durch eine
reine Kategorie nun, in welcher von aller Bedingung der
sinnlichen Anschauung als der einzigen, die uns möglich ist.
») 1,559.
*) 1, 109; 11,96; ähnlich II, 358 and Arthur Schopenhauers sämtliche
Werke, herausgegeben von P. DenDsen, Bd« IX, S. 121, Z. 11 ff.
*) 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 109.
Digitized by
Google
81
abstrahiert wird, wird also kein Objekt bestimmt, sondern nnr
das Denken eines Objekts überhaupt nach versehiedenen Modis
(des Urteilens) aasgedrftekt'^^) Das Problem des Gegenstandes
überbaapt geht bei Schopenhauer in dem der Vorstellnng über-
haupt anf: „Objekt für das Subjekt sein und unsere Vorstellung
BeiD, ist dasselbe".^) Jenes Problem ist diesem darin analog,
dars auch die Form der Vorstellung überhaupt bei Schopenhauer
keiner anderen Form des Denkens gleichgeordnet, sondern die
allen Klassen der Vorstellungen übergeordnete, weil in ihnen
als gemeinsames Merkmal enthaltene Form ist. Dieses mit
der Lehre Kants Übereinkommende meint Schopenhauer, wenn
er sagt: ,Wenn wir Kants ÄuDserungen zusammenfassen,
werden wir finden, dalB, was er unter der synthetischen Einheit
der Apperzeption versteht, gleichsam das ansdehnungslose
Zentrum der Sphäre aller unserer Vorstellungen ist, deren
Radien zu ihm konvergieren. Es ist, was ich das Subjekt des
Erkennens, das Korrelat aller Vorstellungen nenne".^) Eine
Spezialisiernng des genannten Problems liegt bei Schopenhauer
in der Aufstellung der vier Klassen der Vorstellungen, eine
Erweiterung darin, dafs Baum und Zeit als den übrigen
koordinierte Vorstellungen gelten. Damit hängt zusammen, dafs
bei Schopenhauer die Beziehungen des Baumes, der Zeit und
der Kausalität, im Unterschied von Kant, aus einer gemeinsamen
lo^schen Wurzel, nämlich der des Satzes vom Grunde, abgeleitet
werden. Auch Kant sagt gelegentlich, „dafs es zwei Stämme
der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer
gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen,
Dämüeh Sinnlichkeit und Verstand",*) jedoch ist hier die Wurzel
eine metaphysische und in der unio realis des mundus sensibiUs
und des mundus intelligibilis, die Kant im Menschen vollzogen
sieht, gegeben. Als metaphysisch fundierte, hat diese Annahme
allerdings ein Analogen bei Schopenhauer, nämlich in der Lehre
^om Willen als dem metaphysischen Ursprung des Intellektes,
einschliefslich der Sinnesempfindungen.^) Es ist aber nicht
') 2. Auflage der Kritik der reinen Vernnnft S. 304.
')III,40. ») 1,576.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 29.
') Sieh S. 24, 25 dieser Schrift.
I*^il<Mopfaiiohe AbhMidluD^en. XLII. 6
Digitized by
Google
82
ansgeschlosBen, dafs jene Bemerkung Kants, deren Gedanke
für die Entwicklung der Philosophie nach Kant bedentsam
geworden ist, so bei Reinhold und Fichte, auch auf Schopenhauer,
vielleicht unter dem Miteinflufs letzterer, unabhängig aber, wie
wohl anzunehmen ist, von verwandten Gedanken bei Ch. A.
Grusius,!) anregend für den bertthi*ten Punkt seiner Lehre von
der Wurzel des Satzes vom Grunde gewirkt hat. Eine Ver-
engung des eben genannten Problems liegt bei Schopenhauer
darin, dafs die Frage nach dem Geltungsbereich der Kategorien
über unsere sinnliche Anschauung hinaus, die bei Kant in dem
Sinne beantwortet wird, dafs die reinen Verstandesbegriffe sieb
auf Gegenstände der Anschauung überhaupt erstrecken, sie mag
der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlieh
und nicht intellektuell ist,^) bei Schopenhauer fortfällt und
endlich darin, dafs die Bestimmung des transzendentalen
Objektes als eines Grenzbegriffes für Schopenhauer dadureh
ausgeschlossen ist, dafs das Objekt des Erkennens bei ihm
im Prinzip lediglich als Vorstellung Bedeutung hat. Dies fllhrt
uns zu der Frage nach dem Gegenstande der empirischen
Erkenntnis in den Lehren beider.
Gegenstand der empirischen Ansehanung und
Znstandekommen derselben.
Die Lehre Kants vom Gegenstande der Erkenntnis ist
von Schopenhauer einer scharfen Kritik unterzogen worden.
Als schwerer Mangel an der Lehre Kants erscheint ihm die
Unvereinbarkeit des durch den Verstand gedachten Gegen-
standes der Erkenntnis mit der anschaulichen Vorstellung.
Das JtQcoTov tpsvöog dieses Zwiespaltes findet er in folgender
Ausführung Kants: „Unsere Erkenntnis hat zwei Quellen,
nämlich Rezeptivität der Eindrücke und Spontaneität der Be-
griffe: Die erste ist die Fähigkeit, Vorstellungen zu empfangen,
') Gh. A. Grosias, „Dissertatio pbilosopbiea de usu et limitibus principü
determinantis vulgo snfficientis 1743*' und „Entwarf der notwendi^n Ver-
nnoftwabiheiten 1745*', 4. Aufl. 1766, letzteres Werk von Schopenhauer
zitiert Nachlafs 4, S. 345.
•) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 148.
Digitized by
Google
83
die zweite die, einen Gegenstand durch diese Vorstellungen
zn erkennen; durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben
dnrch die zweite wird er gedacht^ 0 Danach, so folgert
Schopenhauer, wäre der Eindruck, für den allein wir blofse
Rezeptivität haben, der also von anfsen kommt und allein
eigentlich „gegeben* ist, schon eine Vorstellung, ja sogar schon
ein Gegenstand.^) Mit der Bestimmung, dafs durch die Sinnlich-
keit der Gegenstand gegeben sei, 'kann Schopenhauer die des
Gegenstandes der Erkenntnis bei Kant nicht vereinigen. Er
sagt: Kant „unterscheidet eigentlich dreierlei: 1. die Vor-
flteUuog, 2. den Gegenstand der Vorstellung, 3. das Ding an sich.
Erstere ist Sache der Sinnlichkeit, welche bei ihm neben der Em-
pfindung auch die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit be-
greift Das zweite ist Sache des Verstandes, der es dnrch seine
zwölf Kategorien hinzudenkt Das dritte liegt jenseit aller Er-
kennbarkeit . . . Nun ist aber die Unterscheidung der Vorstellung
und des Gegenstandes der Vorstellung unbegründet . . . Das
anberechtigte Einschieben jenes Zwitters, Gegenstand der Vor-
stellaog, ist die Quelle der Irrtümer Kants '.^) Ferner: Es «ist
klar, dafs Kants ,Gegenstand der Vorstellung' zusammengesetzt
ist ans dem, was er teils der Vorstellung, teils dem Ding an sich
geraubt hat".*) Eine Verdoppelung also des Problems des Gegen-
standes der empirischen Anschauung, so dürfen wir formulieren,
liegt nach Schopenhauers Meinung bei Kant vor, so zwar, dafs
im ersten Falle lediglich nach dem Gegenstande der Er-
seheinung, im zweiten aber auch nach seiner transzendenten
Bedeutung gefragt werde. Diese Auffassung Schopenhauers
tritt deutlicher noch aus folgender Ausführung hervor: „Wenn
TO nun Kants innerste, von ihm selbst nicht deutlich aus-
gesprochene Meinung zu erforschen uns bemühen, so finden
wir, dafs wirklich ein solches, von der Anschauung ver-
schiedenes Objekt, das aber auch keineswegs ein Begriff ist,
ibm der eigentliche Gegenstand für den Verstand ist, ja dafs
die sonderbare Voraussetzung eines solchen unvorstellbaren
0 1,560; bei Kant: 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 74.
*) 1, 560.
•) 1,567.
*) 1, 568.
6*
Digitized by VjOOQ IC
84
Gegenstandes es eigentlich sein soll, wodurch allererst die An-
schauung zur Erfahrung wird. Ich glaube, dafs ein altes,
eingewurzeltes, aller Untersuchung abgestorbenes Vorurteil in
Kant der letzte Grund ist, von der Annahme eines solchen
absoluten Objekts, welches an sich, d. h. auch ohne Subjekt,
Objekt ist. Es ist durchaus nicht das angeschaute Objekt,
sondern es wird durch den Begriff zur Anschauung hinzu-
gedacht, als etwas derselben Entsprechendes, und nunmehr ist
die Anschauung Erfahrung und hat Wert und Wahrheit, die
sie folglich erst durch die Beziehung auf einen Begriff erhält
Das Hinzudenken dieses direkt nicht vorstellbaren Objekts
zur Anschauung ist dann die eigentliche Funktion der Kate-
gorien.^1) Bei Kant ist «der Gegenstand der Kategorien zwar
nicht das Ding an sich, aber doch dessen nächster Anverwandter;
es ist das Objekt an sich, ist ein Objekt, das keines Subjekts
bedarf, es ist ein einzelnes Ding und doch nicht in Zeit und
Raum, weil nicht anschaulich, ist Gegenstand des Denkens,
und doch nicht abstrakter Begriff. '2) Diese Verdoppelung des
Gegenstandes der empirischen Anschauung hält Schopenhauer
im Prinzip für verfehlt. Für ihn vielmehr « steht dies fest, daCs
bei deutlicher Bestimmung nichts weiter zu finden ist, als
Vorstellung und Ding an sich*. 3)
Mit dieser erkenntnistheoretisch gerichteten Kritik durch-
flochten ist ein psychologisches Bedenken, dafs sich gegen die
dem Mangel in der Gegenstandsbestimmung zugrunde liegenden
Voraussetzungen Kants über das Zustandekommen der An-
schauung und der Erkenntnis des empirischen Gegenstandes
bei Kant richtet.
Über erstere sagt Schopenhauer: „Nach der in der trans-
zendentalen Ästhetik gegebenen ausführlichen Erörterung der
allgemeinen Formen der Anschauung mufs man erwarten, doch
einige Aufklärung zu erhalten über den Inhalt derselben, über
die Art, wie die empirische Anschauung in unser Bewufstsein
kommt, wie die Erkenntnis dieser ganzen, für uns so realen
und so wichtigen Welt in uns entsteht Allein darüber enthält
die ganze Lehre Kants eigentlich nichts weiter als den oft
>) 1,564, 565. «) 1,566, 567.
■) 1, 567.
Digitized by
Google
85
wiederholten, nichtssagenden Ansdrnek: „Das Empirische der
Änschannng wird von anfsen gegeben.^ i) Femer: Kants Fehler
ist, „dafs er keine Theorie der Entstehung der empirischen
Ansehanang gibt, sondern diese ohne weiteres gegeben sein
lärst, sie identifizierend mit der blofsen Sinnesempfindnng, der
er noch die Anschanungsformen Baum und Zeit beigibt, beide
üDter dem Namen Sinnlichkeit begreifend.^) An anderer Stelle
sagt er: „Die Wahrnehmung ist nämlich bei Kant etwas ganz
Unmittelbares, welches ohne alle Beihilfe des Kausalnexas, und
mithin des Verstandes zustande kommt: er identifiziert sie gerade-
zu mit der Empfindung." ') Aus einigen von Schopenhauer an-
gef&hrten Stellen Kants geht flir Schopenhauer «vollkommen
deutlich hervor, dafs bei ihm (Kant) die Wahrnehmung äufserer
Dioge im Raum aller Anwendung des Kausalgesetzes vorher-
gängig ist, dieses also nicht in jene, als Element und Bedingung
derselben, eingeht: die blofse Sinnesempfindung ist ihm sofort
Wahrnehmung".^) Aus Kants Lehre folgt fbr Schopenhauer,
^dafs diese anschauliche Welt flir uns da wäre, auch wenn
wir gar keinen Verstand hätten, dafs sie auf eine ganz un-
erklärliche Weise in unsern Kopf kommt, welches er eben
durch seinen wunderlichen Ausdruck, die Anschauung wäre
gegeben, häufig bezeichnet, ohne diesen unbestimmten und
bildliehen Ausdruck je weiter zu erklären". 5) Findet so,
in nnzureichender Weise, wie Schopenhauer meint, die
empirische Anschauung der Gegenstände bei Kant schon
ohne den Verstand statt, so ist nach seiner Auffassung
die Erkenntnis der Gegenstände bei Kant eine Vermischung
aas Elementen der anschaulichen und der abstrakten Vor-
stellung. Er sagt: Kant „läfst die Anschauung fttr sich
genommen, verstaudlos, rein sinnlich, also ganz passiv sein,
nnd erst durch das Denken (Verstandeskategorie) einen Gegen-
Btand au%efafst werden: so bringt er das Denken in die
Anschauung. Dann ist aber wiederum der Gegenstand des
Denkens ein einzelnes, reales Objekt, wodurch das Denken
seinen wesentlichen Charakter der Allgemeinheit und Abstraktion
T 1,559, 560. ") 1,568.
») 111,97. Oni,97.
') 1,562; ähnlich 1,564.
/Google
Digitized by ^
8G
einbtlfst und statt allgemeiner Begriffe einzelne Dinge znm
Objekt erhält, wodurch er wieder das Anschauen in das
Denken bringt. . . . Dnrch das Ganze (der Theorie Kants) zieht
sich die gänzliche Vermischung der anschaulichen VorstelloDg
mit der abstrakten zu einem Mittelding von beiden, welches
er als den Gegenstand der Erkenntnis durch den Verstand nnd
dessen Kategorien darstellt und diese Erkenntnis Errahrang
nennt.'' 1) «Kant aber schreibt die Gegenstände selbst dem
Denken zu, um dadurch die Erfahrung und die objektive Welt
vom Verstände abhängig zu machen, ohne jedoch diesen ein Ver-
mögen der Anschauung sein zu lassen. In dieser Beziehnog
unterscheidet er allerdings das Anschauen vom Denken, macht
aber die einzelnen Dinge zum Gegenstande teils der AnschanuDg,
teils des Denkens."^)
Mit dem Bedenken, das Schopenhauer gegen eine Ver-
mischung der anschaulichen Vorstellung mit der abstrakten bei
Kant richtet, steht auch die Kritik, die er an der Bestimmung
des Verstandes bei Kant übt, im Znsammenhang. Nach einer
ersten Fassung Kants sei, so meint Schopenhauer, der Verstand
kein Vermögen der Anschauung, seine Erkenntnis sei nieht
intuitiv, sondern diskursiv, der Verstand sei das Vermögen, zn
urteilen, und ein Urteil sei mittelbare Erkenntnis, Vorstellung
einer Vorstellung; der Verstand sei das Vermögen zu denken,
und Denken sei die Erkenntnis durch Begriffe . . . ') Mit dieser
Fassung kann Schopenhauer eine zweite nicht vereinigen, nach
welcher „ der Verstand durch seine Kategorien Einheit in das
Mannigfaltige der Anschauung bringt, und die reinen Ver-
standesbegriffe a priori auf Gegenstände der Anschauung gehen,
die Kategorien Bedingung der Erfahrung sind, es sei der An-
schauung oder des Denkens, das in ihr angetroffen wird,...
die Kategorien, die Anschauung der Gegenstände bestimmen . . .
der Verstand als das Vermögen a priori zu verbinden und das
Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der
Apperzeption zu bringen erklärt wird ... die logische Funktion
der Urteile auch das Mannigfaltige gegebener Anschauungen
») 1,561.
>) 1,565; Khnifch 568.
«) 1,561, 562.
Digitized by
Google
87
anter eine Apperzeption Überhaupt bringt und das Mannigfaltige
einer gegebenen Anschauung notwendig unter den Kategorien
steht . . . das Denken des Verstandes dadurch erklärt wird,
daffl er das Mannigfaltige der Anschauung synthesiert, ver-
bindet und ordnet . . . " ^) Schopenhauer führt zu beiden Arten
der Bestimmnng des Verstandes noch eine Reihe ähnlicher
Äassprflehe an, die gleichfalls nachweisen sollen, dafs der
Verstand einerseits in Übereinstimmung mit der Voraussetzung,
dals die Gegenstände schon durch die Sinnlichkeit gegeben
werden, als ein Vermögen der begrifflichen Erkenntnis gekenn-
zeichnet, ihm also eine Funktion zugeschrieben werde, die der
der Vernunft bei Schopenhauer analog sei, andererseits aber
eine Reihe von Prädikaten erhalte, die ihn inkonsequenterweise
als ein Vermögen der Anschauung charakterisierten. Auch hier
also glanbt Schopenhauer eine Vermischung der anschaulichen
and abstrakten Vorstellung bei Kant aufweisen zu können.
Gegen die in diesem Sinne aufgefafste psychologische Grund-
lage der Lehre Kants von der empirischen Anschauung richtet
Schopenhauer seine Kritik. Er tadelt einerseits, dafs bei Kant
die Gegenstände schon durch die blofse Sinnlichkeit und ohne
die kausale Erkenntnisweise des Verstandes gegeben werden,
andererseits aber, dafs fttr die Erkenntnis der Gegenstände
nicht die unmittelbare Weise des Verstandes, sondern die mit
Hilfe von Begriffen, also einer Funktion der Vernunft im Sinne
Schopenhauers, geltend gemacht werde. Der erste Punkt fliefst
unter dem Gesichtspunkt seiner Interpretation der Lehre Kants
ans der Lehre Schopenhauers von dem Zustandekommen der
empirischen Anschauung ohne weiteres ab, der zufolge der
Hndraek „nichts weiter als eine blofse Empfindung im Sinnes-
organe ist und erst durch Anwendung des Verstandes, d. i. des
Gesetzes der Kausalität und der Anschauungsformen des Raumes
and der Zeit unser Intellekt diese blofse Empfindung in eine
VorstelluDg umwandelt, welche nunmehr als Gegenstand in
Banm und Zeit dasteht* >) Den zweiten Einwand führt
Schopenhauer folgendermafsen durch. Er sagt: „Damit (mit der
Anwendung des Gesetzes der Kausalität) ist aber das Geschäft
') 1,562, 568.
') 1,560.
Digitized by
Google
88
des Verstandes und der anschauenden Erkenntnis vollbracht, and
es bedarf dazu keiner Begriffe und keines Denkens Kommen
Begriffe, kommt Denken hinzu, so wird die anschauende
Erkenntnis gänzlich verlassen und eine völlig andere Klasse
von Vorstellungeu, nämlich nicht anschauliche, abstrakte Begriffe,
tritt ins Bewufstsein. Dies ist die Tätigkeit der Vernunft,
welche jedoch den ganzen Inhalt ihres Denkens allein aas der
diesem vorhergegangenen Anschauung und Vergleichnng der-
selben mit anderen Anschauungen und Begriffen hat/ i) „Der
Gegenstand als solcher ist allemal nur für die Anschauung und
in ihr da: sie mag nun durch die Sinne oder bei seiner Ab-
wesenheit durch die Einbildungskraft vollzogen werden. Was
hingegen gedacht wird, ist allemal ein allgemeiner nicht an-
schaulicher Begriff, der allenfalls der Begriff von einem (Gegen-
stände überhaupt sein kann: aber nur mittelbar, mittels der
Begriffe, bezieht sich das Denken auf Gegenstände, als welche
selbst allezeit anschaulich sind und bleiben. Denn unser
Denken dient nicht dazu, den Anschauungen Realität zu ver-
leihen: diese haben sie, soweit sie ihrer fähig sind (empirische
Realität) durch sich selbst; sondern es dient, das Gemeinsame
und die Resultate der Anschauungen zusammenzufassen, um sie
aufzubewahren und leichter handhaben zu können/')
Im Sinne dieser kritischen Ausführungen liegt auch eine
Form der Abweisung der Kategorien Kants, auf die wir noch
zu sprechen kommen werden.
Wenden wir uns nun vorerst dem erkenntnistheoretischen
Bedenken, das Schopenhauer gegen Kant richtet, zu, so habeu
wir festzustellen, dafs in einem anderen Sinne, als es von
Schopenhauer geschieht, die Worte Kants, dafs uns „vermittelst
der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben werden'),'^ zu verstehen
sind. Zwar wird uns durch die blofse Sinnesempfindung bei
Kant keine Erkenntnis des Gegenstandes als Dinges an sich
gegeben, auch ist in jenem Ausdrucke der Gegenstand nicht
gleichbedeutend mit dem Gegenstande der Erkenntnis durch
den Verstand, was beides auch Schopenhauer nicht bestreitet
*) I, 560, 561.
») I, 565.
') 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 33.
Digitized by
Google
89
Was aber in dem genannten Zasamnienbange .der Gegenstand
sei, hat die nenere historiseh- philologische Kantforschnng,
zaergt Benno Erdmann, nachgewiesen. Dieser hat gezeigt,
dafs bei Kant der Gegenstand, der dnrch die Sinnlichkeit
gegeben wird, ein Doppelbegriff ist. „Dadarch, dafs ans der
Gegenstand (das Ding an sich) affiziert, wird nns der Gegen-
stand (die Anschauung, resp. die Erscheinung) gegeben",^) so
ist nach Erdmann der Sinn der Worte zu Anfang der Ästhetik:
«Diese (die Anschauung) aber findet nur statt, sofern uns der
Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum (uns
Mensehen wenigstens) nur dadurch möglich, dafs er das
Gemüt auf gewisse Weise affiziere/^) Nun ist Schopenhauer
zwar nicht unbekannt, dafs Kant die Dinge an sich als
Ursachen der Affektion unserer Sinnlichkeit gelten läfst.
Entgangen aber ist ihm die dargelegte Bedeutung des Gegen-
standes, sofern er durch die Affektion in der Sinnlichkeit
gegeben wird. In der Interpretation Erdmanns ist Erscheinung
als noch gänzlich unbestimmt durch die Kategorien genommen,
gemäfs der Definition Kants: ,Der unbestimmte Gegenstand
einer empirischen Anschauung heilst Erscheinung.'' 3) Un-
bestimmt heifst er nämlich insofern, als fUr ihn noch nicht .in
Betracht kommt, was den Gegenstand einer empirischen An-
schauung oder Erkenntnis als solchen kennzeichnet, die
synthetische Vereinigung des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit
durch die Kategorien. Der unbestimmte Gegenstand enthält
dementsprechend nur Empfindung, Raum und Zeit als Merk-
male. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird u. a. durch
folgende Worte Kants bestätigt: ^, Gründete diese (die Einheit
der Synthesis) sich nicht auf einen transzendentalen Grund
der Einheit, so würde es möglich sein, dafs ein Gewühle von
Erscheinungen unsere Seele anfüllte, ohne dafs doch daraus
jemals Erfahrung werden könnte. Alsdann fiele aber auch
alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr
die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen
mangelte; mithin würde sie zwar gedankenlose Anschauung,
^) Benno Erdmann, Kants Kritizismus S. 19.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vemanft S. 33.
') Ebenda S. 34.
Digitized by
Google
90
aber niemals Erkenntnis, also fttr uns soviel als garnichts
sein."0 Ferner: „Diese (die Wahrnehmungen) würden aber
alsdann (ohne eine Einheit, die ihre Regel a priori hat) aaeb
zu keiner Erfahrung gehören, folglieh ohne Objekt und niebts
als ein blindes Spiel der Vorstellungen, d. i. weniger als ein
Traum sein." 2) Sodann: „ die Materie zu irgend einem
Objekte überhaupt, . . . d. i. das Beale der Empfindung als
blofs subjektive Vorstellung, von der man sieh nur bewufst
werden kann, dafs das Subjekt affiziert sei, und die man
auf ein Objekt überhaupt bezieht" «) Ferner: „Da nao
Empfindung an sich gar keine objektive Vorstellung ist../'*)
„Dinge im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben,
sofern sie Wahrnehmungen (mit Empfindung begleitete Vor-
stellungen) sind."^) Über die Objektivierung der Sinnes-
empfindung heilst es im besonderen: „Verstand ist allgemein
zu reden das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in
der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein
Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriffen das Mannig-
faltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun erfordert
aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewufstseins
in der Synthesis deraelben. Folglich ist die Einheit des
Bewufstseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vor-
stellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit,
folglich, dafs sie Erkenntnisse werden, ausmacht und worauf
folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht^' ^)
Aus dem Dargelegten ergibt sich, dafs die Auffassung
Schopenhauers, dafs bei Kant mit dem Eindruck auf unsere
rezeptive Sinnlichkeit auch schon der Gegenstand für unser
empirisches Bewulstsein gegeben sei, nicht zu Recht besteht
Insbesondere gilt, dafs die von Schopenhauer zur Stützung
seiner Auffassung u. a. angeführten Worte Kants: „Die Kategorien
des Verstandes dagegen stellen uns gar nicht die Bedingungen
vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben
>) 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 111.
2) Ebenda S. 112.
3) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 207.
«) Ebenda S. 208.
B) Ebenda S. 147.
«) Ebenda S. 137.
Digitized by
Google
91
werden; mithin kennen ans allerdings Gegenstände erscheinen,
ohne dafs sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes
beziehen müssen nnd dieser daher die Bedingungen a priori
enthielte,^^^) nur so zu verstehen sind, dafs hier lediglich die
anbestimmte Erscheinung der Gegenstände gemeint ist. Nach
dieser Klarlegung der Terminologie Kants gelangen wir unschwer
ZQ einem Urteil über die Meinung Schopenhauers, dafs bei Kant
dreierlei zu unterscheiden sei, nämlich Vorstellung, Gegenstand
der Vorstellung und Ding an sich, und dafs die Unterscheidung
Ton Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung unbegrOndet
sei. Auf die Beziehung des Gegenstandes der Vorstellung
zum Ding an sich brauchen wir für unsern Zweck nicht ein-
zQgehen. Die Unterscheidung der beiden erstgenannten Glieder
kann zwar in gewissem Sinne für Kant zugestanden werden,
doch nicht in dem von Schopenhauer untergelegten. Zugegeben
kann sie werden, weil Kant auch von den blofsen Empfindungen
als von Vorstellnngen spricht; doch nimmt er dann Vorstellung
im weiteren Sinne, nämlich als „blofse Bestimmung des
Gemüts." 2) Das Wort Vorstellung gebraucht er gelegentlich
sogar in einem noch weiteren Sinne, wenn er von unbewnfsten
Vorstellungen spricht. In diesem weitesten Sinne heifst es:
„Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repräsentatio). Unter
ihr steht die Vorstellung mit Bewufstsein (perzeptio)/*^) Wir
fanden auch bei Schopenhauer eine weitere und eine engere
Bedeutung dieses Wortes vor, die engere im Sinne des empi-
rischen Objektes.^) Weder ersterer, was für uns hier nicht in
Betracht kommt, noch auch letzterer entspricht bei Kant der
dareh die Sinnlichkeit gegebene Gegenstand als eine Vor-
stellang im weiteren Sinne, weil darunter lediglich das durch
die Rezeptivität Gegebene verstanden wird. Die Vorstellung
und der Gegenstand der Vorstellung sind in der von Schopen-
hauer herangezogenen Beziehung bei Kant nicht gleichgeordnet,
sondern jene ist dieser übergeordnet. Damit wird der Einwand
gegen eine Verdoppelung des Problems des Gegenstandes der
empirischen Anschauung bei Kant im Prinzip hinfällig.
0 Ebenda S. 122. Darüber spricht Schopenhaaer I,561i
>) Ebenda S. 74.
*) Ebenda S. 376.
*) S. 6, 9 dieser Schrift.
Digitized by
Google
92
Gleiches gilt auch von der AuffassuDg, dafs Kant Emp-
findung und Wahrnelimnng identifiziere, dagegen in der Er-
kenntnis des Gegenstandes die anschaaliehe and die ab-
strakte Vorstellnng znsammenfliefsen lasse, welcher Einwand
insbesondere die Kritik Schopenhauers an der Definition des
Verstandes bei Kant durchzieht
Zu dem ersten Punkte ist wiederum zu sagen, dals aller-
dings Empfindung und Wahrnehmung gelegentlich bei Kant
als gleichbedeutend gebraucht werden, so z. B. wenn er sa^:
„Erfahrung ist ein empirisches Erkenntnis, ä. i. ein Erkenntnis,
das durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt Sie ist also
eine Synthesis der Wahrnehmungen, die selbst nicht in der
Wahrnehmung enthalten ist, sondern die synthetische Einheit
des Mannigfaltigen derselben in einem Bewufstsein enthält
welche das Wesentliche einer Erkeimtnis der Objekte der
Sinne d. i. der Erfahrung (nicht blofs der Anschanung oder
Empfindung der Sinne) ausmacht'' ^ ^^ engeren Sinne aber
braucht Kant das Wort Wahrnehmung gelegentlich auch als
gleichbedeutend mit Erkenntnis, so z. B. in dem Satze: „Dinge
im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie
Wahrnehmungen (mit Empfindungen begleitete VorBtellungeu)
sind, mithin durch empirische Vorstellung.''^) Nach dem über
den Gegenstand der Erkenntnis bei Kant Angeführten ist es
leicht ersichtlich, dafs, wenn Kant Empfindung nnd Wahr-
nehmung als gleichbedeutend gebraucht, letztere nicht den
Sinn der empirischen Anschauung bei Schopenhauer hat
Dazu kommt noch eine zweite Unzulänglichkeit in der
Kritik Schopenhauers.
Zur Stützung seiner Behauptung, dafs bei Kant „die
Wahrnehmung änfserer Dinge im Raum aller Anwendung des
Kausalgesetzes vorhergängig"^) sei, verweist Schopenhauer auf
zwei Stellen aus der „Kritik des vierten Paralogismus der
transzendentalen Psychologie". Diese heifsen: „Ich habe in
Absicht auf die Wirklichkeit änfserer Gegenstände ebensowenig
nötig zu schlief sen als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegen-
>) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 218, 219.
>) Ebenda S. 147.
•) III, 97.
Digitized by
Google
93
Standes meines inneren Sinnes (meiner Gedanken); denn sie sind
beidefseitig nichts als Vorstellnngen, deren unmittelbare Walir-
nehmong (Bewnfstsein) zugleich ein genOgsamer Beweis ihrer
Wirklichkeit ist"*) Ferner: „Nun kann man zwar einräumen, dafs
von unsern äufseren Anschauungen etwas, was im transzendentalen
Verstände aufser uns sein mag, die Ursache sei; aber dieses ist
nicht der Gegenstand, den wir unter den Vorstellnngen der
Materie und körgerlicher Dinge verstehen, denn diese sind
lediglich Erscheinungen, d. i. blofse Vorstellungsarten, die sich
jederzeit in uns befinden und deren Wirklichkeit auf dem unmittel-
baren Bewnfstsein ebenso, wie dasBewufstsein meiner eigenen Ge-
danken beruht^ 2) In diesen Ausführungen Kants darf allerdings
Wahrnehmung in dem oben dargelegten engeren Sinne genommen
werden. Wenn aber Schopenhauer aus ihnen schliefst, dafs
bei Kant die Wahrnehmung äuiserer Dinge der Anwendung
des Kausalgesetzes vorhergängig sei, so kann dieser Schlufs
nnr in dem Sinne zugelassen werden, dafs die Wahrnehmung
äoTserer Dinge im Raum bei Kant nicht von einem Schlufs
aaf ein Ding an sich als Ursache unserer Erscheinungen ab-
hängig sei, gemäfs des von ihm vertretenen transzendentalen
Idealismus und blofs empirischen Realismus. In diesem Sinne,
alfl auf das Ding an sich gehend, ist aber auch für Schopen-
haaer der Kausalschlufs unzulänglich. Dafs aber die Wahr-
nehmung in dem Sinne der Erkenntnis der Gegenstände bei
Kant der empirisch realen Anwendung des Kausalgesetzes
nieht vorhergängig sei, werden wir noch weiter unten deut-
licher erkennen.
Dasselbe, was ftlr Wahrnehmung, gilt auch fttr den Ge-
braneh der Worte „empirische Anschauung^^ bei Kant. Der
unbestimmte Gegenstand der Erscheinung liegt der weiteren
Ton den beiden bei Kant unterscheidbaren Bedeutungen des
Ausdrucks empirische Anschauung zugrunde. Im weiteren
Sinne wird er z. B. in der transzendentalen Ästhetik gebraucht,
wenn es heilst: „In der transzendentalen Ästhetik also werden
wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dafs wir alles
absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt,
') I.Auflage der Kritik der reinen Vernonft S. 371.
*) Ebenda S. 372.
Digitized by
Google
94
damit nichts als empirische Anschanang übrig bleibe." <)
Entsprechend beifst es in der transzendentalen Logik: „Unsere
Erkenntnis entspringt ans zwei Grnndqaellen des Gemüts,
deren die erste ist, die Vorstellangen zn empfangen (die
Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, darch
diese Vorstellnngen einen Gegenstand zn erkennen (Spontaneität
der Begriffe); dnrch die erstere wird nns ein Gegenstand
gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene
Vorstellung (als blofse Bestimmung des Gemüts) gedacht;
Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller
unserer Erkenntnis aus, so dafs weder Begriffe ohne ihnen anf
einige Art korrespondierende Anschauung, noch AnschannDg
ohne Begriffe eine Erkenntnis abgeben können.^ ^) In diesem
Sinne heilet es auch: „Ein Verstand, in welchem durch das
Selbstbewufstsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde,
würde anschauen, der unsere kann nur denken und mnis in
den Sinnen die Anschauung suchen.'' ') Im engeren Sinne
dagegen tritt der Ausdruck als gleichbedeutend mit empirischer
Erkenntnis anf, so, wenn Kant in der transzendentalen Ästhetiii
sagt: „Diese (die Empfindung) aber ist das in unserem Er-
kenntnis, was da macht, dafs es Erkenntnis a posteriori, d i.
empirische Anschauung heifst^^;^) so auch in folgender Stelle
der transzendentalen Dialektik: „Eine Perzeption, die sieh
lediglich auf das Subjekt als die Modifikation seines Zustandes
bezieht, ist Empfindung (sensatio); eine objektive Perzeption
ist Erkenntnis (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder
Begriff (intuitus vel conceptus)." *) In der weiteren Bedeutung
kommen der empirischen Anschauung nur die Merkmale der
Empfindung als ihrer Materie und des Baumes und der Zeit
als ihrer Form zu, während die engere, alle diejenigen Be-
stimmungen, die der Verstand hinzudenkt, als determinierende
Merkmale enthält und mit der Bedeutung der empirischen
Erkentnis zusammenfällt. Die weitere Bedeutung liegt den
von Schopenhauer angeführten Stellen zu Grunde, die engere
kommt verhältnismäfsig selten bei Kant vor.
^) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernnnft S. 36.
«) Ebenda S. 74. >) Ebenda S. 135.
*) Ebenda S. 60.
*) Ebenda S. 376, 877.
Digitized by
Google
95
Die Folge dieser verscbiedenen FassnDgen des Ausdrucks
empirische Anschaaapg ist, dafs Kant sagen kann: Der Ver-
stand ist „kein Vermögen der Anschauung*,*) wobei Anschauung
in dem dargelegten weiteren Sinne zu interpretieren ist, während
Schopenhauer sagen darf: Der Verstand ist ein , Vermögen
der anschaulichen Vorstellung",^) seine „erste Äufserung" ist
die „Anschauung der wirklichen Welt*.')
Es braucht kaum erwähnt zu werden, dafs das Kriterium
für die Anschaulichkeit einer Vorstellung, das Kant zum
Beweise für die Anschauung von Baum und Zeit geltend macht,
dafs nämlich die Vorstellung, die nur durch einen einzigen
Gegenstand gegeben sein könne, eine Anschauung sei,^) für
die Kausalität als Form der Anschauung bei Schopenhauer
nicht in Betracht kommt. Was ihn bewegt, diese als solche
gelten zu lassen, wird uns noch beschäftigen.
Bevor wir in eine Prüfung des Einwandes Schopenhauers
gegen eine Vermischung der anschaulichen Vorstellung mit der
abstrakten bei Kant gehen können, haben wir noch den Gebrauch
des Wortes «abstrakt* und zu diesem Zwecke den der Worte
„Verstand*, , Denken* und ,BegriflFe* bei beiden zu erörtern.
In den beiden von Schopenhauer einander gegenttber-
gestellten definitorischen Bestimmungen des Verstandes bei
Kant ist zwar kein inhaltlich widerspruchsvoller, aber doch ein
formaler Gegensatz enthalten, insofern nämlich die erste eine
logische Bestimmung des Verstandes als eines Vermögens zu
urteilen, die zweite eine transzendentale, die wir vorerst als
eiae psyehologische auffassen können, als eines Vermögens
synthetischer Verknüpfung des Mannigfaltigen der Anschauung,
welche beiden Bestimmungen in der transzendentalen Deduktion
der Kategorien zusammenfliefsen.
Die logische Bestimmung des Verstandes ist in den Sätzen
enthalten: ,Wir können aber alle Handlungen des Verstandes
aaf Urteile zurückführen, so dafs der Verstand überhaupt als
ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er
ist .... ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis
durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate
möglicher Urteile auf irgend eine Vorstellung von einem noch
>) Ebenda S. 153. «) II, 79. ») I, 43.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 47.
Digitized by
Google
96
unbestimmten Gegenstande '^J) Die psychologische Bestimmnog
tritt gesondert in folgenden Sätzen auf: , Allein die Yerbindang
(eonjnnctio) eines Mannigfaltigen Überhaupt kann niemals durch
Sinne in uns kommen und kann also auch nicht in der reinen
Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein;
denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft,
und da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit,
Verstand nennen mnfs, so ist alle Verbindung, wir mögen uns
ihrer bewufst werden oder nicht, es mag eine Verbindung
des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe,
und an der ersteren der sinnlichen oder nicht sinnlichen An-
schauung sein, eine Verstandeshandiung, die wir mit der all-
gemeinen Benennung Synthesis belegen werden • . ."*) Die
Beziehung dieser beiden Bestimmungen zueinander ist damit
gegeben, dafs „die logische Form aller Urteile in der objek-
tiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe*"
besteht. 3) „Diejenige Handlung des Verstandes aber durch
die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen
Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption über-
haupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile"/)
Zu den so vereinigten tritt noch die erkenntnistheoretische
Bestimmung, die in der Beziehung der Einheit der Apperzeption
auf den Gegenstand der Erkenntnis gegeben ist. , Verstand
ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese
bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen
auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriffen das
Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun
erfordert aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des
Bewufstseins in der Synthesis derselben. Folglich ist die Ein-
heit des Bewafstseins dasjenige, was allein die Beziehung der
Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive
Gültigkeit, folglich, dafs sie Erkenntnisse werden, ausmacht und
worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht'.^)
An dem Tadel, den Schopenhauer gegen den Gebrauch
der Ausdrücke Verstand und Vernunft bei Kant richtet, ist
>) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 94.
>) Ebenda S. 129/30. >) Ebenda S. 140.
*) Ebenda S. 143.
*) Ebenda S. 137.
Digitized by
Google
97
zutreffend, dafs dieser Gebraneh in der Tat ein fliefsender ist.
Im engeren Sinne ist Verstand bei Kant lediglich das Ver-
mögen der Begriffe: .Die allgemeine Logik, sagt er z. B. ist
über einem Grundrisse erbaut, der ganz genau mit der Ein-
teilnng der oberen Erkenntnisvermögen zusammentrifft. Diese
sind: Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Jene Dokterin
handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urteilen und
Schlttssen*".!) Im weiteren Sinne ist Verstand das Vermögen
der empirisehen Erkenntnisse und umfafst den Verstand im
engeren Sinne und die Urteilskraft. Diesen weiteren Sinn bat
er in den oben angeführten Sätzen über den Verstand als das
Vermögen zu urteilen und das Vermögen der synthetischen Einheit
Im weitesten Sinne ist Verstand das obere Erkenntnisvermögen.^)
Beiläufig sei bemerkt, dafs die definitorischen Bestimmungen
des Verstandes auch mit denen der Vernunft ineinander über-
iliefsen. Die Vernunft im engsten Sinne ist das Vermögen der
Erkenntnis aus Prinzipien oder das der Ideen,^) im weiteren
Sinne ist sie das obere Erkenntnisvermögen und als solches
gieiehbedentend mit dem Verstand im weitesten Sinne.^) Im
weitesten Sinne ist Vernunft das Vermögen der Erkenntnis
a priori und umfafst Vernunft im engsten Sinne, Verstand im
weiteren und die Formen der Sinnlichkeit.^)
Verstand und Vernunft erfahren bei Schopenhauer
eine Vereinfachung. Der Vernunft kommen bei ihm nur
die psychologische Bestimmung als eines Vermögens zu ab-
strahieren und die vom logischen Gesichtspunkte aus auf-
gestellte des Vermögens der Begriffe, der Urteile, als deutlich
gedachter Begriffsverhältnisse, und der Schlüsse zu. Damit
wird Baum gewonnen für ein neues Vermögen, das der intui-
tiven Erfassung des Wirklichen an sich im Willen.<^) «Die einzige
Funktion*' des Verstandes aber ist, „Kausalität erkennen^. ^)
Er ist insofern das Vermögen der empirischen Anschauung.
0 Ebenda S. 169. «) Ebenda S. 29.
") Ebenda S. 356 f. *) Ebenda S. 863.
>) Ebenda S.24f.
*) Über das Verhältnis der diskarsiven zur intuitiven , sowie der
inationalen znr rationalen Erkenntnis bei Schopenhauer sieh die be-
tref enden Kapitel bei Heinrich Hasse a. a. 0., S. 179 f. u. 197 f.
')I,43.
Philosophische Abhandlungen« XLII. 7
Digitized by
Google
98
Prüfen wir nun zuerst, wie sieh die logisehe BestimmiiDg
des Verstandes bei Kant, als eines Vermögens zu urteilen, za
^^Erkenntnissen dureh Begriffe'S zur Lehre Schopenhauers ver-
hält. Im Unterschied von dieser Bestimmung bei Kant wird
der Verstand bei Schopenhauer als ein nicht disknrsiyes, sondern
intuitives Vermögen gekennzeichnet. Gleichwohl ist der Ver-
stand bei Kant in den genannten Merkmalen nieht der Ver-
nunft bei Schopenhauer analog zu setzen. Darauf ftthrt uns
eine Betrachtung der Worte „Begriff'^ und „Denken' bei beiden.
Wenn Kant von den Kategorien als von den Begriffen spricht,
so sind diese Begriffe nicht durch eine „empirische', sondern
„transzendentale Deduktion^ gewonnen anzusehen. „Unter den
mancherlei Begriffen aber, sagt Kant, die das sehr vermischte
Oewebe der menschlichen Erkenntnis ausmachen, gibt es einige,
die auch zum reinen Gebrauch a priori (völlig unabhängig von
aller Erfahrung) bestimmt sind, und diese ihre Befugnis bedarf
jederzeit einer Deduktion, weil zu der Rechtmäfsigkeit eines
solchen Gebrauchs Beweise aus der Erfahrung nicht hinreichend
sind, man aber doch wissen muls, wie diese Begriffe sieh anf
Objekte beziehen können, die sie doch aus keiner Erfahrung
hernehmen. Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich
Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die tran-
szendentale Deduktion derselben und unterscheide sie von der
empirischen Deduktion, welche die Art anzeigt, yrie ein Begriff
durch Erfahrung und Reflexion Über dieselbe erworben worden,
und daher nicht die Rechtmäfsigkeit, sondern das Faktum
betrifft, wodurch der Besitz entsprungen'.^) Das Ergebnis
der transzendentalen Deduktion sind die ,reinen Elementar-
begriffe',^) als die apodiktischen Bedingungen fttr unsere em-
pirische Erkenntnis, die Kategorien. Das Ergebnis einer em-
pirischen Deduktion sind nur empirische Begriffe. Nach ihrem
psychologischen Bestände gekennzeichnet, sind die Begriffe
„empirisch, wenn Empfindung . . . darin enthalten ist, rein
aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist'.^)
Die transzendentale Deduktion ist Gegenstand der Kritik
in der ersten der beiden Formen der Ablehnung der Kate-
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 117.
«) Ebenda S. S9. ») Ebenda S. 74.
Digitized by
Google
99
gorien Kants, die wir bei Sebopenhaner zn nnterscbeiden baben.
Ans seiner Annabme, dafe die Kausalität die einzige nrsprttnglicbe
nnd apodiktische intellektuelle Form der empiriseben Anschauung
sei, fliefst fUr Scbopenbaner folgerichtig, dafs alle übrigen von
Kant aufgestellten Kategorien nur abgeleitete, also durch
Induktion gewonnene Begriffe sein können. In diesem Sinne
ftlhrt Schopenhauer aus: «Wenn wirklich die Erfahrung nur
dadurch zustande käme, dafs unser Verstand zwölf yerschiedene
Funktionen anwendete, um durch ebensoyiele Begriffe a priori
die Gegenstände, welche vorher blofs angeschaut wurden, zu
denken, so mülste jedes wirkliche Ding als solches eine Menge
Bestimmungen haben, welche als a priori gegeben, sich eben
wie Raum und Zeit schlechterdings nicht wegdenken liefsen,
sondern ganz wesentlich zum Dasein des Dinges gehörten,
jedoch nicht abzuleiten wären aus den Eigenschaften des
Raumes nnd der Zeit Aber nur eine einzige dergleichen
Bestimmung ist anzutreffen: Die der Kausalität.'' i) Neben
dieser Form der Ableitung der Unzulänglichkeit der Kategorien
Kants aufser der Kausalität findet sich aber noch eine zweite
bei Schopenhauer, die schlechthin auf alle Kategorien Kants,
einsehlieblieh der Kausalität geht. Er sagt nämlich: „Sobald
wir hingegen zum Denken ttbergehen, verlassen wir die einzelnen
Dinge und haben es mit allgemeinen Begriffen ohne Anschau-
hchkeit zu tun. . . . Wenn wir dieses festhalten, so erhellt die
Unzulässigkeit der Annahme, dafs die Anschauung der Dinge
erst durch das die zwölf Kategorien anwendende Denken eben
dieser Dinge Realität erhalte und zur Erfahrung werde.* ^) Die
empirische Ableitbarkeit der Kategorien Kants ist das Ziel
dieses Beweises, das indirekt fttr die Kategorien aufser der
Kausalität schon durch die erstgenannte Begründung erreicht
wird. Der genannte zweite Beweis erhält seinen weiteren
Bereich durch die Voraussetzung des Denkens bei Kant als
eines Denkens empirischer Begriffe. Letzteres Merkmal trifft
aber, wie wir fanden, fttr die Kategorien Kants nicht zu. Sie
sind vielmehr dem Begriff des Gesetzes der Kausalität bei
Schopenhauer analog, wenn dieses in abstracto genommen wird,
in dem Sinne, in dem Schopenhauer sagt: „Das Gesetz der
») 1, 568. ») 1, 566.
7*
Digitized by
Google
100
Kausalität als abstrakter Grundsatz ist freilich, wie alle Grund-
sätze in abstracto, Reflexion, also Objekt der Vernunft: aber
die eigentliche, lebendige, unvermittelte, notwendige Erkenntnis
des Gesetzes der Eauealität, geht aller Reflexion wie alle Er-
fahrung, vorher und liegt im Verstände.' <) Als apriorischer
ist dieser abstrakte Grundsatz bei Schopenhauer gleich wie bei
Kant nicht anders als durch eine transzendentale Deduktion
gewonnen anzusehen. Dies aber, wenn auch von Schopenhauer
nicht ausdrücklich unter diesen logischen Gesichtspunkt unter-
geordnet, ist mitgemeint, wenn es heifst: „Es (das Gesetz der
Kausalität) ist . . . immer nur in Beziehung auf das Subjekt,
also bedingterweise da, weshalb es auch ebensowohl, wenn
man vom Subjekt ausgeht, d. h. a priori, als wenn man vom
Objekt ausgeht, d. h. a posteriori, erkannt wird, wie eben Kant
uns gelehrt hat.''^) Wir dürfen somit sagen, dafs für die
logische Betrachtung die Kategorien Kants, oder genauer die
ihnen entsprechenden Grundsätze sich zu dem Inbegriff der
vermittelst ihrer in synthetischen Urteilen vollzogenen Erkennt-
nisse, dieses Wortes im objektiven Sinne genommen, genau so
verhalten, wie der Begriff des Gesetzes der Kausalität bei
Schopenhauer zu dem Inbegriff der kausalen Beziehungen der
Objekte, einschliefslich der kausalen Beziehungen der Objekte
aufser uns zu den Empfindungen in uns.
Dafs Schopenhauer trotz seiner Kenntnis ^) von der Unter-
scheidung der empirischen und reinen Begriffe bei Kant die
Kategorien in seiner Kritik wie empirische Begriffe behandelt,^)
daflir liegt die Annahme nahe, dafs dies in Konsequenz seiner
Deutung des Gegenstandes, der bei Kant durch die Sinnlich-
keit gegeben wird, geschehe. Ist dieser nämlich schon ein
Gegenstand für unser Bewufstsein, so bleibt fUr die Annahme
der Kategorien, durch die der Gegenstand gedacht werden
soll, kein Anlafs mehr. Eine solche Annahme wOrde vielmehr
eine Verdoppelung des Problems des Gegenstandes bedeuten
>)VI,22. «) 1,149; ähnlich 1,539. ») 1,572.
*) Vgl. Gttnther, „Über Schopenhauers Kritik der Kant'schen Philo-
sophie**. Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Piulagogik, IV. Jahrg.
Hersg. Yon Ziller, Leipzig 1872 S. 133f. Das Gemeinsame der Lehren
Schopenhaaers und Kants hat der Verfasser nicht deutlich gesehen.
Digitized by
Google
101
in dem Sinne, wie er dem oben^) znerst besproohenen Ein-
wand Sebopenbaners gegen Kant zugrunde liegt. Abgeseben
aber von dieser unzulässigen, weil eine solebe Verdoppelung
des Problems enthaltenden Bedeutung der Kategorien kommt
diesen, wenn anders der Gegenstand dnreb die blofse Sinnlicb-
keit als Gegenstand fbr unser Bewnfstsein sebon gegeben sein
soll, nur mebr die Bedeutung von im empiriseben Sinne ab-
strakten Vorstellungen zu. Als eine Konsequenz seiner Auf-
fassung von dem Gegenstande, der dureh die Sinnliebkeit
gegeben wird, nämlich als eines Gegenstandes fttr unser Be-
wnfstsein, kann es also gedeutet werden, dafs Schopenhauer
Anschauung nnd Denken bei Kant im Sinne seiner eigenen
Termini nimmt Dadurch entsteht zwar für den ersten Blick
der Anschein, als ob er ungeprüft den Termini Kants seine
eigenen Bedeutungen untergeschoben habe; es hiefse jedoch
der Tiefe seines Denkens nicht gerecht werden, wenn wir diese
oberflächliehe Annahme machen wollten.^)
Dafs das Denken bei Kant eine weitere Bedeutung als
das Erkennen hat, dafs nämlich ftir das Denken, soll es zum
Erkennen werden, zu den reinen Begriffen noch die «Art, wie
das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben 's)
wird, hinzukommen mufs^), kann die Interpretation Schopen-
baners gleichfalls nicht rechtfertigen.
Nun erkennt Schopenhauer zwar an, dafs der Gegenstand
der Erkenntnis bei Kant ein „Gegenstand des Denkens und
doch abstrakter Begriff*" sein solle, doch eben dies erscheint
ihm in dem dargelegten Sinne als Inkonsequenz in der Lehre
Kants.
Vom Standpunkt unserer Deutung des Gegenstandes aus,
der bei Kant durch die Sinnlichkeit gegeben wird, wird der
angefahrte zweite Beweis Schopenhauers für die empirische
Natnr der Kategorien Kants hinfällig. Mit sachlichem Bechte
darf Schopenhauer von seinem Standpunkte aus nur die
>) S. 81 dieser Schrift.
') So in einer auch manches andere Unzutreffende und Ungebührliche
enthaltenden Schrift von Wilh. Jos. Dotzer, „Über Schopenhauers Kritik
der kant'schen Analytik". Diss. Erlangen 1891.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 144.
*) Ebenda § 22.
Digitized by
Google
102
Kategorien Kants aofser der Kausalität als empirische Begriffe
kennzeichnen ; in dem Sinne, der der oben zuerst angeführten
Form seiner Kritik an den Kategorien Kants zugrunde legt
Die zweite von den genannten Beweisführungen gegen die
Apriorität der Kategorien Kants tritt in den späteren Werken
Schopenhauers zurück. Es bahnt sich vielmehr der Gedanke
an, dafs die Funktion der Kategorien Kants der der Kausalität
Schopenhauers analog sei, so, wenn es heifst: ,Es (der Sinn
des Satzes: Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in
sensu) ist in der Hauptsache, was die Kritik der reinen Ver-
nunft lehrt Auch sie nämlich will, dafs man nicht bei den
Begriffen stehen bleibe, sondern auf den Ursprung derselben
zurückgehe, also auf die Anschauung, nur noch mit dem wahren
und wichtigen Zusatz, dafs, was von der Anschauung selbst
gilt, sich auch auf die subjektiven Bedingungen derselben
erstreckt, also auf die Formen, welche im anschauenden und
denkenden Gehirn als seinen natürlichen Funktionen prä-
disponiert liegen; obgleich diese wenigstens virtualiter der wirk-
lichen Sinnesanschauung vorhergängig, d. h. a priori sind, also
nicht von dieser abhängen, sondern diese von ihnen: Denn
auch diese Formen haben ja keinen andern Zweck noch
Tauglichkeit, als auf eintretende Anregungen der Sinnesnerven
die empirische Anschauung hervorzubringen; wie aus dem Stoffe
dieser andere Formen nachmals Gedanken in abstracto zu
bilden bestimmt sind.^ ^)
Zusammenfassend dürfen wir auf Grund unserer termino-
logischen Untersuchung sagen, dafs, wenn Kant der Tätigkeit
des Verstandes die Bezeichnung Denken beilegt, so dieses
Denken als „ Erkenntnis durch Begriffe '^ nicht gleichbedeutend
mit dem Denken bei Schopenhauer als einem Vermögen der
empirischen Begriffe ist Jenes hat eine synthetische, dieses
eine analytische Funktion. Weiter dürfen wir sagen, dafs die
Worte Schopenhauers, dafs Kant „die Anschauung fUr sich
genommen, verstandlos, rein sinnlich, also ganz passiv sein
und erst durch das Denken (Verstandeskategorie) einen Gegen-
stand aufgefafst werden^ lasse, allerdings einen für Kant
gültigen Sinn haben können, wenn wir Anschauung in dem
>) 11, %j ähnlich IV, 100.
Digitized by VjOOQ IC
103
obeD dargelegen weiteren Sinn und Denken in dem Sinn der
Erkenntnis durch lediglich anf dem Wege einer transzenden-
talen Dedaktion ableitbare Begriffe dabei nehmen, dals aber in
der Yon Schopenhauer geübten Interpretation die Bedeutungen
von Ansebauung und Denken bei Kant verschoben erscheinen,
tmd zwar so, dafs diesen Termini, dem Resultat seiner Inter-
pretation nach, die Bedeutung der entsprechenden Schopen-
haaers unterfliefscn. Damit werden auch die Gründe, durch die
Schopenhauer die vermeintliche Vermischung der anschaulichen
mit der abstrakten Vorstellung bei Kant ablehnt, hinfällig.
Diese Vermischung ist ftir ihn nämlich deshalb unstatthaft, weil
die empirische Anschauung selbst sehen gegenständlich und
intellektual, das Denken aber lediglich ein Vermögen der im
empirischen Sinne abstrakten Vorstellungen ist. Wir fanden
jedoeh, dafs Anschauung bei Kant, wenn sie der gegen-
s^ndlichen Erkenntnis gegenttbergestellt wird, keine anderen
Merkmale hat als der Stoff fttr den Verstand bei Schopen-
hauer nebst den Formen Baum und Zeit, und dafs Denken
bei Kant nicht als das Vermögen abstrakter Vorstellungen im
Sinne Schopenhauers gilt.^)
Wir haben indes noch einen weiteren Schritt zu tun und
festzastellen, dafs auch die Funktion des Verstandes in der
Synthesis des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit bei Kant der
Funktion des Verstandes bei Schopenhauer in einem wesent-
lichen Merkmal gleichbedeutend ist.
Das Verhältnis der psychologischen Bestimmung des Ver-
standes bei Kant als des Vermögens der Synthesis des Mannig-
faltigen der Erscheinung zur Lehre Schopenhauers vom Verstände
läfflt sich im Anschlnis an eine Besprechung des Gebrauchs des
AoBdnieks , Apprehension' bei beiden deutlich machen. Schopen-
haaer spricht von der „kausalen Apprehension'' des Ver-
standes* >) und nennt die empirische Anschauung «die Ap-
prehension, in welcher allein Objekte sich eigentlich darstellen
können.* 3^ In einem engeren Sinn als von Schopenhauer
^rd dieser Ausdruck von Kant genommen: „Jede Anschauung,
^ heifst es bei diesem, enthält ein Mannigfaltiges in sich . . .
0 Darauf weist schon B. Haym hin : Arthur Schopenhauer. Preußische
•^Macher, U.Band 1864, S. 88.
«) 111,79. ») 111,68; ühnlicli 11,29, 33; VI, 34.
Digitized by
Google
104
Damit nun ans diesem Mannigfaltigen Einheit der AnBchanünp
werde (wie etwa in der Vorstellnng des Raumes), so ist
erstlieh das Darehlaufen der Mannigfaltigkeit nnd dann die
Zusammenfassung derselben notwendig, welche Handlung ich
die Synthesis der Apprehension nenne . . . Diese Synthesis
der Apprehension mufs nun auch a priori, d. i. in Ansehung
der Vorstellangen, die nicht empirisch sind, ausgeübt werden.
Denn ohne sie würden wir weder Vorstellungen des Raumes
noch der Zeit a priori haben können, da diese nur durch die
Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer
ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können/ 0
Zu der Synthesis der Apprehension in der Anschauung kommt
bei Kant — wenn wir uns an die Ausführungen des zweiten
Abschnitts der Deduktion der reinen Yerstandesbegriffe in der
ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft halten — noch
die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung und die
Synthesis der Rekognition im Begriffe. Die psychologische
Bedeutung der Ausführungen dieses Abschnittes werden wir
unter dem Gesichtspunkte der strengen Definition der Synthesis,
die in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vemonft
gegeben ist^), nicht fehlgehen darin zu sehen, dafs hier das
Durchlaufen, Erinnern und Wiedererinnern des Mannigfaltigen
der Sinnlichkeit als psychologische, der Sinnlichkeit znza-
ordnende Vorbedingungen für die synthetische Tätigkeit des
Verstandes dargetan werden. Nur wird überdies gezeigt, dafs
zu jeder derselben, soll sie zur Erkenntnis führen, die Synthesis
hinzukommen mufs, und welchen Sinn die Synthesis für jede
derselben gewinnt. Letztgenannte Bestimmung ist keine psycho-
logische mehr, sondern eine logische. Sie führt deshalb, so
dürfen wir anmerken, nicht etwa zu der Forderung dreier
psychologisch voneinander trennbarer Handlungen der Synthesis
des Verstandes, sondern lediglich zu der Forderung derjenigen
einheitlichen Handlung, deren verschiedene Funktionen nnr
durch die Funktionen der Einheit in den Urteilen bestimmt
werden können. Wir müssen uns hier versagen, die psjxho-
logischen Fäden dieser Lehre Kants weiter zu verfolgen. Nnr^
») 1. Auflage der Kritik der reinen Verannft S, 99, 100.
') 2. Auflage der Kritik der reinen Verounit § 15.
Digitized by
Google
105
dieses sei noch gestattet zu bemerken, dafs die Bestimmung
der Bekognition als der Bedingung für das Bewufstsein, dafs
das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augen-
blick zuvor daebten^, einen weiteren Sinn als die im dritten
Abschnitt der genannten Deduktion gegebene hat, die lautet:
«Die wirkliehe Erfahrung, welehe ans der Apprehension, der
Assoziation (der Reproduktion) endlich der Rekognition der
Erscheinungen besteht, enthält in der letzteren und höchsten
(der blofs empirischen Elemente der Erfahrung) Begriffe,
welche die formale Einheit der Erfahrung und mit ihr alle
objektive Gültigkeit (Wahrheit) der empirischen Erkenntnis
möglich machen." 1) Hier nämlich ist in der Rekogniton die
Synthesis durch den Verstand schon mitgedacht. Zu jener
Bestimmung dagegen mufs das Merkmal der Synthesis des
Verstandes allererst hinzukommen. Das Wiedererkennen in
dem durch den Verstand noch nicht synthetisch erfafsten Zu-
stande nimmt nach seinem Bestände eine dem Durchlaufen
und Erinnern koordinierte Stelle ein. Nur hinsichtlich des
Zustaudekommens der Erkenntnis kann ihm in einer Kant
allerdings nicht geläufigen Betrachtungsweise eine bevorzugte
Stellang eingeräumt werden, insofern sie nämlich als die
zeitlieh letzte, und so die synthetische Verstandestätigkeit
uamittelbar auslösende psychologische Vorbedingung für letztere
angesehen werden kann.
Kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserer Frage
nach dem Verhältnis der Bedeutung des Wortes Apprehension
bei Schopenhauer zu der bei Kant zurück, so haben wir zu
sagen; Für Schopenhauer kommt weder die Unterscheidung
von Apprehension, Reproduktion und Bekognition, noch auch
die von blofser Apprehension und S'ynthesis derselben in
Betracht Die Apprehension ist für ihn vielmehr schlechthin
gleichbedeutend mit der Tätigkeit des Verstandes in der An-
wendung seiner kategorialen, hier kausalen Erkenntnisweise.
Insofern aber bei ihm die Tätigkeit des Verstandes, wenn
sieht zur Erkenntnis der Objektivität der Gegenstände, so doch
zu ihrer raumzeitlichen Anordnung ein Durchlaufen des Mannig-
faltigen der Empfindungen, die Schopenhauer deshalb die „Data"
*) 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 124, 125.
Digitized by VjOOQ IC
106
des Verstandes nennt, saclilieh zur Vorattssetzang hat, ist sie der
Apprehension bei Kant analog. Somit bildet also die räum-
zeitliehe Anordnung der Empfindungen bei Sehopenbauer auch
ein Analogen zur Synthesis des Mannigfaltigen durch den
Verstand bei Kant, so zwar, dafs letztere die Bedingung zur
Objektivierung der bis dabin subjektiven Empfindungen, erstere
aber gegenüber der Objektivierung der Empfindungen ein
Sekundäres darstellt. In noch einem andern Sinne findet bei
Schopenhauer eine Synthesis durch den Verstand statt, nämlich
in der Beziehung der Data verschiedener Sinne auf eine
gemeinsame Ursache. Doch auch diese gilt als etwas Sekun-
däres, «als eine Folge der Erkenntnis a priori vom Kansal-
nexus . . . vermöge welcher alle jene verschiedenen Ein-
wirkungen auf meine verschiedenen Sinnesorgane mich doch
nur auf eine gemeinsame Ursache derselben, nämlich die
Beschaffenheit des vor mir stehenden Körpers, hinleiten, so dafs
mein Verstand, ungeachtet der Verschiedenheit und Vielheit
der Wirkungen, doch die Einheit der Ursache als ein einziges
sich eben dadurch anschaulich darstellendes Objekt apprehen-
diert"*). Ein Unterscheidendes ferner ist damit gegeben, dafs
für Kant die Synthesis der Apprehension „auch a priori,
d. i in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch
sind, ausgeübt werden mufs; denn ohne sie würden wir weder
Vorstellungen des Raumes noch der Zeit a priori haben
können'' 2), während für Schopenhauer eine Synthesis für die
reinen Formen Raum und Zeit als ausgeschlossen gilt; denn er
sagt: „Nun aber sind die Zeit und der Raum, dieser in allen
seinen drei Dimensionen, Kontinua, d. h., alle ihre Teile sind
ursprünglich nicht getrennt, sondern verbunden. Sie aber sind
die durchgängigen Formen unserer Anschauung; also erscheint
auch alles, was in ihnen sieh darstellt, (gegeben wird) schon
ursprünglich als Kontinuum, d. h. seine Teile treten schon als
verbunden auf und bedürfen keiner hinzukommenden Ver-
bindung des Mannigfaltigen.'^)) Zu diesen Unterschieden
kommt bei Schopenhauer die empirisch gegliederte Dar-
1)1,571.
') 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 99/100.
») 1,571.
Digitized by
Google
107
stellang der synthetischen Tätigkeit des Verstandes und des
ElDflusses der Übung. Auch wird das Unbewufste des Vor-
ganges in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der kausalen
Erkenntnis des Verstandes bei Schopenhauer besonders betont,
während bei Kant eine Bewufstlosigkeit der Synthesis des
Verstandes zwar nicht ausgeschlossen, doch nur beiläufig
erwähnt wird, so z. B. wenn er sagt: „ . . . so ist alle Ver-
bindung, wir mögen uns ihrer bewulst werden oder nicht, eine
Yerstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung
Synthesis belegen werden." i)
Der Bedeutung der Gliederung in Apprehension, Be-
Produktion und Rekognition im Zusammenhange der Lehre
Kants wird Schopenhauer nicht gerecht, wenn er sagt: „Er
(Kant) bemüht sich darzulegen, wie nach der von der Sinnlich-
keit gegebenen Anschauung der Verstand mittelst des Denkens
der Kategorien die Erfahrung zustande bringt. Dabei werden
die Ausdrücke Rekognition, Reproduktion, Assoziation, Ap-
prehension, transzendentale Einheit der Apperzeption bis zur
Ermüdung wiederholt und doch keine Deutlichkeit erreicht.* 2)
Die psychologische Feinheit, die in jener Gliederung bei Kant
liegt, ist Schopenhauer vollends entgangen.
Treffend aber bemerkt er, dafs man „nach der in der
transzendentalen Ästhetik gegebenen ausführlichen Erörterung
der allgemeinen Formen der Anschauung doch einige Auf-
klaning über den Inhalt derselben erwarten mufs, über die
Art, wie die empirische Anschauung in unser Bewufstsein
kommt, wie die Erkenntnis dieser ganzen ftlr uns so realen
und so wichtigen Welt in uns entsteht, '' ^) dafs man aber nach
einer solchen Aufklärung bei Kant vergebens suche. In der
Tat wird jeder, der den Versuch macht, sich hierin bei Kant
zn orientieren, finden, dafs dies wohl im allgemeinen, aber
üieht im einzelnen , geht. Die Gründe, die Kant abgehalten
haben, auf den Einzelfall einzugehen, sind nach Benno Erd-
mann darin zu suchen, dafs sein Hauptinteresse auf die
Transzendentalphilosophie gerichtet ist, und im Inhalte seiner
Lehre, dafs die empirische Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit
') 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. ISO; ähnlich ebenda
8. mt
«) 1,570. 8) 1^559^ 560.
Digitized by VjOOQ IC
108
durcb die Dinge an sieb gegeben werde. Um za erklären,
warnm dieser Gegenstand als Ding an sieh gerade diese
Empfindang heryorrufe, bätte er etwas Spezielles ttber das
Ding an sieb sagen müssen, was naeh seiner Lehre von
der Erkenntnis nicht gebt. Auch wie in einer besonderen
Erscheinung die einzelnen Kategorien zusammenwirken, welelies
hier der Anteil der einzelnen sei, bleibt eine offene Fra^.
Yielleicbt entsprach es schon der anschanungsbedttrftigen NatQr
Sebopenbaners, hier einen wesentlichen Mangel in Kants Lehre
za empfinden. Die empirische Ansgestaltang seiner Lehre
bedentet in der Tat einen Fortsehritt gegenüber Kant
Eine Syntbesis des Mannigfaltigen, so dürfen wir zusammen-
fassend sagen, ist fttr Schopenhauer und Kant ein Merkmal
der Tätigkeit des Verstandes.
Dazu kommt ein Zweites, ungleich Bedeutsameres. Ein
Gemeinsames der Funktion des Verstandes bei beiden ist,
neben der ranmzeitlicben Anordnung, die Auffassung des sinn-
lich gegebenen Stoffes als einem Objekt aufser uns zugehörig.
Diese Übereinstimmung gebt soweit, dafs auch bei Kant der
Begriff der Kausalität es ist, der in erster Linie die Erkenntnis
eines Objektes aufser uns ermöglicht.^) Wir werden darauf im
folgenden Abschnitt näher eingehen. Hier sei nur hervor-
gehoben, was im Prinzip für alle Kategorien gilt, dafs nämlich
vermittelst ihrer in synthetischen Urteilen die Objekte, inner-
halb der Welt der Erscheinung, in demselben Sinne erst
erkannt werden, wie vermittelst der Kausalität durch die
unmittelbare Erkenntnisweise des Verstandes die Objekte bei
Schopenhauer. Das Produkt der Tätigkeit des Verstandes also,
zuvörderst seinem psychologischen Bestände nach, ist ein bei
beiden gleiches, nämlich der Erkenntnisinhalt der Objekte
aufser uns, sowohl naeh ihrem Realitätscharakter, als auch
nach ihrer raumzeitliehen Ordnung.
Damit hängt zusammen, dafs auch die erkenntnistheoretische
Bedeutung dieser Tätigkeit des Verstandes bei beiden dieselbe
0 Dies findet auch Richard Behm, „Vergleichnng der kantischen
und schopenhauerschen Lehre in Ansehung der Kausalität''. Diss. Heidel-
berg 1892 S. 76. Die Ausführungen des Verfassers über die Kritik Schopen-
hauers an der Geltung des Kausalgesetzes bei Kant n. a. stimmen mit den
vorliegenden nicht überein.
Digitized by
Google
109
ist Sie Hegt bei Kant in der Beziehnng des kategorial be-
stimmten Gegenstandes der Erkenntnis auf die Einheit der
Apperzeption in der Synthesis des Verstandes und bei Sehopen-
hancr in der Beziehung des kausal bestimmten Objektes zum
Verstände als seinem subjektiven Korrelat; bei beiden ist es
also die Funktion des Verstandes, die die objektive Gültigkeit
des empirisch Angeschauten gewährleistet, wobei zwar bestehen
bleibt, dafs die Objektivität der empirischen Erkenntnis bei
Schopenhauer nur in dem engeren Sinne zu nehmen ist, der
für die Welt als Vorstellung gilt.
Diese sachliche Übereinstimmung läfst die empirische An«
sebaunng im engeren Sinne oder Erkenntnis bei Kant der
empirischen Anschauung bei Schopenhauer analog erscheinen.
Beiden nämlich ist gemeinsam, dafs ihnen aulser dem Stoff
der Empfindungen und der Formen Baum und Zeit noch eine
Bestimmung durch der Verstand, dort durch die ganze Beihe
der Kategorien, hier durch die eine der Kausalität, als Merk-
mal zukommt. Somit wird eroichtlich, dafs Schopenhauer, wenn
er sagt: .Die Anschauung ist . . . intellektual, was gerade
Kant leugnet,**!) sich in einem historischen Irrtum befindet.
Wir haben vielmehr festzustellen, dafs die empirische An-
schauung Schopenhauers im Grunde in keinem anderen Sinne
intellektual ist, wie die empirische Erkenntnis oder Anschauung
im engeren Sinne bei Kant. Beide sind intellektual, weil sie
erst durch den Verstand ihren objektiven Charakter erhalten,*^)
Dafs hierbei lediglich die auf Erscheinungen bezügliche
Bealität in Frage kommt, dafs nämlich, wie bei Schopenhauer
die Kausalität nur für das Gebiet der Vorstellungen, so bei
Kant „die Grundsätze . . . , nicht als Grundsätze des tran-
01,566.
^ Zu demselben Ergebnis kommt RaoulBichter: , Schopenhauers Ver-
baltDis zu Kant*, Dias. Leipzig 1893 S. 1 67 u. 1 84. Seine Ausfahrungen erhalten
doieh die vorliegenden eine Ergänzung und z. T. eine Berichtigung. Wie auch
Hichter erwähnt (a. a. 0. S. 167), hat schon Herbart (Werke Bd. XII, S. 378)
den gleichen Einwand gegen Schopenhauer erhoben: ,Auch Kant habe
n^en können, jede Anschauung sei intellektnell." Auch Herbarts Aus-
f Sbron^n, soweit sie sich mit der empirischen Anschauung bei Schopenhauer
beschäftigen, dürften durch die vorliegenden cr^nzt werden und eine andere
^^rundlage erhalten. Auch R. Haym weist flüchtig darauf hin in seinem
Aafsatz: Arthur Schopenhauer. PreuBische Jahrbücher, 14. Band 1864, S. 87.
Digitized by
Google
110
szendentalcn, sondern blofs dos empirischen Verstandes-
gebraucbes ihre alleinige Bedentnng nnd Gültigkeit haben/ ^)
ist gleichfalls ein Moment der Übereinstimmung. Ihre ver-
schiedene metaphysische Bedeutung zu beleuchten, liegt nielit
im Rahmen unserer Untersuchung.
Ein die genannte sachliche Übereinstimmung in dem Pro-
dukt der Tätigkeit des Verstandes nicht berührender Unter-
schied zwischen Schopenhauer und Kant ist allerdings in ibren
psychologischen Voraussetzungen über das Zustandekommen
dieses Produktes gegeben, und zwar auch abgesehen noch von
dem Unterscheidenden, das bei Kant in der Trennung der
Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition liegt
Ein bedeutsamer Unterschied liegt vielmehr schon darin, dafs
die Erkenntnis eines Gegenstandes bei Kant sieh in einer
Weise vollzieht, die sieb, logisch betrachtet, als Urteil darstellt,
während sie bei Schopenhauer ausdrücklich als eine nicht
urteilsgemäfse, nicht , diskursive* sondern .intuitive" gilt Jene
erfolgt, so dürfen wir den von Kant nicht unter einem streng
psychologischen Gesichtspunkte entwickelten Zusammenhang:
des zugrunde liegenden psychischen Geschehens von einem
Standpunkte der Psychologie unserer Tage aus erklären, erst
in der Weise eines subsumierenden Vorstellungsverlaufs, diese
aber, die bei Schopenhauer, so dürfen wir weiter deuten, vollzieht
sich in der Weise eines unmittelbaren simultanen Beziehungs-
bewufstseins. Jene stellt ein Zusammengesetzes, diese ein ein-
faches, psychologisch nicht weiter analysierbares Geschehen dar.
Es möchte eine nicht ganz unwahrscheinliche Vermutung
sein, dafs die Einsicht in diese Unmittelbarkeit des kausalen
Beziehungsbewufstseins der tiefere Grund dafür gewesen ist,
dafs Schopenhauer den Verstand ein Vermögen der Anschauung
nennt, und auch die eigentliche Triebfeder in der Polemik
Schopenhauers gegen die Lehre Kants vom Denken des Ver-
standes durch die Kategorien ist^) Diese Annahme wird sich
1) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 223.
') Johannes Voikelt a.a.O. S. 112 sieht den Unterschied zwiachen
der Lehre Schopenhauers in diesem Punkte und der Kants nur darin,
„dafs Schopenhauer an die Stelle der zahlreichen Kategorien die einzige
Kausalität gesetzt und das Unwillkürliche und Unbewufste der Verstandes-
arbeit nachdrücklich hervorgehoben* habe.
Digitized by
Google
111
uns als naheliegend auch bei der Besprechung des Verhältnisses
Sehopenhaners za Thomas Beid erweisen. Gleichwohl wird
darch die synthetische Unterordnung des Mannigfaltigen der
Erscheinung als des Subjekts eines Urteils unter eine Kategorie
als sein Prädikat das Denken des Verstandes bei Kant noch
nicht gleichbedeutend mit dem Denken der Vernunft bei Schopen-
hauer als dem Vermögen zn empirischen Begriffen. Zu Unrecht
also bleibt bestehen, dafs Schopenhauer das Denken in seinem
Sinne als kritischen Mafsstab an das Denken bei Kant
heranbringt
Sehen wir aber einmal von dieser Verschiebung des
Problems ab, so müssen wir wohl vom Standpunkte der
modernen Erkenntnistheorie aus anerkennen, dafs der Gedanke
Sehopenhaners, dafs die realen Kategorien nicht aus der
prädikativen Beziehung des Subjekts zum Prädikate ableitbar
seien, zu Recht besteht, wenngleich auch die von Schopenhauer
seiner Kritik zugrunde gelegte Auffassung von einer Umfangs-
beziehnng vom Subjekt zum Prädikat zu weiteren Bedenken
Anlafs gibt.
Als zutreffend mufs auch, nebenbei bemerkt, ein Gedanke
anerkannt werden, der in der Kritik Schopenhauers an den
Bcheniaten Kants wirksam ist, der nämlich, dafs die Schwierig-
keit, die in der logischen Unbeziehbarkeit der reinen Kategorien
auf das Mannigfaltige der Empfindungen liegt, durch die Ana-
logie zu der psychologischen Tatsache der empirischen Schemata,
als die sich die Lehre Kants von den Schematen darstellt,
nieht gehoben wird. Es würde hier zu weit ftthren, darauf
im einzelnen einzugehen.
Kausalität
Die Kritik, die Schopenhauer an den angeführten Punkten
der Lehre Kants, dem Gegenstande der Anschauung, dem
Unterschiede der anschaulichen und abstrakten Vorstellung
der Funktion des Verstandes und den Kategorien übt, zeigte
sich uns wesentlich abhängig von der irrtümlichen Inter-
pretation des Ausdrucks Gegenstand, wie er in der tran-
szendentalen Ästhetik zur Bezeichnung des durch die Sinnlich-
keit Gegebenen auftritt.
Digitized by
Google
112
Für den nnn zn vergleicbenden Bestand der beiden Lebren
kommt in der Kritik Schopenbauers ein neaes, wie wir sehen
werden, gleiehfalls intümlicbes Moment der Interpretation
in Betraebt
Eine bemerkenswerte Analogie zar Lehre Scbopenhaners
ist bei Kant darin gegeben, dafs die Kategorie der Kausalität
eine bevorzugte Stellung unter den übrigen Kategorien hin-
sichtlieh ihrer Bedeutung für die Synthesis des Mannigfaltigen
der Erscheinung einnimmt Damit ist ein spezielles Moment
der allgemeinen Übereinstimmung berührt, die wir darin fanden,
dafs die Tätigkeit des Verstandes bei beiden es ist, die das
unbestimmte Mannigfaltige der Sinnlichkeit zu Gegenständen
formt
Der Gedankengang Kants in der , zweiten Analogie"
lärst sich unter besonderer Berücksichtigung seiner psycho-
logischen Voraussetzungen folgendermafsen darstellen: Kant
sagt: „Wir haben Vorstellungen in uns, deren wir uns auch
bewufst werden können. Dieses Bewulstsein aber mag so weit
erstreckt und so genau oder pünktlich sein, als man wolle,
so bleiben es doch nur immer Vorstellungen, d. i. innere Be-
stimmungen unseres Gemüts in diesem oder jenem Zeitver-
hältnisse. Wie kommen wir nun dazu, dafs wir diesen Vor-
stellungen ein Objekt setzen, oder über ihre subjektive Realität
als Modifikationen ihnen noch, ich weils nicht was flir eine
objektive beilegen?'' ^) «Ich nehme wahr, dafs Erscheinungen
aufeinander folgen, d. i. dafs ein Zustand der Dinge zu einer
Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war. Ich ver-
knüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in der Zeit Nun
ist die Verknüpfung kein Werk des bloXsen Sinnes und der
Anschauung, sondern hier das Produkt eines synthetisehen
Vermögens der Einbildungskraft, die den inneren Sinn in
Ansehung des Zeitverhältnisses bestimmt Diese kann aber
gedachte zwei Zustände auf zweierlei Art verbinden, so dafs
der eine oder der andere in der Zeit vorausgehe . . . Ich bin
mir also nur bewufst, dafs meine Imagination eines vorher,
das andere nachher setze, nicht, dafs im Objekte der eine
>) 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft S. 242.
Digitized by
Google
113
•
Zustand vor dem anderen yorhergehe, oder mit anderen Worten,
es bleibt dnrcb die blofse Wabrnebmnng das objektive Ver-
hältnis der einander folgenden Erscheinungen unbestimmt/ <)
„Allein, ich bemerke aneb, dafs, wenn ich an einer Erscheinung,
welche ein Geschehen enthält, den yorhergehenden Zustand
der Wahrnehmung A, den folgenden aber B nenne, dals B
auf A in der Apprehension nur folgen, die Wahrnehmung A aber
auf B nicht folgen, sondern nur vorhergehen kann Die
Ordnung in der Folge der Wahrnehmungen in der Apprehension
ist hier also bestimmt, und an dieselbe ist die letztere
gebunden. . . . Diese Regel aber ist bei der Wahrnehmung von
dem, was geschieht, jederzeit anzutreffen, und sie macht die
Ordnung der einander folgenden Wahrnehmungen (in der
Apprehension dieser Erscheinung) notwendig ',<) ,der Begriff
aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei
Bieh führt, kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, der nicht
in der Wahrnehmung liegt, und das ist hier der Begriff des
Verhältnisses der Ursache und Wirkung, wovon die erstere die
letztere in der Zeit als die Folge, und nicht als etwas, was
blols in der Einbildung vorhergehen . . . könnte, bestimmt '^3)
„Dasjenige an der Erscheinung, was die Bedingung dieser
notwendigen Begel der Apprehension enthält, ist das Objekt' ^)
Demnach: ,Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung
auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue
Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie
dadureb erhalten, so finden wir, dafs sie nichts weiter tue, als
die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art not*
wendig zu machen und sie einer Regel zu unterwerfen, daä
umgekehrt nur dadurch, dafs eine gewisse Ordnung in dem
Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen
objektive Bedeutung erteilt wird.""^) „Der Beziehung auf das
transzendendale Objekt', so können wir mit Erdmann inter-
pretierend sagen, «die alle Erkenntnis erst unter sich einstimmig
macht, wird auch hier die notwendige Beziehung auf den
0 Ebenda S: 233, 234.
*) Ebenda S. 237, 238.
•) Ebenda S. 234.
«) Ebenda S. 236.
>) Ebenda S. 242, 243.
PhilotophUche Abhandlnogen. XLII. S
Digitized by
Google
114
Verstand, der die Verbindung der Vorstellungen anf eine
gewisse Art notwendig und dadareh die Vorstellung eines
Gegenstandes erst möglieh maeht, d. i. die Einheit der Apper-
zeption, substituiert Es wird nur überdies gezeigt, dafs
diejenige Kategorie, die hierbei als die Regel setzende allein
in Betraeht kommt, die Kategorie der Kausalität ist'' ^)
Wir entsinnen uns, dafs wir in der Verstandes^tigkeit
bei Schopenhauer ein Zweifaches unterschieden haben: die
Beziehung der blofsen Empfindung als der Wirkung auf ihre
Ursache und die Einordnung derselben in den kausal be-
stimmten raumzeitlichen Zusammenhang. Auch bei Kant
geschieht die Auffassung der bis dahin subjektiven Vor-
stellungen als objektiver in grundlegender Weise, grundlegend
nämlich fllr die dann erst möglich werdende reale Bedeutung
der übrigen Kategorien, durch den Begriff der Kausalität
Auch bei ihm ist es die Kausalität, die die objektive
Zeitordnung der Gegeustände und, sofern es sich um (gegen-
stände im Räume handelt, damit die ranmzeitliche Ordnung
derselben erst möglich macht Ein wesentlicher Unterschied
von Schopenhauer aber ist darin gegeben, dafs bei Kant die
kausale Notwendigkeit in der Zeitfolge der Vorstellungen
untereinander es ist, die die Objektivität letzterer gewähr-
leistet, während bei Schopenhauer die kausale Beziehung der
subjektiven, einzelnen Sinnesempfindung als einer Wirkung in
uns auf eine ihnen entsprechende Ursache das ausmacht, was
jener den Charakter der Objektivität verleiht, aus weleher
kausalen Beziehung, als der ursprünglichen, die zwischen den
Objekten, im Prinzip wenigstens, erst ableitbar wird.
Diese von Kant verschiedene Voraussetzung hat Schopen-
hauer seiner Kritik an dem Beweise Kants fftr die Apriori-
tät des Kausalgesetzes als Mafsstab untergelegt Das
Argument Schopenhauers gegen den genannten Beweis Kants
ist in Folgendem gegeben. Er sagt: „Das Resultat seiner
(Kants) Behauptung würde sein, dafs wir gar keine Folge
in der Zeit als objektiv wahrnehmen, ausgenommen die
von Ursache und Wirkung, und dafs jede andere von uns
wahrgenommene Folge von Erscheinungen blofs durch unsere
^) Benno Erdmann, „Kants Kritizismus^ S. 33.
Digitized by
Google
115
WiUkttr so und nicht anders bestimmt sei.* ^) „Kant in seinem
Beweise ist in den, dem des Hnme entgegengesetzten Fehler
geraten. Dieser nämlich erklärte alles Erfolgen fUr blofses
Folgen: Kant hingegen will, dafs es kein anderes Folgen
gebe, als das Erfolgen.'^ ^) Diese Interpretation der Gedanken
Kants, wenn sie lediglich in dem weiteren Sinne genommen
würde, dab bei Kant jede objektive Folge überhaupt als
ein Erfolgen, d. i. als durch zareichende Ursachen irgend-
wie bedingt gedacht werde, könnte als zutreffend gelten. Sie
hat indessen bei Schopenhauer einen engeren Sinn; denn er
sagt: Jede Veränderung „folgt nicht blofs auf die einzige,
die ihre Ursache ist, sondern auf alle anderen, die mit
jener Ursache zugleich sind und mit denen sie in keiner Kausal-
verbindung steht Sie wird nicht gerade in der Folge der
Reihe der Ursachen von mir wahrgenommen, sondern in einer
ganz anderen, die aber deshalb nicht minder objektiv ist, und
von einersnbjektiven, von meiner Willkür abhängigen, dergleichen
z. B. die meiner Phantasmen ist, sich sehr unterscheidet ^,3^ nicht
zwar so, als ob für Schopenhauer eine Folge von Objekten in
Betracht käme, die nicht auch fUr sich kausal bedingt wäre;
»denn es bleibt gewifs, dafs jede Veränderung Wirkung einer
anderen ist, da dies a priori feststeht 'V) aber doch so, dafs
eine reale Folge von Objekten für ihn unabhängig von der
Voraussetzung der kausalen Beziehung dieser untereinander
erkennbar ist Der Gedankengang Kants wird dementsprechend
von Schopenhauer in dem engeren Sinne genommen, dafs bei
Kant jede in der Wahrnehmung gegebene Folge als in einem
unmittelbaren Kausalzusammenhange stehend gedacht werde.
Diese Auffassung der Lehre Kants aber besteht zweifellos nicht
zurecht Der Gedanke der Notwendigkeit der objektiven Folge
im Gegensatz der Zufälligkeit oder Willkür der subjektiven
enthält liei Kant nur die Forderung, dafs die objektive durch
eine Ursache bedingt sei, die nicht im wahrnehmenden Subjekt
liegt, nicht aber, wie beschaffen diese Ursache sei, demnach
auch nicht, dafs es der einem Vorgange in der. Wahrnehmung
vorhergehende Vorgang sein müsse, in dem die Ursache jenes
») m, 104. ») III, 106, 107.
•) III, 104. *) III, 104.
3*
Digitized by
Google
116
gegeben seLi) Nicbt notwendig also braucht jede in der Wahr-
nehmung gegebene Folge der Erscheinungen in der Beziehung
von Ursache und Wirkung zu stehen, bei Kant ebensowenig,
wie Schopenhauer es für sich gelten lälst. Es bleibt vielmehr
auch bei Kant dem Gedanken Raum, dafs zwei in der Wahr-
nehmnng aufeinanderfolgende Vorgänge zwar nicht unmittelbar
untereinander in dem Verhältnis von Ursache und Wirkung
stehen, aber doch je durch einen vorhergehenden, wenn auch
in der Wahrnehmung nicht gegebenen Vorgang bedingt seien.
Diesen Sinn drücken u. a. die Worte Kants aus: , Dadurch
(durch das Kausalgesetz) geschieht es, dafs eine Ordnung unter
unseren Vorstellungen wird, in welcher das Gegenwärtige (sofern
es geworden) auf irgend einen vorhergehenden Zustand
Anweisung gibt, als ein, obzwar noch unbestimmtes
Korrelatum dieser Eräugniss, die gegeben ist, welches sich
aber auf diese als ihre Folge bestimmend bezieht und sie
notwendig mit sich in der Zeitreihe verknüpfet. *<) „Nach einer
solchen Regel also mufs in dem, was überhaupt vor einer Be-
gebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel liegen, nach
welcher jederzeit und notwendigerweise diese Begebenheit folgt,
umgekehrt aber kann ich nicht von der Begebenheit zurück-
gehen und dasjenige bestimmen (durch Apprehension), was
vorhergeht Denn von dem folgenden Zeitpunkt geht keine
Erscheinung zu dem vorigen zurück, aber bezieht sich doch auf
irgendeinen vorigen.* 3) In der Konsequenz der Gedanken
Kants liegt, so dürfen wir somit sagen, dafs auch schon die
Tatsache einer Folge von Erscheinungen in der Wahrnehmung,
die untereinander nicht unmittelbar kausal verknüpft sind,
sofern sie sich nur durch ihre Nichtumkehrbarkeit von der
subjektiven Folge der Vorstellungen unterscheidet, einen
hinreichenden empirischen Anlafs dafür abgibt, sie auf eine
vom wahrnehmenden Subjekt verschiedene Ursache denk-
notwendig zu beziehen und dadurch als objektiv aufzufassen.
Dafs also die Wirkung der vorauszusetzenden Ursachen aufser
uns sich in der Nichtumkehrbarkeit einer Folge unserer Vor-
^) Sieh Alois Riehl, „Der philosophische Kritizismas*', I. Band, 2. Aufl.,
Leipzig 1908 S. 553 f.
>) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 244.
*) Ebenda S. 238, 239; die Sperrung fehlt i^ Originaltext.
Digitized by
Google
117
stellangen kundgibt, verbürgt allein scbon ihre Objektivität
aud maebt das Zustandekommen der empirischen Anschauung
oder Erkenntnis eines oder einer Mehrzahl von realen Objekten
bei Kant psychologisch fafsbar. Hierfür ist also ein Wissen
um die jeweilige Ursache entgegen der Behauptung Schopen-
hauers, dafs wir nach Kant „einen alle Reihen von Ursachen
nud Wirkungen zugleich umfassenden, folglich allwissenden
Verstand voraussetzen '' i) mttfsten, nicht erforderlich.
Schopenhauer befindet sich somit in formaler Überein-
stimmung mit Kant, wenn er flir sich gelten läfst, dafs
Erscheinungen sehr wohl (in der Wahrnehmung) aufeinander
folgen können, ohne auseinander zu erfolgen. 2) Nur ist die
Objektivität einer nicht unmittelbar kausal zusammenhängenden
Folge in der Wahrnehmung bei beiden aus verschiedenen Vor-
aussetzungen abgeleitet. Bei Kant ist sie, wie wir fanden,
mit der Forderung der kausalen Bedingtheit einer nicht
umkehrbaren Folge gegeben, bei Schopenhauer aber mit der
Forderung von Ursachen fttr die in den Empfindungen
gegebenen Wirkungen.
Die Forderung Schopenhauers läfst überdies im Unter-
schiede von Kant in ihrer Eonsequenz vorerst den Gedanken
möglich werden, dafs eine reale Folge von untereinander nicht
kausal verknüpften Zuständen oder Objekten in der Wahrnehmung
gegeben sein könne. Erst die unabhängig von dieser Forderung
einsetzende der kausalen Bedingtheit auch der Zustände der
Objekte untereinander läfst sie, wie bei Kant, wenn nicht not-
wendig durch in der Wahrnehmung gegebene, so doch irgendwie
durch äuüsiere Ursachen bedingt erseheinen. Die Ableitung der
Kausalität der Objekte untereinander ist bei Schopenhauer eine
mittelbare, bei Kant eine unmittelbare.
In welchem Sinne die Mittelbarkeit der Ableitung der
Kausalität der Objekte untereinander bei Schopenhauer bestehe,
sei gestattet, noch etwas weiter auszuführen.
Wenn wir die Lehre Schopenhauers, dafs der Verstand,
indem er die Empfindung als Wirkung auffafst, und dazu die
Ursache im Baume setzt, die objektive Anschauung hervor-
bringe, im strengen Sinne nehmen, d. i. die dabei zugrunde
») in, 108. ») III, 104,
/Google
Digitized by ^
118
liegende Ineinssetzang von Sinneflempfindung und .nnmittel-
barem Objekt* einmal anfser acht lassen, so haben wir za
sagen, dafs hierbei etwas als Wirkung gilt, was nachher als Zu-
stand des Objektes erscheint, nämlieh der Inbegriff aller diesem
zugeschriebenen Sinnesqualitäten, als Ursache aber dasjenige in
dem Objekt, was als diesem seinem Zustande zugrunde liegend
gedacht wird. Wir haben also fttrs erste, so scheint es, eine
Einschränkung des Satzes, dafs die Kausalität sich nur auf die
Zustände der Objekte beziehe, hier anzunehmen, insofern näm-
lich hier Zustand und zugrunde Liegendes vorerst auseinander-
treten, so zwar, dafs alle Merkmale, die jenen charakterisieren,
zunächst als Wirkungen in uns aufgefafst werden.
Die Ableitung der Kausalität der Objekte anfser uns ans
der kausalen Beziehung der Sinneseropfindungen zu ihren ent-
sprechenden ursächlichen Objekten im Baume anfser uns berührt
Schopenhauer nur an einer Stelle. — An allen ttbrigen werden,
soweit ich sehe, diese beiden Arten der kausalen Beziehung
unbesehen koordiniert. — Dort sagt er: .Die Folge der Ein-
wirkung jedes anderen materiellen Objekts auf ein anderes
wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor
auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin.' *)
Wenn wir fortfahren, die vorhin genannte Lehre im
strengen Sinne zu nehmen, so ist es logisch geboten, auf
Grund der zuletzt genannten Ausführung weiter zu folgern,
dafs zu den Veränderungen in den Sinnesempfindungen der
Verstand eine entsprechende Änderung in der Ursache anfser
uns fordert, diese Änderung in der Ursache gleichfalls als
Wirkung auffafst und zu derselben eine andere zureichende
Ursache aufser uns postuliert, womit er in das Gebiet der
kausalen Beziehungen der Objekte untereinander übergreift.
Während also im ersten Falle die Wirkung auf uns geschieht,
findet sie im zweiten auf das im Objekte als der Ursache
unserer Empfindung Zugrundeliegende statt. Die einzelnen
Kausalbeziehungen der Objekte untereinander sind dann ihrem
Inhalte nach als erst durch Vermittlung der kausalen Beziehung
der Empfindung auf ihr ursächliches Objekt gewonnen anzu-
0 1, 40.
/Google
Digitized by ^
119
sehen. Die Geltang der Eausalbeziehong jener aber bleibt der
dieser dabei gleiebgeordnet
Die Yorgetragenen Konsequenzen liegen jedoeb nieht im
Sinne Schopenhaners. Das Eausalitätsgesetz gilt nämlieb für
ihn lediglich für die Beziehungen der Znstände der Objekte
untereinander, nicht aber fUr das ihnen zagrunde liegende
Wirksame, das sich uns yielmehr als ein BehaiTcndes, weil der
Eaasalität selbst nicht Unterworfenes in der Lehre von der
Materie erwies. Der Gedanke also auch, die Ursache der
Empfindung als ein in dem Sinne Transzendentes, wie es in
der späteren Entwicklung der Lehre Schopenhauers von der
empirischen Materie herFortritt, derzufolge „dasjenige, was
mittelst jener Formen (unserer Anschauung und Apprehension)
als das rein Empirische an der Materie auftritt,^ i) das Ding
an sich ist, aufzufassen, ist für Schopenhauer gänzlich aus-
geschlossen.
Wir wollen für unseren Zweck davon absehen, dafs die
gefolgerte Eausalität des Zugrundeliegenden nur dann einen
Sinn gewinnen könnte, wenn dieses als ein im transzendenten
Sinne Zugrundeliegendes genommen würde, dass diese Schwierig-
keit schon fttr die Beziehung der Empfinding auf ihre Ursache
aulser uns besteht, weil diese, wenn sie nicht im transzendenten
Sinne genommen wird, lediglich eine Verdoppelung der Emp-
findung bedeutet, 2) und dafs endlich auch das beharrend Wirk-
same der Materie nicht anders als im transzendenten Sinne
zugrundeliegend gedacht werden kann. Fttr den Zweck unserer
historischen Betraehtung dürfen wir deshalb davon abseben,
weil eine solche Transgredienz für Schopenhauer innerhalb des
Gebietes der Vorstellung ausgeschlossen ist
Halten wir uns aber lediglich an die logischen Beziehungen
der Ausführungen Schopenhauers selbst, so dürfen wir also
erwarten, in dem InbegriiSf der Merkmale des Zustandes eines
Objekts, schon, sofern er vorerst als Wirkung in uns aufgefalst
wird, auch dasjenige Merkmal zu finden, das einen Hinweis
auf eine ursächliche Beziehung zu einem anderen gleichfalls
vorerst so auffaisbaren Zustande enthält. Damit würde aller-
dings die Geltung der kausalen Beziehung der Zustände der
») II 360. •) Sieh S. 57 dieser Schrift.
Digitized by
Google
120
Objekte antereinander von der kausalen Beziehung zwischen
Empfindung und ursächlichem Objekt abhängig werden, weil
jene erst aus dem Bestände der Zustände der Objekte ableit-
bar wäre, diese aber schon die Voraussetzung für die Objek-
tivität der Zustände ist. In der Tat bleibt fttr die logische
Betrachtung, wenn anders sowohl die Voraussetzung, dals erst
durch die kausale Erkenntnisweise des Verstandes die snb-
jektiFcn Empfindungen zu objektiver Anschauung werden,
als auch die, dafs die Kausalität lediglich fttr die Zu-
stände der Objekte Geltung habe, bestehen bleiben soll, nnr
die Möglichkeit ttbrig, die Geltung der Kausalität der Objekte
untereinander der der Kausalität zwischen Empfindung und
entsprechendem ursächlichen Objekt in dem dargelegten Sinne
unterzuordnen.!)
Auch in diesem Sinne aber finden wir nirgends bei
Schopenhauer einen Ansatz der Gedankenfllhrnng. Auch die
oben genannte Stelle über «die Folge der Einwirkung jedes
anderen Objekts auf ein anderes '' enthält weder eine Hand-
habe für unseren Deutungsversuch, noch überhaupt einen
Ableitungsgrund fttr die Kausalität der Objekte untereinander,
sondern lediglich fttr ihre Sukzession unter der Voraussetzung
ihrer Objektivität
Beide Arten der Kausalbeziehung werden vielmehr in der
Mehrzahl der Fälle, wo sie zur Sprache kommen, ungesehen
koordiniert, ja als gradweise verschieden dargestellt, so z. B.
wenn es heifst: „Die eigentliche, lebendige, unvermittelte, not-
wendige Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität geht aller
Reflexion, wie aller Erfahrung, vorher und liegt im Verstände.
Mittelst derselben werden die Empfindungen des Leibes der
Ausgangspunkt für die Anschauung einer Welt, indem nämlich
das a priori uns bewufste Gesetz der Kausalität angewandt
wird auf das Verhältnis des unmittelbaren Objekts (des Leibes)
zu den anderen nur mittelbaren Objekten : die Erkenntnis des-
selben Gesetzes, angewandt auf die mittelbaren Objekte allein
und untereinander, gibt ... die Klugheit ^^) Femer: .der
*) Sieh die auf dieselbe Ansicht zielenden AosfUbrungen von Edmand
EOnig, „Die Entwicklung des Kausalproblems in der Philosophie seit
Kant«, Leipzig 1890, II. Teil S. 68.
«) VI, 22.
Digitized by
Google
121
Verstand ist in allen Tieren and allen Mensehen der uämliebe,
hat überall dieselbe einfache Form; Erkenntnis der Eansalität,
Übergang von Wirkung anf Ursache nnd von Ursache anf
Wirkung, nnd nichts anfserdem. Aber die Grade seiner Schärfe
und die Ansdehnang seiner Erkenntnissphäre sind höchst
verschieden, mannigfaltig und vielfach abgestuft, vom niedrigsten
Grad, welcher nur das Kausalitätsverhältnis zwischen dem
unmittelbaren Objekt und den mittelbaren erkennt, also eben
hinreicht, durch den Übergang von der Einwirkung, welche
der Leib erleidet, auf deren Ursache, diese als Objekt im Räume
anzuschauen, bis zu den höheren Graden der Erkenntnis des
kausalen Zusammenhanges der blofs mittelbaren Objekte unter-
einander, welche bis zum Verstehen der zusammengesetztesten
Verkettungen von Ursachen und Wirkungen in der Natur geht/'^)
Den Grund für die hier stattfindende Koordination, die
freilich die tatsächlich zugrundeliegende Subordination nur
scheinbar zu verdecken vermag, haben wir in der bereits
früher aufgewiesenen Ineinssetzung von Empfindung und un-
mittelbarem Objekt zu suchen, eine Ineinsetznng, die sich uns
zwar als eine metaphysisch verständliche, aber psychologisch
unmögliche erwies^ nnd die deshalb auch zu einer unzuläng-
lichen Beantwortung der erkenntnistheoretischen Frage nach
der objektiven Gültigkeit unseres empirisch anschauenden Vor-
Btellens führt Wir fanden nämlich, dafs unter Voraussetzung
dieser Ineinssetzung die Beziehung zwischen Empfindung in uns
und Objekt anfser uns zu einer Beziehung zwischen unmittel-
barem nnd vermitteltem Objekt und damit zu einer zwischen
Objekten stattfindenden kausalen Beziehung wird. Damit wird
diese der kausalen Beziehung der vermittelten Objekte unter-
einander formal koordiniert. Gleichwohl haben wir auf Grund
des Dargelegten das Becht zu der Behauptung, daTs die
Geltung letzterer Art der Kausalbeziehung, im Gegensatz zu
der unmittelbaren Ableitung bei Kant, bei Schopenhauer tat-
sächlich erst eine mittelbar abgeleitete ist.
Hit diesem hängt ein anderer Unterschied der Lehren
beider zusammen. Der empirische Unterscheidungsgrund einer
objektiven Folge von Vorstellungen von einer blofs subjektiven
») I. 54, 55.
/Google
Digitized by ^
122
ist bei Kant die Nichtumkebrbarkeit jener. Diese ist nar denk-
bar unter der Voraussetzung der kausalen Bedingtheit der ob-
jektiven Folge. Wir fanden, dafs eine nicht umkehrbare Folge
von Wahrnehmungen nicht notwendig eine unmittelbar kansal
verknüpfte Folge zu sein brauche. Es erhebt sich da die
Frage, wie wir nach Kant eine unmittelbar kansal verknüpfte
Folge von Wahrnehmungen von einer solchen objektiven Folge
von Wahrnehmungen unterscheiden können, deren Glieder
zwar jeweils irgendwie kausal bedingt, deren Ursachen aber
nicht gerade in der Reihe der Wahrnehmungen gegeben sind.
Zum Zwecke dieser Unterscheidung bedarf es offenbar eines
empirischen Kriteriums, da es sich ja um die Unterscheidong
empirischer Tatsachen handelt „Das einzige empirische
Kriterium der Wirkung in Beziehung auf die Kausalität der
Ursache, die vorhergeht^, ist nach Kant «die Zeitfolge*.^)
Hiergegen nun macht Schopenhauer folgendes geltend: „Wie
läfst sich Kants Behauptung, dafs Objektivität der Sukzession
allein erkannt werde, aus der Notwendigkeit der Folge
von Wirkung auf Ursache, vereinigen mit jener, dafs das
empirische Kriterium, welcher von zwei Zuständen Ursache
und Wirkung sei, blofs die Sukzession sei? Wer sieht hier
nicht den offenbarsten Zirkel?*^ 2) Iq der Tat, auch die
Einschränkung, die wir an der Kritik, die Schopenhauer an
Kant ttbt, dahin vorzunehmen hatten, dafs für Kant sehr
wohl auch eine in der Wahrnehmung gegebene nicht umkehr-
bare Folge von Zuständen möglich bleibt, die zwar jeder für
sich kausal bedingt, aber nicht unmittelbar untereinander
kansal verbunden sind, ist nicht geeignet, die von Schopen-
hauer berührte Unzulänglichkeit im Gedankengange Kants zu
beseitigen; denn anch die Frage, welches der empirische Unter-
scheidnngsgrund einer zwar nicht umkehrbaren und deshalb
objektiven Folge von Wahrnehmungen, deren Ursachen in der
Wahrnehmung aber nicht gegeben sind, von einer unmittelbar
kausal verknüpften Folge von Wahrnehmungen sei, kann durch
den Rekurs auf die Zeitfolge nicht gelöst werden.
Wir stehen aber in der Lehre Schopenhauers ganz analogen
Schwierigkeiten gegenüber. Es erhebt sich zunächst die Frage,
^) Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage S. 249. •) III, 108,
/Google
Digitized by ^
123
was für Schopenhauer den empirischen Unterscheidungsgrand
einer blofs sabjektiFen etwa erinnerten oder phantasiemäfsigen
anscbanlichen Vorstellang von einer solchen, vorerst gleichfalls
blofg subjektiven Vorstellung ist, die den Anlafs zu der denk-
notwendigen Forderung eines ihr entsprechenden ursächlichen
Objektes abgibt, ausmache. Die Koordination der beiden
genannten Arten der Eausalbeziehung hat einen Gedanken-
gang zur Folge, der auf den ersten Blick ganz analog der
Ableitung der Apriorität des Kausalgesetzes bei Kant zu sein
scheint Er heilst: „Nun aber erhält das Gesetz der Kausalität
seine Bedeutung und Notwendigkeit allein dadurch, dafs das
Wesen der Veränderung nicht im blofsen Wechsel der Zustände
an sieh, sondern vielmehr darin besteht, dafs an demselben
Ort im Baum jetzt ein Zustand ist, und darauf ein anderer,
nnd zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser Zustand
und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung der Zeit und
des Baumes durcheinander gibt einer Regel, nach der die Ver-
änderung vorgehen mufs, Bedeutung und zugleich Notwendig-
keit **>) Ausführlicher noch finden wir diesen Gedanken in
der «Theorie des gesamten Vorstellens, Denkens und Erkennens*
entwickelt, wo es ttberdies noch heifst: „Der Gehalt dieser
Formen (Raum und Zeit) ist das, was der Empfindung in uns
korrespondiert, was eigentlich in Raum und Zeit wahrgenommen
wird, mittelst der äufseren Sinne, die Materie, . . . nur als er-
füllt sind sie wahrnehmbar. Die Materie ist also die Wahr-
nehmbarkeit des Raumes und der Zeit, und zwar beider zugleich;
denn sie erfttllt beide zugleich, gibt beiden zugleich Gehalt^^)
„Die Vereinigung dieser Formen kann nur dadurch erscheinen,
dafs ein Drittes sie beide zugleich füllt, eben dadurch, daTs
es in einer ist, auch in der anderen ist, und wesentlich und
untrennbar die Eigenschaften beider an sich trage, beharrlich
und ohne Veränderung sei, wie der blofse Raum, flüchtig,
veränderlich und bestandlos wie die blofse Zeit Dieses Dritte
ist nun die Materie.* ^) „Weil aber jeder Raum und Zeit be-
stimmte individuelle Teile des ganzen Raumes und der ganzen
') I, 41.
*) Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, herausgegeben von Paul
Dnuen IX. Band. S. 146 Z. 14-22.
>) a. a. 0. S. 147 Z. 25-81.
Digitized by
Google
124
Zeit Bind, so ist hieraus die Notwendigkeit vorherzusehen, dafs
es ein Gesetz, eine Regel geben müsse, welcher gemäfs gerade
dieser Teil des ganzen Raumes mit gerade diesem Teil der
ganzen Zeit sieh in einer bestimmten individuellen Materie
vereinigt, die eben in dieser Vereinigung ihr Wesen bat'^)
.Diese Regel ist das Gesetz der Kausalität." ^) „Die Erscheinung
jener ansehauliehen Vorstellungen, welche man reale Objekte
nennt, steht unter einem Gesetze, welches alle jene realen Ob-
jekte miteinander verknüpft, und der dadurch entstehende Zu-
sammenhang macht eben das aus, was man die Erfahrung
überhaupt nennt, eine Gesamtvorstellung, von der jede einzelne
Erfahrung, jedes einzelne Objekt, ein notwendiger, damit
verknüpfter Teil ist.* 3) Das Analoge des Gedankenganges zum
Beweise Kants für die Apriorität des Kausalgesetzes liegt darin,
dals auch hier die Abhängigkeit der Erfahrung von dem
Postulat der kausalen Bedingtheit des Zusammenhanges alles
raumzeitlichen Erfahrbaren dargetan wird. Die eindeutige Zu-
ordnung je einer bestimmten Sinnesqualität zu je einem Teil
des Raumes und je einem Teil der Zeit ist der Sinn dieser
kausalen Bedingtheit. Indes kann daraus der gesuchte Unter-
sehiedsgrund nicht fliefsen; denn die raumzeitliche Beziehung
der Sinnesempfindung ist für Schopenhauer nicht der Grund
für die Beziehung derselben auf ein Objekt, sondern ein
Sekundäres, das zu der schon objektivierten, weil auf ein
ursächliches Objekt schon bezogene Empfindung allererst hin-
zukommt.
Der Unterscheidungsgrund der objektivierbaren von den
nicht objektivierbaren Vorstellungen ist für Schopenhauer viel-
mehr lediglich in dem Bewnistsein der Affektion des Sinnes-
organes, das die von einem Objekte au&er uns verursachte
Empfindung begleitet, gegeben. Dies fliefst aus seiner Lehre
vom Zustandekommen der empirischen Anschauung ohne
weiteres ab, und wird u. a. durch folgende folgerichtige Be-
merkung bestätigt: ,Im Schlafe, als in welchem das Gehirn
vom peripherischen Nervensystem und dadurch von äuüseren
Eindrücken isoliert ist, können wir jene Unterscheidung
») a. a.O. S. 148 Z. 29— 35.
•) a. a. 0. S. 149 Z. 17—18. •) a. a. 0. S. 153 Z. 22—28.
Digitized by
Google
125
(zwischen Objekten nnd PhanfasmeD) nicht machen, daher wir,
während wir träamen, Phantasmen fflr reale Objekte halten
nnd erst beim Erwachen d. h. beim Wiedereintritt der sen-
siblen Nerven und dadurch der Anfsenwelt ins Bewafstsein,
den Irrtum erkennen * i)
Auch wenn wir einmal die Identität von Empfindung
und physiologischer Erregung im Sinnesorgan in dem Sinne
als psychologische gelten lassen, dafs wir statt letzterer
den korrespondierenden, im Selbstbewufstsein irgendwie, etwa
nach Analogie zum Erkennenwollen, gegebenen metaphysischen
Willen setzen, gelangen wir nicht zu dem Kriterium, das
wir suchen; denn alsdann müfste die Wirkung, die in der
Empfindung erfolgt, auf den Willen als Ding an sich bezogen
werden, was nach Schopenhauers Lehre nicht angängig ist
Endlich kann auch eine eigentümliche Wendung in den
Parerga und Paralipomena, die auf den ersten Blick ein psycho-
logisches Kriterium für das Objektivierbare an die Hand gibt,
keine Hilfe bieten. Sie lautet: „Sobald nun aber der Intellekt,
mittelst dieser Formen [Zeit, Baum und Kausalität] und in
ihnen, einen, stets nur von der Sinnesempfindung ausgehenden
realen Gehalt, d. h. etwas von seinen eigenen Erkenntnisformen
Unabhängiges spttrt, welches nicht im Wirken überhaupt,
sondern in einer bestimmten Wirkungsart sich kundgibt, so ist
es dies, was er als Körper . . . setzt.^^) Auch diese Unab-
hängigkeit von den Erkenntnisformen unterscheidet die Sinnes-
empfindnngen nicht yon anderen materialen Bewnlstseins-
inhalten, etwa ErinnerungsForstellungen, abgesehen noch von
der Schwierigkeit, dafs diese Unabhängigkeit als eine kausale
gedacht werden mufs, demnach nicht als Voraussetzung für
die kausale Deutung der Sinnesempfindungen gelten kann.
Wenn wir aber auch ein, wenngleich unzureichendes
empirisches Kriterium für das, was Wirkung in uns von einer
Ursache aufser uns ist, im Zusammenhange der Lehre Schopen-
hauers haben aufweisen können, so stehen wir nun doch,
ähnlich wie bei Kant, vor der Frage nach dem Unter-
scheidungsgmnd einer objektivierten Folge von Wahrnehmungen,
die lediglich ein „Folgen'^ von einer solchen, die ein „Erfolgen*^
>} III, 105, 106. 3) V, 119.
Digitized by VjOOQ IC
126
darstellt. Diese Frage aber wird aach von Schopenhauer nicht
gelöst; denn dafs der Verstand auch hier, in analoger Weise
wie bei dem Übergang yon der Sinnesempfindnng zu ihrer
Ursache anfser uns, intuitiv die Ursachen erkenne, ist, da er
hierbei, wie wir bei der Besprechung der Mittelbarkeit der
'Kausalität der Objekte untereinander fanden, keinen analogen
Anhaltspunkt mehr in den Wirkungen hat, nicht mehr ver-
ständlich.
Die Schopenhauer eigentümliche Ineinssetzung der Emp-
findung mit der physiologischen Erregung im Sinnesorgan, in
der älteren Fassung mit dem unmittelbaren Objekt, macht
auch die Kritik, die er an den von Kant im Znsammen-
hange seines Beweises für die Apriorität des Kausalgesetzes
benutzten Beispielen des Hauses und des den Flnfs hinab-
fahrenden Schiffes ttbt, historisch verständlich. Gegen diese
macht er den Einwand, „dafs beide Fälle gar nicht unter-
schieden sind, dafs beides Begebenheiten sind, deren Erkenntnis
objektiv ist, d. h. eine Erkenntnis von Veränderungen realer
Objekte, die als solche vom Subjekt erkannt werden. Beides
sind Veränderungen der Lage zweier Körper gegeneinander.
Im ersten Falle ist einer dieser Körper der eigene Leib des
Betrachters, und zwar nur ein Teil desselben, nämlich das
Auge, und der andere ist das Haus, gegen dessen Teile die
Lage des Auges sukzessive geändert wird. Im zweiten Fall
ändert das Schiff seine Lage gegen den Strom, also ist die Ver-
änderung zwischen zwei Körpern". i) Es ist kaum anzunehmen,
dafs es Schopenhauer entgangen sei, dafs auch die Bewegung
des Schiffes eine Veränderung gegen den Leib des Betrachters
bedeute und auch in diesem Sinne dem ersten Falle koordiniert
sei. Was ihm als wesentlich zu betonen gilt, ist vielmehr,
dafs zwar, entgegen dem zweiten, im ersten Falle „die Ver-
änderung ausgeht vom eigenen Leib des Beobachters*, dafs
aber, weil auch dieser Leib „ein Objekt unter Objekten,
mithin den Gesetzen dieser objektiven Körperwelt unterworfen
ist", beide Fälle „Begebenheiten sind, deren Erkenntnis ob-
jektiv ist«.«)
0 111, 103.
«) III, 103.
Digitized by
Google
127
Dafs diese Bemerknogen Sehopenhaners, für sich genommen
za Beeht bestehen, kann keinem Zweifel unterliegen. Nnr treffen
sie nicht die Lehrmeinung Kants über die Apriorität des Kausal-
gesetzes, sondern lediglich die Unzulänglichkeit der von ihm
benutzten Beispiele, die darin liegt, dafs allerdings unserem
entwickelten Bewufstsein der eigene Leib schon als reales
Objekt bekannt ist, und wir infolgedessen das Kausalverhältnis,
io dem derselbe zu anderen realen Objekten steht, a posteriori
beurteilen können. Irreftthrend ist in dem Beispiele des Hauses
zudem, dafs hier die Willkttrlichkeit der subjektiven Folge der
Vorstellungen an der Konstanz der Bestandteile des Hauses
gemessen wird. Die Beispiele Kants können indes ihren ver*
aDschaulichenden Zweck zur Not erfüllen, wenn wir in ihnen
lediglich auf den Gegensatz der nicht umkehrbaren Folge der
änlseren Objekte zu der willkürlichen unserer Vorstellungen
achten.
Die kritischen Ausführungen Schopenhauers haben jedoch
in dem Zusammenhange seiner Lehre eine schwererwiegende
Bedeutung. Diese liegt wiederum in der Ineinssetzung des
Leibes als des „unmittelbaren Objektes*', und der Empfindung,
die sich uns als ein Unterfliefsen eines metaphysisch Identischen
als eines psychologisch Gleichbedeutenden und als die Grundlage
der widerspruchsvollen Koordination der kausalen Beziehung
des «unmittelbaren Objektes' zu den vermittelten Objekten
nnd der dieser untereinander erwies. Im Sinne dieser Voraus-
setzung heifst es bei Schopenhauer: , Kant würde auch in dem
von ihm aufgestellten Fall nicht geglaubt haben, einen Unter-
schied zu finden, hätte er bedacht, dafs sein Leib ein Objekt
unter Objekten ist und dafs die Sukzession seiner empirischen
Anschauungen abhängt von der Sukzession der Einwirkungen
anderer Objekte auf seinen Leib, folglich eine objektive ist,
d. h. unter Objekten, unmittelbar (wenn auch nicht mittelbar),
unabhängig von der Willkür des Subjektes, statt hat, folglich
sehr wohl erkannt werden kann, ohne dafs die sukzessive auf
seinen Leib einwirkenden Objekte in einer Kausalverbindung
untereinander stehen ^,1) unmittelbar, d.h. nicht durch Ver-
mittlung der Erkenntnis einer Notwendigkeit in der Folge
») nr, 104.
/Google
Digitized by ^
128
empirischer Objekte nntereiaander, sondern lediglieli durch den
Kaasalschlufs von der Empfindung, als der Einwirkung auf
das ,, unmittelbare Objekt*, auf die reale Ursache dieser
Wirkung im Baume aufser uns.
Die kausale Beziehung der Objekte aufserhalb unseres
Leibes auf diesen ist nun zwar, obgleich das fUr den Sinn
der angeführten Beispiele Kants nicht in Betracht kommt,
in der Konsequenz der Gedanken Kants eine der kausalen
Beziehung der Objekte aufser unserem Leibe untereinander
koordinierte, in demselben Sinn, der für Schopenhauer gilt,
wenn der Leib lediglich als Objekt in der uneingeschränkten
Bedeutung genommen wird. In den genannten Ausführungen
Schopenhauers aber ist die kausale Beziehung des Leibes zu
den Objekten aufser uns der dieser untereinander tatsächlich
wiederum ttbergeordnet Die Doppeldeutigkeit des „unmittel-
baren Objekts^, derznfolge Schopenhauer sagen kann: ,die
Veränderungen, welche jeder tierische Leib erfährt, werden
unmittelbar erkannt, d.h. empfunden ^,i) macht die formale
Koordination des Übergeordneten auch hier verständlich. Nur
deshalb also gelten ihm die von Kant angeführten Fälle als
nicht yerschieden, weil die kausale BeziehuDg des unmittel-
baren Objekts zu dem yermittelten als eine der dieser unter-
einander koordinierte dabei unterfliefst
Das ändert sieh auch dann nicht, wenn wir berttcksichtigen,
dafs Schopenhauer in seinen späteren Werken den Ausdruck
,1 unmittelbares Objekt*^ restringiert oder durch andere Aus-
drücke ersetzt, dafs er insbesondere in der in § 23 der zweiten
Auflage des Satzes vom Grunde enthalteneo .Bestreitung des
von Kant aufgestellten Beweises der Apriorität des Kausalitäts-
begriffes ", die in allem Wesentlichen, ja fast wörtlich mit der
in § 24 der ersten Auflage gegebenen , Bestreitung von Kants
Beweis dieses Satzes und Aufstellung eines neuen, im gleichen
Sinne abgefalBten", übereinstimmt, der Ausdruck .unmittelbares
Objekt* z.B. so vermieden wird, dafs statt des Satzes der
ersten Auflage: «Der einzige Unterschied (der Beispiele Kants)
ist, dafs im ersten Falle die Veränderung zwischen dem
unmittelbaren und einem yermittelten, im zweiten zwischen
')I,43.
/Google
Digitized by ^
129
zwei yermittelten Objekten ist",^) in der zweiten Auflage der
Satz tritt: „ . . . dafs im ersten Falle die Veränderung ausgeht
vom eigenen Leibe des Beobachters, dessen Empfindungen zwar
der Ausgangspunkt aller Wahrnehmungen desselben sind, der
jedoch nichtsdestoweniger ein Objekt unter Objekten, mithin
den Gesetzen dieser objektiven Körperwelt unterworfen ist." 2)
Die Vermeidung dieses Ausdruckes ändert deshalb nichts an
unserer Erklärung, weil sie nicht die tatsächlich bestehen-
bleibende und im psychologischen Sinne Anspruch behaltende
Ineinssetzung von Empfindung und physiologischer Erregung
im Sinnesorgan aufhebt.
Materie.
Als letzter Punkt des Vergleiches bleibt uns noch das
Verhältnis der Lehre Schopenhauers yon der Materie zu den
Gedanken Kants einer Betrachtung zu unterziehen ttbrig.
Wir fanden, dafs die Materie bei Schopenhauer in ihrem
Begriff die Beziehungen des Baumes und der Zeit vereinigt,
dafs das beide vereinigende Begriffsmerkmal die Wirksamkeit
und in dieser die Bestimmung der objektiven Grundlage alles
realen Seins mitgedacht ist
Zwei wesentliche Bestimmungen in der Definition der Materie
bei Schopenhauer vertragen eine Analogie zu Gedanken Kants,
fürs erste in der Tat die der Beharrlichkeit der Materie dort
zu der der Beharrlichkeit der Substanz hier. „Das Beharrliche,
erklärt Kant, womit im Verhältnis alle Zeitverhältnisse der
Erscheinungen allein bestimmt werden können, ist die Substanz
in der Erscheinung, d. i. das Reale derselben, was als Substrat
alles Wechsels immer dasselbe bleibt." ^^ Auch darin stimmt
Schopenhauer mit Kant ttberein, dafs die Substanz das Be-
harrende im Wechsel seiner Zustände sei; denn auch fbr
Kant gilt: „Entstehen und Vergehen sind nicht Veränderungen
desjenigen, was entsteht und vergeht. Veränderung ist eine
Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren
^) 1. Auflage des Satzes vom Grunde S. 48, 49.
») m, 103.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 225.
PhUotophiache Abhtodlungtn. XLll. 9
Digitized by
Google
180
ebendesselben Gegenstandes erfolgt Daher ist alles, was sich
verändert, bleibend, and nar sein Zastand weebselt.*^)
Die Bebarrlichkeit bei Kant anterscbeidet sich von der
bei Schopenhaaer aber darin, dafs jene im weiteren Sinne
genommen wird. Jene nämlich wird als Zeitbestimmang über-
haupt gedacht, während diese als ranmzeitliche Bestimmung
determiniert ist. Diese Abweichung beleuchtet Schopenhauer,
wenn er sagt: „Es ist falsch, dafs es in der blofsen Zeit eine
Simultaneität und eine Dauer gebe; diese Vorstellungen gehen
allererst hervor aus der Vereinigung des Raumes mit der Zeif^')
Es liegt auf der Hand, dafs ihm dabei nur das Zngleichsein
und die Dauer der Gegenstände der äufseren Wahrnehmung
vorsehwebt. Ein Zugleichsein des in der inneren Wahrnehmung
Gegebenen kommt infolgedessen für ihn nicht in Betracht
Dafs die Tatsache des Zugleichseins des in der Selbstwahr-
nehmung Gegebenen von Schopenhauer nicht beachtet wurde,
ist vielleicht darin mitbegrttndet, dafs für ihn „der alleinige
Gegenstand des inneren Sinnes der eigene Wille des Er-
kennenden"') ist Die im Selbstbewufstsein gegebenen Äufse-
rungen des Willens können zwar auch nur in der Form der
Zeit erkannt werden,^) doch scheint es, dafs die Einfachheit
des Willens ein Zugleichsein verschiedener Äufserungen des-
selben ausschliefst. Die Mannigfaltigkeit der Motive steht dem
nicht entgegen; denn „die Objekte des WoUens, welche eben den
Willensakt bestimmen, liegen aufserhalb der Grenze des Selbst-
bewufstseins im Bewufstsein von anderen Dingen^. ^) Indessen
tritt auch schon in der ersten Auflage des Satzes vom Grunde,
in der der innere Sinn noch die weitere, Kantische Bedeutung
hat, die Behauptung auf, dafs diesem ,nur eine deutliche Vor-
stellung, wiewohl diese sehr zusammengesetzt sein kann, auf
einmal gegenwärtig sein kann".*) Diese Lehrmeinung geht
vermutlich auf Kant zurück, der sagt: „Jede Anschauung
enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als
ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht
>) Ebenda S. 230.
>) I, 601.
») 11,47. Olli 47.
») m, 396.
*) 1. Auflage des Sateea Tom Grunde S. 82.
Digitized by
Google
131
die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander anter-
schiede; denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede
Yorstellong niemals etwas anderes als absolute Einheit sein.'^i)
Kant aber spricht auch dem im inneren Sinne Angeschauten
Gleichzeitigkeit zu.^) Das Problem der Gleichzeitigkeit des
dem inneren Sinne in der späteren engeren Bedeutung
Gegebenen ist von Schopenhauer nicht ausdrücklich auf-
geworfen worden.
Die Beharrlichkeit der Materie bei Schopenhauer unter-
scheidet sich von der Substanz bei Kant zweitens darin, dafs
sie nicht als das Substratum der Zeit, sondern des Raumes
abgeleitet wird« „Aus dem Anteil also,^^ sagt Schopenhauer,
„den der Baum an der Materie, d. i. an allen Erscheinungen
der Wirklichkeit hat, .... mufste jener Grundsatz von der Be-
hanlichkeit der Substanz . . . abgeleitet und erklärt werden,
nicht aber aus der bloüsen Zeit, welcher Kant zu diesem Zweck
ganz widersinnig ein Bleiben angedichtet hat"')
Ein dritter Unterschied der Beharrlichkeit der Materie bei
Schopenhauer yon der bei Kant ist darin gegeben, dafs sie
bei jenem aus der Kausalität abgeleitet wird.
Dieses Merkmal aber hat ein Analogon in einem anderen
Pankte der Lehre Kants. Wir fanden, dafs bei Schopenhauer
der Gedanke, dafs die Materie das Wirkende überhaupt sei,
eine engere und eine weitere Bedeutung habe. In jener ist das
Sein der Materie ihr Wirken auf uns, in dieser ist sie der
Inbegriff alles Wirkenden und deshalb die „keinem Werden und
Vergehen unterworfene, mithin immer gewesene, immer bleibende
Grundlage aller Dinge". <) Die Ableitung letzterer Bedeutung
kann nun in Analogie gesetzt werden zu den Ausführungen Kants
über das empirische Kriterium einer Substanz, sofern sie sich
nicht durch die Beharrlichkeit, sondern besser und leichter
durch Handlung zu offenbaren scheint^) „Handlung" sagt
Kant, „bedeutet schon das Verhältnis des Subjekts der Kausalität
zur Wirkung. Weil nun alle Wirkung in dem besteht, was da
0 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 99.
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 67.
•) 1,602 f.
*) 1, 602. Sieh S. 49 dieser Schrift.
^) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 249.
9*
Digitized by
Google
132
geschieht, mithin im Wandelbaren, was die Zeit der Snkzession
nach bezeichnet, so ist das letzte Sabjekt desselben das Beharrliche
als das Siibstratnm alles Wechselnden, d.i. die Substanz.'' >) Die
Geltang dieses Eriteriums ist innerhalb seines Anwendangs-
bereiches eine apodiktische, weil sein Inhalt aus einer a priori
gewissen Voranssetzang abgeleitet ist; «denn nach dem Grand-
satze der Eaasalität sind Handlangen immer der erste Grand
von allem Wechsel der Erscheinungen and können also nicht
in einem Sabjekt liegen, was selbst wechselt, weil sonst andere
Handlangen and ein anderes Sabjekt, welches diesen Wechsel
bestimmte^ erforderlich wären ''.^) Als a priori abgeleiteter
bildet der hier geltende Begriff der Handlang eines der Pi^-
dikabilien des reinen Verstandes,^) and zwar ein solches, das
der Kategorie der Eaasalität untergeordnet ist. Es liegt ihm
der Gedanke unter, dafs die Kausalität immer nur in Beziehung
auf eine Zustandsänderung Erkenntniswert habe, der Inbegriff
aller Zustandsänderungen also auch den Inbegriff alles Wirk-
samen im Felde der Erscheinungen umfasse. Empirisch ist
dieses Kriterium im Gegensatze zu dem apriorischen Grunde,
aus dem die Beharrlichkeit der Substanz nach der ersten
Analogie flierst,^) empirisch also in einem engeren Sinne als
er für den empirischen im Gegensatz zum transzendentalen
Yerstandesgebrauch gilt, wenn es ron den Analogien überhaupt
heilst, dafs sie als Grundsätze nur des ersteren, nicht des
letzteren ihre alleinige Bedeutung und Gültigkeit haben. ^) In
einem weiteren Sinne aber ist es empirisch wie der Inbegriff
der in den Einzelwissenschaften gewonnenen Eonstanten des
kausalen Geschehens, deshalb nämlich, weil diese aus dem
empirischen Inhalt des regelmäfsig Aufeinanderfolgenden in-
duktiv gewonnen sind, während jenes „empirische Eriterium*'
a priori für jedes mögliche kausale Geschehen gilt Das
genannte Eriterium ist, so dürfen wir interpretierend sagen,
deshalb für Eant empirisch, weil der Umfang seines Geltungs-
bereiches ein nur empirisch bestimmbarer ist Es reicht nämlich
0 Ebenda 250.
>) Ebenda S. 250.
') Ebenda S. 108.
*) Ebenda S. 282.
>) Ebenda S. 223.
Digitized by
Google
133
nar bo weit, als die Tatsache des Wandelbaren in der Erscheinung
reicht, im Gegensatz zum Grundsatze der Beharrlichkeit der
Substanz, der jede mögliche Erfahrung umfafst. Weil es die
nach dem Grundsatze der Kausalität schon objektivierte Mannig-
faltigkeit des Wandelbaren der Erscheinung zur Voraussetzung
flir seine Anwendbarkeit hat, ist die durch es erschlossene
Beharrlichkeit der Substanz als erst „ durch verglichene Wahr-
nehmung ",1) der Umfang dessen, wofttr es, obzwar a priori,
gilt, also erst durch Induktion gewonnen zu bezeichnen. Das
Kriterium gewährleistet daher, so haben wir zu folgein, nur
die Beharrlichkeit der Substanz des Wechselnden, nicht also
auch des in seinem Zustand Verharrenden, zum mindesten also
auch nicht des Koexistierenden. In diesem Sinne ist der
Sehlnfs. . dafs das erste Subjekt der Kausalität alles Entstehens
und Vergehens selbst nicht (im Feld der Erscheinungen) ent-
stehen und vergehen könne, ein sicherer Schlufs, der auf
empirische Notwendigkeit und Beharrlichkeit im Dasein, mithin
aaf den Begriff einer Substanz als Erscheinung ausläuft ''.3)
Das zu diesem Gedankengange Kants Analoge in der Lehre
Schopenhauers von der Materie 3) liegt, von Schopenhauer in
dieser historischen Beziehung nicht erkannt, in der Bestimmung
der Materie als des Trägers aller Veränderungen, 4) der selbst
von allem Entstehen und Vergehen ausgenommen ist.^) Beiden
Theorien liegt der a priori geltende Gedanke zugrunde, dafs
das, was als den Eintritt der Wirkung notwendig herbeiführend
io der Ursache gedacht wird, als in der kausal verkntlpften
Folge beharrend vorausgesetzt werden mttsse. Bei Schopenhauer
ist dieser Ableitungsgrund in der Bestimmung der Materie als
des Wirkenden überhaupt, das selbst der Kausalität nicht unter-
worfen sei, gegeben. Während aber der Umfang des Geltungs-
bereiches des genannten Kriteriums bei Kant ein nur empirisch
bestimmbarer ist, tritt der entsprechende Ableitungsgrund bei
0 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 251.
>) Ebenda S.251.
*) Vgl. Ernst Laas, „Kants Analogien der Erfahrung^, Berlin 1876
S. 148 f., wo das Verwandte der Lehre Schopenhauers von der Materie mit
der Kants von dem empirischen Kriterium einer Substanz, allerdings nicht
ganz zutreffend, berührt wird.
*)ni,58. »)m,56.
Digitized by
Google
134
Sebopcnhaner als ein jede mögliche ErfabraDg a priori um-
fassender anf. Nicht blofs als die beharrende Grundlage der
Veränderungen, sondern als die „jeder Realität",^) „aller
Dinge "2) wird die Materie aus dem genannten Grunde ab-
geleitet. Sie wird also, so dürfen wir schliefsen, auch als die
in ihrer Wirksamkeit beharrende Grundlage der im empirischen
Sinne ruhenden Materie a priori gefolgert Als so selbstrer-
ständlich gilt letztere in dieser Ableitung für Schopenhauer
einbegriffen, dafs die Frage, in welchem Sinne dies geschehen
dürfe, keine besondere Behandlung yon ihm erfahren hat, und
dies, trotzdem die Kausalität bei ihm wie bei Kant in not-
wendiger Beziehung zur Zeitfolge steht
Die empirische Geltung, die Kant dem genannten Kriterium
zuschreibt, hat Schopenhauer vielleicht im Auge gehabt, wenn
er sagt: , Auch können wir die Überzeugung yon der Beharrlich-
keit der Substanz gar nicht a posteriori erlangt haben, teils
weil in den meisten Fällen der Tatbestand empirisch zu kon-
statieren unmöglich ist, teils weil jede empirische, blofs durch
Induktion gewonnene Erkenntnis nur approximative, folglich
prekäre, nie unbedingte Gewifsheit hat*')
Prüfen wir nun, in welchem Sinne der, empirisch betrachtet,
ruhenden Materie ein in seiner Wirksamkeit Beharrendes im
Zusammenhange der Lehre Schopenhauers zugrunde gelegt
werden darf.
Diesem Zwecke scheint vorerst die Lehre von den Natur-
kräften eine Handhabe zu bieten. Von diesen sagt Schopen-
hauer: »Die Naturkräfte hingegen, vermöge welcher alle Ur-
sachen wirken, sind von allem Wechsel ausgenommen, daher
in diesem Sinne aufser aller Zeit, eben deshalb aber stets und
überall vorhanden, allgegenwärtig und unerschöpflich, immer
bereit, sich zu äufsern, sobald nur am Leitfaden der Kausalität
die Gelegenheit dazu eintritt." *) Es liegt nahe, auch der
ruhenden Materie Natnrkräfte zuzuschreiben, vermöge deren
sie wirksam werden kann. Die Definition der Materie als
des Wirkenden überhaupt dürften wir dann vielleicht in dem
weitesten Sinne nehmen, dafs sie auch das möglicherweise
*) m, 99. «) I, 602.
») m, 57. <) ni, 58.
Digitized by
Google
135
^rksame amfasse. Zur PrttAiDg dieser Dentang haben wir
nun vorerst dasjenige Merkmal der Natarkräfte, das sieh uns
als ein transzendentes erwies, i) als fUr unsere innerhalb der
Welt der Vorstellnng sieh bewegende Frage ansgesehlossen zu
bezeichnen. Es liegt in der Bestimmnng, dafs die Natnrkraft
das sei, «was der Ursache die Fähigkeit zn wirken allererst
erteilt *'.3) Ftlr das Gebiet der Vorstellnng aber erwies sich
uns die Natnrkraft lediglich als ein darch Induktion gewonnenes
Allgemeines, das aus den a posteriori gegebenen Momenten, die
die einzelnen Ursachen als einzelne kennzeichnen, abstrahiert
ist Wir müssen uns deshalb in unserem Deutungsversuch schon
zu dem Schritt entschliefsen, Materie und Naturkraft nicht,
wie es von Schopenhauer im Hinblick auf die transzendente
Nebenbedeutung letzterer geschieht, zu koordinieren, sondern
jener, als dem Wirkenden Überhaupt, diese als ein weniger
Allgemeines zu den einzelnen Wirkungsarten unterzuordnen.
Die ruhende Materie dürften wir dann als den Träger von
Naturkräften im Sinne von möglichen Wirkungsweisen auf-
fassen. Aber auch so löst sich unsere Frage noch nicht; denn
die Naturkräfte sind durch Induktion gewonnen anzusehen.
Ein apriorischer Beziehungsgrund aber ist es, den wir fttr die
Einordnung auch der ruhenden Materie unter die Definition der
Materie als des Wirkenden ttberhaupt suchen.
Ein anderer, zu einem apriorischen Beziehungsgrund
führender Weg der Erklärung scheint sich uns zu öffnen von
der Lehre Schopenhauers von dem Gesetz der Trägheit aus.
Dieses Gesetz stellt nämlich nach ihm eine notwendige Folge
ans dem der Kausalität dar. .Das erstere (das Gesetz der Träg-
heit) besagt, dafs jeder Zustand, mithin sowohl die Ruhe eines
Korpers als auch seine Bewegung jeder Art, unverändert, unver-
mindert, unvermehrt, fortdauern und selbst die endlose Zeit hin-
durch anhalten müsse, wenn nicht eine Ursache hinzutritt, welche
sie verändert oder aufhebt. "3) „Das Gesetz der Trägheit fliefst
unmittelbar aus dem der Kausalität, ja ist eigentlich nur dessen
Kehrseite: ,jede Veränderung wird durch eine Ursache herbei-
geführt', sagt das Gesetz der Kausalität: ,wo keine Ursache
hinzukommt, tritt keine Veränderung ein', sagt das Gesetz der
0 S. 55 dieser SehrifL *) III, 58. >) III, 56.
/Google
Digitized by ^
136
Trägheit. Daher würde eine Tatsache, die dem Gesetz der
Trägheit widerspräche , geradezu anch dem der Eansalität,
d. h. dem a priori Gewissen, widersprechen nnd uns eine Wirkung
ohne Ursache zeigen.' i) Zwar geht das Gesetz der Trägheit
lediglich auf Zustände, entsprechend dem der Kausalität, ent-
gegen aber dem der Beharrlichkeit der Materie, das vielmehr
auf das den Zuständen Zugrundeliegende geht, und bietet schon
aus diesem Grunde unserem Deutungsversuch eine Schwierigkeit;
trotzdem aber dürfte es den Keim zu einem Gedanken ent-
halten, der alle Wahrscheinlichkeit fUr sich hat, unsere Frage
zur Lösung zu bringen. Die reale Notwendigkeit nämlieh, die
dem Beharren der ruhenden Materie — Beharren und Buhen
vorerst im empirischen Sinne genommen — dadurch anhaftet, dafs
sie von dem Nichteintreten einer eine Veränderung bewirkenden
Ursache abhängig ist, legt die Auffassung nahe, dab dieses
Beharren selbst den Charakter einer kausalen Notwendigkeit
trage. In diesem Sinne können wir auch eine Ausführung in den
Parerga und Paraligomena auffassen, die lautet: ,Die von Kant
entdeckte Idealität der Zeit ist eigentlich schon in dem, der
Mechanik angehörenden Gesetze der Trägheit enthalten. Denn
was dieses besagt ist im Grunde, dafs die blolse Zeit keine
physische Wirkung hervorzubringen vermag; daher sie, für sich
und allein, an der Ruhe oder Bewegung eines Körpers nichts
ändert. Schon hieraus ergibt sich, dafs sie kein physisch
Reales, sondern ein transzendental Ideales sei ... denn
wirksam sind allein die Ursachen im Verlaufe der Zeit,
keineswegs er selbst . . . dementsprechend ist die sich
uns vermittelst der Kette der Ursachen und Wirkungen dar-
stellende Notwendigkeit alles Geschehenden, d. h. in der Zeit
sukzessiv Eintretenden, blofs die Art, wie wir, unter der Form
der Zeit, das einheitlich und unverändert Existierende wahr-
nehmen, oder auch, sie ist die Unmöglichkeit, dafs das
Existierende, obgleich es von uns heute als zukünftig, morgen
als gegenwärtig, übermorgen als vergangen erkannt wird, nicht
dennoch mit sich selbst identisch. Eins und unveränder-
lich sei ''.2) Wir fanden oben, dafs die eindeutige Zuordnung je
») III, 364.
») V, 47 t. Die Sperrung findet sich nicht im Text.
Digitized by
Google
137
einer objektivierten Sinnesqaalität zn je einem Teil des Ranmes
nnd je einem Teil der Zeit den Sinn der kausalen Bedingtheit
des Zusammenhanges der Objekte untereinander ausmache.
Hier sehen wir überdies, dafs der Sinn dieser Eindeutigkeit die
kausal bedingte Identität des Eingeordneten sei. In dieser
Allgemeinheit ist dies gleichbedeutend damit, dafs nicht nur
in der Aufeinanderfolge, sondern auch in der Koexistenz der
Zustände die Identität des Eingeordneten kausal bedingt sei.
Eine Weehselwirkung des Koexistierenden würde der Sinn
dieser kaasalen Notwendigkeit sein, so zwar, dafs sie entgegen
Kant als eine Art der Kausalität überhaupt anzusehen wäre.
Dieser zwar naheliegende, aber von Schopenhauer nicht
Yollzogene Gedanke dürfte vielleicht zum Zweck einer Über-
sicht über die Problemlage, in die unsere Frage eingebettet
ist, etwas weiter von uns entwickelt werden. Nach Kant „kann
das Zugleichsein der Substanzen im Baume nicht anders in
der Erfahrung erkannt werden, als unter Voraussetzung einer
Wechselwirkung derselben untereinander. * >) Nicht, dafs
diese im Sinne Kants als eine selbstständige , Bedingung der
Möglichkeit der Dinge selbst als Gegenstände der Erfahrung''^)
za gelten habe, sondern vielmehr die über Kants Voraussetzung,
hinausführende Annahme, die die Wechselwirkung als eine
Art der Kausalität auffassen läfst,^) würde dem Gedanken
Raum geben, auch auf jene das „empirische Kriterium" für
die Beharrlichkeit der Substanz entsprechend anzuwenden.
Würden wir freilich mit Kant den Grundsatz der Beharrlichkeit
der Substanz voraussetzen dürfen, so wäre die Analogie unseres
Gedankens müfsig. Diese Voraussetzung steht uns jedoch
nicht zur Verfügung, weil wir in unserem Gedankengange
lediglich vom Gesetze der Kausalität herkommen und zuzu-
sehen haben, was es für das im empirischen Sinne Ko-
existierende bedeute. Das Koexistierende nämlich ist, so setzen
wir im Sinne Schopenhauers voraus, zwar seiner räumlichen
Form nach a priori bestimmbar, jedoch als ein im Gegensatz
zum Aufeinanderfolgenden stehender ein vorerst nur empirisch
*) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 258.
') Ebenda.
') Benno Erdmann. Über Inhalt und Geltung des Kausalgesettes S.45.
/Google
Digitized by ^
138
bestimmbarer Zustand der Objekte. Ob auch das ihm wie
allem Realen Zagrnndeliegende, die Materie, beharre, ist eine
zweite Frage, die es allererst ans dem Gesetze der Eansalitiit
abzuleiten gilt.
Wir müssen, um nieht weitläufig zu werden, in diesem
Zusammenhange einen Versuch, den Gedankengang der dritten
Analogie Kants im analogen Sinne der „zweiten Analogie^
auszubauen, sowie die Eonsequenzen, die sieh aus der Über-
ordnung der Kausalität im weitesten Sinne ttber die an die
Zeitfolge und an die Koexistenz gebundene Kausalität ergeben,
zu ziehen unterdrücken; auch dürfen wir aufser aeht lassen,
dafs bei einer solchen Betrachtungsweise Baum und Zeit
als empirisch ableitbare, und durch ihre Mannigfaltigkeits-
beziehungen unterscheidbare Begriffe aufgewiesen werden
können. Hier haben wir nur das beschränkte Ziel, auf der
Grundlage bestimmter Voraussetzungen Schopenhauers einen
seinem eigenen analogen Gedankengang zu entwickeln; mit
welchem Rechte, wird sich zwar noch erweisen.
Im analogen Sinne, wie für die auf die Zeitfolge bezogene
Kausalität, haben wir das Recht zu sagen, dafs nun nicht
das Subjekt der Handlung als des «ersten Grundes von allem
Wechsel der Erscheinungen '',1) sondern die Subjekte der im
Koexistierenden waltenden Wirsamkeit, als der Ursachen der Ko-
existenz der Erscheinungen, dem Wechsel nicht unterworfen sein
können, weil sonst gleichfalls auch ein anderes wirksames Subjekt,
welches den dann eintretenden Wechsel bestimmte, erforderlich
wäre. In analoger Weise wie dort ein Wechsel des ursächlichen
Subjekts sich nicht anders denkbar erwies, wie auf Grund eines
Wechsels der Handlung, also einer Zustandsändernng des
einmal gesetzten Zustandes, so haben wir fttr das Koexistierende
zu sagen, dafs ein Wechsel der kausalen Subjekte der Koexistenz
nicht anders denkbar wäre, als auf Grund einer Zustands-
ändernng der Koexistenz der Erscheinungen. Nehmen wir
nun fttr einen gegebenen Zeitabschnitt zu dem Inbegriff alles
Wandelbaren, dessen letztes Subjekt sich als beharrlich erwies,
den Inbegriff alles nicht wandelbaren Koexistierenden, dessen
letztes Subjekt aus demselben Grunde beharrlich ist, so dürfen
0 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 250.
/Google
Digitized by ^
1Ö9
wir folgern, dafs ancb dem Inbegriff allee Existierenden ein Be-
Iiarrliches als letztes kausales Subjekt, d. i. als konstante kausale
Bedingung zur Voraussetzung diene. Dieser Gedankengang wird
der Forderung Scbopenbauers gerecht, dafs die Annahme einer
Wirksamkeit des den Zuständen zugrunde Liegenden immer
nur in Beziehung auf die kausale Bedingtheit dieser Zustände
Geltung habe, in dem weiteren Sinne aber, dafs nicht lediglich
die Veränderung der Zustände, sondern auch die Beharrlichkeit
derselben als kausal bedingt aufgefafst wird. Die Beharrlich-
keit auch des den ihren Zustand nicht ändernden, somit auch
des den ruheuden Erscheinungen zugrunde Liegenden wäre
so also als eine Konsequenz des erweiterten Kausalgesetzes
abgeleitet und damit wäre in formaler Übereinstimmung mit
dem Satze Schopenhauers, dafs die Materie das beharrende
Wirksame sei, die Möglichkeit der Einordnung auch der im
empirisehen Sinne ruhenden Materie unter diesen Satz ge-
wonnen.
Nicht nur, dafs Schopenhauer die Wechselwirkung als
selbständige Kategorie ablehnt, als vielmehr die Gründe, aus
denen dies geschieht, lassen jedoch auch unseren letzten Aus-
gleiehsversuch scheitern.
Mit Kant die gleiche Voraussetzung der Zeitfolge für
das Verhältnis von Ursache und Wirkung machend, gelangt
Schopenhauer nicht wie dieser, and nicht wie die Kant hierin
folgenden Fichte, Schelling und Hegel zu einer kategorialen
Trennung von Kausalität und Wechselwirkung, sondern zur
Ablehnung letzterer als eines Ungedankens. , Kausalität*,
80 sagt er, ,ist das Gesetz, nach welchem die eintretenden
Zustände der Materie sich ihre Stelle in der Zeit bestimmen. . . .
Der Begriff Wechselwirkung enthält aber dies, dafs beide
Ursache nnd beide Wirkung voneinander sind: dies heifst aber
ebensoviel, als dafs jeder von beiden der frühere und aber
auch der spätere ist: also ein Ungedanke.*'^) Der Gedanke also
auch, die Kausalität des gleichförmig Koexistierenden als eine
Art der Kausalität aufzufassen, liegt Schopenhauer völlig fern.
Ein anderer Grund also, als der auf der Wechselwirkung
ruhende, wird es sein, der für Schopenhauer auch das gleich-
») I, 586.
/Google
Digitized by ^
140
förmig Koexistierende als in seiner Ableitung der Beharrlieli-
keit einbegriffen sein läfst Dieser Grand, wenn anders die
Kausalität an die Zeitfolge gebunden und die Weehselwirkung
ausgeschlossen bleiben soll, ergibt sieh uns erst dann, wenn wir
auch hier wieder die Gleiehordnung der kausalen Beziehung,
die für die Veränderungen der yermittelten Objekte gilt, mit
der kausalen Beziehung dieser zum „unmittelbaren" Objekt
heranziehen. Damit nämlich wird aueh das Koexistierende als
ein Wirkendes, nämlich ein auf uns Wirkendes, und deshalb
das ihm zugrunde Liegende als ein beharrend Wirksames anf-
fafsbar. DafUr sprechen alle diejenigen Ausführungen, die die
Materie, weil sie die Wirksamkeit tlberhaupt sei, als das
objektive Korrelat des kausal beziehenden Verstandes und
deshalb nicht als einen Gegenstand, sondern die „Bedingung
der Erfahrung" >) kennzeichnen. Wir fanden frtther,^) dals die
erkenntnistheoretische Bestimmung der Materie als der Wirksam-
keit auf uns bei Schopenhauer unbesehen in die logische des
Inhalts dieses Begriffes als der Wirksamkeit überhaupt über-
fliefst. Diese prinzipiell bedeutsame Unzulänglichkeit, die auf
der nicht zu rechtfertigenden Koordination des unmittelbaren
und der yermittelten Objekte beruht, macht sich auch bei
unserer Prüfung des logischen Verhältnisses der ruhenden
Materie zu dem Begriff der Materie als des Wirkenden über-
haupt bemerkbar. Erst wenn wir mit Schopenhauer den Wechsel
des Standpunktes, nun vom logischen zum erkenntnistheore-
tischen zurück, vollziehen, wird jenes Verhältnis im Zusammen-
hange seiner Lehre verständlich.
Die Konsequenz freilich, die sich von der Voraussetzung
des Wirklichen überhaupt als eines auf uns Wirkenden aus
ergibt, dafs damit die Ursachen der Wirkungen auf uns not-
wendig auch als untereinander kausal verknüpft gedacht werden,
dafs also aueh eine Wechselwirkung des Koexistierenden schon
damit vorausgesetzt ist und diese prinzipiell gleichbedeutend
wird mit der Kausalität des Sukzedierenden, und dafs infolge-
dessen jede Behauptung über einen unmittelbaren kausalen
Zusammenhang des Sukzedierenden aufser der flir alles
Existierende geltenden Voraussetzung seiner kausalen Bedingt-
0 n, 60. *) S. 46 dieser Schrift.
/Google
Digitized by ^
141
heit cichts weiter als die empirisch gewonnene Bebanptang
einer Regelmäfsigkeit des Geschehens enthält, ist von Schopen-
hauer nicht gezogen worden, und zwar deshalb nicht, weil die
Wirksamkeit der Materie auf uns für ihn gleichbedeutend ist
mit ihrer Wirksamkeit auf unseren Leib, als das «unmittelbare
Objekt ''; dadurch wird jede Wirksamkeit der Materie aufser
uns auf unseren Leib, als eine an Sukzession gebundene Wirk-
samkeit zwischen Objekten, jeder anderen sukzessiven Wirk-
samkeit zwischen Objekten koordiniert Die Gleichzeitigkeit
der Wirkungen der ruhenden Materie auf unseren Leib aber
darf für ihn zu einer Folgerung auf eine koexistierende
Wechselwirkung der ruhenden Materie deshalb keinen Anlafs
geben, weil eine solche dem ursprünglichen Sinne der Kausalität,
der ftar den Übergang des kausal beziehenden Verstandes rom
«unmittelbaren Objekt*" zu den vermittelten Objekten, eben
weil diese Beziehung eine Sukzession von Ursache und Wirkung
zur Voraussetzung hat, nicht mehr analog wäre.
Eine historische Einsicht aber gewinnen wir so dafür,
dab die Ablehnung der Lehre Kants von der Wechselwirkung
neben der Aufrechterhaltung der der Ableitung des «empirischen
Kriteriums" Kants fttr die Beharrlichkeit der Substanz analogen
Ableitung der Beharrlichkeit der Materie als des Wirksamen
überhaupt, trotz des Anspruches dieser auf apriorische Geltung
für alle mögliche Erfahrung, fttr Schopenhauer bestehen bleiben
konnte.
Gleichwohl haben wir festzustellen, dafs die Lehre Schopen-
hauers von der Materie gegenüber der von der Substanz bei
Kant einen sachlichen Fortschritt bedeutet. Er liegt in der
Ablehnung der Ableitung der Beharriichkeit der Substanz als des
Substrates in den Gegenständen der Wahrnehmung, «welches
die Zeit überhaupt vorstellt und an dem aller Wechsel oder
Zugleichsein durch das Verhältnis der Erscheinungen zu dem-
selben in der Apprehension wahrgenommen werden kann*^.!)
«Der Beweis, der hier für diesen Grundsatz gegeben wird",
sagt Schopenhauer, «... ist aus der reinen Anschauung der
Zeit geführt'' 2) Aus diesem Grunde lehnt er ihn ab und
^) 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft S. 225.
«) I, 601.
Digitized by
Google
142
setzt an seine Stelle den ans dem Gesetze der Kaosalitäi
llDzareiehend ist diese Ableitung bei Kant, so dürfen wir
ergänzend bemerken, weil, auch abgesehen yon der Sehopen-
haner eigentttmliehen Begründung, die Bealität jenes Snb-
stratnms in der Tat erst dareh seine kausale Bedingtheit
begreiflich wird.
Der genannte Fortschritt Schopenhauers hat sachlich
einen ungleich bedeutsameren Schritt über Kant hinaas im
Gefolge. Er liegt, in der ZurttckfUhrung des Verhältnisses yon
Substanz und Akzidenz auf das von Wirksamkeit überhaupt und
besonderer Art des Wirkens. In diesem Sinne heifst es: »Sie
(die Materie) ist die objektiv, jedoch ohne nähere Bestimmung
aufgefafste Wirksamkeit überhaupt . . . Das Materielle ist das
Wirkende (Wirkliche) überhaupt und abgesehen von der spe-
zifischen Art seines Wirkens. Daher eben auch ist die Materie,
blofs als solche nicht Gegenstand der Anschauung, sondern
allein des Denkens, mithin eigentlich eine Abstraktion; in der
Anschauung hingegen kommt sie nur in Verbindung mit der
Form und Qualität vor, als Körper, d. h. als eine ganz bestimmte
Art des Wirkens. Blofs dadurch, dafs wir von dieser nähereu
Bestimmung abstrahieren, denken wir die Materie als solche,
d. h. gesondert von der Form und Qualität; folglich denken
wir unter dieser das Wirken schlechthin und überhaupt, also
die Wirksamkeit in abstrakte. Das näher bestimmte Wirken
fassen wir alsdann als das Akzidenz der Materie auf; aber erst
mittelst dieses wird dieselbe anschaulieb, d. h. stellt sich als
Körper und Gegenstand der Erfahrung dar. Die reine Materie
hingegen, welche allein . . . den wirklichen und beiechtigten
Inhalt des Begriffs der Substanz ausmacht, ist die Kausalität
selbst, objektiv ....'' ^) »Wenn ich sage: dieser Körper ist
schwer, hart, flüssig, grün, sauer, alkalisch, organisch usw.,
so bezeichnet dies immer sein Wirken.'' 2^ ,Da femer Sabstanz
identisch ist mit Materie, so kann man sagen, Substanz ist
das Wirken, in abstrakte aufgefafst, Akzidenz die besondere
Art des Wirkens, das Wirken in concreto." s)
In moderner Wendung, wenn auch unter anderen Voraus-
setzungen gewonnen, tritt uns die diesem bedeutsamen Gedanken
1) U, 357, 858. •) 1, 584. ») in, 99.
/Google
Digitized by ^
143
Sehopenhaaers zngrande liegende Einsicht in den Sinn der
Substanzen als wirkender Dinge in folgenden AnsfUhmngen
entgegen: «Wir finden in wiederholten Sinneswahrnehmangen
gleichförmig koexistierende Inbegriffe von Qualitäten. Als solche
Inbegriffe fassen wir im entwickelten Bewnlstsein auf Grand
apperzeptiyer Verschmelznng in den sinnlichen Wahrnehmongs-
inhalten die Körper auf. Die Auffassung der Inbegriffe von
beharrenden sinnlichen Qualitäten als Körper ist insofern ein
Prodakt der Erfahrung. Aber die Körper sind für uns mehr
als diese Inbegriffe wahrnehmbarer Inhalte. Andere Momente
unserer Erfahrung zwingen uns, die sinnlichen Qualitäten als
Wirkungen zu denken, die von den Körpern auf uns ausgeübt
werden. Wir denken die Körper dementsprechend als be-
harrende Subjekte koexistierender sinnlicher Qualitäten, die
wir als Eigenschaften auf diese kausalen Subjekte beziehen.
Wir bezeichnen diese Beziehung als reale Inhärenz der Eigen-
schaften in der körperlichen Substanz. Bestandteile unseres
Wahmehmeos also sind lediglich die sinnlichen Qualitäten und
der raumzeitliche Zusammenhang ihrer Koexistenz. Die kausalen
Sabjekte und demgemäfs die Bestimmung der Qualitäten als
Eigenschaften dieser Substanzen, sind uns nicht als Bestand-
teile des Wahrnehmungsinhaltes gegeben, sondern sind Postulate
nnseres Denkens, das nicht umhin kann, jene beharrenden
Inbegriffe als einheitliche Ganze zu fassen und von diesen die
inhärierenden Qualitäten als (kausale) Bestimmungsweisen
aaszusagen.* 0
Znsammenfassnng.
Wir sind nun am Ende unserer Untersuchung über das
Verhältnis der Lehre Schopenhauers von der empirischen An-
schauung zur Lehre Kants angelangt.
Zusammenfassend können wir unsere Ergebnisse folgender-
ma&en formulieren:
Zwei wesentliche Bestandteile der Lehre Schopenhauers
von der empirischen Anschauung sind in der Lehre Kants
schon enthalten, die Apriorität von Baum und Zeit und die
0 Benno Erdmann, Logik 1. Band 2. Auflage S. 94.
Digitized by
Google
144
Intellektoalität der empirisehen AnschaniiDg. Erstere wird von
Schopenhauer als ihm mit Kant gemeinsam anerkannt, letztere
dagegen verkannt
Ein wesentlicher Unterschied von Kant liegt bei Schopen-
hauer in der Einschränkung der Kategorien auf die eine der
Kausalität und der Voraussetzung einer unmittelbaren kausalen
Beziehung der Empfindung in uns auf ein ursächliches Objekt
aulser uns.
Die Kritik, die Schopenhauer an Kant ttbt, ist mitbestimmt
durch zwei Momente einer irrtümlichen Interpretation, der
unzulänglichen Deutung des Gegenstandes, der durch die
Sinnlichkeit gegeben wird, in der transzendentalen Ästhetik,
und der zu engen Auffassung des Grundsatzes der Kausalität
Sie ist überdies durchwebt von der ungerechtfertigten Ko-
Ordination der kausalen Beziehung der Objekte untereinander
zu der der Objekte zu uns.
Eine eigentliche Fortbildung der transzendentalen Deduktion,
wenn anders wir mit Kant ,die Erklärung der Art, wie sich
Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die tran-
szendentale Deduktion derselben" i) nennen wollen, ist in der
Lehre Schopenhauers von der a priori gewissen ursächlichen
Bedingtheit der Empfindungen gegeben. Sehen wir von den
Unzulänglichkeiten, die in der psychologischen Ineinssetzung
von Empfindung und physiologischer Erregung im Sinnesorgan
und in dem Ausschlnfs der transzendenten Bedeutung der
Ursache liegen, einmal ab, so haben wir überdies festzu-
stellen, dafs ein Fortschritt über Kant hinaus in dem Aufweis
der Unmittelbarkeit des kausalen Beziehungsbewufstseins und
in der Zurückftthrung des Verhältnisses von Inhärenz und
Dependenz auf das von Wirksamkeit überhaupt und Wirkungs- ^
art besteht j
Historisch bedeutsam ist somit die Lehre Schopenhauers i
auch deshalb, weil sie auf den Weg hinweist, der zu einer I
einheitlichen kausalen Deutung des Seins führt
>) 2. Autlage der Kritik der reinen Vemunft S. 117.
Digitized by
Google
145
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung zur Lehre Gottlob
Ernst Schulzes.
Von entscheidender Bedeatung für die Entwicklung der
Philosophie Schopenhauers ist neben Kant, Plato und der
indischen Philosophie auch Gottlob Ernst Schulze gewesen,
namentlich ftlr den Anfang der philosophischen Entwicklung
Schopenhauers. Dies geht aus seinem Briefe an Johann Eduard
Erdmann vom 9. April 1851 hervor, in dem er sagt: Ich „berichte,
dafs ich 1809 die Universität Göttingen bezogen habe, wo ich
Naturwissenschaften und Geschichte hörte, als ich im zweiten
Semester durch die Vorträge des G. E. Schulze, Aenesidemus,
zur Philosophie auferweckt wurde. Dieser gab mir darauf den
weisen Rat, meinen Privatfleils fürs Erste aussehlielslich dem
Plato und Kanten zuzuwenden und bis ich diese bewältigt
haben würde, keinen andern anzusehen, namentlich nicht den
Aristoteles oder den Spinoza. Bei Befolgung dieses Rates habe
ich mich sehr wohl befunden.' i)
Von unmittelbarem Einfiufs auf die Lehre Schopenhauers
ist 6. E. Schulze durch seine Kritik an der kantisohen Philo-
sophie, insbesondere an der Lehre Kants vom Ding an sich
geworden. Schopenhauer hebt dies selbst hervor, indem er
sagt, dafs .die UnStatthaftigkeit' der , Einführung des Dinges
an sich' bei Kant .von G. E. Schulze im Aenesidemus weit-
läufig dargetan und bald als der unhaltbare Punkt seines
Systems anerkannt' 2) worden sei. Wir wiesen bereits darauf
hin, dafs die idealistische Auffassung, die Schopenhauer von
der Lehre Kants hat, auf Schulze zurückzufahren sei. Hier sei
nur noch angemerkt, dafs die von Schulze gezogene und
von Schopenhauer zunächst uneingeschränkt anerkannte Kon-
sequenz, dafs unter den Voraussetzungen der transzendentalen
Analytik Kants die Dinge an sich müfsten fallen gelassen
0 Ludwig Schemann, Schopenhauer-Briefe. Leipzig 1893. S. 331.
») I, 556.
PbUoiopbiiohe Abhandlungen. XLII. 10
Digitized by
Google
146
werden, in den Parerga und Paralipomena eine Einschränkang
erfährt. Hier heifst es nämlich: „Bei allem diesem aber
(dafs die Lockesche objektive Welt von Dingen an sieh
dnrch Kant in eine Welt von blofsen Erscheinungen in
unserm Erkenntnisapparat verwandelt worden sei) liefs Kant
noch immer, so gut wie Locke das Ding an sich bestehen,
d. h. etwas, das unabhängig von unseren Vorstellungen,
als welche uns blofse Erscheinungen liefern, vorhanden
wäre und eben diesen Erscheinungen zum Grunde läge.
So sehr nun Kant auch hierin an und für sich recht hatte, so
war doch aus den von ihm aufgestellten Prinzipien die Be-
rechtigung dazu nicht abzuleiten. Hier lag daher die Achilles-
ferse seiner Philosophie, und diese hat durch die Nachweisung
jener Inkonsequenz, die schon erlangte Anerkennung unbe-
dingter Gültigkeit und Wahrheit wieder einbttfsen mtissen:
allein im letzten Grunde geschah ihr dabei dennoch Unrecht
Denn ganz gewlTs ist keineswegs die Annahme eines Dinges
an sich hinter den Erscheinungen eines realen Kerns unter so
vielen Hüllen, unwahr; da vielmehr die Ableugnung desselben
absurd wäre, sondern nur die Art, wie Kant ein solches Ding
an sich einführte, und mit seinen Prinzipien zu vereinigen
suchte, war fehlerhaft. Im Grunde ist es demnach nur seine
Darstellung (dies Wort im umfassendsten Sinne genommen) der
Sache, nicht diese selbst, welche den Gegnern unterlag, und
in diesem Sinne liefse sich behaupten, dafs die gegen ihn
geltend gemachte Argumentation doch eigentlich nur ad
hominem, nicht ad rem gewesen sei.^^ Diese realistisch
gestimmte Ausführung steht offenbar in einem inneren Zu-
sammenhange mit den realistischen Gedankenwendungen des
älteren Schopenhauer, auf die wir bereits früher hinwiesen.
Zu dem genannten kommen noch einige besondere Be-
rührungspunkte der Lehre Schopenhauers mit der Schulzes.
Fürs Erste ist die Definition, die Schopenhauer vom vor-
stellenden Bewufstsein gibt, der Sache nach schon in Schulzes
Kritik an dem „Satz des Bewuüstseins^, den Beinhold auf-
stellt, deutlich angelegt Dieser Satz, wie er in den „Beiträgen
') IV, 110.
Digitized by
Google
147
zar Beriehtigang bisheriger MÜBverständnisse der Philosophen^
TOD Beinhold aufgestellt wird, lautet: „Im Bewafstsein wird die
Vorstellung darch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unter-
schieden und auf beide bezogen.^ ^) Dementsprechend heifst es
weiter: „Das Bewufstsein überhaupt besteht im Bezogenwerden
der Vorstellung durch das Subjekt auf Objekt und Subjekt und
ist von der Vorstellung überhaupt unzertrennlich.^ 3) Gegen
diese Ausführungen macht G. E. Schulze u. a. folgendes geltend:
„Wenn nur dasjenige eine Vorstellung ausmacht, was durch
das Subjekt vom Objekte und Subjekte unterschieden und auf
beide bezogen wird, und es gewifs ist, dafs blofs dasjenige
durch das Gemüt voneinander unterschieden und aufeinander
bezogen werden kann, was wahrgenommen worden ist . . . so
wäre die Anschauung keine Art von der Gattung Vorstellung,
indem der Begriff der Gattung gar nicht auf dieselbe pafst.
Während des Anschauens findet nämlich keine Unterscheidung
eines Objektes von einer Vorstellung statt, weil so lange, als
die Anschauung dauert, durchaus kein von ihr verschiedenes
Objekt bemerkt wird, ja das Entstehen der Unterscheidung
einer Voistellung vom Objekte würde sogleich das Anschanen
zernichten.^ ^) „Doch dies ist nicht das einzige Beispiel, aus
dem erhellet, dafs die [von Reinhold] aufgestellte Erklärung
der Vorstellung enger sei als ihr Gegenstand . . . Nach dieser
Erklärung ist nämlich der Gebrauch des Wortes Vorstellung
blofs auf dasjenige, was im Bewufstsein auf ein Objekt und
Subjekt bezogen und von beiden unterschieden wird, und also
nur auf einen einzigen Bestandteil des Bewufstseins einzu-
schränken. Unleugbar ist nun aber schon dieses, dafs das
Beziehen der Vorstellung auf Objekt und Subjekt und das
Unterscheiden derselben von beiden . . . ohngeachtet damit kein
Beziehen eben desselben auf ein Objekt und Subjekt, und kein
Unterseheiden eben desselben von einem Subjekte und Objekte
verbunden ist, selbst wieder ein Vorstellen der Beschaffenheiten
1) C&rl Leonhard Reinhold, Beiträge zur Berichtigung bisheriger
HirsYerständnisse der Philosophen. Jena 1790. S. 167.
*) Ebenda S. 218.
') G. E. Schulze, Aenesidemus. Neudrucke seltener philosophischer
Werke. Heransgegebeu von der Kantgesellschaft. Bd. I. 1911. S. 64f.
10*
Digitized by
Google
148
eines Etwas sei. . . . Eben so gewifs ist es femer, dafs der
allgemeine Spraehgebraach das Wort Vorstellen anch fttr das
Gewahmehmen nnd Bemerken des Objektes and Sabjektes,
auf welche die Vorstellung bezogen, nnd von welchen sie im
Bewafstsein unterschieden wird, bestimmt habe, nnd das Objekt
sowohl als anch das Subjekt werden, insofeme sie im Bewafst-
sein vorkommen, auch in demselben vorgestellt . . . Das Oe-
wahrnehmen des Objektes, auf welches die Vorstellung im
BewulBtsein bezogen, nnd von dem sie unterschieden wird,
besteht . . . nicht wieder in einem Bezogenwerden eines Etwas
durch das Subjekt auf ein Objekt und Subjekt und in einem
Unterschiedenwerden desselben von beiden, und ebenso wenig
auch das Gewahrnehmen des Subjektes, auf welches die Vor-
stellung bezogen und von dem sie unterschieden wird.^^)
Zwei wesentliche Bedenken also hat Schulze gegen Rein-
holds Theorie der Vorstellung. Zum ersten stellt er fest, dals
das Anschauen eines Objektes keinen Anhalt zu einer Unter-
scheidung des angeschauten Objektes von einer Vorstellung
dieses Objektes biete, daüs also die von Beinhold vertretene
Dreiteilung in Vorstellendes, Vorstellung und Vorgestelltes hier
undurchführbar sei. Zweitens rügt er die Einschränkung
des Wortes Vorstellung auf nur einen Bestandteil des gegen-
ständlichen Bewufstseins, da auch die vermeintlichen Bestandteile
Subjekt und Objekt ebenso wie die angenommenen Beziehungen
der Vorstellung im Reinholdschen Sinne auf diese Bestandteile
schon als Vorstellungen im landläufigen Sinne zu bezeichnen seien.
Diese Gedankengänge Schulzes geben zu der Folgerung Anlals,
dafs das Bewufstsein einer Beziehung eines wahrgenommenen
Objektes auf das wahrnehmende Subjekt kein konstituierendes
Merkmal der Wahrnehmung sei und dalis, wenn eine solche
Beziehung zum Bewufstsein erhoben werde, lediglieh die des
vorgestellten, d.i. angeschauten Objektes auf das vorstellende
Subjekt, nicht aber auch die des Objektes auf eine davon
verschiedene Vorstellung statthabe. Von diesen Folgerungen
ist die letztgenannte auch von Schopenhauer gezogen und dahin
erweitert worden, dafs die Vorstellung überhaupt in Subjekt
und Objekt zerfalle; denn er sagt: .Unser erkennendes Bewufst-
») A.a.O. S. 66f.
Digitized by
Google
149
sein zerfällt in Subjekt und Objekt nnd enthält nichts anfserdem.
Objekt für das Subjekt sein nnd unsere Vorstellang sein ist
dasselbe/ 1)
Wenngleich Schopenhauer für diesen Punkt seiner Lehre
an keiner Stelle ausdrtteklich auf Schulze verweist, so läfst
doch der enge sachliche Zusammenhang mit dem Gedanken-
gange Schulzes vermuten, dafs er von ihm die erste Anregung
zur Ausbildung auch dieses Teils seiner Lehre empfangen hat
In noch einem anderen Punkte, und zwar einem solchen,
der zu einem spezifischen Bestandteil der Lehre Schopen-
hauers gehört, läfst sich bei 6. E. Schulze eine historische
Grundlage aufweisen, nämlich in der Annahme der Unmittel-
barkeit des Bewufstseins der kausalen Bedingtheit der Sinnes-
empfindungen. Schulze führt nämlich im Aenesidemus aus:
.Es läfst sich ... die Möglichkeit, wie in gewissen Teilen
unserer Erkenntnis Notwendigkeit und strenge Allgemein-
giltigkeit vorhanden sein kann, noch auf eine andere Art
begreiflich machen, als in der Yernunflkritik geschehen ist,
und es läfst sich von der Notwendigkeit, die gewissen synthe-
tischen Urteilen anklebt, noch ein anderer Grund denken, als
in dieser angegeben worden ist. Es läfst sich nämlich denken,
dafs alle unsere Erkenntnis aus der Wirksamkeit realiter vor-
handener Gegenstände auf unser Gemüt herrühre, und dafs
auch die Notwendigheit, welche in gewissen Teilen dieser
Erkenntnis angetroffen wird, durch die besondere Art und
Weise, wie die Aufsendinge unser Gemüt affizieren und Er-
kenntnisse in demselben veranlassen, erzeugt werde, und dafs
mithin die notwendigen synthetischen Urteile, nebst den in
ihnen vorkommenden Vorstellungen nicht ans dem Gemttte,
sondern aus den nämlichen Gegenständen herrühren, welche
die zufälligen und veränderlichen Urteile nach der kritischen
Philosophie in uns hervorbringen sollen.
Es ist nämlich unrichtig, dafs, wie in der Vernunftkritik
angenommen wird, das Bewufstsein der Notwendigkeit, welches
gewisse synthetische Sätze begleitet, ein unfehlbares Kenn-
zeichen ihres Ursprungs a priori und aus dem Gemüte ausmache.
Mit den wirklichen Empfindungen der äufseren Sinne
») lU,89f.
/Google
Digitized by ^
150
zam Beispiel, welche aueli nach der kritischen Philosophie in
Ansehnng ihrer Materialien insgesamt nicht ans dem Gemttte,
sondern von Dingen anfser nns herstammen sollen, ist, ihres
empirischen Ursprungs ohngeachtet, ein Bewnfstsein der
Notwendigkeit verbanden. Währenddessen nämlich, dafs
eine Empfindung in nns gegenwärtig ist, mttssen wir sie als
vorhanden erkennen. Wir können es nns zwar denken, dafs
sie nicht dagewesen wäre, oder dafs während ihres Daseins
eine andere Empfindung deren Stelle eingenommen hätte: Allein
wir können diese andere nicht wirklich haben, oder jene ganz
und gar vertilgen, sondern sind uns vielmehr ihres gegen-
wärtigen Daseins als etwas Notwendigen bewufst Ebenso
mttssen wir auch die Anordnung und Verbindung der Merkmale,
die in einer wirklichen Empfindung äufserer Gegenstände vor-
kommt, lassen, wie sie einmal vorhanden ist, und es ist not-
wendig, dafs wir die Zweige eines gesehenen Baumes in
derjenigen Anordnung gewahrnehmen, in der sie einmal unserm
Gemttte gegenwärtig sind. Hier ist also wirklich ein Fall da,
in welchem Gegenstände aufser uns durch ihren Einflufs auf
das Gemttt in demselben das Bewufätsein der Notwendigkeit
erregen, und es unmöglich machen, etwas auf eine andere Art
gewahr zu nehmen, als es wahrgenommen wird,*i)
In der , Kritik der theoretischen Philosophie' finden sich
ähnliche Gedanken. Schulze sucht hier u. a. nachzuweisen, dafs
«die Verstandesbegriffe den Wahrnehmungen keine Beziehung
auf Objekte erteilen können.' 2) Im Verfolge dieses Gedankens
heifst es: „Dafs es nicht notwendig sei, die Erfahrungskenntnis
wegen der Gültigkeit derselben fttr uns selbst und für andere
Menschen zu allen Zeiten, aus einer notwendigen Verbindung
von Vorstellungen abzuleiten, ist ttbrigens auch leicht ein-
zusehen. Man lasse nur das Vorurteil fahren, dafs Erfahrung
aus einem Bewnfstsein von Vorstellungen bestehe, und nehme
dieselbe so, wie sie als unmittelbare Erkenntnis von
gegenwärtigen Dingen in uns stattfindet, so sieht man
alsdann leicht ein, wie wir dazu kommen, zu erwarten, dafs
lige, was wir in ihr antreffen, von uns selbst und auch
0 A. a. 0. S. 108 f. Die Sperrung fehlt im Text.
«) G. E. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie, IL Bd. S. 263.
Digitized by
Google
151
Yon andern Menseben (wenn anders die ErfahrnngBobjekte sieb
niebt ändern) jederzeit darin angetroffen werden müsse. Weil
wir nns nämÜeb dieser Objekte niebt als subjektiver Be-
stimmungen unserer Einbildangskraft, sondern als realer und
fQr sieb bestebender Saeben bewnfst sind, so nebroen wir mit
Recht an, dafs die Erkenntnis derselben, wenn sie anders riebtig
ist, bei nns selbst sieb immer gleicb bleiben, nnd ancb mit der
Erkenntnis aller anderen Menseben, welcbe die Objekte anf eine
riebtige Art wahrgenommen baben, übereinstimmen werde.^^)
„Gibt man .... die unmittelbaren Wabmebmnngen der
Sinne fttr blolse Vorstellungen aus, wie die Yernunftkritik tut,
so fällt aller innerer (im Bewufstsein selbst vorkommender)
Untersebied zwischen denselben und zwischen den Nach-
bildungen des sinnlich Wahrgenommenen in der Phantasie
weg Will man aber gleichwohl darauf bestehen, dafs nur
jene Wahrnehmungen sieh dazu qualifizieren, objektiv gültige
Erfahrung zu werden, so ist dies zugleich ein Geständnis, dafs
die objektive Gültigkeit der Erfahrung niebt blofs von
den Kategorien abhängig sei, sondern, dafs ein Grund davon
auch noch in der Beschaffenheit der sinnlichen Wahr-
nehmungen selbst liege, welcher bei den Bildern der
Phantasie mangele, und diese eben deswegen untauglich mache,
durch die Verbindung nach Kategorien eine Erfabrungserkenntnis
zu werden.'^) «Wenn die Subsumtion der GefÜble des
Angenehmen und Unangenehmen unter die Kategorien diese
Gefühle niemals in Erkenntnisse eines vom Subjekte ver-
flcbiedenen Objekts verwandelt, so kann es auch wohl niebt
blols den Kategorien und den ihnen gemäfsen Verbindungen
der Empfindungen anderer Art zuzuschreiben sein, dafs diese
Empfindungen den Cbarakter der Erkenntnisse eines Objektes
annehmen, sondern es mttfste vielmehr angenommen werden,
dafs in dergleichen Empfindungen selbst etwas, auch
ohne Rücksicht ihrer Verbindung nach Kategorien enthalten
sei, wodurch sie sich dazu qualifizieren, als Er-
kenntnisse auf objektiv wirkliche Dinge bezogen
werden zu können."»)
>) Ebenda S. 284 f. Anm. Die Sperrung fehlt im Text.
<) Ebenda S. 285 f. Die Sperrung fehlt im Text.
*) Ebenda S. 2S8. Die Sperrung fehlt im Text
Digitized by
Google
152
„Das snkzessiye Sein der Zustände objektiver
Dinge wird ... sehen dareh die Wahrnehmung, an sich
genommen, nnd ohne alle Rtteksieht anf ein Eausalverhältnis
derselben, als etwas Objektives, das keine Sukzession blofser
Vorstellungen in uns ausmacht, erkannt^' i) Es fragt sich
„ob man nicht . . . schon dadurch ganz sicher auf jene Einsieht
(dafs alle menschliche Erkenntnisfähigkeit blofs auf das Gebiet
der Erfahrung eingeschränkt sei) geftthrt werde, dafs man die
Begriffe in unserm Verstände ... von den Sachen, die aufser
unserer VorstellungskrafI; existieren sollen, unterscheidet, in
Ansehung der Erkenntnis dieser Sachen aber erwägt, dafs
sie nur durch das als Anschauung des Gegenwärtigen
sich äufsernde Bewufstsein erreichbar sei, und endlich
erforscht, wie weit der Gebrauch des Prinzips der Kausalität,
dessen man sich immer als eine Brücke bedient hat, um aus
der sinnlichen Welt in eine Übersinnliche zu gelangen, zu
bestimmten Einsichten ausreiche . . .^2) Auch in Schulzes
Vorlesung über Metaphysik, dessen Nachschrift uns in den
Manuskripten Schopenhauers vorliegt, wird der Gedanke der
Unmittelbarkeit der anschaulichen Erkenntnis berührt Hier
heifst es: „Das Existierende wird entweder durch eine An-
schauung unmittelbar erkannt oder mittelbar, z. B. dureh den
Schlufs aus einer anderen Existenz. Die unmittelbare Er-
kenntnis findet, nach den Aussprüchen des Bewufstseins
unleugbar statt und gäbe es dergleichen nicht, so würde auch
nichts mittelbar erkannt werden können.''')
In den zitierten Gedanken ist offenbar die Unmittelbarkeit
des Bewufstseins von der Realität und auch von der kausalen
Bedingtheit der Sinnesempfindungen sehen angelegt Wenngleich
Schulze die Notwendigkeit im Dasein und der Verbindung des
Mannigfaltigen der Empfindungen auch nicht ausdrücklich aki
kausale bezeichnet, so ist sie doch als kausale der Sache nach
gemeint In der „Kritik der theoretischen Philosophie" und
der Vorlesung über Metaphysik tritt allerdings die Betonung
der Notwendigkeit hinter der der Unmittelbarkeit unseres
0 Ebenda S. 430. Die Sperrung fehlt im Text.
*) Ebenda S. 580. Die Sperrung fehlt im Text.
*) Arthur Schopenhauers Nachlafs Nr. 2, Metaphysik bey Gottlob Ernst
Schuhe. Bügen 5, § 29.
Digitized by
Google
153
Bewülstseins von der Realität des ansohanlich OegebeneD
zartick, ja dieses wird sogar der KaasalbeziehnDg als etwas
Selbständiges gegenübergestellt Diese Wendang ist veranlafst
darch Sehnlzes Polemik gegen die Bedeatang der Kausalität
als Kategorie im kantiscben Sinne. Aber anch in der Kritik
der theoretischen Philosophie ist der Gedanke, „dafs die objektive
Gültigkeit der Erfahrnng in der Beschaffenheit der sinnlichen
Wahrnehmangen selbst liege ^, der Sache nach so genommen,
dafs die Notwendigkeit im Dasein und Znsammenhange der Em-
pfindungen ihre Objektivität verbürgt, sie also kausal bedingt sind.
Im Unterschiede von Schopenhauer finden wir bei Schulze
noch nicht die Folgerung, dafs eben diese Notwendigkeit
im Dasein der Empfindungen den Sinn ihrer Objektivität
ausmache. Vielmehr kommt bei Schulze, mit dem bisher
Angefbhrten kaum vereinbar, zu dem Bewufstsein von dieser
Notwendigkeit noch ein besonderer Schlufs auf die reale Existenz
der Dinge aufser uns hinzu, dessen eine Prämisse das unmittel-
bare Bewufstsein von der Notwendigkeit im Dasein und Zu-
sammenhange der Empfindungen, dessen andere aber die Ein-
sicht in die Unableitbarkeit dieser Notwendigkeit aus der Be-
schaffenheit des vorstellenden Ich ist. Es heilst nämlich im
Aenesidemus: „In gewissen Vorstellungen, die wir besitzen,
kommt .... eine doppelte Notwendigkeit vor, und zwar teils in
Ansehung des Daseins derselben, teils in Ansehung des Verbindens
des Mannigfaltigen, so den Inhalt derselben ausmacht. Wenn wir
z. B. ein Haus sehen, so ist es uns, so lange der Zustand des
Sehens dauert, unmöglich, das Haus nicht zu sehen. Wir.
können es zwar denken, dafs an derjenigen Stelle, wo wir das
Haus sehen, ein Mensch, ein Baum oder sonst etwas anderes
stände; aber wir sind schlechterdings unvermögend, an dieser
Stelle etwas anderes als das Haus zu sehen. Wir müssen
femer die Verbindung der Teile, die zum Haus gehören,
während der Empfindung davon lassen, wie sie einmal ist,
ohne darin etwas abändern zu können. Wir sind wohl im-
stande zu denken, dafs das Dach des Hauses unten und der
Grund davon oben wäre, und dafs dasjenige, was auf der
rechten Seite an demselben sich befindet, auf der linken Seite
vorhanden wäre. Aber wir können dies nicht also empfinden,
sondern müssen die Verbindung der Teile des Hauses, das wir
Digitized by
Google
154
seheD, während der Empfindnng so laBsen, wie sie einmal da
ist. Sobald nnn der Mensch diese doppelte Notwendigkeit in
gewissen von seinen Vorstellnngen kennen gelernt hat, nnd
über den Grund derselben nachzudenken anfängt, so wird er
auch znm Glauben an die Bealexistenz gewisser Dinge aufser
seinen Vorstellungen geführt In seinem vorstellenden Ich ist
nämlich, so weit er es kennt, kein Grund vorhanden, warum
zu einer gewissen Zeit nur diese oder jene Vorstellung, nicht
aber eine davon ganz verschiedene andere in ihm vorhanden
sein könnte, und die Beschaffenheiten des vorstellenden Ich
machen, so weit sie uns bekannt sind, in demjenigen Zeit-
punkte, der durch die Empfindung eines Baumes oder Hauses
erfüllt ist, das Dasein einer dem Inhalt nach davon ganz ver-
schiedenen Empfindung nicht unmöglich. In dem vorstellenden
Ich und in der Beschaffenheit des Mannigfaltigen, das eine
Empfindung ausmacht, kann auch ferner kein Grund ausfindig
gemacht werden, warum dieses Mannigfaltige gerade in der
einmal vorhandenen Ordnung und Verbindung vorkommt, und
nicht vielmehr in einer ganz andern. Die Empfindung eines
Baumes, in welcher die Wurzeln nach oben, und die Zweige
nach unten zu gerichtet wären, ist weder in Ansehung des
Gemüts und seiner Kräfte, noch auch in Ansehung der Natur
desjenigen, was in der Empfindung des Baumes enthalten ist,
etwas Unmögliches. Den Grund von der Unveränderliehkeit
der Verbindung des Mannigfaltigen, was zu einer Empfindnng
gehört, setzen wir daher wieder in etwas, so aufser uns selbst
und aufser unsern Empfindungen da ist, und die Verbindung
der Merkmale in diesen bestimmt. Der erste und vorzüglichste
Grund des Glaubens an realiter existierende Dinge ist also die
Notwendigkeit, welche sowohl dem Dasein gewisser Vor-
stellungen in unserm Gemüte, als auch dem Zusammenhange
der Merkmale dieser Vorstellungen untereinander anklebt, und
fehlten diese beiden Arten der Notwendigkeit allen Teilen
unserer Erkenntnis gänzlich, oder liefsen sieh dieselben aus
dem Gemüte ableiten, so würde wahrscheinlieh der grolse
Haufe allgemein dem Idealismus zugetan sein, und die Beal-
existenz gewisser Gegenstände vielleicht eben so sehr unbe-
greiflich finden, als wie er jetzt vermöge jener beiden Arten
von Notwendigkeit in gewissen Vorstellungen die Zweifel an
Digitized by
Google
155
dem objektiven Dasein des Empfundenen unbegreiflich und
widersinnig findei^^i)
Bei Sehopenbaner fällt die angeführte zweite Prämisse fbr
den Scblnüs anf die Ursache der Empfindung fort. Der Eausal-
schlnfs anf das reale Objekt ist ihm yielmehr nur ein Schlufs
im nneigentlichen Sinne, nämlich die unmittelbare, spezifische
Erkenntnisweise des Verstandes. Dazu kommt als ein weiterer
Unterschied, dals bei Schulze das unmittelbare Bewufstsein
von der kausal bedingten Notwendigkeit in dem Dasein und
Zusammenhange der Empfindungen als ein lediglich rezeptiv
gewonnenes angesehen wird, während Schopenhauer an dem
Gedanken festhält, dafs es auf einer a priori wirksamen
Funktion des spontanen Verstandes beruhe. Trotz dieser
Differenzen aber bleibt der Hinweis auf die Unmittelbarkeit
des BewuCstseins von der Notwendigkeit im Dasein der Empfin-
dungen ein Zug in der Lehre Schulzes, den er mit Schopenhauer
gemeinsam hat Nehmen wir hinzu, dafs Schopenhauer -mit
Schulze auch in der Abweisung der Ableitung der Kategorien
aus den von Kant aufgestellten Formen des Urteils, sowie in
der Ablehnung der Anwendbarkeit der so gewonncLen Kate-
gorien auf das anschanlische Material vermittelst der Schemata^)
im Prinzip ttbereinstimmt, so wird ersichtlich, dafs der Gedanke,
die von Schulze betonte Notwendigkeit im Dasein der Empfin-
dungen zur einzigen Kategorie zu erheben und die Unmittel-
barkeit ihres Erkenntnisgebrauches gegenüber der undurch-
iUhrbaren Vermittlung durch ein synthetisches Urteil, wie Kant
sie lehrt, prinzipiell aufzustellen, verhältnismäfsig nahe lag.
Dafs Schopenhauer nicht auch für die Intellektualität der
empirischen Anschauung auf Schulze als historische Voraus-
setzung hinweist, ist vielleicht daraus verständlich, dafs Schulze,
wie wir fanden, die Notwendigkeit im Dasein und Zusammen-
hange der Empfindungen zwar als unmittelbar bewufst aner-
kennt, sie aber noch nicht dahin deutet, dafs sie allein den Sinn
der Objektivität der Empfindungen ausmache. Auch ist selbst
^) G. E. Schulze, Aenesidemus, a. a. 0. S. 175 f.
') Darüber handelt Schulze eingehend in der Kritik der theoretischen
Philosophie. Auch in seiner Vorlesung Über Metaphysik behandelt er diese
kritischen Gedanken. Sieh Arthur Schopenhauers Nachlafs Nr. 2, Meta-
physik bey Gottlob Ernst Schulze. Bogen 10, 11; § 52, 53.
Digitized by
Google
156
dieser Gedanke bei Sehnlze mehr beiläufig ausgeführt ak
prinzipiell entwickelt, und seine historische Bedeutung wird
erst sichtbar, wenn man von der Lehre Schopenhauers her-
kommend an ihn herantritt und an dieser zu messen sucht
Zu den angeführten kommt noch ein weiteres Moment der
Übereinstimmung. Auch die Ineinssetzung der Empfindung
mit ihrem physiologischen Korrelat, genauer die unmittelbare
Gewifsheit ihrer Identität, der gemäfs Schopenhauer den eigenen
Leib das „anmittelbare Objekt" nennt, ist bei Schulze, wenn
auch nicht unter den Schopenhauer eigenen metaphysischen
Voraussetzungen, deutlich angelegt. In seiner Vorlesung
über Metaphysik sagt nämlich Schulze folgendes: «Es ist
aber allerdings sehr auffallend, dafs seit Cartesius von
mehreren Philosophen für die objektive Existenz der äufseren
Welt, die durch unser Bewufstsein uns als existierend
vorgehalten wird, so eifrig ein Beweis gesucht wird. Ge-
meiniglich meint man diesen Beweis aus der Art wie Er-
kenntnisse in uns entstehn zustande zu bringen, ohne za
bedenken, dafs, da nur bereits fertige Erkenntnisse im Be-
wufstsein angetrofifen werden, nicht aber das Werden und
Entstehen derselben aus dem was noch keine Erkenntnis ist,
belauscht werden kann, alle jene Erklärungen des Ursprungs
der Erkenntnis von realen Dingen nichts weiter als unzu-
verlässige Hypothesen sind. Und was gab denn zu jenem
Beweise Anlafs? Die in Gedanken vorgenommene Trennung
des Ich oder der Seele vom Organ, dem Körper. Denn ver-
möge dieser Trennung meinte man, es könne ein Ich ohne
materielle Welt geben; da jenes wegen seiner geistigen Natur
von dieser doch nur Vorstellungen haben kann. Alle diese
Weisheit wird zu Schande, sobald man einen Blick auf das
Bewufstsein des Ich, wie es in der Wirklichkeit ist» wirft.
Dieses ist nämlich zugleich das Bewufstsein des
Körpers. Zwar umfafst dieses nicht alle Teile des Körpers,
sondern hauptsächlich nur die, deren Bewegung durch die
Willkür der Seele bestimmt wird. Aber das Bewufstsein
dieser Teile ist eben so stark und evident als das des
in uns erkennenden, fühlenden, wollenden Ich. Nur
eine in den Grundeinrichtungen zerrüttete menschliche Natur
kann an dem Dasein ihres Körpers und deren Welt zweifeln,
Digitized by
Google
157
and kein Idealismus, er sei dogmatisch oder kritisch, kann je
in wahre Überzengung ttbergehn.
Die Erkenntnis, die jedes Ich vom Dasein seines Körpers
nnd der damit in Wechselwirkung stehenden materiellen Welt
hat, mag daher mit Recht eine Offenbarung genannt werden
und zwar die ursprünglich wundervollste^ die dem Menschen
zuteil ward. Denn dafs wir jene Erkenntnis besitzen, wissen
wir, nicht aber, wie wir dazu gekommen, und dieses Wie wird
so lange ein Geheimnis bleiben, als das Band, so das Geistige
und Körperliche in uns verbindet, Geheimnis ist*" ^
Dafs auch in diesem Punkte Schopenhauer wiederum nicht
auf Schulze verweist, mag darin seinen Grund gehabt haben,
da£s Schopenhauer die Identifizierung von Sinnesempfindung und
physiologischer Erregung metaphysisch fundiert und die in Be-
tracht kommenden psychophysiologischen Daten, wie wir noch
sehen werden, aus für die Zeit seiner ersten Entwicklungsperiode
kompetenteren Quellen geschöpft hat, denen gegenüber die
zitierten Ausführungen Schulzes . allerdings durch ihre psycho-
logische Problemstellung bedeutsam sind. Daher bleibt es
möglich, dafs sie Schopenhauer die Anregung zu weiterer
Gedankenentwicklung gegeben haben.
Auch die Kritik Schopenhauers an der Lehre vom Gegen-
stande bei Kant, insbesondere die Behauptung, dafs «Kant
eigentlich dreierlei unterscheide: 1. die Vorstellung, 2. den
Gegenstand der Vorstellung, 3. das Ding an sich^,^) hat in
Gedanken Schulzes einen Vorläufer.^) Im zweiten Band der
theoretischen Philosophie sagt nämlich Schulze:
') Arthar Schopenhauers Naclilafs Nr. 2, Metaphysik bey Gottlob
Ernst Schulze. Bogen 11, § 54. Die Sperrung findet sich nicht im Text.
«) I, 569.
') Darauf weist auch Ernst Fischer hin in einer eingehenden Unter-
suchung: Von G. £. Schulze zu A. Schopenhauer. Diss. Zürich 1901. Der
Ver&sser findet folgende drei Punkte der Kritik Schopenhauers an der
Philosophie Kants schon bei Schulze angelegt: 1. die Kritik an Kants
Ableitung des Dinges an sich, 2. an dem Kausalgesetz Kants und 3. an
der Vermischung der reflektiven und intuitiven Erkenntnis bei Kant. Für
letzteren Punkt führt er u. a. die Einwendungen, die Schulze im Aenesidemus
(S. 169 f.) gegen das Verhältnis der Kategorien zu den Vernunftideen bei
Kant macht. Diese sind jedoch nicht mit dem, was Schopenhauer unter
jener Yermischnng versteht, zusammenzustellen.
Digitized by
Google
158
„Manchmal seheint sieh .... die Vernnnftkritik sehr be-
stimmt darüber zu erklären, dafs Erfahrung nicht blofs ans
dem Bewnlstsein des erkannten Subjekts und eines davon
verschiedenen Objekts (welches nach ihrem System die Er-
scheinung ausmacht) bestehe, sondern dafs vielmehr in der
Erfahrung aufser dem Bewufstsein des Subjekts und Objekts
auch noch das Bewufstsein gewisser von letztern verschiedenen
Vorstellungen in einer gewissen Beziehung aufeinander ent-
halten sei. Nach dem, was in der Kritik der reinen Vernunft
S. 236 vom Verhältnis des Erfahrungs-Objekts zu den Vor-
stellungen der Apprehension gesagt wird, desgleichen nach
der in derselben S. 74 vorkommenden, sonst aber ziemlich
dunkeln Beschreibung der Genesis des Erfahrungs- Objekts
mufs man wohl annehmen, dafs sie bei der Erfahrung aufser
dem Bewufstsein des Subjekts und des Objekts auch noch das
Bewufstsein einer von beiden verschiedenen auf letzteres aber
als dessen Repräsentant bezogenen Vorstellung angenommen
wissen wolle. Hiermit stimmt auch die in ihr S. 137 vor-
kommende Erklärung der Erkenntnis als einer bestimmten
Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt ttberein.
Und da sie ferner die Empfindung von der Anschauung unter-
scheidet, von jener aber lehrt, solche enthalte weder Baum
noch Zeit, ob sie gleich den ihr korrespondierenden Gegenstand
in beide setze (Prolegommena S. 91); ttberdies auch von den
Wahrnehmungen, deren Vergleichung und Verbindung ur-
sprünglich nur subjektiv gttltig sein soll, das ihnen korre-
spondierende Objekt (die Erscheinung) unterschieden wissen
will (Proleg. S. 78 u. 139), so ist wohl kaum daran zu zweifeln,
ihre Meinung in Ansehung der Bestandteile der Erfahrung sei
eigentlich die, dafs zu denselben aufser dem Bewufstsein des
Subjekts und Objekts auch noch das deutliche Bewufstsein
einer vom letztern verschiedenen Vorstellung gehöre, wobei sie
aber ofifenbar der Erfahrung einen Bestandteil andichtet, der
in derselben nicht angetroffen wird. Denn wenn wir Er-
fahrungs-Objekte anschauen, sind wir uns keiner auf diese
Objekte Beziehung habenden, und davon noch verschiedenen
Vorstellung bewaf st." *)
^) G. £. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie, II. Bd. Anm.
zu S.278f.
Digitized by
Google
159
Von den drei naeh Schopenhaner bei Kant za unter-
scheidenden Begriffen: Vorstellnng, Gegenstand der Vorstellung
und Ding an sich, sind also in diesen Ausführungen Sehulzes
die beiden ersten gleichfalls unterschieden. Die Unterscheidung
dieser vom Ding an sich weiterhin fiiefst aus der Kritik Sehulzes
an der Lehre Kants vom Ding an sich.
Auch das, was Schopenhauer gegen den Grundsatz der
Kausalität bei Kant kritisch ausführt und mittelbar auch seine
Kritik an der Lehre Humes von der Kausalität ist durch
6. £. Schulze angeregt worden. Schopenhauer weist selbst aut
ihn hin,i) indem er den Leser zu einem Vergleiche mit der
von Schulze in seiner „Kritik der theoretischen Philosophie*
II. Band S. 242 f. gegebenen Kritik des Kausalgesetzes bei
Kaut auffordert Hier heifst es im Zusammenhange einer
Erörterung, die den Titel trägt: «Vom Grundsatze der Zeitfolge
aller Veränderungen in der Natur nach dem Gesetze der
Kausalität^ ^): .Aus dem Beweise der Gttltigkeit des Prinzips
der Kausalität von allen Veränderungen in der Natur, wie ihn
die Vernunft-Kritik führt, folgt . . . zuvörderst dieses, dafs
gar keine Erfahrung von etwas möglich sein könne,
dessen Ursache uns noch unbekannt ist, oder dafs Dinge,
deren Ursache wii^ nicht kennen, so lange dies der Fall ist,
noch fttr blofse Geschöpfe der Phantasie angesehen werden
mttssen. Denn nach der Vernunft- Kritik soll ja die blofs
subjektive Gttltigkeit der Folge der Wahrnehmungen, nach
der sie lediglich Bestimmungen unserer Vorstellungskraft sind,
nur erst dadurch aufgehoben, und diese Folge in eine Er-
kenntnis der Folge der Zustände an einem Objekte verwandelt
werden, dafs durch den Verstand bestimmt worden ist, was in
jener Folge notwendig das Vorhergehende, und was hingegen das
Nachfolgende sei. Mithin mufs auch angenommen werden, dafs
so lange, als von einer Wahrnehmung dasjenige nicht erkannt
worden ist, worauf sie mit Notwendigkeit folgt, und was ihr
jederzeit vorhergeht (welches gleichfalls eine Wahrnehmung
sein muls), einer solchen Wahrnehmung auch keine bestimmte
<) I, 603 Anm. und III, 109.
') Gottlob Ernst Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie,
n. Bd. S. 422.
Digitized by
Google
160
Stelle in der Zeit, worin sie allemal angetroffen wird, an-
gewiesen werden, sie also auch nicht in die Synthesis der
Apperzeption aufgenommen worden sein und folglieh nicht für
ein Bestandteil der Erfahrung, sondern lediglich fUr ein Produkt
der Einbildungskraft gehalten werden könne und mUsse.'^
Der Gedanke also, den auch Schopenhauer festhält, dafs nach
Kant nur eine unmittelbar in der Wahrnehmung gegebene
kausal verknttpfte Folge von Erscheinungen erkannt werden
könne und zu diesem Zwecke ein Wissen um die jeweilige
Ursache vorausgesetzt werden müsse, wird auch schon von
Schulze vertreten. Er bemerkt zwar, dafs einige Ausführungen
in der Kritik der reinen Vernunft zu verstehen geben, „dafs
Wahrnehmungen, um solche fUr Erkenntnisse von Objekten
halten zu können, nur auf eine in der Zeit vorhergegangene
Ursache überhaupt brauchten bezogen zu werden,''^) doch
sieht er hierin nur einen Widerspruch im Gedankengange Kants.
Analog den Ausführungen Schopenhauers ist auch der
Hinweis auf die Möglichkeit einer unmittelbar als real anf-
gefafsten Folge von Wahrnehmungen, die untereinander in
keinem kausalen Verhältnis stehen. ,Die Folge der Wabr-
nehmungen von den Zuständen realer Dinge enthält viel-
mehr . . . schon für sich genommen, eine Bestimmtheit in
Ansehung dessen, was vorhergeht, und was darauf folgt, welche
ob ihr gleich keine Notwendigkeit zukommt, dennoch gar
nicht in unserer Willkür steht, so dafs wir ihr jede uns be-
liebige Abänderung für die Auffassung durch die Sinne geben
könnten.'' 3) ,Das sukzessive Sein der Zustände objektiver
Dinge wird also schon durch die Wahrnehmung, an sich
genommen, und ohne alle Rücksicht auf ein Kausal- Verhältnis
derselben, als etwas Objektives, das keine Sukzession bloJser
Vorstellungen in uns ausmacht, erkannt'^) Wir sehen, dafs
diesem Gedanken wieder die Voraussetzung einer unmittelbaren
Gewifsheit von der Realität des Wahrgenommenen zugrunde liegt,
von der wir bereits oben sprachen und für die wir ein Analoges
bei Schopenhauer fanden. Wir sehen auch, dafs Schulze in
0 Ebenda S. 434 f Die Sperrung fehlt im Text.
») Ebenda S.438. ») Ebenda S.429.
*) Ebenda S. 430.
Digitized by
Google
161
dem nämlichen Sinne die Lehrmeinang Kants verfehlt wie
Sehopenhanen Die Ableitung der Apriorität des Kausalgesetzes
aber ans dem Bewufstsein von der unmittelbaren kausalen Be-
ziehung zwischen unseren Sinnesempfindnngen und ihren Ur-
sachen aufser uns liegt Schulze noch völlig fem. Einige andere
Differenzen in den kritischen Ausftihrungen Schulzes über den
Grundsatz der Kausalität bei Kant können hier übergangen
werden, da sie fttr Schopenhauers Lehre unwesentlich sind.
Überblicken wir noch einmal die Beziehungen der Lehre
Schopenhauers von der empirischen Anschauung znr Lehre
Schulzes so haben wir festzustellen, dafs diese allerdings in
einem höheren Mafse als es nach der Darstellung Schopen-
hauers den Anschein gewinnt, als historische Voraussetzung der
Lehre Schopenhauers anzusehen ist Nicht nur die idealistische
Interpretation der Lehre Kants, insbesondere die Kritik an der
Lehre Kants vom Ding an sich fuTst auf Schulze, auch die
Kritik an der Lehre vom Gegenstande, an der Ableitung der
Kategorien, an dem Beweis der Apriorität des Kausalgesetzes,
an der Lehre von den Schematen, an dem Verhältnis der Ideen
zu den Kategorien u. a. ist bei Schulze im Wesentlichen schon
vorhanden. Was fttr das Bewufstsein Schopenhauers seine
eigene Kritik an der Lehre Kants von der von Schulze ge-
gebenen so wesentlich unterschied, war der systematische Aus-
gangspunkt, von dem aus er seine Kritik orientierte, und der
durch die Lehre von der unmittelbaren kausalen Bedingtheit
der empirischen Anschauung gegeben war.
Dafs femer selbst für diesen spezifischen Bestandteil seiner
Lehre von der empirischen Anschauung in den Ausführungen
Schulzes über die unmittelbare Notwendigkeit, die dem Dasein
der Empfindungen anhaftet, ja auch schon fttr die Annahme,
dafs wir ein unmittelbares Bewufstsein von dem Zusammen-
hange unseres Geistes mit unserem Körper besitzen, bei Schulze
Ansätze vorhanden waren, scheint Schopenhauer übersehen oder
vielleicht deshalb nicht als historische Voraussetzung gelten
gelassen zu haben, weil jenen Gedanken bei Schulze noch nicht
die prinzipielle Bedeutung zukommt, die er ihnen gegeben hat.
Philoiophlsche Abhandlongeo. XLII. \i
Digitized by VjOOQ IC
162
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung zur Lehre Fichtes.
Als ein Gemeinsames der Lehre Sehopenhaners mit der
Lehre Fichtes, Sehellings nnd Hegels fanden wir das Ansgehen
von der Unterscheidung, die Kant zwischen Erscheinung and
Ding an sich macht, ferner auch, dafs sie alle einen Weg
suchen, auf dem das Ding an sich seinem Wesen nach er-
fafsbar sei. Fichte, Schelling und Hegel finden diesen Weg
in der intellektuellen Anschauung, während Schopenhauer in
bewurstem Gegensatze zu ihnen und in konsequenterer Fort-
bildung kantischer Gedanken im Willen das wiederzuerkennen
glaubt, was nach Kant das an den Dingen ist, was sie aufser
dem, dals sie Vorstellungen sind, noch seien.
. Zu diesen metaphysischen kommen Bertthrungspunkte auch
in der Auffassung des Verhältnisses zwischen Metaphysik und
Ethik, weiterhin, zwar nicht bei Fichte, aber bei Schelling
und Hegel Analoga zu Schopenhauer in der metaphysisehen
Fundierung der Ästhetik. In der Naturauffassung Schopen-
hauers ferner zeigt sich Analoges zur Potenzenlehre Sehellings,
im „System des transzendentalen Idealismus'^ 1800. Schelling
wie auch Schopenhauer und Fichte sind entschiedene Gegner
der mechanischen Naturauffassung. Diese drei stimmen auch
in dem methodischen Momente tiberein, dafs die Philosophie
eine Konstruktion der Natur zu rersuchen habe, dals sie also
eine höhere, deduktive Auffassung darstelle, im Gegensatz
zu der Naturwissenschaft, welche induktiv sei, während die
Philosophie ihre Erkenntnisse durch intellektuelle Anschauung
gewinne.»)
^) Aus B. Erdmanns SeminartibuDgen über Schopenhauer. In der
Literatur finde ich nur eine nennenswerte Spezialarbeit über die Be-
ziehungen Schopenhauers zu Fichte: Rudolf Willy Schopenhauer in seinem
Verhältnis zu Fichte und Schelling. Diss. Zürich 1883. Dar Verfittser
unterzieht die methodischen, metaphysischen und ethischen Yonuui-
setzungen dieser drei PbUosophen auf ihr Gemeinsames und Unter-
scheidendes hin, auch hinsichtlich ihrer historischen Stellung zur Lehre
Kants, einer sorgiältigen, wenn auch nicht ganz ausreichenden Unter-
suchung.
Digitized by
Google
163
Fichte allein kommt neben Sehnlze von den nachkantisehen
Philosophen als Vorgänger auch für die Lehre Sehopenbaaers
Yon der empirischen Ansckanang in Betracht, allerdings, wie
wir sehen werden, nnr in einem eingeschränkten Mafse.
Die historisch kritische Forschung über die spezielle
Problemlage der Lehre Fichtes steht noch erst in den An-
fängen. Es fehlt noch eine Untersuchung der logischen Grund-
lagen dieser Lehre, insbesondere der mannigfaltigen Formen,
die in ihr das synthetische Verfahren annimmt; es fehlt nicht
minder eine Prüfung der psychologischen Voraussetzungen der
Wissenschaftslehre. ^) Das setzt uns in die Notlage, letztere in
einem etwas ausgedehnteren Mafse zur Darstellung zu bringen,
als es für unsern Zweck unmittelbar erforderlich ist
Eine Untersuchung der psychologischen Voraussetzungen
der Lehre Fichtes hat darauf zu achten, dafs dabei drei Gruppen
Yon Beziehungen voneinander zu trennen sind, die von Fichte
nicht immer scharf geschieden werden:
1. die logischen Beziehungen, die den Gang der De-
duktion bestimmen,
2. die symbolischen, an denen diese yeranschaulicht
werden, und die zum Teil als logisch zu nehmende
unterfliefsen,
3. die psychologischen.
Unsere Aufgabe wird es sein, das Psychologische aus dem
Gedankengange Fichtes herauszupflücken, insbesondere das,
was davon für die empirische Anschauung Bedeutung hat.
Es erhebt sich die Frage, was dabei als psychologisch
0 Wertvolle Einzelinterpretationen der Gedankengange Fichtes ent-
lifUt das Werk von J. H. Löwe: Die Philosophie Fichtes nach dem Gesamt-
ergebnifl ihrer Entwicklung und in Uirem Verhältnis zu Kant und Spinoza.
Stuttgart, 1862. Von neueren Abhandlungen ist die sehr scharfsinnig
interpretierende Arbeit von Alfred Menzel zu nennen: Die Grundlagen der
Fiehtesehen Wissenschaftslehre in ihrem Verhältnis zum Kantischen Kritizis-
mns. Diss. Kiel 1909, als Buch erschienen Leipzig 1909 im Verlag Brock-
hana. Wertvolle methodologische Erörterungen findet man bei Emil Lask:
Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen 1902, auch in dem kürz-
lich erschienen Buche von Hans Hielscher: Das Denksystem Fichtes.
Berlin 1913, Verlag K. Curtius, in dem auch der empirische Bestand der
Methode Fichtes eingehend behandelt wird.
U*
Digitized by
Google
164 '
gelten darf. Dies wollen wir an dem Mabstab dessen messen, '
was in der empirisehen Psychologie als Bewofstseinstatsaehe |
gilt, also an dem Inbegriff des in der Selbstwabmehmnng |
gegebenen Yorstellens, Ftthlens und WoUens. Demgem&fs
haben wir bei Fichte zu unterscheiden:
1. die Vorstellung des Vorstellenden, die durch absolute
Abstraktion von allem Nicht-Ich entsteht, als das
Selbstbewufstsein im eigentlichen Sinne,
2. das Bewufstsein, in dem das Ich .im (gegenstände
sich verliert' weil es sich seiner Tätigkeit unmittelbar
nicht bewnfst wird, als das Gegenstandsbewnlstsein, -
3. das Gefühl.
Nicht als Bewulstseinstatsachen haben wir dagegen alles
das gelten zu lassen, was sich lediglich als .etwas einem
gewissen Gedanken Entsprechendes* im menschlichen Geiste
darstellt. Auch Fichte trennt dies im Prinzip von den Bewulst-
seinstatsachen. Er schildert es als Tatsachen, die lediglich
einem „Anfsenbeobachter^, wenn er das „Ich'' beobachten ,
könnte, zugänglich wären. Wir können von unserem Stand-
punkte aus sagen: es sind logische Beziehungen, die von Fichte
gleichsam als unbewufst psychische postuliert werden. Aber
nicht einmal dies sind sie für unsere Betrachtung.
Davon zu scheiden sind diejenigen Handlungen des Ich
bei Fichte, in denen es etwas in sich setzt, gemäfs der Regel:
„Nichts ist im Ich, was es nicht in sich setzf*. Das so Ge-
setzte wird von Fichte in ausdrücklichen Gegensatz gestellt zu
dem, was lediglich für den Aulsenbeobachter gilt Gleichwohl
sind diese Handlungen des Ich nicht immer als Selbstwahr-
nehmungen in unserem Sinne gelten zu lassen. Denn es zeigt
sich des Öfteren, dafs das Ich in Ihnen sich selbst vergifst
und das in sich Wahrgenommene dem Nicht- Ich zuschreibt.
Dieser Eigentümlichkeit der Lehre Fichtes können wir dadoreh
gerecht werden, dafs wir diese Handlungen des Ich als unbe-
wufst psychische Bedingungen des Bewufstseins von den Gegen-
ständen aufser uns gelten lassen. Auch noch andere FJUle
werden wir als unbewufst psychische Bedingungen zu denten
haben.
Die Darstellung der psychologischen Voraussetzungen der
Lehre Fichtes hebt zweckmäfsig an mit der «Grundlage der
Digitized by
Google
165
gesamten WisseDBchaftslebre' (1794) und wird ergänzt dnrch
den .GrundriTs der Eigentümlichkeiten der Wissenschafts-
lehre" (1795). Die übrigen Schriften Fiehtes bis auf die
«Tatsachen des Bewnfstseins* (von 1810/11) enthalten, was
unsere Frage angeht, nicht vielmehr als Wiederholungen des
dort Gregebenen. Letztere Schrift aber ist als bedeutsam mit
heranzuziehen.
Die Aufgabe der Deduktion der .Grundlage des theo-
retischen Wissens* ist kurz, „zu untersuchen, ob und mit
welchen Bestimmungen der problematisch aufgestellte Satz: das
Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich denkbar
wäre.^1) „Die einzige mögliche Art zu denken, was gedacht werden
8oll',2) Ynrä aufgefunden, und das so Aufgestellte gilt zugleich
als .ein ursprünglich in unserem Geiste vorkommendes Faktum. ''s)
Dieses Faktum ist die Vereinigung der in dem Satze: .das Ich
setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich'^) enthaltenen
Widerspruche durch die Einbildungskraft. „Die Aufgabe war
die, die Entgegengesetzten, Ich und Nicht-Ich zu vereinigen.
Durch die Einbildungskraft, welche Widersprechendes vereinigt,
können sie vollkommen vereinigt werden."^) „Das Ich kann
sich nicht anders setzen als, dafs es durch das Nicbt-Ich be-
stimmt sei. (Kein Objekt, kein Subjekt) Insofern setzt es sich
als bestimmt. Zugleich setzt es sich auch als bestimmend;
weil das Begrenzende im Nicht-Ich sein eigenes Produkt ist
(Kein Subjekt, kein Objekf")«)
Mit der Ableitung dieses Faktums ist „der theoretische
Teil der Wissenschafl^lehre vollkommen beschlossen.'' 7) Mit
') Grundlage der gesammtenWissenschaftslehre. Leipzig bei Christian
Ernst Gabler 1794 S. 184. Johann Gottlieb Fiehtes sämtliche Werke,
heraosgegeben von J. H. Fichte 1845, L Bd. S. 219. Die Zitate Fiehtes
sind nach den Originalausgaben gegeben, weil der Wortlaut der von
J. H. Fichte besorgten Ausgabe sämtlicher Werke mit dem der Original-
ansgabe nicht immer übereinstimmt, in einigen Fällen anch, wie mir
scheint, nicht ganz den rechten Sinn tri£Ft Die entsprechenden Seiten-
sahlen aus der G^amtansgabe werden jeweils beigefügt.
>) Ebenda. ') Ebenda.
*) Grundlage Orig. S. 182, 83. Sämtl. W. I S. 218.
>) Grundlage Orig. S. 182. Sämtl. W. I S. 218.
•) Grundlage Orig. S. 183. SämtL W. I S. 218.
«) Grundlage Orig. S. 183. SämÜ. W. I S. 219.
Digitized by
Google
166
«einer Anfstellang hebt zngleieb „die pragmatigobe Oesohiobte
des menBchliehen Geistes^ an. „Die WiBsenaebaftslehre soll
sein eine pragmatisehe Gesehiehte des mensehlieben Geistes.
Bis jetzt haben wir gearbeitet, um nor erst einen Eingang
in dieselbe zu gewinnen; am nur erst ein nnbezweifeltes
Faktom aufweisen zu können. Wir haben dieses Faktam, nnd
von nun an darf unsere, freilich nicht blinde, sondern experi-
mentierende Wahrnehmung ruhig dem Gange der Begeben-
heiten nachgehen.^ 0
Hier also haben wir für den Zweck unserer Untersuchung
der psychologischen Voraussetzungen der Wissensehaftslehre
anzusetzen.
Fichte bezeichnet den geschilderten Zustand der Ein-
bildungskraft als Anschauen: „Dieser Znstand heilst der Zu-
stand des Anschauens. Das in ihm tätige Vermögen ist schon
oben produktive Einbildungskraft genannt worden.^ 2) Fttr
unsere psychologische Betrachtung ist sie nur insofern in den
Bestand des Bewulstseins zu beziehen, als ihr Produkt, die
Anschauung, bewnfst wird. „Ferner ist klar, dafs das Ich
seiner Tätigkeit in dieser Produktion des Angeschauten als
eines solchen, sich« nicht bewufst sein könne, darum, weil .sie
nicht reflektiert, dem Ich nicht zugesehrieben wird.''') Aber
auch das Produkt, das Angeschaute, ist fttr unsere Betrachtung
noch kein selbständiger Bestandteil des Bewulstseins. Es ist, so
können wir in moderner Wendung wieder sagen, erst eine mi-
bewufste Bedingung des Bewulstseins. Das geht hervor aus der
Bedeutung der zweiten Entwicklungsstufe des menschUehen
Geistes, zu der wir uns weiter unten wenden. Vorerst ist noch
anzumerken, dals der Zustand der „schwebenden'' produktiven
Einbildungskraft als unbewnfste Bedingung nicht nur f&r das
Bewufstsein von der Realität der Anfsendinge, sondern auch der
raumzeitlichen Beziehungen zu gelten hat Letzteres geht aus
folgenden Bemerkungen hervor: „Dieses Schweben der Ein-
bildungskraft zwischen Unvereinbarem, dieser Widerstreit der-
selben mit sich selbst ist es, welcher, wie sich in der Zukunft
zeigen wird, den Zustand des Ich in demselben zu einem Zeit-
») Grundlago Orig. S. 188. Sämtl. W. I S. 222.
<) Grundlage Orig. S. 193. Samtl. W. I S. 225.
») Grundlage Orig. S. 199. SämtL W. I S. 230.
Digitized by
Google
167
momente ansdehiii^O „In diesem Streite rerweilt der Geist,
sehwebt zwisehen beiden, sehwebt zwischen der Forderang (die
Enlig^engesetzten za vereinigen) and der Unmögliehkeit, sie zu
erfiUlen, nnd in diesem Znstande, aber nnr in diesem, hält er
beide zugleich fest, oder, was das Gleiohe heilst, macht sie zn
solchen, die zugleich aufgefafst, and festgehalten werden können,
— gibt dadnrch, dafs er sie berührt nnd wieder von ihnen
zorttekgetrieben wird, and wieder bertthrt, ihnen im Verhältnis
aaf sich einen gewissen Gehalt, nnd eine gewisse Ansdehnung,
die za seiner Zeit als Mannigfaltiges in der Zeit nnd im Raam
sieh zeigen wird.'' 2)
Die zweite Entwicklnngsstnfe des menschlichen Geistes
besteht in der Fixierung der Anschauung. „Zu einem 'solchen
Fixieren der Anschauung, die erst dadurch eine Anschauung
wird, gehört dreierlei: Zuvörderst die Handlung des Fixierens
oder Festsetsens. Das ganze Fixieren geschieht zum Behuf
der Reflexion durch Spontaneität, es geschieht darch diese
Spontaneität der Reflexion selbst, wie sich sogleich zeigen wird.
Mithin kommt die Handlang des Fixierens zu dem schlechthin
setzenden Vermögen im Ich, oder der Vernunft. — Dann das
Bestimmte, oder bestimmt Werdende, und das ist bekannter*
mafsen die Einbildungskraft, deren Tätigkeit eine Grenze
gesetzt wird. — Zuletzt das durch die Bestimmung Entstandene,
das Produkt der Einbildungskraft in ihrem Sehweben. Es ist
kfaur, dafs, wenn das geforderte Festhalten möglich sein solle,
es ein Vermögen dieses Festhaltens geben mUsse, und ein
flolehes Vermögen ist weder die bestimmende Vernunft, noch
die produzierende Einbildungskri^ft, mithin ist es ein Mittel-
vennögen zwisehen beiden. Es ist das Vermögen, worin ein
Wandelbares besteht, gleichsam verständigt wird, und heifst
daher mit Recht Verstand Der Verstand ist ein ruhendes,
untätiges Vermögen des Gemtttes, der blofse Behälter des
durch die Einbildungskraft Hervorgebrachten. . . . Nur im Ver-
stände ist Realität; er ist das Vermögen des Wirklichen; in
ihm erst wird das Ideale zum Realen. (Daher drttckt Verstehen
auch eine Beziehung anf etwas ans, das uns ohne unser Zutun
>) GrandUge Orig. S. 180/81. Sämtl. W. I S. 217.
*) Gmndlage Orig. S. 192/93. Sämtl. W. I S. 225.
Digitized by
Google
168
von anfsen kommen soll) Die Einbildnngskraft prodaziert
Realität, aber es ist in ihr keine Realität; erst dnreh die
Anffassung nnd das Begreifen im Verstände wird ihr Produkt
etwas Reales • . « . Es wird sich zeigen, dafs man in der
Reflexion, vermöge der Gesetze derselben, nur bis auf den
Verstand zurückgehen könne, und in diesem dann allerdings .
etwas der Reflexion Gegebenes, als einen Stoff der Vor-
stellung antreffe, der Art aber, wie dasselbe in den Verstand ^
gekommen, sich nicht bewufst werde. Daher nnsere feste i
Überzeugung von der Realität der Dinge aulser uns, und ohne
alles unser Zutun, weil wir uns des Vermögens ihrer Prodnktion I
nicht bewufst werden." i)
Die weitere Entwicklung des menschlichen Geistes, soweit
sie in der theoretischen Wissensehaftslehre geschildert wird, '
untersteht, logisch betrachtet, dem Ziel der Auffindung eines
Untersoheidungsgrundes zwischen Angeschautem nnd An-
schauendem. Für jede der dabei auftretenden vier Ent-
wicklungsstufen kommt jeweils eine Tätigkeit der anschauenden |
Einbildungskraft und des fixierenden Verstandes in Betracht
Ffir erstere scheint dabei allgemein zu gelten: .Die Einbildungs-
kraft in ihrer gegenwärtigen Funktion produziert nicht, sondern
fafst blofs auf (zum Setzen im Verstände, nicht etwa zum Auf-
behalten), das schon Produzierte und im Verstände Begriffene,
und heilst daher reproduktiv.* 2);
Die Resultate dieser Entwicklungsstufen sind kurz folgende:
1. Die Auffassung der Anschauung als unter einer gewissen
Bedingung stehend.')
2. Die Auffassung des .Gefühls des Zwanges zu einer
bestimmten Handlung', als einer .Notwendigkeit*.^) Dieses
Gefühl selbst tritt nicht etwa erst auf dieser Entwicklungsstufe
auf, sondern ist, wie sich aus der praktischen Wissenschafts-
lehre ergibt, schon eine Vorbedingung für die oben beschriebene
Anffassung des Realen durch den Verstand.
3. Die Auffassung der Tätigkeit des Ich zur Selbst-
bestimmung als einer Selbstbestimmung zum Denken eines
') Grundlage Orig. S. 203 f. Sämtl. W. I S. 293 f.
«) Grundlage Orig. S. 207. Sämtl. W. I S. 235.
s) Grundlage Orig. S. 211. Slimtl. W. I S.238.
*) Grundlage Orig. S. 212. Sämtl. W. I S. 238/39.
Digitized by
Google
169
Objekts, als der Ursache von einem Leidenden im An-
schauenden. .Nach obiger Erörterung ist die Tätigkeit zur
Selbstbestimmung, Bestimmung eines fixierten Produkts der
Einbildungskraft im Verstände durch die Vernunft: mithin ein
Denken. Das Anschauende bestimmt sich selbst zum Denken
eines Objekts. Insofern das Objekt durch das Denken bestimmt
wird, ist es ein Gedachtes Das Objekt wird gedacht als
Ursache von einem Leiden im Anschauenden, als seinem
Effekt« 1)
4. Die Auffassung des so Gedachten als eines Denkbaren,
oder anderseits die Auffassung der Freiheit des Denkens in
der Urteilskraft „Urteilskraft ist das bis jetzt freie Vermögen,
ttber schon im Verstände gesetzte Objekte zu reflektieren, oder
von ihnen zu abstrahieren und sie nach Mafsgabe dieser
Reflexion oder Abstraktion mit weiterer Bestimmung im Ver-
stände zu setzen." >) „Nur das als denkbar beurteilte kann
als Ursache der Anschauung gedacht werden."^)
5. Das Selbstbewufstsein, vermöge des .absoluten Ab-
straktionsvermögens", «von allem Objekte überhaupt zu ab-
strahieren."^)
Überblicken wir den Entwicklungsgang des menschlichen
Geistes, wie er in der theoretischen Wissenschaftslehre dar-
gestellt wird, so haben wir fttr die empirische Anschauung
folgendes Ergebnis: Die ursprüngliche Anschauung des Objektes
der Aufsenwelt ist die unmittelbare Anschauung desselben als
eines Bealen, Wirklichen durch den Verstand. Doch kann
die Auffassung des realen Objektes als der Ursache der An-
schauung durch die Urteilskraft hinzutreten. Letzteres ist
mit ersterem nicht schon gegeben. Es tritt vielmehr hinzu,
und zu diesem Zweck bedarf es vorerst einer Reproduktion
des durch den Verstand schon gesetzten Realen, und dann
einer Bestimmung des im Verstände Gesetzten durch die
Vernunft oder genauer die Urteilskraft.
Wenden wir uns nun zur .Grundlage der Wissenschaft des
Praktischen."
>) Grandlage Orig. S. 214/15. Sämtl. W. I S. 240/41.
«) Grundlage Orig. S. 216. 8ämtL W. I S. 242.
») Grundlage Orig. S. 218. Sämtl. W. I S. 243.
') Grundlage Orig. S. 218. Sämtl. W. I S. 243.
Digitized by
Google
170
Der Hauptsatz aller praktiBchen Wissenschaftdehre: «Das
Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich*,^) hat zar Vorans-
setzuDg, dafs durch das Nicht-Ich «auf die Tätigkeit des Ich
ein Anstofs geschehe.* 2) „Die Art nnd Weise des Vorstellenfl
überhaupt ist allerdings durch das Ich, dals aber überhaupt
das Ich vorstellend sei, ist nicht durch das Ich, sondern dnreli
etwas auTser dem Ich bestimmt* 3) .Dafs dies geschehe, ab
Faktum, läist ans dem Ich sich schlechterdings nicht abldten,
wie mehrmals erinnert worden; aber es läfst allerdings sich
dartun, dafs es geschehen müsse, wenn ein wirkliches Bewnlst-
sein möglich sein soU/^) Aus jenem Hauptsatze folgt: „Das
absolute Ich soll . . . sein Ursache des Nioht-Ich an und ittr
sich, d. i. nur desjenigen im Nicht-Ich, was übrig bleibt, wenn
man von allen erweisbaren Formen der Vorstellung abstrahiert,
desjenigen, welchem der Anstofs auf die ins Unendliche hinaus-
gehende Tätigkeit des Ich zugeschrieben wird; denn dafs von
den besonderen Bestimmungen des VorgesteUten, als eines
solchen das intelligente Ich nach den notwendigen Oesetzen
des Vorstellens Ursache sei, wird in der theoretischen Wissen-
schaftslehre dargetan.* ^)
Weder dieses kausale Verhältnis zwischen dem absoluten
Ich und dem Nicht-Ich, noch das zwischen dem Nicht-Ich nnd
dem intelligenten Ich, kann psychologisch in Betracht kommen.
Beide kausalen Verhältnisse haben vielmehr als metaphysische
Voraussetzangen zu gelten.
Gleiches gilt im Prinzip auch für die genetisehe Wuiiel
des intelligenten und des praktischen Ich im absoluten Ich,
jedoch mit einer Einschränkung wie wir noch sehen werden.
„Das Ich fordert, dafs es alle Realität in sich fasse und
die Unendlichkeit erftiUe. Dieser Forderung liegt notwendig zum
Grunde die Idee des schlechthin gesetzten, unendlichen Ich;
und dieses ist das absolute Ich, von welchem wir geredet
haben ... Es ist in demselben gamicht die Bede von dem im
wirklichen Bewufstsein gegebenen Ich; denn dieses ist nie
1) Grundlage Orig. S. 227. S&mtl. W. I S. 248.
*) Grundlage Orig. S. 228. Sämtl. W. I S. 248.
>) Grundlage Orig. S. 228. SSmtl. W. I S. 248.
*) Grundlage Orig. S. 265. Sämtl. W. I S. 275.
') Grundlage Orig. S. 232. Sftmtl. W. I S. 251.
Digitized by
Google
171
sehlechthin, sondern Bein Zustand ist immer entweder unmittel-
bar oder mittelbar dnreh etwas aufser dem Ich begründet,
sondern von einer Idee des Ich, die seiner praktischen unend-
lichen Forderung notwendig zugrunde gelegt werden mufs, die
aber flir unser Bewufstsein unerreichbar ist und daher in dem-
selben nie unmittelbar (wohl aber mittelbar in der philosophischen
Beflexion) vorkommen kann."i) Zu dieser metaphysisch-gene-
tischen Wurzel, dafs „das Ich fordert, dafs es alle Realität in
sich fasse^, kommt als zweite, fttr das praktische Ich folgende:
„Das Ich mufs — und das liegt gleichfalls in seinem Begriffe —
ttber sich reflektieren, ob es wirklich alle Realität in sich fasse.
Es legt dieser Reflexion jene Idee zum Grunde, geht demnach
mit derselben in die Unendlichkeit hinaus, und insofern ist es
praktisch, nicht absolut, weil es durch die Tendenz zur Reflexion
eben aus sich herausgeht; ebensowenig theoretisch, weil seiner
Reflexion nichts zum Grunde liegt, als jene aus dem Ich selbst
herstammende Idee, und von dem möglichen Anstofse völlig
abstrahiert wird, mithin keine wirkliche Reflexion vor-
handen ist* 3)
Beide genetische Wurzeln sind auch nach Fichte im
Prinzip als empirische noch nicht anzusehen; denn „nach der
soeben vorgenommenen Erörterung ist das Prinzip des Lebens
oud Bewufstseins, der Grund seiner Möglichkeit — allerdings
im Ich enthalten, aber dadurch entsteht noch kein wirkliches
Leben, kein empirisches Leben in der Zeit; und ein anderes
ist fttr uns schlechterdings undenkbar. Soll ein solches wirk-
liches Leben möglich sein, so bedarf es dazu noch eines
besonderen Anstofses auf das Ich durch ein Nicht-Ich." ')
Gleichwohl aber werden die geschilderten metaphysisch-
genetischen Wurzeln zu empirischen in einer Hinsicht doch>
nämlich dadurch, dafs sie den Bewufstseinsbestand, der durch
den Anstols des Micht-Ich ausgelöst wird, in seiner Eigenart
mitbestimmen. Dieser Bewufstseinsbestand trägt nämlich den
Charakter eines „Geftthls des Zwanges, des Nichtkönnens.** ^) In
«) Grundlage Orig. S. 268. Saintl. W. I S. 277.
') Grundlage Orig. S. 268. Sämtl. W. I S. 277.
*) Grandlage Orig. S. 271. Sämtl. W. I S. 279.
*) Grundlage Orig. S. 296. SämtL W. I S. 297.
Digitized by
Google
172
ihm haben wir, genetisch betrachtet, das erste empirische psycho-
logische Produkt des praktischen Ich zu erblicken. .Das Ich
strebt die Unendlichkeit anszufttllen; zugleich hat es das Gesetz
und die Tendenz über sich selbst zn reflektieren. Es kann
nicht Über sich reflektieren, ohne begrenzt zn sein, und zwar
in Rücksicht des Triebes, durch eine Beziehung auf den
Trieb begrenzt zu sein. Setzet, dafs der Trieb im Punkte C
begrenzt werde, so wird in G die Tendenz zur Reflexion
befriedigt, der Trieb nach realer Tätigkeit aber beschränkt
Das Ich begrenzt dann sich selbst und wird mit sich selbst
in Wechselwirkung gesetzt: durch den Trieb wird es weiter
hinausgetrieben, durch die Reflexion wird es angehalten
und hält sich selbst an. Beides vereinigt gibt die Äufserung
eines Zwanges, eines Nichtkönnens .... Die Äufserung
des Nichtkönnens im Ich heifst ein Geftthl. In ihm ist
innig vereinigt Tätigkeit — ich fbhle, bin das Fühlende,
und diese Tätigkeit ist die der Reflexion — Beschränkung
— ich fühle bin leidend und nicht tätig; es ist ein Zwang
vorhanden. Diese Beschränkung setzt nun notwendig einen
Trieb voraus, weiter hinauszugehen. Was nichts weiter will,
bedarf, umfafst, das ist, es versteht sich, für sich selbst — nicht
eingeschränkt.'' i)
Jenes Streben und jene Tendenz zur Reflexion also, so
haben wir zu sagen, sind, insofern sie den eigentümlichen
Charakter dieses Gefühls, als eines Gefühls des Nichtkönnens,
ursächlich bestimmen, wiederum als unbewufst psychische und
insofern nicht mehr blofs metaphysische Bedingungen des
Gefühls für unsere Betrachtung zu bezeichnen.
Die in der Grundlage des theoretischen Wissens aufge-
deckte unbewufst psychische Bedingung der Vorstellung, die
in dem Zustand des Schwebens der Einbildungskrafl gegeben
war, ist, wie es scheint, mit dem Gefühl nicht schon gegeben;
die Zuordnung des genetischen Ortes des Gefühls zu dem des
ursprünglichen Faktums des theoretischen Wissens, ist bei Fichte
nicht deutlich ausgeführt Aus folgenden Ausführungen scheint
aber hervorzugehen, dafs das Gefühl genetisch vor jenem
Faktum des Schwebens der Einbildungskraft liegt oder doch
<) Grundlage Orig. S. 284f. SSmtl. W. I S. 288f.
Digitized by VjOOQ IC
173
wenigstens unabhängig yon letzterem besteht. .Das Geftthl ist
lediglich subjektiv. Wir bedürfen zwar zur Erklärung des-
selben — welches aber eine theoretische Handlung ist — eines
Begrenzenden, nicht aber zur Deduktion desselben, inwiefern
es im Ich yorkommen soll, der Vorstellung, des Setzens eines
solchen im Ich." ^ n^^^ Wissenschaftslehre . • • . behauptet
nichts weiter, als eine solche entgegengesetzte Krall, die von
dem endlichen Wesen blofs geftthlt, aber nicht erkannt wird.
Alle mögliche Bestimmungen dieser Kraft oder dieses Nicht-Ich,
die in die Unendlichkeit hinaus in unserem BewuTstsein vor-
kommen können, macht sie sich anheischig, aus dem be-
stimmenden Vermögen des Ich abzuleiten.^ 2)
Nehmen wir hinzu, dafs überhaupt dem praktischen Ver-
mögen die genetische Priorität vor dem theoretischen zukommt:
„Ist kein praktisches Vermögen im Ich, so ist keine Intelligenz
möglich",^) so werden wir zu der Auffassang gedrängt, dafs
das „Schweben der Einbildungskraft^ zwar als unbewufst
psychische Bedingung jeder möglichen Bestimmung der Kraft,
aber nicht auch schon des Gefühls der Kraft anzusehen ist
Wir fanden als den ersten Schritt der spontanen Reflexion
des empirischen Ich auf den Zustand der produzierenden Ein-
bildongskraft das Fixieren derselben durch den Verstand,
woraus die Realität, die Wirklichkeit, der Stoff der Vorstellung
für das Bewnfstsein des Ich hervorging. Einen analogen Schritt
weist die „Grundlage des praktischen Wissens'' auf: „Durch
absolute Spontanität, lediglich zufolge des Wesens des Ich,
ohne allen besonderen Antrieb'^ erfolgt, „eine Reflexion auf das
Reflektierende* (Fühlende).^) „Hier geht die Grenze zwischen
blofsem Leben und zwischen Intelligenz, wie oben zwischen
Tod und Leben." ^) „Lediglich aus dieser absoluten Spontanei-
tät erfolgt das Bewnfstsein des Ich. Durch kein Naturgesetz
und dnrch keine Folge ans dem Naturgesetz, sondern durch
absolute Freiheit erheben wir uns zur Vernunft, nicht durch
^) Grundlage Orig. S. 285. S&mtl. W. I S. 289.
>) Grundlage Orig. S. 272. SSmtl. W. I S. 279/80.
*) Grundlage Orig. S. 269. Sämtl. W. I S. 277.
*) Grundlage Orig. S. 296 f. Sämti. W. I S. 298.
») Grundlage Orig. S. 297. Sämtl. W. I S. 298.
Digitized by
Google
174
Übergang, Bondern dnrch einen Sprang." 0 ^^^ ^^^^ ^ :
Bewnfstsein des Ich erfolge, ist vorerst nur im nneigentliehen |
Sinne zu nehmen. Der Effekt dieser spontanen Entwieklnngs- j
stafe ist vielmehr znnäehst der, dafs die Realität des Dinges I
geftthlt zu werden seheint. „Hier liegt der Grand aller I
Realität. Lediglich darch die Beziehung des Oefttnls anf das |
Ich. die wir jetzt nachgewiesen haben, wird Realie für das
Ich möglich, sowohl die des Ich als die des Nicht-Ich. Etwas, ^
das lediglich darch die Beziehung eines Gefllhls möglieh wird,
ohne dafs das Ich seiner Anschauung desselben sich bewuist
wird, noch bewufst werden kann, und daher gefehlt zu sein
scheint, wird geglaubt. An Realität überhaupt, sowohl die des ;
Ich als des Nicht-Ich findet lediglich ein Glaube statt ''^)
Auch hier bleibt es dem Leser der Wissenschaftalehre
tiberlassen, die Beziehungen zwischen der Theorie des praktischen
und des theoretischen Wissens selbst herzustellen. Der Um-
stand, dafs die letztgenannte Reflexion auf das Gefühl eine
solche des intelligenten Ichs ist, legt die Deutung nahe, dafs
sie als eben dieselbe Handlung zu gelten habe, die wir in
der Grundlage des theoretischen Wissens, in der Handlung des
Verstandes, in dem allein „Realität ist",') kennen lernten, in
der Grundlage des praktischen Wissens nur von einem anderen
Gesichtspunkte aus betrachtet, nämlich unter Mitberttcksichtignng
des dabei unterfliefsenden Geftlbls.
Die weitere Schilderung der Entwicklung des menschlichen
Geistes, so wie sie in der Grundlage des praktischen Wissens
gegeben wird, ist der in der Grundlage des theoretischen
Wissens gegebenen im Einzelnen nicht mehr analog. War hier
die Entwicklung betrachtet worden, die zum Selbstbewnlstsein
im eigentlichen Sinne ftthrte, so kommt dort die Entwicklang,
die zum Bewafstsein des Mannigfaltigen des äufseren Objekts
fuhrt, in Betracht.
Aas dem geschilderten Gefühl des Zwanges, oder genauer
dem in ihm enthaltenen Streben oder Trieb, entwickelt sich
ein „Sehnen'',^) das sich geltend macht als ein „Trieb zum
') Grandlage Orig. S. 297. Sämti. W. I S. 298.
>) Grundlage Orig. S. 301. SämtL W. I S. 301.
*) Grundlage Orig. S. 204. SftmtL W. I S. 233.
«) Grandlage Orig S. SOJ. SilmÜ. W. I S. 302.
Digitized by
Google
175
BestimmeDf zum Modifizieren eines etwas anfser dem leb, der
doroh das Gefühl ttberhanpt sehen gegebenen Bealität*,^) und
zwar zeigt dieses sieh in den beiden nun folgenden Ent-
wicklungsstufen. Dadurch entsteht, allgemein betrachtet, „ein
Gefühl der Begrenzung des Ich nicht dnrch den StoiF, sondern
dnreh die Beschaffenheit des Stoffes'',') dessen beide Arten in
den beiden folgenden Stufen auftreten.
Wie jenem Geftthle des Zwanges ein Streben ttberhaupt,
so liegt, so können wir sagen, diesem Gefühl der Begrenzung
durch die Beschaffenheit des Stoffes das Sehnen als unbewnfst
psychische Bedingung zugrunde.
Der spontanen Reflexion auf das Geftthl des Zwanges
analog ist eine spontane Reflexion auf den Trieb zum Bestimmen,
die die erste von den beiden eben genannten Entwicklungsstufen
ausmacht So wie dort ein Geftthl von der Realität des Nicht-Ich,
so entsteht hier ein „Geftthl eines Bestimmten, Einfachen.'' „Aber
dieser Freiheit seines Handelns wird das Ich sich nicht bewufst;
daher wird die Begrenzung des Ich dem Dinge zugeschrieben.
Es ist ein Geftthl der Begrenzung des Ich durch die Bestimmtheit
des Dinges oder ein Geftthl eines Bestimmten, Einfachen." 3)
„Warum ist sttfs oder bitter, rot oder gelb usf. eine einfache
Empfindung, die nicht weiter zerlegt wird in mehrere, oder
warum ist es ttberhaupt eine fttr sich bestehende Empfindung,
und nicht blofs ein Bestandteil einer anderen? Davon mufs
doch offenbar im Ich, fttr welches es eine einfache Empfindung
ist, der Grund liegen: in ihm mufs daher a priori ein Gesetz
der Begrenzung ttberhaupt sein."^)
Eine weitere Entwicklungsstufe ftthrt zur Unterscheidung
eines gegebenen Nicht-Ich von einem anderen Nicht-Ich. Sie
stellt sich dar als ein Abbrechen oder Begrenzen des in der
Torigen Stufe tttigen Bestimmungstriebes. Dabei „ist von einer
Begrenzung der Intension [Intention] die Rede, z. B. von dem, was
das S&fse vom Sauren u. dgl. scheidet^. <^) „Man httte sich aber
^) Grandlage Orig. S. 809. SamÜ. W. 1 S. 807.
•) Grandlage Orig. S. 312f. Sämtl. W. I S. 309.
*) Grandlage Orig. S. 323. S&mtl. W. I S. 316.
«) Grandlage Orig. S. 316. Sämtl. W. I S. 81 1.
») So in der Originalausgabe der Grundlage S. 323. In der Gesamt-
ansgabe von J. H. Fichte steht, wie mir scheint, weniger zutreffend, .Unter-
schied des Intensiven'' statt «Unterschied der Intension". Sämtl. W. I S. 3 1 8.
Digitized by
Google
176
an eine Begrenzang im Baame zq denken.^ i) Auch in dieser
Entwicklungsstufe ist das Sehnen weiter tätig und kann insofern
„Trieb nach Wechselbestimmung' oder „Trieb nach Wechsel über-
haupt'' genannt werden: „Er ist es, der sich durch das Sebnen
äuTsert; das Objekt des Sehnens ist etwas Anderes, dem
Vorhandenen Entgegengesetztes.* 2) Die Befriedigung dieses
Triebes ist abhängig von dem Eintreten eines neuen, dem
schon vorhandenen entgegengesetzten Cef tthls. Durch spontane
Reflexion auch auf diesen Zustand entstehen die spezifischen
Gefühle von der Beschaffenheit des Stoffes, und zwar jeweilfl
nach dem Gesetze: «So gewifs . . . eine Handlung eintritt, ist der
Trieb abgebrochen oder begrenzt. Dadurch ensteht ein Gefühl.
Auf den möglichen Grund dieses Gefühls geht die Handlung,
setzt, realisiert ihn.*') Im besonderen verläuft die Unter-
scheidung zweier Stoffe so, dafs jeweils der gegebene Stoff
unmittelbar gefühlt, der davon unterschiedene aber blols vor-
gestellt, in diesem Sinne angeschaut wird. Es sind „im Ich
notwendig immer zugleich vorhanden Anschauung nnd Ge-
führ'.«) Die ideale Tätigkeit kann „ihr Objekt nur dadurch
bestimmen, dafs es nicht sei das Gefühlte, dafs ihm alle mög-
lichen Bestimmungen zukommen können auler der im Gefühl
vorhandenen ... So ist es allerdings. Was heilst z. B. sOfs?
Zuvörderst etwas, das sich nicht auf das Gesicht, das Gehör usf.,
sondern auf den Geschmack bezieht Was der Geschmack sei,
müfst ihr schon durch Empfindung wissen und könnt es euch
durch die Einbildungskraft, aber nur dunkel und negativ (in
einer Synthesis alles dessen, was nicht Geschmack ist) ver-
gegenwärtigen. Ferner, unter dem, was sich auf den Geschmack
bezieht, ist es nicht sauer, bitter usf., so viele besonderen Be-
stimmungen des Geschmacks ihr etwa aufzuzählen wifst Wenn
ihr aber auch die euch bekannten Geschmacksempfindungen
alle aufgezählt hättet, so können eucb doch immer neue, bis
jetzt euch unbekannte, gegeben werden, von denen ihr dann
urteilen werdet: sie sind nicht süfs. Hithin bleibt die Grenze
>) Grundlage Orig. S. 823. SämtL W. I S. 318.
*) GrundUge Orig. S. 32S. SämÜ. W. I S. 320.
') Grundlage Orig. S. 838. Sämtl W. I S. 328.
*) Grundlage Orig. S. 329. Sämtl. W. 1 S. 321.
Digitized by
Google
177
zwisehen sttfs und allen eueh bekannten Geschmacksempfin-
dangen noeh immer unendlich ^l)
Die beim Unterscheiden jeweils eintretende, der Beschaffen-
heit des Stoffes entsprechende neue Gefllhlslage ist zugleich
damit, dafs sie von früheren Oeftthlslagen unterschieden wird,
gekennzeichnet dnrch ein Gefühl der Befriedigung. „Inwiefern
es ein Ersehntes und das Ersehnte ist, mufs es sich auf das
Erstere beziehen und in Rücksicht desselben begleitet sein
Yon einem Gefühle der Befriedigung/^ 2) „Das Gefühl ist von
Beifall begleitet";') „das vorhergegangene Gefühl ist . . . not-
wendig Yon einem Mifsfallen begleitet '^^)
Die Darstellung der weiteren Entwicklung des menschlichen
Geistes, insbesondere der Anschauung des raumzeitlich und kausal
Bezogenen ist in der Grundlage der Wissenschaftslehre nicht
enthalten. Der Leser, will er sich darüber orientieren, ist auf
den „Grundrifs des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre '^
insbesondere auf die darin gegebene Deduktion des Baumes
und der Zeit angewiesen. Auch hier aber sieht er sich in die
Notlage versetzt, den gesuchten psychologischen Zusammen-
hang erschliefsen zu müssen, da in dieser Deduktion die von
Fichte sonst beobachtete Scheidung zwischen dem, was im Ich
für den Aulsenbeobachter, wir würden sagen für die logische
Betrachtung, besteht, und dem was für das Ich, d. i. an wirk-
lichen Bewufstseinstatsaohen vorhanden ist, vernachlässigt vrird.
Nur an einer Stelle finden wir in der genannten Deduktion
einen schwachen Hinweis auf einen Anknüpfungspunkt in der
Grundlage. Es heifst: „Aufser den inneren Bestimmungen der
Dinge, die sieh aber lediglich auf das Gefühl (des mehreren
oder minderen Gefallens oder Mifsfallens) beziehen, und dem
theoretischen Vermögen des Ich gar nicht zugänglich sind,
z. B. dafs sie bitter oder süfs, rauh oder glatt, schwer oder
leicht, rot oder weifs usw. sind, .... sind die Dinge durch gar
nichts zu unterscheiden als durch den Baum, in welchem sie
sieh befinden. Dasjenige also, was den Dingen so zukommt,
dafs es ihnen und gar nicht dem Ich zugeschrieben wird, aber
1) Onindlage Orig. S. 330. Sämtl. W. I S. 321 f.
*) Gnindlage Orig. S. 333. SämtL W. I S. 324.
>) Grandlage Orig. S. 334. Sämtl. W. I S. 325.
') Grundlage Orig. S. 835. Sämtl. W. I S. 325.
PUloflophiMhe Abhuidlaiig«n. XLII. 12
Digitized by
Google
178
doch nicht za ihrem inneren Wesen gehört, ist der Banm^ den
sie einnehmen/^ 1) Nehmen wir« dazn folgende Bestimmnng,
die fttr die znletzt betrachtete Entwicklnngsstafe des mensch-
lichen Geistes in der Grundlage gilt: „Man • . . httte sich aber,
an eine Begrenzung im Baume zu denken. Es ist von einer
Begrenzung der Intension die Rede, z. B. von dem, was das
Sttfse vom Sauren n. dgl. scheidet^^) so dürfen wir annehmen,
dafs zu dem bisher entwickelten Geftthl von einem realen
Stoff, seiner Auffassung als eines Bestimmten, Einfachen nnd
endlich der Unterscheidung eines gegebenen von einem anderen
Bestandteil des mannigfaltigen Stoffes das Bewuistsein von
den raumzeitlichen Beziehungen des Mannigfaltigen des Stoffes
erst auf einer neuen Entwicklungsstufe hinzutritt
Überblicken wir den logischen Znsammenhang der De-
duktion des Baumes und der Zeit bei Fichte, so können wir
ihn folgendermafsen zusammenfassen: Denken wir die von-
einander verschiedenen Anschauungen als Kräftezentren, denen
jeweils eine bestimmte Wirkungssphäre zukommt, so ist der
Inbegriff aller umkehrbaren Beziehungen dieser Wirkungs-
sphären der Baum, der Inbegriff aller nicht umkehrbaren die
Zeit. In diesem Sinne heifst es: „Der unendlich kleinste Teil
des Baumes ist immer ein Baum, etwas, das Kontinuitilt hat,
nicht aber ein blofser Punkt oder die Grenze zwischen be-
stimmten Stellen im Baume; und dieses darum, weil in ihm ge-
setzt werden kann, und inwiefern er selbst gesetzt wird, wirklieh
durch die Einbildungskraft gesetzt wird, eine Kraft, die sieb
notwendig äufsert; . . . sie kann sich aber nicht änfsem, ohne
eine Sphäre ihrer ÄuTserung zu haben/ s) , Innere Kräfte im
Nicht-Ich wirken mit absoluter Freiheit, erfttUen ihre Wirkungs-
sphäre, fallen zufällig in einem Punkte zusammen und schliefsen
dadurch gegenseitig, unbeschadet der Freiheit beider, sich ans
von ihrer Wirkungssphäre, oder wie wir jetzt wissen, aus ihren
Bäumen/'^) Ftlr die Zeit heifst es: „. . . Und so bekommen
wir eine Beihe Punkte, als synthetische Vereinigungspunkte
^) ,Grundri(B des Eigentümlichen der Wissenscbaftslehre*. Jena und
Leipzig bei Ghriatian Ernst Gabler 1705 S. 94f. SämtL W. I S. 401.
') Grundlage Orig. S. 323. Sämtl. W. I S. 318.
•) Grundrils Orig. S. 94. SfonU. W. I S. 400/01.
') GrnndriTs Orig. S. 99. S&mtl. W. I S. 405.
Digitized by
Google
179
einer Wirksamkeit des Ich und des Nicht- leh in der An-
schauung, wo jeder von einem bestimmten anderen abhängig
ist, der umgekehrt von ihm nicht wieder abhängt, und jeder
einen bestimmten anderen hat, der von ihm abhängig ist, ohne
daTs er selbst hinwiederum von ihm abhänge; kurz eine Zeit-
reihe.**!)
Folgende Bemerkung aus der Grundlage ist geeignet, unser
Verständnis des gesuchten psychologischen Zusammenhanges
weiter zu führen: „Er (der Bestimmungstrieb) verlangt Be-
stimmtheit, vollkommene Totalität und Ganzheit, welche lediglich
in diesem Merkmale besteht (dafs etwas Bestimmtes und Be-
stimmendes zugleich, oder durch sich selbst bestimmt sei). Was,
inwiefern es Bestimmtes ist, nicht auch zugleich das Be-
stimmende ist, ist insofern Bewirktes, und dieses Bewirkte wird,
als etwas Fremdartiges, vom Dinge ausgeschlossen, durch die
Grenze, welche die Beflexion zieht, abgesondert und aus etwas
anderem erklärt Was, inwiefern es bestimmend ist, nicht zu-
gleich das Bestimmte ist, ist insofern Ursache, und das Be-
stimmen wird auf etwas anderes bezogen, und dadurch aus
der dem Dinge durch die Reflexion gesetzten Sphäre aus-
geschlossen. Nur, inwiefern das Ding mit sich selbst in Wechsel-
wirkung steht, ist es ein Ding, und dasselbe Ding. Dieses
Merkmal vrird durch den Bestimmungstrieb aus dem Ich heraus
übertragen auf die Dinge." 2)
In analoger Weise also, so dürfen wir, im Sinne Fichtes
konstruierend, fortfahren, wie auf einer früheren Entwicklungs-
stufe, nämlich der Auffassung der durch das Gefühl bereits
gegebenen Bealität als eines Einfachen, Bestimmten, die Wechsel-
wirkung des Dinges mit sich selbst durch den Bestimmungstrieb
ans dem Ich heraus übertragen wird auf die Dinge, haben wir
auf der Stufe der Entwicklung der ranmzeitlichen Beziehungen
anzunehmen, dafs auch die „sich ausschlielsenden'^ kausalen
Beziehungen durch den Bestimmungstrieb aus dem Ich heraus
auf die Dinge übertragen werden. Diese Handlung des Ich ist
damit, hier ebenso wie dort, zunächst nur für einen «möglichen
Anfsenbeobachter' beschrieben. Aber sie hat weiterhin als eine
>) Gmndriis Orig. S. 104 f. Sämtl. W. I S. 408/09.
*) Grundlage Orig. S. 315f. SSmti. W. I S. 311.
12*
Digitized by
Google
180
nnbewurste Bedingung ftir das ans ihr Tesnltierende bewalMe
Produkt zu gelten, yom Standpunkte unserer psyehologiseh ein-
gestellten Betrachtung aus gesehen; denn es gilt allgemein: ,,Ia*
wiefern das leh reflektiert, reflektiert es nicht ttber dieses Beflek-
tieren selbst; es kann nicht zugleich auf das Objekt handeln und auf
dieses sein Handeln handeln; es wird demnach der aufgezeigten
Tätigkeit sich nicht bewuürt, sondern yergilst sich selbst
gänzlich und verliert sich im Objekt derselben'.^) Das be-
deutet also hier, dafs das Ich die Elemente des Mannigfaltigen des
sinnlichen Stoffes als wechselseitig oder einseitig kausal bestimmt,
d. i. als räumlich und zeitlich aufeinander bezogen auffaTst.
Überblicken wir nun auch den Entwicklungsgang, den der
menschliche Geist nach der Darstellung der Grundlage des
praktischen Wissens nimmt, so haben ?rir zu sagen: Die
genetisch betrachtet erste Bewufstseinstatsache ist das „Geftthl
des Zwanges*. Es führt zur Anschauung des Bealen als
des gegebenen Stoffes. Unter dem Antrieb des „Sehnens"
wird das Mannigfaltige dieses Stoffes bestimmt, sowohl nach
der relativen Einfachheit seiner Elemente hin als nach dem
Unterscheidenden der Elemente untereinander, hier sowohl
ihrer Qualität nach, als auch nach ihren kausalen und damit
raumzeitlichen Beziehungen.
Dieses Ergebnis unserer Prüfung der psychologischen Voraus-
setzungen der Deduktionen Fichtes findet auch im „Grundrifs
des Eigentümlichen der Wissensohaftslehre" kaum eine Be-
reicherung. Einiges aus demselben, das dem Zweck unserer
Untersuchung dient, sei noch angeführt
Eine Schwierigkeit für das Verständnis des Zusammen-
hanges zwischen Grundrifs und Grundlage bereitet der eigen-
tümliche Gebrauch des Wortes Empfindung im Grundrifs.
Empfindung ist hier „die Beziehung der im Widerstreite be-
findlichen Tätigkeit auf das Ich''.^) Diese «Beziehung heifst
Empfindung, gleichsam Insichfindung. Nur das Fremdartige
wird gefunden . . . Die aufgehobene vernichtete Tätigkeit des
Ich ist das Empfundene*.') Vergegenwärtigen wir uns, dals
1) Grundrifs Orig. S. 45. SSmtL W. I 8. 864.
*) GrundrilB Orig. S. 10. SSmtL W. I S. 338.
•) Grundrife Orig. S. 11. S&mti. W. I S. 339.
Digitized by
Google
181
die Tätigkeit des Empfindens hier eine solche des beziehenden,
also spontan tätigen Ich ist, nnd dafs das Empfundene, da
das leh sieh seiner Tätigkeit des Empfindens nicht unmittelbar
im Empfinden bewufst ist, vom Ich dem Nicht-Ich zugeschrieben
wird, so kommen wir zu dem, zwar paradox klingenden Er-
gebnis, dafs das Empfinden im „Grundrisse^ analog ist dem
„Verstände" in der „Grundlage". So verstehen wir den Hin-
weis in der Ableitung der Empfindung auf die Grundlage, der
lautet: „Es wurde schon in der Grundlage erinnert, dafs wenn
der Widerstreit je im Ich gesetzt werden und aus demselben
etwas weiteres folgen solle, durch das blofse Setzen der Wider-
streit, als solcher, das Schweben der Einbildungskraft zwischen
den Entgegengesetzten, aufhören, dennoch aber die Spur
desselben, als ein etwas, als ein möglicher Stoff, ttbrig bleiben
mttsse",>) eben das also, als dessen «Behälter'' in der Grundlage
der Verstand genannt wird. Das Paradoxklingende wird unserem
Verständnis näher gebracht durch eine Bemerkung aus der
Grundlage. Dort heilst es: „Ein Geflihl wird durch ideale
Tätigkeit gesetzt Dies läfst sich nur folgendermafsen denken:
Das Ich reflektiert ohne alles Selbstbewufstsein ttber eine Be-
schränkung seines Triebes. Daraus entsteht zuvörderst ein
Selbstgefühl. Es reflektiert wieder ttber diese Reflexion, oder
setzt sich in derselben als das Bestimmte und Bestimmende
zugleich. Dadurch wird nun das Fühlen selbst eine ideale
Handlung, indem die ideale Tätigkeit darauf übertragen wird.
Das Ich fühlt, oder richtiger, empfindet etwas, den Stoff, eine
Reflexion . . . durch welche ,X' erst Objekt wird. Durch die
Reflexion ttber das Geftthl wird dasselbe Empfindung."^)
Auch hier also tritt die Empfindung als eine Stufe spontaner
Refiexion auf. Nur ist sie hier im Hinblick auf das praktische
Vermögen des Ich, das Geftthl gekennzeichnet, während sie im
Grundrils nach ihrer Beziehung zu dem theoretischen Vermögen,
der schwebenden Einbildungskraft bestimmt wird.
Es liegt deshalb nahe so zu interpretieren, dafs Em-
pfindung im weitesten Sinne bei Fichte der Inbegriff der
durch den Verstand vollzogenen Anschauung des Realen ist.
>) OnmdrilB S. 7. Sämtl. W. I S. 335/36.
') Onindlage S. 382. S&mtl. W. 1 S. 323.
Digitized by
Google
182
Damit BÜmmt ttbereia eine Bemerkung, die sieh in der
.Zweiten Einleitung in der WisBensehaftslehre ' ans dem
Jahre 1797 findet, und die lautet: «Ans der Möglichkeit des
Ich ist die Notwendigkeit einer Beschränktheit desselben über-
haupt abgeleitet worden. Die Bestimmtheit derselben aber
kann daher nicht abgeleitet werden . . . Diese Bestimmtheit
erscheint als das absolut Zufällige und liefert das blofs
Empirische unserer Erkenntnis, Diese meine Beschränkt-
heit in ihrer Bestimmtheit offenbart sich in Beschränkung
meines praktischen Vermögens . . . und die unmittelbare Wahr-
nehmung derselben ist ein Gefühl, so nenne ich es lieber, als
Kant Empfindung. Empfindung wird erst durch die
Beziehung auf einen Gegenstand vermittelst des
Denkens: das Gefühl des Sttfsen, Roten, Kalten und dgl.^^)
Vom Standpunkt dieser Interpretation aus erweist sich
leichty da£s die Ausdrücke Anschauen und Intelligenz im Grund-
rifs in einem engeren Sinne gebraucht werden als in der
Grundlage. Es würde hier zu weit führen, darauf im Einzelnen
einzugehen. Unsere Interpretation des Ausdrucks Empfindung,
wie er in den bisher besprochenen Werken Fichtes auftritt,
führt uns zu einer Beantwortung der Frage nach der Stelle,
die die spezifischen Sinnesempfindungen in seinem System
einnehmen. Ist die Empfindung das auf einen Gegenstand
bezogene Gefühl, so fliefst daraus, dafs das, was landläufig
als die spezifischen Unterschiede der Sinnesempfindungen
bezeichnet wird, bei Fichte in den Unterschieden der Gefühle
gegeben ist. Die spezifischen Unterschiede der Gefühle aber
werden in seinem System nicht deduziert, vielmehr lediglich
eine Mannigfaltigkeit der Gefühle. In diese fliefsen ihre
spezifischen Unterschiede unbesehen mit ein. Folgende Be-
merkung zeigt dies im besonderen: «Der Bestimmungstrieb
hat demnach, so gewifs das Ich Ich ist, keine KansalitiLt
Davon aber kann, ebensowenig wie oben beim Streben über-
haupt, der Grund nicht in ihm selbst liegen; denn dann wäre
er kein Trieb: mithin in einem Gegentriebe des Nicht- Ich, sich
selbst zu bestimmen, in einer Wirksamkeit desselben, die völlig
unabhängig von dem Ich und seinem Triebe ist, ihren Weg
1) S&mtL W. I S. 489 f.
Digitized by
Google
183
geht, und nach ihren Gesetzen sich richtet, wie dieser sich
nach den seinigen richtet
Ist demnach ein Objekt, and sind Bestimmungen desselben
an sich, d. i. durch die eigene innere Wirksamkeit der Natur
henrorgebrachte ... ist ferner die ideale (anschauende) Tätig-
keit des Ich durch den Trieb hinausgetrieben, ... so wird
und mufs das Ich das Objekt bestimmen. Es wird in dieser
Bestimmung durch den Trieb geleitet, und geht darauf aus, es
nach ihm zu bestimmen. Es steht aber zugleich unter der Ein-
wirkung des Nicht-Ich, und wird durch dasselbe, durch die wirk-
liche Beschaffenheit des Dinges begrenzt, dasselbe in höherem
oder niederem Grade nicht nach dem Triebe bestimmen zu
können.
Durch diese Beschränkung des Triebes wird das Ich
begrenzt; es entsteht, wie bei jeder Begrenzung des Strebens
und auf die gleiche Art ein Gefühl, welches hier ein Gefühl
der Begrenzung des Ich, nicht durch den Stoff, sondern durch
die Beschaffenheit des Stoffes ist*0
Diese Ausführungen sind verständlich, wenn einer Hehrheit
von Gef&hlen eine Mehrheit von Anstöfsen des Nicht- Ich
korrespondierend angenommen wird, wenngleich auch diese
Folgerung von Fichte nicht ausdrücklich gezogen wird. Un-
verstilndlich aber sind sie, insofern infolgedessen die Anstöfse
des Nicht-Ich spezifisch voneinander verschieden sein mttfsten ;
diese Forderung mttfste aber erfttllt sein, wenn das Ich die
ihnen entsprechenden spezifischen Unterschiede der Geftthle
setzen soll
Sehen wir von dieser Schwierigkeit innerhalb des Gedanken-
ganges Fichtes ab, so können wir aus dem bisher Dargestellten
folgenden Schlufs ziehen: Auch bei Fichte ist die empirische
Anschauung nicht sensual, sondern intellektuaL Alles dasjenige
ist in ihr Produkt des Intellektes im weiteren Sinne, was in
ihr mehr enthalten ist als die blofsen Geftthle.
Eine etwas mehr auf das empirische Bewufstsein abge-
stimmte Auspiilgung der Gedanken Fichtes ttber den Bestand
^d das Zustandekommen der Wahrnehmung findet sich in
«iuem späteren Werke, den .Tatsachen des Bewufstseins ''•
>) Qnmdlage S. S12/13. SämÜ. W. I S. 308/09.
Digitized by
Google
184
Dort heilst es von dem Bewafstsein der Wahmehmimg: „Ee
findet in demselben sieh folgendes: Erstens eine Affektion des
äufseren Sinnes, welche durch folgende Merkmale aasgesprochen
wird: Rot, helltOnend, bitter, kalt nsw Zweitens Ans-
debnnng im Banme.*^^) Aber „es wird in nnmittelbarer Ver-
einigung mit dem, was in aller äufseren Wahrnehmung wir
als Anschauen erkannt haben, auch noch gedacht,
und durch dieses Denken eben und durch die unabtrenn-
liche Vereinigung dieses Denkens mit der Anschauung zu
einem innig verschmolzenen Lebensmomente des Anschauenden
wird das, was eigentlich in ihm wäre [Sinnesempfindung und
Anschauung des Baumes] zu einem etwas aufser ihm, zu einem
Objekte." 3) Mit Beziehung auf das praktische Vermögen heiüst
es ferner: „Wir betrachteten das, was wir früher äuisere Wahr-
nehmung nannten, in seiner eigenen Dreifachheit als ein ftlr
sich Bestehendes und Abgesondertes. Hier finden wir es selbst
als ein bloüses Glied eines grOiseren organischen Ganzen, des
Bewufstseins. Die synthetische Periode nämlich .... besteht aus
folgenden drei Hauptbestandteilen: 1. aus einem Gefühle, des
Triebes nämlich, 2. aus einer Anschauung, des realen Ver-
mögens nämlich, des Vermögens einer Kausalität in der Sphäre
des Seins (d. i. des Vermögens, durch eine Reihe von Be-
dingungen hierdurch in der Zeit zum beabsichtigten Ziele
fortzuschreiten,^) kurz das Zeitbewulstsein), 3. aus einem Bilde
des Widerstandes. Da dieses Bild entworfen wird durch die
freie und absolut produktive Einbildungskraft, zwar ohne
Bewufstsein der Freiheit, so können wir das ganze Gesehäft
in diesem Bilden sehr fttglich nennen ein Denken, indem
durch die veränderte Ansicht selbst dasjenige, was frtther uns
als Affektion durch den Sinn und als Anschauung erschien,
mit in dieselbe Sphäre fällt''«) Das Bild des Widerstandes
im besonderen enthält Ausdehnung, Materie, die sich als
1) Johann Goitlieb Fichte, Die Tatsachen des BewuiatBefais, VorlesangeD,
fehalten an der Universität an Berlin im Winterhalbjahr 1810—1 1. Stuttgart
und Tübingen in der Cottaiachen Bachhandlang 1817 S.6/7. SSmtl.W.l
S. {^42/48.
*) Die Tatsachen des Bewalstseins, Orig. S. 1 1/12. SftmÜ. W. II S. 546.
•) Die Tatsachen des Bewofstseins, Orig. S. 66. Sämtl. W. II 8. 585.
*) Die Tatsachen des Bewuiatseint, Orig. S. 72. SXmtL W. U S. 5&9.
Digitized by
Google
185
Undurelisiolitigkeit and UndnrchdriDglichkeit darstellt, and
QaaUtäi^) Über die BeBtimmang dieses Bildes des Wider-
standes als einer Fnnktion des Denkens heilst es weiter: „Wir
haben die äoisere Wahmehmong ttberhanpt genannt ein Denken;
früher haben wir gesagt, sie sei eine Produktion durch absolute
Bildungskraft. Inwiefern es uns nun mit beiden rechter Ernst
ist, wie es denn allerdings ist, so ist uns alles Denken pro-
duzierend durch absolute Bildungskraft, und umgekehrt ....
Oben beschrieben wir das Denken als ein Herausgehen aus
dem inneren und unmittelbaren Bewnfstsein. Das Innere aber
ist Geftthl und Anschauung, beides als unmittelbares Sein der
Freiheit und so unmittelbares Bewnfstsein. Aus diesem wird
durch Denken herausgegangen ... Da dies aber ein Herans-
gehen aus dem unmittelbaren Bewnfstsein ist, so mufs es sein
ein Bilden, und zwar ein absolutes Bilden, ein reines Erschaffen
eines neuen Bewulstseins . . . Hier insbesondere wird
gedacht ein Widerstand gegen die produktive
Einbildungskraft, oder das Denken selbst in
seiner allgemeinsten Form; also es liegt hier das
absolut erste Denken. Die produktive Einbildungskraft
produziert sich selbst, es versteht sich im Bilde, und bildet
dieser also produzierten einen Widerstand. Dies ist mit
kurzem die hier vorkommende Funktion des Denkens, oder
der absoluten Bildungskraft.'' ^^
Hier also tritt als erste Handlung des Denkens in der
Anschauung das Denken eines Widerstandes aufser uns auf.
Auch hier ttberläfst es Fichte dem mühsam suchenden Leser,
einen Anknüpfungspunkt dieser Wendung des Gedankens an
frühere Darstellungen zu finden. In der „Grundlage'' be-
gegneten wir schon dem Gedanken: .Das Objekt wird gedacht
als Ursache von einem Leiden im Anschauenden als seinem
Effekt* 3) Dieses Denken des Objekts als einer Ursache tritt
aber hier, wie oben ausgeführt wurde, nicht als die genetisch
erste Handlung des Denkens, d. h. hier «der Bestimmung eines
') Die Tatsachen des BewufBtseins, Orig. S. 70. Sämtl. W. 11 S. 587.
3) Die Tatsachen des Bewafstaeins, Orig. S. 78f. Sämtl. W. II S. 698/94.
Die leiste Sperrung findet sieh nicht im Originaltext
') Onindlage Orig. S. 215. Sftma W. 1 S. 241.
Digitized by
Google
186
fixierten Produkts der EinbilduDgskraft im Verstände* i) auf,
sondern es gehen noch zwei Stufen vorher, nämlich erstens die
Bestimmnng dieses Produktes als unter einer Bedingung über-
haupt, und zweitens als unter einer notwendigen Bedingung
stehend; an dritter Stelle erst wird es als ursächliche Bedingung
erfafst. Diese Ausführungen vndersprechen den in den „Tat-
sachen des Bewufstseins'' gegebenen dann nicht, wenn wir hier
den Ausdruck .das erste Denken' in dem weiteren Sinne
nehmen, dafs es jene Vorstufen mitenthalte. Ja sogar dttrfen
wir noch einen Schritt weiter gehen und auch „das Fixieren
eines Produktes der Einbildungskraft im Verstände'', das in
der Grundlage des theoretischen Wissens die genetisch erste
Quelle des Bewnfstseins von etwas Bealem ist, mit hineinziehen;
denn auch dieses ist ein Akt der Spontaneität In gleicher
Weise haben wir in der Grundlage des praktischen Wissens
schon die Beflexion auf das , Gefühl des Nichtkönnens", durch
die der „Glaube an die Bealität'' eines Dinges aufser uns ent-
steht, weil auch sie spontan erfolgt, mit in das Denken hinein-
zunehmen. Wir dttrfen das auch deshalb, weil sich nirgends
in den .Tatsachen des Bewufstseins* ein Anlafs bietet, die
Voraussetzungen der früheren Darstellungen fallen zu lassen.
Wir ge?rinnen vielmehr den Eindruck, dafs die „Tatsachen des
Bewnfstseins'' nur eine im Hinblick auf das, was fttr den
„allgemeinen Menschenverstand" von Bedeutung ist, kom-
primierte Darstellung dessen enthalte, was in weitläufigerer
Weise in den früheren Werken dargelegt wurde. In diesem
Sinne heifst es z. B.: „Der Ausdruck (äufsere Gregenstände)
wird hier ganz so gebraucht, wie der allgemeine Menschen-
verstand ihn nimmt, Gegenstände, welche als aufser uns im
Baume befindlich wahrgenommen werden." 2) Derjenige Leser
der „Tatsachen des Bewufstseins" aber, der auf einen Vergleich
mit den Gedankengängen der früheren Abhandlungen Fiehtes
nicht eingestellt ist, gewinnt leicht den Eindruck, dafs nach
Fichte die an sich subjektiven Sinnesempfindungen dadurch
den Charakter der Objektivität gewinnen, dafs sie unmittelbar
auf eine Ursache im Nicht-Ich bezogen werden.
1) Grundlage Orig. S. 214. Sämti. W. I S. 240.
*) Die Tatsachen des Bewufstseins, Orig. S. 6. SSmtl. W. II S. 542.
Digitized by
Google
187
Das aber ist im Prinzip derselbe Gedanke, der bei
Scbopenhaner die Intellektnalität der empirisehen Ansehan-
nng begrttndet Ja, ancb die «Grandlage' enthält einen
diesem Gedanken Sehopenhaners nahe verwandten Gedanken,
nämlich in dem «Glauben* an die Realität desjenigen im
Nicht-Ich, worauf «das Gefühl des Zwanges, des Nicht-
könnens* bezogen wird. Auch hierin zeigt sich eine ursprüng-
lich kausale Deutung des aufser uns Wirklichen, das allerdings
nur erst gefühlsmäfsig, noch nicht vorstellungsmäfig erfafst
wird. Es sei noch angemerkt, dafs auch in dem Manuskript
Schopenhauers zu der Vorlesung Fichtes „Über die Tatsachen
des Bewufstseins'' aus dem Winter 1811—1812 sich einige
Stellen finden, die auf den erwähnten verwandten Gedanken
hinzielen. Es heilst hier: „Das reale Handeln ist wie die
Beproduktion in der Anschauung. Wie die Reproduktion ein
ideales Zusammensetzen, Trennen und Vereinigen des im
Raum gegebenen Mannigfaltigen ist, so ist das Handeln dies
alles real: bringt wie jene die Dinge in eine neue Ordnung.
Dabei wird vorausgesetzt^ das loh könne in den Raum ein-
dringen. Das Ich in seiner Wirksamkeit kann nur das ordnen,
was in der Wahrnehmung gegeben ist, und das ist die Materie:
diese ist die Ausgedehntheit der Qualität Zu diesen
ihren beiden Bestandteilen (Ausgedehntheit und Qualität), die
die reproduzierten Bilder auch, wiewohl von der Qualität nur
den Begriff, haben, kommt als von diesen sie unterscheidendes
Merkmal, ihr absolutes Bestehen der Freiheit des
Ich gegenüber, 1) d.h. ihre Unyertilgbarkeit: Die Materie
ist absolut gegeben, es kann keine Materie im Weltall vertilgt,
noch welche hinzugetan werden. Das Ich kann sie nur trennen
und vereinen. Gegen das Bestreben des Ich dies zu tun, in sie
einzudringen, zieht sich die Materie zusammen und darum (?1)2)
ist Materie so weit als die Wahrnehmung reicht Durch den
Konflikt des Ich gegen die widerstehende Materie entsteht die
Zeit Der Widerstand der Materie gegen die trennende Kraft
desieh ist dieKohäsion: Schwere ist nur eine Erscheinung
derselben, ist Widerstand gegen Bewegung überhaupt: Kohäsion
0 Diese Stelle ist im Originaltext nicht unterstrichen.
') Auch im Originaltext sind diese Zeichen vorhanden.
Digitized by
Google
188
ist der Grund derselboD. Beide sind apriorische An-
sehauungsformen der Materie, nnd enthalten gar-
nichts Empirisches.^ 0
^Das Handeln wird angeschaut nicht ohne ein ihm Wider-
stehendes: dies ist aber eben die Wahmehmungswelt: diese ist
also Form einer Ersichtlichkeit des Seins. Alles ist also nur
Anschannngsform der Grondanschaanng des Handelns.'' 2)
Es erhebt sich da die Frage, ob die Lehre Fichtes als
eine unmittelbare historische Voraussetzung für die Lehre
Schopenhauers anzusehen sei. Ein äufserer Grund läfst dies
von vornherein wahrscheinlich werden, der nämlich, dafs
Schopenhauer im Wintersemester 1811/12 in Berlin eben die
Vorlesung Fichtes ttber die Tatsachen des Bewufstseins hörte,
die im Wesentlichen, wie aus dem Manuskript Schopenhauers
zu dieser Vorlesung zu erkennen ist, mit der im Winter 1810/11
gehaltenen und im Jahre 1817 veröffentlichten Vorlesung Fichtes
Ober denselben Gegenstand ttbereinstimmt Auch die „Grund-
lage'' war Schopenhauer bekannt Die Annahme einer Ab-
hängigkeit aber bedarf einer wesentlichen Einschränkung. Fttrs
Erste fanden wir im Prinzip schon bei Kant und in speziellen
Punkten schon bei G. E. Schulze die Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung angelegt, und es wurde uns be-
greiflich, wie von hier aus Schopenhauers Gedankenentwicklung
iEren Anfang nehmen konnte. Sodann ist in der ersten Auflage
des Satzes vom Grunde vom Jahre 1813 trotz der Kenntnis der
Lehre Fichtes der Gedanke der Intellektualität der empirischen
Anschauung zwar schon angelegt, aber noch nicht in der
spezifischen Form der späteren Lehre Schopenhauers ausgeprägt
Denn in jener Erstlingsschrift Schopenhauers bleiben der Kausali-
tät die Realität nnd die anderen Kategorien Kants noch gleich-
geordnet Die spätere Fassung des Gedankens der Intellek-
tualität d^r Anschauung, derzufolge die Bealitilt der Wahr-
>) Arthur Schopenhauers NachlftTs Nr. 6, Über die Tatsachen des
Bewofiitseins, und die Wissenschaftalehre bey Fichte im Winter 1811
—1812. F. 7. Die gesperrten Stellen sind au&er der einen, von der es
oben angemerkt ist, im Originaltext unterstrichen. Die Unterstreichungen
von „EohUsion^ an sind mit Bleistift ausgeführt und deshalb wahrscheinlich
späteren Datams als die Niederschrift des Manuskriptes.
s) Ebenda F. 9.
Digitized by
Google
189
nehmnog lediglieb kausal za deuten ist, ist es aber erst, die
dem erwähnten Gedanken Fichtes in den „Tatsachen des
Bewoistseins^ verwandt ist Eine unmittelbare Übernahme
dieses Gedankens Fichtes durch Schopenhauer scheint demnach
ausgeschlossen. Die Entwicklung der Lehre Schopenhauers
von der empirischen Anschauung von der ersten Auflage des
Satzes vom Grunde zur ersten Auflage der Welt als Wille und
Vorstellung hin fanden wir aber aus immanenten Grttnden
heraus verständlich. Dazu kommt femer, dafs die ganze Ge-
dankenrichtung Schopenhauers in der Lehre von der empirischen
Anschauung eine so durchaus anders gerichtete, weil psycho-
physiologisch orientierte, ist, dafs ihm das Interesse an den
Deduktionen Fichtes völlig fernliegt Aus diesen Grttnden
rnnfs, auch wenn ein anregender Einflafs von Seiten Fichtes
angenommen werden darf, die Gedankenfllhrung Schopenhauers
als selbständige bezeichnet werden. Die Selbständigkeit der
GedankenfUhmng Schopenhauers gegenüber der Fichtes zeigt
sich auch in der Lehre von der Materie. Die zitierte Stelle
aas dem Manuskript Schopenhauers zu Fichtes Vorlesungen
enthält zwar im wesentlichen schon die kausale Deutung der
Materie, jedoch als Deduktion aus der Lehre Fichtes von dem
frei strebenden Ich und insofern mit einer fttr Schopenhauer
unannehmbaren Begründung. Die Ableitung der Materie aber
aas der Vereinigung von Raum und Zeit durch die Kausalität
ist Schopenhauer durchaas eigentümlich. Die prinzipielle
Fassung des Begriffs Materie, die wir bei Schopenhauer an-
treffen, finden wir bei Fichte nicht Anderseits hat die Ab-
leitung des Baumes und der Zeit aus den Beziehungen der
Eräftesphären zueinander bei Schopenhauer kein Analogen.
Auch liegen die feinen und wie es scheint auch auf Selbst-
beobachtung beruhenden Unterscheidungen, die Fichte, in
modemer Wendung gesprochen, für die Bewafstseinsstufön ^)
des Wahrnehmens macht, das Fühlen eines Zwanges, das
Glauben an etwas Reales, das Sehnen, dieses zu bestimmen,
das Erfassen desselben als eines Einfachen, fernerhin eines
Unterschiedenen bis hin zur raumzeitlichen Beziehung des
Mannigfaltigen, Schopenhauer völlig fern.
>) Vgl Ernst Westphal, Über Haupt- and Nebenaufgaben bei Reaktions-
versachen. Archiv für die gesamte Psychologie. XXI. Band. S. 219 f.
Digitized by
Google
190
Wir dürfen auf Omnd des Dargelegten den Sehlals ziehen,
dafs Kant die gemeinsame historische Basis beider ist, nnd
dafs beide von ihm ans anf getrennten Wegen zn z. T. formal
ttbereinstimmenden Ergebnissen gelangt sind.
Die Beziehungen der Lehre Schopenhauers
von der empirischen Anschauung zur Lehre
Thomas Reids.
Nicht so sehr der prinzipielle Gehalt der Lehre Schopen-
hauers von der empirischen Anschauung, als vielmehr die
methodische Richtung, die Schopenhauer, darin über Kant
sowohl als auch die anf ihn folgenden Metaphysiker hinaus-
gehend, zu einer psychologisch gegliederten Schilderung des
Bestandes und des Zustandekommens der empirischen An-
schauung fuhrt, lassen ihn einer Gruppe von Philosophen
verwandt erscheinen, die auf anderer historischer Grundlage
fufsend, und auf anderen Wegen ähnlich gerichtete Unter-
suchungen unternommen haben. Es sind Thomas Reid und
die an ihn anknüpfenden Philosophen, eine Gruppe von Denkern,
deren Lehren in England und Frankreich als Spiritualismns
bezeichnet zn werden pflegt, die W. Dilthey^) als Philosophie
der Freiheit oder der Subjektivität charakterisiert, und die nach
der ihnen gemeinsamen Methode ihres Denkens wohl nieht
unpassend als phychologisierende Erkenntnistheorie gekenn-
zeichnet werden darf. Thomas Reid, der Vater dieser Geistes-
richtung, ist es, der zur Lehre Schopenhauers von der empirischen
Anschauung in unmittelbare historische Beziehung gesetzt werden
kann, nicht zwar so, als ob er ftr die Konzeption ihrer Grund-
gedanken, aber doch so, dafs er fttr die Ausgestaltung derselben
von einem gewissen Einflufs geworden ist.
Wir fanden, dafs die Intellektualität der empirischen
Anschauung, insbesondere die Funktion, die der Kausalität in
>) Wilhelm Diltbey, Jahresbericht über die nachkantische Philosophie.
Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. XI S. 551.
Digitized by
Google
191
derselben zukommt, im Prinrip sehen bei Kant vorliegt. Die
Unmittelbarkeit der kausalen Deatnng der Sinnesempfindnngen
fanden wir bei Sehnlze angelegt, in gewissem Sinne auch bei
Fichte. Nicht die kausale Deutung der Sinnesempfindungen,
aber ihre unmittelbare Erkenntnis als realen Dingen zugehörig,
ist angelegt auch in der Lehre von Thomas Reid, auf den
Schopenhauer selbst als historisehe Voraussetzung hinweist.
Thomas Reid ist zuerst genannt in der ,, Theoria colorum
physiologica* 1830,i) mit der Abhandlung «Inquiry into the human
mind*. Sachliche Qrttnde sprechen dafbr, daj[s er Schopenhauer in
seiner ersten Sohafifensperiode noch nicht bekannt war, obgleich
diese Schrift Reids bereits in Erasmus Darwins „Zoonomia^
Bd. I Absohn. 16 Kap. 7 erwähnt wird, deren Kenntnis schon
in die erste Entwieklungsperiode Schopenhauers fällt Die
genannte Schrift Reids ist femer zitiert in «Welt als Wille und
Vorstellung* Bd. II, und zwar schon in der ersten Auflage vom
Jahre 1844.') Aufserdem ist von Reid noch genannt: «Essays
on the powers of human mind*, gleichfalls schon in der ersten
Auflage der «Welt als Wille und Vorstellung" Bd. IL»)
Von Reid sagt Schopenhauer folgendes: „Von der Un-
znlängliehkeit der Sinne zur Hervorbringung der objektiven
Anschauung der Dinge, wie auch vom nichtempirischen Ursprung
der Anschauung des Raumes und der Zeit erhält man als
Bestätigung der kantischen Wahrheiten, auf negativem Wege
eine sehr gründliche Überzeugung durch Thomas Reids vor-
treffliches Buch: Inqniry into the human mind, Ist edition 1764,
6th edition 1810. Dieser widerlegt die Lockesche Lehre, dafs
die Anschauung ein Produkt der Sinne sei, indem er gründlich
und scharfsinnig dartut, dafs sämtliche Sinnesempfindungen
nicht die mindeste Ähnlichkeit haben mit der anschaulich
erkannten Welt, besonders aber die fttnf primären Qualitäten
Loekes (Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Bewegung, Zahl) durch-
aus von keiner Sinnesempfindung uns geliefert werden können.
Er gibt sonach die Frage nach der Entstehungsart und dem
Ursprung der Anschauung als völlig unlösbar auf. So liefert
er, obwohl mit Kanten völlig unbekannt, gleichsam nach der
0 VI, 123.
«) n, SO. ») II, 78.
Digitized by
Google
192
regnla falsi einen grttndlieben Beweis fttr die (eigentUch von
mir, infolge der kantigchen Lehre, zuerst dargelegte) Intellek-
tnalität der Ansehanang nnd fttr den von Kant entdeckten
apriorischen Ursprang der Grundbestandteile derselben, also
des Ranmes, der Zeit nnd der Kausalität, ans welchen jene
Lockeschen primären Eigenschaften allererst herirorgehen,
mittelst ihrer aber leicht zu konstruieren sind.''^)
In der Tat findet sich bei Reid ein der Lehre Schopen-
hauers analoger Gedanke. Zu den zwölf ursprünglichen Urteilen
des common seuse gehört u. a., „dafs diejenigen Dinge wirklieb
existieren, welche wir deutlich mit unseren Sinnen wahrnehmen
und das sind, als was wir sie wahrnehmen.'^ 2) Sehen wir von
letzterer Wendung, die fttr unseren Vergleich nicht in Betracht
kommt, ab, so findet der Gedanke noch folgende Spezialisierung:
^Wenn wir auf die Sensation an und fttr sich selbst acht geben,
und sie von anderen trennen, die in der Einbildungskraft damit
verbunden sind: so erhellt es, dafs sie etwas ist, das keine
Existenz als in einem empfindenden Wesen haben kann, etwas,
das nicht von dem Aktus der Seele, vermöge welchen es
gefühlt wird, verschieden ist'' Aber: „Perzeption, so wie wir
dieses Wort hier nehmen, hat immer einen von einem Aktas
der Seele, wodurch die Sache wahrgenommen wird, unter-
schiedenen Gegenstand ... Ich weifs, dafs die Wahrnehmung
«Ines Gegenstandes sowohl eine Vorstellung von seiner Form
als einen Glauben an seine gegenwärtige Existenz in sich fafst
Und ttberdem ist mir bekannt, dafs dieser Glaube nicht die
Wirkung von Beweisen und Vernunftsohlüssen, sondern die
unmittelbare Wirkung meiner Beschaffenheit ist"') „Hätten
wir von der Struktur der sinnlichen Organe so genaue Kennt-
nisse, um entdecken zu können, welche Wirkung auf sie von
äuj[seren Gegenständen gemacht wird, so würde diese Kenntnis
nichts zu unserer Wahrnehmung des Gegenstandes beitragen;
denn diejenigen, die nicht das Mindeste von der Art und Weise
wie wir wahrnehmen, verstehen, nehmen eben so deutlich wahr
0 II, 80 f.
«) The works of Thomas Reid. Pref. by Sir William Hamilton Voll
6. Edition. Edinburgh 1863. p. 445. Essays on the intellectoal powers
of man.
*) A. a. 0. Vol. I p. 183 (Inqniry Into the human mind).
Digitized by
Google
193
als die gröfsten Adepten. Es ist nötig, dafs der Eindraek anf
unsere Organe gemacht werde, aber es ist nicht nötig, dafs
man das Wie hiervon wisse. DieNatar leitet diesen Teil des
Ganges der Wahrnehmung ohne unser Bewulstsein, und ohne
nnsem Beitritt
Aber des nächsten Schrittes bei diesem Gange der Natur,
der Sensation der Seele, können wir uns nicht unbewnfst sein;
sie folgt immer, unmittelbar auf den auf den Körper gemachten
Eindruck. Es ist ftr eine Sensation wesentlich, dafs sie gefühlt
werde, und sie kann nichts mehr sein, als was wir fühlen, dafs
sie ist . . . Aber, wie werden die Sensationen der Seele durch
Eindrücke auf den Körper hervorgebracht? Hierüber sind wir
schlechterdings in der Unwissenheit, da wir kein Mittel haben,
zu wissen, wie der Körper auf die Seele oder die Seele auf
den Körper wirkt Wenn wir die Natur und die Eigenschaften
beider erwägen, so scheinen sie so verschieden und so ungleich
zu sein, dafs wir kein Werkzeug zu erdenken vermögen,
vermittelst dessen die eine zu dem andern gleichsam gelangen
könne. Ein tiefer und finsterer Abgrund liegt zwischen ihnen,
über welchen unser Verstand nicht hinüber kann, und die Art
und Weise ihrer Korrespondenz und ihres Verkehrs miteinander
ist uns schlechterdings unbekannt . . . Wer weifs, ob ihre Ver-
knüpfung nicht ganz willkürlich und blofs der Wille unsers
Urhebern ist? ... Wie indessen auch diese Dinge sein mögen,
so ist denn doch soviel gewils, dafs, wenn die Natur uns nichts
mehr als Eindrücke auf den Körper und ihnen entsprechende
Sensationen in der Seele gegeben hätte, wir in diesem Fall
blofs empfindende und nicht wahrnehmende Wesen gewesen
sein würden. Wir würden nie fähig gewesen sein, uns nur
eine Vorstellung von irgend einem äufseren Gegenstande zu
bilden, viel weniger an die Existenz desselben zu glauben.
Unsere Sensationen haben keine Ähnlichkeit mit den äufseren
Gegenständen, noch vermögen wir, durch unsere Vernunft irgend
eine notwendige Verknüpfung zwischen den ersteren und den
letzteren zu entdecken . . . Durch unbekannte Mittel wird uns
die Sensation und die derselben entsprechende Perzeption
inspiriert. Und weil die Seele unmittelbar von der Sensation
zu der Vorstellung und dem Glauben an den Gegenstand,
welchen wir wahrnehmen, aut eben dieselbe Art übergeht, wie
PhUotopUsohe Abhandlungm. XLU. 13
Digitized by
Google
194
von dem Zeichen zn dem dadurch angezeigten Dinge, so haben
wir ans diesem Grunde die Sensationen Zeichen von äaüseren
Gegenständen genannt''^)
Gemeinsam also mit Schopenhauer ist Reid der Gedanke,
dafs das Übergehen von der blofsen, subjektiven Empfindung
zu einem gegenständlichen Bewulstsein nicht als ein Resultat
des diskursiven, sondern des intuitiven Denkens anzusehen sei;
denn unmittelbar gibt (suggests) uns nach Reid die Empfindung
die Gewifsheit von einem ihm entsprechenden Objekt aulser
uns, die deshalb als „belief ^ zu bezeichnen ist, in analoger
Weise wie bei Schopenhauer der Verstand unmittelbar und
intuitiv von der Empfindung als Wirkung zur Ursache aulser
uns übergeht Im Unterschiede von Schopenhauer ist bei Reid
der Sinn dieses Überganges nicht der einer kausalen Beziehung,
sondern der des Verhältnisses von Zeichen zum Bezeichneten, und
es kommt demgemäfs für Reid ein unmittelbares Bewulstsein von
den Wirkungen in dem Sinnesorgane nicht als notwendige Be-
dingung fttr die Perzeption eines Objektes aufser uns in Betracht
In noch einem anderen Punkte wird Reid von Schopen-
hauer als mit ihm übereinstimmend genannt, in der Annahme
der Apriorität des Kausalgesetzes. Er sagt: .In England hat
schon Th. Reid (On the principles of contingent truths. £ss. VI
c. 5) ausgesprochen, dafs die Erkenntnis des Eausalitätsver-
hältnisses in der Beschafifenheit unseres Erkenntnisverm^ns
selbst ihren Grund habe.'' 2) Dieser Hinweis bezieht sich
offenbar darauf, dafs Reid als letztes der Prinzipien des
common sense nennt, dafs in den Erscheinungen der Natur
dasjenige, „was sein wird, wahrscheinlich gleich dem sein wird,
was unter ähnlichen Umständen gewesen ist",^) und dann fort-
fährt, dafs »wir diese Überzeugung haben müssen, sobald wir
fähig sind, irgend etwas aus der Erfahrung zu lernen*'/) dafs
«dieses Prinzip notwendig fttr uns ist, bevor wir fähig sind, es
durch Überlegungen zu entdecken, deshalb einen Teil unserer
Konstitution ausmacht nnd seine Wirkungen vor dem Gebrauch
der Vernunft zeigt* ^) Dieses Prinzip ist also, so können wir
>) A. ». 0. Vol. I p. 187 f. (Inqniiy).
«) II, 49.
*) A. a. 0. Vol. I p. 451 (Essays on the intell. powers).
«) Ebenda. ^) Ebenda'
Digitized by
Google
195
sagen, auch fttr Beid eine im Intellekt liegende Bedingung fttr
die Möglichkeit der Erfahrung. Indes bedarf die Analogie zu
Schopenhauer einer gewissen Einschränkung. Nicht deutlich
nämlich kommt bei Reid die Notwendigkeit des Kausal-
zusammenhanges, genauer seiner Geltung zum Ausdruck. Es
bleibt ihm vielmehr immer noch ein gewisser Grad von blofser
Wahrscheinlichkeit anhaften, wenngleich der Glaube an das
wahrscheinliche Eintretende ein Grundprinzip des common sense
ist Das geht n. a. aus folgendem Gedankengange hervor:
«Alle unsere Kenntnis von der Natur anfser nnsern ursprüng-
lichen Perzeptionen, wird durch Erfahrung erlangt und besteht
in der Auslegung der natürlichen Zeichen. Die Stetigkeit der
Naturgesetze verknüpft das Zeichen mit dem angezeigten
Dinge, nnd vermöge des eben erklärten natürlichen Prinzipiums
verlassen wir uns auf die Fortdauer dieser Verknüpfung, welche
die Natur entdeckt hat, und diesem gemäfs folgt auf die Er-
scheinung des Zeichens der Glaube an das angezeigte Ding.
Auf dieses Prinzipium unserer Beschaffenheit gründen sich
nicht allein unsere erworbenen Perzeptionen, sondern alles
induktive Raisonnement und alle unsere Analogieschlüsse, und
also erbitten wir uns die Erlaubnis aus, es aus Mangel eines
anderen Namens das Prinzipium der Induktion nennen zu
dürfen. Vermöge der Stärke dieses Prinzipiums geschieht es,
dafs wir demjenigen Axiom, auf welches alle unsere Kenntnis
von der Natur aufgebaut ist, dafs nämlich Wirkungen gleicher
Art gleiche Ursachen haben müssen, sogleich beistimmen.
Denn Wirkungen und Ursachen bedeuten in den Operationen
der Natur nichts als Zeichen und die von diesen Zeichen
angezeigten Dinge. Wir nehmen in keiner natürlichen Ursache
eine eigentliche Kausalität oder wirkende Kraft wahr, sondern
nur eine durch den Lauf der Natur zwischen derselben und
dem, was wir Wirkung nennen, eingeführte Verknüpfung ....
Wenn solch eine Verbindung öfters bemerkt worden ist, so
stellen wir uns die Dinge als natürlich miteinander verknüpft
vor, nnd die Erscheinung des einen führt uns ohne alles
Nachdenken oder Vernnnftschlüsse auf den Glauben an das
andere.* i)
») A. a. 0. Vol. I p. 199 (laquiry).
13*
Digitized by
Google
196
Nur mit der Einschränkung also, dafs bei Reid dem Kausal-
gesetz eine nnr assertorische Gewifsheit zukomme, kann sich
Schopenhauer in der Annahme der Apriorität des Kausalgesetzes
auf Reid berufen.
Was wird nun, so drängt es zu fragen, der Beweggrund
gewesen sein, der Schopenhauer veranlafste, gerade Th. Seid
als historische Voraussetzung ftr seine Lehre, insbesondere von
der Intellektualität der empirischen Anschauung zu nennen,
wo doch die kausale Deutung der empirischen Anschauung
gerade Reid nicht eigentümlich ist, während er Kant, ftr den
sie doch, wie wir fanden, im Prinzip gilt, nicht oder doch als
nicht im strengen Sinne in Frage kommelnd nennt? Offenbar
wird er es getan haben im Hinblick auf die Unmittelbarkeit
des Überganges von der blofsen Empfindung auf das ihr
entsprechende Objekt, das wir als Reid, nicht aber Kant
eigentümlich fanden, bei dem die kausale Bestimmung des
Mannigfaltigen der Empfindungen vielmehr in der Weise eines
synthetischen Urteils sich vollzieht So wird es auch historisch
verständlich, dafs Schopenhauer sich als den ersten Vertreter der
Intellektualität der empirischen Anschauung im strengea Sinne
ansieht; er ist in der Tat der erste, bei dem die beiden Momente
der kausalen Deutung der empirischen Anschauung und der Un-
mittelbarkeit der Erkenntnis desselben prinzipiell betont werden.
Auf einige sinnespsyohologische Berührungspunkte Schopen-
hauers mit Reid kommen wir zweckmSfsig erst im Zusammen-
hange des folgenden Abschnittes zu sprechen.
Die historischen Grundlagen der speziellen Aus-
gestaltung der Lehre Schopenhauers von der
empirischen Anschauung.
Im aUgemeinen.
Die Konzeption der Grundgedanken Schopenhauers ttber die
empirische Anschauung fiel in eine Zeit, in der die empirisch-
psychologische Forschung in Deutschland in eine gewisse
Stagnation geraten war. Das erste Viertel des 19. Jahrhunderts
war so sehr von Gedanken erfUllt, die eine metaphysische
Digitized by
Google
197
Reaktion gegen die kantisehe Philosophie darstellen, dafs nnr
noch in einer schwachen Unterströmnng die Nachwirkung jener
ersten Welle des erwachenden Interesses an der empirischen
Psychologie sich geltend machte, die im 18. Jahrhundert den
Fortsehritten der Natarwissenschaft ihren mittelbaren oder nn-
mittelbaren Ursprung zu verdanken hatte. Jenes Aufblühen
empirisch-psychologischer Untersuchungen hatte vornehmlich
mit der empiristischen Strömung in der Philosophie, die in
England mit Hobbes einsetzte, im Zusammenhang gestanden.
Unter dem Einflufs der naturwissenschaftlichen Methode eines
Newton hatte sich die vorwiegend auf eine Erklärung des
Zusammenhanges des psychischen Geschehens gerichtete Asso-
ziationspsychologie, insbesondere bei Hartley, Priestley und
Hnme entwickelt. In Reaktion dagegen, besonders gegen
letzteren, war die schottische Schule, an ihrer Spitze Thomas
Reid, mehr nach einer beschreibenden Methode verfahren. Jene
Richtung hatte sieh in Frankreich im Sensualismus, besonders
bei Condillac fortgebildet, diese im sogenannten Spiritualismus
eines Maine de Siran. In Deutschland hatte sich in der Zeit
der Aufklärung eine zwar vorwiegend rationalistisch gerichtete
Psychologie entfaltet, es waren aber auch selbständige Ansätze zu
einer empirischen Psychologie vorhanden, und zwar neben einer
nur unbedeutsamen Unterströmung assoziationspsychologischer
Gedanken, vornehmlich in der nach der beschreibenden Methode
verfahrenden, unabhängig von Reid entstandenen sogenannten
«Erfahrungsseelenlehre', die sich späterhin zur «Vermögens-
theorie*^ fortbildete, dann aber, zum Teil in Reaktion gegen
letztere, aber doch als Erfahrungsseelenlehre im Prinzip bestehen
bleibend, in l'etens einen bedeutenden Vertreter fand. Auch
Kant bewegt sich mit einigen seiner Gedanken in dieser Richtung,
und zwar nicht allein mit seiner Annahme gewisser Vermögen
des Gemütes, sondern auch mit manchen psychologischen Ein-
sichten, z. B. der Unterscheidung von Apprehension, Reproduktion
undRekognition. Auch Fichte scheint noch unter dem Einflufs der
Erfahrungsscelenlehre gestanden zu haben. Wir können es u. a.
an der feinsinnigen Unterscheidung der Bewufstseinsstufen sehen,
deren tatsächliche Unterlagen aus dem Gange seiner Deduktionen
nicht notwendig abfliefsen. Eine ähnliche Unterscheidung von
Bewufstseinsstufen finden wir schon bei Tiedemann. Es bleibt
Digitized by
Google
198
nebenbei bemerkt eine dankenswerte Aufgabe, den nnter-
flielsenden Einflafs der Erfahrangsseelenlohre bei Kant and
der nachkantischen Spekulation, bier anfser bei Fichte anch
in den z. T. psychologisch gerichteten Erörterungen der Schelling-
schen Schnle, so bei Troxler n. a., einer zusammenhängenden
Darstellung zu unterziehen.
Zu den genannten Richtungen und Ansätzen kam eine Reihe
der von der fortschreitenden Physiologie des Nervensystems
unmittelbar ausgebenden Anregungen zu psychologischen Frage-
stellungen. Die gehimanatomischen und neurologischen Ent-
deckungen eines Hall, Dntrochet, Magendie, Bichat, Gabanis,
Flourens, Bemard, Bourdach, Treviranus u. a. erheischten
dringend auch eine Orientierung über ihre psychologische
Bedeutung. Sinnesphysiologische Untersuchungen hatten schon
seit Kepler und später u. a. durch Cheselden und Erasmus
Darwin psychologische Erwägungen angeregt Die Zeit war
allerdings fttr eine exakte Inangriffnahme der bier auftauchen-
den psychophysiologischen Probleme noch nicht reif. Doch
darf gesagt werden, dafs gerade diese latent bleibenden
Anregungen von Seiten der Physiologie des 18. Jahrhunderts
aus es waren, die in erster Linie den Anstofs zu der um die
Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden zweiten, ungleich
kräftigeren Welle des Auflebens der empirisch -psychologischen
Forschung gaben, der bekanntlich erst die Leistungen eines
Johannes Müller, E. H. Weber, Brewster und Helmholtz die
Wege bahnten.
Wie stand nun Schopenhauer zu der mehr ttberlieferten
als aktuellen psychologischen Problemlage seiner Zeit, ins-
besondere in seiner Lehre von der empirischen Anschauung?
Fttr die Grundgedanken dieser Lehre fanden wir in erster
Linie Kant, dann Schulze und vielleicht auch Fichte wirksam.
In der zweiten Entwicklungsperiode dieser Lehre trat, wie wir
sahen, Thomas Reid bestätigend hinzu. Fttr die spezielle Aus-
gestaltong und die physiologische Grnndlage der Lehre
Schopenhauers von der empirischen Anschauung aber waren
grundlegend wohl schon Kepler, sicher aber Cheselden, Robert
Smith, Erasmus Darwin und in geringerem Mause Troxler.
Dazu kamen in der zweiten Entwieklungsperiode auch hier
Thomas Reid, ferner Bichat, Gabanis und Flourens.
Digitized by
Google
199
Wir sehen also, dafs ftlr die speziellen Punkte der Lehre
Schopenhauers von der empirischen Anschauung vorwiegend
Physiologen es sind, die ihn fesseln, und zwar die Engländer
Cheselden, Robert Smith und Erasmus Darwin mehr mit sinnes-
physiologisehen, die Franzosen Bichat, Gabanis und Flourens
mehr mit nerven- und gehirnphysiologischen Untersuchungen.
Letzteren, besonders denjenigen von Cabanis, entnimmt Schopen-
hauer vorwiegend Belege fttr seine voluntaristische Deutung
des organischen Lebens; doch kommen sie auch fttr seine
Theorie von der empirischen Anschauung in Betracht. Fern
aber steht Schopenhauer der Assoziationspsychologie, sich hierin
und in dem Fehlen mathematischer Formulierungsversuche
ftlr das psychische Geschehen von Herbart unterscheidend.
Auch die beschreibende Methode der Erfahrungsseelenlebre
befolgt er nicht prinzipiell, wenngleich er in demselben Sinne
wie Kant zu den Vermögenspsychologen zu rechnen ist, er
bedeutsame, auf subtiler Beobachtung beruhende beschreibende
Darstellungen, insbesondere auf ethischem und ästhetischem
Gebiete gegeben und er der die beschreibende Methode bevor-
zugenden Lehre Thomas Reids einige Bestandteile fUr die Ausge-
staltung auch seiner Lehre von der empirischen Anschauung ent-
lehnt hat. In seinen wahmehmnngspsychologischen Erörterungen
aber kommt die besehreibende Methode selbst so wenig zur
Anwendung, dafs dem gänzlieben Mangel derselben gerade die
folgenschweren Irrtümer der Ineinssetznng physiologischer und
psychologischer Tatsachen methodologisch zuzuschreiben sind.
Fttr den älteren Schopenhauer ist noch anzumerken, dafs
er dem bereits einsetzenden neuen Aufschwung der psycho-
logischen Forschung, der in den ihm bekannt werdenden Unter-
saehungen von Johannes MttUer und Helmholtz gegeben war,
ohne hinreichendes Verständnis gegenüberstand.
Von den genannten Autoren werden von Schopenhauer in
den Schriften seiner ersten Entwicklungsperiode folgende Werke
genannt: Von Cheselden wird ein Aufsatz in den Philos. Transact.,
noch nicht aber dessen „Anatomy** genannt Dieses Werk wird
erst in der zweiten Auflage von Sehen und Farben erwähnt >)
Sonst findet es keine Erwähnung. Schopenhauer konnte es aber
") VI, 31.
Digitized by
Google
200
Bchon vorher kennen gelernt haben, nämlich von seinem Lehrer
der Physiologie in Göttingen, Blamenbaeh, her, der eine
Übersetzung der Anatomie besorgen liefs und dazu ein Vorwort
yerfaTste. Auch konnte Schopenhauer es ans Smiths »Optica"
kennen, wo es §§ 133 und 324 genannt wird. Sachliche
Übereinstimmung in einigen heryorstechenden Punkten macht
die Annahme wahrscheinlich, dafs Schopenhauer von jenem
Hauptwerk Gheseldens schon vor 1816 Kenntnis gehabt habe.
Es wird deshalb im folgenden als unmittelbare historische
Grundlage angenommen.
Von Robert Smith wird ein vorwiegend physikalisch
gerichtetes, aber auch psychophysiologisch interessiertes Werk:
.Optics^ aus dem Jahre 1788, deutsch herausgegeben von
Kästner 1755, i) von Erasmus Darwin: „Zoonomie, oder die
Gesetze des organischen Lebens*, 1794-98 englisch, 1795—99
deutsch erschienen,^) und von Troxler werden einige Schriften
aus der ophthalmologischen Bibliothek, herausgegeben von
Himly 1803, 18u4 und 1805, von Schopenhauer herangezogen.
Für die zweite Entwicklungsstufe kommen die bereits oben')
angeführten Werke von Thomas Reid in Betracht Weiter war
von Einflufs Gabanis mit seinem Hauptwerk: „Rapports du
physique au moral*. Dieses lernte Schopenhauer im Jahre 1824
kennen, wie aus einer Aufzeichnung im Quartant^) zu erkennen
ist. Es ist zitiert in der «Theoria colorum physiologica* ^) und
in Sehen und Farben, 2. Aufl.^) Sonst ist keine Schrift von
Gabanis genannt
In die Zeit um das Jahr 1838 fällt die Kenntnis von
Bichats «Recherches physiologiques sur la vie et la mort*, wie
aus einem Briefe Schopenhauers an Jul. Frauenstädt vom
12. Oktober 1852 hervorzugehen scheint, in dem es heifst:
„Mein Zusammentreffen mit Bichat im bekannten Resultat,
nachdem wir auf so höchst verschiedenen Wegen dahingelangt
1) m, 75.
') Die Schrift seines Sohnes Robert Waring Darwin „New experiments
on the ocular spectra of light and coloors* 1786 (sieh die bibliogr. Anmerk.
von Qrisebach VI, 378) kommt für unsere Zwecke nicht in Betracht.
•) Sieh S. 191 dieser Schrift
*) Arthur Schopenbaners Nachlafs Nr. 13. Quartant S. 82.
») VI, 120. •) VI, 23.
Digitized by
Google
201
Bind, ist eine der sehönsten Bestätigungen meiner Wahrheit
und war mir, als ich es erst 1838 entdeckte, eine nnendliche
Herzstärknng.* ^) Genannt ist Bichat schon in dem Manaskript-
bach Schopenhauers, das Adversaria genannt ist und aus dem
Jahre 1828 stammt^) Genanntes Werk wird von Schopenhauer
zweimal zitiert in Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band,
und zwar schon in der ersten Auflage dieses Bandes.')
Flourens wird zuerst erwähnt in dem Exordinm zur
Dianoiologie,^) das nach Mockrauers Untersuchung^) nach 1823,
sogar wohl erst fttr das Wintersemester 1826/27 anzusetzen ist In
diesem Exordium wird ein von Cuvier yerfafster Bericht über die
Untersuchungen Flourens' genannt, welcher in den ,Memoires
de Tacademie des sciences*" der Jahre 1821 und 1822 steht. Da
fttr diesen Bericht als Erscheinungsjahr 1826 angegeben wird,
so steht zu vermuten, dafs der von Mockrauer angegebene
spätere Termin fttr das Erscheinungsjahr des Exordiums der
richtige ist. Die diesen M^moires entnommene und im ge-
nannten Exordium angeftthrte Lehre Flourens' über das Klein-
hirn findet sich in der Welt als Wille und Vorstellung II. Band.«)
Sodann wird Flourens erwähnt in dem Manuskriptbuch, das
AdYcrsaria^) betitelt ist, und zwar wird hier wieder der schon
genannte Aufsatz von Cuvier ttber Flourens und ein Akademie-
bericht von Cuvier aus dem Jahre 1823 genannt : M^moires de
FAcad^mie des sciences, Vol. 6 1823. Hist de l'acad. p. Cuvier
p. CXXX.®) Flourens wird ferner erwähnt in der zweiten Auflage
des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung®) und der
ersten Auflage des zweiten Bandes ^o) vom Jahre 1844. Hier
werden genannt: Eine von Flourens verfafste Rezension der
Historie naturelle von Fr. Cuvier, die sich im Septemberheft
>) £d. Grisebach, Schopenhauers Briefe, S. 222. — Vgl. Ed. Grisebach,
Schopenhauer: Geschichte seines Lebens, S. 189f
>) Arthur Schopenhauers Nachlafs Nr. 7, Adversaria, S. 4.
") H, 288 u. 305.
*) Grisebach, Schopenhauers Nachlals 2, S, 54.
') Arthur Schopenhauers sämtliche Werke. Herausgegeben von Paul
Deusseu. IX. Band. Vorrede der Herausgeber S. XIX.
•) n, 287.
Ö Arthur Schopenhauers Nachlals Nr. 7, Advorsarla, angefangen
März 1828. Berlin, p. 151 f., p. 211 und p. 221.
•) Ebenda p. 221. •) I, 652. ») n, 237, 288, 296, 467.
Digitized by
Google
202
des Journal des sayants von 1839 befindet nnd mit einigen
Zasätzen versehen nnter dem Titel R^snmä analytiqae des
observations de Fr. Cuvier snr Tinstinct et I'intelligenee des
animanx im Jahre 1841 gesondert erschienen isi^) Ferner
wird im zweiten Bande der Welt als Wille und Vorstellang
aus dem Jahre 1844 ein Aufsatz Flonrens' genannt, der
in den Annales des seienees natorelles par Andonio et
Brongniard 1828 Vol. 13 steht.^) Eine andere Stelle, an der
Flonrens noch in dem zweiten Band der Welt als Wille und
Vorstellang genannt wird, ist in der späteren Auflage hinzn-
gefttgt worden. Aufser den genannten Schriften von Flonrens
führt Schopenhaner überhaupt nur noch eine an: Buffon.
Historie de ses travaux et de ses idees par Flonrens 1844. s)
Es scheint aber angenommen werden zu müssen, dafs
Schopenhauer vor 1844 auch noch andere als die bisher ange-
führten von ihm selbst genannten Schriften von Flonrens kennen
gelernt habe. Dafür sprechen folgende Umstände: Die Stelle
in dem zweiten Bande der Welt als Wille und Vorstellang ans
dem Jahre 1844/) an der Schopenhauer den Versuch Flourens^
mit einer Henne, der das Grofshirn eskarpiert wurde, erwähnt,
ist in keiner der bisher genannten Schriften von Flourens
enthalten. In dem Aufsatz in den «Annales des seienees
naturelles* sind wohl Versuche mit Hennen besprochen, aber
nicht der oben angeführte. Dieser ist vielmehr in den „Becher-
ches expärimentales sur les propriötäs et les fonctions du systöme
nerveux, dans les animaux vert^bräs.* Paris 1. Auflage 1824,
2. Auflage 1842, besprochen. Dieses Werk von Flourens wird
nun zwar auch in den späteren Schriften Schopenhauers
nirgends erwähnt; es findet sich aber in zweiter Auflage in
der von ihm hinterlassenen Bibliothek.^) Dieses, bis zu dem
erwähnten Zeitpunkte bedeutendste Werk Flourens' ist in den
„Annales des seienees naturelles^ des öfteren zitiert Im Hinblick
auf die Bedeutung, die Schopenhauer den Untersuchungen von
Flourens zuschreibt, darf wohl vermutet werden, dafs er, nach-
dem er von diesem Werke Kunde erhalten, sich mit dem Inhalte
desselben bekannt gemacht habe. In diesem Werke ist die
0 II, 467, auch III, 248. «) H, 20«. ») V, 174. *) II, 3lOf,
') Grisebacb, .Scbopenhauerita«''.
Digitized by
Google
203
von Sehopenhaner ans Flonrens' Sehrift „De la vie et de
rintelligence'' zitierte Stelle schon fast wörtlieb enthalten. Dafs
Schopenhauer dieses Werk statt jenes gröfsern zitiert, kann
daranf zurückgeführt werden, dafs die genannte Lehre in ihm
reicher entwickelt ist als in jenem. Das Zitat der Schrift „De
la vie et de Tintelligence'' 1. Auflage 1857, 2. Anflage 1859
warde von Grisebach dem Handexemplar Schopenhauers ent-
nommen und der von ihm besorgten dritten Auflage des Satzes
vom Grunde hinzngefUgtJ) Ebenso verhält es sich mit einer
Anmerkung im ersten Bande der Parerga und Paralipomena.^)
Diese Schrift von Flourens kann schon ihres späten Er-
scheinungsjahres wegen für die Entwicklung der Lehre
Schopenhauers vor 1844 nicht in Betracht kommen.
Für den Zweck unserer Untersuchung sei festgestellt, dafs
der Einflufs Flourens' auf Schopenhauer zwar noch nicht ftlr
die erste Entwicklungsperiode Schopenhauers geltend gemacht
werden darf, dafs Schopenhauer aber, wie aus den Adversaria
hervorgeht, die von Flourens gemachte Unterscheidung zwischen
Irritabilität und Sensibilität schon von 1826 an bekannt war.
Die physiologischeii Annahmen.
Es wird sich, um den zu behandelnden Stoff nicht zu sehr
zu zersplittern, als zweckmäfsig erweisen, nicht die in Betracht
kommenden Autoren jeden für sich zu behandeln, was auch
schon wegen des Mangels an innerem Zusammenhang des in
Frage kommenden Tatsachenmaterials mit ihren jeweiligen
allgemeinen theoretischen Ansichten kaum von Gewinn sein
dürfte, sondern die speziellen Punkte in der Ausgestaltung
der Lehre Schopenhauers von der empirischen Anschauung
jeden für sich vorzunehmen und zuzusehen, woher er sie ge-
nommen hat, da er selbständige Prüfungen darüber nicht vor-
genommen hat. Wir wollen also zuerst die physiologische
Annahme der Lokalisation der Sinnesempfindungen in den
Nervenenden und dann die vier Data, die der Verstand beim
Übergange von der Sinnesempfindung zu ihrer Ursache im Raum
benutzt, nebst dem Umstände, dafs er dazu eines Erlernens
bedarf, auf ihre historischen Grundlagen hin untersuchen.
») III, 90 f. «) IV, 88.
Digitized by VjOOQ IC
204
Bei der eingehenden Kenntnis, die Schopenhauer von der
griechischen Philosophie besafs, erscheint es nicht unangebracht,
auch auf sie, wenigstens hinsichtlich der Lokalisation der
Empfindungen, kurz einzugehen.
Bei den yorsokratischen Philosophen sind es zwar nicht die
Nervenenden, die für die Lokalisation der Empfindungen in Frage
kommen, da ihnen die Kenntnis der Nerven noch fehlte, sondern
die Sinnesorgane schlechthin. Auch wird nicht deutlieh der
Bewufstseinsgehalt der Empfindungen dorthin gelegt. Vielmehr
heifst es fast durchgängig, dafs die Empfindungen von den
Organen zum Gehirn oder in das Innere des Körpers geleitet
und dort der Seele zugeführt werden, so auch noch bei Plato.
Wir finden aber doch wenigstens den Gedanken vor, dais die
einzelnen Organe dem Hervorbringen der besonderen Sinnes-
qualitäten dienen, so bei Alkmaeon,^) femer in der Abhandlung
IleQl öaQxtov^y bei Empedokles, Demokrit, Anaxagoras, Diogenes
von Apollonia und auch bei Plato.
Etwas ausgeprägter gestaltet sich die Lokalisation der
Empfindungen in den Sinnesorganen bei Aristoteles. Die Seele
wirkt bei ihm, so kann man sagen. Überall im Organismus
mit je einer bestimmten Funktion; sie ist in gewissem Sinne
im ganzen Organismus lokalisiert; ihre Affektionen sind immer
zugleich auch solche des Leibes. So auch verhält es sich mit
der Empfindung im Sinnesorgan. Sie ist, wie Siebeck es aus-
drückt, physiologisch eine Art der Bewegung, eine qualitati?e
Veränderung des empfindenden Organs, wodurch der Eindruck,
modern ausgedrückt, der Seele zu Bewufstsein kommt: Das
Organ ist vorher schon dwafiet empfindend, und diese Mög-
lichkeit geht mit dem Eintreten des Eindrucks in Wirklichkeit
über. «Die Seele verhält sich zum Leibe, wie die Sehkraft
zum Auge."^)
Diese Gedanken des Aristoteles zeigen sowohl in der
Lokalisation der Empfindungen in den Sinnesorganen als auch
insbesondere darin, dafs sie eine metaphysische Grundlage
0 Theopbr. De sena, S. 25, und Stob. flor. IV, 176.
«) Verfasser unbekannt. Sieb Siebeck, „GescWcbte der Psychologie
vor Aristoteles', 1880, S. 105.
») Siebeck, „Aristoteles**, 1899, S. 70f.
Digitized by
Google
205
haben, eine Verwandtschaft mit der Lehrmeinang Schopen-
hauers, insofern nämlich auch hier die Sinnesempfindnngen and
ihre Lokalisation, wenn auch in einem anderen Sinne, meta-
physisch gedeutet werden. Ob Aristoteles hierin anregend auf
Schopenhauer eingewirkt hat, ist nicht mit Bestimmtheit fest-
zustellen.
Die Annahme, dals die Sinnesempfindungen in den Sinnes-
organen lokalisiert seien, scheint in der modernen Wissenschaft
zuerst von Kepler vertreten zu sein. Kepler nimmt an, dals
das Bild auf der Netzhaut, indem es die vom Gehirn herab-
steigenden Nervengeister in Bewegung setzt, unmittelbar die
Gesichtsvorstellungen hervorrufe.
Über Descartes möge hier kurz bemerkt werden, dafs er
die Bewegungsvorgänge, die in den Sinnesorganen ausgelöst
und durch die Nerven, genauer die darin enthaltenen und auch
die Gehimhöhlen erfüllenden Lebensgeister bis zur glandula
pinealis fortgepflanzt und dort als bestimmter Bewegungseffekt
abgesetzt werden, prinzipiell unterscheidet von den Sinnes-
empfindungen, die vermittels der glandula pinealis auf eine hier
nicht näher zu erörternde Weise in der Seele ausgelöst werden. ^)
Bei Descartes also findet eine Lokalisation der Sinnesempfin-
dungen in den Sinnesorganen im Prinzip nicht statt
Beide Gedanken, so können wir also sagen, sowohl der,
dals die Empfindungen unmittelbar in den Sinnesorganen be-
wufst werden, als auch, dafs sie erst im Zentralnervensystem
zum Bewufstsein gelangen, gehören der älteren Überlieferung
und daher dem allgemeinen Wissensbestande der Zeit des
lungeren Schopenhauer an. Für diesen können aber vielleicht
auch einige unmittelbare Quellen aufgewiesen werden.
Von den Autoren, die in der ersten Auflage von Sehen
und Farben, in der die Lokalisation der Sinnesempfindungen
in den Nervenenden schon ausgesprochen wird, genannt werden,
sind Cheselden, Smith, Buffon und Home nicht heranzuziehen,
da bei ihnen die Frage der Lokalisation der Empfindungen
entweder gar nicht berührt wird, oder unbestimmt bleibt.
Dagegen finden wir sie deutlich und in ähnlichem Sinne wie
0 „De sensibus in genere'', d. i. das Kap. IV der „Dioptrik*; cf. «Priu-
cipia PhUos/ IV, 189f.
Digitized by
Google
206
bei Sehopenhaaer beantwortet von Erasmas Darwin in seiner
„Zoonomia*. Hier heifst es, zunäehst im allgemeinen: „Das
Wort Idee ... ist hier blofs f tlr diejenige Kenntnis der änlsereD
Dinge gebraaeht, womit uns nnsere Sinnesorgane ursprünglich
bekannt maehen, und ist definiert als eine Zasammenziehnng
oder Bewegung oder Konfiguration der Fibern, welche die un-
mittelbaren Sinnesorgane aasmaehen. Als synonym mit dem
Worte Idee gilt sinnliehe Bewegung. "" <) .Die tierischen Be-
wegungen oder Konfigurationen unserer Sinnesorgane maeben
unsere Ideen aus.^ ^) Es sei nebenher bemerkt, daf s die Gedanken-
gänge Erasmus Darwins nicht prinzipiell materialistisch gerichtet
sind. Im einzelnen sagt er nooh: .Die Netzhaut und andere
unmittelbare Sinneswerkzenge besitzen Bewegungs vermögen ,
und diese Bewegungen machen unsere Ideen aus.*') .Weder
meehanische Eindrücke, noch chemische Verbindungen des
Lichtes, sondern blofs die tierische Tätigkeit der Netzhaut
macht das Sehen aas.^^}
Sodann ist hier noch Trox 1er zu nennen. Er erklärt:
„Ihren höchsten Oipfel erreicht die Sensibilität da, wo sie,
wirklich Sinn, den leisesten Einflüssen der Auisenwelt sich
entgegenriohtet, weswegen wir denn auch in allen diesen
Organen ein unschätzbares Verzweigen und Verfeinem der
Nerven finden . . . sowie auch alle äulseren Eindrücke hier
zur Konszienz oder Einheit gelangen. Das Organ des Gesichts
wird also als solches in seiner höchsten Potenz da sich kon-
stituieren, wo es selbst zutage bricht . . . Aus dieser Ansicht
folgt nun, dafs der optische Nerv, um so weniger er sich schon
zur Retina entfaltet hat, um so weniger den individuellen Sinn
des Sehens in sich tragen könne ... So vne wir demnach
die feine Netzhaut als Antenne für Farbe und Licht ansehen
müssen, so ist uns der Nerv selbst nur das Assimilationsorgan,
welches durch seine Energie die schon geschaffenen Sensationen
sich unterwirft, festhält und fortpflanzt*») „Alle Strahlen,
welche die Retina treffen, werden hier zum Bilde der Objektivität,
1) „Zoonomia'', Abschn. II, Kap. II, § 7.
«) „ „ III, , m,Einleit.
») r, . ni, , I.
*) , , lU, „ IV, Einlelt.
*) .Ophthal. Bibl.", B. II, St 2, S. 15, 16.
Digitized by
Google
207
Yon welcher sie aasgingen, während der Sehnerv in seiner
ganzen Länge, noch za sehr in sich selbst yerschlossen, als
allgemeiner Empfindangsnerv nichts als die Reflexe, welche von
seinen sehenden Filamenten ausgehen, perzipieren kann. Es
ruht der Sinn in der ganzen inneren, sich dem Aulseren ent-
gegenwölbenden Fläche; und die Strahlen von diesem gehen
nun durch Vermittelung des durch die Siebplatte dringenden
Teils des Sehnerven in den massiven Teil desselben über,
dem wieder, als der reinen Länge, blofs die Fortbildung der
geschehenen Sensationen übertragen werden kann.* <) Die Lehr-
meinung Troxlers in diesem Punkte ist jedoch nicht konsequent
festgehalten. Er führt im Widerspruch zu dem Zitierten an
anderer Stelle, beeinflufst von im Sinne Schellings gehaltenen,
metaphysischen Erwägungen, folgendes aus: „Es ist der Physio-
logie leicht, darzutun, dafs das Auge nur ein Vermittlungsorgan
des Änfseren mit dem Innern ist, welches durch sein eigentüm-
liches Leben die Aufsenwelt mit unserem Geiste so verknüpft,
daij9 die optische Erscheinung, wie sie sich uns darstellt, nicht
etwa aniser uns, wie der blofs sinnliche Mensch wähnt, aber
auch nicht auf der Fläche der Retina, wie der blofs reflek-
tierende Optiker träumt, entsteht, sondern in unserem tiefer
liegenden Innern durch die Einwirkung von aufsen und die
Vermittlung des Auges nach innen erzeugt wird." 3) ,Dafs das
Sehen wirklich eine höhere Funktion ist als die, welche im
Boden des Auges geschieht . . ,''^) .Infolge von all diesem
Vorausgesetzten behaupten wir nun mit Grund: Erstens kein
Auge sieht, und folglich zweitens kein Auge sieht für sich
besonders, und drittens, daher hat die Frage, warum wir mit
zwei Augen nicht doppelt sehen, nur für denjenigen Sinn,
welcher von falschen Hypothesen ausgeht und dadurch zu un-
richtigen Folgerungen geführt wird.*^)
Von den übrigen, in der ersten Auflage von Sehen und
Farben genannten Autoren kommt in dem besprochenen Punkte
keiner mehr in Betracht.
Ein Rückblick auf das Dargelegte ergibt, dais Schopenhauer
in der Annahme der Lokalisation der Sinnesempfindungen in
0 Ebenda B. II, St. 2, S. 17, 18. ') Ebenda B. III, St. 3, S. 7.
*) Ebenda B. III, St 3, S. 8. *) Ebenda B. UI, St. 8, S. 9.
Digitized by
Google
208
den Nervenenden möglicherweise durch verwandte Gedanken
in der griechischen Philosophie, insbesondere bei Aristoteles,
wahrscheinlicher aber, entgegen den im Prinzip deduktiv ge-
richteten Annahmen eines Descartes, durch die mehr empirisch
Aindierten des Zoologen Erasmus Darwin entscheidend bestimmt
worden ist Auch ein Einflufs von Seiten Troxlers wird an-
genommen werden dürfen.
Für die psychologische Wendung aber, dafs mit dem Be-
wufstsein der Sinnesempfindungen zugleich ein BewuTstsein Tom
„unmittelbaren Objekt* gegeben sei, fanden wir bereits bei
G. E. Schulze eine historische Grundlage.
In der zweiten Entwicklnngsperiode Schopenhauers wird die
Lokalisation der Empfindungen in den Nervenenden beibehalten.
Dies mufs einigermafsen auffallend erseheinen, da in einer Reihe
der damals mafsgebenden physiologischen Untersuchungen der
Bewufstseinsgehalt der Empfindungen in der Grofshimrinde
lokalisiert wird, so dafs ihnen gegenüber die ungeprüften
Meinungen einiger anderer sachlich kaum ins Gewicht fallen.
Sehen wir nun zu, welches die Meinungen der über diesen
Punkt sich äufsernden Autoren waren, die bis 1844 auf Schopen-
hauer eingewirkt haben können. Sie mögen in der historischen
Reihenfolge ihrer Hauptwerke zur Sprache gebracht werden.
Thomas Reid nimmt an, dafs «die Bilder auf der Netz-
haut vermöge der Gesetze der Natur die Mittel zum Sehen
sind, aber auf welche Art sie ihre Bestimmung erfüllen, uns
gänzlich unbekannt ist*^ ,Es ist nicht im geringsten wahr-
scheinlich", sagt er, „dafs in den Sehnerven, noch im Gehirn,
irgend ein Abbild oder Gemälde von dem Gegenstande sein
sollte. Und ebenso unwahrscheinlich ist es, dafs die Seele
die Bilder auf de): Netzhaut wahrnehmen sollte. Diese Bilder
sind ebensowenig die Gegenstände unserer Wahrnehmung,
als es Gehirn und Sehnerv sind.^^) ,Wir müssen uns damit
begnügen . . . dafs gewisse Dinge miteinander verknüpft sind
und unveränderlich aufeinander folgen, ohne dals wir fähig
wären, die Kette zu entdecken, die sie aneinanderreiht*' ^) Aus
diesen und anderen Ausführungen ist ersichtlich, dafs die Lokali-
sation der Empfindungen bei Reid unbestimmt bleibt
») A. a. 0. Vol. 1 ^Inquiry« Abscbu. VI, § 12. «) Ebenda und § 21.
Digitized by VjOOQ IC
209
Bei Bichat herrscht die Meinung vor, dafs die Sinnes*
Organe empfinden und das Gehirn die Sensationen perzipiere:
,Die Haut, die Augen, die Obren, die Membrane der Nase,
des Mundes, alle Sohleimhäute bei ihrem Entstehen, die
Nerven usw. empfinden den Eindruck der Körper, die sie
bertthren, und leiten ihn dann zum Gehirn hin, welches das
Hanptzentrum der Sensibilität dieser Tcrschiedenen Organe
isf^^) .Die Sensationen, zuerst verwirrt, zeigen dem Kinde
nur allgemeine Bilder. Das Auge hat nur die Empfindung des
Lichtes, daa Ohr nur die des Tones, das Organ des Geschmacks
nur die der Schmackhafdgkeit, die Nase nur die des Geruches*.^)
Offenbar denkt Bichat, wenn er hier von Sensationen spricht,
an den Bewufstseinsgehalt der Sinnesempfindungen, die er in
die Organe verlegt Bichats Lehre konnte also in diesem Punkte
sehr wohl als Bestätigung der Lehre Schopenhauers gelten,
obgleich die Scheidung von vie animale und vie organique bei
Biehat, die Schopenhauer als der Sache nach mit seiner Scheidung
von Intellekt und Willen Übereinstimmend anspricht, hinsichtlieh
der Einordnung der Empfindungen zu einer Abweichung ftthrt.
Bichat nämlich rechnet dieselben zur vie animale, während vom
Standpunkte Schopenhauers eher erwartet werden mttfste, dafs
sie, weil sie in das Gebiet des Vorstellens nicht hineingehören,
zur vie organique zu zählen seien.
Die physiologischen Annahmen von Cabanis über die
Lokalisation der Sinnesempfindungen mögen aus folgenden Aus-
führungen ersehen werden: .Unmittelbare Erfahrungen ....
haben gelehrt, dafs die Empfindung oder wenigstens ihre Wahr-
nehmung (la Sensation, ou moins sa perception) nicht am
äufseren Ende des Nerven, und in dem Organe vor sich geht,
wo die Ursache, welche die Empfindung bestimmt, unmittelbar
hinwirkt, sondern in denjenigen Vereinigungspunkten, wo alle
Nerven ihren Anfang nehmen, und wo die Eindrücke sich
vereinigen . . . Die Nerven sind es, die empfinden, und im
Gehirn, in dem verlängerten Mark und wahrscheinlich auch in
1) Biohat, „Recherches physiologiqaes aar la vie et la mort'', 4™«.
Edit Paris 1822, S. 107.
*) Ebenda S. 202/03.
PUloioplüiohe Abbandlnngfln. XLII. 14
Digitized by
Google
210
dem Bttckenmark geht die Wahrnehmung vor gicb.*^) Die
Empfindangsfähigkeit der Nerven ist nach Gabanis eine „aen-
sibiiitö Sans Sensation, e*est-ä,dire, sans impressions per^aes".^)
,Da wir blofs eine wahrgenommene Impression (impression
per^ne) Empfindung (sensation) nennen, so gibt es in der Tat
eine sensibilitä sans Sensation/^) „Es gehen also viele Be-
wegungen in der tierischen Oekonomie vor sich, ohne dals
das Ich davon etwas weifs (k Hnsn da moi), wobei denooeh
das Empfindnngsorgan von Einflals ist Man mnfs also die
Nerven als Organe ansehen, welche Impressionen empfaogen
können, die gewisse Bewegungen bestimmen, ohne dafs der Zen-
tralpunkt des Gehirns, wo die Ideen und Willensbestimmungen
sich bilden, diese Bewegungen und Impressionen gewahr wird."^)
Das Wort ,id^e* umfafst bei Cabanis auch die Sensation per^oe.^)
.Mehrere Philosophen und selbst mehrere Physiologen erkennen
die Sensibilität nur dort an, wo das Bevnifstsein der Eindr&eke
stattfindet: Dieses Bewufstsein ist in ihren Augen der aos-
schlielsliche und bestimmte Charakter der Sensibilität Indessen,
nichts widerspricht den wohlverstandenen physiologischen Tat-
sachen mehr; nichts ist unzureichender zur Erklärung der
ideologischen Phänomene." <^) Aus diesen Ausführungen geht
hervor, dafs Cabanis den Bewufstseinsgehalt der Empfindungen
nicht in den Nervenenden, sondern in dem Zentralorgan
lokalisiert In diesem Sinne sind bei Cabanis Wendungen za
interpretieren, wie dafs „die Nerven die Organe der Sensibilität
iseien''. Es findet jedoch bei Cabanis eine reinliche Scheidung
des Psychischen vom Physischen nicht statt und eine Ver-
mischung derselben gibt sich gelegentlich auch in dem Ge-
brauche des Wortes sensibilitö sans Sensation kund, was ans
seinen in anderem Zusammenhange stärker hervortretenden
materialistisch gerichteten Lehrmeinungen verständlich wird.
Die Annahmen von Flourens in diesem Punkte wider-
sprechen denen Schopenhauers gleichfalls, wenngleich sie, wie
wir sehen werden, bei einer geringen Wendung geeignet
^) Cabanis, «Rapports da physique et da moral de rhomme", T. I,
2««. Edit. Paris 1805, S. 64f.
>) Ebenda T. II, S. 338. ') Ebenda T. II, S. 839.
*) Ebenda T. II, S. 339 f. *) Ebenda T. I, S. 74.
«) Ebenda T. U, S. 335.
Digitized by
Google
211
sein können, die Oedapkengänge Sehopenhauers zu stützen.
Floatens bildet die Untersnehangen Galls über die BewnlBtseins-
fnnktion der Grof shirnrinde in bestimmter Weise um and kommt
dabei za folgender Annahme Über die Lokalisation der Sinnes-
empfindangen: „Die intellektaellen and perzeptiven Fähigkeiten
haben ihren Sitz in den Gehimlappen, die Koordination der
Ortsbewegangen in dem Kleinhirn, die anmittelbare Erregang
der Maskelzasammenziehang in dem Bttckenmark and seinen
Nerven.^ ^) .Endlich", sagt er weiter, .ist nicht nar der Ursprang
der Bewegangen in der Gehimmasse verschieden von dem der
Perzeptionen, sondern selbst der der Sinne nnterscheidet sich
noch von dem der Perzeptionen. Die Wegnahme der Gehirnlappen
z. B. bewirkt aagenblicklich den Verlast des Sehens, aber die
Iris bleibt dabei nicht weniger beweglich, der optische Nerv
erregbar, die Retina sensibel. Die Wegnahme aber der tabercales
bijamaax oder qaadrijamaax zerstört aaf der Stelle die Kon-
traktilität der Iris, die Aktion der Betina and des optischen
Nervs. Im ersten Falle hat man nar die Perzeption des Sehens
(la pereeption de la vae) zerstört, im zweiten zerstört man den
Gesichtssinn (le sens de la vae). Es gibt also als letztes Er-
gebnis der Analyse in der Gehimmasse Organe, die ftlr die
Sinne (les sens), für die Wahrnehmong (la pereeption] and die
Bewegangen (les monvements) bestimmt sind." 2) fjber den
Gegensatz von sens oder Sensation and pereeption erfahren
wir folgendes: .Die Sensation im eigentlichen Sinne, die sen-
sibilit6 Überhaupt, ist verschieden von der pereeption oder
intelligenee .... Wenn man das Gehirn im eigentlichen
Sinne oder die Gehirnlappen bei einem Tier wegnimmt, so
verliert das Tier alle intelligenee and folglich jede pereeption.
Aber mit Beziehang aaf das Aage ist nichts geändert: Die
Objekte fahren fort, sich der Betina einzudrucken, die Iris
bleibt zasammenziehbar, der optische Nerv erregbar. Die Betina
bleibt lichtempfindlich; denn die Iris schliefst and öffnet sich
gemäfs dem Lichte mehr oder weniger lebhaft Also ist das
1) Fiourens, „RachercheB exp^rimentales sar les propri6t6s et les
fonctions du systöme nenreux dans les animanz vert^br^s*', 2. Auflage,
Paris 1842, S. XIII der Einleitung.
>) Ebenda S. XY/XVI der Einleitung.
U*
Digitized by
Google
212
Ange sensibel, und doch sieht das Tier nicht mehr. Die Sensation
ist also nicht die vision; die vision ist nar die perception de
la Sensation.*' 1) Ans diesen Ansftthrangen geht hervor, daä
die sensibilitö der Sinnesorgane bei Flonrens nur die ihnen
eigenen Bewegnngsvorgänge bedeuten, und dafs der Bewofst-
seinsgehalt der Sinnesempfindungen erst der perception eigen
und somit in der Grofshirnrinde lokalisiert ist Selbst die un-
bewnfste sensibilitö ist durch Vorgänge in der Grofshirnrinde
mitbedingt.
Die Übrigen in den späteren Schriften Schopenhauers er-
wähnten Physiologen kommen fbr die Lokalisation der Sinnes-
empfindungen teils nicht in Betracht, teils setzt ihre Kenntnis,
wie z. B. die von Johannes MttUer und Helmholtz, die in den
Schriften von 1854 erwähnt werden, zu einer Zeit ein, wo sie
auf die Bildung der Annahmen Schopenhauer in diesem Punkte
keinen Einfiufs mehr hatten.
Ein Rückblick auf das bisher Ausgeführte ergibt, dafs die
Beibehaltung der Annahme, die Empfindungen seien in den
Nervenenden lokalisiert, in der zweiten Entwicklungsperiode
Schopenhauers entgegen den Lehrmeinungen eines Cabanis und
Flourens erfolgt. Gegenüber dem Gewicht der Untersuchungen
dieser Forscher wird man nicht fehlgehen zu vermuten, dab
Schopenhauers Festhalten an jener Annahme nicht allein in
der Übereinstimmung mit den älteren Anatomen und Physiologen
Erasmus Darwin und Bichat seinen Grund hat, sondern znm
nicht geringen Teil auch darin, dafs vom Standpunkte seiner
Lehre über das Verhältnis von Leib und Wille aus, in den
ihm widersprechenden physiologischen Untersuchungen kein
zwingender Grund für ihn gegeben war, die sensibilit6 sans
Sensation, um mit Gabanis, und die Sensation pas per^ues, um
mit Flourens zu reden, lediglich als Bewegungsvorgänge auf-
zufassen. Flourens lieferte, wenigstens in den Augen Schopen-
hauers, den physiologischen Nachweis dafür, dafs Sensation und
Perzeption zu scheiden seien. Dieser Unterschied ist nun zwar
in Wirklichkeit bei Flourens nicht gleichbedeutend mit dem
der blofsen Empfindung und der objektiven Wahrnehmung bei
Schopenhauer, denn den Sensationen ist bei Flourens, wie wir
<) Ebenda S. 24.
/Google
Digitized by ^
213
sahen, ttberhanpt kein Bewafstseinscharakter eigen, nicht also
blofs kein Bewafstseinscharakter im Sinne Schopenhauers, d. i.
kein Vorstellnngscharakter. Dafs jedoch Schopenhauer Flonrens'
Sensationen mit seinen blofsen Sinnesempfindungen gleichgesetzt
habe, geht daraus hervor, dafs er die Ergebnisse der Unter-
suchungen von Flourens als eine Bestätigung seiner Lehre von
der Intellektualität der Anschauung auffafst. Diese Interpretation
ist vom Standpunkte Schopenhauers aus verständlich. Er kann
nämlich die Sensationen zwar als ein ünbewufstes, d. i. Vor-
stellnngsloses, aber doch zum Willen Gehöriges deuten. Diese
Auffassung findet tatsächlich einen Anhalt in einem Gedanken-
gange von Gabanis. Cabanis lokalisiert, wie oben ausgeführt
wurde, den Bewuf stseinsgehalt der Empfindungen in dem Zentral-
nervensystem und unterscheidet von den bewufsten Empfin-
dungen die sensibilitö sans Sensation in den Sinnesorganen.
Nun führt er ttber diese sensibilitä noch folgendes aus:
„Man mufs das Nervensystem fttr geeignet halten, sich in
mehrere besondere Systeme niederer Art zu teilen, welche alle
ihre Zentren haben, ihren Punkt der besonderen Reaktion, wo
die Eindrücke zusammenlaufen, und von wo Bewegungs-
bestimmungen ausgehen . . . Vielleicht, wie es sich Van Helmont
hinsichtlich der verschiedenen Organe dachte, bildet sich in
jedem System und in jedem Zentrum eine Art von besonderem
Ich (moi partiel) aus, partiell in Hinsicht auf die Eindrücke,
von denen dieses Zentrum der Sammelplatz ist, und auf die
Bewegungen, welche sein System bestimmt und leitet Die
Analogien zeigen, dafs es in der Tat etwas derartiges gibt.
Aber vrir können uns keine deutliche Vorstellung von diesen
volontäs partielles machen, da alle unsere Empfindungen vom
Ich sich ausschliefslich auf das Hauptzentrum beziehen ....
Diese Art der Betrachtung aber könnte uns dazu führen, jedes
Reaktionszentrum als irgend eine Art von moi väritable zu
betrachten." ^) Die Auffassung der blofsen Sensibilität als einer
Art von Streben oder Wollen klingt auch aus folgender Stelle
heraus: «Wir können vermuten, dafs einige Analogie zwischen
1) Cabaois' „Rapports" T. II, S. 340 f. — Vgl. „Revue des deux
mondes" 1. Mai 1880, S. 46, einen Aufsatz von Paul Janet: „Schopenhauer
et la Physiologie fran^aise", in dem die hier besprochene Parallele zwischen
Cabanis and Schopenhauer in diesem Punkte gleichfalls hervorgehoben wird.
Digitized by
Google
214
der animalen Sensibilität, dem Instinkte der Pflanzen, der
(chemisohen) Affinität und der einfachen Schwerkraft bestehe.
Soviel ist gewifs, dafs, der wesentlichen Unterschiede uoge-
achtet, doch alle drei Arten der Phänomene ein gewisses
unmittelbares Streben (tendence directe) der Körper g^eneio-
ander zeigen.^ i) Im Anschlafs daran wirft Cabanis das Problem
aaf, ob dieses Streben nicht eine Art „instinct nniyerselle'
sei, der sich Ton der Schwerkraft an aufwärts bis znletzt zur
Sensibilität und der Intelligenz entwickle.
Schopenhaner hat von diesen Gedanken Cabanis' Kenntnis
genommen und bespricht sie ansftthrlich in seinem Mannskript-
bnch Qnartant ans dem Jahre 1824. Diese Ansftlhningen seien
in dem Zusammenhange, in dem sie stehen, angeführt Es
heifst: „Cabanis' rapports du physique et du moral de Iliomme
(Am Rande: Paris 1805, 2. Auflage, 1824, also nach 19 Jahren!)
ist ein sehr gehaltvolles Buch, dessen Inhalt ein Hauptteil einer
echten Anthropologie ausmachen mttfste, welche bisher vemaeh-
lässigt ist Seine allgemeine Tendenz ist, alle sogenannten
geistigen Äufserungen des Menschen von der physischen Seite
zu betrachten, zu zeigen, welchen Anteil daran erstlich das
Nervensystem überhaupt hat und wie sie alle nur als Änilse-
rnngen desselben physiologisch zu betrachten sind; sodann
welchen Einflnfs das ganze somatische System, die Tempera-
mente, Alter, Geschlecht, Krankheit usw. darauf haben.
Das Wichtigste im Buch ist die eigentliche Physiologie
des Nervensystems. Er unterscheidet die plastischen und
animalischen Nerven, das Hanptzentrum (Gehirn), die unter-
geordneten Zentren (Ganglien, sympathischer Nerv), wie ich
davon das Wesentliche beigeschrieben zu p. 175 meines Werks.
Sein Hauptsatz aber ist dieser: Das Nervensystem hat nicht
blofs ein Ende, sondern zwei, und die Einwirkungen, welche
beide erhalten, haben Einflufs auf unsere Vorstellungen und
unser Wollen. Bisher hat man eigentlich nur das eine Ende
in dieser Hinsicht beachtet, das äufsere, die Nervenenden, welche
an den Sinnesorganen und unter der ganzen äufseren Haut
dem Einfluls von aulisen offenstehen und deren Affektionen die
offenbare Grundlage der Vorstellungen und dadurch der Ent-
») Ebenda T. U, S. 324.
Digitized by
Google
215
schlief sangen sind, wie dieses Locke and Condillac gezeigt haben.
Das andere Ende des Nervensystems sind die Nerven, welche
sich in den Eingeweiden and Gef&fsen aller Art verbreiten,
dort mancherlei Reize vom Blnt, dem eingebrachten Nahrangs-
stoff, den schon bereiteten besonderen Säften nsw. erhalten and
daraof eine angemessene Reaktion ansttben, welche nicht vom
Gehirn, sondern von den antergeordneten Nervenzentris geleitet
wird, wie es diese aach sind, die besagte Reize anmittelbar von
den Nerven empfangen. Allein mittelbar haben diese Reize and
Affektionen der Nervenenden des Innern dennoch Einflafs aaf
das Zentralsystem, and folglich aach die Vorstellangen and Ent-
schUefsnngen, nar dafs sie nicht so dentlieh and klar empfanden
werden, wie die Affektionen der äofseren Nervenenden ....
Anfser den Affektionen, die das Haaptzentrnm des Nerven«
Systems von jenen beiden Enden erhält, entstehen ihm aach
welche in seinem Innern: das Gehirn wirkt aaf sich selbst mit
Spontaneität Er erläatert dies darch die Analogie damit, dafs
der erste Sinneseindrack, den wir anerwartet dorch Aage, Ohr
erhalten, nicht dentlieh perzipiert wird, sondern blofs die Aaf-
merksamkeit weckt; diese mafs nan vom Gehirn ans erst in
einem zweiten Akt aaf das Sinnesorgan gerichtet werden, also
[mofs] ein spontaner Akt vom Zentro nach der Peripherie gehn
(ein absichtliches Sehen, Hören), damit dort der Eindrnck rein
gefühlt werde: Dem analog wirkt das Gehirn aaf sich selbst and
sein ganzes System; dies geschieht bei allem Denken, Phanta-
sieren, Erinnern, im Tranme, geschieht übertrieben in Ekstasen,
im Wahnsinn. — Ich erinnere dabei, dafs diese Operationen des
Gehirns nicht ohne Grand and Zasammenhang vor sich gehen,
sondern entweder nach dem Gesetz der Motivation, oder dem
des Erkenntnisgrandes (letzteres verbessert Schopenhauer in
einer späteren Übersehrift wie folgt: oder dem der Ideen-
assoziation nach dem Erkenntnisgrande der Analogie and der
Gleichzeitigkeit), and dafs der Stoff za denselben vom äafseren
Nervenende geliefert ist, die Yerarbeitang desselben aber wohl
oft vom inneren Nervenende Einflafs erftlhri
Cabanis behauptet, dafs es Sensibilität ohne Empfindung
gibt: nämlich die inneren Funktionen des vegetativen Lebens
stehen unter Leitung des Nervensystems der Ganglien: der Nerv
empfängt im Innern Reize und leitet auf dieselben die Ab-
Digitized by
Google
216
BonderoDgen, Verdauang, ZirknlatioD usw., wählt ans dem Blut
die abzasondernden Teile ans; dies ist efiPet de la sensibilite
k rinsfu dn moi; einmal sagt er aach: seroit-ce nn eommence-
ment de Tolontö par des ehoix constants? Dals ein Wille hier
wirkt, ist richtiger, als dafs es Sensibilität ohne Empfindnog
sei, was fast ein Widersprach ist: das Wahre ist, dafs die
Nervenenden des Innern anter der Leitung ihrer Ganglien bei
jenen Operationen Willensakte üben, so gut wie die Glieder
anter Leitung des Gehirns; dafs aber jene Willensakte onbewafst
geschehen, weil die Nerven dort nicht direkt mit dem Gehirn
kommanizieren, sondern blofs mit den Ganglien, welche vom
Gehirn, wie Reil sagt, isoliert sind, höchstens eine Halbleitong
zu ihm haben, die der Magnetismas zu einer ganzen macht
Dafs die Nerven, welche zu den beweglichen äafseren Gliedern
gehen, nach Gh. Bell and Magendie nnr die vordem, die Leiter
des Willens sind, der diese Glieder bewegt , dies ist doch
wohl anfser Zweifel Nan bedenke man, dafs ebensolche dieser
der Substanz nach homogene Nerven in die Wände aller Gefälse
and Eingeweide laafen and dafs für die dort vor sich gehenden
Operationen kein anderes Agens sichtbar ist, als eben dieses,
welches wir schon als Organ des Willens kennen, dafs femer
anderseits fbr die Gegenwart der Nerven daselbst kein anderer
Zweck za finden ist, nicht einmal der, welcher bei den äafseren
Gliedern nebenbei statthat, Empfindung hervorzubringen, denn
diese fehlt hier (eine Randbemerkung kann hier ttbergangen
werden), so wird es wohl ziemlich gewifs werden, da& eben
auch alle vitalen und vegetativen Verrichtungen
durch den Willen geleitet werden, der die äufseren
Aktionen leitet (am Rande: und der Unterschied blofs in der
Beschaffenheit des Gentri liegt, welches sie vermittelt und darch
welches sie gehen). Sie kommen inzwischen nicht ins Be?nifst-
sein, d. h. das Gehirn (der Ort der Vorstellungen) erhält keine
direkte Notiz von ihnen: dies erklärt sich genugsam daraus,
dafs es untergeordnete Nervenzentra gibt usw. (wie zu p. 175
meines Werks beigeschrieben) . . . Die Affektionen der inneren
Nervenenden scheinen nicht, wie die der äufseren, unmittelbar
auf das Vorstellungsvermögen zu wirken, sondern unmittelbar
auf die Neigungen (also den Willen) und nur mittelbar durch
diese auf die Vorstellungen (am Rande: indem sie sie modi-
Digitized by
Google
217
fizieren, ihnen eine besondere Farbe leihen), während die
Affektionen der äafseren Nervenenden (Sinnesorgane) zunächst
die Vorstellungen veranlassen und diese den Willen bestimmen.
Die Reize der inneren Nervenenden wirken (am Rande: beim
Instinkt und instinktiven Trieben) auf das Gehirn, und von da,
mittels bewulsten Willensaktes, auf die Bewegungen, nicht
aber unmittelbar, sonst wären diese Bewegungen Krämpfe oder
antomatisch . . : .^i)
Aus diesen Ausführungen geht hervor, dais Schopenhauer
Cabanis' sensibilitö sans Sensation in der Tat als etwas Willens-
mäfsiges aufgefafst hat
Zusammenfassend können wir somit feststellen: Ähnlich
wie Flourens scheidet Schopenhauer die Sensibilität von der
Intelligenz und ähnlich wie Gabanis fafst er sie als in das
Gebiet des Willens gehörend auf. Dals letztgenannte Deutung von
ihm nicht streng durchgefnhrt wird, kann hier übersehen werden.
Schopenhauers Kenntnis der Untersuchungen von Cabanis kann
auf 1824, wie aus dem „Quartant", die von Flourens auf 1826
angesetzt werden, wie aus den „Adversaria^ hervorgeht. In
diese Zeit aber fUUt auch die Wandlung in der Auffassung
der blofsen Sionesempfindungen, die wir bei Schopenhauer
nachwiesen. Wir fanden nämlich,^) dafs in den Schriften und
Ausgaben, die nach der ersten Auflage der Welt als Wille und
Vorstellung Band I liegen, deutlieh erkennbar zuerst aus der
zweiten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung vom Jahre
1844, die blofsen Sinnesempfindungen nicht mehr als Vor-
stellungen genommen werden. Die Untersuchungen von Gabanis
und Flourens können somit als Quellen der Anregung fllr diesen
Wandel in der Lehre Schopenhauers von den Sinnesempfindungen
angesehen werden.
Rückblickend gewinnen wir aus der Stellungnahme Schopen-
hauers zu den Lehrmeinungen von Cabanis und Flourens auch
ein besseres Verständnis fttr die Art, wie er sich in seiner ersten
Entwicklungsperiode die Ansichten Erasmus Darwins zurecht-
gelegt haben wird. Die naiv materialistischen Gedanken dieses
Physiologen verlieren, von dem metaphysischen Gesichtspunkte
1) Arthur Schopenhauers Nachlars Nr. 13. Qaartant S. 82—92.
*) Sieh S. 34 dieser Schrift.
Digitized by
Google
218
SehopenhauerB aas geseheo, ihre materialistigche Färbung, in-
sofern die Ineinssetzang von Empfindung and physiologisehem
Vorgange in dem Sinnesorgan für ihn als eine metaphysisch
fandierte fafsbar wird.
Aach die Gedanken Troxlers, der in der Weise der Schelling-
schen Naturphilosophie spekulierend, mit dem Gedanken spielt,
dafs den anatomischen und physiologischen Verhältnissen der
Retina und des Sehnerren gewisse psychologische Tatsachen
des Sehens gleichzusetzen seien, werden, weil sie, Tom Stand-
punkte Schopenhauers aus gesehen, in ihrer metaphysischen
Fundierung leicht umdeutbar erscheinen, auf Schopenhauer einen
besonderen Beiz ausgeübt haben. ^)
Anmerkung.
Die Lokalisation der Sinnesempfindungen in den Sinnes-
organen und die Annahme, dafs wir durch die Sinnesempfindongen
unmittelbar von bestimmten Zuständen in den Sinnesorganen
wissen, findet sich auch bei K. Ch. F. Krause. In den „Vor-
lesungen tlber die Grundwahrheiten der Wissenschaft^*, Göttingen
1829, fahrt er in dem Kapitel von der .leiblich-sinnlichen
Wahrnehmung*" aus, „dafs wir nicht die leiblichen Dinge selbst
als aufser uns seiend wahrnehmen, sondern nur die Sinne
unseres Leibes, und dafs alle einzelnen Empfindungen und
Vorstellungen der Sinne, als da ist Farbe, Umrifs, Ton, Gernch,
Geschmack, Anflihlen usw., eigentlich blofs Bestimmungen,
bestimmte Zustände in unseren Sinnen sind, dafs wir also
eigentlich und ursprünglich nur unsem Leib sinnlich erkennen,
auf Aufsendinge aber nur gemäfs der Grundlage des in unsem
leiblichen Sinnen Wahrgenommenen schliefsen." ^) Wie ersicht-
>) Dafs Schopenhaner sich mit den psychophysiologischen BrOrteraagen
Troxlers eingehend befafst habe, geht auch aus einer in anderem ZusammeD-
hange auftretenden kritischen Bemerkung in den Adversaria, p. 2S4, hervor,
wo er die Unterscheidung, die Troxler zwischen übersinnlichem und unter-
sinnlichem Bewufstsein macht, im Prinzip anerkennt. Auch im Qnsrttnt,
p. 85, steht ein Hinweis darauf.
^) Karl Christian Friedrich Krause, Vorlesungen über die Grund-
wahrheiten der Wissenschaft, zugleich in ihrer Beziehung zu dem Leben.
1. Aufl. Güttingen 1829, S. 34f. 2. Aufl. Prag 1868, S. 40. Ähnlich bo
Vorlesungen über das System der Philosophie, L Band, 2. Aufl. Prag 1869,
S. 76 ff. und S. 234 f. (die 1. Aufl. erschien 1828) und Grundrifs der historischen
Logik. Jena und Leipzig 1803, S. 17f.
Digitized by
Google
219
lieh, ist die Lokalisation der SinnesempfinduDgen in den Sinnes-
organen aneh hier vorausgesetzt Krause kann aber fttr Sobopen-
bauer niebt als historische Voraussetzung angenommen werden;
denn nicht nur läfst sieh die Annahme der Lokalisation der
Sinnesempfindungen in den Sinnesorganen für Schopenhauer
nngezwnngener aus seiner Kenntnis der einseblägigen physio-
logischen Literatur herleiten, sondern es findet sich auch
nirgends bei Schopenhauer ein Hinweis auf K. Chr. Fr. Krause.
Auch den Gedanken, dafs wir ein unmittelbares Bewufstsein von
den Teilen der Sinnesorgane haben, in denen die Empfindungen
erregt werden, fanden wir schon aus den metaphysischen, im
Znsammenhange mit den psychophysiologischen Voraussetzungen
Schopenhauers heraus verständlich, auch wenn wir nicht erst auf
G. E. Schulze verweisen. Auch die Intellektualität der empirischen
Anschauung finden wir im Prinzip bei Krause, der hierin mit
Schopenhauer auf Kant fufst, aber fUr Krause kommen gerade
diejenigen Merkmale der Intellektualität der empirischen An-
schauung, auf die Schopenhauer das meiste Gewicht legt, nämlich
ihr aussehliefslicb kausaler Sinn und die Unmittelbarkeit des
diesen hervorbringenden intellektuellen Prozesses, nicht in Frage;
denn er sagt: „Da aber, um inmittelst der einfachen Wahr-
nehmung des Tastgeftthls auf Gestalten, Stellungen und Be-
wegungen zu schliefsen, der Gedanke vorausgehen muTs, dals
etwas SelbwesenUches, nämlich Körper, da seien, welche jene
einfache Empfindung verursachen, und da diese Körper selbst,
so wenig als die Eigenschaft des Verursachens, und die Not-
wendigkeit, eine Ursache vorauszusetzen, sinnlich empfunden
werden, sondern lediglich die bestimmte Beschaffenheit des
Nerven, so ist offenbar, dafs wir, um durch den Tastsinn Ge-
stalten, Stellungen und Bewegungen kennen zu lernen, noch aufser
den Vorstellungen von Raum, Zeit und Bewegung, auch andere
Begriffe, Urteile und Schlüsse hinzubringen müssen, welche wir
auf die einfache Empfindung unseres Gef tthlsorganes anwenden,
ob selbige gleich durch keinen Sinn, weder im Geiste noch im
Leibe können wahrgenommen werden.'' i) Diesen Begriffen,
^) Krause, Vorlesangen über die Grandwahrheiten der Wissenschaft,
l.Aufl., S. 43. 2. Anfl., S. 49. Ähnlich so Vorlesungen über das System
der PhUosophie, I. Band, 2. Aufl., S. 89 f.
Digitized by
Google
220
Uiieilen und Schlttssen liegt bei Krause letzterdings die Annahme
zugrunde, dafs unsere sinnlichen Anschauungen von unseren
Phantasiebildern darin unterschieden sind, dafs der Verlauf
dieser als von uns verursacht bewnist wird, der jener aber
nicht, ein Gedanke, der nicht dem Schopenhauerschen von dem
unmittelbaren Bewulstsein, das wir von dem Bewirktsein einer
einzelnen Sinnesempfindung haben, analog ist, sondern eher
dem kantischen Gedanken, dafs wir von einer umkehrbares
Folge unserer Vorstellungen eine nicht umkehrbare als durch
eine Ursache aufser uns bedingt unterscheiden.
Ähnlich wie bei Fichte finden wir auch bei Krause eine
Unterscheidung von Bewulstseinsstufen der Wahrnehmung. Ab
Grundtätigkeiten oder Grundfunktionen des Denkens nennt er
nämlich:
1. das Hinschauen, Hinsehen, Hinmerken (Reflektieren, die
Reflexion),
2. das Erschauen oder Erfassen (Perzipieren, Apperzipieren]
und 3. das Weiterbestimmen des Schauens, das Schaubestimmen
(Determinieren). In diesem Schaubestimmen unterscheidet er
weiterhin drei Teiltätigkeiten oder Momente, nämlich
1. die Ableitung (Deduktion),
2. die Selbeigensehauung (Intuition) und
3. die Vereinbildung der Ableitung und Selbeigensohauang
als Schauvereinbildung (Konstruktion), i)
Auch hierin zeigt sich die von der Schopenhauers gänzlich
abweichende Richtung der Gedankenentwicklung Krauses.
Die speziellen psychologischen Annahmen.
Von den vier Momenten, die Schopenhauer in der Tätigkeit
des Verstandes bei der Konstruktion der empirischen Anschauung
unterscheidet, ist das erste, dafs „der Verstand den Eindruck
des Objekts, welcher verkehrt, das Unterste oben, auf die Retina
eintrifft, wieder aufrecht stelle". Dieses Problem beschäftigte
schon Kepler. Er schrieb der Seele die Fähigkeit zu, den
Eindruck, der etwa auf einen unteren Teil der Netzhaut gemacht
werde, sich so vorzustellen, als wenn er von den Strahlen eines
^) Krause, Vorlesungen über das System der Philosophie. I. Band.
S. 371—416.
Digitized by
Google
221
höheren Fanktes der Sache entstände. i) Descartes erläutert
die natttrliche Methode, die Gröfse, Lage nnd Entfernung der
Gegenstände aus der Richtung der Augenachsen zu beurteilen,
indem er sie vergleicht mit der Art, wie ein Blinder von der
Gröfse und Entfernung einer Sache vermittels zweier Stäbe,
selbst von unbekannter Länge, urteilt, wenn seine Hände, worin
er die Stäbe hält, in einer bekannten Entfernung und Lage
gegeneinander sind.^) Gegen diese Ansicht wendet sich Berke-
ley, der zur Erklärung des Problems ein Vergleichen der
Gesichts- und Tastempfindungen in Anspruch nimmt.')
Schopenhauer, der das genannte Moment zuerst in der
Theoria eolorum physiologica erwähnt, wird dasselbe wahr-
scheinlich näherliegenden Quellen entnommen haben. Die
optischen Annahmen Schopenhauers, die diesem Funkte seiner
Lehre zugrunde liegen, gehen in der Hauptsache auf Robert
Smith zurück. Allerdings stimmen dessen psychologische An-
sichten hierbei mit denen Schopenhauers nicht überein, wie
aus folgender Stelle ersichtlich wird: „Wenn es nun die Er-
innerung an ebendieselben, auf ebenderselben Stelle der Netzhaut
erregten Empfindungen sind, die unser Urteil über die Stelle einer
Sache veranlaTst, obwohl wir uns dieser Empfindungen selbst
nicht bewufst sind, ... so werden die verkehrten Bilder auf der
Netzhaut ebensogut dienen, diese Begriffe zu erregen, als wenn
sie aufgerichtet, oder in einer jeden anderen schiefen Lage
stünden. Nur das wird erfordert, dafs Bild und Sache allemal
ihre Stellung zugleich nach einem gewissen beständigen Gesetze
ändern.''^) Eine Hinzuziehung reproduktiver Bedingungen zur
Erklärung des Zustandekommens der empirischen Anschauung
liegt Schopenhauer völlig fern, auch dafs wir uns der Empfin-
dungen auf der Netzhaut nicht bewufst seien, stimmt nicht mit
Schopenhauers Meinung überein.
1) Kepler, „Parallpomena" S. 169; darUber Smith, „Optica" Rem. p. 4
und Helmholtz, „Phys. Opt." § 29, 8. Aufl., S. 224.
') Descartes, „Dioptrice" p. 68 a. „De homine" p. 66; darUber Helm-
holtz, „Phys. Optik" § 29, 3. AufL, S. 224.
•) Berkeley, ,An Essay towards a New Theory of Vision" § 97 f.
*) Bobert Smith, A compleat System of Optics in four books.
Cambridge 17S8, Buch I, Kap. V, § 136. Vollständiger Lehrbegriff der
Optik nach Herrn Robert Smiths Englischen mit Änderungen und Zusätzen
ausgearbeitet von Abraham Gotthelf Kästner. Altenbnrg 1755. S. 43.
Digitized by
Google
Eine auffallende Übereinstimmung aber mit Sehopenhaner
ist bei Cheselden festzustellen. Cheselden gibt folgende Er-
klärung: „Sollten wir nieht, wenn wir untersuchen, warum ein
im Auge umgekehrtes Bild der Seele anders erscheint, die
wahre Ursache in der Betrachtung der Richtungen, in welchen
die Lichtstrahlen auf die Netzhaut fallen, finden, so wie wir,
durch eine gleiche Erfahrung, wenn irgend etwas einen Teil
unseres Körpers trifft, urteilen, ob es von oben oder von unten
kommt?" 1) Besonders bemerkenswert ist hier die Überein-
stimmung mit Schopenhauer in dem Gedanken, dafs ein
Betrachten der Richtung der Sehstrahlen stattfinde. Überein-
stimmend mit Schopenhauer sagt Cheselden auch, dals wir,
„wenn wir auf dem Kopf stehen, den Gegenstand nicht in der-
selben, sondern in der gerade umgekehrten Lage wahrnehmen".^)
Gemeint ist hier, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, d&b
wir auch in dieser besonderen Lage den Gegenstand richtig
beurteilen, indem wir auch dann die Lichtstrahlen verfolgen.
Die Umkehrung des Ketzhautbildes und die Beurteilung
der Richtung, in der die Gegenstände liegen, unterzieht aneh
Thomas Reid einer Erörterung, allerdings ohne eine Erklärung
zu geben. Er sagt: „Es ist augenscheinlich, dafs die Bilder
auf der Netzbaut vermöge der Gesetze der Natur die Mittel
zum Sehen sind, aber auf welche Art sie ihre Bestimmung er-
füllen, ist uns gänzlich unbekannt"^) Dafs er aber geneigt
ist, das Unbekannte als etwas Apriorisches zu bestimmen, klingt
aus folgenden Bemerkungen heraus: «Wir stimmen mit Porter-
field^) ttberein, dafs wir vermöge eines natttrliohen und an-
geborenen Prinzips sichtbare Gegenstände in einer gewissen
Richtung vom Auge sehen." (^) „Der materielle, auf einen
besonderen Punkt der Netzhaut gemachte Eindruck ftthrt ver-
möge der Beschaffenheit unserer Natur die Seele auf zwei
>) W. Cheselden, The Anatomy of tbe Human Body. London 1741.
Buch IV, Kap. IV. W. Cheseldens Anatomie des menschlichen Körpen.
Aus dem Englischen übersetzt von A. F. Wolff nebst einer Vorrede von
Fr. Blumenbach. Göttbgen 1790. S. 288.
>) Ebenda. Übers. S. 289 (vgl. Schopenhauer III, 7S).
•) Reid a. a. 0. Vol. I, S. 166 (Inqniry).
«) Porterfield, ,,0n the eye" B. II, S. 285. Darüber Helmholtx, „Phys.
Opt." § 29, 8. Aufl., S. 224.
») Beld a.a.O. Vol. I, S. 177 (Inquiry).
Digitized by
Google
228
Dinge, nämlieli anf die Farbe and auf die Stellung irgend eines
äofseren Gegenstandes.^ i)
Die spezielle Begründung, die Schopenhauer dafttr, dafs
die Retina die Fähigkeit besitze, die Richtung, in der sie vom
Lichtstrahl getroffen wird, mitzuempfinden, anführt, dafs nämlich
„wahrscheinlich der Lichtstrahl in die Dicke der Retina ein-
dringe^, ist ein Gedanke, der der damals noch geltenden
Emissionstheorie des Lichtes entspringt. Er verband sich viel-
fach mit der Annahme hohler, von Lebensgeistern ansgefttUten
Nervenröhrchen, die in der Retina endigen und in die die
Lichtstrahlen eindringen sollten. Diese Annahme war gegen Ende
des 18. Jahrhunderts wohl unter dem Einflufs von Descartes') in
der Physiologie ziemlieh allgemein geworden. „Die am meisten
angenommene Meinung^, sagt Cheselden, «ist, dafs die Ner?en
hohle Rohrchen seien, die die Lebensgeister enthalten, durch
deren Bewegungen die Empfindungen geleitet würden.' ^) Thomas
Reid n. a. sagt: „Warum können denn die Sehnerven z. B. nicht
aus leeren Röhrchen bestehen, deren Mund weit genug geöffnet
ist, um die Lichtstrahlen, durch die das Gemälde auf der Netz-
haut gebildet wird, aufzunehmen und sie sanft und sicher . . •
in den Sitz der Seele zu bringen?"^) Die Annahme von von
Lebensgeistern ausgefüllten Nervenröhrchen wurde aber haupt-
sächlich durch die Untersuchungen Charles Beils als falsch
erwiesen. Sie findet sich auch nicht mehr bei Schopenhauer.
Dafs Schopenhauer von den Entdeckungen Beils wenigstens
in seinen späteren Jahren Kenntnis erlangte, geht aus folgender
Stelle hervor: „Es ist doch ein hübsches Stück Weges,
welches binnen 200 Jahren Philosophie und Physiologie zu-
rückgelegt haben, von des Cartesius glandula pinealis und
den sie bewegenden oder auch von ihr bewegten spiritibus
animalibus zu den motorischen und sensibeln Rückenmarksnerven
des Charles Bell und den Reflexbewegungen Marshall Hall's.^ ^)
Indes ist der Gedanke des Eindringens der Lichtstrahlen in
die Retina in der Fassung, wie er bei Schopenhauer auftaucht,
bei den bekannteren Physiologen seiner Zeit nicht zu finden.
1) Ebenda S. 146.
>) Desctrtes, „Dioptrik'' Kap. IV, a,; cf. Princip. Philos. lY, 189.
^ Cheselden, „Anatomy" Bach III, Kap. XIY. Übers, a. a. 0. S. 239.
*) Reid a. a. 0. Vol I, S. 179 (Inqalry). ») V, 183.
Digitized by
Google
224
Das Zweite, was der Verstand bei seiner Umarbeitang der
EmpfinduDg in Anschaünng leistet, dafs er „das zweimal
Empfundene za einem einfach Angescbanten macht**, ist gleich-
falls Gegenstand eines alten Problems. Schon Galenus, 113—200
n. Chr., machte zur Erklärung des Einfachsehens die Annahme,
dafs sich die Sehnervenfasern im Ghiasma der Sehnerven ver-
bänden. Diese anatomische Hypothese findet bei Descartes
eine andere Gestaltung in der Form, dafs die Zirbeldrttse
der Yereinigungspunkt fttr die doppelten Eindrücke des
rechten und linken Auges und Ohres sei, ohne welchen wir
die Gegenstände statt einfach doppelt wahrnehmen würden.
Der Hypothese des Galenus schlofs sich später Newton an.
Eine zweite Ansicht suchte die Schwierigkeit durch die An-
nahme zu beseitigen, dafs wir immer nur mit einem Ange
auf einmal sähen. Dieser Meinung war Porta. Ihm schlössen
sich Gassendi, Tacqnet, Gall und Du Tours an. Die dritte
Ansicht war die sogenannte Projektionshypothese, wobei das
Einfaehsehen fttr einen Akt unseres Verständnisses der Gesiehts-
empfindungen erklärt wurde. In ihrem Sinne äufserte sieb
fichon Kepler.^) An Keplers Ansicht schlofs sich Porterfield
an, indem er meinte, wir sähen die Objekte nicht doppelt,
weil jedes Auge sie an ihren richtigen Platz verlegt, was später
dann so formuliert wurde, dafs wir sie an den Kreuzungspnnkt
der Visierlinien verlegen.^)
Da Schopenhauer das zweite Moment in der Verstandes-
tätigkeit schon in der ersten Auflage von Sehen und Farben
bespricht, so wird es auf einen fttr diese in Betracht kommenden
Autor zurückzuführen sein. Gheselden bereits führt zur Er-
klärung die Intellektualität dieses Vorganges an: «Das Einfach-
sehen eines Gegenstandes scheint nicht von der Vereinigung
der beiden Sehncrvenstrahlen, noch davon abzuhängen, daä
das Licht auf korrespondierende Nervenfasern auffällt, sondern
von einem auf Erfahrung gegründeten Urteil."')
Bei Robert Smith, dessen Ausführungen über diesen Fnnkt
») Kepler, „Dioptrlce" Propos. LXII.
*) Vorstehendes entnommen aus: Helmholtz' „Pbys. Optik" § 31,
3. Aufl., S. 394.
•) Gheselden, „Anatomy" Buch IV, Kap. IV. Übers, a. a. 0. S. 286.
Digitized by
Google
225
Schopenhauer in der ersten Auflage von Sehen und Farben i) als
die ihm am meisten zusagende kennzeichnet, ist gleichfalls eine
intellektualistisehe Erklärung angelegt; auf ihn ist auch Schopen-
hauers Annahme der pnncta eorrespondentia zurttckzuftthren:
„Die Erfahrung lehrt uns, dafs eine Sache oder ein Punkt
einer Sache einfach erscheint, wenn seine beiden Bilder aut
ttbereinstimmende Punkte der Netzhäute fallen, doppelt aber,
wenn dieses nicht geschieht^ ^) Abweichend aber von Schopen-
hauer sagt Smith, dafs die Kenntnis von den übereinstimmenden
Punkten auf einem Vergleichen des Gesichts mit den Tast-
wahmehmungen beruhe: „Fragt man nun, weswegen die doppelte
Empfindung, wenn man mit beiden Augen sieht, nicht allemal
doppeltes Sehen verursacht, so ist die Antwort, dafs bei dem
ordentlichen Gebrauch unserer Augen, wo beide Bilder auf zu-
sammenstimmende Punkte fallen, die Empfindung des Gefühls,
nach der wir uns allezeit richten, uns gelehrt hat, dafs die
Sache nur einzeln ist^^) Auch die Ausführungen Schopen-
hauers über das Doppeltsehen haben bei Smith ihre hauptsäch-
liche Quelle.
Die metaphysisch fundierte Theorie Troxlers in diesem
Punkte und die physiologische Webers über das Einfachsehen
verwirft Schopenhauer in einer Anmerkung zur ersten Auflage
von Sehen und Farben, die er in der zweiten Auflage dieser
Schrift ausgelassen hat, ausdrücklich.
Das was Home, von dem in der ersten Auflage von Sehen
und Farben ein Aufsatz in den , Philosophical Transact,^ er-
wähnt wird, welcher den Titel „On ihuscular motion' trägt,
über das Schielen und überhaupt das Sehen sagt, ist haupt-
sächlich physiologischer Art und kommt hier kaum in Betracht
Von den Autoren der zweiten Entwicklungsperiode Schopen-
hauers ist in betreff des Einfachsehens nur Th. Beid zu nennen,
der gleichfalls die Annahme von puncta eorrespondentia vertritt,
ohne aber hierfür eine Erklärung zu geben. Zusammen-
fassend sagt Beid: «Aus diesen Phänomenen und aus allen
Versuchen, die ich anzustellen fähig gewesen bin, erhellt es
0 1. Anfl. von Sehen und Farben, S. 18.
«) Smith, „Optica" Buch I, Kap. V, § 137. Übers, a. a. 0. S. 43.
») Smith, „Optica", Buch I, Kap. V. Übers. a.a.O. S. 45, § 137.
Plulofophlaehe Abhandloogen. XLII. 15
Digitized by VjOOQ IC
226
augenscheinlich, dafs bei vollkommen gesunden Aagen die
Mittelpunkte der beiden Netzhäute miteinander korrespondieren
und übereinstimmen, und dafs jeder andere Punkt in der einen
Netzhaut mit demjenigen Punkte der anderen korrespondiert
und übereinstimmt, welcher mit ihm eine ähnliehe Lage bat,
dergestalt, dafs Abbildungen, welche auf die zusammen-
stimmenden Punkte der beiden Netzhäute fallen, nur einen
Gegenstand und sogar dann nur zeigen, wenn deren wirklieh
zwei sind, und Abbildungen, welche auf Punkte der Netzhäute
fallen, die nicht zusammenstimmen, uns zwei sichtliehe Er-
scheinungen zeigen, obgleich nur ein Gegenstand da isi^O
„Dieses Verhältnis und diese Sympathie zwischen den zu-
sammenstimmenden Paukten der beiden Netzhäute ist keine
Hypothese, die ich erfinde, sondern eine allgemeine Tatsache
oder ein Phänomen des Gesichtssinns." 2)
„Das Dritte, wodurch der Verstand die Empfindung in
Anschauung umarbeitet, dals er aus den bisher gewonnenen
blofsen Flächen Körper konstruiert, also die dritte Dimension
hinzufügt*', ist in früheren Untersuchungen über diese Frage
mit der Frage der Bestimmung der Entfernung der gesehenen
Objekte sachlich meist zusammengenommen; Schopenhauers
Annahme dieses dritten Momentes kann auf Th. Beid zurück-
geführt werden. Es ist bei Smith und den andern für die
erste Auflage von Sehen und Farben in Betracht kommenden
Autoren noch nicht deutlich ausgesprochen und yermutlioh eben
deshalb auch in dieser Schrift Schopenhauers noch nicht erwähnt
Bei Th. Reid heilst es: ,'Die sichtbare Figur hat keine Entfernung
vom Auge, keine Wölbung, noch hat sie drei Dimensionen . . .
Aber wenn ich gelernt habe, die Entfernung eines jeden Teiles
dieses Gegenstandes von dem Auge wahrzunehmen, so gibt diese
Perzeption ihm Wölbung und eme sphärische Figur und fügt
den zwei Dimensionen ... die dritte hinzu.* ^)
Die vierte Verstandesoperation, die im Erkennen der Ent-
fernung der Objekte von uns besteht, ist der Sache nach schon
in den älteren Ansichten über die Tiefenwahmehmung enthalten,
») Reid a.a. 0. Vol. I, S. 166 (Inquiry).
<) Ebenda.
») Reid a. a. 0. Vol. I, S. 198 (Inquliy).
Digitized by
Google
227
die sich an die Frage ttber die scheinbar verschiedene Orölse
des Mondes anschlössen, bei Ptolemäns, Alhazen, Roger Baco
und Vitellio. Ptolemäns (150 n. Chr.) sagt schon, dafs die Seele
von der Gröfse der Gegenstände nach einer vorgefafsten
Schätzung ihrer Entfernung urteilt. Diese scheine gröiSser, wenn
viele Gegenstände zwischen dem Auge und der betrachteten
Sache liegen, wie es der Fall ist, wenn die Himmelskörper
nahe beim Horizont sind. An einer anderen Stelle freilich
schreibt er die Vergröfserung einer Brechung der Strahlen
durch die Dünste zu.i)
Kepler sagt ttber die Beurteilung der Entfernung schon,
die Entfernung der beiden Augen sei die Grundlinie, deren
man sich zur Messung der Entfernung der gesehenen Objekte
bediene. Ähnlich so Gassendi, Hobbes und andere, i) Kepler
stellt den Satz auf, dafs, wenn uns die Entfernung eines Gegen-
standes bekannt ist, wir die Grölse desselben dem Gesichts-
winkel, unter dem er erscheint, proportional setzen.
Descartes, der sich im Wesentlichen an Kepler anschliefst,
nimmt für die Bestimmung der Entfernung der Gegenstände in
Anspruch: 1. die verschiedene Form des Auges — und dem-
entsprechend einer gewissen Partie des Gehirns — , je nachdem
die Objekte näher oder entfernter sind, und 2. den Konvergenz-
winkel der beiden Augenachsen. Nach Descartes schätzen wir
die Grölse der Gegenstände aus ihrer Entfernung, verglichen
mit der Gröfse der Bilder, die sie im Grunde des Auges
entwerfen.
Von den für Schopenhauer näherliegenden Autoren wird
die vierte Yerstandesoperation schon in eingehender Weise von
Smith erörtert. Von den vier Data, die Schopenhauer anführt,
macht Smith im wesentlichen nur eins geltend: das Erkennen der
Entfernung aus der scheinbaren Gröfse bekannter Gegenstände:
„Es ist kein Zweifel, dafs wir die Entfernungen der Sachen von-
einander und von uns selbst nach den Begriffen schätzen, die wir
von den Gröfsen der zwischen ihnen und dem Auge liegenden
Sachen haben, auch zuweilen die Annäherung eines Körpers aus
dem Zunehmen seiner scheinbaren Gröfse und umgekehrt . . . Dafs
die Strahlen ans einem gewissen Punkte ausgehen, verursacht
1) Helmholtz, „Phys. Opt." § 30, 3. Aufl., S. 300.
15*
Digitized by
Google
228
noch nicht, dafs die Sache an demselben Ort erscheinen rnttsse.
Aach die Malerknnst nnd die Perspektive zeigen, dafs unsere
sinnlichen Vorstellungen von den Örtem der Sache mit den
Begrififen, die sich der Verstand von den Funkten maeht, Yon
denen die Strahlen ausgehen, gar nicht einerlei sind, und dafs
die Verschiedenheit dieser Begriffe von den yerschiedenen
scheinbaren Gröfsen bekannter Sachen herrühret, die das Ge-
mälde vorstellet ' i) Den optischen Winkel und die mutationes
oculi lehnt Smith als zur Beurteilung der Entfernung unzuläoglich
ausdrücklich ab. Über das, was Schopenhauer Luftperspektive
nennt, spricht er gelegentlich und polemisiert gegen Berkeleys
Annahme der Luftperspektive zur Erklärung der Beurteilung
der Entfernung.
Für die vier Data zu der vierten Verstandestätigkeit weist
Schopenhauer in der ersten Auflage des zweiten Bandes der
Welt als Wille und Vorstellung^) selbst auf Tb. Reid als Quelle
hiu. Bei diesem heifst es: „1. Um Gegenstände in verschiedenen
Entfernungen deutlich zu sehen, mufs die Form des Auges eine
kleine Änderung erfahren . . . Hätten wir kein anderes Mittel
als dieses, um die Entfernung sichtbarer Gegenstände wahr-
zunehmen, so würde der entlegenste nicht über zwanzig oder
dreifsig Fufs (bei Schopenhauer 7 Zoll bis 16 Fufs) vom Auge
entfernt sein . . .
2. Um beide Augen auf einen Gegenstand zu richten, müssen
die optischen Achsen, je nachdem der Gegenstand näher oder
entfernter ist, mehr oder weniger gegeneinander hinübergebogen
sein . . . Aber auch das hat seine Grenzen (von Sehopenhaner
auf 200 Fufs veranschlagt), über welche hinaus es von keinem
Nutzen sein kann.')
3. Die Farben der Gegenstände, je nachdem diese mehr
entfernt sind, werden schwächer und matter und sind mehr von
dem Azur der zwischen uns und ihnen liegenden Atmosphäre
tiberdeckt.*)
4. Wir nehmen öfters die Entfernung von Gegenstönden
vermittels dazwischenkommender oder daranstolisender Gegen-
>) Smith, „Opiics" Buch I, Kap. V, § 138. Übers. a.a.O. S. 46fl
«) II, 84 f.
') Beid a. a. 0. Vol. I, S. 189f. (Inqniry). «) Ebenda S. 190.
Digitized by
Google
229
stände wahr, deren Entfernung oder Grölse uns Bonst schon be-
kannt isi^)
5. Noch ein anderes Mittel, durch welches wir die Ent-
fernung sichtbarer Gegenstände wahrnehmen können, ist die
Verminderung ihrer sichtbaren oder scheinbaren Gröfse/'^)
Der fünfte der von Keid angeführten Punkte ist von
Schopenhauer nicht als ein besonderer angeführt Man kann
annehmen, dafs er ihn, wenn nicht deutlich ausgesprochen, so
doch sachlich mit dem vierten Punkte zusammengenommen hat.
Die Theorie von der Akkomodation der Linse führt Schopen-
hauer auf Kepler zurück. Ferner weist er auf A. Huecks Ab-
handlung „Die Bewegung der Kiystallinse', 1841, bin. In betreff
der Luftperspektiye nennt Schopenhauer auch Goethes „Farben-
lehre" als Bestätigung.
Das was Schopenhauer über die Perspektive sagt, geht
z. T. auf R. Smith zurück. Die Lehre von den mutationes oculi wird
eingehender als von Reid in dem von Schopenhauer zitierten
Aufsatz von Henry Home in den «Philos. Transact', der den
Titel führt: „On muscular motions of the eyes", behandelt
Das, was Schopenhauer über die Data sagt, die bei der Kon-
struktion der empirischen Anschauung die Tastwahrnehmungen
liefern, führt im wesentlichen auf die Sensualphilosophie des
18. Jahrhunderts und z. T. schon auf Locke zurück. Eine un-
mittelbare Quelle ist in Th. Reids «Inqniry* gegeben, wo es
heilst: „Die Perzeption, welche ich durch das Gefühl von der
Unebenheit oder Glattheit der Körper, von ihrer Ausdehnung,
Figur und Bewegung habe, ist nicht erworben, sondern ich
habe sie von Natur.^ s) Schopenhauer sagt entsprechend: «Das
Getast liefert ganz unmittelbar die Data zur Erkenntnis der
Gröfse, Gestalt, Härte, Weiche, Trockenheit, Nässe, Glätte,
Temperatur usw.'^) Für die Beihilfen, die zu den Tastwahr-
nehmungen teils Gestalt, Beweglichkeit und Stellung der Arme,
Hände und Finger liefern, ist es mir nicht gelungen, eine un-
mittelbare Quelle zu finden, obgleich das Vorhandensein einer
solchen wahrscheinlich ist. Für die Beihilfe, die die Muskelkraft
0 Ebenda S. 192. *) Ebenda S. 192.
») Reid a.a.O. Vol. I, S. 184 (Inquiry)j ähnlich so S. 188.
*) in, 69.
Digitized by
Google
230
liefert, scheint eine unmittelbare Quelle in Erasmas Darwins
«Zoonomia'^ gegeben zn sein: „Das Organ des Geftthls*, heifst
es hier, „ist eigentlich der Sinn des Dmcks, aber die Mnskel-
fibern selbst machen das Sinnesorgan ans, welches die Aus-
dehnung empfindet Der Sinn des Drucks ist immer mit den
Ideen von der Solidität und Figur der Gegenstände begleitet;
keines von beiden begleitet unsere Perzeption der Ausdehnung.' >}
Die Frage, ob der Verstand die Ausübung seiner Funktion
erst erlernen mttsse, im besonderen, ob die Kenntnis der Aus-
messungen des Gesichtsfeldes erworben sei, wurde schon von
Locke ins Auge gefafst und bejaht Der Gedanke, dafs die
empirische Anschauung erlernt werde, wurde von fast allen
Physiologen und Psychologen des 18. Jahrhunderts erörtert, so
auch von Robert Smith,^) Thomas Reid,') Bichat«) und Cabanis.^)
Dem englischen Empirismus entsprungen, einseitig weitergebildet
durch den französischen Sensualismus, flofs dieser Gedanke in
Deutschland zusammen mit rationalen Gedanken, und in dieser
Verbindung treffen wir ihn auch bei Schopenhauer an.
Ein Rückblick auf unsere Ausführungen lälst erkennen,
dafs die Annahmen Schopenhauers über die speziellen Be-
dingungen des Zustandekommens der empirischen Anschauung
in fast allen Details bei den von Schopenhauer genannten
Autoren ihre historische Grundlage haben.
Für die erste Entwicklungsperiode Schopenhauers, also
hier bis zur ersten Auflage von Sehen und Farben, fanden wir,
1) Erasmas Darwin, „Zoonomia or the laws of Organic life'S 1794—98.
Band I, Abt 1, Abschn. XIV, Kap. VIL „Zoonomie oder Gesetze des
organischen Lebens** yon Erasmus Darwin. Aus dem Englischen fibersetst
und mit einigen Anmerknngen begleitet yon J. D. Brandis. Hannover
1795-99. I, 1. S.223.
*) Smith, „Optica" Bach I, Kap. V, § 135. Übers, a. a. 0. S. 41 f.
•) Reid a.a.O. Voll, S. 182 f.
4) Bichat, „Recherches physiologiqnes sur la yie et la mort*' S. 202f.
Panl Janet vertritt in seinem Aufsatze „Schopenhauer et la Physiologie
fran^ise" die Ansicht, dafs Bichat der erste sei, der das Gesetz formuliert
habe, dafs die Gewohnheit ihre Macht an den animalen Funktionen geltend
mache, während ihr Einflufs auf die organischen Funktionen fast gleich
Null sei. Der Aufsatz von Panl Jannet ist erschienen in der „Revue dea
deux mondes" 1. Mai 1880, S. 46.
«) Cabanis, „Rapports" T. I, S. 9 u. a. m.
Digitized by
Google
231
dals die Lokalisation der Empfiiidnngen in den Sinnesorganen
bereits bei Aristoteles nnd weiterhin bei Kepler gegeben ist,
der aber fttr diesen Punkt von Schopenhauer noch nieht
erwähnt wird. Unter den von ihm genannten Quellen fanden
wir diesen Gedanken von Erasmus Darwin und in gewissem
Sinne auch von Troxler vertreten.
Das Einfachsehen, das vor den vier in den späteren
Schriften Schopenhauers genannten speziellen Funktionen in
der ersten Entwicklungsperiode allein in Betracht kommt, ist
gleichfalls schon bei Kepler angelegt Von den Schopenhauer
näherstehenden Autoren fanden wir es bei Cheselden und Smith.
Das in der Theoria colorum hinzukommende Moment des
Aufreehtsehens, gleichfalls schon von Kepler berührt, wird für
Schopenhauer in erster Linie auf Cheselden, vielleicht auch
schon auf Thomas Reid zurückzuführen sein. Letzteres ist nicht
ganz wahrscheinlich, da Reid hier zwar schon genannt, eine
eingehende Berücksichtigung seiner Theorie aber vermutlich
hier schon zu der weiteren Ausgestaltung geführt haben würde,
die die Lehrmeinung Schopenhauers mit ausdrücklicher Bezug-
nahme auf Reid in den späteren Schriften genommen hat.
Auffallend ist, dafs Schopenhauer einen Gedanken von Robert
Smith, der schon von Berkeley entwickelt wurde, dafs wir uns der
Empfindungen auf der Netzhaut selbst nicht bewufst seien, nicht
beachtet hat Fast möchte man vermuten, dafs er diesen Ge-
danken zufolge seiner metaphysisch eingestellten psychophysio-
logischen Betrachtungsweise absichtlich gemieden habe.
In den späteren Schriften Schopenhauers erwies sich der Ein-
fluls der französischen Physiologen Bichat, Cabanis und Flourens
und der Thomas Reids als bedeutsam. Die Lokalisation der
Empfindungen in den Sinnesorganen findet bei Bichat, die
Trennung von Empfindung nnd Vorstellung wahrscheinlich in
den in der Weise Schopenhauers aufgefafsten Lehren von
Cabanis und Flourens eine Bestätigung.
Für die weitere Ausgestaltung der Theorie von der em-
pirischen Anschauung fanden wir Thomas Reid als die Haupt-
qnelle.
Anmerkung.
Einige Bemerkungen seien noch angebracht über Schopen-
hauers Verhältnis zu Berkeley. Der Name Berkeleys wird
Digitized by
Google
232
Bchon in Welt als Wille and Vorstellnng, Band 1, 1819,^) genannt
nnd dessen metaphysische Lehre einer Kritik unterzogen. Merk-
würdigerweise ist nun dessen Abhandlung ttber das Sehen: .An
Essay towards a New Theory of Vision', 1709, von Schopenhauer
nirgends erwähnt Gleichwohl ist zu vermuten, dafs Sehopen-
hauer sie wenigstens dem Namen nach gekannt habe: sie ist in
Robert Smiths „Optics''^) und in Erasmus Darwins ,Zoonomia''>)
erwähnt Auch ist sie bei Thomas Reid an verschiedenen Stellen .
genannt (Diese Schrift Berkeleys findet sich nicht in der von
Schopenhauer hinterlassenen Bibliothek.) Es bleibt daher un-
gewils, ob Schopenhauer diese Schrift Berkeleys auch dem
Inhalte nach gekannt habe.
Berkeley beschäftigt sieh in dem «Essay towards a New
Theory of Vision'' n. a. mit dem Problem der Beurteilung der Ent-
fernung. Er wendet sich gegen diejenigen, die die Gröfse des
Winkels, der durch das Sichschneiden der beiden optischen
Achsen gebildet wird, oder die gröfsere oder geringere Divei^nz
der Strahlen, die von einem Punkte aus auf die Papille treffen,
zur Erklärung heranziehen wollen, weil es vollkommen unmög-
lich sei, die verschiedenen Winkel durch das Gesicht wahrzn*
nehmen.^) Zur Beurteilung der Entfernung nimmt er vielmehr
in Anspruch: 1. die Empfindungen, die vom Rollen der Augen
entstehen, je nachdem wir sie auf nähere oder entferntere
Gegenstände richten,^)
2. die mehr oder weniger grofse Verworrenheit der Gesichts-
bilder bei konstant angenommener PupillenOfihung,*)
3. die Empfindangen, die durch die Anstrengung der Augen
entstehen, wenn wir bei Annäherung eines Gegenstandes an
die Augen verhindern wollen, dafs er verworrener werdet
Nebenher erwähnt werden als mittelbar, nämlich zufolge der
schon vorhergegangenen Erfahrungen wirksam, 4. die besondere
») I, 34 und 555.
>) Smitb, „Optica" Buch I, Eap.V, § 135. Übers. a.a. 0. S. 43.
*) Erasmus DarwiD, „Zoonomia", I. Teil, 1. Abt., 14. Abschn., S.Abs.
Übers. a.a.O. S. 212.
*) Berkeley, „An Essay towards a New Theory of Vision", 1732, § 12.
*) Ebenda § 16f.
«) Ebenda §21 f.
') Ebenda § 27 f.
Digitized by
Google
283
Zahl, Gestalt, Beschaffenheit der Teile der gesehenen Dinge. 0
Zu den genannten tritt als 5. ein Vergleichen der Gesichts-
empfindnngen mit den Tastwahmehmungen, das bei ihm für
die ränmliche Anordnung der Gesiehtsempfindnngen von prin-
zipieller Bedentnng ist.')
In dem ersten Punkte stimmen Schopenhauer und Berkeley
überein, mit dem Unterschied allerdings, dals Berkeley eine
mit diesen Empfindnngen verbundene Kenntnis des Winkels
der optischen Achen für ausgeschlossen hält, während Schopen-
hauer eine solche, wenn auch intuitive, nur für den Verstand
vorhandene Kenntnis annimmt Der zweite Punkt dient Berkeley
auch zur Erklärung der Erscheinungen, die Schopenhauer auf
die Luftperspektive zurückführt, so z. B. des Gröfserwerdens
des Mondbildes nach dem Horizont zu. Diese besondere Er-
klärungsweise Berkeleys findet sich bei Schopenhauer nicht,
auch der dritte Punkt nicht, und der vierte nicht in der bei
Berkeley auftretenden Fassung. Der fünfte, von Berkeley in
erster Linie betonte und am weitesten ausgeführte Punkt ist
gleichfalls in seinem wesentlichen Bestände bei Schopenhauer
nicht gegeben. Auch Schopenhauer spricht zwar von einem Ver-
gleichen der Gesichts- und Tastempfindungen, wo er von dem Er-
lernen der Verstandestätigkeit spricht Die Ausführungen Berke-
leys in diesem Punkte unterscheiden sich aber sachlich von denen
Schopenhauers in dem Moment, dafs die Tastwahmehmungen bei
Berkeley das Primäre und die für die Gesiehtswahrnehmungen
notwendig vorhergehende Bedingung sind, während bei Schopen-
hauer das Vergleichen der Gesichts- und Tastempfindungen dem
Vergleichen der Empfindungen eines und desselben Sinnes unter-
einander koordiniert ist; es hat bei ihm für die Baumordnung
nicht die prinzipielle Bedeutung wie bei Berkeley, weil die
Lokalisation der Gesichtsempfindungen in den Baum bei
Schopenhauer das unmittelbare Resultat der Tätigkeit des
Verstandes ist Dies ist einer der Gründe dafür, dafs die
Untersuchung Berkeleys auch sachlich nicht als unmittelbare
historische Grundlage für die spezielle Ausgestaltung der Lehre
Schopenhauers von der empirischen Anschauung zu betrachten
ist Die zweite wesentliche Abweichung ist gegeben in Berkeleys
0 Ebenda § 28. ^) Ebenda § 45 f. u. a. m.
Digitized by
Google
234
BebauptnDg, dafs der optische Winkel der in das Auge ein-
treffenden Strahlen zar Erklärung des Tiefensehens nieht her-
angezogen werden dttrfe, weil dieser Winkel nicht zum Bewolst-
sein komme, eine Einsicht, die der Lehre Schopenhauers, in der
das nicht berücksichtigt wird, entschieden überlegen ist Für
das aber, was Schopenhauer mit Berkeley gemeinsam ht^ fanden
wir bereits in Thomas Reid eine zureichende Quelle, da Sehopen-
hauer für diese Punkte selbst auf Reid hinweist
Zusammenfassnng.
Das Ergebnis unserer historischen Erörterung ist kurz
folgendes:
Die Lehre Schopenhauers von der empirisehen Anschauung
nimmt in ihrem erkenntnistheoretisehen Bestände ihren un-
mittelbaren Ausgang von der Lehre Kants. Die im Prinzip
schon bei Kant vorhandene Intellektualität der empirischen
Anschauung erfährt von Schopenhauer die eigentümliche
Umgestaltung, dafs der Verstand unmittelbar die einzelne
Sinnesempfindung als Wirkung auffasse und von ihr aus zur
Ursache im Baume übergehe. Die Unmittelbarkeit des kausalen
Beziehungsbewufstseins und die Zurückftthrung des Verhältnisses
von Inhärenz und Dependenz auf das von Wirksamkeit über-
haupt und Wirkungsart erwies sich uns als Fortschritt gegen-
über Kant.
Den Gedanken der Unmittelbarkeit der kausalen Bedingt-
heit der Empfindungen fanden wir schon bei Schulze angelegt,
hier auch den Gedanken von dem unmittelbaren Bewuistsein
von dem eigenen Leibe.
Auch Fichtes Ausführungen über die Tatsachen des Be-
wufstseins enthalten, wenn auch im Prinzip anders entwickelte,
so doch dem Resultat nach verwandte Gedanken.
In seiner zweiten Entwicklungsperiode erhält Schopenhaner
für die Intuitivität der Verstandeserkenntnis eine Bestätigung
in der Lehre von Thomas Reid.
Digitized by
Google
285
Die Lokalisation der Sinnesempfindungen in den Sinnes-
organen seheint im wesentlichen von Erasmns Darwin herzu-
rühren. Bei Troxler fanden wir verwandte Gedanken.
Für die Trennung von blofser Sinnesempfindang nnd Vor-
Stellung sieht Schopenhauer in den psychophysiologischen Er-
gebnissen der Untersuchungen von Cabanis und Flourens eine
Bestätigung.
Die spezielle psychologische Ausgestaltung der Lehre von
der empirischen Anschauung fanden wir in fast allen Einzel-
heiten in der ihm bekannten psychophysiologischen Literatur
wurzelnd, in der Hauptsache bei Robert Smith, Cheselden und
Thomas Beid.
Dies macht, historisch betrachtet, die Lehre Schopenhauers
von der empirischen Anschauung nicht minderwertig; denn es
kommt ihm das besondere Verdienst zu, den von anderen gefun-
denen psychophysiologischen Tatsachen durch ihre gemeinsame
Beziehung auf die kausale Funktion des Verstandes einen ein-
heitlichen Zusammenhang gegeben zu haben. Anderseits hat
er gegenflber der allgemein gehaltenen Lehre Kants von der
empirischen Anschauung das Verdienst, diese auf den Boden
der empirischen Forschung zu bringen versucht zu haben.
Digitized by
Google
Anhang.
Das Verhältnis der Lehre Schopenhauers von
der empirischen Anschauung zur Lehre von
y. Helmholtz.
Die schon wiederholt erörterte Frage nach dem AbhäDgig-
keitsyerhältnis der Lehre von v. Helmholtz von der Lehre
Schopenhauers ist in einem wesentlichen Punkte bisher noch
nicht hinreichend geprüft worden, nämlich hinsichtlieh der
Frage, in welchem Sinne ein Gemeinsames in dem Bestände
der Lehren beider von der kausalen Deutung der empirischen
Anschauung angenommen werden darf.
In dem am 27. Februar 1855 anlälslich der Einweihung
des Eantdenkmals zu Königsberg gehaltenen Vortrage von
y. Uelmholtz: Über das Sehen des Menschen, der durch den
Bericht Franenstädts zum Anlafs für die Behauptung Schopen-
hauers wurde, dafs Helmholtz einen wesentlichen Bestandteil
seiner Lehre, nämlich die Behauptung flber die Funktion der
Kausalität in der Wahrnehmung, seinem System entlehnt habe,
spricht Helmholtz im Anschlnfs an eine Darlegung der Lehre
Johannes Mflllers von den spezifischen Sinnesenergieen auch
ttber die erkenntnistheoretischen Folgen, die sich ans dieser
Lehre entwickeln lassen.
Er fUhrt u. a. folgendes ans: „Wenn eine Verbindung
zwischen der Vorstellung eines Körpers von gewissem Aussehen
und gewisser Lage und unseren Sinnesempfindungen entstehen
soll, so mttssen wir doch erst die Vorstellung von solchen
Körpern haben. Wie es aber mit dem Auge ist, so ist es auch
mit den anderen Sinnen; wir nehmep nie die Gegenstände
der Aulsenwelt unmittelbar wahr, sondern wir nehmen nur
Digitized by
Google
237
WirkuDgen dieser Gegenstände auf nnsere Nervenapparate
wahr, and das ist vom ersten Augenblicke unseres Lebens an
so gewesen. Auf welche Weise sind wir denn nun zuerst aus
der Welt der Empfindungen unserer Nerven hinflbergelangt in
die Welt der Wirklichkeit? Offenbar nur durch einen Schlufs;
wir mflssen die Gegenwart äufserer Objekte als Ursache unserer
Nervenerregung voraussetzen; denn es kann keine Wirkung
ohne Ursache sein. Woher vnssen wir, dafs keine Wirkung
ohne Ursache sein kOnne? Ist das ein Erfahrungssatz? Man
hat ihn dafUr ausgeben wollen, aber wie man sieht, brauchen
wir diesen Satz, ehß wir noch irgend eine Kenntnis von den
Dingen der Aufsenwelt haben; wir brauchen ihn, um nur Über-
haupt zu der Erkenntnis zu kommen, dafs es Objekte im
Baume um uns gibt, zwischen denen ein Verhältnis von Ursache
und Wirkung bestehen kann. KOnnen wir ihn aus der inneren
Erfahrung unseres Selbstbewufstseins hernehmen? Nein, denn
die selbstbewufsten Akte unseres Willens und Denkens betrachten
wir gerade als frei; d. h. wir leugnen, dals sie notwendige
Wirkungen ausreichender Ursachen seien. Also führt uns die
Untersuchung der Sinneswahrnehmungen auch noch zu der
schon von Kant gefundenen Erkenntnis, dafs der Satz: „Keine
Wirkung ohne Ursache^, ein vor aller Erfahrung gegebenes
Gesetz unseres Denkens sei.^0 Schopenhauer hat aus diesen
Ausführungen den Sinn der von ihm selbst vertretenen Lehre
herausgelesen, dafs die Apriorität des Kausalgesetzes aus dem
kausalen Verhältnis der blofsen Sinnesempfindung als Wirkung
zu ihrer Ursache im Baume aufser uns abzuleiten sei.^) In
der Tat sind die Ausführungen von v. Helmholtz wohl geeignet,
einen solchen, wie wir finden werden, irrtümlichen Sinn in
sie hineinzulesen; denn der Sinn, in dem hier von einem
Schlüsse auf die Ursache unserer Nervenerregung die Bede ist.
*) Vorträge und Beden von Hermann von Helmholtz, 5. Auflage,
1. Band. Braanschweig 1903. S. 115f.
*) Schopenhauers Briefe, herausgegeben von Eduard Grisebach. Leipzig,
Ph. Reclam. S. 337. Sieh darüber Friedrich Gonrat, Hermann von Helmholtz'
psychologische Anschauungen. Abhandlungen zur Philosophie und ihrer
Geschichte. Herausgegeben von Benno Erdmann. 18. Heft Halle a. d. S.,
Max Niemeyer, 1904; insbesondere Kap. 13: Die Prioritäts- und Plagiats-
fr^e gegenüber Schopenhauer, S. 229 f.
Digitized by
Google
2S8
bleibt innerhalb des Oedankengangea dieses Vortrags dnnkel.
Er unterscheidet sich zwar der Sache nach wesentlich von
denjenigen Schlüssen, die uns von gewissen Sinnesempfindnngen
als Wirkungen anf gewisse durch andere Sinnesempfindungen
uns schon bekannte Körper als die Ursachen jener führen;
diese Schlüsse nämlich haben die Vorstellung Yon Körpern
aulser uns schon zur Voraussetzung, jener Schluls aber soll
allererst auf diese Vorstellung führen. Helmholtz geht aber auf
diesen Unterschied in dem genannten Vortrage nicht näher ein.
Trotzdem aber flielst aus den Ausführungen von v. Helmholtz
nicht notwendig der Sinn, den ihnen Schopenhauer beilegt;
denn es bleibt auch die Deutung mOglich, die der Lehre Kants,
auf die sich Helmholtz beruft, analog ist, dafs wir aus einer
bestimmten Gesetzmälsigkeit in der Folge unserer Empfindungen
auf Grund der empirischen Einsicht, dafs diese Gesetzmäfsigkeit
aus den uns bekannten subjektiven Kausalfaktoren, die sieh in
der willkürlichen Folge unserer Vorstellungen wirksam erweisen,
nicht hinreichend ableitbar sei, auf eine Ursache aulser uns
für diese Gesetzmäfsigkeit schliefsen and uns dadurch die
Vorstellung von einem Körper aufser uns entstehe. Dafs ein
Gedanke in diesem Sinne Helmholtz vorgeschwebt habe, ergibt
sich aus den späteren Ausführungen, in denen er diesen
Gedanken ausgeführt hat Hier, insbesondere in dem im
Jahre 1878 gehaltenen Vortrage: Die Tatsachen in der Wahr-
nehmung entwickelt er im Anschlufs an eine empirische
Ableitung der Raumanschauung auch eine solche des Bewufst-
seins von der Aufsenwelt. Es ist zum Verständnisse dieser Ent-
wicklung nötig die etwas längere Ausführung im Zusammenhange
anzuführen. Er sagt: „Wenn wir . . . fragen, ob es ein gemein-
sames und in unmittelbarer Empfindung wahrnehmbares Kenn-
zeichen gibt, durch welches sich für uns jede auf Gegenstiinde
im Baum bezügliche Wahrnehmung charakterisiert: so finden
wir in der Tat ein solches in dem Umstände, dafs Bewegung
unseres Körpers uns in andere räumliche Beziehungen zu den
wahrgenommenen Objekten setzt und dadurch auch den Ein-
druck, den sie auf uns machen, verändert Der Impuls zur
Bewegung aber, den wir durch Innervation unserer motorischen
Nerven geben, ist etwas unmittelbar Wahrnehmbares. Dafs
wir etwas tun, indem wir einen solchen Impuls geben, fühlen
Digitized by
Google
239
wir. Was wir tan, wissen wir nioht anmittelbar. Dafs wir
die motorisehen Nerven in Erregungszustand versetzen oder
innervieren, dafs deren Reizung auf die Muskeln übergeleitet
wird, diese sieh infolgedessen zusammenziehen und die Glieder
bewegen, lehrt uns erst die Physiologie. Wiederum aber wissen
wir aoch ohne wissensehaftliehes Studium, welehe wahrnehm-
bare Wirkung jeder versehiedenen Innervation folgt, die wir
einzuleiten imstande sind .... Wir wissen von diesen Impulsen
unter keiner anderen Form nnd dureh kein anderes definierbares
Merkmal als dadurch, dafs sie eben die beabsiehtigte beob-
achtbare Wirkung hervorbringen; diese letztere dient also aneh
allein zur Unterscheidung der verschiedenen Impulse in unserem
eigenen Vorstellen.
Wenn wir nun Impulse solcher Art geben (den Blick
wenden, die Hände bewegen, hin- und hergehen), so finden
wir, dafs die gewissen Qualitätenkreisen angehörigen Empfin-
dungen (nämlich die auf räumliche Objekte bezüglichen),
dadurch geändert werden kOnnen ; andere psychische Zustände,
deren wir uns bewufst sind, Erinnerungen, Absichten, Wünsche,
Stimmungen durchaus nicht Dadurch ist in unmittelbarer
Wahrnehmung ein durchgreifender Unterschied zwischen den
ersteren und letzteren gesetzt. Wenn wir also dasjenige Ver-
hältnis, welches wir durch unsere Willensimpnlse unmittelbar
ändern, dessen Art uns übrigens noch ganz nnbekannt sein
könnte, ein räumliches nennen wollen, so treten die Wahr-
nehmungen psychischer Tätigkeiten gar nicht in ein solches
ein; wohl aber müssen alle Empfindungen der äufseren Sinne
anter irgend welcher Art der Innervation vor sich gehen, d. h.
räumlich bestimmt sein. Demnach wird nns der Baum auch
sinnlich erscheinen, behaftet mit den Qualitäten unserer Be-
wegungsempfindungen, als das, durch welches hin wir uns
bewegen, durch welches hin wir blicken kOnnen. Die Raum-
anschauung würde also in diesem Sinne eine subjektive
Anschauungsform sein, wie die Empfindungsqualitäten Rot,
Sttfs, Kalt . . .
Als die notwendige Form der äufseren Anschauung
aber würde der Raum von diesem Standpunkt aus erscheinen,
weil wir eben das, was wir als räumlich bestimmt wahrnehmen,
als Aufsenwelt zusammenfassen . . .
Digitized by
Google
240
Und eine gegebene, vor aller Erfahrung mitge-
braehte Form der Anschanuog würde der Raum sein, insofern
seine Wahrnehmnng an die Möglichkeit motorischer Willens-
impulse geknüpft wäre . . .
Suchen wir uns auf den Standpunkt eines Menschen ohne
alle Erfahrung zurückzuversetzen. Um ohne Baumanschannng
zu beginnen, müssen wir annehmen, dafs ein solcher Mensch
auch die Wirkungen seiner Innervationen nicht weiter kenne,
als insofern er gelernt habe, wie er durch Naehlafs einer ersten
Innervation oder durch Ausführung eines zweiten Gegenimpulses
sich in den Zustand wieder zurückversetzen kOnne, aas dem
er durch den ersten Impuls sich entfernt hat Da dieses gegen-
seitige Sichaufheben verschiedener Innervationen ganz unab-
hängig ist von dem, was dabei wahrgenommen wird, so kann
der Beobachter finden, wie er das zu machen hat, ohne noch
irgend ein Verständnis der Aufsenwelt vorher erlangt zu haben.
Ein solcher Beobachter befinde sich zunächst einmal einer
Umgebung von ruhenden Objekten gegenüber. Dies wird sich
ihm erstens dadurch zu erkennen geben, dals, solange er keinen
motorischen Impuls gibt, seine Empfindungen unvei&ndert
bleiben. Gibt er einen solchen (bewegt er zum Beispiel die
Augen oder die Hände, schreitet er fort), so ändern sich die
Empfindungen; und kehrt er dann durch Nachlals oder den
zugehörigen Gegenimpuls in den früheren Zustand zurück, so
werden sämtliche Empfindungen wieder die früheren.
Nennen wir die ganze Gruppe von Empfindungsaggregaten,
welche während der besprochenen Zeitperiode durch eine gewisse
bestimmte und begrenzte Gruppe von Wiliensimpulsen herbei-
zuführen sind, die zeitweiligen Präsentabilien, dagegen
präsent dasjenige Empfindungsaggregat aus dieser Gruppe,
was gerade zur Perzeption kommt: so ist unser Beobachter
zurzeit an einen gewissen Kreis von Präsentabilien gebunden,
aus dem er aber jedes einzelne in jedem ihm beliebigen Augen-
blicke durch Ausführung der betreffenden Bewegung priisent
machen kann. Dadurch erscheint ihm jedes einzelne aus dieser
Gruppe der Präsentabilien als bestehend in jedem Angen-
blick dieser Zeitperiode. Er hat es beobachtet in jedem einzelnen
Augenblicke, wo er es gewollt hat Die Behauptung, dafs er
es auch in jedem anderen zwischenliegenden Augenblicke würde
Digitized by
Google
241
haben beobachten kOnnen, wo er es gewollt haben wflrde, ist
als ein Indaktionsschlnfs anzusehen, der von jedem Angenblicke
eines gelungenen Versnehes aaf jeden Aagenbliek der betreffenden
Zeitperiode sehleehthin gesogen wird. So wird also die Vorstellang
von einem dauernden Bestehen von Verschiedenem
gleichzeitig nebeneinander gewonnen werden können. Das
«Nebeneinander* ist eine Baumbezeichnung; aber sie ist gerecht-
fertigt, da wir das durch Willensimpnlse geänderte Yerhältnia
als „räumlich^ definiert haben. Bei dem, was da als neben-
einander bestehend gesetzt wird, braucht man noch nicht an
substantielle Dinge zu denken. „Rechts ist es hell, links ist
es dunkel; vorn ist Widerstand, hinten nicht" könnte zum Bei-
spiel auf dieser Erkenntnisstufe gesagt werden, wobei das
Rechts und Links nur Namen für bestimmte Augenbewegungen,
Vorn und Hinten für bestimmte Handbewegungen sind.
Zu anderen Zeiten nun ist der Kreis der Präsentabilien
für dieselbe Gruppe von Willensimpulsen ein anderer geworden.
Dadurch tritt uns dieser Kreis mit dem einzelnen, was er ent-
hält, als ein Gegebenes, ein „objectum'^ entgegen. Es scheiden
sich diejenigen Veränderungen, die wir durch bewufste Willens-
impulse hervorbringen und rückgängig machen können, von
solchen, die nicht Folge von Willensimpulsen sind und durch
solche nicht beseitigt werden können. Die letztere Bestimmung
ist negativ. Fiehtes passender Ausdruck dafür ist, dafs sich
ein „Nicht-Ich" dem »Ich" gegenüber Anerkennung erzwingt*^)
Wir dürfen für unseren Zweck davon absehen, dafs auch
schon der Annahme eines gleichzeitigen Bestehens von Präsen-
tabilien mit bestimmten Präsenten die Voraussetzung eines un-
abhängig von ihrem Präsentsein oder Repräsentsein bestehenden
Wirklichen zugrunde liegt, und dafs selbst der Gedanke einer
Reihe von an einem präsent bleibenden ruhenden Gegenstande
hin- und hergleitenden Bewegungsimpulsen in der Konstanz der
Beziehung der präsenten Elemente ebensowohl ein von den
subjektiven Bedingungen der Sukzession der Willensimpulse
unabhängiges Moment verrät, wie eine der subjektiven Folge der
Willensimpulse nicht parallel gehende Folge von Veränderungen
') Vorträge und Reden von Hermann von Helmboltz, II. Band, S. 223 ff.
Pblloflopbiwhe Abhitndlangen. XLII. ]6
Digitized by
Google
242
der Sinnesempfindangen, es genOgt vielmehr für unsere Zweeke,
darauf hinzuweisen, dafs fttr Helmholtz das entscheidende
empirische Kriterium für die Existenz einer Aufsenwelt in der
Unabhängigkeit gewisser Veränderungen unserer Sinnesempfin-
dungen von einer subjektiv bedingten Folge von Willensimpulsen
gegeben ist, ein Kriterium, das dem von Kant aufgestellten der
Niehtumkehrbarkeit obiektiver Folgen unserer VorBtellungen
analog ist Dies gilt auch dann noch, wenn wir berücksichtigen,
dafs die psychophysiologische Problemstellung Helmholtzens in
der Frage nach dem Zustandekommen einer Vorstellung von
einem aufser uns Wirklichen von der transzendentalen Problem-
stellang Kants in der Frage nach dem Grunde der objektiven
Gültigkeit unserer Erkenntnisse wesentlich verschieden isi^)
Wenn es bereits in der Einleitung zur „Erhaltung der
Kraft" (1848) heilst, dafs wir znr Kenntnis der Gegenstände der
Natur „nur durch die Wirkungen kommen, welche von ihnen
aus auf unsere Sinnesorgane erfolgen, indem wir aus diesen
Wirkungen auf einwirkendes schliefsen",^) so kann auch dieser
Satz zwar leicht zum Anlafs einer Deutung im Sinne der Lehre
Schopenhauers werden, doch ist auch er mühelos vom Stand-
punkt der späteren Ausgestaltung der Lehre Helmholtzens ans
zu verstehen. Nicht, dafs uns die Wirkungen in den Sinnes-
organen als solche bewulst würden, was Helmholtz, wie wir
sehen werden, ablehnt, noch auch, dafs wir diese Wirkungen als
unbewufste Prämissen gleichsam zu einem Schlüsse auf ihre
Ursachen in dem Sinne benutzten, dafs wir ihren Charakter des
Bewirktseins unmittelbar dabei in Anschlag brächten, braucht
notwendig der Sinn dieses Satzes zu sein, sondern so ist er zu
verstehen, dafs wir dasjenige, was sich uns nachträglich bei
einer physikalischen Betrachtungsweise als ein auf unsere
Sinnesorgane Wirkendes darstellt, als ein selbständiges Ursäch-
liches gegenüber den von uns verorsachten Bewegungsimpnlsen
auffassen, welche Selbständigkeit wir bei dem Zustandekommen
unserer Vorstellung von einer Aufsenwelt aus der mit der Folge
0 Sieh darüber Alois Riehl, Hermann von Helmbolts in seinem Ver-
hältniB zu Kant. Kantstudien, IX. Band. Sonderabdruck. Berlin, Bentber
u. Rictiard, 1904, S. 14.
«) H. V. Helmholtz, Wissen scbaftliche Abhandlungen, I. Band, S. 14.
Digitized by
Google
243
ungerer Bewegangsimpalse nicht parallel gehenden Folge in
den Veränderungen der Empfindangen, nicht aber ans dem
Eaasalzuflammenhange zwischen ursächlichem Objekt und
Wirkung in unserem Sinnesorgan erschliefsen.
Keine Spur also zeigt sich bei Helmholtz von dem Gedanken,
der, wenn wir einmal den schopenhauerschen im streng psycho-
logischen Sinne nehmen, schon der einzelnen Sinnesempfindung
ein unmittelbares Bewufstsein ihres Bewirktseins von einer Ur-
sache auTser uns zuschreibt, i) Die Lehre Uelmholtzens yerhält
sich vielmehr zu dieser Annahme von apriorischen Eausalzeichen
der Sinnesempfindungen, so können wir die Annahme Schopen-
hauers kurz kennzeichnen, ganz analog wie etwa seine em-
pirische Raumtbeorie zur Annahme augeborener Lokalzeichen.
Reproduktive Bedingungen sind es vielmehr, die aufser
dem Postulat des Kausalgesetzes als psychologische Bedingungen
für das Zustandekommen der Wahrnehmungen bei Helmholtz
in Betracht kommen: .Wenn sich die gleichartigen Spuren^,
sagt er, .welche oft wiederholte Wahrnehmungen in unserem
Gedächtnisse zurücklassen, verstärken: so ist es gerade das
Gesetzmäfsige, was sich am regelmäfsigsten gleichartig wieder-
holt, während das zufällig Wechselnde verwischt wird."^)
Dafs hierbei die Gültigkeit des Kausalgesetzes zur Voraus-
setzung diene, bleibt auch für die späteren Schriften Helmholtzens
bestehen. Inwiefern seine Auffassung von der Geltung des
>) Dies wurde aufser von Schopenbauer und seinen Schülern Frauen-
Btädt und Becker neuerdings u. a. auch übersehen von Jobann Czermak,
der in seinem Aufsatze «Über Schopenbaners Tbeorie der Farbe*, Sitzungs-
berichte der E. K. Akademie der Wissenschaften zu Wien, 62. Band,
II. Abteilung, Jahrgang 1870, Heft VI bis X, S. 397 die Bemerkung macht,
dab die moderne Physiologie der Sinne in ihrer Theorie dos gegenständ-
lichen Sehens und der Farbe mit den Anschauungen Schopenhauers über-
einstimme, was aber hinsichtlich des gegenständlichen Sehens, wie wir
fanden, einer Einschränkung bedarf, durch die freilich der von Czermak
angestrebte Nachweis der Selbständigkeit der physiologischen Forscher
nur noch bekräftigt wird; ferner wurde es übersehen von Johann Carl
Friedrich Zöllner, „Über die Natur der Kometen", 3. Aufl., Leipzig 18S3,
S. 189 f., von Paul Schultz, „Arthur Schopenhauers Abhandlung Über das
Sehen und die Farben", Archiv fllr Physiologie, herausg. von Engelmann,
1899, Supplementband S. 515f., und von Amoldt Kowalcwski, „Arthur
Schopenhauer und seine Weltanschauung", Halle a. d. S. 190S, S. 65 f.
') Vorträge und Beden von Hermann v. Helmholtz, II. Band, S. 232.
16*
Digitized by
Google
214
Kausalgesetzes hier eine gewisse WandluDg zeigt, indem das
hypothetische Moment jedes Eausalschlasses mehr hervortritt,
ohne dafs doch eine reinliehe Scheidung zwischen Inhalt nnd
Geltung des Kausalgesetzes erreicht wird, näher zu untersuehen,
ist für unseren Zweck nicht erforderlich.
Nur einige besondere Bemerkungen über das Verhältnis
seiner Lehre zu der Schopenhauers sind noch beizufflgen.
Helmholtz setzt die Ursachen aufser uns als von ihrem Vor-
gestelltwerden unabhängig existierend, also als transzendent
voraus. Die Schopenhauer eigentümliche Verdoppelung der
Sinnesempfindung, die ebendieselbe Sinnesempfindung das eine
Mal als Wirkung, das andere Mal als Ursache auffassen läfst
ohne dals damit die Welt als Vorstellung verlassen werde, so
dafs die als Wirkung von der als Ursache aufgefalsten Empfin-
dung nicht anders ihrem Inhalte nach unterschieden werden
kann als dadurch, dafs diese raumzeitlich bezogen ist, jene
aber noch nicht, fällt für Helmholtz gänzlich fort
Auch die Ineinssetznng von Sinnesempfindung nnd
physiologischer Erregung im Sinnesorgan und vollends ein
Wissen um die spezifische Beschaffenheit letzterer sind
für Helmholtz Ungedanken; denn er sagt: «Indem wir
sehen gelernt haben, haben wir eben nur gelernt, die Vor-
stellung eines gewissen Gegenstandes mit gewissen Empfin-
dungen zu verknüpfen, welche wir wahrnehmen. Die Mittel-
glieder, durch welche die Empfindungen zustande kommen,
interessieren uns dabei gar nicht; ohne wissenschaftliche Unter-
suchung lernen wir sie auch gar nicht kennen. Zu diesen
Mittelgliedern gehört auch das optische Bild auf der Netzhaut.
Der Umstand, dafs es auf dem Kopfe steht, und wir die Gegen-
stände doch aufrecht sehen, hat viele Verwunderung und eine
unendliche Menge unnützer Erklärungsversuche hervorgerufen.
Wir haben durch Erfahrung gelernt: Lichtempfindung in ge-
wissen Fasern des Sehnerven bezeichnet helle Gegenstande
oben im Gesichtsfelde, Lichtempfindnng in gewissen anderen
Fasern bezeichnet sie unten. Wo diese Fasern in der Netzhaut,
im Sehnerven liegen, ist dabei ganz einerlei, wenn wir nur
imstande sind, den Eindruck der einen Faser von dem der
andern zu unterscheiden. Dafs es eine Netzhaut und optische
Bilder darauf gebe, weifs ja der natürliche Mensch gar nicht
Digitized by
Google
245
Wie soll ibn da die Lage des optischen Bildes auf der Netz-
Laut irre machen können V'^)
So ist denn ans dem Inhalte der Lehren beider voUant
verständlich, dafs Helmholtz in Schopenhauer keinen Vorgänger
seiner Gedanken über die Tatsachen in der Wahrnehmung, es
sei denn in den Punkten, die er mit Kant gemeinsam hat,
sehen konnte, und dafs er sachlich berechtigt war, in einem
an seinen Vater gerichteten Briefe vom 17. Dezember 1857, im
Anschlufs an eine Erwähnung der Stellungoahme Frauenstädts,
der ihm Abhängigkeit von den Gedanken Schopenhauers
nachgesagt hatte, zu behaupten: „Dabei handelt es sich nur
um Sätze, die im Wesentlichen schon Kant hatte • . .'^ 2)
Der Grund aber, aus dem er an einer Stelle in dem Vor-
trage: Die Tatsachen in der Wahrnehmung Schopenhauer
abweist, ist nicht ganz zutreffend; denn er sagt dort: „Ich
habe später jenen Namen der unbewufsten Schlüsse vermieden,
um der Verwechslung mit der, wie mir scheint, gänzlich un-
klaren und ungerechtfertigten Vorstellung zu entgehen, die
Schopenhauer und seine Nachfolger mit diesem Namen be-
zeichnen; aber offenbar haben wir es hier mit einem elemen-
taren Prozesse zu tun, der allem eigentlich sogenannten Denken
zugrnnde liegt, wenn dabei auch noch die kritische Sichtung
und Vervollständigung der einzelnen Schritte fehlt, wie sie in
der wissenschaftlichen Bildung der Begriffe und Schlüsse ein-
tritt^ 3^ Wir fanden aber, dafs auch bei Schopenhauer der
KausalschlulB auf die Ursache der Empfindung nur im un-
eigentlichen Sinne als Schluls gilt; denn er ist fUr ihn nicht
diskursiv, sondern intuitiv, er bildet die spezifische Erkenntnis-
weise des Verstandes. Schopenhauer sagt ähnlich wie Helm-
holtz, dafs „wir so sehr gewohnt sind von der Empfindung
sogleich zu ihrer Ursache überzugehen, dafs diese sich uns
darstellt, ohne dafs wir die Empfindung, welche hier gleichsam
die Prämissen zu jenem Schlüsse des Verstandes liefert, an
und für sich beachten." *) Dafs aber gerade in diesem Punkte
^) Vortrüge und Reden von Hermann von Helmholtz, I. Band, S. lUf.
*) Leo Koenigsberger, Hermann v. Helmholtz, 1. Band, Brannschweig
1902, S. 285.
*) Vorträge und Reden von Hermann von Helmholtz, IL Band, S. 233.
*) UI, 68.
Digitized by
Google
246
Helmholtz SchopenhaneTS Lehre mifsverstanden hat, beweist
anderseits die Selbständigkeit seiner eigenen GedankeDf&hniDg.i)
In noeh einem anderen Punkte ist Helmholtz ein bedeut-
sames Moment der Lehre Schopenhauers verborgen geblieben,
nämlich in der Lehre von der Materie. Dals Materie und
Substanz gleichbedeutend mit Wirksamkeit sei, liegt Helmholtz
fem, anzunehmen. „Wir haben in unserer Sprache", so heilst
es auch bei ihm, „eine sehr glückliche Bezeichnung fttr dieses,
was hinter dem Wechsel der Erscheinungen stehend auf uns
einwirkt, nämlich: »Das Wirkliche". Hierin ist nur das Wirken
ausgesagt; es fehlt die Nebenbeziehung auf das Bestehen als
Substanz, welche der Begriff des Reellen, d. h. des Sachlichen,
einschliefst." 2) Fast möchte man im Hinblick auf den mit
Schopenhauer') gemeinsamen Hinweis auf den zutreffenden
Sprachgebrauch des Wortes «Wirkliches", in diesen Aus-
führungen Helmholtzens eine versteckte Polemik gegen Schopen-
hauer vermuten.
Zusammenfassend dürfen wir also auch hier, ähnlieh wie
für das Verhältnis Schopenhauers zu Fichte, anerkennen, dals
Kant die gemeinsame Grundlage bildet, von der ans beide
selbständig ihre Gedanken entwickelten.
Wenn aufser Kant für Helmholtz noch andere Philosophen
als historische Grundlagen heranzuziehen sind, so ist es nicht
Schopenhauer, sondern sind es vor allem Mill und Fichte, jener
in der Theorie der Induktionsschlüsse, dieser in mehreren
Punkten, in denen allerdings kaum ein direkter Einflnfs Fichtes
auf die Gedankenentwicklung Helmholtzens anzunehmen ist,
in denen vielmehr Helmholtz nur auf Analogien in der Lehre
Fichtes hinweist, nämlich hinsichtlich des .Qualitätenkreises*
der Empfindungen, hinsichtlich der Deutung der Empfindungen,
wenn nicht als „Bilder des Widerstandes", wie bei Fichte, so
doch als Zeichen ftlr die sie bewirkenden Ursachen, und endlich
hinsichtlich der Art wie, bei Helmholtz allerdings nicht a priori
>) Sieh Gar] Stampf, Hermann von Helmholtz und die neuere Psycho-
logie. Archiv für Geschichte der Philosophie. Neue Folge. VUI. Band,
1895, S. 303.
') Vorträge und Reden von Hermann von Helmholtz, II. Band, S. 241.
») I, 40.
Digitized by
Google
247
dedaziert, «ein Nicht-Ieh dem Ich gegenüber sich AnerkennnDg
erzwingt* *)
Dals aber Schopenhauer die Lehre Helmholtzens anbillig
beurteilte, hat wohl auch eine tieferliegende Ursache. Sie liegt
in der Abneigung Schopenhauers gegen die auf naturwissen-
schaftlichem Boden, also induktiv gewonnene philosophische
Einsicht ttberhaupt. Mit Fichte und Schelling ist er der Über-
zeugung, dafs im Gegensatz zur Naturwissenschaft die Philosophie
imstande sei, eine höhere, deduktive Einsicht in die Zusammen-
hänge der Natur, nämlich vermittelst der intellektuellen An-
schauung zu gewinnen. Deshalb will er die Scheidung zwischen
Philosophie und Naturwissenschaft streng gewahrt wissen.
Daher auch stammt seine Abneigung gegen die mechanische
Naturauffassung und vielleicht auch das Vorurteil, daXs auf
naturwissenschaftlichem Wege eine Einsicht in die Intellektualität
der empirischen Anschauung nicht zu gewinnen sei.
Druckfehler und Ergänzungen.
S. 11 Z. 3 ▼. n. lies: entstehn statt enstebn.
S. 13 Z. 14 y. o. lies: konstrulrt statt konstruiert.
S. 13 Z. 19 V. 0. lies konstruiren statt konstruieren.
S. 19 Z. 6 y. u. lies: bedeutungsleerer statt bedeutungleerer.
S. 44 Z. 3 V. u lies: ist noch keine statt ist keine.
S. 47 Z. 12 V. a. lies: zuerkennen statt zu ererkennen.
S. 76 Z. 16 V. u. lies: Lockes statt Lecks.
S. 109 Z. 25 y. o. streiche das Anführungszeichen vor *).
S. 133 Z. 9 V. 0. lies: erst als durch statt erst durch.
S. 136 Z. 18 y. 0. lies: Paralipomena statt Paraligomena.
S. 144 Z. 17 y. 0. lies: eigentümliche Weiterbildung statt eigentliche Fort-
bildung.
S. 145 Z. 2 y. u. lies: der Voraussetzung statt den Voraussetzungen.
S. 164 Z. 18 v. n. lies: unbewufst psychische statt dies.
S. 165 Z. 2 y. o. lies: des Eigentümlichen statt der Eigentümlichkeiten.
B. 184 Anmerkung 1 lies: U statt I.
S. 187 Z. 9 y. 0. lies: yorstellungsmäfsig statt yorstellungsmäsig.
*) Vorträge und Reden von Hermann y. Helmholtz, II. Band, S. 227.
/Google
Digitized by ^
248
8. 191 Z. 13 ▼. 0. ergänze: Bd. I. Abt. l. Abschn. 16. Kap. 7.
S. 192 Z. 10 y. 0. lies: sense statt seuse.
S. 200 Z. 5 y. o. lies: Buch I. Kap. III. § 84 (Übers, a. a. O. S. 24) statt
§§ 133 und 324.
S. 200 Z. 22 f. V. o. lies: et da moral de rhomme statt au mond.
S. 201 Anmerkung 2 lies: S. 37 statt S. 4.
S. 201 Anmerkung 7 lies: 153 f. sUtt 151 f.
S. 206 Z. 23 f. y. o.: „sowie* bis „gelangen'' ist zu streichen.
S. 206 Anmerkung 1 lies: Erasmus Darwin Zoonomia or the laws of Organie
lifo. Bd.l. Abt.I. Abschn. U. Kap. II. §7. Zoonomie oderGesetie
des organischen Lebens yon Erasmus Darwin. Aus dem EngUscbea
übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet yon J. D. Brandia
Hannover 1795—99. 1, 1. S. 14 f. Ähnlich so ebenda Bd. I. AbtL
Abschn. V. Übers, a. a. 0. 1, 1. S. 50 ff.
S. 206 Anmerkung 2 lies: Ebenda Bd. I. Abt. I. Abschn. III. Kap. IV.
Einleit. Übers, a. a. 0. 1, 1. S. 32.
S. 206 Anmerkung 8 lies: Ebenda Bd. I. Abt. I. Abschn. III. Ksp. I.
Übers, a. a. 0. 1, 1. S. 20.
S. 206 Anmerkung 4 lies: Ebenda Bd. I. Abt I. Abschn. IIL Kap. IlL
Einleit. Übers, a. a. 0. I, 1. S. 26.
S. 206 Anmerkung 5 lies: Ophthalmologische Bibliothek, herausgegeben
yon Carl Himly und Adam Schmidt. Jena 1804. Bd. II. St 2. S.15,16.
S. 207 Anmerkung 2 lies: Ebenda. Jena 1807. Bd. III. St 3. S. 7.
S. 208 Anmerkung 1 ergSnze: Vol. L S. 156.
S. 208 Anmerkung 2 lies: Ebenda S. 157 und § 21. S. 186f.
Drnok Ton Ehrhardt Kanu Ot, m. b. H. In Hall« (SmI«),
Digitized by VjOOQ IC
Digitized by
Google
Verlag von Max Nlemeyer in Halle a. 8.
Bergmann, Hugo, Das Unendliche und die Zahl. 1913. 8. VII,
88 S. Jt 2,50
Eisenmeier, Josef, Die Psychologie nnd ihre zentrale Stellung in der
Philosophie. Eine Einführung in die wissenschaftliche Philo-
sophie. 1914. 8. VIII, 1118. .^3,20
Gallinger, August, Zur Grundlegung einer Lehre von der Erinnerung.
1914. 8. IV, 149 8. Jt 4,—
Goedeckemeyer, Albert, Die Gliederung der aristotelischen Philosophie.
1912. 8. VI, 144 8. Ji 4,—
Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno-
logischen Philosophie. I. Buch: Allgemeine Einführung in die
reine Phänomenologie. 1913. kl. 4. VIII, 324 S.
geh. Jh 10, — ; gebd. Jt 11, —
Leyendecker, Herbert, Zur Phänomenologie der Täuschungen. I. Teil:
Wesensanalyse der Illusionstäuschungen. kl. 4. 189 8. Jt 5, —
Losskij, Nikoltj, Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine pro-
pädeutische Erkenntnistheorie. Uebersetzt von Johann Strauch.
1908. 8. IV, 350 8. Jt 8,-
Mill, John Stuart, Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons.
Deutsch von Hilmar Wilmanns. 1908. gr. 8. XH, 709 S.
geh. Jt 18,—; gebd. Jt 20,—
Pariser, Ernst, Einführung in die Religionspsychologie. Beiträge zu
einer kritischen Methodenlehre der Religionswissenschaft 1914.
8. V, 56 8. geh. Jt 1,50; gebd. Jt 2,20
Pfänder, Alexander, Zur Psychologie der Gesinnungen. I. Teil. 1913.
kl. 4. IV, 80 S. Jt 2,50
Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
ethik (mit besonderer Berficksichtigung der Ethik Immanuel
Kants). I. Teil. 1913. kl. 4. IV, 162 8. Jt 5,—
— Znr Phänomenologie und Theorie der Sympathiegeftlhle und von
Liebe und Hass. Mit einem Anhang über den Grund «ur Annahme
der Existenz des fremden Ich. 1913. 8. VI, 154 S. Jt 3,60
V. Sydow, E., Kritischer Kant-Kommentar. Zusammengestellt aus den
Kritiken Fichtes, Schell ings, Hegels und mit einer Einleitong
versehen. 1913. 8. VII, 91 S. Jt 2,40
Druck von Ehrhardt Karras G. m. b. H. in Halle <Saale>.
Digitized by
Google
iiJHANDLÜNGEN
ZUR PHILOSOPHIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAÜSOEOEBEN VON BENNO EBDMANN
xLin
#
w^
DIE ANGRIFFE GEGEN
DESCARTES UND MALEBRANCHE
IM JOURNAL DE TRfiVOÜX
1701-1715
VON
EMUTY ALLARD
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
1,
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZUR
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
DREIUNDYIERZIGSTES HEFT
EMMY ALLARD
DIE ANGRIFFE GEGEN DESGABTES UND MALBBBANCHE
IM JOURNAL DE TEBVOUX 1701—1715
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
19U
Digitized by
Google
DIE ANGRIFFE GEGEN
DESCAKTES UND MALEBRANCHE
IM JOURNAL DE TRfiVOÜX
1701-1715
VON
EMIÜY ALLABD
HALLE A. a
VERLAG VON MAX NIEMETER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Inhaltsyerzeichnis.
8«lto
Litentarreneichiiis vn
Einleitang. Die Jesuiten and der Gartesianismus. Die GrUndang des
Jonrnai de Trövoux (1701). Der Geist der Zeitochrift. Metho-
disches 1
Kapitel I. Die cartesianischen Beweise fttr das Dasein Gottes. Die
Verteidigung eines cartesianischen Gottesbeweises von dem Bene-
diktiner P. Fr. Lamy. Eine Antwort von Leibniz. Der Beweis
des Jesniten Toomemine. Die Ablehnung dieses Beweises im
Journal de Tr^vonz 1742. Eine Verteidigung des Gottesbeweises
im Geiste der Malebrancheschen Philosophie 7
Kapitel IL Das Journal de Tr^vonx und PEntretien d'un Philosophe
chr6tlen et d'un Philosophe chinois sur l'ezistence et la nature
de Dieu (1708). Die Antwort des P. Malebranche. Veröffent-
lichung eines Auszuges derselben im Journal de Trövouz. Ein-
gehendere Kritik seines Systems. Die Kritik der Demonstration
de Fexistenee de Dieu von F^nelon. Das Vorwort von Tonrne-
mine. Erklärung des Journals 15
Kapitel III. Das Problem der Verbindung von Körper und Seele. Die
Hypothese des Jesuiten Toumemine und ihre Widerlegungen.
Brief des P. Sarrabat an den Jesuiten P. Castel (1730) .... 31
Kapitel IV. Die Frage nach der Realität der Aufsenwelt Zwei anti-
cartesianische Antworten aus den Jahren 1704/05. Die Erzählung
von einem angeblichen Solipsisten (1713). Ihre Verbreitung und
Beurteilung 39
Kapitel V. Gartesianismus und Theologie. Die religiöse Gefuhr im
Gartesianismus. Die Ck>nversations chrötiennes von Malebranche.
Die Promotion physique von Boursier. Die Erwiderung des
P. Malebranche . 48
Kapitel VL (Jartesianiscbe Physik. Die Qualitäten der Körper. Das
Problem der Bewegung. Allgemeine Bemerkungen 53
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Literaturverzeichnis.
Andr^ (le P^re): La Yie da R. P. Malebranche p. p. Ingold.
Paris 1886.
Archimbaud: Nonveaa Reoneil de Pi^oes Fugiti^es d'Histoire, de
Littöratnre etc. Tome III. Paris 1717.
Baeumker: Zar Vorgeschichte zweier Lockescher Begriffe. Archiv
ffir Geschichte der Philosophie XXI. 4. Heft 1908.
Blampignon: £tade sar Malebranche, saivie d'ane Correspondance
in^dite. Paris 1862.
Boaillier: Histoire de la Philosophie Cart^ienne. 2 vol. Paris 1854.
Gharma et Mancel: Le Pore Andr^, J^saite, Docaments in^dits
poor servir ä FHistoire phiiosophiqae, religiease et litt^raire
da XVnp sifecle. 2 vol. Caön 1844/1857.
Cousin: Fragments de Philosophie Cart6sienne. Paris 1845.
— (Eavres philosophiqaes da P^re Andr6 de la Compagnie de
Jdsas. Paris 1843.
Damiron: Essai sar l'Histoire de la Philosophie en France an
XVII« slöcle. 2 vol. Paris 1846.
Descartes: (Eavres 6d. Adam et Tannery. 1897ff.
— (Eavres ^d. Goasin. 1824—26.
J. E. Erdmann: Qrandrifs der Geschichte der Philosophie. II. Bd.
4. Aafl. Bearbeitet von B. Erdmann. Berlin 1896.
F^nelon: (Eavres philosophiqaes oa d^monstration de l'existence
de Dien. Ed. nonvelle. Amsterdam 1721.
Ed. Orimm: Malebranches Erkenntnistheorie and deren Verhältnis
zur Erkenntnistheorie des Descartes. Zeitschrift für Philosophie
and philos. Kritik. Neae Folge. 70. Bd, p. 15 ff. Halle 1877.
Hatin: Bibliographie Historiqae et Critiqae de la Presse Pdriodiqae
Fran^aise. Paris 1866.
Haaräaa: Histoire de la Philosophie Scolastiqae. Paris 1880.
Haber: Die cartesischen Beweise vom Dasein Gottes. Aags-
borg 1854.
Digitized by
Google
VIII
J. Janitsch: Kants urteile Aber Berkeley. Dissertation Strafe-
bnrgr 1879.
6. Lyon: Uld^alisme en Angleterre an XVIII ** si^cle. Paris 1888.
Malebranche: (Eavres p. p. Jules Simon II vol. Paris 1846.
— (Eavres complötes p. p. de Genonde et de Lonrdoneiz.
M. Novaro: Die Philosophie des Nikolaus Malebranche. Berlin 1893.
OU^-Laprune: La philosophie de Malebranche. 2 7ol. Paris 1870.
Pichler: Die Theologie des Leibniz. 2 Teile. Mfinchen 1869.
Saisset: Präcurseurs et disciples de Descartes. Paris 1862.
Siebeck: Aristoteles. Frommanns Klassiker der Philosophie VIU.
Stuttgart 1902.
Sommervogel (le P^re P. C. Sommer vogel de la Compagnie de
J^sus): Table m^thodique des Mämoires de Tr^voux (1701
— 1715) Premiere partie. Paris 1864. Bibliographie Tome
L IL 1865.
Vaihinger: Zu Kants Widerlegung des Idealismus. 8trafi«bnrger
Abhandlungen zur Philosophie. Freibnrg und Tfibingen 1884.
Digitized by
Google
Einleitung.
Im Jahre 1745 schrieb Descartes an den Jesniten Dinet:
„M'ötant m616 d'äcrire nne pbilosophie, je sais qne votre Com-
pagnie pent plus qne tout le reste du monde pour la faire
valoir ou mäpriser^.i) Es ist bekannt, daJDs alle BemühuDgen
des Philosophen nm die Gunst seiner alten Lehrer erfolglos
blieben, und dafs die freundliehe Haltung des Ordens bei Leb-
zeiten seines ergebenen Schülers^) bald nach dem Tode des-
selben in einen fast ein Jahrhundert hindurch mit Gewalt und
List geführten Kampf umschlug.
Im Jahre 1662 erlangt der Jesuitenpater Fabri, dafs die
Werke Descartes' auf den Index gesetzt werden. Zu gleicher
Zeit klagt der apostolische Bevollmächtigte in Belgien J6röme
Vecchio, aufgereizt durch die Jesuiten, in der Universität von
Louvain den Cartesianismus an „comme pernicieux ä la jeunesse
chretienne^. Damit gewinnt er das berühmte Dekret gegen die
neue Philosophie.*) Als 1667 den sterblichen Überresten Des-
cartes' in der Kirche Sainte-Genevi^ve eine letzte Ehrung
erwiesen werden soll, verbietet ein Hof befehl, den der P. Annat
erwirkt hatte, die Lobrede auf den Toten öffentlich zu halten.
Im Jahre 1670 hätten sie ohne Boileau und Arnauld beinahe
das Parlament von Paris zu einer Parteinahme gegen Descartes
verleitet; als Ersatz dafür erlangen sie vom Könige wenigstens
das Lehrverbot fllr die neue Philosophie in der Universität von
PariSy in allen Universitäten des Reiches und im Oratorium.
1680 klagt der Jesuit P. Valois die cartesianische Philosophie
vor dem französischen Klerus an: „Messeigneurs, je cite devant
1) Descartes, (Euvres, ML Adam et Tannery IV p. 158.
>) Ibid. XII: Vie et oenvres de Descartes. i^tade historique par
Gh. Adam.
*) Cf. p. 48 dieser Arbeit.
FhUoiophiicbe Abhandlangtu. XLUI. X
Digitized by
Google
Yons Mr. Descartes et ses plus fameux sectateurs, je les aecnse
d'Stre d'aceord avec Calvin".
Zu diesen berühmten Sektierern geborte als erster Male-
brancbe, gegen den sieh seit dem Erseheinen der Reeberefae
de la V6ritä (1674) die Angriffe der Societas Jesu besonders
richteten. Schonten sie den grofsen Oratorianer während seines
Streites mit dem Jansenisten Arnanld^) nnd verschmähten sie
es sogar nicht, ihn znm Kampf anznfenern, so setzten sie nach
dem Tode ihres gefttrchtetsten Feindes jede Rttcksiebt nnd jedes
Mafs beiseite. Schlimmer als je bebandelten sie ihn in ihren
Beden, ihrem Unterricht, in den Konferenzen, die in Paris znr
Prttfong seiner Lehre gehalten wurden. >)
Im Innern des Ordens wurde der Kampf mit unbarmherziger
Härte geführt Die Korrespondenz des F. Andrä, der überzeugter
Gartesianer und Malebranchist war, gestattet uns einen tiefen Ein-
blick in diese Art jesuitischer Verfolgung. Eine Generalversamm-
lung des Ordens in Rom fafste im Jahre 1706 den Beschlufs, die
neue Lehre in Frankreich aufs Äulserste zu verfolgen und „aus-
zurotten^.') „La compagnie pretend non seulement qu'on ne
l'approuve point mais encore qu'on la combatte, ainsi que Ton
combattoit celle de Calvin avant le concile ... On est resolu
de ne point souffrir dans la compagnie non seulement eenx
qui suivent ces auteurs, ou qui les lottent, mais eeux qui ne
les blasment pas, et qui n'ont pas de zele contre leur doetrine.''^)
Die jesuitische Streitschrift gegen den Cartesianismus datiert
vom Jahre 1712;^) sie wurde Andrä unterbreitet als das Formular
eines mündlichen und schriftlichen Widerrufs seiner Lehre. „Gar
il est k propoB que les Supärieurs s(achent s'il est un väritable
j6suite.«6)
Der Malebranchist P. du Tertre bricht unter der Verfolgung
zusammen, bekehrt sich zum Peripatetismus des Ordens zurück 7)
^) Job. Ed. Erdmann II p. 41.
>) Andr6 p. 334
') Cf. Cbarina et llancel p. 105, 115, 218, 228.
*) Ibid. p. 160, Lettre du F. Gaymond au P. Andr6. (9. JaQlet 1707).
^) Cf. Gharma et Mancel p. 291: Extrait d'nn 6crit fait pour röpondre
k ma lettre aa F. Fr. 1. D6cembre 1712.
>) Gbarma et Mancel p. 71.
f) Ibid. 266, 356.
Digitized by
Google
und sehreibt gegen seinen alten Meister: Refutation d'nn nonvean
Systöme de Mitaphysiqne, proposö par le P. Malebranche. Es
erseheint im Jahre 1715, im Todesjahr des grofsen Oratörianers.
So hat das nene Jahrhundert mit einer Periode leiden-
schaftlichster Angriffe gegen die nene Philosophie im Bereich
der Societas Jesn begonnen.
Sie fällt zusammen mit einer ftir den Orden bedeutsamen
Machterweiterung, der Gründung einer eigenen Zeitschrift, die
alle Wissensgebiete in den Bereich ihres Interesses ziehen
sollte.
Louis Auguste de Bourbon, Herzog von Maine, hatte in
der kleinen Stadt Trävoux, wohin er als Souverain de Dombes
sein Parlament verlegt hatte, (1696) eine grofse Druckerei
gegründet Im Jahre 1701 stellte er diese in den Dienst eines
literarischen Journals, dessen Vorteile die Jesuitenpatres Michel
Le Tellier und Philippe Lallemant dem jungen Fürsten vor-
zustellen wnfsten.i) Die Initiative wurde, wie es sich ziemte,
dem Prinzen zugeschrieben in der Widmung, welche der Drucker
oder vielmehr die Redakteure unter seinem Namen an die
Spitze stellten: .Vons avez jugi, Monseigneur, qne Timprimerie
que vous venez d'itablir . . . ne pouvait d'abord etre mieux
employöe qvük donner au public un ätat fidöle de tout ce qui
paratt de curieux tous los jours dans le monde, en quelque
genre de science que ce soit.''^) Danach hätte das Journal
einen rein literarischen und wissenschaftlichen Charakter tragen
sollen; aber im Jahre 1712 enthüllen die Journalisten einen
anderen Gesichtspunkt: ,Le grand cours des journaux häräti-
ques fit nattre k Monseigneur le Duc du Maine Tid^e d'nn
Journal oü Ton eüt principalement en vne la defense de la
religion.*') Die Jesuiten sind ihrerseits fest entschlossen:
„d'attaquer sans mönagements les ennemis döclar^s de la religion
et de dömasquer ses ennemis Caches: rien ne nous dötournera
de notre dessein.^^)
>) Hatin p. 85.
*) Die Orthographie des Journal de Tr^TOux ist in dieser Arbeit
modernisiert und regularbiert worden mit Ausnahme der Eigennamen
nnd Büchertitel.
•) Journal do Tr^voux, f^vrier 1712 p. 222.
*) Ibid.
Digitized by
Google
4
Mit der Leitung eines Jonmals beauftragt, gründen sie ein
Redaktionskomitee in dem berühmten CoUöge Louis-le- Grand
mit seiner gewaltigen und bedeutenden Bibliothek und seinen
ständigen Beziehungen zum literarischen und wissensehafUiehen
Leben der Zeit. Vier Jesuiten werden offiziell ernannt und
speziell mit der Redaktion beschäftigt. Zwei derselben waren
der P. Catrou und der bekannte P. Toumemine, welcher auf
den verschiedensten Gebieten arbeitete und kurze Zeit Biblio-
thekar am GoUöge gewesen war.^) Er war bis 1719 dauernd
am Jonmal tätig. Männer wie Buffier, Hardonin, Daniel, Le
Tellier, Marquer, Bonhours standen ihnen zur Seite. Ein
mächtiger Orden, dessen Beziehungen in alle Länder reichten,
konnte reichliches Material bieten; und die Jesuiten vergafsen
nicht, das zu betonen.
Im Monat März 1701 gaben die neuen Jonrnalisten die
erste Nummer heraus. Sie war betitelt: „Mömoires pour
THistoire des scienees et des beaux-arts Recneillis par FOrdre
de Son Altesse S^ränissim^ Monseigneur Prince Souyerain de
Dombes.^ Sie sind in der Folgezeit bekannter geworden unter
dem Namen „Joumal de Trivoux".*)
Ein Vorwort von idealster Auffassung der Journalistik
unterrichtete den Leserkreis über Plan und Absicht der
Redakteure. Die neuen Memoiren wollten Rezensionen oder,
wie man damals sagte, „Extraits^ ans allen wissenschaftlichen
Büchern bringen, die in Frankreich oder im Auslande seit
Beginn des neuen Jahrhunderts gedrackt worden waren oder
weiterhin gedruckt werden würden. Man bittet die Autoren,
die Auszüge aus ihren Büchern selbst zu liefern und verspricht,
dieselben nach einem Vergleich mit dem Werke selbst getreu
zu veröffentlichen. Die Praxis ändert diese Absicht schnell,
und im Jahre 1712 widerrufen die Herausgeber selbst ihre
eigenartige Mafsnahme: „Nulle considöration ne nous fera ins6rer
dans nos Mämoires des extraits faits par l'auteur m§me: c'est
une fid61it6, que nous devons au public, notre jnge; un rappor-
1) Sommervogel, I: Essai historique sur les H^moires de Tr^vooz.
>) Im Verlaufe der Arbeit wird die Zeitschrift als Journal de Tr^TOUx
zitiert.
Digitized by
Google
tenr manqne k son devoir, qnand il se fie anx parties de Textrait
d'ane cause." 0
Wiederholt weisen die Journalisten in den ersten Jahr-
gängen darauf hin, dafs sie sich nicht verbürgen fHr die
Meinungen der besprochenen Autoren, und sie damit nicht zu
den ihrigen machen.^)
Mit allen (belehrten Europas wttnscht man Beziehungen
anzuknüpfen und bittet um Beiträge in allen Sprachen und aus
allen Wissensgebieten. „Un lectenr, k quelque ötude qu'il
s'applique, trouvera de quoi s'occnper dans chaque tome de
nos Mömoires."')
Die Journalisten verpflichten sich zu strikter Neutralität
in den wissenschaftlichen und literarischen Streitigkeiten, d. h.
in jeder Frage überhaupt „exceptä quand il s'agira de la
religion, des bonnes moeurs, de T^tat, en quoi il n'est jamais
permis d'Stre neutre." Diese Neutralität blieb eine Utopie.
Sie selbst kündigten 1712 das Ende dieses Verfahrens an oder
suchten sich vielmehr zu rechtfertigen, dafs es nicht eingehalten
worden war. ,Nous ne pouvons nous dispenser de m61er de
la critiquedans nos extraits: agir autrement ce serait manquer
k nos devoirs les plus essentiels; ce serait trahir les Lecteurs
qui nous prennent pour guides dans la connaissance des livres,
que de les laisser säduire par des titres imposants, que de leur
cacher les öcueils oü ils donneront infailliblement . . . Nous
mettons notre application k temp^rer une critique n6cessaire,
par tout ce qui la peut rendre moins sensible aux Auteurs,
nous joignons si souvent les louanges aux reproches, que nos
^loges les plus sincöres en sont devenus suspects.'^)
Berechtigt einerseits die feindliche Haltung des Jesuiten-
ordens gegen den Cartesianismns überhaupt und gegen Male-
branche speziell zu der Erwartung, dafs die Jesuiten die
Gründung einer eigenen Zeitschrift als eine vnllkommene
Gelegenheit ansehen werden, sie in den Dienst eines offenen
Kampfes gegen die neue Philosophie zu stellen, so dürfen wir
*) Journal de Tr^yonx 1712: Ayertlssement p. 5.
«) Cf. u. a. 1701 janvier p. 116.
*) Journal de Tr^voux 1708 janvier: Avertissement
*) Joomal de Tr^vonx 1712 janvier: Ayertissement p. 3.
Digitized by
Google
andererseits dabei den Weg nieht nnbertteksiehtigt lassen, den
sie sieh als Journalisten Torgezeicbnet hatten. Er hat in der
Tat, selbst in einer Periode der erbittertsten Angriffe gegen
die nene Philosophie im Innern des Ordens, dem persönlichen
Hals naeh anfsen hin die Richtung gegeben, umsonst suchen
wir im Journal die Spuren eines grundsätzlichen und syste-
matischen Kampfes. Nur einzelne Fragen werden diskutiert,
oft wird die gegnerische Ansicht nur gelegentlich anderer
Erörterungen nebenbei abgelehnt, und die einschlägigen Re-
zensionen zeigen wiederholt auffallende Objektivität
Durch diese Haltung der Jesuiten, die als Journalisten
aus taktischen Gründen ihre wahre Gesinnung verschleiern, ist
die Methode der vorliegenden Arbeit bedingt Es konnte sich
nieht sowohl darum handeln, eine zusammenhängende Reihe
von Angriffen nachzuweisen, die sieh vielleicht zu einer syste-
matischen Widerlegung gestaltet hätten, als vielmehr darum,
die Stellungnahme des Journals zu einzelnen Problemen zu
charakterisieren, die durch den Cartesianismus in die allgemeine
philosophische Diskussion der Zeit getragen worden waren.
Nur einmal bietet das Journal eine eingehendere Widerlegung
der Philosophie des P. Malebranche; sie ist zusammenhängend
behandelt worden.
Digitized by
Google
Kapitel L
Es gehört znr Tradition der eartesianisehen Sehale, sobald
die Untersnehnng bis znm reinen Denken gelangt ist, zuerst
den Beweis für das Dasein Gottes aufzunehmen. Die Gottes-
idee tritt zwischen dem Selbstbewofstsein nnd der objektiven
Welt yermittelnd ein: aber es ist nicht die Idee Gottes als
solche an and für sich, sondern die Idee Gottes in nns, worauf
sich das ganze weitere System Deseartes' anfbaat. «Daraus,
dafs ich existiere and dafs ich die Idee eines vollkommensten
Wesens habe, folgt ganz einlenchtend, dafs Gott existiert'
Neben diesem echt eartesianisehen Beweis der dritten Meditation
steht dann in der fünften Meditation der altscholastische, onto-
logische, den Anselm im Proslogium entwickelt hatte, nnd
welchen Deseartes nur in der Modifikation des heiligen Thomas
gekannt za haben scheint. Dens est suam esse: ans dem
bloJGsen Begriff Gottes wird seine Existenz bewiesen. ^ Male-
branche modifiziert den Beweis Deseartes' aaf Grandlage seiner
Ideentheorie: Das unendlich vollkommene Wesen kann nur in
sich selbst gesehen werden und nicht durch seine Idee, denn
nichts Endliches kann das Unendliche repräsentieren. „Si donc
on y pense, il faut qu'il seit" 2)
Die Idee der Unendlichkeit und der cartesianische Beweis,
der seine Kraft aus dieser einzigen Idee der Unendlichkeit
herleitet, sind der grofse Zielpunkt aller Gegner der earte-
sianisehen Philosophie gewesen. 3) ,0n se fait une märite dans
0 Gf. Haber, Die cartesiBchen Beweise vom Dasein Gottes.
*) Malebimche, Recherche IV eh. 2, eh. 11; VI part. II eh. 6; En-
tretien mötaph. 2. Entretien mötaph. 8.
') BouiUier, Bist, de la PhU. Cart^s. I p. 78.
Digitized by
Google
8
leg ^coles, d'attaqner les dömonstrations de Descartes*, be-
richtet Bayle.O
Die hervorragendste katholisch-theologisohe Zeitschrift, das
Jonrnal de Trävoüx, scheint a priori die geeignetste Stelle za
sein für eine derartige Polemik, nnd zwar nmsomehr als es
das Organ des Jesuitenordens ist, dessen Vemonfttheologie
stark empiristischen Charakter trägt, deren Mitglieder alles,
was Gassendi gegen die Idee des Unendlichen ausgedacht
hatte, wiederholten.2) Im ersten Heft des ersten Jahrgangs
finden wir die «Verteidigung eines cartesianischen Gottes-
beweises* von dem Benediktiner FranQois Lamy,') Schiller des
P. Malebranche und ein Freund von Kontroversen nnd philo-
sophischen Debatten/) Dieselbe war gegen einen Doktor der
Sorbonne namens Brillon gerichtet, dessen Angriffe das Journal
des Savants im Januar 1701 veröffentlicht hatte.^) £s handelte
sich um den alten ontologischen Gottesbeweis, der im all-
gemeinen am wenigsten angegriffen zu werden pflegte,*) der
aber von Brillon in der Art, .wie die Schule ihn gebe'', ftlr
einen Paralogismns und Sophismus erklärt worden war.
Brillon stellt folgende hypothetische und absolute Be-
hauptung des Beweises einander gegenüber, um ihren Wert zu
beleuchten: 1. Ein Wesen, das alle erdenklichen Vollkommen-
heiten hat, hat Existenz. — 2. Es existiert tatsächlich ein
Wesen, welches alle erdenklichen Vollkommenheiten hat —
Es folge augenscheinlich aus der Voraussetzung eines voll-
kommensten Wesens, dafs es auch Existenz haben mttsse, da
dieselbe die erste aller Vollkommenheiten sei; es folge aber
keineswegs aus dieser letzten Tatsache, dafs nun in der Natur
wirklich ein vollkommenstes Wesen existiere. Der Beweis vom
Dasein Gottes klammere sich an die niemals und von niemandem
0 Journal de Tr6voux 1705 jutn p. 921.
«) Boaillier I p. 565, 558.
") Journal de TrSvoux 1701, janv. f^vr. Lettre du Pore Lamy B6n6-
dictin de la Congr^tion de Saint Maur k Mr. Tabb^ Brillon pour la defense
d'une d^monstration cart^sienne de l'existence de Dieu.
*) Oil6-Laprane II p. 179. Damiron II p. 597.
>) Journal des Savants 1701 janv. p. 18.
•) Damfron I p. 245.
Digitized by
Google
9
bezweifelte erste Behauptung und habe nichts mit der von allen
Atheisten bestrittenen absolnten zn tun.
Demgegenüber bemüht sich Lamy nnn klarzulegen, dafs
Brillon von einer falschen Annahme ausgehe, weil Descartes
die Existenz aus der Notwendigkeit, der Unveränderlichkeit,
der Allgemeinheit und Unendlichkeit der Gottesidee erschlossen
habe und sie nicht als die Basis aller Vollkommenheiten zu
Gott hinzufingiere. Seine eingehende Widerlegung gibt er im
engen Anschlufs an die fünfte Meditation und die Einwendungen
der Gegner und Antworten Descartes'.^) Folgende Wiedergabe
des cartesianischen Beweises schickt er voran: „Ce que Ton
conQoit clairement Stre enfermö dans Tidäe claire, distincte,
simple, naturelle, nöcessaire et immuable de quelque chose
peut gtre avec v6rit6 et süret6 attribu6 k cette chose. Or on
eon^oit clairement que Texistence n^cessaire et äternelle est
renfermäe dans Fidöe de Dieu et cette id6e est claire, distincte,
simple, naturelle, näcessaire et immuable. On peut donc avec
sftretS et veritö attribuer k Dieu Texistence nöcessaire et 6ter-
nelle, on peut sans crainte de se tromper assurer quHl existe
de toute 6ternit6. — Was die Einwendungen Brillons im
einzelnen angehe, so sei der hypothetische Satz in diesem
Beweis überhaupt nicht enthalten. Um die absolute Be-
hauptung zu beweisen (nämlich, dafs die Existenz in der Idee
eingeschlossen liegt), habe er sich der Idee des unendlich voll-
kommenen Wesens bedient, welche die ganze Welt mit dem
Wort «Gott* verbinde, und in welcher die Existenz ein-
geschlossen liege. „Elle marque ce que renferme sa nature
sons cette pr6cision et en taut seulement que con^ue par Fesprit.''
Eäne petitio principii sei damit ausgeschlossen. Auch könne
man alle erdenklichen Vollkommenheiten in der Idee Gottes
nicht mehr für eine yrillkttrliche Annahme halten, sobald er-
wiesen sei, dafs wir keine andere Gottesidee haben als die
eines unendlich vollkommenen Wesens.
Lamy beruft sich dabei auf Descartes, der diese sich selbst
1) Cf. M6dtt. V; Raisons qui proavent rexistence de Dien dispoBÖes
d'une fa^on g^om^trique. Ed. Cousin I p. 309, 460. Objection XIV sur
la V« M6dit. p. 498 u. a.
Digitized by
Google
10
gemachte Einwendung ebenso abgelehnt habe,^) nnd venreist
naehdrttcklieh auf die Lehre von den eingeborenen Ideen,
deren erste nnd hauptsächlichste die Idee von Gott sei, in
welcher man nicht den geringsten Zug einer willkttrliehen
Vermutung aufweiBcn könne: „Simple, indivisible, pleine et
parfaite eile se präsente d'elle-m6me toute formöe k Tesprit
Durch eine eingehende Parallele zwischen der Idee eines voll-
kommensten Körpers 2) (id6e forg6e k plaisir) und der Idee
eines unendlich vollkommenen Wesens (Image d'une vraie et
immuable nature) wird die Kluft zwischen solchen Fiktionen
des Geistes und einer eingeborenen Idee scharf beleuchtet nnd
klargelegt. Mein Denken legt den Dingen keine Notwendigkeit
auf. Ich kann mir ein Flülgelpferd denken, obwohl kern Pferd
Flttgel hat Aber die Notwendigkeit liegt hier in der Sache
selbst: Es ist die Notwendigkeit in der Existenz Gottes, welche
uns zwingt, diesen Gedanken zu haben. Denn keineswegs
steht es mir frei, Gott ohne Existenz, d. h. das höchst voll-
kommene Wesen ohne die höchste Vollkommenheit zu denken,
wie ich z. B. ein Pferd mit oder ohne Flttgel fingieren kann.
Im Begriff des beschränkten Seins liegt nur die mögliche oder
zufällige Existenz, die notwendige und vollkommene aber im
Begriff des höchsten Wesens. „Die Kraft dieses Argumentes
beruht demnach nicht auf dem allgemeinen Wesen der Idee,
sondern auf der besonderen Eigenschaft der Gottesidee, in der
die Notwendigkeit der Existenz liegL^
Rtthmend hebt das Journal bei der Rezension der .Premiers
öläments des sciences'" von Lamy hervor, dafs er in dem 4. Ein-
tretien den ersten Beweis vom Dasein Gottes auf die Existenz
der Seele und die der anderen endlichen, nicht aus sich
selbst existierenden Wesen gegründet habe, um dann erst zum
cartesianischen zu greifen: „Ceux qui n'ont pas encore rcfu tous
les principes de la philosophie de Mr. Descartes sauront hon
grö au P. Lamy de ne s'6tre point bom6 k cette seconde dömon-
stration, comme fönt maintenant plusieurs Cartösiens, mais de
s'etre encore appliqu6 k d^velopper la premiöre qui parait k bien
des gens incomparablement plus solide que Tautre.''')
0 Cf. M6dit V.
*) Cf. Descartes, R6p. aux premieres objectioDS.
") Journal de Tr^voux 1707 janv. p. 43.
Digitized by
Google
n
Eine bedeutendere Persönlichkeit als der widerlegte Doktor
der Sorbonne antwortet im Journal anf die Darlegungen Lamys.
Die Journalisten hatten ihre besonderen Absichten mit Leibniz
und Übersandten ihm gleich die ersten Nummern ihrer Zeit-
schrift, i) Mit seinem Dank schickte Leibniz einige Reflexionen
über zwei ihrer Artikel, in welchen er vor allem Bezug nahm
auf den cartesianischen Gottesbeweis. «Pour faire plaisir aux
sayants" und weil ,,tout ce qui sort de sa plume est si digne
de paraitre'^ wurden dieselben im Oktoberheft gedruckt 2)
Leibniz, der darauf hinweist, dals er bereits an anderen Stellen
darüber gesprochen,') nimmt eine mittlere Stellung ein, indem
er den Beweis zwar nicht für einen Paralogismus, aber für
unvollkommen erklärt. Aus der cartesianischen Deduktion gehe
nur soviel hervor, dals Gott notwendig existiert, wenn man an-
nimmt, dafs er möglich ist. Diese Möglichkeit sei aber bei
Descartes eine stillschweigende Voraussetzung und der Beweis
enthalte nur insofern eine Wahrscheinlichkeit, als jedes Wesen
für möglich gehalten werden müsse, bis seine Unmöglichkeit
bewiesen sei. Eine einfachere Form des Arguments glaubt
Leibniz zu gewinnen, wenn er statt vom ens perfectissimum
einfach vom ens a se aus schliefse. „II est ais6'' sagt er, „de
condure de cette döfinition, qu'un tel £tre, s'il est possible, existe.^
Nun fallen Wesenheit und Möglichkeit einer Sache zusammen,
so dafs durch seine Wesenheit existieren durch seine Möglich*
keit existieren heifsi Und wenn das ens a se noch näher
bestimmt würde als das Wesen, das existieren mufs, weil es
möglich ist, so würde sich offenbar alles, was man gegen die
Existenz eines solchen Wesens vorbringen könnte, auf die Ver-
neinung seiner Möglichkeit beschränken. Das ens a se und das
notwendige Wesen sind aber nur ein und dasselbe. Wenn also
das ens a se unmöglich ist, so sind es die £tres par autrui
ebenfalls, da sie nur durch das ens a se sind. Es könnte also
überhaupt nichts existieren.
Hatte sich Lamy darauf berufen, dafs sich selbst die Schul-
philosophie trotz ihrer Vorurteile gegen alles, was von Descartes
0 Pichler I p. 488 ff.; Leibnizens Benrteilung der Jesuiten.
«) Journal de Tr^voux 1701 oct. p. 200.
•) Cf. ed. Erdm&nn, Leipzig 1840 p. 177.
Digitized by
Google
12
herrühre, von dieser DemooBtration habe einnehmen lassen, so
verweist Leibniz nachdrtteklieh und zustimmend auf die Fofs-
note, dnreh welche die Redaktion die obige Stelle ergänzt hatte:
„On ne convient pas qae tonte ll^eole alt adoptö cette dämon-
stration qm a 6t€ rejet6 par Saint Thomas. 0
Das Leibnizsehe Argument yeranlafst im Juni 1702 einen
ungenannten Verfasser — es ist der Jesuit und Redakteur
Toumemine*) — seinen „nur methodisch" von dem des
«grofsen Mannes" abweichenden Beweis zu entwickeln. Er
will ihn bereits vor neun Jahren in der Philosophie gelehrt
haben. 3) „Je suis heureux de m'gtre renconträ avec lui, et je
regarde conime une marque certaine de la justesse de mes
pensöes le rapport qu'elles ont avec les pensöes de ce grand
homme." Wie Leibniz will auch Tournemine nicht eher aus
der Gottesidee einen Schlufs ziehen, bevor er nicht ihrer
Realität sicher ist, das heifst, nachgewiesen hat, dafs sie
keinen Widerspruch enthält. Denn alles, was keinen Wider-
spruch enthält, ist möglich, das heifst: denkbar nach der nega-
tiven Form des ersten Denkgesetzes, dem principium contra-
dictionis. Von diesem Prinzip der Möglichkeit aus wird^ nun
die Bezeichnung «etre entiörement parfait*' geprüft und Über-
einstimmung und Beziehung nachgewiesen 1. zwischen der
Vollkommenheit und dem Sein, 2. zwischen der Vollkommenheit
und ihrer Unbegrenztheit 1. Die Vollkommenheit setzt das
Sein voraus und kann nicht ohne dasselbe bestehen. Das Sein
schliefst notwendige einige Grade von Vollkommenheit ein.
Die Vollkommenheit ist nichts als der Ausschlufs des Nicht-
seins und die unendliche Vollkommenheit die Erfüllung, sozu-
sagen die letzte Ausdehnung des Seins. 2. Die Vollkommenheit
schliefst die Einschränkung aus, denn Einschränkung ist Un-
voUkommenheit. Damit ist die Evidenz der Möglichkeit des £tre
entiärement parfait gewonnen, und Tournemine schliefst aus
der Möglichkeit unmittelbar auf die Wirklichkeit: „II est ävident
que r£tre entiörement parfait est possible: il serait impossible, sll
n'existait pas actuellement: donc il existe actuellement" Sollte
1) Jounial de Tr6voux 1701 janv. i^vt. p. 188.
>) Gf Sommervogel Table I p. 25.
>) Journal de Tr6youx 1702, juillet p. 108.
Digitized by
Google
13
ein Atheist bezüglich der zweiten Behauptung noch Schwierig-
keiten machen, so würde er durch ein Zurückgreifen auf die
vorher gewonnene Bedentang des «entiörement parfait* leicht
ad absurdum geführt.
Diese Modifikation des ontologischen Argumentes findet noch
im Jahre 1742 an gleicher Stelle eine verspätete Ablehnung, i)
Wenn es sieh um ein Wesen handle, das von keinem anderen
seine Existenz empfangen könne, also um das unendlich voll-
kommene Wesen, so gelinge es nicht, seine Möglichkeit einfach
aus dem Satz des Widerspruchs zu beweisen, man müsse viel-
mehr noch einen Beweis seiner tatsächlichen und ewigen Existenz
geben. „L'fitre infiniment parfait n'est plus possible, nonobstant
la eonvenance des termes, s'il n^existe actuellement, et s'il n'a
toujours existä.^ Die Möglichkeit sei, wenn es sich um das
unendlich vollkommene Wesen handle, von der ewigen Existenz
selbst untrennbar und könne nur in engster Verbindung mit
ihr bewiesen werden. Da nun in dem Beweis Toumemines
die Möglichkeit Gottes von seiner Existenz abhinge und doch
getrennt von der Existenz betrachtet worden sei, so wäre sie
nicht gründlich bewiesen worden.
Von weit gröfserem Interesse ist es, dafs derselbe Verfasser
in einem vorangehenden Artikel den Beweis nach ausführlicher
Widerlegung auf dem Boden der Malebrancheschen Philosophie
neu begründet und ihn wie sein grofser Meister ,den einfachsten,
klarsten und gründlichsten aller metaphysischen Begriffe" nennt:
Der Beweis der Existenz aus der Idee Gottes ist nur begründet,
wenn man mit dem Philosophen der Ideentheorie anerkennt,
dafs wir das Unendliche nur in dem Unendlichen selbst wahr-
nehmen, da nichts Endliches das Unendliche repräsentieren
kann. Nach diesem Prinzip heilst die Idee von Gott oder dem
Unendlichen haben), Gott selbst, das Unendliche selbst erkennen.
„Donc si Ton pense ä Dien, il faut qu'il soit''^) einerseits kann
das Nichts nicht wahrgenommen, andrerseits nichts Endliches das
Unendliche repräsentieren. „Si j'aper^ois Dieu, Dieu existe."^)
Der ungenannte Malebranchist sieht keine andere Rettung für
1) Journal de Trövouz oct. 1742 p. 1745.
«) Rech. V p.IV eh. 11 u.a.
') Cf. Entret m^Uph. II, 2, 3, 4, 5. Rech. III pari. II eh. 7; IV eh. 11.
Digitized by
Google
14
den cartesianischen Beweis: „Poar d^fendre la dömonstration
prise de Tidöe et rösoadre robjection, e'est done ane Döcessitä
de sontenir avec le P. Malebranehe, ee qae je erois ineontestable-
ment vrai et qni paraitra tel k tont esprit non pr^yena qne doob
ne poQYOos apereevoir Tlnfini qne dans rinfini mgme." Die
Redaktion schlierst diese AnsfUhrnngen, die man an solcher
Stelle nicht ohne Verwnndem liest, mit einer yorsichtigen Be-
merkung: „Cet äelaircissement qni poi-te snr nn principe jnste-
ment contestö ne conyaincra sürement pas tons les Philosophes.^
Vergeblich snchen wir in diesen Yeröffentlichnngen der
Memoiren eine stärkere persönliche Note, die uns den wahren
Geist der jesaitischen Philosophie yerraten könnte, welche
die cartesianischen Gottesbeweise fttr „Paralogismen*" nnd
„Chimären* hielt nnd sich nnr durch die natürlichen Beweise
Yon der Existenz Gottes befriedigt fühlte, i) Der Jesuit Toume-
mine yerteidigt den ontologischen Beweis und bekennt sich
(1703) zu den eingeborenen Ideen des Selbstbewnfstseins, der
Vollkommenheit und der Idee von Gott, wobei er sich natürlich
auf die Kirchenväter beruft und gegen die Cartesianer erklärt,
dafs sie dieselben schlecht bewiesen hätten. 3) An weniger auf-
fallender Stelle als in einem einschlägigen Separatartikel wird
gelegentlich auch in dieser Frage die tatsächliche Lehre der
Jesuiten greifbar. In der Besprechung eines cartesianisch
inspirierten Buches^) erklärt der Referent: „Pour la dämon-
stration qne TAuteur 6tablit snr ses pr6tendues idäes innres,
de fort bons Philosophes ont jugä que plus on se consulte soi-
mgme et moins on la trouve solide.^ Aus der Natur gewinne
man allein ,un detail qui contente et qui persuade.'
Das wird yon dem Jesuiten rein nach Gassendi mit der
sukzessiyen Bildung dieser Ideen bewiesen.^) Da unser Geist
das Vermögen hat zu erkennen und über seine Gedanken za
reflektieren, yon wo dieselben auch immer kommen mögen und
0 Cf. Joamal de Tr^youx 1705 II p. 919, 1706 U p. 776 folgende
Vertetdignng gegen Bayle: le consentement des peuples k reconnaitre un
Dieu est une preuve certaine qu'il y a un Dieu. — Cf. J. d. Tr. 1714 11
p. 244; 1712 f^vr. p. 238.
») Ibid. 1708 m p. 1074.
•) Ibid. 1702 IV p. 3.
4) Of. Descartes ed. Cousin p. 400 Secondes ofajections.
Digitized by
Google
15
sei es ans den nnyoUkommensten Dingen, so ist es evident,
dafs er sieh dnrch Abstraktion reine Ideen von Vollkommenheit
bilden nnd bis znm Unendlichen vermehren kann, indem er die
Grade multipliziert nnd summiert Anf diese Weise könne er
sich wenigstens eine dunkle Idee des unendlich vollkommenen
Wesens selbst machen. Man könne sich genau so die Idee
eines vollkommenen Körpers bilden, ohne dals derselbe wirk-
lich existiere. Nicht anders sei es mit der Ewigkeit
Kapitel IL
Im Jahre 1708 verlieren die Jesuiten im Eifer fllr die
Nationalreligion Chinas, die sie vom Verdacht des Atheismus
reinigen zu müssen glauben, und weil sie seit dem noch un-
vergessenen und weltbertthmten Streit über ihre Missionstätigkeit
in China 1) in jeder einschlägigen Frage eine tendenziöse Ab-
sicht vermuteten auch als Joumalisten ihre scheinbare Objek-
tivität und die auffallende Zurückhaltung, welche sie sich in
ihrer Zeitschrift gegen die cartesianische Philosophie im all-
gemeinen und gegen Malebranche im besonderen bis jetzt
auferlegt hatten. Zugleich verwickeln sie sich dabei in eine
eingehendere Kritik gewisser Lehren des neuen Philosophen,
welchen sie im Innern ihres Ordens mit fanatischem Hafs
bekämpften. Das Juliheft des genannten Jahres^) brachte
einen Auszug aus der soeben erschienenen Schrift von Male
branche: Entretien d'un Philosophe Chrätien et d'un Philosophe
Chinois sur Fexistence et la nature de Dieu. Im Anschlnfs
daran wurden der Gottesbeweis, die Definitionen Gottes, die
Vision en Dieu und die Lehre von der Vorsehung mit mehr
Heftigkeit als vnssenschaftlichem Ernst und Verständnis ober-
flächlich besprochen und abgelehnt
Mit Nachdruck wird Gott als determiniertes Wesen, un tel
£tre, un £tre particulier, dem £tre universel, dem £tre der
>) Cf. Andr^ p. 319; Charma et Mancel p. 60 Anm. 3.
') Journal de Tr^yonx 1708 III p. 1134ff.
Digitized by
Google
16
Malebranchesehen Gk>tteBlehre schlechthin entgegengestellt Der
Rezensent zitiert bewnist nngenan. In folgender Bestiminnng
des unendlichen Wesens: II renferme en lm-m6nie d'une mani^re
incompröhensibie k tont esprit fini {toutes les perfedians)^ tont
ee qn'il y a de räalitä vöritable dans tons les Stres et cr^ös et
possibles, läfst er (toutes les perfectians) fort, nm über das
Wort Realität streiten nnd einen leichten Verdacht von Spino-
zismns anfwerfen zn können. Das ist nmso anffäUigerf als
dann mit dem Anschein von Objektivität nnd Gerechtigkeit
die vergessenen Worte als eine Folgerung des Kritikers
gegeben werden, was den Charakter ihrer unbedingten Not-
wendigkeit untergräbt :i) ,,Mai8 il faut croire que le mot de
r6alit6 est ici mis ponr celui de perfection; eomme il 7 a liea
de rinf6rer de ce que dit Tauteur, que les 6tres cr66s ne sont
pas des parties de Dien, mais des imitations de son essence
seulement'' Die Gefährlichkeit dieser Gottesbezeiehnungen wird
stark betont; sie seien doppelt zu vermeiden in einer Zeit, „oü
Timpie systöme de Spinoza fait de secrets ravages."^)
Die Solidität des Beweises: Je pense k Tlnfini, donc il est,
wird in Frage gestellt Wenn es nur ein Unendliches sei, das
in sich die Realität einer Unendlichkeit von Dingen nmfasse,
welche unser Geist erkennt, so wäre fttr die Existenz Gottes
nicht viel gewonnen; man mttsse also sagen, dals wir das
Unendliche in allen Vollkommenheiten erkennen und infolge-
dessen «unendlich in der Existenz' und durch eben diese
Unendlichkeit unterschieden von allem Übrigen. Er wird mit
dem Hinweis auf die Behauptung des P. Malebranche bekämpft,
die Perzeption des Unendlichen sei die schwächste aller Wahr-
nehmungen, „infiniment lagere, parce qu'elle est infinie." ') Der
Zusatz, dafs wir über die Existenz oder den Grad von Realität
der Dinge nicht urteilen dürfen nach dem gröfseren oder
kleineren Eindruck derselben auf un?,^) wird vergessen.
Für die Ideentheorie ^) hat der Referent neben ober-
flächlichen und ungenügend ausführlichen Bemerkungen den
^) Die angefochtenen Stellen der jesuitischen Kritik beruhen auf
Malebranches Erwiderung: Avis touchant TEntretien. Cf. p. 18, 19 dieser
Arbeit.
«) Cf. p. 19 f. dieser Arbeit «) Cf. ibid.
*) Rech. lY eh. 11. *) Cf. p. 20 dieser Arbeit
Digitized by
Google
17
leichten und wegwerfenden Spott, dem man in der Kritik der
Jesuiten wiederholt begegnet: ,,Un sage lectenr qai ne tronve
point en lai de telles Inmiöres plas ötendaes qae eelles de la
b^atitude, se r^dnira k se dire k lui-m6me, qa'il n'est pas
toujonrs d'an bon esprit de comprendre tout antenr.^ Und so
wird er getrost gestehen, nicht in solche M^^sterien eingeweiht
zn sein, wie etwa die Trennung von Idee und Vorstellung, von
der Idee als Substanz Gottes, der Realität der Dinge in Gott,
der Substanz Gottes, welche den Geist des Menschen af&ziere.
Das «Schauen in Gott*, die Vision en Dieu,^) wird so
dargestellt, als hätte Malebranche behauptet, dafs wir die
Substanz Gottes absolut und nicht nur relativ d. h. in ihrer
Beziehung zu den geschaffenen und möglichen Wesen sehen. ^)
Es wird femer ein leiser Zweifel aufgeworfen, ob in der
Meinung des P. Malebranche die göttliche Substanz ihre eigene
Realität habe und somit ynrklich von der «Vereinigung aller
Wesen' verschieden sei.
Die Auffassung von der göttlichen Vorsehung') stehe im
Gegensatz zu dem «bon sens* und der Religion, die ihren
Ausdruck in der Lehre der Kirchenväter gefunden hätten: Die
Welt mit ihren vermeintlichen Fehlern ist vollkommen, sie trägt
die Züge einer unendlichen Weisheit und Macht, denn sonst
hätte Gott in seiner Weisheit eine andere vollkommenere Welt
geschaffen: „Si Ton fait attention que des principes ne sont
appeläs simples ou compos^s que par rapport k ce qui en doit
r^snlter, on comprendra aisöment qu'il eüt 6t6 de la mSme
Sagesse, de mettre en OBuvre d'autres principes pour former un
autre monde, et plus de principes pour un monde plus parfait.^ ^)
Die «Unbequemlichkeiten* haben einen erzieherischen Wert,
überdies weifs Gott Gutes zu gewinnen aus dem, was wir für
») Rech. 1. m p. II eh. 6.
*) Cf. a. a. Vons ne la voyez que selon le rapport qu'elle a aux
cr^atares materielles, que selon qu'elle est participable par elles, ou qu'elle
en est repräsentative. Et par consSquent ce n'est point Dien, k proprement
parier, que vons voyez mais seulement la matiöre quMl peut produire . . .
Entret. U.
') Cf. Einwendungen und Entgegnungen zn dem Entret. IL
*) Cf. Entret. IX, 12. Dieu ne forme point aveuglöment ses desseins
Sans les comparer avec les moyens. li est sage dans la formation de ses
d^creta aussi bien que dans leur ex6cntion.
FUloMphüehe Abhandlangen. XLIH. 2
Digitized by
Google
18
ein Uebel halten. Malebranche hatte nicht gezögert, «gegen
den eigentlichen Gttist des Christentams die Gleichförmigkeit,
Beständigkeit und Einfachheit des Wirkens Gottes höher za
stellen als dessen GUte.*^ Seine Weisheit verlangt einfache,
nniverselle, unveränderliche mechanische Gesetze. Einmal ent-
schlossen zn schaffen, hätte Gott, ohne die Ordnnng zn verletzen,
d. h. ohne anfznhören Gott za sein, keine anderen Kombinationen
nnd Wege wählen, kurz, kein anderes Werk machen können.')
Er hat anch die wirklichen Mängel in der Welt nicht vermeiden
können, „& cause qu'ils sont nne suite naturelle de ses lois.'' ')
Dafs schon diese ganze Art der verstandesmäfsigen Erklärung
der Vorsehung den Jesuiten zuwiderlief, sehen wir gelegentlich
in einer Kritik: „Ge serait une prösomption insupportable et nne
extreme folie de eroire que Tesprit humain puisse p^nitrer tous
les ressorts de la Providence et toutes les raisons que Dieu
a de faire ou de permettre les choses."^)
Die ruhige Darlegung seines Systems, welche der Chinese
in der Malebrancheschen Schrift gleich zu Anfang des Dialogs
gibt, stellt der Journalist an das Ende seiner Ausführungen,
um folgendes bemerken zu können: „Au reste le Philosophe
Ghinois, moins par le gönie propre de sa nation que par Fad-
miration de tant de subtilitäs, no se rend point contentieux.
Diese Kritik der Jesuiten erregte in allen Kreisen, nament-
lich aber unter den Cartesianem, lebhaftes Aufsehen nnd starkes
Mifsfallen. ^) Malebranche sah sich zu einer Erwiderung
gezwungen. Im Journal selbst können wir seine Gründe dafür
lesen: „Car il täche, ce semble, de faire nattre des soupfons, snr
lesquels il n'est pas permis de se taire; vn prineipalement la
qualitö des Auteurs et la multiplicitö des exemplaires de leurs
Mömoires qui se röpandent partout et qui passeront au temps
k venir."«)
^) Novaro p. 82.
') Gf. Malebranche, Entret IX,9; X, 10—13; M6d. chr6t VH; £cfauzc
1, II, m.
>) Entret IX; cf. ^dairo. XV, preave IV.
«) Journal de Tr^voox 1706 mai p. 728.
») Cf. Andr6, Vie de Haiebranche p. 322.
") Ay\B tonchant FEntretien d'nn Philosophe Ghrtden avec nn Philo-
sophe Ghinois par le P. Malebranche. Journal de Tr^youz 1708 d6c. p. 1979.
Digitized by
Google
19
Dieselbe wurde überall sehr günstig aufgenommen, umso-
mehr, da Malebranche die besondere Gelegenheit erzählte,
welcher die Schrift ihr Entstehen yerdankte: sie war auf
dringenden Wunsch und wiederholte Bitten eines mit der Philo-
sophie und Religion Chinas vertrauten Batgebers (Mr. de Lyonne,
Bischof von Bosalie)0 zu dem Zweck gesehrieben, den Missio-
naren und selbst den Jesuiten zu nützen; um so mehr, da er
erfahren hatte, dafs die Chinesen seiner Lehre sehr günstig
gegenüberstanden und ein Missionar des Jesuitenordens gebeten
hatte, Philosophen zu schicken, welche in der Mathematik und
den Werken des P. Malebranche unterrichtet seien.^) Diese
Erklärung ist im Journal de Trövoux selbst zu lesen, denn im
Dezember sahen sich die Journalisten gezwungen, Malebranche
die verlangte Genugtuung einer Veröffentliehung seines „Avis''
gegen ihre „ungerechte Rezension^ und die ^grausamen Ver-
dächtigungen" wenigstens zum Teil zu gewähren. Sie liefsen
sich zu einem Auszug aus demselben herbei. 3) Da die Ein-
wendungen der Übersicht wegen in allem Wesentlichen bereits
in die erste Kritik eiugefiochten worden sind,^) wende ich
mich sofort zu den anschließenden „Röflexions sur les Avis
pricödents du R. P. Malebranche."
Der Journalist rüstet diesmal zu einer eingehenden Kritik,
die er mit den höflichsten Versicherungen seiner aufrichtigen
Achtung für die „Tugend* und „den seltenen und bedeutenden
Geist des P. Malebranche" einleitet Trotzdem ist der Ton oft
schärfer, sind die Vorwürfe und Widerlegungen deutlicher formu-
liert als in dem ersten Auszug, und wenn er die Ideentheorie
jetzt ein „geistreiches System" nennt, so ist das eine Vorsicht,
welche bei dieser Gelegenheit ratsam erscheinen mochte.
Um die Malebranscheschen Definitionen von Gott anzu-
greifen,^) ist dem Jesuiten der gröfste Feind seines Ordens, der
Jansenist Amanld, als Stütze willkommen genug. Das ist um
so bedenklicher, als wir noch im Juliheft 1705 folgendes lesen
können: „Le P. Malebranche d^montre en effet, que l'Auteur du
1) Cf. Andr6 p. 308 Anm. II Joarnal de Trövoux 1708 d^. p. 1978.
>) Andr^ p. 805.
•) Journal de Trövonx 1708 d6c. 1977—2009.
*) Cf. p. 16 Anm. 1 dieser Arbeit.
0 Cf. p. 15 f. dieser Arbeit
2*
Digitized by
Google
20
Livre des vraies et des fansses idöes n'a pas eu un vnu d^sir
de bien prendre les sentimentB de son adversaire, et qu'il a
employä des artifiees pour tromper le monde.^^)
Der gefährliche Ausdrack «Gott sehliefst in sich selbst die
Bealität oder Vollkommenheit aller Dinge ein^, sei dem P. Male-
branehe noch nicht einmal entschlttpft gewesen, als er sich
bereits den schrecklichen Vorwarf zugezogen habe, „d'admettre
Dien corporel''.^) Er sei trotzdem nicht yorsichtiger geworden,
obschon er gezwangen gewesen sei, einzagestehen, daf s folgende
Bezeiehnnngen wohl dunkel erscheinen könnten: Dien renferme
en soi Tötendae intelligible. Dien est an et toutes choses. Um
nicht „verhafste Namen^ wie den Spinozas za nennen, weist
die Kritik auf die Parallele za Plotin») and die Worte des
Plinias, die Welt betreffend, hin: „Sacer est, aetemas, immensos,
totas in toto immo vero ipse totnm."^)
Wie hier Amaald, so wird bei den Gottesbeweisen ^) der
sonst ebenfalls verbalste Descartes gegen Haiebranche aas-
gespielt 0 Descartes habe den Beweis von der Existenz Gottes
aaf die eingeborene Idee von Gott anter ausdrücklicher Be*
merkung gegründet, dafs diese Idee von einem jeden bei
vorausgesetzter Aufmerksamkeit lebhaft wahrzunehmen sei,
während Malebranche den Beweis auf die schwächste aller
Perzeptionen stelle. Wenn aber klare und deutliche Begriffe
die Basis und Sicherheit der Wahrheit seien, so könne man
sich nichts versprechen von einer „perception trös 16göre, teile
quMl semble que qaand on y pense, on ne pense k rien.^ Der
Zusatz, es sei gegen die Vernunft zu denken, dafs das Unend-
liche weniger Bealität habe als das Endliche, könne ohne weiteres
zugegeben werden.
Bedeutend aggressiver als die ersten oberflächlichen und
spöttischen Bemerkungen zu der Ideentheorie'') ist die eingehende
0 Journal de Tr6vonx 1705 JuilL p. 1144; cf. p. 26 dieiier Arbeit
') Des vraies et des fausses idöes chap. 14. Defense de Mr. Arnaold
contre la Röponse 4 ce Livre.
•) Plotinas, Enneades V 1. 1 eh. 1, 3; 1. III eh. V; 1. V eh. DL
4) Plinios, Bist nat 1. II eh. 1.
>) Cf. p. 16 dieser Arbeit
•) Cf. Journal de Tr6voux 170S IV p. 2003: II se met par tont aossi
loin de M. Descartes que des Saints Pöres.
') Cf. p. 16f. dieser Arbeit.
Digitized by
Google
21
BesprechoDg derselben in der S. Reflexion. Sie hat niehts
von dem immerhin yorsichtigen Ton der übrigen, vielleicht weil
sich der Verfasser im Schatten des grofsen Arnanld fühlte, denn
er gibt im wesentlichen nur einen Anszng ans dem Livre des
vraies et des fansses idäes.^) Andri nennt sie mit Recht «un
rechanffä des objections de Hr. Arnanld.'^) Darüber tänscht auch
folgende Bemerkung nicht hinweg: ,,11 faudrait sur ce sujet un
livre, mais diffärent de celui des vraies et des fausses id^es
ponr le raisonnement et surtout pour le style.^
Der Vision en Dien werden 1. Dunkelheit, 2. Paradoxie
und 3. Paralogismen vorgeworfen.
1. Die „geheimnisvollen* Redewendungen werden zitiert
aus der «R^ponse aux livres des vraies et des fausses id^es,
Ghap. XIII: ,Je connais dans l'Esprit archätype, sur lequel j'ai
6i& forma, en qui je suis lumiöre; sans la vue de cet esprit
intelligible on ne peut savoir qu'on soit capable d'avoir le goüt
d'nn melon; esprit intelligible, ätendne intelligible, monde in-
telligible; Dien touche Täme par ses r^alitäs/
2. Folgende Lehren stellt die Kritik als paradox zusammen:
Unsere Erkenntnisse können keine Modifikationen unserer Seele
sein,') weil daraus folgen würde, dafs unsere Seelen zum Teil
für etwas anderes als für Gott geschaffen sind, dafs die Wahr-
heit nicht bestehen kann, dafs Gott nicht unser Licht ist, dafs
Wissenschaft und Moral sich verwischen und absolut untergehen .
müssen.^) Unsere Seele kann nur das erkennen, was sie wirk-
lich affiziert: sie erkennt sich nicht selbst, sie hat nur ein
dunkles Gefühl von sich und ihrer eigenen Existenz.^) „Die
Existenz der Welt erkennt man nur aus der Offenbarung und
0 Cf. 0116-Laprane II p. 7ff.: Arnauld et la critique de la throne des
id^es; Bouillier II eh. 6, 7.
>) Andr^ p. 330.
*} Gf. Rech. 1. III p. II eh. 7. Les id6es qai nons repr6sentent qael-
que chose hors de neos ne sont point des modifications de notre äme.
Cf. ibid. IV eh. 11.
4) Cf. Rech. 1. III p. II eh. 1—6; Eclairciss. X; Entret. mdtaph. V, 4.
^) Die Jesuiten stimmten mit Malebranche gegen Descartes gerade
darin überein, dafe wir keine klare Idee von der Natur unserer Seele
haben, betonten aber im Gegensatz dazu, dals wir eine noch dunklere Idee
von der Substanz der Eürper haben. Cf. Journal de Tr^voux 1707 janv.
p. 45.
Digitized by
Google
22
folglich ans dem Glanben.'^) Damit seien alle Ungläabigen
Yöliiger UDgewifsheit über die Existenz der Welt anheimgegeben.
3. An Paralogismen scheint ebenfalls kein Mangel in dem
System zn herrschen. Der Journalist bezieht sich auf die
Einwendungen von Rigis.^) Unsere Seele ist unfähig eine
unendliche Modifikation zu empfangen, sie empfängt aueh keine
allgemeinen:') also ist die Erkenntnis des Unendlichen (= infini
en perfection) und sind die allgemeinen Begriffe keineswegs
Modifikationen unserer Seele. Die Ausdehnung ist nieht in
unserer Seele: sie kann also auch nicht durch eine Modifikation
unserer Seele erkannt werden.^)
Darauf wird die Ideentheorie von yerschiedenen Gesichts-
punkten aus positiv bekämpft und zwar erstens von Seiten der
Dinge, zweitens der Begriffe, drittens des Geistes, viertens von
Seiten Gottes.
1. Die Jesuiten haben überall festgehalten, dals wir die
Objekte, welche unsere Sinnesorgane affizieren, ganz unmittelbar
empfinden. Der Journalist hält in demselben Geist gegen
Malebranche das Prinzip fest: Kein Mittelglied zwischen dem
Geist und dem Objekt 1 Sein und Erkennbarsein ist ein und
dasselbe. „Alle objektive Wahrheit kann sich dem Geist als
unmittelbares und formelles Objekt seiner Erkenntnis darbieten.
Alle Dinge haben ihre objektive Wahrheit; also können sie
das unmittelbare Objekt meiner Erkenntnis werden.^ Es gibt
keine andere intelligible Welt als die Welt selbst
2. Malebranche unterscheidet Erkenntnis und Empfindung.
Die erstere geht auf das Objekt und ist keine Modifikation
unserer Seele, die letztere bezieht sich auf unseren Geist und
ist eine Modifikation desselben. Demgegenüber hält der Jesuit
folgendes aufrecht: Es gibt Wahrnehmungen, Modifikationen
des Geistes und Ideen, welche nichts anderes sind als diese
Wahrnehmungen selbst mit dem einzigen Unterschied, dab das
Wort Perzeption mehr die Seele bezeichnet, insofern sie das
') Cf. p. 39f. dieser Arbeit
>) Cf. R6p. i Mr. R^gis eh. 11,21.
*) Ibid. Malebr.: 11 me paratt Evident que les idöes gönörales ne
peavent 8tre des modificatioDS particuUöres. Cf. Rech. lY eh. 11. Entret
II, 9, 10.
«) R6p. ä Regia, eh. U.
Digitized by
Google
23
Objekt erkennt, nnd das Wort Idee das erkannte Ding, insofern
es objektiv im Geist ist^) Erkenntnis nnd Wabrnebmnng sind
also nicht dem Wesen nach verschieden, sie sind vielmehr ein
nnd dieselbe Modifikation der Seele. 2) Ohne Modifikation keine
Impression! Ohne Impression keine Erkenntnis!
3. Hier wird das beliebte Argument herangezogen, dals
alles, was von einem Geist gilt, auf Gott anwendbar sein
mnfs.^) Wenn der Geist nnr von den Objekten, die wirklich
in ihm sind, Erkenntnis empfängt, so müsse Gott die Aas-
dehnung nnd alle Dinge, nm sie erkennen zn können, not-
wendigerweise in sieh umfassen. Damit komme man auf die
von Arnauld erhobene Anschuldigung^) zurttck, von der man
hier gegen die Person des P. Malebranche absolut abstehen
wolle. ^) Diese bildet auch den Brennpunkt der vierten Ein-
wendung.
4. Es liege ein ofiFenkundiger Widerspruch darin, dafs Gott
unseren Geist durch seine Substanz, insofern dieselbe repräsen-
tativ sei, affiziere und sich in diesem Sinne zum unmittelbaren
Objekt aller unserer Erkenntnisse mache. Denn es sei evident,
dafs Gott nicht repräsentativ sein könne fttr etwas, was er
nicht (formellement) wirklich enthalte.^) Es würde also damit
^) Dieselbe Erkenntnistheorie verteidigt Arnauld, der empirische
Neigungen hat, gegen Malebranche. Cf. 0116-Laprune II p. 22.
>) Cf. Journal de Tr6voux 1706 I p. 277: „Ces Messieurs se donnent
la libert6 de chaoger la plupart des notions, qu'on avait attachdes ä cer-
tains termes: d'oü il arrive qae ceux qai ne savent que lenr Philosophie,
se trouvent sonvent fort embarrass^s, lorsqu'ils viennent a 6tudier St.
Thomas et les autres th^ologiens **
») Cf. Rech. 1. ra p. U eh. 9.
*) Cf. p. 20 dieser Arbeit
^) et Malebranche, Lettre du 7. Juillet 1694: Anatheme ä qoiconqae
met en Dieu l'ötendue formelle, je le prononce du fond de mon coeur.
Bouillier II p. 172.
*) Nach Malebranche ist die Aasdehnung in Gott nicht nur „iddale-
ment* oder „objectivement*' in dem Sinne, dafs Gott sie erkennt, sondern
.6minemment* in dem Sinne, daCs Gott das Muster, die Quelle, das Prinzip
derselben ist, indem er eine Yollkommenhoit besitzt, welcher die KOrper
oder ausgedehnten Dinge nur sehr unvollkommen entsprechen. Es be-
deutet nicht, dals die Ausdehnung «formellement'' in Gott ist, d. h. dafs
Gott selbst ausgedehnt ist nach Art der Körper und dals diese KOrper
Teile seiner Substanz sind. Cf. Oll^Laprune II p. 21 Anm. i.
Digitized by
Google
21
gefordert, dafs die Sabstaaz Gottes wirklich die AnsdelinüDg,
die Gestalten und geschaffenen Dinge umfasse: Hier wird du
einst von Arnauldi) auf die intelligible Ausdehnung angewandte
Gleichnis vom Marmorblock herangezogen, der im unbearbeiteten
Zustande keineswegs das Gesicht des heiligen Augustinus dai-
stellen und erkennen lassen könne.
Enthalte Gott in seiner Substanz die Realität aller Wesen,
so folge weiter daraus, dafs dieselben sich sämtlich in unserer
Erkenntnis finden mttfsten, da Gott unseren Geist durch seine
Substanz affiziere. Gott zur objektiven Ursache unserer parti-
kulären Erkenntnisse machen, hiefse ferner alle unsere Er-
kenntnisse verdoppeln; erstens würden wir Gott sehen, (denn
die objektive Ursache gibt sich zu erkennen, ehe sie etwas
erkennen läfst) und zweitens würden wir alles in Gott sehen.
Damit glaubt der Verfasser zur Genüge auf ^ein Heer von
Widersprüchen' in diesem , geistreichen System* hingewiesen
zu haben.
Es bliebe noch zu zeigen, dafs ein wesentlicher Unter-
schied zwischen der Meinnng des heiligen Aagnstinus und der
des P. Malebranche bestehe.') Dabei würde sich im Vorbei-
gehen feststellen lassen, dafs Malebranche nicht denselben
Glauben an den Augustinus der letzten Lebensperiode habe.
Mit der vierten Reflexion, die in der Behandlung der
«Vorsehung* nicht über die ursprüngliche Kritik hinauskommt,
sind die Widerlegungen abgeschlossen.
Malebranche antwortete auf diese Kritik des Journals nicht
mehr. Es waren alte, längst von ihm zurückgewiesene Ein-
wände; er beschränkte sich darauf, denselben seine alten
Erwiderungen entgegenzustellen. Er vereinigte die Antworten
an Arnauld zu einer Sammlung von vier Bänden. „Sie waren
durch ein seltsames Geschick zu einer Antwort an die Jesuiten
geworden.* ^)
1) Arnauld, Le livre des vraies et des faasses idöes, eh. 15.
*) Das geschab ausführlich innerhalb der Gesellschaft zur Widerlegung
des Malebranchisten Andr6. Cf. Charma et Mancel p. 338 ff. Hier wird
von den Jesuiten die Philosophie des heiligen Augasttnus geradezu ab-
gelehnt, cf. p. 350.
•) Andr6 p. 331.
Digitized by
Google
25
Als Verfasser der Kritik nennt Ingold den P. Louis Marqnet.^)
£in Vergleieh seiner Ansftlhrangen mit dem äofsert interessanten
Auszug einer an den Jesuiten und Malebranchisten P. Andrö
gerichteten Widerlegung der neuen Philosophie, welche dieser
in dem philosophischen Unterricht lehren, und auf welche er
sich schriftlieh verpflichten sollte,^) zeigt, wie wenig Namen
hier bedeuten. Der Geist des Ordens ist es, der hier wie dort
die Feder ftlhrt, nur dafs er sich dem Bahmen einer Zeitschrift
wesentlich anbequemt. Das «Systeme spirituel* wird da zum
«fanatisme erronö, extravagant, dangereux", zu einem «tissu de
yisions absurdes', der P. Malebranche selbst, ftlr den ein Jesuit
als Journalist ,une sincöre estime autant pour sa vertu que
pour son esprit rare et &\6y6'^ vorgibt, zu einem «vision-
naire qui entraine de petits gänies dans son sentiment*, von
dem Faydit «sehr weise* sagte: ,Lui qui voit tout en Dien,
n'y voit pas, qu'il est fou,"
Verschiedentlich hatten die Journalisten eine günstige Ge-
legenheit zu einer ähnlichen ofiFenen Kritik der Ideentheorie nicht
ausgenutzt. Im Jahre 1701 war in einer Besprechung der Neu-
ausgabe der Becherche^) ohne jede persönliche Note auf die
Bedeutung und Notwendigkeit der Lehre in den Augen ihres
Erfinders hingewiesen. Tournemine hatte (1703)^) mit Achtung
von Malebranche gesprochen, wenn er auch die Meinung des
Philosophen der Vision en Dieu nicht teilte: «Quelque respect
que j'ai pour Texcellent philosophe qui a donnä cours k cette
opinion, il me pardonnera, si je ne puis croire que dös cette
vie nous voyons Dieu intuitivement et les corps en Dieu.* Die
augenblickliche „Mode der Ideentheorie' fttbrte er dabei zum
gröfsten Teil auf Arnauld zurück, welcher das System sehr
schlecht^ und mehr mit Beleidigungen als Gründen bekämpft
habe. Ahnlichen Gedanken begegnen wir im Juli 1705 in einer
durchaus sachlichen Bezension^) der «Böponse du P. Male-
branche & la troisiöme Lettre de M. Arnauld touchant les idies
^) ADdr6 p. 319, Marqner (sie) war Redakteur am Journal de Tr^vonx,
cf. Sommervogel 1 p. 42.
*) Charma et Maucel I p. 291 ff.
») Journal de Tr^voux 1701 II p. 3ff.
*) Cf. p. 32 dieser Arbeit.
») Journal de Tr^voux 1705 juillet p. 1138£f.
Digitized by
Google
26
et les plaisirg.' >) Die Theorie des P. Malebranche wird kkr
and Bchlicht der gewöhnliehen Auffassung entgegengestellt, die
Amauld in dem bertthmten Streit vertreten hatte, dais nämlich
die Ideen, die Bilder und die Wahrheiten, welche unser Geist
wahrnimmt, wirklich in unserer Seele seien. Der Beasensent
urteilt zugunsten des P. Malebranehe und mit demselben dahin,
dafs Amauld seine ganze Widerlegung auf dieses von ihm ab
unbestreitbar und evident erklärte Prinzip grttnde, ohne seiner
ersten Aufgabe nachzukommen, dasselbe gegen Malebranche zn
beweisen. „Ainsi eeux qui sont du sentiment de M. Amauld
sont Obligos d'avouer qu'en oette oecasion il a mal döfenda une
bonne cause et qu'il y a fait paraltre plus d'äloquence qae de
soliditö.'^ Die Verteidigung der Sinnesfreuden als wirklicher
Outer findet sogar besonderes Lob. Sie habe gezeigt, dals diese
Ansicht mit der Religion sehr gut zu vereinbaren sei, wenn
man in ihrem Geist glaube, dafs SinnenglUck zwar ein tat-
sächliches aber täuschendes Gut sei, das nur einen Augenblick
währe und uns in die Gefahr bringe, das höchste Gnt ftlr
immer zu verlieren. In demselben Sinn könne man den Schmerz
ein wirkliches und wahrhaftiges Übel nennen, vorausgesetzt,
dafs man zu gleicher Zeit glaube, ein ewiges Glück durch
geduldiges Ertragen desselben verdienen zu können.^) Male-
branche hatte seiner Antwort eine eigentümlich paradoxe
Schrift angehängt, in welcher er die gegen ihn gerichteten
Bücher ihrem Verfasser Amauld absprach, einerseits, weil der
Verfasser derselben keine Sorge getragen, sich über die
Meinungen seines Gegners genügend zu informieren and
schlechte Kunstgriffe angewandt habe, um ihn verhalst zu
machen; andrerseits, weil man Amauld eines solchen Voi^hens
nicht fähig glauben dürfe. Der Rezensent hält die erste Be-
hauptung für bewiesen,^) .d'nne maniöre qui ne laisse rien
ä d^sirer;" zu der zweiten bemerkt er boshaft: .il ne Tappuie
d'aucune preuve: mais les amis de M. Arnauld voudraient- ils
la contester?**)
^) Cf. zu der Entwicklangsgeschichte dieser Schrift Andr6 p. 219ff.
>) Cf. Malebranche Rech. IV eh. 10; R^ponse ä R^gis. eh. 3.
*) Cf. p. 19, 20 dieser Arbeit.
*) Ibid.
Digitized by
Google
27
Noch im Jahre 1707 (Janyier p. 48) finden wir eine kurze
Skizziemng der Vision en Dien des .berühmten Cartesianers*
ohne persönliche Note. Es wird als ein System bezeichnet,
.dont on yoit les simences dans le Platonicien anteur des
14 liyres intital6s les „Seorets de la Sagesse divine selon les
^gyptiens*.
Um so anffallender erscheint der ofiFenkundig feindselige
Artikel der Zeitschrift vom Jahre 1708. Ist es nicht letzten
Grundes der im Innern des Ordens gerade jetzt erbittert ein-
setzende Kampf gegen den Gartesianismus im allgemeinen und
gegen den grolsen Oratorianer im besonderen, der auch die
vorsichtig gezogenen Grenzen des Jesnitenjoumals einmal durch-
brochen hat?i) Aber die Redakteure besinnen sich alsbald auf
ihre alte Taktik. Einige Jahre hindurch scheinen sie sich
kanm des P. Malebranche zu erinnern, und dann tragen ihre
Angriffe eine versteckte, indirekte Form, so dafs die Be-
merkungen an einer anderen Stelle harmlos erscheinen würden.
Im November 1712 wird die Aufmerksamkeit der Leser
endlich wieder einmal auf die Vision en Dien gelenkt. Die
Nouvelles littöraires der Zeitschrift annoncieren folgendes Buch
des Greifswalder Theologieprofessors Pritius: Viri Cl. P. Francisci
Malebranchi .... enthusiasmus excussus et reprobatus. Mit
seiner altgewohnten Höflichkeit bemerkt das Journal, dafs der
Verfasser schon durch den Titel gegen die Rücksichten ver-
stofse, die man dem P. Malebranche schulde, und dafs man im
Verlaufe der Schrift noch schlechter mit ihm verfahre, verfehlt
aber nicht, eine genaue Liste der ans der Bibel gezogenen
Widerlegungen zusammenzustellen und weist ausdrücklich daraut
bin, die Lehre des P. Malebrancho sei hier bekämpft, weil sie
der Einfachheit und Vollkommenheit Gottes zuwiderlaufe und
zum Spinozismus ftlhre.^)
Man weifs auch dem Publikum zu erzählen, dafs die
y Vision en Dien* in England als eine den Quäkern zuneigende
Lehre angesehen würde und zitiert dabei ausführlich den
Gewährsmann für diese Nachricht Ein Gelehrter und Anhänger
des P. Malebranche (es handelt sich um John Norris) habe sich
1) Cf. Channa et Mancel I p. 160 und Einleitung dieser Arbeit.
*) Journal de Tr6voux 1712 mal p. 749.
Digitized by
Google
28
za einer Abwehr gezwangen gesehen, dabei aber nicht amhin
gekonnt, zu gestehen: ,Si les Tremblenrs entendaient lenr
doctrine, s'ils sayaient Fexpliquer et la rMnire en systöme, ils
ne seraient pas fort äloignäs de ses sentiments.^)
Besonders schmerzlieh war es für die Jesaiten, Ansichten
der neuen Philosophie bei Freunden nnd Bundesgenossea ihres
Ordens feststellen zu müssen. Die Art und Weise, wie sie die
Bedeutung einer solchen Tatsache abzuschwächen suchten, findet
im folgenden eine eigenartige Beleuchtung. Das Härzheft des
Jahres 1713 2) brachte eine ausführliche undänfserst schmeichel-
hafte Kritik der „Demonstration de Fexistence de Dieu^^ von Fine-
lon. Der Verfasser war mit den Jesuiten seit dem Quietismusstreit
eng Ycrbunden, sie konnten seine Freundschaft nicht entbehren.
Das Buch war cartesianischen Geistes, «vom reinsten Carteaia-
nismns geht Föneion unmerklich zum System des Autors der
Recherche de la Yäritä ttber.*') Behandelt er auch in einem
ersten Teil die natürlichen Gottesbeweise, die der jesuitischen
Doktrin entsprachen,^) so spricht er doch von der Superiorität
und Bedeutung der metaphysischen Beweise in Worten, wie
Malebranche sie nie schärfer formuliert haben würde: ^CTest une
dömonstration si simple qu'elle 6chappe par sa simplieit6 aux
esprits incapables des Operations purement intellectuelles . . . .^
Der Rezensent kann bei den metaphysischen Beweisen
nicht umhin, zu gestehen, dafs hier Meinungen entlehnt seien
,qui ne sont pas les plus communes''. Er verweist dabei auf
die Lehre von der universellen Vernunft,^) die unseren Verstand
auf ein der Erleuchtung fähiges Vermögen reduziere. Aber er
wagt hier den bitteren Spott nicht, den das Journal an unge-
fährlicherer Stelle um fast dieselbe Zeit findet,^) auch hütet er
sich, den Erzbischof darauf aufmerksam zu machen, dafs diese
Lehre durchaus nicht originell sei, wie man z. B. bereits im
folgenden Monatsheft lesen kann: .11 y a dans le discouis
0 Jonmal de Trövcux, 1712 p. 749, cf. Lyon p. 200.
«) Journal de Tr6voux 1713 mars p. 459.
») Damiron 11 p. 712-751, eh. 4: F6nelon.
*) Cf. Recb. l.IV eh. 11.
B) C'est la v^rit^ primitive elle-meine qiü 6claire tous los esprits, en
se eommuniquant a eux. F6nelon eh. 58.
*) Cf. p. 47 dieser Arbeit Journal de Tr6voaz d6eembre 1713 p. 219S.
Digitized by
Google
29
präliminaire (za der Thöodicöe yonLeibniz) ane digression cnrieuB^
sur Fentendement passif et reotendement aetif des Pöripatöticiens
et snr la prötendne äme du monde. Les Malebranchistes y
apprendront, qn'AriBtote oa platdt Averroäs, son eommenta-
teur, a le premier imaginä la raison universelle qui agit snr
noB raisons particuliöres. Ne se dägoüteront-ils point de ce
sentiment quand ils sanront qn'il n'est pas noayean?^^) Es tritt
im Gegenteil das auffallende Bemühen hervor, das vom Male-
branchismus Abweichende zur Geltung zu bringen. Wenn
Föneion annehme (comme un pröjugö et sans le prouver), dafs
Gott allein die unmittelbare Ursache aller Modifikationen in
den Geschöpfen sei,') so erblicke sein Scharfsinn doch die
gefährlichen Eonsequenzen des Prinzips und gebe darum für
die Freiheit des Menschen solche ttberzeugenden Beweise, dafs
er daraus sogar ein Argument für die Existenz Gottes gewinne.
Das Publikum mufste bei der ersten Lektüre des schnell
vergriffenen Buches sehen, dafs der Verfasser die Meinungen
des P. Malebranche teilte. Es stand zu befürchten, dafs die
Anhänger des Philosophen zugunsten ihres Meisters die Autorität
F6nelons gegen die Jesuiten ins Feld führen würden.') Mit
unendlich feiner Kasuistik arbeiteten diese nun daran, die
gefährlichen Stellen unschädlich zu machen, indem sie ihnen
den Wert einer persönlichen Überzeugung des Erzbischofs zu
nehmen suchten.^) Der P. Tournemine^) schickte der zweiten
Auflage des Buches ohne Yorwissen des Verfassers eine Ein-
leitung voraus, die den metaphysischen Gottesbeweisen cartesia-
nischer Herkunft, welche F6nelon im Anschlufs an die natür-
lichen, allgemein anerkannten gegeben hatte, nur relative
Bedeutung einräumte. Die angebliche Einwendung: ,rauteur
appuie quelquefois sur des opinions nouyelles fort contest^es
et fort äloignöes de la certitude des principes,* beantwortet
Tournemine dahin: „On peut dire que Tauteur, ayant propos6
dans les articles präcMents des preuves universelles et propres
1) Journal de TrSvouz 1713 jaillet p. 1183.
^ F^nelon eh. 65.
•) AndrS p. 360.
*) Ibid.
>) Cf. p. 12, 32 dieser Arbeit
Digitized by
Google
so
k tout le monde en propose dans ses artides de particali^res,
de respectiyes, de ees argnments ad hominem fondös sar les
prineipes refos par les adyersaires contre qai on dispute. Ce
sont des dömonstrations poar les Cartäsiens et poar les Male-
brauehistes: Tantenr n'a pas du les onblier.'^)
Der wahre Sinn dieser Worte konnte nicht zweifelhaft
sein. Sie stellten die Gartesianer nnd Malebranehisten als
Gottlose hin, denen man das Dasein Gottes anf Grnnd ihrer
eigenen Prinzipien hatte beweisen wollen.
Der tief entrüstete alte P. Haiebranche erlangte dnreh
Yermittlnng des Kardinals Polignac') nnd anf Befehl des
gefttrchteten Jesuiten Le Tellier,') der es fttr gut halten mochte,
dem Orden neue Feinde zu ersparen, eine zweifelhafte Genug-
tuung im No?emberheft der Zeitschrift:«) ,En effet, on a Jamals
pensi ä jeter sur ce yertueux pretre aueun soup^on d'Athöisme.
On dit qu'il y a de pr6tendus Ath^es Cart^siens et Malebran-
chistes; e'est uu fait et de le dire ce n'est pas attaquer le
R. P. Malebranche. On ajoute, et il ne peut pas s'en offenser,
qu'il devait renoncer k des expressions qui les favorisent* ^) Es
wird dabei wieder auf Spinoza yerwiesen, in dessen System
allein Gott das „£tre en gänäral^ sei. Malebranche, welcher die
Religion liebe, könne sicherlich keine Mühe haben, ihr solche
Bezeichnungen zu opfern, da er bereit sein wttrde, ihr gröbere
Opfer zu bringen.
0 Die Vorrede findet sich im Anhang der CEuvres phQosopbiqnes
ou dömonstrations de Pexistence de Dieu par F6nelon. Nouyelie Edition
Amsterdam 1721 p. 301.
') F6nelon schrieb an den Kardinal de Polignac, .que les prenvea de
l'existence de Dieu qa'il avait puisöes dans la Rech, de la V6rit£ Im
paraissaient solides et qu'il ne s'en 6tait servi que parceqn'U les eroyah
telles;*' cf. Andrö p.372.
*) II est entiörement opposö i ce qn'on appelle nonveUe Philosophie.
Blampignon, Corr. in6d. p. 24.
*) Journal de Tr^yonz 1718 novembre p. 2029.
•) Cf. p. 17f. dieser Arbeit
Digitized by
Google
81
Kapitel IIL
Eine der grofsen Fragen, welche die cartesianiBche Philo-
sophie anregte, betraf die Beziehungen der geschaffenen Sub-
stanzen zueinander. „Descartes hatte ihre volle Aussohliefs-
licbkelt ihrer Existenz nach betont und weiterhin doch auch
ihrer Funktion nach angelegt.^ Mit seinem persönlichen Glauben
an eine wirkliche Verbindung von Seele und Körper, i) die er
gelegentlich in kirchlich sanktionierte Worte kleidete,') blieb
das Problem ungelöst. Eine von den Prinzipien des Meisters
aus konsequente Lösung versuchten die Occasionalisten, indem
sie jede Möglichkeit eines Einflusses leugneten und den schein-
baren Zusammenhang durch die stetige Einwirkung Gottes
vermittelt sein liefsen. Malebranche leugnet jede Kausalitäts-
beziehung zwischen den geschaffenen Substanzen und erklärt
auf dem Boden seines Systems: „dans Tunion de Väme et du
Corps il n'y a point d'autre lien qne Tefficace des däcrets divins.')
In den Augen der katholischen Philosophen^) begründeten
die im Cartesianismus zugelassenen Beziehungen zwischen
Körper und Seele nicht zur Oenttge die Einheit des Menschen,
denn da die Seele den Modifikationen des Körpers vollständig
fremd blieb, konnte sie nicht mehr die Form des letzteren
genannt werden, wie die KonzilbeschlUsse von Vienne und vom
Lateran ausdrücklich festgelegt hatten.^) Die Jesuiten standen
einmal deswegen, dann aber ihrer ganzen Richtung nach dem
idealistischen Bestreben, das Gefühl unserer Aktivität in uns
zu verringern und in Gott die Weisheit auf Kosten unserer
Freiheit zu erheben, diametral gegenüber.*) Geschöpfe zu occa-
0 Cf. Descurtes, dd. Cousin X p. 161; Meditation I p. 336.
*) Sdendam itaque humanam animam, etai totom corpus „informet''.
Princ. phUos. IV p. 189.
s) Entret. m6taph. IV, XI.
«) Cf. Charma et Maacel I p. 224 Anm. 23.
^) Cf. Journal de Tr^vonz 1706 I p. 282. On devait regarder comme
h^r^tique qnieonque aurait la pr^somption d'affirmer, de sontenir et de
croire avec opiniatretö qne Vkme raisonnable et intelligente n'est pas par
elle-m@me et par son essence la forme du corps humain.
•) Cf. 0116-Laprune II p. 91.
Digitized by
Google
S2
flionellen Ursachen machen, heifst aber nnsere Passivität auf
die schärfste Formel bringen und die Persönlichkeit yemiehten.
£s ist nicht zu verwundern, wenn diese Lehre sieh unter den
30 Punkten befindet, die den Mitgliedern des Ordens za lehren
verboten waren, i)
Als sich das Jonmal de Trivonx seinerseits im Jahre 1703
dem Problem der Verbindung von Leib und Seele zuwandte,
beteiligte es sich damit offenbar an einer, gerade am diese
Zeit wieder lebhaft geftthrten Diskussion desselben. >) Der auf
den verschiedensten Gebieten arbeitende Jesuit und Redakteur
Tournemine^) veröffentlichte im Jahr 1703 seine „Conjectures
sur Tnnion de Täme et du corps".^) Er polemisiert dabei gegen
die Schulpbiiosophen, welche die Verbindung herstellen durch
ein besonderes Wesen, dessen Eigenart es sei, zu verbinden,
das weder Körper noch Geist und obgleich unteilbar, doch
zum Teil körperlich und zum Teil geistig sei. Mit einigem
Erstaunen stellt man diesen Angriff eines Jesuiten gegen die
substantiellen Formen fest, welche dem Orden geläufig waren,
um die Tierseele zu erklären, &) und die sie gegen den Gartesia-
nismus verteidigten.^) Tourncmine findet die cartesianiscbe
Theorie der Wechselwirkung (,les Cartteiens ont beaucoup
raffinö sur la Philosophie de l'^cole'') ebensowenig befriedigend,
da sie die Folge der Verbindung und nicht diese selbst erkläre.
Wenn darauf die Gartesianer „qui ne demeurent pas k Töcorce
des difficultes, qui p6nötrent tout^ Gott als die nächste Ursache
einsetzten, so sei das eine «sehr fromme'' und ^wenig philo-
sophische^ Antwort Es bliebe zu erfragen übrig, wie Gott
seinen Beschlufs ausführe. Die allgemeinen Gesetze der Ver-
bindung, durch welche Malebranche dieses Überspringen der
Kausalität von Gott auf die Welt erklären wollte, finden eben-
falls keine Anerkennung. Das «Lächerliche der cartesianischen
Meinung" wird für Tournemine am besten zum Ausdruck
gebracht durch den Vergleich von zwei Uhren, deren stets
1) Charma et Mancel I p. 222.
>) Gf. Archimbaud III p. 164.
>) Gf. p. 12, 29 dieser Arbeit
0 Journal de Trövonz 1703 n p. 864; 1703; 1068.
B) Gf. Gharma et Mancel I p. 227.
•) Ibid. p. 226-
Digitized by
Google
83
ttbereinstimmender Gang infolge einer ständigen Regulierung
durch den Mechaniker keine grofse Gesehicklichkeit und Fein-
heit des letzteren voraussetze. Diese Einwendung von Leibniz
zerstöre den Occasionalismus als eine mögliche Verbindung
von Körper und Seele vollständig, und obschon es sich in
seinem System der prästabilierten Harmonie auch nicht um eine
essentielle Verbindung handle, so sei dasselbe doch besser er-
dacht und Oottes würdiger, i)
Lob und Ablehnung kommen Leibniz erst i. J. 1708 zu
Gesicht, und er beeilt sieh, eine Einwendung gegen die
Cartesianer, auf die er sich angeblich nicht mehr besinnt, 2)
zurückzunehmen, da man sie offenbar gegen ihn selbst richten
könne:') «J'aurai eu grand tort d'objecter aux Cartäsiens que
Taccord que Dien entretient immödiatement, selon enx, entre
Täme et le eorps ne fait pas une v6ritable union: puisque
assuräment mon harmonie präätablie ne saurait en faire
davantage." ^) Er habe nur das perpetuelle Wunder, das der
Occasionalismus nötig mache, zurttckweisen und natürlich er-
klären wollen.
Von den Vorurteilen der Sehulphilosophie befreit, „wie
die Cartesianer es so ausdrücklieh anempfehlen', und nicht
weniger losgelöst von allen denen, womit die Philosophie Des-
eartes' die Köpfe erfüllt habe, macht sich der Jesuit seinerseits
daran, das Prinzip einer „natürlichen, wesentlichen und not-
wendigen Verbindung^ von Körper und Seele nachzuweisen
und es in der Seele selbst zu begründen. Tournemine macht
aus der Seele die Form des Körpers,^) wie es der Konzil-
*) Das Journal de Tr^vcoz 1713 jaulet p. 1189 spendet ihm folgendes
Lob: Son Systeme mg^nieox de l'harmonie pr66tablie ... est trds favorable
ä U libert6.
') Cf. Toamemine, Journal de Tr6vonx 1708 I p. 496: A Tögard de
Fobjection contre les Cartösiens qa'U döaavoue, je consens qu'U soit ora,
quoiqne ma memoire me repr^sente encore cette objection comme lue ü
y a plusieors annöes dans quelqu'an des Berits dont M. de L. a enrichi le
Journal de Tr6voaz.
■) Journal de Tr6voux 1708 mars p. 492.
*) Cf. Novaro p. 62.
>) Cf. BouUlier 1 p. 564: le F. Toarnemine paratt incliner a faire de
Farne la forme da corps.
PhUofophiiolio Abhmndlnniren. XLIII, 3
Digitized by
Google
84
beschlnls von Vienne festgelegt hatte, i) Man kann aoeh bd
ihm die Seele im Sinne deg Aristoteles definieren „als die
Fanktionsverwirklichnng eines organischen Körpers, d. h. eines
Körpers, dessen Bestandteile sich als Werkzeuge der in ihm
liegenden Fanktionsweise darstellen-*.^) Das yerbindende Prinzip
ist für Toumemine eine der menschlichen Seele natürliche, mit
ihr geschaffene Kraft, die Teile des Körpers, fttr den sie be-
stimmt ist, in einer den menschlichen Funktionen günstigen
Lage ZQ halten. Diese Kraft einer jeden Seele ist dem Körper
den sie beleben soll, relativ; da sie mit der Natur der Seele
identisch ist, so macht sie die eigentliche Verschiedenheit der
Seelen aus; somit sind die für verschiedene Körper bestimmteo
Seelen ebenso verschieden wie die Körper es sind, für die sie
bestimmt sind. Die Verbindung besteht also in einer Wirkung
der Seele auf den Körper. Sie ist für den Körper wesentlieh
notwendig, damit er ein menschlicher Körper sei, und ebenso
notwendig fttr die Seele, die ihrer Natur nach dafür bestimmt
ist 3) Sie wirkt unmittelbar, unabhängig vom erkennenden
Wollen auf die Lebensgeister und kraft ihrer auf die anderen
Teile des Körpers. „Die Struktur, die Lage, der Zustand des
Körpers modifiziert die Wirkung der Seele auf den Körper und
gestaltet sie leichter oder schwieriger." ^) Daraus leitet Tonrne-
mine die Verschiedenheit der Gefühle und Wahrnehmungen
ab.^) Er unterscheidet die unvermeidlichen .natürlichen^ oder
„zuvorkommenden^ Gefühle (z. B. das Fieber), welche der Er-
kenntnis vorangehen,*) von den freien Gefühlen, welche aus
der Reflexion stammen und von uns abhängen und versucht
die Entstehung der ersteren zu erklären: Auf den menschlichen
0 Cf. p. 31 Anm. 5 dieser Arbeit
') Siebeck, Aristoteles, Stuttgart 1902.
*) Cf. Malebranche, Pr^face de Is Rech. id. Simon p. 2. Ge lapport
qu'elle a k sou corps pourrait n'dtre pas. Dien a pu ne pas unir i des eorpi
les esprits qui y sont maintenant anis . . . le rapport de notre esprit i
notre corps . . . n'est point absolument nöcessaire ni indispensable.
*) Journal de Tr^vonx 1710, juin p, 992.
«) Ibid. 1703 III p. 1065 ff. Suite des oonjectores sur l'nnion de Hüne
et du corps par le P. Toumemine, J^snite. • i
*) Cf. Rech. 1. II p. I cb. 5: le corps ne devieat point capable de seati-
ment par Tanion qn'il a avec Tesprit . . . Le oorps n'est point capable de
sentiment
Digitized by
Google
SS
0
Körper wirken nnendlieh viele andere Körper fortwährend ein,
und einige dringen bis in seine innersten Teile. Wenn nnn
ihre Eindrtleke die vollkommenste Lage der Teile des Körpers
UDterstützen, so erleichtem sie die Wirkung der Seele; stören
sie diese Lage, so erschweren sie dieselbe. Die Seele empfindet
die Leichtigkeit ihrer Tätigkeit als Freude, die Hemmung der-
selben als Sehmerz; die Gradunterschiede ergeben sich dabei
von selbst, und ihre Dauer hängt von der Daner des sie ver-
ursachenden Eindrucks ab.
Die Gartesianer hatten das Gefühl in die Seele verlegt
und es unabhängig vom Körper gefafst. Aber für Aristoteles
gehört unter anderem das Geftthlsvermögen nicht wesentlich
zu unserer geistigen Natur; es ist vielmehr das Ergebnis der
tatsächlichen Verbindung von Seele und Körper. Auch hier
zeigt sich Tournemine, der sich für sein System auf Aristoteles
und den heiligen Thomas beruft, als echter Peripatetiker. Die
drei Vermögen der Seele sind für ihn Verstand, Wille, Bewegung,
wie es später noch schärfer hervortreten wird,^) und wie es
einem Jesuiten ziemte.^)
Eine gleiche Einteilung und Erklärung wie die Gefühle
finden die Leidenschaften. Die verschiedenen Dispositionen des
Körpers, bedingt durch die Ungleichheit der Säfte, diversifizieren
die Tätigkeit der Seele gelegentlich der «prävenierenden Leiden-
schaften* (z. B. Melancholie), während bei den „reflektierten*
die Seele nicht mehr imstande ist, ihrer Aufgabe gerecht zu
werden und überdies dem Körper ihre eigene Erregung nach
MafBgabe seiner Empfänglichkeit mitteilt. Tournemine hält im
ausdrücklichen Gegensatz zu Descartes das Herz als den Haupt-
sitz der Leidenschaften fest')
1) Gf. p. 37 dieser Arbeit
*) Gharma et Mancel I p. 2S4. Proposition que le professeur ne doit
plns avancer: tres in ea distingnimus facaltates, intellectum rationalem,
▼olnntatem vere activam, et censum vere passivum. On ne parle point
U de paissance poor monvoir.
*) Gf. Journal de Tr^voux 1709 p. 614. Si M. Descartes avait su que
Ton tronve quelques fois la glande pinSale absc^d^e ou sqnirrease dans
des Sujets dont le raisonnement n'a Jamals 6t6 affaibli, 11 n'aurait eu garde
de choisir cette glande ponr y ^tablir le siöge de Farne. On doit blen
augnrer d'on Systeme de physique qui ne doit dtre 6tabli que sur des
d^monstrations anatomiques qu'il n'est pas permis de r^voqaer en doute.
8*
"Digitized by
Google
86
Was die Ideen anbetrifft, so yerwirft er die Bildertheorie
der Peripatetiker ebensogut wie die Vision en Dien^ ni^d die
Erkenntnis der Dinge an sich. ,,L'äme, k proprement parier,
ne eonuatt, ne voit qae soi-m6me; et tont ce qn'elle connait,
nW eonnn d'elle qae par Timpression qu'il fait snr eUe.* Die
Ideen erklärt Tonrnemine ebenfalls aus der Verbindung heraus
dnrch einen Schlafs von der Wirkung auf die Ursache; indem
die Seele ihr Wesen, ihre Eigenschaften, ihre Veränderangeo
erkennt, erkennt sie die verschiedenen Ursachen aller dieser
Wirkungen in den Wirkungen selbst, d. h. in sich, in ihrer
jeweiligen Affektion und zwar im Verhältnis ihrer Aufmerksam-
keit. Er tritt, wie schon früher erwähnt, >) fttr die angeborenen
Ideen des Selbstbewufstseins, der darin eingeschlossenen Idee
von Gott und der Vollkommenheit ein. Er gibt auch bedingungs-
weise eine klare Erkenntnis dieser Ideen zo.
Die Idee eines Körpers ist nichts anderes als die wahrge-
nommene Beziehung zwischen der Hemmung oder der Leichtig-
keit, welche die Seele in ihrer Wirkung auf den Körper findet
und der Ursache dieser Hemmung oder Leichtigkeit Geister
kann die Seele in diesem Leben nur mit Hilfe der Körper
erkennen.^) Zu den angeborenen Ideen, den Ideen aus der
stetigen Wirkung der Seele auf den Körper, und den Ideen
aus einer unmittelbaren und aufsergewöhnlichen Einwirkung
Gottes treten hinzu diejenigen aus den freien, vom Willen ab-
hängigen Bewegungen, welche die Seele den unendlich zarten
Organen des Gehirns mitteilt. Wenn sie dabei diesen Organen
durch eine freie Bewegung dieselbe Lage gibt, die sie gelegent-
lich dieser Ideen bereits früher hatten, so sprechen wir von
Gedächtnis.«)
Ans der Verschiedenheit der Organe des Gehirns erklärt
Tonrnemine die verschiedenen Eigenschaften des Geistes, anf
die hier nicht weiter eingegangen werden soll, weil Tonrnemine
0 Gf. p. 25 dieser Arbeit
«) Ibid. 14.
*) Gf. Malebranche Rech. 1. ni, pari. 11, eh. 7. II y manifeste qoe
noas ne les connaissons qae par conjectore . . . mais lorsque le oorps
a quelqae part k ce qui se passe en moi, Je me trompe presque tonjonrs,
si je jnge des autres par moi-mSme. Entret. sur la M^taphys. VI, 3.
*) Gf. Malebranche, Rech. eh. 5.
Digitized by
Google
87
selbst sagt, dafs in den anderen Systemen eine ähnliche Er-
klärung möglich sei.^)
Die zahlreichen, in vielfachen Punkten ttbereinstimmenden
Einwendnngen gegen den Artikel Tournemines, die mit seinen
Antworten veröffentlicht wurden, sind hier nur insofern berück-
sichtigt, als sie cartesianische Anschauungen gegen den Jesuiten
ins Feld führen.
Ein ungenannter Gegner — er wird im Journal als Freund
eines Abb6 de Belmont^) eingeführt — ist offenbar Cartesianer.
Er betont die scharfe Trennung der geschaffenen Substanzen,
die eine Wirkung der Seele auf den Körper ebenso unmöglich
mache, wie die von Toumemine zugegebene Wirkung des
Körpers auf die Seele es sei. Infolgedessen operiere Tourne-
mine in seinem ganzen System mit der zu lösenden Schwierig-
keit als einem Hauptfaktor und könne nicht überzeugen. Die
Verbindung sei letzten Grundes ein Geheimnis und die beste
Lösung eine Vermittelung durch den Willen Gottes, der die
Vereinigung zu einem Gesetz erhoben habe.')
Demgegenüber weist Toumemine^) vor allem den Vorwurf
der petitio principii zurück. Die Verschiedenheit der Substanzen
schliefst die behauptete Einwirkung der Seele auf den Körper
nicht aus. Das beweise die von den Gartesianem selbst heran-
gezogene Wirkung Gottes auf den Körper. Die Unendlichkeit
hebe die Verschiedenheit der Substanzen nicht auf. Wenn nur
ein Körper auf Körper wirken könne, so könne ein unendlicher
Geist auch nicht auf Körper wirken.^) Er habe die Wirkung
des Körpers auf die Seele verneint, weil derselbe nur eine Tätig-
keitsart, nämlich den Stofs, habe, also die Seele nicht bewegen
könne. Dieser als einer von Natur ganz aktiven Substanz
müsse vielmehr neben ihren bereits verschiedeneu Tätigkeits-
arten des Denkens und WoUens die dritte der Bewegung des
0 Cf. a. a. Rech. 1. U pari I eh. 1.
*) Joumal de Tr6voax 1703 septembre p. 1661 ff.
*) Dieselbe Ansicht vertritt M. l'Abbd Languet de Montigny, Journal
de Tr6voux 1708 IV p. 1S52.
*) Journal de Tr^voux 1703 octobre p. 1S60.
*) Dasselbe Argument finden wir in Buffier S. J^ Les principes du
raisonnement. Cf. Joumal de Trövonx 1714 septembre p. 1550ff.; cf. p. 23
dieser Arbeit,
Digitized by
Google
38
Körpers znerkannt werden, da dieselbe nieht darch einen EOrper
beginnen könne. Es ist also eine Eigenschaft des Geistes, auf
den Körper zu wirken, und der Körper seinerseits ist für die
Tätigkeit des Geistes empfänglieb. Dem cartesianischen Ein-
wand gegenüber, dalB das Vermögen zu bewegen keineswegs
in der Idee der Seele enthalten sei,i) beruft er sich anf die Er-
fahrung: „L'expörience vous apprend qne l'äme agit sur le Corps
comme eile vous apprend qne vous pensez, que vous yonlez.''
Im Namen aller Forscher weist Tournemine die YermitÜang
durch die Gottheit zurück als „un expödient commode*, das
alle Forscherarbeit unnötig mache.
Dafs man das System des P. Tournemine als eine Wider-
legung der cartesianischen Auffassung angesehen wissen wollte,
geht aus folgenden Zeilen hervor, die in dem Bericht Aber
eine Analyse der Philosophie Descartes' von Parent zu lesen
sind: „Une piöce qne nous avons ins6räe ... sur runion de
Täme et du corps röfute tont ce que dit ici M. Parent sor le
m§me sujet^^) Die einfachste Ablehnung der cartesianischen
Theorie finden wir im Journal de TrÄvoux, janvier 1707 (p. 45):
„Ne connaissant donc clairement ni la substance du corps, ni
mSme Celle de l'äme, comment peut-il assurer qu'ii est im-
possible que ces deux substances agissent l'une sur Tautre.''
Über den in dieser Arbeit behandelten Zeitabschnitt hin-
ausgreifend, finde ich im Dezember 1730 einen «Essai sur l'union
de Tarne et du corps" von einem Jesuiten P. Sarrabat*)
Derselbe will eine notwendige Verbindung zwischen Körper
und Seele aus einer „Analyse der Modifikationen der Seele''
gewinnen. Im Denken und Wollen findet er dieselbe nicht, da
beide keine wesentliche, unmittelbare Beziehung zu irgend
einem existierenden Körper enthalten. „La pensäe meme que
j'ai du Corps peut 6tre sans qull en existe aucun.* Nach dieser
cartesianischen Behauptung fährt er fort als echter Sensualist,
*) Cf. Journal de Tr6voux 1703 111 p. 1064.
') Journal de Trövoux 1703 Ul p. 1108. 1741 liefii ehi Professor der
Logik an der Universität Freiburg i. B., der Jesuit Daniel Stadler folgende
Schrift erscheinen: Commercium fnter corpus et animam potissimnm joxta
mentem R P. Tournemine S. J. explicatum. Gf. Sommervogel I p. 28.
>) Journal de Tr^voux 1730 IV p. 2201. Lettre du R. P. Sarrabat
J^suite au R. P. Castel.
Digitized by
Google
89
welcher der SinneswahmehmaDg als solcher nnmittelbare Wahr-
heit znschreibt und in ihr die gesuchte wesentliche und un-
mittelbare Beziehung zu existierenden EOrpem findet «In den
Sinnesempfindnngen, im Sehen, Hören usw., nimmt die Seele
die Beziehung wahr, welche die körperlichen Objekte mit einem
gewissen anderen Körper haben, den sie ihm zu innerst
als gegenwärtig darstellen.^ Aufser diesen universellen Be-
ziehungen der Sensationen mit dem Körper im allgemeinen,
gibt es besondere mit seinen verschiedenen Organen, aus
welcher die Unterscheidungsmöglichkeit der einzelnen Sinnes-
wahrnehmungen resultiert: „Seele und Körper sind also nicht
so ungleiche Substanzen, wie die moderne Philosophie hat
behaupten wollen.'' «L'union de Täme et du corps ne
consiste quo dans la Sensation actuelle.''
Kapitel IV.
Descartes führt für das Dasein der Körperwelt Beweise,
welche zeigep, dafs das eigentliche Problem der Realität der
Aufsenwelt für ihn noch vollkommen fehlt Aber indem er
seinen ontologischen Beweis entwickelt, ist das Dasein der
Körperwelt nicht mehr als unmittelbar sicher gesetzt.^)
Für Haiebranche, der keine Kausalität zwischen physischer
und psychischer Welt bestehen läfst, bleibt nur der Begriff
Gottes übrig, um die reale Existenz der Körper zu begründen.
Er hält es für unmöglich, einen rationalen Beweis zu geben,
da sich kein notwendiger Zusammenhang nachweisen läfst
zwischen der Vorstellung der Idee, die in Gott ist, und der
Existenz eines entsprechenden Dinges.^) Nur der Glaube kann
uns hier absolute Sicherheit geben. Der Zweifel an der Existenz
der Auisenwelt ist nach ihm zwar unbegründet,') läfst sich
aber wissenschaftlich nicht widerlegen.
1) Descartes, M6dit VI, 4. Gf. Discours IV 6d. Cousin I p. 114.
*) Cf. Malebrsnche, Entret m6taph. VI; I, 5; Eclairciss. VI; Rech. 1. 1
cb. 10; Trait^ de morale I eh. I, 5.
•) ELtret VI, 7.
Digitized by
Google
40
«Malebranehe nnd seine Anhänger hatten das ideaUstiselie
Problem in Flnls gebracht/ 1) Das Journal de Trävonx bringt im
November 1704 den ersten eingehenden Artikel zn der Frage.^)
Es ist eine Widerlegung der cartesianisehen Ansicht, naefa
welcher das Dasein der räumlichen Aufsenwelt nicht als un-
mittelbar gewifs gilt und erst auf mittelbare Weise bewiesen
werden mufs. Nach einer resümierenden Darlegung der
Fragestellung und ihrer Lösung, die sich auf die 6. Meditation
Descartes' gründet, werden die Vertreter .dieser seltsamsten
aller Paradoxen*^ darauf verwiesen, dals sie damit den Pyrrho-
nismus wieder herstellten, da sie von den Qrundprinxipien ihrer
Philosophie nur das Gogito ergo sum gegen einen Skeptik»
aufrecht erhalten könnten. Mit dem Beweis von der Existeia
der Seele seien sie am Ende ihrer Erkenntnis angelangt, denn
alle weitere hänge an dem Beweis vom Dasein Gottes. Derselbe
setze aber den Nachweis voraus, dafs die Idee von Gott kein
Traum sei, dafs ich, der ich über die Frage nachdenke, nicht
tatsächlich träume. Es sei unmöglich, dafUr ein Argument zu
erbringen, das mich nicht zugleich von der Existenz meines
Körpers überzeuge. Der so von den Skeptikern in die Enge
getriebene Cartesianer würde darauf ohne Zweifel seine Zuflaeht
zu der „unmittelbaren Gewifsheit'' der Schulphilosophie nehmen:
„II mW si Evident, dira-t-il, que je veille et que je ne dors
pas actuellement, qu'il ne faut point de preuve pour m'en eon-
vaincre et qu'il ne m'est pas meme libre d'en douter.* Diese
Antwort genüge aber, um seine Zweifel an der Existenz der
Körper zu zerstören, denn es ist mir ebenso evident, dals ich
schreibe, spreche, gehe, wie es mir klar ist, dafs ich wache.')
Der cartesianische Hinweis auf die geringe Wahrhaftigkeit
unserer äufseren und inneren Sinne sei nicht stichhaltig. <)
Wenn Menschen mit einem amputierten Glied zuweilen noch
die Empfindungen desselben haben, so beruhe das auf einer
1) Vaihinger p. 95.
*) Journal de Tr6youx 1704 novembre p. 1945—51: B6flexions aar U
question si l'ün est certain d'avoir un corps et qu'il y alt d'autres eorps
que le ndtre.
») Cf. Descutes M6d. VI.
*) Cf. Descartcs M^dit. VI; Malebranche, Entret m6taph. VL
Eclairciss. VL
Digitized by
Google
41
wirklichen and nicht illasorisehen Ursache, sei es auf der Er-
innernng an die vergangenen Gefühle mit ihrer langen Gewohn-
heit, sei es auf der Wirknng von Lnftreiznngen an dem Ende
der noch vorhandenen Teile. Das stärkste Argument der
Cartesianer verweise auf Gott als die mögliche nnd einzige
Ursache aller der Veränderungen in meiner Seele, die ein
Körper dort hervorbringen würde. «Gott kann ans sich nnd
ohne Hilfe von Geschöpfen alles tun, was diese tun.*^ Mit
diesem Paralogismus hätten sie viele Köpfe geblendet. Sicher-
lich könne mir Gott viele Dinge vorstellen, die aufserhalb ihres
Yorgestelltwerdens keine Existenz haben, aber dieser anmittel-
bare Eindruck auf unsere Seele sei verschieden von dem mittel-
baren, den Gott dnrch sekundäre Ursachen hervorrufe: Jede
Verschiedenheit in der Ursache trägt eine Veränderung in die
Wirkung hinein 1 Nach diesem unleugbaren Prinzip müssen
sich alle durch die unmittelbare Tätigkeit Gottes erzeugten
Vorstellnngen von den auf wirklich existierenden Objekten
beruhenden Vorstellungen unterscheiden. Die „aufmerksame
Seele* kann diesen Unterschied erkennen. Damit sei der Macht
Gottes keine andere Schranke gesetzt, als die, welcher sie
bedürfe, damit Gott ganz vollkommen sei. Es folge daraus,
dafs Gott das intelligente Geschöpf nicht täuschen könne, wenn
es sich aller von Gott verliehenen Erleuchtungen bediene.
Diese Reflexion, deren Kernpunkt die nachgewiesene Un-
möglichkeit ist, eine sichere Unterscheidung von Träumen und
Wachen zu geben, die nicht zugleich die Existenz der Körper fest-
stellt, findet im Juniheft des nächsten Jahres (1705) ein religiös
orientiertes Seitenstück.^) Hier wird die malebranchistische Form
des problematischen Idealismus bekämpft, wonach das Dasein
der räumlichen Äufsenwelt zweifelhaft ist, nnd es keine Mög-
lichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis derselben gibt. Der
unbekannte Verfasser, der im Namen der Religion und des
gesunden Menschenverstandes polemisiert, erzählt, dafs es Ein-
wendungen 2) seien, welche er um die Zeit des Erscheinens der
Entretiens mötaphysiques^) durch Vermittlung eines Freundes
>) Joum&l de Trövoax 1705 juin p. 1058—70. Lettre k an des anteurs
des M^moires aar le deute de Pexistenee des corps.
*) Eclairciss. VI enthält im weBentlichen dMselbe.
*) Die erste Auflage erschien 1688, die zweite Auflage 1696.
Digitized by
Google
42
und ohne sich zu nennen an Malebranehe (er sagt „an P/
ohne Namensnennung) geschickt nnd von diesem erhalten
habeJ) «Comme j'ai yn qn'on commen^ait k n^gtre pas tont
k fait 81 entgtä de eette philosophie, j'ai cru qn'on ponvait les
faire paraltre.* Wer dieser Bekannte des P. Malebranehe (Je
Tai antrefois beanconp connn^) gewesen ist, liefs sich nicht
ermitteln, trotz folgenden Fingerzeiges der Redaktion: .Nons
craignons que la soliditö, la justesse des raisonnements et la
dälieatesse de Fexpression ne d<§conyrent malgr^ lui Taateur,
connn da public par d'aatres onvragea fort CHtimös.''
Er greift diese „Paradoxie'', den cartesianischen Zweifel
an der Existenz der Körperwelt, an als einen ^scandale poor
le Ghristianisme: il sape tons les fondements de la retigion.
Si on peut donter qnll y ait des corps, on pent donter de la
cr^ation du monde, de celle d'Adam et de sa chnte, de Fexi-
stence des prophötes et de J6sas- Christ, enfin de celle des
Apötres et des ^critures. Äprös cela, snr quoi sera fondöe la
Religion?* Er sacht den Gartesianem za beweisen, dals sie
sich trotz ihrer Bemtthnngen vor den «fächenx inconyönients*
ihres Zweifels nicht retten können. Wenn dio Gartesianer der
Religion moralische Beweise für die tatsächliche Existenz der
Körper als eine hinlängliche Sicherheit bieten, so yergessen
sie, dafs ihr eigenes Sjetem die metaphysischen Wahrheiten
nnr beweist, am die moralischen zn begründen, so dafs alle
moralische Gewif sheit nar aaf der metaphysischen bemht Die
Eyidenz als ein cartesianisches Kriterinm der Wahrheit liegt
nnr in den metaphysischen Beweisen, die eben yon der Existenz
der Körper angeblieh nicht gegeben werden können. Es wird
also yerlangt, dafs ich den Glaaben wie ein grandloses Gebäude
aufrichte. — Ebensowenig stichhaltig wie der Hinweis auf die
Ungefährlichkeit dieses Zweifels sei die Behauptung, für den
Glauben genüge unsere Sensation yon Körpern. Die Be-
gründung des P. Malebranehe wird resümiert: Indem ieh den-
selben Regeln folge, welche mich bei Voraussetzung yon Körpern
yeranlafsten, an das Eyangelium zu glauben, werde ich auch
^) Es yerdient bemerkt zu werden, dafs im ganzen VerUmf des
Artikels auch bei so spezifisch malebranchistischen Lehren wie die Ideen-
theorie nur yon Gartesianem im allgemeinen gesprochen wird.
Digitized by
Google
43
ohne diese Voraassetzang doch dahin geführt zn glauben, dafs
alles, was das EvaDgeliam lehrt, wahr ist. Nun' lehrt mich
,^die ErseheinaDg des EvaDgelinms^, dafs Gott Himmel nnd
Erde geschaffen hat. Es gibt also Körper. So hebt der Glanbe
die Zweifel, nnd die ErscheinuDgen von EOrpern werden
Realitäten. 1) Abgesehen davon, dafs die Regel, die mich zam
Glanben an das Evangelinm führt, znr reinen Illasion werden
müsse fttr den, der an der Realität dieses Baches zweifelt, so
könnten die Cartesianer aus dem „Schein des Evangeliums"
doch auch nur auf den „Schein von Wahrheit'* nnd niemals
auf eine Realität schliefsen.
Der cartesianischen Forderung eines metaphysischen Be-
weises stellt auch dieser Gegner die unmittelbare Gewifsheit
gegenüber.^) ,G'est comme si on me demandait que je prou-
vasse qu'il fit jour lorsqu'il est midi .... Ges Messieurs . . .
ont trop d'esprit pour se contenter de cefte ävidence.'^)
Der Beweis aus der Sinnesempfindung aber ist flir ihn so
überzeugend wie der Beweis Gottes aus seiner Idee. .Sentir
c'est apercevoir par le Corps. "^ Aus der Wahrnehmung durch
den Körper, schliefse ich auf die Existenz derselben, weil die
Idee dieser Wahrnehmung die Körper einschliefst. 4) Auch die
Traamhypothese kann hier nur ein Beweis fttr die Existenz
sein, denn ich träume nur, weil ich einen Körper und in diesem
gewisse Bilder von anderen Körpern habe. Die Antwort, dafs
die Sensation nicht den Körper, sondern seine Idee einsehliefse,
wird aus zwei Gründen fttr offenkundig illusorisch erklärt.
Erstens, weil die Idee die Seele nicht afSzieren könne; zweitens,
weil damit die Intellektion mit der Sensation verwechselt werde.
Das reine Denken habe die Idee der Körper, mit der sich die
Mathematik beschäftigt, zum Gegenstand, die sinnliche Wahr-
nehmung aber die Körper selbst
Die Kausalität zwischen Körper und Seele aufheben und
in Gott verlegen, ist fttr den Verfasser eine willkürliche An-
nahme, denn wir können weder vom Geist noch von der Materie
0 Gf. Malebranche, Eclairciss. VI.
') Cf. p. 40 dieser Arbeit
•) Ibid. und p. 39.
*) Cf Malebranche, Eclairciss. VI.
Digitized by
Google
44
eine klare Idee haben. 0 Da die Cartesianer eine solche in
bezng anf den Geist verneinen, beleuchteten sie damit nnr um
so schärfer ihre Inkonsequenz. Es genüge, einen der Haupt-
teile einer Maschine nicht zu kennen, um keine Rechensebaft
über die Bewegungen dieser Maschine geben zu können. Ihren
Zweifel wissen die Cartesianer in folgenden schönen Vorwand
zu kleiden: „CTest nne excellente disposition d'esprit d'Stre plus
persuad^ de Texistence et de la prösence de Dieu que de oelle
des Corps."" Zahlreiche andere Philosophen aber kennen keine
bessere Richtung des Geistes als zu urteilen, wie die Propheten
und Apostel geurteilt haben 1 Zum Schluls wird die Nutz-
losigkeit und Unfruchtbarkeit^) ähnlich gezwungener und weit-
schweifiger Erwägungen betont: ,0n ne gagne pas le coeur en
fatiguant resprit.*" Es müsse jeden Menschen empören, wenn
man ihm einreden, wollte, dafs er nicht wirklich das sieht,
was nach seiner festen Überzeugung nicht nur von ihm selbst,
sondern auch von allen andern wahrgenommen wird.
Es sind nicht solche eingehenden Widerlegungen des
Zweifels an der Realität der Aufsenwelt, die den M^moires de
Trövoux eine besondere Stellung in der Frage des Idealismus
eingeräumt haben. Diese Ehre verdanken sie einer kleinen
unbewiesenen Erzählung, die mit anscheinender Harmlosigkeit
an einer wenig auffälligen Stelle der Zeitschrift steht Es
handelt sich um die Ankündigung des Buches von Berkeley
„Traitä des principes de la connoissance de Fhomme, premiöre
partie . . . ." im Mai 1713*) unter den üblichen Noavelles
littöraires, die am Schlufs eines jeden Heftes die Ken-
erscheinungen des In- und Auslandes anzuzeigen pflegten:
De Dublin.
„Mr. Berkley (sie), Malbranchiste de bonne foi, k pousse
Sans m^nagement les principes de sa secte fort au delä du sens
commun, et il en a conclu, qull n'y a ni corps, ni matiöre, et
que les esprits seuls existent
1) Gf. p. 21 Anm. 5 dieser Arbeit.
«) Cf. Malebranche, Eclairciss. VI.
') Journal de Tr6voux 1713 mal p. 921.
Digitized by
Google
45
Un de noiiB oonnalt dans Paris an Malbranohiste qai va plns
loin qne Mr. Berkley, il lai a soutenn fort sörieasement dans
nne loDgae dispute, qn'il est trös probable, qn'il soit le senl
gtre 0x66 qai existe et qae neu sealement il n'y ait point de
eorps, mais qa'il n'y ait point d'aatre esprit erii qae lai; e'est
k ceox qai eroient qae nous ne voyans qu'un monde intelligibk
ä proaver qa'on porte trop loin lenrs principes.'^
Obschon die Bestimmangen hier keineswegs so sind, dafs
man aaf eine Sekte von Malebranehisten schliefsen dürfte, die
den Idealismus bis zam Solipsismas (Egoismus) steigerten, haben
sieh nichtsdestoweniger die Historiker der Philosophie im
18. und noch im 19. Jahrhundert auf diese Stelle berufen, um
die tatsächliche Existenz einer solchen historisch zu belegen.
Speziell in Deutschland haben die Jesuiten mit ihrer Erzählung
bald Erfolg gehabt
Bereits im Jahre 1719 erwähnt Wolf (Vernünftige Ge-
danken von Oott 1. Aufl. § 2, § 944) schon die «allerseltzsamste
Seete der Egoisten, die vor weniger Zeit in Paris entstanden*.
Kurze Zeit darauf, 1722, hielt der Tübinger Kanzler Chr.
Math. Pfaff eine «Oratio de Egoismo nova Philosophica
Haeresi', in welcher es zum Schlufs heifst: „Et primum qui-
dem observamus, Egoistas libris editis sententiam suam nondum
exposuisse. Malebranchistarum illa species est, qnae per
traditionem saltem sua propagat. Nee est quidquam hactenus,
quod de Egoistis legerimus, nisi* und da zitiert er die Stelle
ans den «M^moires de Tröveux**.^)
Welche Übertreibungen die Überlieferung zeitigte, veran-
schaulicht am besten Hennings in seiner «Geschichte von den
Seelen der Menschen und Tiere'' (Halle 1774 p. 144ff.).2) «Man
hat zwar sehr gezweifelt, ob dergleichen Egoisten in der Welt
vorhanden gewesen, dennoch finden sich in den Mömoires de
Trövoux (1718) verschiedene Erzählungen von solchen
Menschen.'
Lange in seiner Geschichte des Materialismus').und Hamil-
ton in seiner Ausgabe von Reids Werken (p. 269, 293) verweisen
1} Vaibinger p. 93 ff. *) Janitsch p. 53.
*) Lange I p. '220, Anm. 63. Er weist darauf hin, dais der Male-
branchiat .ohne Nennung des Namens" erwähnt wird.
Digitized by
Google
46
ebenfalls anf das Journal de Trävonx, doch hat schon letzterer
„mit Recht die Existenz solcher Egoisten in das Gebiet des
Mythus getan **• Janitsch 0 endlich nennt in seiner Dissertation
«Kants Urteile ttber Berkeley' die Erzählung „von so frag-
würdigem Charakter, dafs schon ein starker Glaube an die sn
bestätigende Tatsache dazu gehörte, sie in Hennings Sinne za
verwerten '. Dieselbe Auffassung hält J.KErdmann fiir m6g-
lich,2) Vaihinger teilt sie unbedingt') Er glaubt an jesnitiscbe
Verleumdung: „Was bei Cartesius und den Gartesianem ncr
methodische Fiktion für den Anfang des Philosophierens war —
die alleinige Existenz des selbstgewissen Ich auf Grund des
Gogito ergo sum — das verwandelten die Gegner in eine
systematische Behauptung und erdichteten die Existenz solcher
,Egoisten'.^
Ist dem sens commun der Jesuiten schon an und für sieh
die SteigeruLg des eartesianischen Grandprinzips zum Solipsis-
mus nicht ohne weiteres zuzutrauen, so erscheint es doch auch
weiterhin verwunderlich, dafs sie gerade im Jahre 1713 nach
jahrzehntelaagem Kampfe gegen den Gartesianismus darauf
verfallen sein sollen. Es ist durchaus möglich und wahrschein-
lich, dals sie dem problematisch ausgesprochenen Egoismus
auf cartesianisehem Boden begegnet sind, so wie er sieh z. B.
in dem posthum veröffentlichten zweiten Teil des Jugendwerkes
von F6nelon «Dämonstration de Fexistence de Dieu'^) findet:
«Non seulement tous ces corps qu'il me semble apereevoir tant
le mien que les autres, mais encore tous les esprits qui me
paraissent en Bodiii avee moi . . . tous ces Stres . . . peuvent
n'avoir rien de röel et n'Stre qu'une pure Illusion qui ge passe
tonte entiöre en dedans de moi seul: peut-etre suis -je moi
seul tonte la nature/^)
In Verbindung mit der kurzen Notiz über den immateriellen
Spiritualismus Berkeleys, der gleich zu Anfang als überzeugter
^) Janitsch p. 55.
s) Erdmuiii 1896 II p. 48.
•) Ibid. p. 03.
*) et p. 28 f. dieser Arbeit.
*) Föneion Oeuvres phiiosophiques ou dömonstration de IVxisteiice
de Dieu .... Ed. nouvelle Amsterdam 1721 p. 181.
Digitized by
Google
47
Malebranchist vorgestellt wird, wirkt sie gleichsam wie^eine
beigefügte Illnstration der letzten Mögliehkeiten des Idealismas,
woblgeeignet, denselben läeherlich zu machen oder vor ihm
zu warnen, je nach Veranlagung des Lesers. Berkeley, der
sMalebranchiste de bonne foi*, nnd der angebliche Solipsist
aas der gleichen Sekte sind lebendige Zeugen für die ebenso
gefährliche als absurde Philosophie des P. Malebranche. Dieser
wird yerantwortlich gemacht: „Cest k ceux qui croient que
nous ne voyons qu'un monde intelligible ä prouver qu'on porte
trop loin leurs principes." In frivoler Art finden wir das einige
Monate später wiederholt (d^cembre 1713 p.2198): Mr. Berkley
n'a-t-il pas fait un hon usage de ses möditations et de son
attention ä la raison universelle?' 0
Kritik und Erzählung sind tendenziös.
Die Erzählung erscheint in einer Zeit erbitterten Kampfes
gegen Malebranche im Innern des Ordens. 2) Andrä schreibt
am 25. April desselben Jahres an seinen Meister: „Le mal
augmente tous les jours. Les amateurs de la Väritö sont flötris
et persöcutös; ses ennemis triomphent et envoient de tous cötös
les Berits injurieux qu'ils fönt ou qu'ils fönt faire contre eile et
contre ses döfenseurs: on la rend suspecte et on les rend
odieux.""^) In eben diesen Monaten schreibt der Redakteur
Tournemine sein bereits erwähntes Vorwort^) zu der 2. Auflage
des Baches von Fönelon. Vielleicht hielt er gerade jetzt
auch ein Gegengift in dem weitverbreiteten Journal fttr an-
gebracht
Rahmen und Zeit der unbewiesenen Erzählung geben
berechtigtes Mifstrauen gegen ihre Glaubwürdigkeit
0 Cf. p. 28 dieser Arbeit
s) Cf. Einleitung dieser Arbeit
*) ChArma et Mancel I p. 74.
') Cf. p. 29 dieser Arbeit
Digitized by
Google
48
Kapitel V.
„Toat le monde sait qne le nouvean systöme des Cart^iens
les ODgage h sontenir diverses opinions qu'il est diffieile
d'accorder avee les mystöres de la Religion/ Diesen bekannfeD
theologischen Vorwarf gegen den Gartesianismos^) finden wir
im Jonrnal de Trövoax (17U6 p. 277) in einer änfserst lobenden
Kritik der Philosophia universalis von Dnhamel,^) der seine
Lehrbücher im Sinne der scholastischen Peripatetiker fflr die-
jenigen schrieb, „qai ne regardent la philosophie qne eomme
nne pröparation ä la Theologie*. Im Änschlnis daran wird
die religiöse Gefahr im Gartesianismus schärfer belenchtet dnreh
die Anfzählnng der fdnf Thesen, welche von der theologischeD
Fakultät zu Lonvain anf Betreiben der Gesellschaft Jesu ver-
urteilt wurden') und durch einen Hinweis darauf, dafs es
Sr. Majestät immer sehr am Herzen gelegen habe, die Philo-
sophie Descartes' aus den Schulen zu verbannen. Die Vorsiefats-
mafsregeln, welche die Universitäten von Paris, Angers und Cafn,
die Benediktiner von St Maure und die regulierten Chorherren
ergriffen hätten, damit keines ihrer Mitglieder diese Philosophie
lehre, seien ein weiterer Beweis fUr die Schädlichkeit derselben.
In den einschlägigen Artikeln der polemischen Theologie
des Journals sucht man vergeblich nach positivem Material.
Die Frage nach der Möglichkeit der Transsubstantiation unter
oartesianischen Voraussetzungen, die von den Theologen be-
stritten, von Descartes aber behauptet worden war, hat die
Zeit stark interessiert. Von Descartes^) bis Malebranche ^)
0 Gf. Cbarma p. 291: „Le F. Malebrancbe adopte, et agg^ave, tont
ce qu'il y a d'erronö en mati^re de religion dans le cart^stanisme: U y
ajoute an grand nombre d'autres erreurs . . . ancuD thöologien savant et
orthodoxe ne peut e^rcuser cet ^crivain, que sur son extreme ignonoce
en tont ce qni regarde Pilcriture et la tradition. V6ritableinent eile v» u
loin que poar cet auteur citer an pasRage de l'Ecriture oa an endroit des
P^res, et le prendre 4 contre-sens, c'est 4 peu prös la m^me chose."
s) Gf. Andr6 p. 223; Gharma I p. 56 Anm. 6.
•) Gf. Einleitung dieser Arbeit p. 1.
*) Gf. Descartes, R^ponse aux IV«« Objections, 6d. Goosin 11 p 79.
'^) Gf. Malebranche, Memoire pour expliquer la possibilit^ de la tno^'
BubBtantiatioD, cf. p. 77 Anm. 1.
Digitized by
Google
49
haben sieh die Cartesianer auf eine Erklärung dieses Mysteriums
eingelassen. Über eine einfache Ablehnung solcher Versuche
und eine kurze unbewiesene Behauptung, daCs die cartesianische
Auffassung vom Wesen der Körper (d. h. also die cartesianische
Behauptung, dafs ein Körper nichts ist als der von ihm ein-
genommene Raum), mit der körperlichen Gegenwart Christi in
der Eucharistie unvereinbar sei, geht das Journal nicht hinaus. i)
Es ist bedeutungslos, wenn es einmal da3 Buch des Jesuiten-
paters Le Valois .Sentiments de Mr. Descartes touchant les sens
et les propri6t6s du corps, opposäs ä la doctrine de l'Eglise et
conformes aux erreurs de Calvin sur le sujet de l'Eucharistie
(1680)* charakterisiert als einen schweren Schlag gegen die
neue Philosophie, dessen tiefen Eindruck die Antworten, welche
die Häupter der cartesianischen Philosophie erscheinen lielsen,^)
nicht hätten verwischen können.
Wie man im allgemeinen den Versuch bewertet, carte-
sianische Prinzipien mit der Religion in Einklang zu bringen,
die letztere metaphysisch zu begründen, wie es vor allem
Malebranche aus innerstem Bedürfnis heraus getan hatte, zeigen
die geschickten Bemerkungen zu der Neuauflage der „Conver-
sations chr^tiennes, dans lesquelles on justifie la väritö de la
Religion et de la morale de J6sus-Christ, avec quelques Mödi-
tations sur FHumilitö et la P6nitence. Par le P. Malebranche
1702.*3) Inhaltlich erfahren wir über das Buch dabei nichts,
weil der Journalist die Kenntnis «der sehr geschätzten' Werke
des P. Malebranehe bei seinen Lesern voraussetzen zu müssen
glaubt Er beschränkt sich darauf, wiederholt hervorzuheben,
dafs es nur zu Cartesianern spreche und von ihren Prinzipien
aus, die als wahr vorausgesetzt seien, die christliche Religion
und Moral rechtfertigen wolle. «Ceux qni sont encore attachäs
a la Philosophie d'Aristote ou qui croient que la Mätaphysique
de Descartes n'est pas fort solide, ne doivent pas s'attendre de
trouver ici rien qui les convainque. Ce n'est pas pour eux
0 Gf. Journ&l de Tr^voux 1715 mal p. 830, 1707 janvier p. 44.
«) Journal de Tr6voux 1706 d^cembre p. 2037; cf. Andr6 p. 52 gibt
Auskunft über die zwei anonymen Schriften von Malebranche und die
Defense de l'autcur de la Rech, de la Yörit^ contre l'accnsation de Mr. de
la VUle 16S2.
'} Journal de Tr6vouz 1703 janvier p. 69; cf. Andr6 p. 29.
Plülo8opbl««he Abhandlungen. XLIII. 4
Digitized by
Google
50
qa'a 6t6 fait ce livre.** Es wäre infolgedessen nngereebt, wollte
man die in dem Boche enthaltenen Beweise von den Prinzipien
der Sehulphilosophie ans einfach für falsch erklären; es könne
sieh nar nm die Frage handeln, ob die Konsequenzen aus den
cartesianischen Prinzipien richtig gezogen seien. Es sei kein
Ornnd zu bezweifeln, dafs die Mehrzahl dieser Philosophen
das bejahen würde. Za den Betrachtangen über die Demut
und Boise wird bemerkt, dafs Malebranehe das Oeheimnis
gefanden habe, die neae Philosophie bis in seine Andacbts-
übongen und Gebete dringen zo lassen.
Ebensowenig wie in der Philosophie wollte man in der
Theologie den neoen Grundsätzen begegnen: ,Les thäologiens
s'en offensent'i) Aber die Jesaiten hatten in ihrem Kampf
gegen den grofsen Jansenisten Arnauld erfahren, dafs man die
yerhafsten neuen Philosophen gelegentlich in einem theologischen
Kampf gut brauchen konnte. Malebranche, den Amaold einmal
den „protecteur de la gräce molinienne'^ genannt hat, worde
während seiner Streitigkeiten mit dem letzteren von ihnen mit
Höflichkeiten überhäuft;,^) und ein anerkannter Feind des Carte-
sianismus, wie der P. Le Tellier, lieferte ihm Beiträge. Ein Gegen-
stück dazu liefert das Journal im Jahre 1714/15.^) Die Gemüter
waren durch die Prämotion physique von Boursier und durch
die von den Jesuiten in Kom erlangte Bulle Unigenitas von
der alten Streitfrage der Gratia efßcax wieder heftig bewegt
Der Verfasser des Baches war ein Theologe aus der Sehule
Amaulds, der in der Philosophie eine Art Stütze, eine rationelle
Begründung seiner theologischen Doktrinen suchte, und diese
in dem System des P. Malebranche gefunden hatte. Er über-
nimmt u. a. die Vision en Dien, stimmt mit Malebranche darin
überein, dafs Gott die spekulativen Wahrheiten in seiner un-
endlichen Substanz einschliefse, und vertritt im wesentlichen
die Theorie der occasionellen Ursachen. Nach der ganzen
Richtung der Jesuiten und ihrer Stimmung gegen Malebranche
stände es zu erwarten, dafs sie diese Gelegenheit benatzen
werden, um die grofse Gefährlichkeit eines Systems zu zeigen,
1) Journal de Tr^vouz 1710 octobre p. 1716.
«) Cf. Andr6 p. 204.
*) Journal de Tr6vouz 1714 mars p. 573, 1715 janvier p. 19.
Digitized by
Google
51
in welehem ein Jansenist wie Bonrsier seine letzte Bestätigung
gesehen hatte. Die lange Besprechung des Baches im März
1714 und im Januar 1715 enttäuscht diese berechtigten Er-
wartungen. Sie erwähnt alle Parallelen, sie weist darauf hin,
dafs der Verfasser die Prinzipien der neuen Philosophie den
Prinzipien der praedeterminierenden Schule substitutiere, ver-
meidet es aber, den geistigen Schöpfer derselben zu nennen,
geschweige denn zur Verantwortung zu ziehen. Da, wo Bonrsier
gelegentlich gegen Malebranche spricht, findet man, dafs es
„fort durement* und ,sans mönagement* geschehe.
Erscheint diese mafsvoUe Haltung des Journals im März
1714 auffallend, so ist es umsomehr der im Oktober 1715 1)
mit lobenden Worten veröffentlichte Auszug aus der Wider-
legung, die der alte Malebranche auf Drängen seiner Freunde
unternommen hatte. Schon die Einleitung verrät eine neue
Wendung in der Haltung gegen den Philosophen, dessen An-
schauungen über die Promotion physique das Journal seinen
Lesern ausführlich vermittelt. «Si les raisons du R. P. Male-
branehe sont solides, elles sont aussi exposäes avec une doucenr
de style qui les rend insinuantes et qui gagnent Taffection du
lecteur. GTest un grand art en de pareilles disputes de savoir
le mettre de son cöt6 et de lui faire sonhaiter que la värit6
y soit aussi, comme on croit qu'elle est ici.* Dann verwahrt
sich der Journalist nach allen Seiten mit der nötigen Vorsicht
gegen die besonderen Meinungen, ,les sentiments particuliers
des Auteurs.*
Das Journal bekennt sich also zu Malebranche's Auf-
fassung von der wirksamen Gnade. Sie soll darum an
dieser Stelle kurz skizziert werden: Die physische oder
natttrliche Determination, welche Gott zum Urheber hat, ist
wohl zu unterscheiden von der moralischen Determination, die
von uns abhängt Die verschiedenen Einwilligungen, welche
wir den Beweggründen von Seiten Gottes geben, gehören uns
selbst an. Wir können sie geben oder nicht, wählen oder
nicht, ihnen widerstehen oder nachgeben. Das gibt uns die
Fähigkeit zu verdienstlichen Handlungen und spricht den
Schöpfer frei von unseren freiwilligen Irrtümern und Sünden
1) Journal de Tr6vouz 1615 octobre p. 1669ff.
Digitized by
Google
52
und reohtfertigt Gottes Weisheit nnd Gate. Unsere Ent-
scbeiduDgen sind aber keine neuen Grade des Seins, die dem
nrsprttngliehen Sein hinzngefHgt werden; die Seele übt damit
keine sehöpferische Maeht ans, wenn man sie aneh zor Herrin
ihrer freien moralischen Akte macht J) — Nur ganz vereinzelt
nnd bedeutungslos schiebt sich eine persönliche Bemerkung in
das Referat ein. Wenn aber besonders darauf hingewiesen
wird, dafs Malebranohe sehr viel SehOnes sage ttber die
unendliche Weisheit Gottes, infolge deren die Vorsehang, die
Gnadenwahl, die Seligkeit und der göttliche Wille nach einer
unveränderlichen Ordnung geregelt seien, so kann man nicht
umhin, an weniger wohlwollende, ja widersprechende Kritiken
aus vergangenen Jahren >) und an die Ordenslehre der Soeietas
Jesu zu denken.*)
Malebranche hat wohl Recht, wenn er in seiner Beschwerde-
Schrift an Fänelon im Juni 1715 berichtet,^) er sei zu Lebzeiten
Amaulds fttr die Jesuiten ein sehr guter Katholik gewesen,
der mit ihnen die Sache der Kirche gegen diesen bertthmten
Verteidiger des Jansenins geführt habe. Nach Arnaulds Tod
sei alles anders geworden: er selbst sei fttr sie nur noch ein
wahrer Jansenist und alles, was daraus folge.
Im Jahre 1715 verdankt er demselben jesuitischen Oppor-
tunismus eine wohl nicht dauerhaftere Wendung zum Guten.
>) Cf. 0116-Lapruiic II p. 191; Andr6 p. 377 flf.
*) Cf. p. 21, 25, 44 dieser Arbeit; Jonmal de Tr6voux 1708 d^cembre
2003: On se soaviont que le P. Malebranche interrog^ par M. Anauld
pourquoi aar le cbapitre de la Providence il parlait un langage si ^loigsc
de ceiui des Saints Pöres, ii r6pondit . . . que pour lai 11 parle en Gartesien
a des Cart^siens ... II se met partout aussi loin de Mr. Descartes que des
Saints Pöres.
') Cf. Cbarma p. 231, 245, 206 (decembre 1712): En mati^re de theo-
logie c'est bleu pis; on ne le peut ezcusor d'avoir vonlu 8*en mSler, lai
qui n'eut jamais la moindre teinture d'^rudition eccl^siastique.
«) Cf. Andr6 p. 868 flf.
Digitized by
Google
53
Kapitel VI.
Die Physik ist mit der Metaphysik in der Geschichte der
Schicksale nnd Kämpfe des Cartesianismas eng verbanden.
Deseartes hatte die phantastische Welt der alten Physik in
einen grofsen Mechanismus verwandelt: ans Materie nnd Be-
wegung konstruierte er a priori die ganze Natur.
Das Wesen der Materie aber ist im Cartesianismus die
Ausdehnung, und es kommen ihr keine anderen Eigenschaften
zu als diejenigen, welche zur Fundamentaleigenschaft der Aus-
dehnung gehören. Dadurch werden alle die geheimen Kräfte
und Eigenschaften, von denen die scholastische Philosophie so
reichlich Gebrauch gemacht hatte, aus der Physik verbannt
Es wird alles unterdrückt, was John Locke zuerst im neuen
Sinn „sekundäre Qualitäten" genannt hat.^) Deseartes reduziert
sie auf Perzeptionen der Seele. >) Er steht damit in scharfem
Gegensatz zu der Philosophie der Jesuiten, welche nach
scholastischem Vorgang sämtliche Qualitäten der Körper —
Härte, Wärme, Ton, Farbe, Bewegung, Gestalt — in Wesenheiten
verwandelte, die von der Materie verschieden waren. s) Die
Doktrin verbot zu lehren: „Color, lumen, frigus, sonus et aliae
quae vocantur qualitates sensibiles, affectiones sunt, sive modi-
ficationes ipsius mentis non corporum ipsorum quae dicuntur
calida, frigida ct''^) Im Journal wird gelegentlich einer
Rezension die Subjektivität der Sinnesqualitäten entschieden
abgelehnt: „Was die sinnlichen Qualitäten anbetrifft, die
nach dem Verfasser in uns und nicht in den Objekten sind,
so werden sich die philosophierenden Leser nicht entschliefsen
können, damit übereinzustimmen, dafs die Himmelskörper ihr
glänzendes Licht nur geborgt besitzen; sie werden nicht glauben
können, dafs der Geschmack nicht in den Nahrungsmitteln,
der Geruch nicht in den Blumen und Essenzen ist; sie werden
niemals sagen, dafs Stimme und Instrumente ... der Luft wohl
1) Baenmker p. 510.
') Cf. Deseartes, M6dit VI; Prineipes I et III. Cf. Malebrancbe
Rech. 1. 1 eh. 10; Eelaireiss. VI.
«) Cf. Journal de Tr^voux 1704 II p. 822.
*) Gharma et Mancel I p. 225.
Digitized by
Google
54
einige gemessene Bewegungen geben können, aber nieht
wirklieb die Töne hervorbringen . . . .'^i) Unter sinnliehen
Qualitäten versteht man die nattlrliehen Eigensehaften — Gestalt,
Bewegung z. B. — welche den Körper befähigen, durch sich
selbst oder die erregte Luft einen gewissen Eindruck auf unsere
Sinnesorgane zu machen. Behaupten, daä diese Eigenschaften,
diese Anlage nicht in den Objekten, sondern in uns seien,
heifse so viel als wolle man sagen, das Vermögen zu dureh-
bohren sei in der Haut und nicht in der Spitze des Degens.
Die Empfindung ist in uns; wir empfangen den Eindruck
des Objektes mittelbar oder unmittelbar; aber die Ursache des
Eindruckes ist anfserhalb unser. „CTest nous qui sentons, c'est
l'objet qui est senti de teile maniöre parce qu'il est tel.'^
Ihren eigentlichen Ausgangspunkt hat die cartesianisehe
Physik in der Bewegung, welche in diesem System von auTsen
durch eine immaterielle Kraft zur Materie hinzugekommen ist,
und welche von Descartes definiert wird als die Überft&hrong
eines Körpers in eine andere Nachbarschaft Das Journal
de Trövoux bringt gleich im ersten Jahrgang versehiedene
Artikel zu diesem Problem. Seine erste einschlägige Ver-
öffentlichung steht im Gegensatz zu der cartesianischen Theorie.
Es ist das „Examen des pröjugäs des Cartisiens sur la cause
de la continnation du mouvement'' von einem ungenannten
Verfasser.^) Ihm liegt daran zu beweisen, dafs die Bewegung
der Körper nicht fortdauern kann, ohne dafs eine Ursache
dieser Fortdauer von Seiten der Geschöpfe eingreife. Die
cartesianisehe Regel, dafs man nach der Ursache nicht fragen
dürfe, weil eine einmal angefangene Bewegung aus sich selbst
fortdauere, bis sie durch eine fremde Ursache zerstört würde,
wird als eine bequeme Umgehung der wesentlichsten Schwierig-
keit abgetan.3) Sie beruhe auf dem Prinzip, „dafs die Dinge
^) Journal de Tr^vouz 1709 janvier p. 53: Systeme du c<Bur ou la
connaiBsance du ccBur humain von Mr. de Glarigny.
*) Journal de Tr^vouz 1701 mal, jain p. 158.
*) Der Verfasser des Artikels zitiert nach Robault, Traitö de Phytique.
Im Journal de Tr^voux 1713 avril p. 721 findet dieser Physiker der carte-
sianischen Schule folgendes Lob: On a Mr. Bohault entre les mains qui se
fera lire avec infiniment plus de plaisir et qui servira incomparablemeiit
davantage.
Digitized by
Google
55
in demselben Znetand bleiben mttggen, es sei denn, dafs irgend
eine änfsere Ursache denselben ändere.'' Die lokale Bewegung
sei hier also offenbar eine Zastandsverändemng nnd nicht ein
Zustand, wie die €artesianer es wollten, sie fordere damit
augenscheinlich eine äufsere Ursache, nicht nur fttr ihre Ent-
stehung, sondern auch fttr ihre Fortdauer. Die Frage, ob diese
Ursachen »efficientes* oder «occasionales* seien, komme dabei
nicht in Betracht.^) Die ganze Polemik dreht sich nun um
die Frage, ob die lokale Bewegung — sie wird als snkzessire
Ortsveränderung definiert — ein Zustand des Körpers ist oder
eine Zustandsverändernng. Es handelt sich zunächst um den
Beweis, dafs für die Fortdauer der Bewegung mehr als die
eine von den Cartesianern gesetzte äufsere Ursache, welche die
Bewegung beginne, erforderlich sei; weiterhin darum, dafs die
Cartesianer die Veränderung des Ortes von allen anderen Ver-
änderungen wie die der Farben, des Geschmackes, des Geruchs^)
usw. unterscheiden und mit einem besonderen Privileg aus-
statten wollten. In der Tat sei eine solche Isolierung derselben
rein willkürlich. Der Gegner insistiert besonders auf den Ver-
gleich mit der Veränderung der Gestalt, die nur eine Art der
Veränderung des Ortes sei, mit dem einzigen Unterschied, dafs
hier der Körper das Verhältnis der Entfernung oder Nähe
zu den anderen Körpern im Universum ändere, dort aber eine
Änderung gegenüber den verschiedenen Teilen desselben Körpers
stattfinde. Die Beziehungen zwischen ihnen werden eingehend
entwickelt und fttr beide vnrd die gleiche Beurteilung verlangt
Da die Cartesianer zugeben, dafs die Veränderung der Gestalt
kein Zustand sei und von der Dauer der änfseren Einwirkung
abhänge, so mttfsten sie ebenso erklären, dafs die Orts-
yerftnderung ihrerseits kein Zustand sei und ihre Dauer von
der Wirkung der äufseren Ursache abhänge. Die Unkenntnis
dieser Ursache sei kein Grund, dieselbe abzulehnen.
0 In den Jesaitenkollegs war es verboten zu lehren: Solas Dens
est, qni movere possit corpora: Angeli vero, anima raüonalis, ipsaqne
Corpora non sunt causae motus efficientes, sed occasionales tantum.
Charma et Mancel p. 222.
*) Lamy betont demgegenüber, dafs Farben usw. nicht Seinsarten
des Körpers, sondern der Seele seien. Journal de Tr^voaz 1704 aoüt
p. 1384.
Digitized by
Google
56
Im September/Oktober 1701 gibt das Jonrnal die Antworten
von MiroD,!) „qai est anssi distingnä par son esprit et par sa
yerta qae par sa naissance" and yon Cordemoj,-) „fils d'aii
des meilleurs philosophes et des plas beaux esprits de ces
deruiers temps. II est iai-m6me excellent philosophe et Mi
bei esprit."
Miron betont, dafs die Ursache der Bewegung, nämlich
Gott, nicht ohne Grand aaf hören könne za wollen, and der
Körper deswegen in der Bewegnng verharren mttsse, bis ein
Grand nicht mehr za wollen für Gott vorhanden sei Es handle
sich also nicht am die Frage nach der Fortdaaer der Be-
wegang, sondern am die Frage nach dem Grand ihres Aaf
hörens. Miron verweist dafttr aaf das 7. Kapitel des „Monde^
von Descartes: „Si ane partie de la mati^re a ane fois com-
mencö k se moavoir, eile continaera toajoars aveo une egale
force jasqa'ä. ce qae les aatres Tarr^tent oa la retardent*
Wenn der bewegte Teil der Materie einen anderen tri£Ft, wird
Gott beginnen diese za bewegen, indem er den erateren in
demselben Verhältnis retardiert oder vollständig anfhebt nach
den allgemeinen Gesetzen von der Mitteilang der Bewegnng.
Die Veränderang der Gestalt hingegen rtthrt von einer Fort-
daaer des Willens in Gott her, infolge deren die zusammen-
gefügten Teile der Materie, d. h. der Körper dauernd bewegt
werden, so dafs eine fortwährende Änderang der Gestalt
resnltiert So sind alle anderen Veränderangen mit Beziehang
aaf den Körper nar Veränderangen seiner Oberfläche oder
äafseren Gestalt
Cordemoy sacht die Natar der Bewegung zu erklären.
Er geht von dem Grundprinzip aus: „Produire ou conserver
les Corps et les situer n'est qu'une seule et meme action."^]
Eben die Handlung, die im ersten Augenblick Schaffen ist, ist
in allen folgenden Erhaltung: Damit ist die Lage gegeben,
^) R^ponse a r£zamen des sentiments des Gartöslens bot 1a eins«
de la continuation du mouvement. Journal de Tr^vouz 1701 sept.oct
p. 320.
') Explication du mouvement p. 325.
3) Unter den 80 verbotenen Lehren der Jesuitenschulen: Gorpos
moveri nihil est aliud quam iliud a Deo conservari aliis, atque alüs in
locis successive. Charma et Mancel p. 221 ; cf. Malebranche M6d. chr6t Y, S.
Digitized by
Google
57
denn es können nicht mehrere Körper geschaffen oder erhalten
werden, ohne in einer bestimmten Lage zueinander zu sein,
d. h. jeder Körper hat einen Ort, eine Beziehung zu anderen
Körpern. Ein Körper ist in Bewegung, d. h. ändert seinen Ort,
wenn er diese Beziehung ändert; er ist in Ruhe, wenn er sie
innehält 1) Beide können also auch nur von derselben Macht
abhängen. Die Bewegung ist nach dem Willen Gottes in der
Natur sukzessiv, d. h. derselbe Körper befindet sich nach-
einander an allen denkbaren Stellen zwischen allen Funkten
einer bestimmten Linie.
An diese Ausführungen reiht sich eine Abhandlung
aber die Ursache der Fortdauer der Bewegung in geworfenen
Körpern,^) welche die Notwendigkeit sekundär wirkender
Ursachen behauptet, und in diesem Spezialfall die Luft als
die Ursache hinstellt
„Damit der Leser sich sein eigenes Urteil bilden könne'',
bringt 1701 das Novemberheft einen cartesianischen und einen
anticartesianischen Artikel zur vierten Bewegnngsregel von
Descartes. Verfasser sind zwei Universitätsprofessoren aus
Bordeaux.')
Dafs die Zeitschrift selbst auf dem Boden des eingangs
besprochenen, wohl auch von einem Jesuiten verfafsten Artikels
steht, ersieht man gelegentlieh aus einer kurzen Verteidigung
derselben Ansicht gegen Lamy.^)
Die durchaus objektive Haltung des Journals in dieser
Frage, die mit der cartesianischen Metaphysik so eng verknüpft
ist, kann als Musterbeispiel gelten fttr seine Stellung in natur-
wissenschaftliehen Artikeln und Rezensionen, denen ein über-
aus weiter Raum gegönnt wird. — Auch die Auswahl derselben
könnte eine Tendenz erweisen, es werden aber die ver-
schiedensten Hypothesen dem Leserkreis übermittelt Man
gibt die Licht- und Farbentheorie des P. Malebranche ^) ebenso-
gut, wie zahlreiche andere Hypothesen, und man läfst über
1) Cf. MalebraDche Entret. m^taphys. VII, 6.
*) Journal de Tr^voux 1701 oct p. 834; cf. ibid. 1702 fövrier p. 46.
•) Ibid. novembre 1701 p. 274.
«) Ibid. acut 1704 p. 1385.
») Jonmal de Tr^vonz 1702 avril p. 175; 1701 III p. 7; cf Malebranohe
Eclairciss. 16.
Digitized by
Google
58
Schwere nnd Leichtigkeit der Körper und zahlreiche andere
Fragen von den verschiedensten Standpunkten aus referieren.
Sehr oft bot sich den Journalisten Gelegenheit, za dem
cartesianischen Weltsystem, das ihren persönlichen Ober-
zeugungen zuwiderlief und innerhalb des Jesuitenordens ver-
urteilt wurde, 1) Stellung zu nehmen. Es wird durchaus ver-
mieden und der Streit den Leuten vom Fach ttberlassen: «Cest
le sort d'un physicien de n'6tre pas content des autres et h son
tour de ne les pas contenter, et en ce genre dötude antant
qu'en aucun autre il est vrai de dire: mihi meum plaeebat;
illi suum.**)
Das Überhandnehmen der „Modewissenschaft " verurteilt
man bei alldem ebenso wie der Mystiker Foiret es tat, dem
man in diesem einen Punkt Recht gibt: „Algebra, die Wissen-
schaft der Kurven, die Forschung nach zentripetalen und
zentrifugalen Kräften usw. sind zu solchem Raffinement gesteigert,
dafs man nicht weit von ihrer Nutzlosigkeit entfernt ist" Und
man prophezeit ein schlechtes Ende: „Ce qui est arriv6 k la
Philosophie de rj^eole arrivera k la nouvelle Philosophie et
aux Math^matiques, qui ont pris sa place dans Festime da
public."»)
Im Oktober 1715 stirbt Malebranche. Vergeblich suchen
wir nach einem Nachwort im Jonmal de Trövoux, das es
wiederholt als seine besondere Pflicht betont hatte, Gedenk-
reden auf hervorragende Persönlichkeiten, insbesondere Männer
der Wissenschaft, zu veröffentlichen. Auch die Akademie-
berichte der Zeitschrift erwähnen nicht den Nachruf, den
Fontenelle im Auftrage der Akademie auf das verstorbene
Ehrenmitglied vor einer zahlreichen Hörerschaft gehalten hatte.
0 Gf. Cbarma et Mancel p. 28Sff., 244 n. &.
») Journal de Tr6voux 1712 III p. 1415.
*) Journal de Tr^voax 1710 f^vrier p. 356.
Drnok von Bhrhardt Karru G. m. b. H. In Halle (SmIs).
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Verlag von Max Niemeyer in Halle a. S.
Bergmann, Hugo, Das Unendliche und die Zahl. 1913. 8. VU,
88 S. Jb 9,50
— Das philosophische Werk Bemard Bolzanos. Mit Benntsimg un-
gedruckter Quellen kritisch untersucht. Nebst einem Anhange:
Bolzanos Beiträge zur philosophischen Grundlegung der Mathe-
matik. 1909. 8. XIV, 230 8. Jb 7,—
Eisenmeier, Josef, Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der
Philosophie. Eine Einführung in die wissenschaftliche Philo-
sophie. 1914. 8. VIII, 1118. ^3,20
Festschrift fOr Alois Riehi. Von Freunden und Schülern zu seinem
70. Geburtstage dargebracht 1914. 8. Vn, 522 S. Jt 14,—
Galiinger, August, Zur Grundlegung einer Lehre von der Erinnerung.
1914. 8. IV, 149 8. Jt\,—
Goedecicemeyer, Aibert, Die Gliederung der aristotelischen Philosophie.
1912. 8. VI, 144 S. Ul 4,—
Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. 2 Bände in 3 Teilen.
2. umgearbeitete und erweiterte Auflage. 1913. 8.
1. Prolegomena zur reinen Logik. 1913. XII, 257 8.
geh. Ji 6,—: gebd. Jk 8,25
2. Untersuchungen zur Phänomenolone und Theorie aer Erkenntnis.
2 Teile. I. Hälfte. 1913. XI, 508 8. geh. Jk 14,— ; gebd. Jk 16,50
Jahrbucli fOr Phiiosophie und pliänomenoiogisohe Forschung. In Gemein-
schaft mit M. Geiger, A. Pfänder, A. Reinach, M. Scheler
herausgegeben von Edmund HuBserl. Band I. 2 Teile. 1913.
kl. 4. XII, 847 8. geh. Ji 22,—; gebd. in Halbfra, jü 27,—
L088l(ij, Nil(Oiaj, Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine pro-
pädeutische Erkenntnistheorie. Uebersetzt von Johann Strauch.
1908. 8. IV, 350 S. Jt 8,—
Pariser, Ernst, Einführung in die Religionspsychologie. Beitrftge lu
einer kritischen Methodenlehre der Religionswissenschaft 1914.
8. V, 56 S. geh. Ji 1,50; gebd. Jk 2,20
Pfänder, Alexander, Zur Psychologie der Gesinnungen. I. TeiL 1913.
kl. 4. IV, 80 S. Jt 2,50
Reinacll, Adolf, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes.
1913. 8. IV, 164 S. ^5,—
Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
ethik (mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel
Kants). I. Teil. 1913. kl. 4. IV, 162 8. Jth,—
— Zur Phiinomenologie und Theorie der Sympathiegefflhle und von
Liebe und Hass. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme
der Existenz des fremden Ich. 1913. 8. VI, 154 S. Jt 3,60
Spranger, Eduard, Lebensformen. Ein Entwurf. 1914. 8. 110 8. U( 2,40
Druck von Ehrhardt Karras G.m.b.H. in Halle (Saale).
Digitized by
Google
•V-
(ABHANDLUNGEN
ZUR PHILOSOPHIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN VON BENNO EBDUANN
XLIV
'l'-
-UU
f >'■
DIB
LEHRE VON DER ABSTRAKTION
BEI
PLATO UND ARISTOTELES
VON
PAUL GOHLKE
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
/ i I ,,
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZUR
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
TIERÜNDTIERZIGSTES HEFT
PAUL GOHLKE
DIE LEHBE YON BEB ABSTBAKTION BEI PLATO UND ARISTOTELES
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
DIE
LEHRE VON DER ABSTRAKTION
BEI
PLATO UND ARISTOTELES
VON
PAUL OOHLEE
HALLE A. S.
VERLAG VON HAX NIEHEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Inhalt
Seite
Eioleitmig 1
I. Die Sophisten und Sokrates 6
n. Plato IS
Vorbemerkaog über die Reihenfolge einiger Dialoge .... 13
Ober die Beziehang zwischen Wort nnd Ding 16
A. Erste Periode der platonischen Philosophie 20
1. Nachweis der Wirklichkeit allgemeiner Begriffe .... 20
2. Anwendung des Begriffs in den Wissenschaften .... 24
3. Die Dialektik als logische Lehre von der Abstraktion . . 26
4. Die Lehre von der Wiedererinnerung als psychologische
Theorie der Abstraktion 31
5. Die Existenzart der Ideen 33
Bekapitulation 36
B. Zweite Periode der platonischen Philosophie 37
1. Die veränderte Problemlage 37
2. Wahrnehmung und Urteil; aneiQov und nigaq 40
3. Weiterbildung der Lehre von der Dialektik 47
4. Die metaphysischen Beziehungen zwischen Idee, Individuum
und Erkenntnis 48
5. Psychologische Theorie über das Zustandekommen der Ideen 56
Bekapitulation 57
III. Aristoteles , 59
1. Philologische Vorbemerkungen 61
2. Wahrnehmung und Wissenscbaft 68
3. Logische Lehre vom Allgemeinen 71
4. Verhältnis des Allgemeinen und Einzelnen zu Snbstan^ialität
nnd Erkenntnis 78
5. Psychologische Theorie der Abstraktion 99
Rekapitulation 108
Anhang 1 — 7 111
Digitized by VjOOQ IC
Digitized by
Google
Einleitong.
1. Das Problem der Abstraktion ist im Anfang des 18. Jahr*
hunderts in ein ganz nenes Lieht gerückt, als Bischof Berkeley
Loekes general idea in der Einleitung za seinen Principles of
Hnman Knowledge einer eingehenden Kritik unterzog und eine
psychologische Analyse des Wesens der Abstraktion zu geben
suchte. In der Folgezeit führte dann die Frage nach dem Sinne,
der Existenz, dem Zustandekommen der allgemeinen Begriffe
zu lebhaften und grundlegenden Auseinandersetzungen bei
J. St. Mill und neuerdings E. Husser], in die besonders noch die
Untersuchung der allgemeinen Namen hineinbezogen wurde. Ist
es nun nicht yon vornherein verkehrt, eine so spezifisch moderne
Fragestellung an die Erforschung der Geschichte der alten
Philosophie heranzubringen?
Doch ich meine, alles Forschen in der Geschichte der Ver-
gangenheit hat nur Sinn, wenn wir dabei auf die Fragen: „was
hat diese uns gegeben, was können wir fttr uns daraus lernen?^
eine befriedigende positive Antwort erwarten. Natürlich soll
diese der Wahrheit entsprechen, und sie wird falsch, wenn wir
die Quellen nicht so verstehen, wie sie nach Absicht des Autors
aufgefafst werden sollten. Aber diese Gefahr des Hinein-
deutens ist verhältnismälsig gering: alles unberechtigte Moderni«
sieren beruht auf einem philologischen Interpretationsfehler (im
weitesten Sinne des Wortes), der früher oder später doch be-
merkt werden mufs. Wo aber wirklich etwas zu deuten übrig
bleibt, da kann dies jeder wieder nur nach Analogie dessen
tun, was er selber als moderner Mensch gelernt hat und ver-
steht. Auf philosophischem Gebiete nun sind die Zusammen**
PbiloMphische Abhandlungen. XXXjCIV. 1
Digitized by
Google
hänge enger als anf jedem anderen; denn hier sind die Lehren
der Alten von nachhaltigster Wirkung gewesen, nnd solange
man sieh dieses Znsammenhanges bewnist bleibt, wird daher
aneh nie eine „abschliefsende^ Geschichte der griechisehen
Philosophie geschrieben werden. Speziell das von nns be-
handelte Thema bietet sehr viele Bertthrnngspnnkte. Durch
die Hineinbeziehung der allgemeinen Namen berühren sieh die
Millschen Untersuchungen vielfach mit denen der Scholastik,
und der Philosoph selber zieht im Streite mit Hamilton als
Parallele den Kampf zwischen Realismus, Nominalismns und
Konzeptualismus heran, i) Diese Richtungen pflegten sich aber
entweder an Plato oder an Aristoteles anzulehnen, so dafs hier
die Frage sich erhebt: wieweit waren sie dazu berechtigt, wie-
weit sind die Probleme wirklich schon ähnlich bei diesen alten
Philosophen behandelt? Ferner hat gerade in der Lehre vom
Begriff Locke mit seiner allgemeinen Idee das Erbe der
Tradition angetreten, durch seine scharfe Formulierung den
Anstofs zu deren Kritik gebend. Wieder können wir fragen:
konnte Locke sich für seine Darstellung auf die Alten berufen?
Treffen die Einwände Berkeleys auch auf jene zu, oder hatten
sie diese, eigentlich sehr auf der Hand liegenden Betraehtungen
wohl überdacht, aber geglaubt, nicht durch sie behindert zu
werden? Weder Locke noch Berkeley waren in den Schriften
des Plato und Aristoteles so bewandert, um auf solche Fragen
eine sichere Antwort haben zu kOnnen. Und in der Tat finden
wir in Aristoteles' „Topik^ Ausführungen^ die genau den Be-
denken entsprechen, welche Berkeley gegen die general idea
vorbringt, und die dort gegen Piatos Ideen gerichtet sind
(s. u. § 35 Abs. 3); also mufs doch Aristoteles selber seine eigenen
Bestimmungen so getroffen haben, dafs sie von diesen Ein-
wendungen nicht berührt werden. Husserl zieht die Alten
nicht in Betracht; Plato wird bei ihm mit dem Hinweis auf
dessen metaphysiche Hypostasiernng der Ideen rasch abgetan. >)
0 An Extmination of Sir W. Hamiltoii's Phüosophy cap, 17.
') Logische Untersuchungen *U. 1, S. 123: ,,Die Middeutungen des
platonisiereDden Realismus*' (d. i. „Die metaphysische Hypostasierung des
Allgemeiaen', § 7 Aofg.) „kOanen wir als langst erledigt auf sich bemhea
lassen.** Husserl selbst I&Gst die Frage, ob Plato wirklich jenen RealisBUS
lehre, anscheinend offen.
Digitized by
Google
Aber nm die Berechtigung gerade dieses Vorwurfes wird beute
lebhaft gekämpft, so dafs auch hier weiterer Forschung das
Feld offen steht.
Selbst wenn wir jedoch von allen diesen Beziehungen zu
modernen Problemstellungen absehen, so bleiben auf dem von
uns betretenen Gebiete auch innerhalb der Gedankenkreise der
alten Philosophen selber noch soviele Schwierigkeiten zu über-
winden, daüs eine Spezialuntersuchung wohl lohnt. Nachdem
durch die neueren Untersuchungen sich immer deutlicher zwei
verschiedene Phasen, die gerade die Ideenlehre betreffen, in der
platonischen Philosophie voneinander abgehoben haben, mufs
die Frage genau beantwortet werden: welche bestimmten
Änderungen sind in den Anschauungen des Philosophen über
das Wesen des Allgemeinen und sein Verhältnis zum Sinnliehen
vom Theätet ab zu bemerken? Welche Überlegung gab wohl
den Anstofs zu einer solchen Wandlung der Gedanken? Bei
Aristoteles vollends gehört die Frage, die einfach gelöst werden
mufs, ganz offenbar zu unserem Thema; es werden nämlich
dem „Vater der Logik^ in seiner Lehre vom Allgemeinen in
seinen Beziehungen zum Begriff der Wissenschaft, der Substanz
und des Einzelnen so krasse Widersprüche vorgerechnet, dafs
auch ein Tertianer sie durchschauen könnte. Jeder, der sieh
einmal unter den Eindruck der erhabenen Ruhe und Sicher-
heit der Gedankenarbeit dieses wunderbaren Mannes gestellt
hat, wird den Wunsch empfinden, ihn hier zu verteidigen.
Schlieüslich bleibt auch sein Verhältnis zu Plato zu unter-
suchen^ das sich uns natürlich ganz anders darstellen mufs, als
ihm selber. Er hat die Ideenlehre auf Schritt und Tritt be-
kämpft; aber dem Femerstehenden scheinen die Unterschiede
geringer, und der Umstand, dafs er 20 Jahre lang Mitglied
der Akademie war, kommt stärker zur Geltung. Nehmen wir,
nm die Problemlage richtig zu erfassen, Piatos Lehrer und
Gegner — Sokrates und die Sophisten — hinzu, so haben wir
im Altertum selber eine Entwicklung von beinahe hundert-
jähriger Dauer zu verfolgen, hundert Jahre voll der intensivsten
geistigen Arbeit, denen die abendländische Welt bis heute
Ungeheueres zu danken hat.
2. Wir wollen im folgenden nur die Fragen behandeln,
die sich auf Plato und Aristoteles unmittelbar beziehen. Jedoch
Digitized by
Google
werden wir dem ZuBammenhaDge der Probleme mit den modemei
Fragestellnngen dadurch Reehnnng tragen, dafs wir sie naek
Gesiehtspnnkten nntersnchen, die der Fortschritt der Foraebniig
als der Sache entsprechend herausgearbeitet hat So wird
auch eine Geschichte der Mathematik z. B. die nns ja ebenfalh
bekannten sachlichen Znsammenhänge benutzen, um ao diesem
Faden den Weg durch die Schriften der Alten leichter zu finden.
Wie dort, so ist auch fttr die philosophische Betrachtung das
Objekt, nämlich die menschliche Seele mit ihren Funktionen,
dasselbe geblieben; das müssen wir wenigstens voraussetzen,
wenn wir überhaupt jene Vergangenheit noch versteheo wollen.
Weshalb sollen wir da nicht die verschiedenen Seiten dieses
Gegenstandes, die sich uns nicht anders darbieten, als sie sich
den Griechen dargeboten haben müssen, benutzen, um die viel-
fach durcheinander laufenden Fäden ihrer Darstellungen za
entwirren? Der von jenen Männern selber eingeschlagenen
Bahn, der in ihren Werken niedergelegten Art der Gedanken-
entwicklung, dürfen wir sowieso nicht folgen, wenn die
historischen Entwicklnngslinien klar hervortreten sollen; denn
in dieser Form steckt ja ihre Persönlichkeit, also gerade das,
was den rein geschichtlichen Fortgang durchkreuzt; und der
historische Zusammenhang ist dem Denker selber zudem gar
nicht in dem Mafse bewnfst, wie den späteren Generationen.
Bei Plato hindert schon die dialogische Form, seine eigenen
Werke als Leitfaden der Untersuchung zu benutzen, und für
Aristoteles stehen nns überhaupt keine Schriften zur Ver-
fügung, die für die Publikation bestimmt und fertig au^
gearbeitet gewesen wären. Was uns erhalten ist, stellt die
Aufzeichnungen zu seinen Vorlesungen dar, die natürlich nicht
in jedem Semester wieder wörtlich abgelesen, sondern erweitert,
geklärt, miteinander in Zusammenhang gebracht wurden« Welche
Stufe der Bearbeitung uns vorliegt, ist dabei nicht einnml sicher,
vermutlich aber doch die letzte. Gerade die „Metaphysik'^ zer-
fällt nach den neuesten Forschungen in mehrere Abhandlungen,
die voneinander unabhängig sind. Wir wollen uns also nach
sachlichen Dispositionsgründen das Material überallher zusammen-
suchen.
Jede psychische Funktion kann nach fünf verschiedenen
Seiten betrachtet werden. Man kann zunächst ihr Vorhanden-
Digitized by
Google
sein beobachteD, ihre wirkliche Betätignog verfolgeD. Man
kann ferner festzustellen suchen, welchen Sinn sie oder ihre
Objekte haben sollen, wie dieser znm Ansdrnck kommt^ was
fiie im Zasammenhange der Funktionen und Gegenstände leisten
soll, alles unter der Voraussetzung, dafs das mit ihr Gemeinte
wirklich richtig erreicht werde. Drittens erhebt sich die Frage,
wie dies psychische Faktum zu erklären sei, welche Annahmen
seine Genesis im Zusammenhange des Seelenlebens am be-
greiflichsten machen, welche Gesetee über diesen aufgestellt
werden können. Viertens mnJb die Existenzart der Objekte
jener Funktion sowie deren Beziehungen zu ihr selber ins Auge
gefafst werden, die Art der Abhäogigkeit oder Selbständigkeit.
Endlich kOnnte man noch, unter Berttcksichtigung des also fest-
gestellten psychischen Verlaufes, praktische Regeln aufstellen,
nach denen die gemeinte Wirkung kunstgemäfs erreicht werden
könnte. Die erste und dritte dieser Betrachtungsweisen würden
der Psychologie zuzuweisen sein; sie unterscheiden sich jedoch
etwa wie Zoologie und Biologie, und besonders ftlr unsere
historische Untersuchung ist es vorteilhaft, beides zu trennen,
znmal da wir am Anfang der Begriffsforschung einsetzen,
wo noch Beobachtung und Erklärung deutlicher auseinander-
gehen. Die zweite Seite des Problems gehört der Logik, die
vierte der Metaphysik oder Erkenntnistheorie, die letzte der
Logik als Kunstlehre an. Die grölsten Fortschritte hat die
Psychologie gemacht, wie alle empirische Forschung, die aus
der reicheren, immer besser instrumentierten Erfahrung der
Jahrhunderte hat Nutzen ziehen können. Aber es ist gar nicht
gesagt, dalj9 unzureichende genetische Erklärung einer Tatsache
des Seelenlebens auch die logische Behandlung beeinträchtigen
müsse, da beides durchaus selbständig nebeneinander hergeht.
Nach diesen verschiedenen Gesichtspunkten wollen wir also
nunmehr unsere Untersuchung anstellen.
Digitized by
Google
I. Die Sophisten und Sokrates.
3. Id jeDen Zeiten des 6. Jahrhunderts, als KolonisatioDS-
arbeit und Handelsverkehr den Griechen ans seiner engeren
Heimat herausgeführt nnd eine neue Welt vor seinen staooeih
den Augen entrollt hatten, die die mannigfachsten Fragen an
seinen wachen Gkist richtete, da entstand in dem nenerworbeneo
Lande die Naturphilosophie. Der Blick war naturgemäCs zuerst
nach aufsen gewendet. Aber als dann die alten ständiseheo
Schranken, auch im Mutterlande, immer mehr fielen und die
politische Verfassung derKräfteentfaltnng des einzelnen Menseheo
einen bis dahin nicht gekannten Spielraum liels, da wurde
dieses Individuum, auf das sich nun alles einstellte, zum Lieb-
lingsgegenstande der Forschung. Man verlangte nach Lehren,
mit deren Hilfe man den jetzt offenstehenden Weg nach Macht
finden konnte, nach einer Erziehung zur politischen Tätigkeit
die Erfolg und Einflu£i9gewinnung garantierte. Diesem Bedfirfnis
trug die sogenannte Sophistik Rechnung. Obwohl sie jenes rein
praktische Ziel, dem sie ihre Entstehung verdankte, niemab
aus dem Auge verlor, so mufste sie doch zu dessen kaost-
gemäfser Erreichung zwei Dinge vor allem auch theoretisch
erforschen: die menschliche Seele, auf die man wirken wollte.
und die Sprache, die man dazu als Organ benutzen molste;
Psychologie und Grammatik verdanken wesentlich den alten
Sophisten ihre Entstehung. Die Bedeutendsten waren Protagoras
und Gorgias; doch machte schon auf die Zeitgenossen die ganze
Bewegung den Eindruck einer geschlossenen Einheit, die sich
um so bemerkbarer machte, als ihre Vertreter mit dem ihren
politischen Absichten eigenen Radikalismus vor den äufseraten
Digitized by
Google
KoDBequenzen ihrer Annahmen nicht zurückschreckten. Diese
mündeten in einen schroffen Relativismus, der ja das Resultat
psychologisch orientierter Betrachtungsweise zu sein pflegt
Ausgeprägt ist er in Protagoras' berühmten Worten, dem Motto
der Sophistik:
ndvrwv %Qriiiaxo}V iiirQOv iörlv avd-Qwnoq, tcov fikv 6vx(ov
<bq S0TIV, t(ov 6h ox*x ovTOJV, cog ovx Jsöriv (536, 11.) 0
Protagoras fand nämlich, dafs der einzige Weg in das Innere
der Seele die Wahrnehmung sei, und so folgert er: (irj^ev slvai
ywx^v otagä xaq alö&fjösig (525,25). Die Gegenstände der
WahmehmuDg befänden sieh nun aber in beständigem „Flusse^,
und aufserdem werde durch Alter, Eörperbeschaffenheit und
Stimmung das Wahrgenommene beeinflulst; da jedoch für den
Menschen nichts anderes existiere, als eben diese seine augen-
blicklichen Sinneserscheinungen, so sei er das einzige Kriterium
der Wahrheit; so kommt der bekannte Ausspruch zustande
(531, 7 — 30 nach Sextus Empirikus). Die beiden wichtigsten
Ergebnisse sind also: alles Seiende ist Beziehung, und ferner:
alles „ist" nur als Wahrgenommenes. Solche Lehren machen
aber jede Wissenschaft, insbesondere die Logik, unmöglich.
Denn nicht einmal die Voraussetzung, die auch eine psycho-
logisierende Logik braucht, die (empirische) Gleichartigkeit der
Konstitution der menschlichen Seelenkräfte, ja sogar nicht die des-
selben Individuums zu verschiedenen Zeiten läfst Protagoras be-
stehen. Wie gründlich man sich auch in der Praxis in Sophisten-
kreisen über die Logik hinwegsetzte, zeigen die erhaltenen Aiccol
Zojoi (635 ff). Vor allem aber benahmen jene Voraussetzungen jede
Möglichkeit, auf die Tatsache der Abstraktion irgendwie ein-
zugehen. Hier war eine so offensichtliche Lttcke, dafs man
schon erwarten wird, dort werde der Widerspruch einsetzen;
denn dalis wir abstrakte Begriffe bilden, mehrere Gegenstände
in mannigfachster Hinsicht und zu verschiedenen Zeiten als
dieselben betrachten, dies ist eine offenbare Tatsache unseres
Seelenlebens, die schon in der Bildung allgemeiner Namen ftlr
jeden sieh wirksam zeigt. Dies mufste also erklärt, nicht
verschwiegen werden. Bemerkt sei noch, dafs Protagoras sich
^) Zitiert ist in diesem Paragraphen nach Seiten und Zeilen von
H. DielB, Fragmente der Voisokiatiker, Band II, 1>, Berlhi 1907.
Digitized by
Google
8
offenbar «d Heraklit anlehnte, der ja ebenfalk für die Objekte
der Wahrnehmnng die Einheit lengnete: g)fiolp ovv 6 dvi^n
trjv vXtjv QBVörijv slvai, Qeovötjq dh avztJQ... (531,14).
Ferner polemisierte er gegen die Eleaten, die Leute, „die das
Seiende als Einheit einführten^ (537,10).
Namentlich diesen letzten Gegensatz zur eleatischen Philo-
sophie müssen wir im Auge behalten, wenn wir die bei Sextus
dem Empiriker ausführlich erhaltene GedankenfÜhmng des
Gorgias verstehen wollen (552,13—555,21). Wahrscheinlich
enthielt dieselbe Schrift auch seine an Empedokles angeknüpfte
Theorie der Wahrnehmung (555,22—25), und da das Ganze
nach den Worten des Berichterstatters auf das Ergebnis des
Frotagoras zusteuerte — nur auf anderem Wege (552,13 — 15) — ^
so sehen wir schon: es herrscht derselbe Geist. Jener „andere"
Weg wird sogleich klar, wenn wir das in dem Bericht auf«
tretende oV und /i^ ov als die eleatischen Begriffe auffassen,
die hier bekämpft werden sollen. Ein absolutes, unabhängiges
Sein, heilst es, ist unmöglich, da alle Bestimmungen, die wir
ihm beilegen könnten, zu Widersprüchen führen, da ihm also
keine einzige zukommen kann (ort ovöhv bOxlv 552, 19 — 554, 2).
Wenn aber auch zweitens ein absolutes Sein existierte, so könnte
es doch nie erkannt werden; denn das Gredachte ist kein
absolutes Sein (554, 3 — 32). Drittens aber, selbst wenn ein
solches Erfassen irgendwie möglich wäre, so wäre immer noch
ein Mitteilen an einen anderen ausgeschlossen, da die Sprache
nicht das absolute Sein wiedergibt, noch überhaupt ihm ähnlich
ist (554, 33 — 555, 18). Folglich entbehren wir jedes Kriteriums
der Wahrheit, jedes Wissens über das absolute Sein, womit
denn der Satz des Frotagoras erreicht ist^) — Die Art der
Ausführungen hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem platonischen
Farmenides, wo ebenfalls die Ausdrücke ov und n^ or bald
das absolute, bald das beziehentliche Sein meinen. Wider-
sprüche waren freilich für Gorgias unvermeidlich; es liegt nun
einmal in der Natur der Sache, dafs jeder, der solche aensua-
listischen Positionen streng beweisen wiU, mit den Mitteln
*) 555,18: xoiovxfov olv naga ry Pogym i^ogrjfiivwv cSx^^'^ oaot
in avzolq rb zijq icXr^d-glag xgnijQiov ' xov yaQ fiijxc ovzo^ fnize /ropc-
)^ed-ai dvvafjiivov ujjxe aXXtjf nagaaraO^vai nttpvxoxoq ovöhv av fttj
XQlXl^QlOVk
Digitized by
Google
9
arbeitet, die durch Beine VorauBsetzangeD eigentlich aufgehoben
sind;!) so heifst es ganz ernsthaft (552,26): jtaifzsXoyq de
äxojcov rö slval vi Sfia xal fi?j slvai. Wir werden erwarten,
dafs auch diese Selbstvernichtung des sophistischen Denkens
sehr bald zur Kritik herausgefordert habe.
Noch ein dritter Punkt ist jedoch von grofsera Interesse,
er spielt eigentlich schon in das zweite Forschungsgebiet der
Sophisten, die Grammatik, hinüber. Auf die Beziehungen
zwischen Wort und Gedanken wurden wir schon hingewiesen,
und zwar hat in diesen Überlegungen der dogmatisch-positive
Charakter ihrer grammatischen rex^rj offenbar die philosophische
Betrachtung beeinflufst. Protagoras schrieb über den „richtigen^
Gebrauch der Worte, Prodikus eine Synonymik; dabei ging er
von dem Grundsatze aus (566; 30), es mttfsten verschiedene
Namen auch verschiedene Bedeutung haben. Die Namen also
waren dafür das Primäre. Noch deutlicher tritt dieselbe An-«
schauung in der Lehre eines nicht genannten Sophisten hervor,
die uns durch die Bekämpfung bei dem Hippokrateer de arte
erhalten ist (592,8), und die sagen liefs: die eUij seien nur
auf Grund der Worte, nicht aber aus der Natur heraus ent*
standen; dann antwortet der Hippokrateer :
olfiai 61 eyoYS xal rä örofdara avtäg (seil rag xixvao) 6id
r« eiöea Xaßetv ' äXoyov yaQ djto rwv dvoiiazwv ^yelod-ai rä
ecöea ßXaoxdveiv xal ddvvaxov ' rä fdhp yäg orofiaza vo/io-
d-errjuaxd iöxiv, xd 6e ecöea ov vofdo&ex^fiaxa dXXd ßXa*
öxfjfiaxa (vgl, 3. Aufl. II, 293, 2).
Hier wird genau das bekämpft; was uns aus dem Mittel-
alter als Nominalismus bekannt ist. Es ist ein, wenn auch
anscheinend vereinzelt gebliebener Versuch, von sophistischer
Grundlage aus die Tatsache der Abstraktion irgendwie zu
bewältigen. Die allgemeinen Namen sollten alles erklären.
^) Ich k&nn mich nicht; mit Windelband (Lehrbaeh der Geschichte
der Philosophie *1913, S. 74), davon ttberzeugen, dals Gorgias mit der
Schrift nur einen Spafs hätte machen wollen. Es ist eine dorchaos ernst-
hafte Polemik gegen die Eleaten, keine Spur von „grotesker Farce^ oder
Ironie. Ebenso wenig kann ich H. Gomperz beistimmen, nach dem (Sophistik
und Bhetorik 1912, S. 24 f) die Schrift eine Probe dafür sein soll, wie man
„auch das Absurdeste mit dem Schehie der Plausibilität au nmgeben ver-
möge." Wir haben zwar nicht einen „philosophischen Nihilismus** vor uns,
aber dooh ^ine Ablehnung des starren eleatischen Seinsbegriffes..
Digitized by
Google
10
Dals sich die Sophisten der Konsequenz ihrer Lehren, der
Aufhebung nämlich der Wissenschaft, bewnfst waren, zeigen
ihre Anpreisungen, sie konnten ihre Schttier ohne UbermitUiing
der Sachkunde zu allen Dingen geschickt machen (528,27).
AuTserdem aber stellte Protagoras zusammen (yermutlich in
den „Widerreden** [538]), was man gegen jede einzelne Wissen-
schaft einwenden könne. Ein lehrreiches Beispiel hat uns
Aristoteles erhalten (538, 19): die Geometrie sei anmOglich;
denn ihre Bestimmungen kämen in der Wirklichkeit gar nicht
vor; keine Linie sei gerade, keine Tangente habe wirklieh nur
einen Punkt mit dem Kreise gemeinsam. In der Wahmehmnng
gewifs nicht, und wenn die ganze Seele nur Wahmehmung ist,
so ist die Bestreitung der Geometrie durchaus konsequent
Betrachten wir nun die sophistischen Lehren nach den in
der Einleitung skizzierten Gesichtspunkten, so werden wir
sagen müssen: sie übersahen, dafs wir nicht nur Wahr-
nehmungen erleben, sondern auch einen ganz bestimmten Sinn
in sie hineinlegen, dafs wir z. B. in der Geometrie nicht die
vorliegende Figur meinen bei unseren Ableitungen — und man
mufste das übersehen, wenn man eine Moral begründen wollte,
die sich lediglich von den augenblicklichen Erfordernissen der
Situation, dem Streben nach Macht um jeden Preis leiten liels.
So mufste man aber weiter zur Leugnung der logischen
Betrachtungsart kommen und glauben, man habe mit der
physiologisch-psychologischen Erklärung der Wahrnehmung,
wie sie Gorgias versuchte, alles geleistet Erkenntnistheoretisch
ergab sich daraus der Zweifel an der Existenz alles dessen,
was über die augenblicklichen Wahrnehmungsinhalte hinaus-
ging, und praktisch eine antilogische Kunstlehre des Denkens,
eine Anweisung zur Auffindung von Widersprüchen und
„Sophismen^: alles durchaus folgerichtig.
4. Man siebt, das Pendel der Entwicklung war nach der
einen Seite weit genug ausgeschlagen, um mit vollem Schwung
nach der entgegengesetzten sich wenden zu können. Die
Reaktion blieb denn auch nicht lange aus. Jede schon einiger-
mafsen gefestigte Wissenschaft mulste gegen die Sophistik
protestieren. Als erste trat sehr bald die Medizin auf den
Plan. Wir haben die Schrift des Hippokrateers schon kennen
gelernt; es ist besonders bemerkenswert, dals er gleich die
Digitized by
Google
11
wnnde Stelle in der gegneriBchen GedankenfÜhrang trifft: die
Nichtachtang der slöf]^ die nach ihm „heryorwaehsen ans
der Natnr selbst '^ (s. o. S. 9). Der Mann aber, der den
Sophisten anf ihrem eigenen Gebiete entgegentrat, ihre sozialen
und politischen Bestrebungen aufnahm, war Sokrates. Anch er
ist nnr als Bttrger eines freien Staates denkbar; auch ihm ist
der Menseh das einzig würdige Objekt der Forschung (Xeno-
phon, Memorabilia 1,110 — 15)^), ebenso wie jenen stand ihm
dabei sein Verhältnis zu Staat und Gesellschaft im Mittel-
paukte. 2) Er macht es sich zur Aufgabe, zu sorgen, da£s
möglichst yiele zu tttchtigen „Politikern** werden (I,YI15).
Aber seine Bemühungen stellt er von vornherein auf eine ganz
andere Grundlage. Die Hauptforderung ist ihm das Fvcid^i
oavxov (IV, II 24): wer sein Können und Wissen selber nicht
kennt, ist nahezu wahnsinnig. 3) So gilt es denn, auf jedem
Gebiet wirkliche Sachkunde zu erwerben, ^) auch auf dem des
Sittlichen : wer das Gerechte kennt, ist unter allen Umständen
gerechter als der, der es nicht kennt (IV, II 20). Gerechtigkeit
nnd alle Tugend ist Wissen, da jeder das tut, was er als das
Bessere erkannt hat.^) Um dies zu erreichen, ist vor allem
notwendig, das bleibende Wesen der einzelnen Dinge zu
^) Benutzt ist im folgeaden nur Xenophon, und nur f&r solche Ge-
danken, die auch durch Piato allgemein als sokratisch bekannt sind; vgl.
H. Maier, SokrateSi Tübingen 1913. Dieser hat, wie ich meine, über-
zeugend dargetan, dafs auch Aristoteles nicht als ungetrübte Quelle fdr
Sokrates gelten kann, vielmehr den Xenophon benutzt habe: S. 94— 102.
•) I, I, H : oiSl yoLQ itBQl Ttjg T(ov ndi^twv (pvaaaiq, in^Q twv aXXwv
Ol nXeiatoi, öieXiyeto oxomäv onioq b xaXovfjievog inb tdiv ootpiordiv
xooßoq ^x^t xal xiaiv dvdyxaig ^xaara yiyvetai^jiüv ovQaviatv, akXd xal
zovg tpQOvxil^ovrag ta roiavra (i<oQalvovxaq dnedslxyve.
1,1,16: avtbq Öh neQl zwv dvO^Qomeiwv atl öieXiyexo oxonwv xi
evaeßiq, xi doeßag, xL xakovy xl cdaxQov, xi dixaiov, xi aöixov, xi aw'
ipQOOvvri, xi (lavla, xi dvögtia, xi ösiXia, xi noXiq, xi noXixixog, xi oqx^
dvd-Qwnwv, xi d^ixog dv^Qwnoiv ...
•) III, IX, 6: xa di dyvoeXv havxbv Tcal S (iri olös 6oSdt,eiv xe xal
oho^ai yiyvwüxetv iyyvvdxm fzavia^ ikoyi^axo elvai.
*) III, VI, bes. 16 — 18: el oiv imS^v/jielg evöoxifjteiv xe xal ^avfAa-
^ea^ai, nsigca xaxsQydaaod-ai wg fidXicxa xb elöivai a ßovXsi TCQdxxsiv.
*) III, IX, 4 : ndvxäq yaQ ol,uai nQoaiQOvidvovq ix xäv höfx^fiivwv
a oiovvai avfKpoQwxava avxolq elvat, xavxa ngdixeiv • vofii^o) ovv xovg
fiTj o^d-wg TtQdxxovzag ovxs aotpovg oixB a(o<pQovag slvat.
Digitized by
Google
12
erforscheD, sie durch Definition festzulegen, i) Um dahin zu
gelangen, sehen wir Sokrates zwei Wege einschlagen: entweder
stellt er nach Möglichkeit alles zusammen, was unter einen
Begrift fällt, ') oder aber — und das scheint die Regel gewesen
zu sein (IV, VI 15) — er ging von dem allgemein Angenommenen
ans, um es zu analysieren (z. B. IV, VI 2—4). Dieses alles
durchziehende Grundmotiv, die Forderung der Sachkunde, macht
Sokrates zum offenen Gegner der Sophisten, wenn auch Xeno-
phon diesen Gegensatz nicht so betont hat, wie Plato. ') Über
die Methoden der Begriffsbestimmung und ihre theoretischen
Grundlagen scheint Sokrates nicht reflektiert zu haben: ihm
war die praktische Austtbnng das Wichtigste» Jedenfalls hat
er die beiden Grundirrtttmer der Sophisten zu beseitigen
gesucht: er wollte die politische Erziehung und Betätigung
auf eine Grundlage stellen, die sich nicht selbst und alles
darauf Erbaute zerstörte, nämlich auf das Wissen, und er ging
dazu aus dem sensnalistischen Relativismus seiner Gegner heraus
zur Aufstellung des sich gleichbleibenden allgemeinen Begriffs.
Damit war die Grundlage gegeben, auf der eine Beachtung
und Erforschung der Abstraktionstätigkeit möglich und not-
wendig wurde.
*) IV, IV, l : cSv ^vexa cxonwv xL ^xacxov ciiy xtbv ovxofv, ovdixox'
iXrjys .ndvxa ßlv olv | Si<aQlt,£xo, noXv iQyov av etij Sie^eX&siv.
•) IV, II, 13: y^dxpcDfiev ivxav^ot fiiv SiXxa, ivxavO^oZSh aXipa, elxa
oxi fjilv av öoxy ^fxly xi^q ÖLxaioavvriq BQyov elvai UQoq x6 dikxa xid^wfiBv,
oxi 6t av xrjq döixlaq ngbq x6 aX<pa . . .
•) Doch vgl. B. B. I,IV,1.
Digitized by
Google
IL Plato.
Plato setzte die LebeDsarbeit des Sokrates fort und machte
sich deBsen Bestrebnngen so sehr zu eigen, dals wir in seinen
Schriften vielfach Sokratisches und Eigenes nicht mehr zu
scheiden vermögen. Auch er wollte die Menschen zu rechter
Betätigung in Staat und Gesellschaft erziehen: diesem Gegen-
stand ist dem Umfange nach die Hälfte aller seiner Schriften
gewidmet Auch er suchte fUr diese Lehren nach fester Be-
gründung, nach dem Rahmen einer einheitlichen Weltanschauung,
so dals jeder durch seine Vernunft an sie gebunden, alle Will-
kür ausgeschlossen würde. Der theoretische Ausbau jener
Grundlage ergab das Hauptstttck seiner Philosophie, die Ideen-
lehre, die wesentlich aus der sokratischen Begriffsbestimmung
erwachsen ist und also mit dem Problem der Abstraktion sich
abfinden muTs.
Yorbemerkang über die Reihenfolge einiger Dialoge.
5. Ehe wir aber an die Sache selber herangehen, ist es
notwendig, einige philologische Bemerkungen über die Reihen-
folge einzelner Dialoge vorauszuschicken, da die Auffassung
der platonischen Gedanken wesentlich abhängt von der Zeit-
folge, die man fUr die Entstehung der Dialoge annimmt. Die
Darstellung der Ideenlehre durch P. Natorp beruht zum nicht
geringen Teile auf einer sehr frühen Ansetzung des Phädrus
und Theätet — vor Phädon, Gastmahl, Staat, die so als Zwischen-
glieder zwischen dem Phädrus und den von ihm so erheblich
abweichenden Dialogen Parmenides, Sophistes gedeutet werden
können. Man ist aber jetzt offenbar gezwungen, jene beiden
Dialogo nach dem Staate anzusetzen; allein die Methode der
Digitized by
Google
14
Spracbfttatistik, die nach der neuerliehen Darcharbeitung ihrer
logischen Grandlage niemand mehr wird abweisen wollen,')
würde hier entscheiden können. Dazu treten aber Gründe ans
dem Inhalte der Dialoge, ans der Vergleichnng des eseh&to-
logiscben Mythos Phädrns 245 ff. mit dem am Schiasse des Staates
and die kurze, ohne Staat II — IV unverständliche Darstellang
der Dreiteilung unserer Seele. >) Da aber alle diese Gründe
noch immer nicht allgemein ttberzeagend gewirkt haben, so sei
mir gestattet, anf einen weiteren Umstand aufmerksam zu machen,
der von der späteren Abfassung des Phädrus Zeugnis ablegt
Am Schlüsse seiner zweiten Bede bringt Sokrates die
Seelen je nach ihrem Verhalten dem Geliebten gegenüber in
eine ge^fisse Rangordnung, und die Beschreibung der besten
Klasse läfst noch deutlich erkennen, daüs das Gleichnis vom
Seelenwagen berufen war, diese Stufenfolge und die Charak-
terisierung im einzelnen zu erläutern. Die Bezeichnung des
besten Eros, der ja in der Beherrschung des Wagens durch
seinen Lenker, den rovg, sein Wesen haben soll, ist durchaus
angemessen. Aber beim zweitbesten Zustande, dem des
g)iX6ti(£og 256 c 1, versagt das Bild, und auch dieser Name
palst nicht: er müfste durch die Vorherrschaft des besseren
Pferdes hervorgerufen sein, das ja in der Tat als rififjg igaarjjg
geschildert wurde 253 d 6. Da aber Plato mit dem Begriffe
der Ehre bei der Charakterisierung des zweitbesten Eros in
Wirklichkeit nichts anzufangen weifs, so sieht man, dafs diese
Wendung des Gedankens nicht ursprünglich für diesen Zu-
sammenhang bestimmt war. Ganz dasselbe ergibt sich, wenn
wir den drittbesten Zustand ins Auge fassen. Dieser wird als
q)£iöa)Z6g 256 e 5 bezeichnet; die om^ffocvvri ^vffnj lälst in
einem solchen keine Liebe aufkommen. Hier versagt das Bild
vom Seelen wagen also völlig; der Begriff der ca^Qoovnj d^i^/rij
statt der erwarteten völligen Zügellosigkeit des schlechten
Pferdes mufs überraschen. Alle diese Schwierigkeiten finden
mit einem Sehlage ihre Erklärung, wenn wir die Ausdrücke
^iXötifiog und ^siöcoXog, ebenso auch ^il6(Sog>og, als Hinweise '
>) H. V. Arnim, Sprachliche Forschungen zur Chronologie d. pUton. i
Dialoge. Wien 1912. I
*) Zasammengestellt bei H. Raeder, Piatos philosoph. Entwickl. Lpz.
1905, 8. 260—258.
Digitized by
Google
15
auf das YIIL Btteh des Staates fassen können, in dem diese drei
Worte bei voller Verständlichkeit und unter Wahrung ihres
gewöhnliehen Sinnes ganz allgemein auf die drei besten Seelen-
znstände angewendet werden; vgl. fttr g>cX6Tiiiog, 545 a 3, b5;
548 0 5—7; 550 b 7, fttr g>€i6(oX6g 554 a 5, e 7; 555 a 9; 558 c 11;
560 e 7. Dort passen sie, zur Bezeichnung speziell der erotischen
Zustände jedoch durchaus nicht: kann es einem Zweifel unter-
liegen, in welchem Zusammenhange sie zuerst gebraucht worden
sind? Auch die acDg>Qoavpri Ovr/tf} kehrt im Staat beim dritt-
besten Zustande wieder; vgl. 559b 11; 560 dB. Sie läfst nur
aus (xrttnden der „ Sparsamkeit '^ die ttberflttssigen Begierden
unterdrücken. Deshalb also, weil jener fiij iQwv des Phädrus
nur ans kleinlichen Ängsten, aus unedlen Motiven sich vor
sinnlichen Ausschreitungen zurückhält, mufs er an Wert hinter
dem g>iX6Tifiog zurückstehen. So erst wird diese Reihenfolge
verständlich, auf die doch nach jener verfehlten Lobrede auf
den fiTj iQ(5v alles ankam. Man sieht, der Verfasser des Phädrus
ist noch ganz beherrscht von den Gedanken des Staates, und
die Sprachstatistik, die eine entsprechende Beihenfolge der
Dialoge fordert, hat gewifs das Richtige getroffen, i) Dann mufs
aber der Natorpschen Darstellung ein bedeutsamer philologischer
Interpretationsfehler zur Last gelegt werden, was ihre Position
in dem Kampfe, den sie sowieso zu bestehen hat, nicht gerade
erleichtert — Der Theätet soll auch nach Natorp dem Phädrus
folgen. Er weist meiner Ansicht nach S. 176 e 3 auf Staat 472 c 4
deutlich genug zurück.
6. Die Dialoge vom Theätet ab sind nun dadurch zu einer
Einheit verbunden, dafs in ihnen die Frage nach dem Zusammen-
hange zwischen Idee und sinnlichem Ding ganz auffallend in
den Vordergrund tritt Um zu einem befriedigenden Ergebnis
zu kommen, stellt Plato das „beziehentliche" Sein als das-
jenige hin, was unserer Erkenntnis eigentlich allein zugänglich
sei: Theät 186 a 9 öaxel (seil. ?) tpvxfj) iv rolq fidZiöra jtQog
äXXfjXa CxojceZad-at rfjv ovölav; vgl. b 8. Parmenides im Unter-
0 Im Übrigen ist die VerteUung der Eigenschafteo an die beiden
Pferde nur mit Hilfe des Staates verBtändltob, wo sie sich genau bei den
StÜDden wiederfinden. Ein Beispiel: Das bessere Pferd ist aXri&ivtiq
66^fl(; ixal^q 253 d 7; genau dasselbe galt im Staat von den Wächtern,
und zwar nur von diesen 430 a, b.
Digitized by
Google
16
schiede der ersten und zweiten Hypothese sl tv iotiv (sbßolnies
Sein) and ^v sl eövtv (bezogenes Sein). Soph. z. B. 255 c 12
rcov ovT(DV ra fikv aira xa^^ avrd, rä Sh jtgbq äXXa del XiytTau
Dem entspricht weiterhin jene „Mischnng'^ ans Werdendem und
Seiendem, die yiveoiq Blq ovclav: Politik. 283 d 8 t6 ök xara
r^ rfjq yevioswg ävayxalav otLölav, PhiL xqItov ^d&i §ia
Xi^siv . . . yivBCiv elg ovölav (gemeint ist das fisixrov yeinx;)
26 d 7. Tim. ebenfalls die fisZ^ig ans vot/töv nnd alo&r^6»%
auch dort genannt ovala 35a4, b3; 37a3. In diese Beihe
pafst nnn aber der Phädrus auf keinen Fall hinein; denn er
ist es gerade, der allein das absolute Sein kennt, dem Werden
schroff entgegensetzt nnd als alleinigen Gegenstand der wahren
Erkenntnis betrachtet (vgl. 247 c— e; 250 a— b). An diesen
Dialog Yornehmlich pflegt man ja zn denken, wenn man Ton
Piatos Hypostasiernng der Begriffe im „Reiche der Ideen**
spricht; er fällt also ganz gewifs vor jene nene Problem-
stellung, nnd in dieser Meinung wird uns auch die bisher auf
rein stilistische Gründe basierte Ansetzung nach dem Parmenides
bei H. V. Arnim nicht wankend machen.
Da nun als Zwischenglieder zwischen Phädrns und The&tet
weiter keine Schriften in Betracht kommen, so stehen diese
beiden Dialoge am Ende nnd Anfang zweier yersehiedener
Perioden in Piatos philosophischer Entwicklung. In jenem ist
der Bruch noch mit keinem Worte angedeutet, in diesem ist
er vollzogen. Eine so scharf sich abhebende Neuerung wird
gewifs auch ihre äufseren Orttnde haben, und gerade fttr die
Zeit um 470 läfst sich da mancherlei ausdenken. Da nun die
Umbildung gerade das von uns untersuchte Problem mitbetrifft,
so wird es auch fttr uns nötig sein, nach diesen beiden Perioden
zn disponieren, um die Änderungen im einzelnen feststellen zu
können. Nur für eine Vorfrage, nämlich die Beziehung zwisehen
Namen und Dingen, wollen wir die Zeugnisse aus der zweiten
Periode gleich mit anführen, da in dieser Lehre keine Unter-
schiede zu finden sind.
Über die Beziehung zwischen Wort nnd Bing.
7. Am sichtbarsten ist die Abstraktionstätigkeit in der
Sprache zu erkennen, in der Schaffung allgemeiner Namen.
Auch für Plato bilden diese öfter den Ausgangspunkt seines
Digitized by
Google
17
Nachdenkens: wie kommt es nnr, dafs wir viele verschiedene
Dinge mit demselben Worte bezeichnen? Es mnfs doch etwas
in ihnen sein, was uns die Berechtigung dazu gibt. (Men. 74 d 5;
Hipp. mai. 288 a 8 *) Staat 596 a 6—8.) Wir können nichts richtig
benennen, ja auch nicht einmal denken, wenn nicht dem gleichen
Namen auf Seiten des damit Gemeinten etwas auch zu ver-
schiedenen Zeiten Gleiches entspräche (Krat439d — 140 d)^).
Dieser Znsanmienhang zwischen Sprechen und Denken wird
noch dadurch um so enger, als ja das Denken ein Unterhalten,
ein Fragen und Antworten ist, dem die Dialogform Rechnung
tragen soll (Phädon 75 d, 78 dl, 2; Krat. 890o 10-11; Staat
534 dS), nur dafs eben in der zweiten Periode, als auch die
äufsere Lebendigkeit der Dialogform erstarrte, das Denken zu
einem inneren, stillen Sprechen wird (Theät 189e6f.; Soph.
263 e 3—5; Phil. 38 d -39 a). Dennoch aber war Plato weit
davon entfernt, im Zusammenwirken von Wort und Begriff
jenem irgend welche bestimmende Bedeutung einzuräumen:
im Gegenteil, die Sprache ist, als Werkzeug des Mitteilens
und Unterscheidens (Krat. 388 b 13), nur eine notwendige Fessel.
Das Wort ist eine Nachahmung des Gegenstandes (Krat 423 b 9;
Soph. 267 d 4); daher wird das Sprechen mit dem Malen ver-
glichen (Krat 430b ff.; Staat601a4; Phil. 36 d— 39 e). Da jedoch
aufser diesem Verhältnis zu den Dingen die Sprachgewohnheit
zum Verständnisse mitwirkt (Krat. 434 e)') und ferner sich in
den Worten die, womöglich falsche, Weltanschauung des Wort-
prägenden widerspiegelt (Krat. 436 b 5 — 11)*), so sind sie die
Ursache manchen Irrtums, der nur vermieden wird, wenn wir
^) rccvxa navza, & ^f c xaXä Bivai, d xL icxiv avxh xo xaXov, tovt'
av ff^ xaXa;
') J4(>* ovv olov xe ngoaeineiv avxh Sq&wq, ü ael ine^i^x^rai,
ngdizov filv oxi ixetvo iaxiv, ^netxa dxi xotovxov, rj dvdyxri a/na rjfiwv
Xeyoviofv aXko avxh ev&vg yiyvea^ai xal vne^dvai xal (xrix^xi ovxmq
ex^tv; — dvdyxrj (d8 — 12)... ÄXX^ ov6h yvwaiv elvai fpavai eixoQt d
fiExaninxei navxa xQ^f^c^'^o^ xal fiijöhv fxivti . . . (440 a 6 — 8).
•) 6—7 : rl aXXo xi XiyeiQ x6 ^d^og ^ oxi iya), oxav xovxo ip&iyycofiai,
öiavoovptai ixetvo, ah 6h yiyvdtoxeiq oxi ixetvo diavoovfjiai;
*) JfiXov^oxt 6 ^ifievoq riQwxog xa Svofxaxa, ola r^yelxo elvai xa
ngayfiaxa xoiavxa itld'BXo xal xa ovofiaxa et ovv ixelvoq /iij og&wg
iiyüxo,ed^€to 6t ola Tjytlxo, xl oiei rjiiäg xovg dxoXovB^ovvxaqavxw nelaeaS^ai ;
üXXo XI ij iianaxri&^ota^au
PhUoMpbiMhe AbluuidlnBgeii. XXXXIV. 2
Digitized by
Google
18
aaf die bezeichneten Dinge selber zurttekgehen (Krat 439 a 5 ff.) ^ - .
deren nnvollkommenes (Krat 432 a 8 ff.) Abbild die Namen sind
Ein aus dieser Ansicht fliefsendes Bestreben, ttber die „blolsen*
Worte hinauszukommen, findet sich hänfig ausgesprochen (Charm.
163d5; 175b4; Staat454a7; 509d3; 533d6; Theätl77el:
Soph. 218c5).') Was Plato zu solcher Meinung drängte, ist
unschwer zu erkennen. Einmal hatte er selbst oft Gelegenheit
sich als Wortpräger zu betätigen, wenn in seinen Einteilungen
f ttr einen ganz bestimmt umrissenen Begriff der Ausdruck fehlte
(z. B. Gorg. 464 b 4—6; Soph. 267 d 9; Polit 302 d 7). Ferner
waren die meisten Sophismen durch unvollkommene Bezeichnung
entstanden (Euthyd. 277 e 3 f.; Staat454a 4— 9; Theät 184c 1— 7^l
Aber das wichtigste ist doch dies, dafs seine Gegner, Herakliteer
und die mit ihnen gleichgewerteten (Krat 440 c 2) Sophisten,
aus der entgegengesetzten Lehre, dafs nämlich im Worte das
ursprüngliche Wesen des Gegenstandes zu erkennen sei, hatten
') b6 — 8: 0V9C iS ovofiaz(ov dkXä noXh ß&XXov aita (wXLxa orta)
iS avrtiv xal fia^z^ov xal gi/ri^r^ov rj ix twv ovo/xatapv.
*) In den „Gesetzen'' finden wir eine gewisse Erweitenmg dieses Ge-
dankeDS, indem zwischen Name und damit bezeichnetem Wesen noch die
in Sätzen aosgeführte Definition (Xoyoq) hinzutritt, so jedoch, dals Name
und Definitionssatz gleichbedeutend für einander eintreten können, wenn
das Wesen einer Sache (z. B. des Ereiaes) bezeichnet werden soll (S95 d— e).
Im 7. Briefe kehrt dieselbe Ansicht wieder, nur dais jene Dreiheit su fUnf
Stufen ausgebildet ist: Svofia, Xoyoq, €i6wXov, hctaxrffiti, vovq (342 a 7 f.).
Darin braucht kern Beweis einer Weiterentwicklung zu liegen, als wenn
nicht Plato auch früher schon das etdofXov und ferner imotijfiii und vot^
von den andern Stufen und unter sich geschieden hätte. Es kommt auf
den Zusammenhang an, und da dieser in beiden Fällen nicht eine Gliederung
der Erkenutnisarten bezweckt, sondern nur andere Probleme dadurch auf-
lösen wQl, so war Plato znr Vollstiindigkeit gar nicht verpflichtet (gegea
Räder, a. a. 0. S. 297). ~ Übrigens glaube ich nicht, dafo mit Hilfe jener
philosophischen Bemerkungen des 7. Briefes über seine Echtheit entschledeo
werden könne: Das könnte alles sehr gut platonisch sein, selbst wenn
niemals sonst jene fünf Stufen auftreten. Der Verfasser wiU ja ausdrücklich
kein Lehrbuch schreiben. Erstannlich wäre es immerhin, dafii ein Falscher,
nm die Unzulänglichkeit alles Büoherschreibens zu erweisen, gerade auf
jene verlorene Notiz der Gesetze zurückzugreifen sich entschlois, und nicht
lieber jene berühmte Stelle des Phädrus benutzte, wo Plato diesen s^bea
Gedanken begründet (275 d — 276 e). Man mttfste Uin schon unter Piatos
persönlichen Schülern suchen, etwa in Herakleides. Doch möchte ich lu
dem Problem hier keine Stellung nehmen, und ich werde daher den Brief
nicht weiter heranziehen.
Digitized by
Google
19
Nutzen ziehen wollen (Krat. 436 e 2 ~ 6; Beispiele Erat. 412—427)
Das mttssen die gleichen Leute gewesen sein, die wir oben
(S. 9) schon einmal durch die Schrift des Hippokrateers kennen
lernten. Auch dieser wollte die primäre Bedeutung der Blörj
retten und tat dies mit der auch im Ausdruck bei Plato an-
klingenden Behauptung, die Worte seien vo/iod-sTJJfiata und
nicht, wie die Dinge, ßXaönjfiara (ygL den vofio&htig Krat
388 e 1; 431 e 4; Charm. 175 b 4). Es handelt sich also um eine
Rettung der Ideen, der allgemeinen Begriffe. Nicht umsonst
und gedanklich durchaus nicht uuTermittelt treten diese am
Schlüsse des Eratjlus auf als das, worauf sich in erster Linie
die Forschung zu richten habe. Hinter dem anscheinend
grammatischen Problem: sind die Worte d^iasi oder g)vostf
steckt mithin das metaphysische: sind die slöij (pvöBt oder
HcBLi'^ also der Gegensatz des scholastischen Realismus und
Nominalismus l:ttndigt sich schon damals an. Die Ansicht
des Herakliteers ist: oq av rä ovofiata kjcloravai, hclorazai
xäi jtä jtQayitaxa (Erat. 435 d 5). Diese Meinung kommt da-
durch zustande, dals der psychologische Vorgang der Be-
nennung mit der Wahrheit des damit Gemeinten gleichgesetzt
wird. Genau ebenso erklärt sich ein anderer Irrtum, der von
Plato demselben Gegner vorgeworfen wird; Eratylus behauptet,
es gebe kein falsches Urteil; ein solches bedeute doch: etwas
NichtSeiendes ausdrucken und das ginge natürlich nicht (Erat.
429 d 4 — 6; vgl Euthyd. 284). Auch hier ist der psychologische
Urteilsvorgang in seiner Existenz mit dem „Sein", also der
Wahrheit, von dessen Inhalt, verwechselt. Es zeigt sich somit
wieder, dafs ftlr die Sophistik nur die psychologische Be-
trachtungsweise mafsgebend war. Plato tritt ihr hier energisch
entgegen. Seine Polemik und seine gegenteilige Behauptung,
der benannte Gegenstand müsse auch ftlr die Erkenntnis immer
das Primäre bleiben, beweisen klar, dals für ihn niemals die
Tatsache der Abstraktion mit dem Hinweis auf die Existenz
allgemeiner Namen abgetan sein konnte. Freilich hat ihm die
damit zngegebene Möglichkeit des falschen Urteilens viel zu
schaffen gemacht; gerade ihre Erörterung bildet im Theätet
und Sophistes den Ausgangspunkt der Untersuchung. Wir sind
also an der Stelle angelangt, von der aus die beiden Perioden
in Piatos Entwicklung gesondert zu behandeln sind.
2*
Digitized by
Google
20
A. Erste Periode der platonischen Philosophie.
1. Nachweis der Wirklichkeit allgemeiner Begriffe«
8. Wie Sokrates, so ging auch Plato yod der Erkeimtiiis
ans, dafs alles, was die Sophisten trieben, keine Wissenschaft
sei: einmal erklärten ihre berufensten Vertreter selber (Protsg.
318 e; Gorg. 459 c 3), die Sachkunde anf den einzelnen Gebieten
durch ihre „ Kunst ^ ttberflttssig machen zu können. Sie werden
daher auch dvrlxsxvoL genannt (Staat 493 a 7). Nun hatten
sich aber damals schon mehrere Wissenschaften entwickelt:
Medizin vor allem, auf die Plato immer und immer wieder
hinweist, aber auch Mathematik, Baukunst, Schiffsbau; sie alle
verlangten ein nicht leicht zu erwerbendes Wissen, forderten
einen Befähiguogsnachweis durch Angabe des Lehrers oder
eigener Leistungen (Gorg. 514 d — e; Men. 90 b— c; Staat 488 b 4).
Eine schon ziemlich weitgehende Arbeitsteilung hatte sieh
daraus ergeben: eine und dieselbe rix^ri konnte nicht alles
Wissen umfassen (Jon 538 a; Staat 346 a; 374 a 5; 423 d 3).
Da die Sophisten dies Wissen nun nicht besitzen, so sind ihnen
auf allen Gebieten die Sachkundigen vorzuziehen. Diese For-
derung der Sachkunde bildet so recht das Grundthema der
kleineren sogenannten sokratischen Dialoge (vgl. noch Staat
332 c 5 ff.; 599 c).
Aber gerade das Aufkommen der Sophistik, obwohl jene
Wissenschaften blühten, bewies, dafs die philosophischen Grund-
lagen der Wissenschaft als solcher, das also, was sie von
anderer Betrachtungsweise unterschied, nicht hinreichend unter-
sucht waren. Worauf fulsten jene falschen Lehren und wo-
durch konnte die Sachkunde gegen sie verteidigt werdend
Auch hier hatte Sokrates schon den Weg gewiesen durch die
Forderung begrifflicher Bestimmung. Plato weist nun den
Fehler der Sophisten im einzelnen nach: er besteht haupt-
sächlich darin, dals sie nur die Wahrnehmung als Erkenntnis-
quelle kennen. Diese ist aber durchaus relativ, das stand nach
all den Forschungen früherer Denker unumstöfslich fest. Sie
bietet nach keiner Seite hin eine absolute Bestimmtheit: in ihr
kann das Gleiche auch ungleich (Phädon74cl), das Schöne
schlecht, das Grolse klein, das Schwere leicht und umgekehrt
sein (Staat 479 a 5 ff.), und es gibt für sie daher eigentlich nur
Digitized by
Google
21
ein Gröfser, Kleiner usw., welches in ihr durcheinander gemengt
ist {cvy^Eyvfi^va Staat 524 bes. c 3—4). Darauf läfst sich in der
Tat keine Wissenschaft aufbauen. Die Dinge der Wahrnehmung
schwanken beständig hin und her zwischen Werden und Ver-
gehen (Staat 485 b 2), sind vielgestaltig und bleiben sich selber
niemals gleich (Phädon 80 b 4): Die Objekte der Wahrnehmung
stehen zwischen dem vollkommen Seienden und dem voll-
kommen Nichtseienden, da sie sind und auch nicht sind (Staat
479 b 9), und als entsprechendes Erkenntnisvermögen mufs ihnen
die 66^a zugesellt werden, die an Deutlichkeit ebenfalls zwischen
Wissen und Nichtwissen steht, die wahr und falsch sein kann
(Staat 479 e 1—5; Gastm. 202 a 5—10). Das beste also, was sich
ohne Wissen mit Hilfe der Wahrnehmung gewinnen läfst, sind
oQd-ai 66§ai. Aber auch diese besten sind blind: kann ja auch
ein Blinder den Weg einmal richtig gehen (Staat 506 c 7). 0
9. So mufs Plato in der Beurteilung der wahrgenommenen
Welt den Sophisten und Herakliteern zustimmen. Aber damit
ist die Möglichkeit des Wissens so wenig aufgehoben, dafs
vielmehr dessen Existenz zeigt: es ist noch etwas nicht in
Ordnung, es gibt noch aufser der Wahrnehmung Objekte der
Erkenntnis. Gewifs, die vielen schönen Dinge, frommen Hand-
lungen usw. sind bunt verschieden; aber weshalb nennen wir
etwas schön, welchen Sinn hat ein solches immer wieder-
kehrendes Prädikat? Fragt man einen Sophisten, was dies
Schöne, Fromme usw. sei, so nennt er entweder einen schönen
Gegenstand (Hipp. maj. 287 e), eine fromme Handlung (Euthy-
phron 5 d 8), oder auch wohl mehrere (Men. 71 e; 74 a 4), immer
aber besondere Fälle; aber man muls doch den Sinn jenes
Prädikates für alle Fälle erklären können, und das kann der
individuelle Fall niemals leisten, so setzt dann Plato jedesmal
auseinander. Es wird also eine allgemeine eindeutige Bestimmt-
heit dessen verlangt, was man den vielen Dingen als Prädikate
beilegt, wenn man überhaupt einen Grund haben will, diese
Behauptung zu tun. Ja die Möglichkeit der Erkenntnis selber
hängt daran; denn sie ist eben nur bestimmte, sich gleich-
*) ovx ia^ijcai rag avev iniori^fiTjg öo^ag, wg näaai aloxQai; <bv
«i ßkXxtaxat xv<pXal — § öoxovoi xi ooi xv<pXd}v öia<p^QEiv oöbv OQ^wg
noQevofiivwv ol ccvbv vou aXrjB-ig xi So^d^ovxeg;
Digitized by
Google
22
bleibeade Erkenntnis, oder ttberhanpt keine, and sie kann das
nur sein, wenn ihr Inhalt, das Erkannte, ein so Bestimmtes ist
(Krat. 440 a 6 ff.). 0 Dieser Forderung entspricht die Idee, als
der Begriff selbst, der sich immer und in jeder Beziehung
gleichbleibt, „durch den^ in den einzelnen Fällen dem sinn-
liehen Individuum jene Eigenschaft, überhaupt jenes Prädikat
zukommt (Phädon lOOcS);') er steckt in den vielen Dingen
(Cbarm. 159 a 1 ; Phädon 100 d 5), sie haben an ihm Teil (Phädon
101 c; Staat 476 d). Diese Idee ist als wirklich unmittelbar
zu beobachten. Einmal nämlich „rufen die Sinne sie herbei"^;
jede noch so geringe Bestimmtheit ist ihr Werk, da sie in der
ungeordneten Empfindung noch nicht vorhanden ist (Staat
523 e— 524 d), vielmehr in sie hinein „gedeutet '^ wird. Und
dann kommt es ja häufig genug vor, dals wir nach jenen Ideen
die Wahrnehmung beurteilen und behaupten, sie seien in ihr
nicht völlig erreicht, jene bemühe sich nur so zu sein, wie die
Ideen (Phädon 74 d— e). Diese beiden Umstände zeigen aber
ebenso deutlich, dafs die Wahrnehmung selber nicht das Mittel
sein kann, sie zu erfassen. Dies ist vielmehr allein möglich
durch das Denken: avr^ rfj öiavola (Phädon 65 e 7), öia%H>iaq
Zoyiö(i(p (Phädon 79 a 3), ävev Jtac<5v ro5r atcd^'CBwv öia rov
Xoyov oder To3 ötaUysod^at^) (Staat 534 b 3), ganz rein ako
erst nach dem Tode, der endgültigen Beifreiung von der Sinn-
lichkeit (Phädon 68 a 9). Plato wird nicht müde, diese beiden
Gegenstände unserer Erkenntnis einander gegenüberzustellen,
das wandelbare, nie bestimmte, viele Sinnliche, dem immer sich
gleichbleibenden, allseitig bestimmten einen, nur durch den
Xoyoq erfafsbaren Begriffe (besonders Phädon 80 b; Staat 485 b
1—3; 490 b; 493 e; 508 d 5; 509 d 6 ff.; Phädrus 247 c 3 ff.). Nur
wer dies beides auseinanderhalten kann, ist ein Philosoph
(Staat 476 b 2)', hat den rechten eQwq (Staat 490 b 2), ist ein
') d fihv yaQ avtb xovxo, jj yvdSaiq, rov yvwoiq elvai fitj fieja-
nlmei, ßivoi zt av del rj yv(äotq xal sttj yvwatq . ei 6h xal avto tb
eldoq fjtezanlTiTec yviaqewq . . . ovx av elrj yvoioiq , , . ei dh laxi filv del x6
yiyvcjaxov, sazt 6h zo yiyvwoxopievov, iazi 6h x6 xaXov, tazi 6h x6
dya&ov, Mazi 6h tv ^xaazov ztüv ovzatv, ov fioi <palvezai xavza Spiota
ovza ^oy ov6hv ov6h <poQä,
*) <palvexai yag fxoi, et xi iaziv aXXo xaXov nX^v ävzo xb xaXor^
ov6h 6i tv aXXo xaXov elvat rj 6i6zi /lezixei ixeivov zov xaXov,
^) vgl. 511 hAol avxog 6 ?.6yog anxezai x^ xov 6iaXayeo9'ai 6vvan(L
Digitized by
Google
28
öiaXsxTix6g (Staat 534 b 8). Aasdrtleklich wird hervorgehoben,
dafs die Sophisten von diesen Ideen nichts wissen, sondern
nur Vermutungen haben {öo§d^ovOi Staat 493 a 6); natürlich:
denn ihre einzige Erkenntnisquelle war, wie wir oben sahen,
die Wahrnehmung. Sie Übersahen den Xoyia/iog, der die do'ga
6q&ij allererst „bindet'' und so aus unsicherem Besitze, der
bald kommt, bald geht, eine bleibende ijnörfjfifi macht (Men.
97 d — 98 b); sie übersahen also den Charakter der Allgemein-
heit und Notwendigkeit — dies liegt doch in fiovifiog und
öeöfiog der Menoustelle — , den die ejciöT7Jfiri hat und daher
auch für ihre Objekte verlangt, weswegen sie sich nur auf
die Ideen richten kann (Staat 478 a 6). Dafs solcher Unter-
schied aber etwas ausmache, das ist eines von den wenigen
Dingen, die „Sokrates'' mit Sicherheit behaupten will (Men.
98 b 1 — 5). Und so preist Plato das Wissen, das alles beherrscht,
das schönste Besitztum der Menschen (Prot. 352 e 3— d 3); ja
derjenige, der das Gute weifs, ist besser, als jeder andere, ist
der Gute selbst, auch wenn er sohlecht handelt — falls das
nämlich möglich ist (Hipp. min. 376 b 4); so preist er den
Wissenden, der aliein allen anderen die Stirn bieten, nie
majorisiert werden kann (Eriton 47 b 10; Lacht. 184 e 8; Krat.
437 d 3).
Die allgemeinen Begriffe — das sind doch die Ideen —
zeigten sich also notwendig zur Fundierung des Begriffs der
Erkenntnis, die nun einmal eine wirklich vorhandene övva/iig
y^vx^jg ist (Staat 477 dl — 4),*) ferner überhaupt einer bestimmten
Aussage, in der sie die identischen Prädikate abgeben. Die
„Abstraktion" wird demnach im weitesten Sinne das Verfahren
sein, jene Ideen zu bestimmen. Dafs es so etwas gibt, das hat
die einfache Beobachtung der Denkvorgänge, die mannigfach
über die blofse Wahrnehmung hinausgreifen, dargetan. Zugleich
mulste sich dabei der Charakter dieser Tätigkeit als ein
Erfassen unwandelbarer, vollständig bestimmter Gegenstände
(wie wir vorläufig sagen wollen) offenbaren. Die bisher
besprochenen Gedanken Piatos entsprechen also dem ersten
0 Sie gehört zum psychischen Erleben: Gastmahl 207 e 5 ff.: noXv 6h
Tovttov axonwtfQov eti, ozi xal «V iniaxfjfiai fitj oti al fuhv yiyvovtai ai
61 dnoXXwTai rjfjilv xal ov6inoxe ol avxoL iofisv ov6e xaxa xdg im-
axi^fxag ....
Digitized by
Google
24
der in der Einleitung genannten Gesiclit^pankte. Der Sini^
der sich dabei für die allgemeinen Begriffe ergeben bat, wird
uns im folgenden weiter beschäftigen.
3. Anwendnng des Begriff8 in den Wissenschaften.
10. Ehe wir den weiteren Erörterungen, die das Abstraktions-
problem bei Plato findet, nachgehen, wollen wir an einigen
Beispielen sehen, wie den Wissenschaften die im vorigen Ab-
schnitt wiedergegebenen Gedanken gegen die sensualistischen
Angriffe der Sophistik zugute kommen. Die Lehre mufs sieh
an ihnen praktisch fruchtbar erweisen. Am lehrreichsten ist
das Beispiel der Geometrie, * da wir hier im einzelnen die
Gründe kennen, mit denen Protagoras ihren Wissenschaflswert
abstreiten wollte (oben S. 10). Er meinte, von all den strengen
Bestimmungen, die nach Absicht der Geometer gelten sollten,
fände sich an ihren Figuren aber auch nichts bestätigt Darauf
ist nun Piatos Antwort dies (Staat 510 b 4— e; 527 a — b):
freilich mufs der Geometer Figuren haben, er mufs so sprechen,
als ob er an ihnen augenblickliche Handlungen vornehme, aber
er meint doch keineswegs dies gezeichnete Quadrat, von dem
er zu sprechen scheint, sondern er denkt an den aUgemeinen
Begriff des Quadrates, der Diagonale. Um dessentwillen stellt
er die ganze Untersuchung an; die sinnlich erfafsbaren Figuren
gebraucht er nur als das Gleichnis, um das zu schauen, was
nur das Denken, die öidpout, erblicken kann, niemals aber die
Sinne. Und das werde jeder, meint Plato, der auch nur ein
bif sehen Ahnung von dieser Wissenschaft habe, aus seiner
Praxis heraus bestätigen: eine yvöjötq will er erzielen; eine
solche richtet sich aber nicht auf das vergängliche, hier
oder dort, mehr oder weniger treu Gezeichnete, sondern auf
das immer Seiende. Mit Recht kann man also sagen, dals
jemand, der sich mit dieser Wissenschaft befafst habe, gut
vorbereitet sei, das Wesen der Idee zu begreifen: denn er
spricht dvayxalcog (527 a 6) und über das del ov (527 b 5), und
das kann er nur, weil er eben lernt, vom Sinnlichen zu abstra-
hieren, welches die wichtigste Vorbedingung fUr den Dialektiker
ist. Wieso ihn jene notwendigen „Gleichnisse" noch vom Ideal
herabziehen (510 b 4, 5), davon später.
Digitized by
Google
25
Ganz ebenso verhält es sieh bei anderen Wissenschaften.
Die Arithmetik hat eine Eins zum Gegenstande, die so nirgends
sinnlieh fafsbar ist, nämlich vollständig identisch, vollkommen
unteilbar (526 a). In der Astronomie bildet nicht die Beobachtung
des Himmels den Kern der Wissenschaft: so vollkommen die
Bewegungen der Sterne ihren Gesetzen gehorchen, so schön
nnd geordnet das Ganze ist, völlig anveränderlich ist auch der
Himmel nicht; die wahre Bewegung, die wahren Zahlen- und
Schnelligkeitsverhältnisse sind auch an ihm nicht sinnlieh
fafsbar, sie verbleiben vielmehr dem Xöyog und der öidvoia
(529 d). Zwar ist hier wiederum die sinnliche Betrachtung
nicht ttberflttssig: sie stellt uns erst die Frage, den Antrieb zur
Forschung; aber wirkliche Wissenschaft kann auch die genaueste
Wahrnehmung nicht geben (580 b 5). Sie kann das auch da
nicht, wo sie als Experiment auftritt, z. B. in der Akustik;
denn selbst dieses bleibt vom Zeugnis der Sinne abhängig
(531a). Nein, hier mufs man die gehörten Harmonien eben-
falls nur als Probleme betrachten, die die Aufgabe stellen, die
harmonischen und disharmonischen Eigenschaften der wirklichen
Zahlen zu erforschen: dann erst kommt ein Nutzen heraus für
die Erkenntnis des Guten und Schönen, d. h. der vollkommenen
Gesetzmäfsigkeit und Harmonie.
Mit grofser Schärfe ist hier das Gebiet des Denkens von
dem des Wahrnehmens geschieden, aber auch der Zusammen-
hang zwischen beiden angegeben. Klar tritt die Forderung
hervor: Wissenschaft ist nur möglich nach Abstraktion von
allem Sinnlichen. Sie ist nicht das Resultat grundloser Speku-
lation, sondern, wie auch gesagt wird, das Ergebnis der Be-
obachtung dessen, was die Geometer wirklich meinen und schon
lange gemeint haben, wenn sie von ihren Figureu, ihrem Kon-
struieren sprachen, einerlei ob sie von der tiefen, logischen
Bedeutung dieses ihres Verfahrens wnfsten oder nicht.
Aber alle diese einzelnen Wissenschaften übergeben ihre
Resultate der Dialektik, da sie weiter nichts mit ihnen
anzufangen wissen (Euthyd. 290 o). Diese ist die Zinne aller
Wissenschaft, da sie eben den Weg zu den Ideen darstellt,
sich mit ihnen beschäftigt, ihr Wesen zu ergründen sucht:
^H rovtcov JtdvTco^f mv öuXfjkvd-afier /iid-oöog 6«r (lev ijtl
T7IV dXXrjXmv xoivcovlav ä(plxijxai xai Cvyyivuav xal ovXXo-
Digitized by
Google
26
yiö&TJ ravra ^ iöriv äXXTJZoig [olxeta, ipigtiv ri avzcir sh
ä ßovXofibd-a TTjv XQayiiaxelav xaX ovx ävorrira jioviiod^ai,
d 6b (17], dvovTfta (Staat 531 c 9 f.; vgl 511 b 3 ff.).
3. Die Dialektik als logische Lehre Ton der AbstraktJon.
11. Im Grande bat die Dialektik eine doppelte Bedeatnog:
erstens ist sie eine Kunst, nämlich sich so mit jemandem sii
unterhalten, da£s etwas dabei herauskommt, im GegenBatze zur
blofsen Wortklopferei (Staat 454 a), auch wohl die gesellschaft-
liche Rücksichtnahme dabei auf die Meinung des Gegners
(Men. 75 d 4), die Kunst des Fragens und Antwortens (s. o. 17).
Sodann aber ist sie die höchste Wissenschaft, wie wir sahen.
Beides liegt nicht weit voneinander, wenn das Denken selber
in Fragen und Antworten besteht. Als Wissenschaft bedeutet
die Dialektik den Weg (jiid^oöog), die Ideen, die allgemein be-
stimmten Begriffe zu finden.
Die Methode der Begriffsbestimmung wird schon frtth be-
zeicbnet als ein {öi')6Ql^sod'ai (z. B. Lach. 194 c 8; Gorg. 475 a 3)
und es handelt sich dabei entweder darum, aus vielen ver-
schiedenen einzelnen Fällen, in denen eine gevrisse Bestimmung
auftritt, diese als das Gemeinsame klar herauszuschälen, ihr
Wesen auszudrücken, oder aber diese Bestimmung von mehreren
verwandten abzugrenzen und also zusammenzufassen, was ihr
den anderen gegenüber eigentümlich sei. Ferner wird sehr
bald nicht nur die Definition praktisch versucht, sondern auch
über die Methode selber nachgedacht. Für die zweite der
genannten Arten zu definieren, mag der Gorgias das Beispiel
liefern, indem es sich um die Frage handelt: Was ist ein
Bhetor? Es werden für ihn verschiedene Merkmale angegeben,
die sich aber immer wieder als ungenügend zur Festlegung
des Begriffes ^rjrwg erweisen, da sie auch anderen Tätigkeiten
zukommen, bis schliefslich der Kreis so eng gezogen ist, dafs
nur das Gesuchte in ihm beschlossen ist. So nacheinander
(449 e — 455 a): rexv^j jcbqI Xoyovg — öiä Xoyov xäv jteQah^voa
(d. i. ov jrQaxTixf/) — jcsid-ovg Ö7]/iiovQy6g — jtsQl dlxaia xal
äötxa — (jceid^oig) jnöTBvrixTjg (ov ÖLÖaoxaXtxf^g), Der Fort-
gang geschieht hier von weiteren zu engeren Begriffen durch
Einteilung des Umfanges, d. h. durch Zufttgung neuer Merkmale.
Digitized by
Google
27
Werden die aasgeschlosseDen Arten des zu weiten Begriffes
ebenfalls beachtet, so mufs auf diese Weise ein ganzes System
von Begriffen entstehen, nnd das Mnster eines solchen findet sich
ebenfalls im Gtorgias in der Einteilung der xix^ai (464 b — 465 e).
Dort wird immer sehr genau die Bestimmung angegeben, die
zur Bildung des niederen Begriffes hinzutreten mufs, um ihn
von den ttbrigen ihm gleichgeordneten zu unterscheiden.
Das andere Verfahren finden wir im Henon. Es gibt, wie
sich zeigt, viele verschiedene Weisen der Tüchtigkeit; nun soll
aber das angegeben werden, worin sich alle nicht unterscheiden,
ja sogar identisch sind: IV yi ti eiöog tavrbv ajtaöai ixovöiv
6C o slölv dgeral, elg o xajid5g nov J^x^t äjtoßXitpavra rbv djco-
XQtvö/isvov reo igarcrjoavTL bcsTvo öijJicSöai, 6 rvyx^'ree ovöa
agsTfl. (72 c 3 f.; vgl. 75 a 5, 8 raiköv ijcl xäöi) Hier besteht
also die Aufgabe, alle möglichen Fälle zusammenzufassen;
es werden verschiedene Bestimmungen versucht, und jedesmal
zeigt es sieh, daüs Arten der Tüchtigkeit angegeben werden
können, die durch jene Definition noch nicht ausgedrückt
werden. Diesmal gilt es demnach, die Kreise so weit zu ziehen,
dafs das Gesuchte ganz in ihnen enthalten ist. Der Ausdruck
xa9^ oXov shtBtv, der für diese Tätigkeit später bei Aristo-
teles stehend wird, kommt auch hier schon vor (77 a 6).
In beiden Verfahrungsweisen erreichen wir also den All-
gemeinbegriff, aber von entgegengesetzten Seiten aus und
demnach durch verschiedene Methoden. Praktisch freilich sind
beide nicht zu trennen: schiefst man auf dem einen Wege über
das Ziel hinaus, so mufs man auf dem anderen wieder zurück-
gehen — und das kommt sowohl im Menon als auch im Gorgias
im Laufe der GesprächsfUhrung vor. Es sind dies also die
zusammengehörenden Grundmethoden der dialektischen Wissen-
schaft, so lehrt der Phädrus: dg (ilav re löeav övvoQwvra
ayuv xä JtoXXaxV ^t^OJtüQfitva, Iva txaörov ogi^ofispog öijXov
ütoii] jtBQi ov äv dal öiödöxtiv kMX^ (265 d 3) oder einfach
ausgedrückt Sgl^eaB^ai öwarog ylyvsöd^ai (277 b 6). Dies ist
das erste; daraus ergibt sich Klarheit uud Einstimmigkeit des
Gedankens mit sich selbst (265 d 6). Und zum andern: xb jtdXiv
xax' eldfj övvaad-ai öuxxdfit'stv xax* ägd-ga fj jtitpvxev (265 e)
oder: dgiödfisvog TcdXip xat* eWf] iitxQt tov dxfifjtov xifeveiv
hlcxaöd^ai (247 b 7). Daraus ergibt sich der natürliche Zu-
Digitized by
Google
28
sammeDhang zwischen den Arten desselben Dinges nnd die
Möglichkeit des genauen Unterscheidens (266 a). Beides ist nicht
voneinander zn trennen nnd war, wie Plato auch hervorhebt,
gleich nötig, um im Vorangehenden das Wesen des Eros zu
bestimmen und die Frage nach seinem Werte beantworten zu
können. Jener Xoyiöfidq öiavolag, mittelst dessen die Jdeen
erfa£sbar sein sollten, besteht also in Definition und Gliederung.
Jene gibt in ihrer Weise wieder, was das geistige Auge
gleichsam sieht, was man eigentlich meint, wenn man einem
sinnlichen Gegenstande ein bestimmtes Prädikat beilegt , diese
gibt den Zusammenhang der Ideen unter sich als den zwischen
Gattung und Arten.
12. Damit ist jedoch das Wesen der Dialektik noch nicht
ganz erschöpft. Bei jeder Definition ist man gezwungen, von
irgend etwas Bekanntem auszugehen (Men. 75 c 4 f.; d 5—7); man
kann wenigstens ttber einen gewissen Anfang nie hinauskommen,
und dieser Anfang ist je nach den Bedürfnissen der betreffenden
Wissenschaft verschieden, ist aber in ihnen allen vorhanden
und bildet dort etwas, was notwendig ungeprüft bleiben muls.
Als Beispiel dafür ist im Staate die Arithmetik und Geometrie
herangezogen (511 c ff.). Indem man aber so eine Definition
au den Anfang „setzt^ (Phädon 93 e 8; 94 b 1), bekommt sie
etwas Hypothetisches; man setzt eben nur die brauchbarste
Definition an, und so ist der Ausspruch im Phädon verständlich:
vjtod-ifievog txdarore Xoyov, ov Sv xqIvco kQQo?(isveOTccTor
eh'ai, a fisv Sv fioi doxg tovtoj övfupcüvtTt^ rld^fii ojg dh/f^Ff
ovra . . . « d'äv fi?j, cog ovx dZr/d-fj. Zwar wird dadurch der
logische Charakter des Begriffs nicht berührt: er bleibt es,
der allem aus ihm Abgeleiteten Einstimmigkeit verleiht; gerade
diese Eigenschaft der Hypothese wird im Menon ansf&hrlich
(86eff.) auseinandergesetzt, und im Staate wird öfter darauf
verwiesen (437 a 6—9; 458 a 5; 510 d 1—3; vgl. Phädon 92 d 6).
Aber doch fehlt allen jenen Wissenschaften etwas, so dafs
Plato sagt: „sie sehen die Wahrheit nicht ganz klar, solange
sie noch auf ungeprüft bleibenden Hypothesen bauen, von denen
sie keine Rechenschaft geben können" (Staat 533 b 6 ff.). Wieder-
holt wird eingeschärft, man müsse bis zum allerersten Anfang
zurückgehen (Krat. 436 d 4; Phädon 107 b 4; Staat 610 b ff.), und
da eben diese Aufgabe die Dialektik erfüllt, ist sie die Krönung
Digitized by
Google
29
des Baues der Wissenschaften: sie soll sich mit dem obersten
Sein, dem dvaneQco xmv vjtod-aöscov, dem äwjtö&ezov befassen,
indem sie eben jene „Hypothesen" zu „Sprungbrettern" macht,
„um bis zum Anfang des Alls zu gelangen" (Staat 511 b 6).
So scheint aber die Dialektik, die eben nur die Form, die
Methode des wissenschaftlichen Denkens war, plötzlich eine Auf-
gabe bekommen zu haben, die sie zur Metaphysik stempeln
würde. Aus der Abstraktionsmethode wäre eine Wissenschaft
von den höchsten Abstraktionen geworden.
Sieht man jedoch genauer zu, so ist das nicht der Fall;
jene höchste Wissenschaft, die gefordert wird, hat nie den
Namen öiaXexvixjj, aufser an der einen Stelle Staat 534 e 3,
und diese ist als Schluffi der eindringenden Erörterung über
die Methoden der Wissenschaften nicht mifszuverstehen. Es
heilst vielmehr durchweg, die Dialektik sei der Weg^ die
Methode zum höchsten Ziel, das Mittel der l3tL6x'^fir)\ nach
wie vor ist sie die Kunst des Abstrahierens (Staat 533 a 7;
532 a 6; 511 b 4); sie ist parallel zum hellsten Sinne des Körpers
das Sehen des Geistes, seine Art, die ihm eigentümlichen Gegen-
stände zu erfassen; dies ist aber nur möglich: ävsv Jtaöc5p rSv
alö^öscov, also durch Abstraktion (Staat 532 a). Soweit also
eine Wissenschaft diesen Weg beschreitet, ist sie Dialektik,
soweit es ihr also gelingt, vom Sinnlichen, Individuellen sich
loszumachen. Kur liegt es eigentlich im ganzen Wesen dieser
Methode, die ein vollkommenes Bestimmen, ein lückenloses
Rechenschaftgeben verlangt, nirgends Halt zu machen: denn
damit gibt man sogleich ihr Wesen auf So kommt es, dafs
die Vertreter der Einzelwissenschaften nicht Dialektiker sein
können, dafs dieser Name vielmehr der einen Wissenschaft
vorbehalten bleibt, die die Forderung der Methode wirklich
durchführt, ja dafs diese höchste sjtiöri^fiTj selber einmal Dialektik
genannt werden kann, da in diesem ihren Verfahren zugleich
ihr eigentümliches Wesen getroffen ist. Genau genommen aber
ist sie die Wissenschaft vom Gnten, darüber läfst Plato keinen
Zweifel (532 b 1). Die letzte Bestimmung, bei der allererst die
Dialektik sich zufrieden geben darf, kann aber nur die oberste
Voraussetzung sein, auf der sie gelber beruht, die sie deshalb
nicht untersuchen kann. Und welches ist diese? Das ist
nicht schwer zu sagen : es ist die Möglichkeit alles endgültigen
Digitized by
Google
so
Definierenfl, Bestimmens, die Existenz von Unwandelbarkeit und
vollendeter Gesetzmäfsigkeit: avrdqSvöfiog, (Staat 532 a 1; d 6).
Wenn dennoch Plato die höchste Idee das Gute nennt, so mfissen
wir TO dyad-ov verstehen als avzdg 6 v6f/og, als rd dsl xara
ravtä (DöavToq ex^iv, als die Gesetzmäfsigkeit der Vernunft*)
Nur so können wir verstehen, wieso die Idee des Gnten allen
anderen erst ihr Wesen geben, sie erfafsbar machen boII, wie
das Licht die Welt sichtbar mache: sie macht eben die Ideen
definierbar und damit zu eindeutig bestimmten Objekten des
Denkens, der -/tmöLq, Als Voraussetzung aber des definier-
baren Seins ist sie über dieses selber erhaben: Ixixsiva rfjg
ovolag (Staat 509 b 9).
Fassen wir das Resultat dieses 'Abschnittes zusammen, so
ergibt sich: die Dialektik ist die Kunst des Definierens, und
somit des Abstrahierens vom Sinnlichen. Die damit zu ver-
einigende Tätigkeit des Einteilens zeigt die verschiedenen
Stufen der Abstraktionen an. Völlig rein ttbt diese Methode
nur die ijtiöTTJfiTj, die Wissenschaft der Prinzipien, die
somit bis zur Voraussetzung aller Abstraktionsmöglichkeit ge-
langen muls.
13. Wenn wir von einer Kunst des Definierens sprachen,
so sollte damit nicht gesagt sein: praktische Fertigkeit; viel-
mehr ist bisher erst die eine der im Eingang dieses Abschnittes
bezeichneten Seiten der Dialektik dargestellt; nach dieser
bringt sie das logisch zum Ausdruck, was aus dem frtther fest-
gestellten Wesen der Begriffe für deren gesetzmäfsige Be-
stimmung und ihren Zusammenhang untereinander gefolgert
werden mufs. Die praktischen Anweisungen, die die Dialektik
auf der anderen Seite als Kunst der Gesprächsftthrung ver-
mittelt, haben demgegenttber keine eigentlich logische Be-
deutung und werden auch später nicht mehr als Dialektik be-
zeichnet, so dafs deren Gegensatz zur Eristik mehr und mehr
zurücktritt. Jene Anweisungen enthalten das, was bei der
0 DalB das Gate im Gesetzmifoigen bestehen sollte, lehrt schon der
Gorgias 506 d 5 : ^ ye agstfj hxaotov xal axevov^ xcd aw/iazo^ xcü yfvzf,Q
ov xal ^<6ov navTo^, ov T<f dxj xaXktaxa naQayfyvszai, dXXa taSei xat
0(f&6xrjti xcd r^X^t V'^'Q hxdorqf Siöozai aixwv — raffi aQa xexayfiiror
xal xexoofjirifjiivov iaxlv rj aQexij kxaoxov; — x6o/4oq aQa iyyeyo/jietH}^ . .
dyaO'Ov na^ixsi kxaoxov xwv ovxtov.
Digitized by
Google
31
praktischen Verwirkliehnng der logischen Forderungen beachtet
werden mufs, weisen also insbesondere auf die Fehlerquellen
hin und können daher der Psychologie nicht entraten. Da die
Gesprächspersonen der Dialoge die mannigfachsten Irrttimer
begehen, so bilden die Dialoge schon in ihrer äufseren Führung,
namentlich die frttheren, eine solche logische „Eunstlehre".
Aufserdem wird aber öfter die Art des Fehlers eingehend be-
schrieben, so die zu grofse Weite des Begriffs Gorg. 453 c, dessen
zu grofse Enge im Menon am Beispiel des cx^fia (74 b f.); mehr-
mals wird gewarnt vor der Verwechslung von Begriffs- und
Wertbestimmung (Gorg. 448 e 6 f.; 468 c 3; Men. 71 b; Staat 354 b);
Bohliefslich kommt noch der Fehler der Diallele zur Sprache
(Menon 79c). Bemerkt sei noch, dafs gerade für diese Seite
der Dialektik der Name sich gehalten hat, z. B. bei Aristoteles,
der in seiner Topik diese rein praktischen Anweisungen sehr
bereichert hat Sie gehören, wie gesagt, nur indirekt zur
Logik, und daher wollen wir auch im folgenden nicht wieder
auf sie zurückkommen.
4. Die Lehre von der Wiedererlnnernng als psychologische
Theorie der Abstraktion.
14. Hatte sich in der Fähigkeit des Menschen, begrifflich
zu erkennen, eine ganz" einzigartige Gabe entpuppt, und stand
anderseits fest, dafs dazu von aller Sinnlichkeit grundsätzlich
abgesehen werden mufste, so erhob sich wie von selbst die
Frage: woher kommen dann aber die Begriffe? Es galt also,
eine psychologische Erklärung für die Genesis des Begriffes
oder vielmehr der Begriffsvorstellung zu geben. Piatos Ant-
wort auf diese Frage drücken wir am besten mit einer Stelle
des Fhädrus aus (249b6— c4):
öel yäg ävO-QWJtov öwiivai xor' elöoq Xeyöfievov, ix JtoXXdiv
Ibv alod^CBwv etg tv XoycOfjKp övvaigovfisvov ' xovxo Ö*Ioxlv
dvdfivrjöig Ixbiv(ov a jror' elö^v r/ficov ?) ipvx^ övfutogsvO^eTca
d-B<p xäl ijtEQidovöa ä vvv slval tpafisv xal dvaxvtpaöa slg
ro ov ovTcag.
Hier wird zuerst der logische Charakter der Begriffs-
bestimmung als einer Abstraktion, ein Fortschreiten aus der
Digitized by
Google
32
Menge des Sinnlichen zur Einheit des Denkens schön beschrieben,
und dann wird die psychologische Erklärung einfach mit „dies
ist'^ angeschlossen. Sie sucht die Idee als eine Erinnerung
hinzustellen an das, was die Seele früher einmal ohne die
Sinne geschaut hat. Wie Plato zu dieser Lehre kam, zeigt
der Phädon (74 f.). Einerseits war z. B. die Idee des Gleichen
in keinem sinnlichen Individuum vollständig verkörpert; wir
besitzen sie nun aber vollkommen; also kann sie aus keiner
Wahrnehmung jemals abgeleitet werden. Anderseits aber
würden wir nie auf den Begriff der Gleichheit verfallen, wenn
wir nicht gleiche Dinge wahrgenommen hätten. Diese streben
darnach, gleich zu sein und wenn sie es nicht erreichen, so
sind sie doch der Gleichheit an sich ähnlich; so können sie
als Grundlage einer Assoziation fungieren. Also psychologisch
betrachtet kommt die Vorstellung des Begriffs weder aus noch
ohne Wahrnehmung, sondern bei Gelegenheit individueller
Vorstellungen. Wenn dieser Vorgang als Erinnerung charakteri-
siert und ein ursprüngliches Schauen der Ideen vor dem leib-
lichen Leben daraus gefolgert wird, so ist das eben Theorie,
die aber nur erklären soll, wie hier auf Erden die Idee unserer
menschlichen Seele zum Bewufstsein kommt Im Henon rettet
die Anamnesis die Möglichkeit, nach Dingen zu forschen, die
man nicht kennt, und die auch durch die Wahrnehmung des
Einzelnen nicht gegeben werden (81 — 86). Wie aber die Idee
überhaupt vom Denken erfafst werde und wie sie damals bei
lener ursprünglichen Schau erfafst wurde, darüber kann die
Wiedererinnerung nichts lehren. Auf keinen Fall aber kann
man sagen, Plato habe diese seine psychologische Theorie
irgendwo mit den logischen Ausführungen vermischt; denn das,
was wir mit der Idee meinen und die Art, wie sie uns zu
BewuTstsein kommt, ist durchaus voneinander verschieden.
Im Phädon könnte es noch am ehesten so scheinen, als sei
beides nicht reinlich geschieden, weil hier in dem eben wieder-
gegebenen Zusammenhange die Dialektik unnötig zu sein scheint,
da nur von Wiedererinnerung, nicht aber von Abstraktion und
Definition die Rede ist Aber dafür geschieht der Anamnesis
später, als das logische Wesen der Ideen charakterisiert wird,
gar keine Erwähnung (99 d f.), was doch sehr auffallen mufs;
dort heilst es vielmehr: arxi^ ?) ovola f)q Xoyov ölöofiep xov
Digitized by
Google
88
elvai xal kgcorcavtsQ xal djtoxQtv6(iBvoiA) Ferner aber kommt
in all den Erörternogen des Staates jene psychologische Theorie
der Wahrnehmung gar nicht vor. Dagegen erscheint sie ganz
naturgemäfs wieder im Phädros, wo es sich ebenfalls am die
Schicksale der Seele mehr als nm logische Dinge handelt.
Aber gerade hier werden ja, wie wir sahen, logischer Sinn
und psychologische Erklärung der Abstraktion direkt neben-
einander gesetzt Plato kann aber mit jenem xoiko d^eöriv
nicht haben sagen wollen, daCs Definieren und Sicheriunern
dasselbe wären, sondern man mnfs etwa ttbersetzen: „das
bedeutet psychologisch gesprochen eine Wiedererinnerung . . /^
Für die Dialektik ist die Lehre von der Anamnesis jedenfalls
völlig bedeutungslos, wichtig dagegen als Ansatzpunkt, an dem
die orphischen Unsterbliehkeitsgedanken an die Ideenlehre
angeknüpft werden konnten.
Für uns bleiben an der ganzen Lehre das Wichtigste die
beiden Beobachtungen, die sie veranlafst haben, dafs nämlich
einmal immer ein sinnliches Individuum gegeben sein müsse,
welches dem Begriffe ähnlich ist, und dafs es femer in diesem
Leben niemals gelingt, ganz jene Beimischung der Sinnlichkeit
loszuwerden (Phädon 68 a 7 f; 66 b 3; 68 d 3 f) ''), wenn wir den
Begriff nun wirklich rein abstrakt vorzustellen uns bemühen.
Diese beiden Tatsachen müssen immer als Ausgangspunkt einer
psychologischen Theorie der Abstraktion angesehen werden.
Den logischen Charakter der Idee, das sei nochmals betont,
beeinflussen sie bei Plato in keiner Weise.
5. Die Existenzart der Ideen.
15. Eine letzte Frage wäre noch zu erledigen, nämlich
die nach der Existenzart der Ideen, der allgemeinen Begriffe,
und ihrem Verhältnis zur Erkenntnis. Auch dies Problem hat
Plato wohl gesehen, und seine Lösung kann nicht zweifelhaft
1) 78 dl, vgl. 75 d 3. Wenn wir also dies als UmsohreibaDg der
Dialektik fassen, so ist auf diese auch im eisten Teile schon hingewiesen
und ist es die yolle Absicht des Philosophen, dafs sie dort noch keine
BoUe spielen soll.
») e2— 4 xcd Tore if^iv ^arai ov iniS'Vfiovfiiv te xal ^afxev igaaral
Bivai, <pQOvriCB<oq, ineiöav reXevti^aaffieVf liq b koyog arjfxalvsi, ^(Satv S'oi,
Philosophische Abhandluniren. XXXXIV. 3
Digitized by
Google
84
eeiD. Der Schlnfs des fünften BneheB des Staates ist der
Untersnohnng unserer yersehiedenen Erkenntnis „kräfte* ge-
widmet Es werden drei Arten des Seins genannt: ro ottck
Sp, t6 iiri 6v nnd ro ftera^v rov ovrog xal lifj wnoQ, und
genau parallel werden auf der Seite des Erkennens ihnen bei-
gegeben : die yvmöiqy die ayvota und die 66^a. Es wird nämlich
zuerst festgestellt, dafs yvcSatg und ö6§a verschieden seien^
dafs sie aber beide als Kräfte gelten müTsten. Solche können
sieh nun allein durch ihre Wirkungen, also die Objekte, auf
die sie sich richten, unterscheiden, und so wird dann geschlossen,
daüs YV(oöcg und öö^a auf ein anderes Sein gehen mtLbten.
(477 c — 478 b). Plato mufs also, um die Verschiedenheit der
Gegenstände zu beweisen, auf die Yerschiedenartigkeit des
Denkyorgangs zurttckgehen, der sie erfafst, offenbar doch, weil
die Gegenstände selber nicht unmittelbar verglichen werden
können. Niemals aber wird auch nur angedeutet, dafs des-
wegen die Objekte abhängig seien vom erkennenden Subjekt,
oder gar, dafs eigentlich nichts da sei als dessen psycho-
logisches Erlebnis. Nein, die Gegenstände, sowohl die Ideen,
als anch die äufsere Welt, existieren unabhängig von der sie
erfassenden Kraft unserer Seele. Wird doch auch an jener
Stelle des Staates erst die Verschiedenheit des begrifflichen
und sinnlichen Seins auseinandergesetzt und dann erst der
Beweis davon durch die Ungleichartigkeit von ixianfftri nnd
d6§a angetreten (476 a — d). Ganz besonders aber jene ewigen,
immer sich gleichbleibenden Ideen mufsten unabhängig sein
von dem psychologischen Akte, der sich ihrer bemächtigt:
sonst wären sie nicht mehr ewig. Denn Plato setzt, bei aller
Erhabenheit, die nach seiner Lehre der ixiarfffirj wegen ihres
Inhalts zukommt, doch klar ai)seinander, dafs jene nicht anders
wie ö6§a, ijtid^vfila, tj&og als psychologisches Erlebnis ver-
gänglich sei: sie kann verschwinden, kann vergessen werden
(Gastm. 207 e— 208 a). Wir sehen also: auch diese Überlegung
der Verschiedenheit des logischen Wesens der Idee von dem
psychologischen des ihr korrespondierenden Seelenvermögens
mufste zur Annahme eines eigenen, unabhängigen „Reiches''
der Ideen führen, nicht nur die Theorie der Anamnesis nnd
eine dadurch vielleicht entstandene Verquiokung mit psycho-
logischer Betrachtung, wie man es gewöhnlieh darstellt Daher
Digitized by
Google
35
kommt der Ansdrnek rö^tog vot/tög aueh im Staate vor, der
doch yon jener Lehre nichts enthält Aber er ist ganz offen-
bar ttberall, wo er auftritt, nnr ein Bild, das durch eine gewisse
Analogie von Sinnlichem und Begrifflichem Piatos erkenntnis-
theoretische Qedanken erläutern soll. Im Staate ist er hervor-
gerufen durch das Gleichnis zwischen der Sonne und der Idee
des Guten, im Phädrus durch die Wanderung der Seele: wie
sollte er ohne eine Analogie zum sinnlichen Baume auskdhim^?
(Vgl. Staat 507 ff. bes. 508 c 1.) Dals der Ausdruck tojcog
nicht ernst gemeint ist, auch nicht vjtsgovQavcog rdjtog, das
kann eine Stelle des Gastmahls mit voller Deutlichkeit zeigen;
es heilst dort: die Idee des Schönen sei unabhängig von jeder
Beziehung (211a 8 — 4), auch der des Wann? und Wo?, sie sei
überhaupt nicht irgendwo, selbst nicht im Himmel, i) Auüser-
dem berichtet Aristoteles, Plato^) habe die Seele den rojtog
döwv genannt Da ist also an eine wörtliche Auslegung gar
nicht zu denken. Ist aber alles Bäumlich-Zeitliche von der
Idee ausgeschlossen, so damit auch alles Individuelle; und wie
sollte sie auch nur irgendwie ein Individuum sein können, wo
sie doch ihre Existenz sozusagen der Entdeckung verdankte,
dafs es noch eine andere Art des Seins gebe, als die des
Sinnliehen, Einzelnen. Im Timäus werden wir erfahren, dafs
gerade der Baum es ist, der das Wesen sinnlicher Gegenstände
ausmacht
Man sagt, Plato habe den Fehler begangen, die allgemeinen
Begriffe in den Ideen metaphysisch zu hypostasieren; man
kann damit doch nur meinen, was Aristoteles schon den Ideen
vorgeworfen hat: es werde ihnen eine irgendwie individuelle
Existenz zugeschrieben {ägid^iim tv Met. B 6, 1002 b 30, töv yaQ
xa&^ txactov fj löia, cog ^aöl, xal x<^Q^<^'^^ Z 15, 1040 a 8).
Diese sei aber doch nicht sinnlich fafsbar, sondern lediglich
durch eine entsprechende unmittelbare, sinnenfreie Anschauung.
Wer aber so spricht, kann sich doch nur auf die genannten
bildlichen Ausführungen, und zwar auf ihre rein wörtliche
Auslegung berufen. Wo immer Plato ohne Gleichnis spricht,
*) a5f.: oi)<r al tpavxao^aBxai xh xaXov olov ngoaionov xl . . ovdl
aXXo ovölv &V OQ/(jia fxevixei . . ovSi nov ov iv ixi^qt xivi olov iv l^wg}
1^ iy yS V ^^ ovQavip ^ Iv xtp aXX(p
*) de anlmft 429 & 27. Plato ist freilich nicht aosdrücklich genannt
8*
Digitized by
Google
86
da ist es das Definieren, dnrch das wir Ideen gewinnen, die
dcaXexTiXTJ also; sie wird nnr verglichen mit dem agäv des
Auges, als das ögäv des Geistes. Das einzige, was von dem
Bilde ernst genommen sein will, ist offenbar dies, dals die
Objekte der imör7Jf4ri von dieser genau so unabhängig sind^
wie die Objekte des Wahrnehmens von diesem selber. Dab
aber dieses unabhängig „für sich ''-Sein nur nach Art des
io^iyiduellen behauptet werden könne, das ist etwas, was man
in die platonischen Ausführungen hineindeutet uod bei ihm
nicht belegen kann.
Wie in diesem Lande der Ideen nun als dessen Sonne die
Idee des Outen allen anderen ihr Wesen gibt, das haben wir
schon gesehen. Wohl kann man also nach Plato einen Menschen
denken, der die Ideen nicht kennt — und solche Leute sind
ja die Sophisten — , auch kann man sie wieder vergessen;
aber nie kann der Verstand sie anders erfassen, sie verändert
finden; in diesem Sinne sind sie im höchsten Mafse unabhängig
und „für sich.''
Freilich das Verhältnis dieser Ideen zum Sinntiehen ist
nirgends weiter behandelt Plato hebt nur immer wieder
hervor, dafs beides verschieden sei, und begnügt sieh ina
übrigen mit Bildern, deren Undeutlichkeit schon Aristoteles
beklagt. Das Einzelding soll an der Idee „teilhaben", soll
nach ihr „ hinstreben ", diese soll sein „Vorbild" sein. Aber
eben diesen Mangel fühlte der Philosoph selber, und der
Versuch, ihm abzuhelfen, ist es gerade, der die zweite Periode
seiner Philosophie charakterisiert. Ehe wir jedoch zu dieser
übergehen, fassen wir kurz die Ergebnisse der ersten Periode
zusammen.
Bekapitalation.
16. Die Beobachtung des menschlichen Geistes, insbesondere
die Tatsache der Sachkunde und des Wissens, fbhrt darauf,
dafs es nicht allein das durch die Sinne vermittelte Sein gebe,
sondern daneben ein allgemeines, das in all jenem Einzelnen
wiederkehrt und sich stets identisch bleibt Vor allem die
Mathematik, Astronomie, Akustik können als Wissenschaften
gar nicht ohne jene Begriffe als möglieh erklärt werden.
Digitized by
Google
87
Logisch genommen ist jene Allgemeinheit nnd absolute Identität
nnr durch den Inhalt einer Definition zu erreichen; die logische
Funktion des Einteilens zeigt die Stufen der so gewonnenen
Abstraktionen auf, die vom ärfifjroi^ bis zum jtQcarov äwjtoß-erov
reichen mttssen. Psychologisch mufs stets ein sinnlich gegebenes,
dem ähnliches Einzelding vorhanden sein, bei dessen Erfassung
auch der Begriff sich einstellt; ferner kann dieser wenigstens
während dieses Lebens sich niemals ganz von jenem ablösen.
Dies Verhältnis von Begriff und sinnlicher Anschauung wird
als ein assoziatives, als Wiedererinnerung aufgefafst. Erkenntnis-
theoretisch mufs zwar der Beweis der Verschiedenheit des
abstrakten und individuellen Gegenstandes durch die Ver-
schiedenartigkeit der entsprechenden Erkenntniskraft geführt
werden; dennoch aber kommt beiden, besonders aber dem
Begriffe, ein vom Erkennen als psychologischem Akte unab-
hängiges Sein zu. Das der Ideen ist charakterisiert als ewig
unabänderlich, absolut, „fttr sich^.
B. Zweite Periode der platonisohen Philosophie.
1. Die veränderte Problemlage.
17. Es wäre verkehrt, von einer Änderung der Ideenlehre
zu reden; denn eine solche ist nicht nachweisbar. Einmal
müfste Aristoteles darum wissen, der doch in seiner ziemlich
ausgebreiteten Polemik niemals etwas Derartiges auch nur an-
deutet,^) und dann lesen wir auch in Piatos späteren Schriften,
im Timäus (27 dff.) und Philebus (58 a ff.), die Gegenüberstellung
von Sinnlichem und Ideellem genau so, wie wir es gewohnt
sind, ohne dafs an dieser Schroffheit die dazwischenliegenden
Dialoge etwas geändert hätten. Das wäre doch sehr merk-
würdig, wenn diese Schriften (Theät., Parmen., Soph.) wirklich,
wie man neuerdings^) behauptet hat, eine Selbstkritik Piatos
darstellen, die jene QegenUbersetzung zu mildern suche. Aber
allerdings sehen wir Plato von nun ab in vieler Hinsicht über
0 Abgesehen von der Umdeutuog der Ideen in Zahlen, die wir hier
beiseite lassen, da wir uns aaf Piatos Schriften beschränken wollen.
<) Vgl. Räder a. a. 0. (S. 15 A. 2) S. 281, 290/1, 305, 328 ff.; Literatar
S. 328 A. 2; ferner Windelband-BonhOffer, Gesch. d. antiken Philos. *16i, 168.
Digitized by
Google
88
seine früheren Ansichten hinaufgehen; nene Fragen werden
behandelt, and weil damit die Ideenlehre sieh von einem
anderen Hintergründe abhebt, macht sie einen fremderen Ein-
druck. Die Problemlage in der philosophischen Disknssion
hatte sich geändert, and dies war hauptsächlich auf Piatos
eigene Wirksamkeit, anf den Erfolg seiner Schriften zarllek-
zufuhren. Spät lernte, als Greis, sogar Antisthenes noch yon
ihm (Soph. 251 b, c): Die Ideen hatten sich Freunde erworben
und hatten auch auf die Lehren der Gegner ihren Einflofs
nicht verfehlt. Aber man hatte Plato nicht yerstanden, alles
zu grob aufgefafst; er mufs sich gegen die Benutzung seiner
eigenen Gedanken ebenso wehren, wie frtther gegen die Sophisten.
Charakteristisch ist es, dals er die neu entstandenen Auf-
fassungen auf den Geist der eleatischen Philosophie, auf das
unbewegliche Sein des Parmenides zurtlckfbhrt. Dieses wird
ausführlich erörtert, und eben diese Untersuchung, diese Kritik
des Eleatismus, ist etwas Neues, was vom Theätet ab sofort
auffällt. Es kommt hier wenig darauf an, die Vertreter der
bekämpften Richtungen festzustellen. Immerhin hat Plato zwei
verschiedene Ansichten deutlich genug auseinandergehalten:
Die eine war nach dem Urteil der Interpreten die des Antisthenes;
sie war die radikalere; denn sie machte jede Aussage unmöglich,
da .nach ihr die Begriffe soweit voneinander und von den Dingen
unterschieden waren, dafs man ihnen lediglich ihren eigenen
Namen beilegen dürfe (Soph. 251 b, c; 252 c; vgl. Aristoteles
Met. 129, 1024 b 81 f.; Theät. 201 e f.), sonst aber weder das „Sein""
noch irgend etwas anderes. Die andere hatten die „Freunde
der Ideen^ (Soph. 248 a 4) aufgestellt, und ihre Darstellung be-
wegt sich allerdings in den Ausdrücken, die Plato frtther für
seine Ideenlehre verwendet hatte, die er aber auch im Timäus
(28 a 2) noch festhält: sie lehrten nämlich, ein wirkliches Sein
käme nur den unsichtbaren, ewig gleichbleibenden Ideen zu,
während sie sich um die stets werdende Eörperwelt wenig
kümmerten (Soph. 246 b c; 248 a 10 ff.; 252 a, b). Schwerlieh
aber hat Plato hiermit seine eigenen Dialoge, Staat und Phädms,
zu treffen gemeint; sonst könnte er nicht kurz darauf (Soph. 253 b)
allen jenen Philosophen gegenüber so nachdrücklich auf die
Wissenschaft der Dialektik verweisen, die für alle ihre Irr-
tümer das Heilmittel darstelle: dieselbe Dialektik, die doch
Digitized by
Google
89
gerade in jenen Dialogen den höchsten Platz einnehmen sollte.
Nein, hier eben hatten jene Ideenfreonde die Ausführungen
Piatos nieht ganz verstanden, und hier konnte also, ganz auf
dem Boden der alten Lehre, die Kritik einsetzen. Welchen
Bttckscblag diese auf die von uns behandelten Fragen aus-
geübt hat, das gilt es nunmehr festzustellen.
Von den Schriften, die in dieser Zeit erschienen sind, be-
schäftigt sich die erste, der Theätet, nur mit Antisthenes. Im
ersten Teile (bis 187 a) wird gezeigt, dafs dessen Polemik gegen
die Sophisten nicht genüge, diese ans dem Felde zu schlagen,
und bei der Gelegenheit finden wir eine letzte, sehr scharfe
und vertiefte Widerlegung des Sensualismus, wie sie nach
Flato selber zu führen sei. Insofern zeitigt der Dialog einen
positiven Ertrag, der hauptsächlich S. 184—187 steht. Dann
aber werden die positiven Aufstellungen des Antisthenes be-
handelt und die in ihnen steckenden Widersprüche aufgedeckt.
Ihre Lösung jedoch konnte Plato noch nicht geben, weil er,
wie er ausdrücklich sagt (183 e f.), die Lehre des Parmenides
in einer besonderen Schrift untersuchen will; auf diese sind
aber, wie wir im Sophistes erfahren, Antisthenes' Irrtümer
zurückzuführen, und so mufste der Theätet anscheinend resultatlos
sehliefsen.^) Der Parmenides war aber schon in Angriff ge-
nommen, als der Theätet erschien; auf die dortige Situation
spielt Theät 183 e 5 an, und auch die so verwickelte Ein-
kleidung jenes Dialogs mufs dem Schriftsteller schon unbequem
geworden sein, wie die Einleitung zum Theätet beweist. Der
Sophistes gibt sieh schon änfserlich als Fortsetzung des Theätet,
und damit wollte Plato offenbar andeuten, dafs nunmehr die
dort offen gelassenen Fragen ihre Erledigung finden sollten. In
der Tat wird ja das Problem der öo^a tpsvÖTJg zu Ende ge-
führt. Dieser Dialog geb($rt also ebenfalls mit dem Theätet
zeitlich und sachlich aufs engste zusammen. Die übrigen
Schriften (Politikus, Philebus, Timäus) reihen sich ohne Schwierig-
keit an; am wichtigsten ist für uns der Timäus, da in ihm die
Polemik fast ganz zurücktritt und einer zusammenhängenden
Darstellung des platonischen Systems Platz macht
0 Auf die Partie 201—210, die vor allen anderen eine Selbstkritik
darstellen soll, kommen wir noch zurück (S. 44).
Digitized by
Google
40
Wir wollen nun die BehandluDg, die die versehiedenen
Seiten des Abstraktionsproblems in dieser späteren Zeit finden,
prttfen. Dabei wird sich zeigen, dafs die Grandlinien überall
dieselben geblieben sind, dafs aber in den Erörterangen insofern
eine Vertiefung eingetreten ist, als jetzt das Urteil schärfer
als das eigentliche Feld des Denkens in den Vordergrand tritt;
und diese Wandlung wird fllr jeden der aufgestellten Gesichts-
punkte von Bedeutung.
2. Wahrnehmnng und Urteil; SbteiQoy und nigag*
18. Die Behauptung des Protagoras, es gebe keine Er-
kenntnisquelle aufser der Sinnlichkeit und alles Wissen er-
schöpfe sich mit der Wahrnehmung, finden wir mit den uns
bekannten Gründen abgewiesen; einmal nämlich, so zeigt Plato,
hebt sie alle objektive Wahrheit und damit sich selber auf
(Theät. 170 e — 171 c), und zum andern macht sie alles Urteilen,
alle Erkenntnis unmöglich, da kein Wort, das man anwendete,
seinen identischen Sinn behielte (183 a — c). Und wieder wird,
zum Beweise, dafs nicht alles durch die Wahrnehmung erklärt
sei, auf die Mathematik hingewiesen. Diese zwingt, einen
anderen Weg einzuschlagen (163 a 4 — 5), da es fttr Protagoras
weder Beweis noch Notwendigkeit geben kann (162 e 4 — 5)/)
Ferner führt die Existenz der Sachkunde, die ein Wissen um
die Zukunft darstellt, auf denselben Weg (178 b — 179 b).')
Endlich wird ausdrücklich zugegeben, dafisProtagorasim Gebiete
des rein Sinnlichen durchaus Recht behält (171 e 1—3).*) Aber
nun wird der Hauptnachdruck nicht auf die Verschiedenheit
der Gegenstände, der sinnlich erfafsbaren und der von der
Mathematik geforderten, gelegt, sondern auf die der Vorgänge,
durch die sie uns zugänglich werden. Die sinnliche Wahr-
nehmung auf der einen Seite ist ein Ergebnis, zu dessen Zu-
*) dnoSsiSiv ih xal dvayxrjv ov6* ^vrivovv Xiyete, dXka x^ tlxou
XQ^o&s c^ bI id^iXoi ßeoSwQog ^ akXog riq rwv yeioiABXQwv x^iabi^
yecjfiSTQHv, a^tot; ovS^ av ivog fjcovov av ety,
>) al vofioS-saiai xal to citpeXifiov nsQl xh fiiXXov icxiv 179 a 5.
•) ^fislg vTtEyQatpafisv ßorjB^ovvxeg ÜQWxayoQa, wq xd fihv noXXa
i Soxet, xavxy xal foxiv kxdox(p, d^egfid, SvQ^f yXvxia, ndvxa oaa xov
xvnov xovxov ' si 6i nov ....
Digitized by
Google
41
standekommen sowobl Subjekt wie Objekt mitwirken; von
beiden also ist es abhängig (156 e — 157 c; 182 a f.), nnd somit
ist alles Wahrgenommene relativ. Diese Theorie der Wahr-
nehmung wird überzengnngsvoU entwickelt, ja sogar bei der
Widerlegang des Sensaalismns voransgesetzt (182 a f.). Immer
wieder wird jedoch eingeschärft, dafs durch das Zusammen-
wirken von gesehenem Gegenstand und sehendem Auge nicht
die Xsvx&vrjg z. B. entspringe (also kein Begriff), sondern immer
nur ein bestimmter individueller Fall des Weiüsen (156 d 8 ff., M
besonders 182 a 6 f.), eine ^lyrofievi] xal q>eQOfiivi] jLsvxortjg
(159 e). Wenn man das festhält, kann Plato für das also ab-
gesonderte rein Sinnliche die These des Protagoras zugeben.
Nur darf die XsvxoTtjg selber nicht in den Strudel des Werdens
hineingezogen werden, da die Möglichkeit des Aussagens
{jcQoöayogex'eiv) an deren steter Identität hängt (182 d). Auf
der anderen Seite wird nicht, wie früher, sogleich auf den
Begriff, die Idee losgesteuert, als den Retter in der Kot, der
den Schlüssel zu objektiver Wahrheit abgebe, sondern auf die
innerseelische Funktion, die zu der sinnlichen hinzukommen
müsse, nämlich das Urteilen (184—187).^ Zu den durch die
Sinnesorgane vermittelten Empfindungen tut die Seele etwas
aus sich heraus hinzu: sie urteilt (6o§d^erac 187 a 7 — ^8) und
bringt in dieser Tätigkeit die Begriffe des Seins, des Nicht-
seins, der Indentität, der Verschiedenheit, der Zahl usw. an
die Empfindungskomplexe heran. Diese eigene Arbeit, die ohne
irgend welches Organ vor sich geht, wird charakterisiert als
T« xoivä jtegl jtdvrcov kjciöxojtelv (185 d,e), als CvfißdXXovöa
jcQog äXXr/Xa xqIvbiv jtecgäö&^ai (186 b 7). Damit ist aber die
Abstraktionstätigkeit deutlich genug bezeichnet. Während bei
0 tb d^ avyysw^aav ro XQ^(^ Xtvxoxi^xoq itBQisnXija^ij xal iyivtro
ov XevxoTijq av dXka Xevxov, dxs ^vXov sixe XLd^oq elxt oxfpovv avveßrj
X(»7A(a XQ^^^^^^*- ^^ xoiovx(p X9<'t/^cixi (e 4 f.).
*) Ich werde im folgenden die Ansicht entwickeln, dals das Problem
des Urteils vom Theätet an Plato vor allem beschäftigt habe. Den
wesentlichsten Beweis dafür sehe ich darin, dafs nnter dieser Voraus-
Betznng sich alle Differenzen gegenüber der früheren Darstellung der Ideen-
lehre leicht begreifen lassen: dies werde ich also za zeigen haben (vgl. die
Rekapitolation). Zur vorläufigen Orientierung diene Anhang 1. — Wie-
viel ich übrigens für die Interpretation dieser Dialoge dem genannten
Buche von Paul Natorp verdanke, Uegt auf der Hand.
Digitized by VjOOQ IC
^ I
42
den Empfindungen von Wahrheit (und natürlich auch Fabeh-
hoit) nicht geredet werden kann^^) steckt in diesem avlloyicfio;
alles Wissen, da dies mit dem ,,Sein^, welches jene Beorteiluog
ausspricht, zusammenhängt (186 e 4 — 7). Dals auch alle anderen
Begriffe, z. B. die XsvxotijQj die, wie früher gezeigt wurde;
nicht durchs Auge geschaut wird, unter Mitwirkung dieser
Urteilsbegriffe zustande kommen, das wird im Theätet nicht
ausdrücklich gesagt, da die polemische Absicht des Dialogs
dies nicht verlangte. Klar ausgesprochen jedoch ist dieser
Gedanke im Parmenides. In diesem Dialoge werden zum ersten
Male die durch die Empfindung vermittelten Gegenstände als
äjtsiQOP bezeichnet, die begriffliche Bestimmtheit demgegenüber
als jctgag; in diesem Sinne sollen sich tv und äXXa gegenttber-
stehen, wobei das letzte auch wohl ro irsQov genannt wird
(164 b 8). Der Urteilszusammenhang tritt als fiEttxstv auf, wie
er ja schon im Phädon bezeichnet wurde. Es wird nun ge-
zeigt, dals ein solcher stattfinden kann sowohl zwischen den
Begriffen (142 e — 155 e), als auch zwischen Begriff and Sinn-
lichem (157 b— 159 b), wobei das jtigag die äutugla verdrängt
(158 d 3). In diesen Fällen findet die Urteilsfunktion in eigent-
lichem und strengem Sinne statt: sie braucht ja, wie wir sahen,
ein eindeutig bestimmtes Prädikat, ohne welches sie unmöglich
wird (Theätet 183 a — c), und das ist in den genannten Fällen
der Begriff. Aber auch ein nrteilsähnlicher Zusammenhang im
rein Sinnlichen ist möglich, nur dals dann die Urteilsbegriffe
Sein, Nichtsein, Identität, Zahl usw. nicht in eigentlichem Sinne
angewendet, sondern gewissermaJsen nur nachgeahmt werden
(164 b— 165 d). Sieht man nämlich von allem Begrifflichen
ab, so bleiben nur Empfindungskomplexe {pyxoi „Haufen^) —
eben das aneigov — übrig. Trifft man zwischen solchen eine
urteilsmälsige Bestimmung, so mufs sie sich bei näherem Zu-
sehen stets als ungenau herausstellen. Daher kann man nur
sagen: sie „erschienen^ als Einheit, als identisch, als Vielheit usw.
Auch Werden und Bewegung ist eine Bestimmtheit, die ihnen
zuzukommen nur scheint (165 d 6 — 7). Diese fpavxaola, dies
0 186d: iv fikv aga xolq na^fjiaaiv ovx Ivx imax^ixti, iv 6l r^
negi ixelviov avXXoyioßqi * ovaiaq yaQ xal d^ffMag ivtav^a fihv wq louts
övvatbv atpand-ai, ixeZ 6h Aövvaxov,
Digitized by
Google
„g>alvsTai^ wird geradezu als eine Mischang von Empfindang
und Urteil bezeichnet (Soph. 264 b 1—2).*)
Hier haben wir nun wieder den alten Gegensatz: auf der
einen Seite das ytigag, volle begriffliehe Bestimmtheit, auf der
Seite der Wahrnehmung dagegen alle Unbestimmtheit Dals
nämlich mit dem IV des Parmenides die Idee gemeiot sei, daran
kann man nicht zweifeln, wenn man nur nicht jtoXXd und rdXXa
verwechselt: jtoXXd ist selbstverständlich auch auf die Seite
des Begrifflichen zu setzen, während rdXXa gleich dxstQla ist.
Man vergleiche aulserdem S. 129; dort wird als Beispiel für
das £/do$ aufgeführt: o(ioiov und dvonotov^ ferner bald darauf
hv und jtoXXd. An diesen allen nimmt das „Andere^ teil.
Auch im Fhilebus (15 a, b) werden die Ausdrücke %v und elöoq
als gleichbedeutend gebraucht, während sinnlich Individuelles
als ytyv6(iBva und äjteiQa auftritt (15 b 5). Plato selbst warnt
vor einer Verwechselung von jcoXXd und ansiga nachdrücklich
als einer der wichtigsten Quellen alles Irrtums (Phil. 17 a).
Der Gegensatz von Abstraktem und Individuellem, der im
Philebus durch die Termini äjteiQov und jtiQag bezeichnet wird,
tritt dann im Timäus, aber auch schon im letzten Teile des
Philebns, wieder in den alten Ausdrücken auf — nur die Be-
zeichnung rdXXa oder d-dxBQov ist geblieben (z. B.Tim. 35 a 5, b 3).
Der Zusammenhang zwischen beiden, der im Parmenides 157 b bis
159 b behandelt war, wird im Philebus und Timäus als iiBl^tg
bezeichnet. Wir werden über seine Natur noch zu handeln
haben. Plato hatte ihn niemals geleugnet, denn das (isxix'^iv
des Phädon setzte ihn ebenfalls schon voraus. Aber eine falsche
Auffassung der Ideenlehre hatte ihn wieder in Frage gestellt,
und daher geht Plato jetzt mehr als früher auf ihn ein. In
der logischen Charakterisierung der beiden Gegensätze hat sich
nichts geändert; auch hat das Begriffliche sein Übergewicht
durchaus behalten. Wie selbstverständlich sind die Ausdrücke
xigaq — cbtBiQov von seiner Seite aus gewählt.
3. Weiterbildung der Lehre von der Dialektik.
19. Fragen wir wieder nach den Mitteln und Wegen, die
dem Geiste zu Gebote stehen, um die Begriffe zu erfassen, so
*) „^aivexai** dh, o IfyofiBv, ovfi/xBtit^ ala^aeof^ xal do|i7$.
/Google
Digitized by ^
44
fällt auch hier die Antwort zunächst nicht andere ans, als
früher. Es ist die öiaXBTtxtxtj. Die beiden verschiedenen
Wege der Begriffsbestimmung, Definition und Einteilung werden
in grofser Reinheit beschritten und untereucht. Beispiele des
Zusammennehmens vieler Gegenstände unter einen Begriff
liefert der Theätet (147 d— 148 b) oder Philebus (27 f^ bes.
24 e 7 f ), Beispiele der anderen Methode die „ Einteilungen*^
des Sophistes und Politikus. Einen Augenblick könnte man
vielleicht daran zweifeln, dafs die Kunst des Definierens
wirklich ihre alte überragende Stellung noch innehabe. Diese
sollte, da allein sie befähigte, von allem Rechenschaft abzulegen,
die ijtiöTfjfii] begründen, die dann auch wohl als oqB^ 66sa
fjsrä Xoyov charakterisiert ward. Und eben diese Bestimmung
der ijtiöTfjfiT] wird im Theätet angegriffen, ohne dafs sie
scheinbar das Feld behaupten könnte. Ich würde dies gar
nicht erwähnen, wenn man nicht wirklich geglaubt hätte, in
jener Partie des Theätet (201—210) eine Selbstkritik Piatos
vor sich zu haben. Aber wenn irgendwo, so ist es doch in diesem
Falle deutlich, daüis er eine fremde Lehre bekämpft, die nur
seiner inzwischen berühmt gewordenen Terminologie sich
bediente. Ein dreifacher Sinn soll nämlich mit jenem fiera
Xoyov sich verbinden können: 1. die Fassung der Gedanken in
Worte (206 d), 2. die Aufzählung der Teile eines Dinges
(206 e), 8. die Angabe des Unterschiedes von den anderen
Dingen (208 c 5). Alle drei Bedeutungen sind unplatoniseh;
namentlich die letzte Forderung würde ja nicht zum Allgemein-
begriff führen, sondern zum undefinierbaren Individuum, wie
auch klar gesagt wird (209 b, c). Dagegen wird bei Bekämpfung
der mittleren Auffassung auf die richtige echtplatonische Be-
deutung des (lerä Xoyov ausdrücklich hingewiesen: nämlich die
Aufzählung der Merkmale des Begriffes, nicht der Teile des
Dinges (207 a 5—7) 0. Diese Auslegung wird natürlich nicht
bekämpft; denn mit einer solchen Lehre hätte sich Antisthenes
vollkommen auf Platonischen Boden gestellt; überhaupt brauchte
darauf nicht eingegangen werden, da es sich im Theätet lediglich
um eine Analyse der Ansichten des Antisthenes handelt
*) a iyo) ovx av Svvaifitjv einelv olfiat 6h ov6h av ' aAA' dycat^fier
av i^wrij^ivreg ort iaxlv a^a^a^ ü exoifiev elneZv tqoxoL, vne^f^ic,
&vTvyei, ^vyov.
Digitized by
Google
4$
Bedentend sehwieriger ist die AuseinandersetznDg mit den
Ideenfrennden. So nahe sie aber, namentlich in der Termino-
logie, der platonischen Lehre gekommen sein mochten: ein
Unterschied trennte sie von jener doch dentiich genng, nnd
das war die Lehre von der Dialektik. So mnis Plato das
Verhältnis anfgefafst haben; denn sonst könnte er nicht als
Ausweg ans allen Schwierigkeiten, welche der Lehre jener
Philosophen entgegenstehen, schliefslich die Dialektik preisen,
die hier genau so charakterisiert wird wie im Phädrus (Soph.
253 d), als ein öiaigetöB-ai xarä yivi] nnd wiederum filav löiav
6ta jtoXXcov öuxverafiivTiv öiatcB'dvBCd-ai. Dasselbe Spiel wieder-
holt sieh im Parmenides; gegen eine Ideenlehre, die von jener
Dialektik nichts weif s, werden schwerwiegende Angriffe gerichtet,
die sich als durchaus siegreich herausstellen, und znm Schlnfs
wird wieder auf die Dialektik hingewiesen, die es nicht zulasse,
iene Ideen ganz und gar abzuweisen (135 b— d). Das soll doch
heifsen, dafs der Sinn der echten Ideenlehre durch die Dialektik
bestimmt werden müsse, und so hätten wir wieder den Unter-
schied der beiden verwandten Lehren. Zugleich aber sehen
wir, wie sehr der Gegner, gegen den Plato streitet, sein Antlitz
geändert hat; denn wenn auch Antisthenes, wie sich zeigte,
von der wahren Definition nichts wufste, so konnten doch jene
Ideenfreunde dieser Methode, also der einen Seite wenigstens,
der Dialektik kaum entraten, um. zu den Ideen zu gelangen.
So ist es ganz natürlich, dafs Plato nunmehr den Hauptnach-
drnck auf deren andere Seite legte und von nun ab, während
früher das Aufsuchen der fila löia die Hauptrolle spielte, diese
vielmehr der öialgecig zuweist: das konnte er mit um so grOfserem
Bechte, als diese ja auch früher schon jenen Zusammenhang
der Ideen untereinander zum Ausdruck bringen sollte, den die
neuen Ideenfreunde leugneten. Ja, so weit geht Plato, dafs
er die Leute, die nur das Zusammenfassen in Allgemeinbegriffe
verstehen und üben, mit demselben Ausdrucke abweist, mit
dem er früher diejenigen abgetan hatte, die aller Dialektik
bar waren: er bezeichnet nämlich ihr Verfahren als ein iQiorixcjg
jiGisTod-ai tovq Xöyovq, und nur eine Verbindung beider Methoden
als öiaXexTix(5g jioutod-at tovq Xoyovq (Phil. 17 a 4).
20. In einer Hinsicht jedoch erscheint die Dialektik in
einem völlig neuen Lichte: sie soll jetzt auch die „Sachkunde^
Digitized by
Google
46
von der richtigen Mischnng der Ideen selber sein (Sopb.
253 b— d).0 Wie reimt sich das mit den bisher betrachteten
Bestimmungen? Nur eine Folge davon ist es, wenn es heilst,
die Dialektik mtlsse anch die Begriffe anfisnohen, die diese
Mischnng und eventuell Trennung mOglieh machten (253 el — 3).")
Zum Verständnis dieses Gedankens mtlssen wir uns erinnern,
dafs mit der Möglichkeit jener Mischung die Möglichkeit des
Urteils stehen und fallen soll (Soph. 259 e 4 — 6)') : Dieses besteht
ja in einer Mischung der Ideen, und fllr deren Richtigkeit oder
Falschheit soll also die Dialektik den Prüfstein abgeben. Und
wieder ist hier vorzugsweise an die Methode des Einteilens zu
denken. Weifs ich z. B., dafs alles Seiende einzuteilen ist in
Bewegtes und Stillstehendes, so ist das Seiende mit Bewegung
und Buhe mischbar, Bewegung jedoch mit Buhe nieht Voraus-
gesetzt ist dabei, dafs das Prädikat zum Subjekt im Verhältnis
von Gh&ttung und Art stehe, welches eben durch das Einteilen
gefunden wird. Und die Begriffe, welche Mischung wie Trennung
ermöglichen, damit sind darnach jene Urteilsbegriffe gemeint,
die vom Theätet an so hervortreten: Sein, Nichtsein, Identität,
Verschiedenheit, Zahl usw. Ei sind die Arten auszusagen, die
Weisen, in denen die Seele spricht, d. h. denkt Deshalb heifst
es völlig korrekt an einer schon im Altertum angezweifelten
und korrigierten Stelle des Timäus (37 a 6): Uyu (sciL f^ ^^-jafi)
xivovfiivfj öiä jtdöTjg kavr^^ oxco r* av ri xavtbv y xal arov
av irsQov, ^tgög ort re (idXiöra xal oxy xal ojtog xal oxon
avfißalvei . . ixaöra elvai xal xäöxBiv, Diese Begriffe wurden
später von Aristoteles unter dem Namen xavfiyoQlai über-
nommen.^) Vielleicht stammt aber auch der Name schon yod
*) 'Eneidij xal ra yiinj n^b^ a^Xa xaxa xavxk fteiSBrng ^fir
a fiokoy^xafieVf clq' ov fiet imarijßr]^ rivbq avayxalov 6ia XiBv X6y»r
noQevea^at rov oq&wq /xikXovza delSBiv nola noloiq avfiipnvcl rcvr
yBvdiv xal nola akXtiXa ov öixBzai; .
*) xal ÖTj xal 6iä navxcDv sl avvixoiT' avxa avr' iazi, w<ne avfi*
fidywa^ai dvvara elvai, xal ndXiv iv ralq Siaigiaeaiv, il Si oXmr ?rf(«
r^C ÖiaiQiaemq afria; — nwq yag ovx ^untifiiiq Sei, xal axMv ye
tawq r^C f^yi<ftfl^,' — (II): tb xata yivTj öiaigetcd^i ....
') reXeiwiarri navxiov Xoywv ^axlv d^äviaiq vo ÖiaXveiv Hxacror
ano navTwv • 6ik yag trjv aXXijXcav xciv üöfov avfjmXoxijv o Xoyo^
yiyovsv rifilv,
0 Tgl. A. Gercke, Arch. f. Gesch. d. PhUos. IV, 424 f.
Digitized by
Google
47
Plato, wie man ans jenem XiyzL sehliefsen kann. Es ist somit
klar, dafs die nenen Seiten, die der Dialektik abgewonnen
werden, ihre Charakteristik als Wissenschaft von der rechten
Mischung der Ideen nnd ihre Anfgabe, die Urteilsbegriffe, die
Vokale gleichsam des Denkens^), zn finden, miteinander nnd
mit der Hervorhebung des öiaiQStod^ai xarä yevT] eng zusammen-
hängen. Sie beruhen auf einer schärferen Fassung des Urteils
als desjenigen, was zur rein sinnlichen Wahrnehmung hinzu-
kommt, als der eigentlichen Funktion des Denkens; eben dies
ist ja das Neue, was die zweite Periode der platonischen Ent-
wicklung bringt. Es ist eine Weiterentwicklung im alten
Sinne unter dem Eindruck einer neuen gegnerischen Philosophie,
die Beine Gedanken so gewendet hatte, dafs die Möglichkeit
des Urteils doch wieder gefährdet wurde.
21. Im übrigen behält die Dialektik durchaus ihre oberste
Stellung als die höchste IjactruiTj (Soph. 253o4,5); sie krönt
den Bau der Wissenschaften (Phil. 57 e 6). Am nächsten stehen
ihr aQid'/jiijTixi], fiSTQTjTix^, aratixrj (Phil. 55 e). Nur soweit
ihre Methode reicht, soweit reicht wahre Wissenschaft; was
ttbrig bleibt, ist das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung, der
i/ijteiQla (55 e 6). Damit treten sich aber deutlich Deduktion
und Induktion gegenüber. Die Dialektik als das Vermögen
{övrafitg 57 e 7), Gattungen und Arten aufzufinden, ist zwar
nicht selber Beweis, wie Aristoteles in seinen Analytiken öfter
betont; aber sie ist doch die wesentliche Voraussetzung der
Deduktion, da diese nur eine, wie immer modifizierte Beziehung
herstellt zwischen dem, was von der Gattung gilt, zu dem,
was von der Art gilt. Und wenn auch Plato dies Verhältnis
von Dialektik und Deduktion nirgends klar herausschält, so
ist er doch in dieser Zeit, da er auf die ötalQeöcg ein so
grofses Gewicht legt, einer Theorie des Beweises näher als
früher. Praktisch wird ja das Einteilen im Sophistes und
Politikus auffallend geübt, und zwar sollen für die Art die
Eigenschaften der Gattung gefolgert werden; so soll der Sophist
durch die Stellung unter den Begriffen, die Reihe, in die er
hineingehört, diskreditiert werden. Wir müssen darauf noch
etwas eingehen, weil Aristoteles mehrmals darauf zu sprechen
0 Dies schöne Bild braucht Plato selbst Soph. 253 a-c.
Digitized by VjOOQ IC
48
kommt; er bekämpft eiire Lehre, die die EintdluDg ram Beweise
der Definition zn stempeln sich bemühe (An. pr. I cap. 31; AnaL
poBt II cap. 5). Die aas dem Politikus 9 entnommenen Beispiele
lassen keinen Zweifel, dals er Plato meint Demgegenfiber
müssen wir feststellen, dafs Plato überall beide Seiten der
Dialektik, Definition und Einteilung, gleichwertig und selbständig
nebeneinandersetzt Nie wird davon gesprochen, dafs eine
Definition überhaupt oder gar durch die Einteilung bewiesen
werden solle; aber es wird gefordert, dafs die blolse Definition
durch das Verfahren der Einteilung ergänzt «und fruchtbar
gemacht werde. Allerdings soll diese die Deduktion ennög-
liehen, und insofern stellt sie den Ersatz und die Vorbereitung
dessen dar, was Aristoteles später in seinen Analytiken ent-
wickelt hat Beide Methoden haben gleich hohen logiseheo
Wert, beide beschäftigen sich ja als Dialektik mit dem dtt
xatä tä avrä (DOammq exovra (Phil. 59 c 4). Man kann dem-
nach nicht sagen, dafs nach Plato die deduktive Methode
alles gelte; im Gegenteil: am Anfang steht die von ihr
unabhängige Begriffsbestimmung, diese ist natürlich auch nichts
Induktives: dagegen hätte Plato wohl den schärfsten Protest
erhoben. Sie ist und bleibt vielmehr die dem Geiste eigen-
tümliche Art zu schauen (nicht zu schiielsen). Wie die Seele
mittelst der Sinne mit der realen Welt in Berührung kommt
so kommt sie es auch mit den Ideen durch die Definition
(e^djczerat Tim. 37 a 6); oder es heifst, sie „trifft" auf beides
{jceQiTvxcoöcv Tim. 44 a 2). Wieso dies möglich sei, das fest-
zustellen ist Sache der psychologischen Untersuchung und
berührt den logischen Charakter weder des einen noch des
anderen.
4« Die metaphysischen Beziehungen zwischen Idee,
Individuum und Erkenntnis.
22. Am stärksten mufste die schon mehrfach erwähnte
Weiterbildung der Gedanken die erkenntnistheoretische Seite
des Abstraktionsproblems treffen. Wir stellten schon am Ehide
des entsprechenden Abschnittes der ersten Periode fest, dafs
1) Gemeint ist S. 264 f., eine Stelle, auf die Aristoteles sehr liäofig
znrlickkommt, nunentlich auch Metaph. Z12 und negi g^a»v fjio^wy A 2,3.
Digitized by
Google
4d
in der Darlegung des Yerhältniflses von Ding nnd Idee eine
Lücke anzutreffen sei. Ansdrücklieli wird daranf im Parmenides
der Finger gelegt, ebenso Soph. 248 b, PhiL 14 e 7 f. Jener Zn-
gammenhang mafs aber vor allen Dingen geklärt werden, nnd
zwar meint Plato, sich zwischen die Spiritnalisten, die nur das
Beich der Ideen wollen gelten lassen, nnd die Sensnalisten,
die nur die wahrgenommene Welt kennen wollen, mitten inne-
Btellen zn müssen (SopL 246 c 2). Beide Gegner nämlich werden
der Eigentümlichkeit des Urteils nicht gerecht; den Fehler der
Sophisten haben wir schon näher besprochen; aber auch ihre
Gc^er, die Ideenfrennde, können das Urteil nicht erklären, da
sie die Ideen als vollständig für sich seiend, ohne die Möglichkeit,
miteinander „vermischt^ zn werden, annehmen (Soph. 259 d 9 f.).
Schon dadurch, dals sie überhaupt von jemandem erkannt werden,
verändern sich die Ideen und treten aus dem Zustande des
vollkommen Absoluten heraus (Soph. 248 d 4 f.). Die Mischbar-
keit ist daher die Bedingung für das Zustandekommen aller
Erkenntnis (Soph. 260 b 1—2). Um diese Verhältnisse zum Aus-
druck zu bringen, lehrt Plato, es gebe zwei Arten des Seins,
das absolute und das auf etwas anderes bezogene (Soph. 255 c
12 — 13), 0 nämlich dasjenige, was jene Ideenfreunde ihren
Ideen beilegten, und das, welches im Urteil gemeint sei. Dies
letzte bedeutet eigentlich nicht „sein^, sondern „teilhaben^:
die Bewegung z. B. kann identisch sein, d. h. im Urteil mit
dem Begriff der Identität verbunden werden; sie kann aber
nicht Identität selber sein (Soph. 256 a 10 f.). Und ebenso sagt
das Nichtsein nicht ein absolutes Fehlen von Sein aus — so
etwas ist unmöglich, da die Aussage, die das feststellte, selber
schon ein Sein herstellen wtürde — , sondern es soll nur aus-
drücken, dafs zwei Dinge nicht im Urteil verbunden, sondern
nur getrennt werden können: „Das ,Sein' und das ,Andere'
lanfen über alles und übereinander hin^ (Soph. 259 a 5), das
heilst: alle Verbindung im Urteil setzt irgendwie eine Ver-
schiedenheit voraus und alle Trennung ein Verbundensein.
Genau dieser selbe Unterschied von zwei Arten des Seins
and auch des Nichtseins kommt zum Ausdruck in der ersten
*) kXX^ olfjial ÜB avyx<»Qeiv xmv ovxiov xa ixlv avxa xad^ avta, xa Sh
PbUoiopliiache AbhaiuUiuigoa. XXXXI7 4
Digitized by
Google
50
und zweiten bezw. fttnften und sechsten vjtod-ecig des Parmenide&
Auch dort wird gezeigt, dafs, wenn das Sein ein absolates sein
soll, ein Urteilen, Erkennen, überhaupt Denken unmöglich ge-
macht werde, vielmehr völlig zerrinne und unfalsbar werde
(142 a, für das Nichtsein 164 a 7 f.), da£s aber alle Urteils-
verhältnisse logisch möglich werden, sobald man das Sein als
jenes bezogene, urteilsmäfsige auffällst (155 d, vgl. 163 d. Hier
beim Nichtsein ist der Beweis abgekürzt, nicht f&r alle
Kategorien durchgefllhrt).^
Erkenntnistheoretisch sind diese Gedanken von allerhöchster
Wichtigkeit; wie nämlich die Dinge der äuTseren Welt uns
nicht selber gegenwärtig sind, sondern durch die Beschaffen-
heit des wahrnehmenden Sinnesorganes in ihrem Erscheinen
mit beeinflufst werden, genau so können auch die Begriffe, die
Ideen, nicht als selbständige Dinge in die Seele hineingelangen,
sondern sie werden bei der Auffassung abhängig von dem
Organ des Denkens, dem Urteil, d. h. sie werden „vermischbar"
und müssen sich den Urteilsbegriffen anbequemen. Aber —
und nun kommt das Entscheidende — wie Plato niemals die
Existenz der in den Erscheinungen gar nicht rein wieder-
gegebenen Aufsenwelt geleugnet hat, so führte ihn die Einsicht,
dafs die Begriffe für uns doch nur als Bestandteile des Urteils,
also als Begriffsvorstellungen fafsbar sind, ebenfalls nicht zur
Leugnung einer selbständigen Welt der Begriffe, die ganz so
charakterisiert werden, wie früher (vgl. §15). Ausdrücklieh
wird ja rä avrä xaB^ avrä ovza als eine Art des Seins auch
im Sophisten anerkannt (255 b 12). Unter diesen Voraus-
setzungen allein können wir auch den Timäus verstehen, auf
den wir nun noch eingehen müssen.
Ehe der Demiurgos, der vovg (39 e 7), ans Werk geht,
findet er fertig vor zwei Welten, die der alcd-rjCiq und die
^&t yorjci^ (27d5f.). Diese existieren also unabhängig von
ihm; was er aus ihnen macht, erst das ist lediglich sein Werk.
Nun stellt er eine Mischung her, aber diese kann demnach
^) Sehr Bch($n kommt der Unterschied Pann. 158 zur Geltung (5 f.):
vvv 61 ivl fihv elvat nkijv avx^ t<p iii iöivaxov nov, Metix^iv 6e yc
xov hvoq ivayxfi xtp xb oX<p xal Xip fjtoQlt^. Ovxovv ^xe^a ovxa xov hro^
(ibH^bi xa fiixi^ovxa avxov; xa Öh üxsQa xov ivog noXXa nav iv cfiy.
Digitized by
Google
51
nicht wirklich so existiereD, Bondern bleibt sein Geschöpf; sie
wird daher ohne weiteres später ignoriert, als wieder das
selbständig vom vovg Existierende aufgezählt wird (49 a 1
tqIzov 6h xote iilv ov 6i6iX6fia&-a). Da die Seele nun die-
selben Bestandteile enthält, wie jene beiden Welten, so kann
sie mit ihnen in Verbindung treten (37 a), offenbar nach dem
uralten Grundsätze, dafs Gleiches nur von Gleichem erkannt
werde (z. B. Aristoteles de auima 409 b 26 ff). Wie reagiert
die Seele bei dieser „Berührung^? Sie spricht, sie sagt nach
ganz bestimmten Formen Beziehungen aus sowohl zwischen
Gegenständen beider Welten unter sich, als auch zwischen
solchen der einen und solchen der anderen; solche Beziehungen
oder Mischungen existieren also objektiv nicht; sie werden
vielmehr erst in der Seele, also vom vovgy der ja immer etwas
Innerseelisches ist (30 b 3), spontan hergestellt. Etwas ganz
besonders Originelles ist dabei die Yerkntlpfung von alaß^ov
und vofiTov, und deshalb wohl soll die Seele nicht einfach eine
Mischung von ideellem und sinnlichem Stoffe sein, sondern ge-
mischt sein aus Begrifflichem, Körperlichem und einer Mischung
beider. Man darf aber nicht vergessen, dafs die Seele, wenn
sie auf ein dfiiQiörov stöfst, dies auch in Beziehung setzen
kann zu einem anderen xarä xavxbv dsl sxov und ebenso die
ovcla cxsdaCTijg zu einem anderen yiyvofiBvov. Wenn jene
Mischung dreimal ovöla genannt wird (35 a 3, b 3, 37 a 3), so
ist damit dasselbe gemeint, wie mit dem ovza ngbq aXXa des
Sophistes, der yivsöig slg ovalav des Philebus, das „Sein^ des
Urteils, die Kopula. Hat ein Begriff zu diesem Urteil die An-
regung gegeben, so entwickelt sich daraus vovg und ijtiorijfiri
(37 c), alles Sinnliche kann höchstens zu öc^ai dXed-slg führen
(37 b) — alles ganz wie im Staate. Nur kommt es jetzt
deutlich zum Ausdruck, dals die Verschiedenheit des be-
grifflichen und sinnlichen Seins nur aus der Verschiedenheit
der durch sie bewirkten Zustände in die Seele, der imötfjfif]
und der do^a dXe^q, bewiesen werden könne, erst durch diese
ttberhaupt zu bemerken sei (Tim. 51 d 3 f.). Diese Beweis-
ftthrung ist fllr Piatos Meinung überaus lehrreich. Das Wissen
unterscheidet sich von der Meinung dadurch, dafs es beweisbar
und unumstöfslich ist, während jene auf Überredung beruht
und daher sich umstimmen lälst. Daraus wird dann die Ver-
Digitized by
Google
52
schiedenheit auch ihrer Gegenstände abgeleitet and zun letzten
Male ansfUhrlieh beschrieben (52 a).
Blicken wir von hier ans znrttck anf den Philebns, so stofsen
wir dort anf ganz ähnliche Festsetzungen. Es gibt zwei Arten
von Gegenständen (53d8f.). Das avzd ocaO' airo and das
YiyvofiBPov ixelvav ivBxa^ oder in der Terminologie des ersten
Teils: jtiQag nnd äjteiQov. Zwischen beiden kann eine Mischung
hergestellt werden, und zwar besorgt das der vovg als Ursaehe
(31a 7), der sich wieder ansdrOcklich stets innerhalb einer
Seele befindet (30 o 9). Demnach werden nicht die beiden
Welten direkt gemischt, sondern nur die Korrelate, die sie in
der Seele erzengen. Halten wir dies fest, so lOsen sich anch die
Angriffe, die im Parmenides gegen eine Ideenlehre geriehtel
werden, die Begriffe nnd Dinge der Sinneswahrnehmnng an sich
betrachtet, ohne Bfleksicht also darauf, dafs beides erst als
Erkenntnis in die Seele eingehen mnis. Diese Unterscheidang
bringt die Lösnng der ganzen Aporien. Sucht man nämlieh
die „Mischung'* als ein Verhältnis zwischen Dingen begreiflieh
zu machen, sei es unter dem Bilde des Tages und des Netzes,
die sich über verschiedene Dinge ausbreiten können, oder deoD
des Teiles zum Ganzen, oder dem des Vorbildes zum Naeh-
bilde, immer wird das Band, wenn man genauer zusieht, vdUig
unfalsbar. Der Einwand vom „dritten Menschen'' setzt aulser-
dem voraus, dafs die Begriffe sogar Individuen seien. ^ Besonders
klar geht der Irrtum, den Plato bekämpft, hervor aus der Be-
handlung des von Sokrates vorgebrachten Gedankens: Die Idee
sei immer nur etwas rein Gedankliches {votjfia 132 b 3 f). Auch
hier wird sofort zu etwas hinter diesem steckenden Absoluten
fortgegangen, und wie an einem solchen das „Andere" teil-
haben kOnne, wie es in ihm enthalten sein könne, ohne dafs
nun auch das Andere wirklich aus Gedanken bestehe, das mofs
allerdings mystisch bleiben. Nein, nicht die Annahme dieses
Seins, des absoluten, hat praktischen Wert fttr die Begründung
der ijtiöTTJfiTj, sondern nur deejenigen, wie es das Urteil ent-
hält; „vermischbar'' ist allein die begrifflich abstrakte Vor-
stellung mit der sinnlich individuellen, llberhaupt nur eine
') Diese Annahme macht Aristoteles, der diesen Einwand öfter gegen
Plato benatzt, ausdrUoklich. Wir haben sie oben S. 35 auch fttr die erste
Periode zorttokgewiesen.
Digitized by
Google
53
YorBtelluDg mit einer anderen, und dies eben ist das Urteil.
Weiter naeh dem Sinne dieser Misehnng zn fragen, hat keinen
Sinn, da sind wir am Ende unserer eigenen Erkenntniskraft
(die eben das Urteil bildet), so lesen wir im Philebas, wo ganz
dentlieh auf die Aporien des Parmenides noch einmal hin-
geynesen wird (15 a). Dals wir diese Beziehungen setzen, ist
ein unvergängliches Jtd&^oq der Xoyoi; man muls die Ver-
knüpfung, die das Urteil bietet, eben als Tatsache hin-
nehmen (15d6f.).
So wird die Lttcke, die wir am Schlüsse des 15. Abschnittes
fesstellten, also ausgefüllt Wir erfahren, dafs jene Teilhabe,
jene Beziehung zwischen Idee und Ding, nichts anderes sei, als
die Urteilsbeziehung, die auch zwischen den Ideen selber
angenommen werden müsse und dort genau dieselben Probleme
biete. Mehr läfst sieh jedoch nicht sagen, weil wir hier an
den Grenzen unseres eigenen Denkens stehen.
23. Noch ein letzter Sehritt verdient hier Erwähnung. Die
Welt der Ideen war von jeher ausreichend charakterisiert.
Während aber bisher die Körperwelt sich mit den dazu ent-
gegengesetzten Prädikaten begnügen mufste, wird im Timäus
versucht, das anzugeben, was nun eigentlich an aller sinnlich-
individuellen Existenz das Eigentümliche sei. Und da findet
Flato, es sei dies der Saum; die sinnliehen Gegenstände sind
ein „Spröfsling'' aus diesem von der Idee oder nach dem Vor-
bilde der Idee. (Dies ist natürlich etwas ganz anderes, als
früher die „Mischung^; denn hier wird ausdrücklich ein drittes
vom vovg unabhängiges Prinzip eingeführt im Reiche der
dvdyxfi 47 e 3 f., 48 e f.) Daher heilst es wohl auch, die Dinge
der Sinnenwelt strebten danach, so zu seien, wie die Ideen.
Was sie dar^si hindert, ist eben das Bäumliche an ihnen, und
dieses ako ist der Definition unzugänglich. Natürlich soll
damit der Wahrnehmung nichts von ihrer Ursprünglichkeit ge-
nommen werden: in ihr werden die Dinge bereits als jener
Sprölsling erfalst, und zudem ist der Baum selber ja gar nicht
sinnlich falsbar (52 b 2). Es mulste dies erwähnt werden, weil
aus solcher Analyse der wahrgenommenen Welt auch auf die
Ideen ein Licht fällt: sie tragen niemals jenes Bäumliche an
sich. Allerdings steckt in der Idee z. B. eines Würfels auch
der Begriff der dreifachen Ausgedehntheit; aber das macht sie
Digitized by
Google
54
nicht zum Individnum, nimmt ihr nicht ihre Eigenart sh
Abstraktum, sondern dazu mnfs sie erst irgendwohin in diesen
Himmelsranm verlegt werden, was ja wirklich mit Hilfe von
begrifflichen Bestimmungen vollständig unmöglich ist Dies»
Unterschied des Begriffes der Ausdehnung von dem Räume
unserer Sinnlichkeit liegt in der neueingeiUhrten x^Q^ ^^
zweiten Teiles und dem oüt^ des ersten als einer „Kategorie^
(37 bl). — Ähnlich steht es mit der Zeit. Im Parmenides
bereits war ausgeführt, dafs ohne sie das Urteilen nicht mOglich
sei (155 e 4 f.); im Timäus wird sie in demselben Zusammen-
hange eingeführt, nämlich gleich nach der Beschreibung des
Urteils (38 c 6). Sie gehört mit zu dem, was erst der vovc in
der Welt- oder Einzelseele hervorbringt, also weder zu Be-
griffen noch zu sinnlichen Gegenständen an sich. Und nun der
Unterschied: als reine Kategorie bjtitB ist sie eine von den
Urteils^beziehungen*^, die den Zusammenhang der Begriffe er-
möglicht, welcher ja nie absolut sein kann und häufig dem-
selben Subjekt kontradiktorisch entgegensetzte Prädikate zu-
weist — da ist also die Beziehung des öjt&tB unbedingt nötig;
durch die Anwendung dagegen auf sinnliche Gegenstände wird
aus dieser Kategorie der bestimmte xQovoq, der aber nur so-
lauge bestehen kann, als der Himmel, d. h. eine Weltseele
besteht (38 b 6). Zeit ist also an eine irgendwie gesetzm&faige
Bewegung, an ein gesetzmäfsiges Werden gebunden, und daher
gab es vor der Tätigkeit des Demiurgen noch keine Zeit,
obwohl es ein (ungeordnetes) Werden gab. Die Begriffe sind
jedenfalls ebenso frei von der Zeit, wie vom Baume. Nur
wird die Zeit später im zweiten Teile nicht zu einem selb-
ständigen Prinzip, das vor der Weltschöpfung vorhanden ge-
wesen wäre und wie der Saum die sinnlich erfafsbare Welt
konstituieren hülfe; sie spielt eine untergeordnetere RoUe als
jener^ nämlich eine rein subjektiv - psychologische, i)
Mit diesen Gedanken, die die sinnlichen Dinge auf Raum
und Idee hervorgegangen sein lassen, sind wir also in einen
1) NatUrlioh hat Plato bei dem Berichte über die Soböpfang der Welt-
Beele die menschliche Seele vor Augen, deren Funktionen, besondezB das
Denken, er erklären wollte; das beweist der Ansdrack fAsliiq, der ja seit
dem Sophistes ein Terminus für das urteil ist; das beweist dieUnterscheidnng
von imatijfitj und SoSa dXfj^ (37 b c), die für die Weltseele keinen Sinn hat
Digitized by
Google
55
ganz neuen Zusammenhang eingetreten, in dem vom Urteil, von
der Funktion der Seele oder des vovg als einem „Mischen^,
tibergegangen wird zu den rein objektiven Beziehungen zwischen
Idee und Ding. Ist nun aber nicht damit doch eine nähere
Angabe ttber das Verhältnis beider zueinander gemacht? In
gewissem Sinne: jal Nur darf man nicht jenes Teilhaben der
Dinge an der Idee, wie es noch im Fhädon hieJüs, vergleichen;
denn hier im Timäus nimmt ja nicht das Ding an der Idee
teil, sondern der Saum nimmt jene auf. Ferner ist diese Zer-
legung des sinnliehen Gegenstandes reine Theorie; erkennbar
soll sie nicht sein, da in der Wahrnehmung lediglich das
fertige, ganz neugeartete Produkt aus Idee und Raum gegeben
ist, so dafs also zur Erklärung des Zusammenhanges von Ding
und Begriff im Urteil nichts durch, jene metaphysische Theorie
beigetragen sein soll. Die Idee ist natttrlich noch viel mehr
unwahrnehmbar, als der Baum. Wenn man also behauptet hat,
Plato wolle mit seinen drei Prinzipien ov, x^Qa, yivBöiq die
logischen Verhältnisse des Urteils wiedergeben, so mtlssen wir
das darauf zurttckfUhren, dafs man den Unterschied der beiden
Betrachtungsweisen im Timäus, die des vovg und die der
dvdyxfj^ zu gering eingeschätzt hat.
Das Ergebnis dieser erkenntnistheoretischen Untersuchung
ist also folgendes: Die allgemeinen Begriffe, die Ideen, sind
ewig unabänderlich, von allem anderen unabhängig, vor allem
unräumlich und unzeitlioh; ihnen steht gegenüber die materielle
Welt der Individuen, die durch das Gegenteil aller dieser Be-
stimmungen, besonders durch den Baum, definiert ist. Die
Seele nun, die das eine durch die Definition, das andere durch
die sinnliche Wahrnehmung erfafst, oder vielmehr der vovg in
ihr stellt Mischungen her zwischen den Gegenständen beider
Welten, das heilst, sie bildet Urteile, die bald den Charakter
der hciöTJJfifj, bald den der do^a haben, je nach den zugrunde-
liegenden Gegenständen. Wirkliche Wissenschaft gibt es somit
nur fttr die abstrakten Begriffe. Alle Urteile treten als Aus-
sagen auf, die in ganz bestimmten Arten möglich sind. Diese
Kategorien gewinnen aber nur, wenn sie auf Begriffe, auf
Ideen, angewendet werden, ihren eigentlichen Sinn, sonst
hingegen nur angenäherte Bedeutung in gewissen „Nach-
ahmungen''.
Digitized by
Google
56
5. Psyehologlsehe Theorie Aber das ZnstondekommeH
der Ideen.
24 Die psychologische Seite des Abstraktionsproblems
fand, wie wir früher sahen, ihren Ausdruck in der Lehre von
der Wiedererinnerung; sie sollte den beiden Erfahrungstatsachen
Rechnung tragen, dafs einmal stets die Eindrücke der Sinne
den Anstols geben auch zum Erfassen der Begriffe, und femer,
dafs unser Denken sich niemals von der Begleitung der Sinn-
lichkeit völlig freimachen kann. In den modernen Dar-
stellungen der platonischen Philosophie spielt diese Lehre eine
viel zu wichtige Rolle, da sie eben in den meistgelesenen
Dialogen Phädon und Phädrus vorgetragen wird. Doch be-
merkten wir schon, dafs der Staat vOllig ohne sie auskomme,
und es hätte zu denken geben sollen, wenn nun auch in den
späteren Dialogen vom Theätet an dieser Wiedererinneruog an
eine vorzeitliche Ideensehau keine Erwähnung mehr getan wird.
Einzig eine Stelle des Timäus könnte darauf anspielen: Gott
zeigt der von ihm geschaffenen Seele die Natur des Alls
(42 e 2) — eine reichlich unbestimmte Bemerkung, die im Fort-
gang der Gedanken keine Rolle weiter spielt Was ist hier
an die Stelle getreten?
Um diese Frage beantworten zu können, haben wir aller-
dings nur einige Gedanken des Philebus und Timäus zur Ver-
fügung. Steckt bereits, wenn auch unwahmehmbar, im Sinnen-
dinge die Idee, so bleibt immerhin die Möglichkeit, dafs man
von ihm auf den Begriff geführt werde, wenn es ihn aaeh
nicht darbietet. Der Weg von der Wahrnehmung bis zur
Erfassung des Begriffs könnte durch eine psychologische Theorie
irgendwie ergänzt werden. Und in der Tat war es Platoe
Meinung, dafs die Methode der Dialektik, die die Idee setzt,
nichts anderes sei als ein ^ Auffinden^ dessen, was in den
Dingen an sich schon liege. Phil. 16 c 10: delv ovp fjfiäg tov-
rcov ovro öuzxexoöfirifiivcov äel (ilav löiav ütegl xavtoq exd-
ÖT0T6 d-E(iivovq t/rjXBtv — svQTJaeiv ycLQ hvovcav — lav ovv
fistaXdßcofisv . . . Diese Stelle vergleiche man mit Ph&dr.
249 b 6, von der wir oben (§14) ausgingen, und man wird
zugeben, dals wir hier einen Ersatz für die Lehre von der
Wiedererinnerung besitzen. Im Timäus wird der Zusammen-
hang zwischen Wahrnehmung und Dialektik noch etwas weiter
Digitized by
Google
57
auBgefllhrt (46 e 7 f.). Die Regelmäfsigkeit, die wir im be-
sonderen an den Erscheinungen des Himmels beobachten, soll
uns dazn führen, auch in nnserer eigenen Seele solche Oesetz-
mäfsigkeit berzostellen, ihre „Umdrehungen^ in Ordnung zu
bringen. (47 b 5 f.): Denn dies ist ja zur Erfassung der Wahr-
heit notwendig, dats die „Kreise der Seele richtig laufen^
(37 b 6, c 1). Von Bedeutung sind dabei nicht sowohl die
Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung selbst, sondern vielmehr
der Umstand, dafs sie eine so grofse Regelmäfsigkeit zur
Schau tragen. Dadurch freilich, dafs sie in dieser Weise der
Seele zu ihrer ursprünglichen Form, ihren Funktionen zur alten
Reinheit verhelfen, machen sie sie indirekt auch fähig, die
Ideen zu erfassen; sie geben sie nicht als Gegenstand, wohl
aber weisen sie in ihrer Regelmäfsigkeit auf den Weg, sie zu
erreichen. Ebendenselben Erfolg hat auch die stete Gesetz-
mäfsigkeit der akustischen Wahrnehmungen; auch da iBt nicht
die Wahrnehmung als solche, sondern nur die gleichsinnige
Wiederholung das eigentlich Entscheidende.
Über diese Andeutungen jedoch kommt Plato nicht hinaus;
man erkennt nur die Ansätze auch zu einer psychologischen
Theorie der Abstraktion. Aristoteles ist in dieser Analyse
bedeutend weiter gekommen. Aber das wenigstens kommt
auch bei Plato zu voller Deutlichkeit, dafs der logisch-meta-
physische Charakter der Idee nirgends durch jene angedeuteten
psychologischen Zusammenhänge irgend etwas von seinem
Wesen einbttfst. Die Ideen sind wohl abstrakt, aber nicht
aus der Wahrnehmung abstrahiert, und daher behält die in
den vorigen Abschnitten gefundene Natur der Abstrakta, der
Ideen ihre volle Gültigkeit
Bekapltnlatlon.
25. Stellen wir auch jetzt wieder, ehe wir zu Aristoteles
übergehen, die Resultate dieser zweiten Periode zusammen.
Alles Neue, was uns in ihr entgegentrat, liefs sich zuletzt
darauf zurückführen, dafs das Urteil schärfer als die Funktion
des Denkens gefafst wurde. Daher stehen sich nicht mehr so
sehr Ding und Idee, als vielmehr Wahrnehmen und Urteilen
gegenüber. Die Dialektik wurde als Kunst des richtigen
Digitized by
Google
58
Urteilens gefafst; sie goUte die obersten Urteilsbegriffe anf-
snchen, nnd da die Grundlage des Urteils das Verhältnis von
Gattung und Art war, so trat ihre zweite Seite, die Methode
des Einteilens, mehr in den Vordergrund. Metaphysisch hatte
das die Wirkung, dals das beziehende Sein als dasjenige
hingestellt wurde, was allein im Denken erfafst werden könne,
ohne dats jedoch damit von der überragenden Vorherrschaft
der Ideen über die Sinnendinge etwas abgelassen wurde.
Endlich soll psychologisch nicht mehr das Einzel ding an die
Idee erinnern, sondern die Funktion der Wahmehmnng soll
die Funktion der Ideenauffassung helfen in Ordnung bringen.
Digitized by
Google
ni. Aristoteles.
26. Einen nicht geringen Teil seiner Bchriftgtellerisehen
nnd philosophiaehen Gröfse verdankt Plato der Fähigkeit, die-
selben Gedanken von den yerschiedensten Seiten nnd GesichtB-
pnnkten ans rein fär sich durchdenken nnd dnrchempfinden zu
können. Diese Eigenschaft setzt ihn in den Stand, Dialoge
zn schreiben, die den Leser yoUkommen im Unklaren darüber
lassen, anf welche der streitenden Parteien der Schriftsteller
selber trete; aber diese selbe Begabung ist auch später in der
Komposition seiner grofsen Werke bei der Arbeit, denn diese
zeigen in ihrer GedankenfUhrang fast alle einen stnfenartigen
Änf ban, so dafs ein neuer Gesichtspunkt gleichsam einen völlig
neuen Akt des Gedankendramas bestimmt, ohne dafs die vorher-
gehenden Partien schon durch ihn beeinflufst wären. Als
schönes Beispiel konnten wir den Timäus schon besprechen,
in dem nichts auf die spätere Erörterung über das Wirken
der dvdyxrj hinweist Vollends weist ein so grofses Werk,
wie der Staat, natürlich mehrere solche Akteinsehnitte auf,
deren Verkennung sogar zur Annahme von Widersprüchen und
Zweifeln an der Einheitlichkeit des Dialoges geführt hat —
ein Beweis dafür, wie sehr es Plato gelungen ist, die einzelnen
Standpunkte der Gespräohsphasen auseinanderzuhalten. Ein
Mann wie er war darum ganz besonders geeignet, die ver-
schiedenen Richtungen des hellenischen Denkens in sich
aufzunehmen und zu verarbeiten, und so mufste für die
Darstellong bestimmter Gedanken seiner Philosophie die Heran-
ziehung der entsprechenden Partien aus den Lehren des
Sokrates und der Sophisten von grofser Bedeutung werden.
Digitized by
Google
60
Ganz anders steht in dieser Beziehung Aristoteles vor iob,
dem jene Fähigkeit nnd Beweglichkeit in der Wahl des Stand-
punktes völlig abgeht. Überall sehen wir ihn vielmehr feste
Ansichten an die Untersnchnng der Fragen, an die Kritik
fremder Lehren heranbringen; nnd selbst in den Aporien, die
er der Betrachtnng vorauszuschicken pflegt, ist sein eigener
Standpunkt nur schlecht verhüllt. Am lehrreichsten ist viel-
leicht das erste Buch der Metaphysik, seine sogenannte „Ge-
schichte der Philosophie^: nichts ist es weniger als das; denn
an den Anfang werden die aus der Physik bekannten vier
Prinzipien gestellt, und dann werden die Vorgänger geprüft,
ob sie auch nicht noch mehr Prinzipien als nötig erwiesen
haben. Daus eine solche Fragestellung das Verständnis vrirklieh
historischer Entwicklung vernichten mufs, leuchtet wohl ein.
Es gibt eine objektive Wahrheit, die ttber den Lehren jener
Männer zu Gericht sitzt (Met A 984 a f., b 8 f.; Phys. 188 b 29/30).
So ist nirgends zu spüren, dafs Aristoteles etwa seine Lehre
im Ringen um das Verständnis jener Gedanken gebildet habe,
wie es bei Plato auch in seiner Darstellung zum Ausdruck
kommt. So dankbar wir ihm daher für die mit absolutem
Wahrheitssinn überlieferten Tatsachen sein müssen, so sehr
werden wir in deren Beurteilung besonders da, wo sie in
aristotelischer Terminologie auftritt, unsere Freiheit wahren
müssen. Vor allem Plato, der noch so vernehmlich selbst zu
uns spricht, werden wir nicht mit seinen Augen sehen wollen;
es erübrigt sich ftir unsern Zweck, auf die von ihm gegen
seinen Lehrer geführte Polemik einzugehen, soweit sie nicht
ftlr ihn selber wichtig wird. Dies ist freilich in hohem Mafi9e
der Fall. Man mufs ja stets bedenken, dafs Aristoteles zwanzig
Jahre als Mitglied der Akademie mit Plato in unmittelbarer
Berührung stand, und diese Dezennien sind nicht nur der
positiven Beziehungen wegen wichtig, die dadurch zwischen
seiner und der platonischen Lehre bestehen (auch diese gehen
viel weiter als man gemeinhin annimmt), sondern vor all^n
deswegen, weil Aristoteles seine metaphysischen Lehren sehr
häufig im Gegensatze zu Gedanken Piatos entwickelt
Natürlich aber hat die bezeichnete Denkweise des Stagiriten
auch ihr Grofses, und dies liegt vor allem in der weitgehenden
Systematisierung und unerbittlichen Konsequenz, mit der er
Digitized by
Google
61
seine Oedanken za Ende denkt Grerade in dieser Hinsicht
aber halten wir es für unsere Pflicht^ ihn gegen weitverbreitete
Mifsyerständnisse und harte Angriffe zu verteidigen. Wir
wiesen darauf sehen in der Einleitung hin. Hier ist ihm nämlich
seine, weite Teile der Metaphysik: einnehmende Polemik gegen
Plato verhängnisvoll geworden; denn ebenso, wie er dadurch
das Urteil der Nachwelt über seinen Lehrer beeinflufst hat,
ebenso sind nun wieder die nicht immer richtigen Schlüsse,
die man aus diesen negativen Ausführungen gezogen hat, ftlr
die Beurteilung seiner eigenen Gedanken mafsgebend geworden.
Läfst man diese Polemik zunächst einmal beiseite, wird man
der Schärfe der Eonsequenz, mit der die Grundgedanken seiner
Philosophie überall durchgeführt werden, sowie der Sicherheit,
mit der dieser so überaus klare Kopf die einzelnen Probleme
auf ihre Grundschwierigkeiten zurückführt, seine Bewunderung
nicht versagen kOnnen.
1. Philologlselie Torbemerkangen.
27. Selbstverständlich hat eine Rekonstruktion des aristo-
telischen Systems auszugehen von einer philologischen Inter-
pretation der uns erhaltenen Texte; Fragen der Echtheit im
ganzen und einzelnen, der zeitlichen Reihenfolge, vor allem
der Komposition sind zu beantworten, wenn man wirklich
sichere Zeugnisse für seine Darstellung gewinnen will. Wie
weit wir aber noch entfernt sind, dieses billige Verlangen
erfüllt zu haben, kann das in jüngster Zeit erschienene Buch
von W. Jäger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Meta-
physik des Aristoteles (1912), das so erfolgreich die Arbeit
an einer der wichtigsten Schriften von neuem in Angriff
genommen hat, beweisen. Einiges muls auch hier notwendig
vorausgeschickt werden.
Für unsere Fragen ist zunächst von gröfster Wichtigkeit
die Stellung des Schriftchens über die Kategorien; dafs dieses
unecht sei, und zwar von Anfang bis zu Ende, ist meines
Erachtens längst nachgewiesen von A. Gercke (Arch. f. GescL
d. Philos. IV, S. 436 ff.) ^); ich sehe wenigstens nicht, wie man
0 Über ditf ältere Literstor über diese Frage vgl. Zeller *II, 2, 3. 68,
Anm. Er hat wohl Recht, wenn er Spengels und Frantis Gründe gegen
Digitized by
Google
62
sich seinen Folgeningen entziehen wollte. Man bedenke ueh
noch, dafs ein Gharakteristiknm aristotelischer Gedankengänge,
nämlich die Aaseinandersetznng mit fremden, besonders plato-
nischen Lehren, in diesem Schriftchen gänzlich fehlt; dies ist
um so anffäUiger, weil gerade hier in der Snbstanzenlehre ein
Standpunkt eingenommen ist, der dem platonischen schroffer
als irgendwo anders entgegentritt Wenn nun aber auch die
Kategorien nicht von Aristoteles geschrieben sind, so könnten
sie uns doch immer noch, wie etwa in der Metaphysik Buch E,
als Quelle für die aristotelische Philosophie gelten. Allein anch
das geht nicht an. Zwar wenn wir die Aasftahmngen z. B.
ttber das jcoöov cap. 6 nehmen, so ist der Zusammenhang mit
id 13 der Metaphysik ganz offenbar: 4 b 20— 5 a 14 entspricht
der Partie 1020 a 7— 14. Dann folgt eine Erörterung über
O-ioig und rd^ig; 5a37— blO entspricht wieder genau 1020 a
14—30. Schliefslich werden die Fragen nach dem ivm^iov
und dem (läXXov xal fjxxov für die Quantität gestellt; diese
kehren aber bei jeder Kategorie wieder, und ihre BeantwortuDg
scheint der durchgehende Zweck zu sein, den der Verfasser
mit dem Schriftchen befolgt. Es zeigt sich mithin, dafs dieser
irgendwie in dem, was er ttber das ütooov sagt, abhängt Ton
Met. A 13. Genau so steht es beim jcolov. Fttr die Lehre yon
der ot;a/a jedoch würden wir nach einer derartigen aristotelischen
Vorlage vergeblich suchen; im Gegenteil, es wird sich durch
unsere nachfolgenden Untersuchungen herausstellen, dafs die
dort vorgetragenen Gedanken sogar unaristoteUsch sind und im
Widerspruch stehen zu allen anderen Schriften, vornehmlich
der Metaphysik. Vorläufig möchte ich nur auf einen Unter-
schied in der Terminologie aufmerksam machen. Der Ansdmck
rä ovfißsßtpcora kommt in der ganzen Schrift nur da vor, wo
die Anlehnung an Met. J besonders eng ist, nämlich 5 a 39
vgl. A 13, 1020 a 15 und 7 a 27, 33, 36 vgl J 15, 1021 b 8—10.
In den Betrachtungen ttber die ovola aber, wo dieser Terminus
doch am allernotwendigsten war, fehlt er vollständig, wird er
die lichtheit nicht gelten lassen will. In neuerer Zeit hat sich H. Maier
(Die Syllogtstik des Aristoteles II, 2, 1000, S. 200 ff.) fttr, £. DnprM (Äreh.
für Gesch. d. Philos. XXII, S. 230 ff.) gegen die Echtheit der Schrift fih«r
die Kategorien eingesetzt. Meine Gründe sind von allen diesen nnabhingig
gefanden.
Digitized by
Google
63
vielmehr überall ersetzt dnroh den Aufldrnek rä h ijtoxeifiivq)
ovray welcher bei AristoteleB sich nicht findet, hier jedoch
25 mal vorkommt. Besonders deutlich wird es an den Stellen
2 b 35, 3 a 22, b 18, dals Aristoteles dort den Ausdruck cvfißs"
ßrpcora gebraucht hätte. Überhaupt hat die Unterscheidung
des Tcad-^ vjtoxsifidvov Zdyeöd-ai vom kv inoxaifiivq) elvai, die
in den Kategorien von grundlegender Bedeutung ist (freilich
nur in den Kapiteln über die ovöla; in den anderen kommt
sie gar nicht vor), bei Aristoteles keine Parallele, vielmehr
heilst es öfter ausdrücklich: rä övfißeßrjxora xad-^ vjtoxaifiivov
Ttvbq Xiretai (Phys. A3, 186 a34; Met. T 4, 1007 a 35, Anal,
gest. 83 a 25 f.), eben das, was Kat.la27, 2 a 31, 3 a 15 ent-
schieden bestritten wird.
Somit ist wohl der Schlufs berechtigt, der Verfasser der
Kategorien habe in den Kapiteln 2—5 auch nicht eine aristo-
telische Vorlage benutzt, könne daher von uns nicht als Quelle
fttr die Darstellung der Verhältnisse vom Allgemeinen zum
Individuellen betrachtet werden. Der stärkste Grund freilich
für diese Beurteilung der Kategorien liegt in eben diesen
Lehren, die dort über jenes Verhältnis vorgetragen werden,
die wir aber nunmehr übergehen können. Die Wichtigkeit
dieses Ergebnisses wird man ermessen, wenn man bedenkt,
dafs gerade diese Schrift am meisten gelesen und ftlr die
Philosophie des Aristoteles ausgenutzt worden ist; und wenn
man jemanden fragt, weshalb er es für eine aristotelische
Lehre halte, dafs Substanz im wahrsten Sinne nur das Einzel-
ding sei, so wird er sich gewifs sogleich auf die Kategorien
berufen, wegen weiterer Zeugnisse dagegen in Verlegenheit
geraten. Wir werden einige andere Stellen, auf die man sich
wohl berufen hat, noch prüfen müssen.
28. Unsere Hauptquelle bilden natürlich die in der Meta-
physik vereinigten Schriften, und auch über diese müssen
einige Bemerkungen vorausgeschickt werden. Ich habe dem
oben genannten Buche von Jäger viel zu verdanken; und doch
hat es mich in nicht unwesentlichen Punkten zum Widerspruche
gereizt. Überzeugt bin ich, dafs für den ursprünglichen Plan
das Buch B am wichtigsten ist, dafs aus diesem JjZB. O^A
herausfallen. Ebenso scheinen wir ß 10; Z 12, 17; H6 M 9/10
und die kleineren Stücke als Nachträge erwiesen worden zu
Digitized by
Google
64
sein. Dagegen urteile Ich über den ZnsammenhaDg nnd den
Zweek der voUkommeii einheitlichen Abhandlung Z H & etwas
anders als Jäger. Sie wird zitiert 1 2 1053 b 16 als xegl avoicg
xäl jfSQl rov oPToq, Das ov ist aber nach 0 1, 1045 b 32:
einerseits die Kategorien, andererseits d^aftig-ivTeX^x^^^* ^^
so bekommen wir zwei Hanptteile: 1. rö ov als Kategorie ZH;
2. ro ov als dvpafiig nnd IvzBXixBia 6. Von den Elategorien
wird gleich im Anfang die ovola heransgehoben Z 1; es folgen
die Aporien Z 2, die verschiedenen Begriffe der ovola 7t 3 nnd
dann beginnt die Darstellung: nämlich a) ovola ab rl t/r
slvai (/i0Qq)ij, slöoq) Z4— 16, davon 13 — 16 polemiaeb gegen
Plato; b) oiola als ovvoXov Hl— 3; c) ovola vXtxrj H4— 5.
Anch die Nachträge Z 12, 17, H 6, 9 10 stören diese Disposition
nicht 1): sie sind ungefähr an ihrer Stelle eingetragen nnd
werden wirklich innerlich gefordert; nur müfste H6 auf H4
folgen, wo aber wohl kein Platz war. Dagegen haben in
diesem ganzen Zusammenhange nichts zu suchen die Kapitel
Z7— 9^); die Gründe, die mich annehmen lassen, dab sie
ursprünglich nicht an ihrem jetzigen Platze gestanden haben,
sind folgende:
a) Die genannten Kapitel haben eine ziemlich genaue
Parallele in J3— 5; dieses Buch hat den Titel: TttQt rijq
o'dölaq ^ d^eogla (nicht tlber das ov ttberhauptl). Nun wird
sowohl von O, das sich selbst als Fortsetzung von Z H erklärt
1045 b 32, als anch von H der Stoff von Z 7—9 zitiert In
H 1043 b 16 heifst es: öiöeixrai 6h xal deötjXanai iv äUoig
ozi TO slöog ovöetg ütotsl ovöl yewqL, äXXä jtoulrai roös,
yl^vezai öh rd Ix rovrcov. Mithin kennt also H das Kapitel
Z8 nicht, zitiert vielmehr daftlr Aj ein „anderes** Werk, wo
dasselbe auseinandergesetzt ist: 1069 b 35 f. Das andere Mal
lesen wir: elrjrai ffiv rotg sibqX xfjg ovclag X6yoig ort
jcäv ro Yiyvdfievov ylyvBrai Ix zivög xi xal tjto rivog, xal
roiko To5 döst rö avx6 (1049 b 27 f.). Dies Zitat hat Jäger
bewogen, einen loseren Zusammenhang zwischen ZH und O
anzunehmen, was doch nach der angeführten Stelle 1045 b 32
>) E 2 Anfg. werden ebenfalbi die Arien des Sv genannt, dikronte
auch du ov als aXf]^^\ darnach könnte also sehr wohl 910 in einer
Abhandlung über das ov von vornherein beabsichtigt gewesen sein.
s) Siehe Anhang 2.
Digitized by
Google
65
recht anwahrBcheinlich ist. Nein, ancb hier bezieht sich
Aristoteles anf Aj nicht auf Z, das nach seinem Anfang auch
nnr ytegl xov ovroq^ nicht üiBQi ovolag hätte zitiert werden
können. Ich halte Z 7—9 für eine Dublette der (wie allgemein
zugegeben wird) sehr zerrissenen und skizzenhaften Kapitel
^3—5.
b) In den beiden Rekapitulationen ZU, 1037 a 21 f., H 1,
1042 a 2 f. wird der Inhalt von Z 7—9 Tollständig übergangen.
e) Während die Physik für manche Fragen auf ZEß
als die jtQcinj g)iXo0o<pla verweist, betrachtet sie den Stoff
von Z7 — 9 vielmehr als ihr eigenes Gebiet, und wir finden
demnach in ihr oft eine genaue Parallele: tlber das Werden
Met. 1033 a 5 f. II Physik 189 b 34 f.; über q>vöcg und Hx^V
Z 7 II Phys. B 1; über rvxfl und avrofdarov Z 9 || Phys. B 5— 6.
Haben wir nun aber diese Kapitel 7 — 9 ans dem Buche Z
ausgeschlossen, so kann keine Rede mehr davon sein, dafs in
diesem Buche über die sinnlichen Substanzen nach Art mehr
physikalischer Betrachtungsweise gehandelt werde, wie Jäger
meint. 1) Mit H geht der Philosoph freilich, und zwar aus*
drücklich (1042 a 24), zu deren Besprechung über — natürlich,
denn ovvoXov und vXt] lernen wir nur durch sinnliche Wahr-
nehmung kennen. Aber die Forderung, die an die jtQcorr]
(piXodotpla gestellt wird, nämlich das Seiende als solches zu
betrachten (Met. Fl), bleibt durchaus beachtet; denn es werden
nicht die sinnlichen Substanzen untersucht, sofern sie zur Sinnlich-
keit oder zur bewegten Welt gehören, sondern nur in ihrem
Verhältnis zur ovcla^ letzten Endes zum sUoq. H2— 8^) legt
für die individuellen Dinge der Aufsenwelt dar, dafs bei Be-
nutzung materieller Bestimmungen wohl ein Analogen zur
Definition gewonnen werden könne, dafs aber im strengen Sinne
dieses Wortes als o'dcla nur das ohne Berücksichtigung der
Materie aufgestellte xl fv dvai gelten könne. Auch weiterhin
bleibt die Frage nach dem dgiOfidg im Vordergründe; es ist
klar, dafs solche Ausführungen nicht unter Gesichtspunkte der
Physik fallen. Schlief slich ist dasselbe zu sagen von den
1) Siehe Anhang 3.
•) 1043 a 4 f.: ovaia fxlv olv ovölv tovxwv ovSh avvöval^ofjievoVy ofjio>g
6h to ävdXoYov iv kxaanp • xal wq iv ralq oiaiaiq zo xrjq vlriq xarri'
yoQOV(JL€vov avxfi jJ ivi^yeta, xal iv tolq aXXoiq oQiafioIq (AäXiaxa,
PhUoaophiiohe Abhftndlaoiren. XX XXIV. 5
Digitized by
Google
66
Kapiteln ttber die stoffliche Substanz; auch dort werden nur
die allgemeinsten Bestimmungen, vornehmlich das Verhiltnis
zum slöogj erörtert Wohl mufste die Veränderung erwähnt
werden, allein sie wird nicht als solche weiter verfolgt, wie
dies Z7 — ^9 der Fall ist. Gehen wir nun weiter zu S über,
so haben wir es hier leichter, die wahre Absicht des Philosophen
zu erkennen, da er selbst darüber spricht (Kap. 6 Anfg.), und
einige Abschweifungen entschuldigt. Die Untersuchung wird
bis zur Grenze der Physik geführt, aber diese Grenze wird
immer von der Metaphysik aus angesehen, genau wie es in
der Physik (B 2) auseinandergesetzt und durch das Beispiel
von Seemann und Schiffbauer so schön erläutert wird. Wir
besitzen also nach meiner Meinung in Met ZR& eine einheit-
liche Abhandlung, die — freilich unabhängig von den anderen
Büchern der Metaphysik — dem nachgeht, was Aristoteles
sich unter den Aufgaben der jtQcitfi ^t,Xoooq)la vorstellte, und
unter diesem Gesichtspunkte wollen wir sie im folgenden benatsen.
29. Über das Verhältnis von Z 12 zu H 6 ist schon durch
ihre Stellung innerhalb der verschiedenen Bücher entschieden.
In Z 12 handelt es sich allein um die Einheit der Definition,
in H 6 um die zwischen slöoq und vXri, also ganz gemäCs dem
Inhalte der Bücher Z und H. Auf diesen Unterschied wollte
Aristoteles durch den gleichzeitig mit Z 12 eingefügten Znsatz
1087 a 17 — 20 aufmerksam machen; nur mufs man den Satz
richtig lesen: hjtl 6h xwv oqiö/iwv nöcq /iiQTj rä iv x<p kojc?
xal öia rl elg Xoyoq b oQiöfiöc; (Antwort sofort, nämlich Z 12)
öfjXop yaQ Ott x6 JtQorffia %v, rd 6h jtQäffia rlvi tv /iigr) je ixor,
OxB:xriov vCxbqov (nämlich H 6).
Hier wollen wir gleich etwas richtigstellen, was aneh
für unsere nachfolgende Untersuchung von grofsem Werte
ist. Jäger hat, glaube ich, Z12, 1037 b 24 mifsverstanden; es
heifst 1037 b 11: 6ia xl noxB %v ioxiv, ov xov X&fov oQiOfiör
elvat ^afiiv. Worauf bezieht sich der Relativsatz? Auf das
xl rjv elvai. Man vergleiche nämlich 1017 b 22 rd xt r/r eivat
ov d Xoyog ÖQiöfiog; 1030 a 6 xöxl fjv elvat oötov 6 Xoyog iöx}v
oQiöfiog; 1042 a 17 ijtsl 6h xö xl ^v elvai ovcla, xovxov de
Xoyog 6 ÖQiöiiög. Hiernach mufs man nun auch die von Jäger
angeführte Stelle 1037 b 24 auffassen: 6 yaQ oQiCfiog Xoyog rig
icxiv elg xal orclag, cocd-' evSg xivog 6el avxbv elvai X&yot\
Digitized by
Google
67
Auch hier kommt flir ovöla, wenn man namentlich die znletzt
angeführte Stelle vergleicht, nur das rl rjv elvai in Betracht,
nicht die Sache. Das Problem heilst also: wieso ist das
rl TJv elvac eine Einheit? Dagegen eine „Einheit der Definition
anf Grnnd der metaphysischen Einheit der Sache^ ist ein Ge-
danke, der Aristoteles absolut fern liegt (Jäger S. 59).
30. Gerade im Anschlufs an Z 12 mOchte ich noch einige
Bemerkungen über die Analytika posteriora machen, die fär
unsere Untersuchungen ebenfalls eine wichtige Quelle bilden.
Es mufs auffallen, dafs alle von Jäger in der Metaphysik als
Nachträge erwiesenen Kapitel angeregt sind durch jene Schrift
(ausgenommen vielleicht H 6, das doch H 3, 1044 a 2—6 schon
deutlich gefordert wird). Z 12 sagt dies selber am Anfang.
Aber auch später bleibt der Zusammenhang; 1037 b 27 wird
als erste Art der Definition genannt: 6 xatä tag diatQsöeig
oQiöfioq; verschiedene Arten der Definition kennen nun gerade
An. post. II 10 und 13, 96 b 25; an diese mufs man also denken,
wogegen eine „Definition durch l^^roycoy?/" (wie Jäger vermutet,
S. 59) kaum etwas Aristotelisches ist. Ferner bringt Z 17 Ge-
danken aus An. post.: mit dem Unterschiede des on und öiä rl
befafst sich II 2 und 8, 93 a 35 f., und vor allem tritt dort das
Beispiel vom Donner auf (z. B. 93 a 22, b 8), das sich in der
ganzen Metaphysik eben nur an dieser einen Stelle Z 17 findet.
Und endlich setzt auch 6 10, wo es sich um Wahrheit und
Falschheit der dövpd^eroc ovölai handelt, die Gedankengänge
der An. post. voraus, die zu jenen unbeweisbaren äiieaa führen;
dort finden wir denn auch eine ganz ähnliche Bemerkung
(76 b 35 f.) : den Begriflf brauche man nur „aufzufassen" (^wUod^ai),
wie man etwas durch Wahrnehmung erfasse; er sei kein Satz;
genau so kann man nach 6 10 die dovvd^Bxoi ovölai nur ent-
weder richtig erfassen (d^iyelv) oder überhaupt nicht. Dals
aber die Erörterungen über Wahrheit und Falschheit nach
Aristoteles wirklich auf die Lehren der Analytika aufgebaut
werden müssen, beweist eine versprengte Notiz 7^3, 1005 b 2—5. ^)
Ich kann mir diesen engen Zusammenhang der Nachträge mit
den Analytika nur so erklären, dafs diese erst nach der Ab-
*) oaa 6h iyxfiQovot zwv XByovrmv rivig negl t^c dkijS-elaq, ov
XQOTtov Ost anoSsx^o^ai, Si^ anaiSfvalav rtav dvalvuxwv tovro ÖQwaiv.
5*
Digitized by
Google
68
faBsnng von Z H 9 ausgearbeitet worden sind. Wean Aristotelei
die dabei anffcanchenden Probleme nicht gleich dort mitbehaDdelte,
sondern als Nachträge in seine Yorlesnngen über die jrQckrf
tpiXoöotpla einfügte, so sehen wir daraus, wie sorgfaltig er
bestrebt war, den Stoff der einzelnen Wissenschaften richtig
abzugrenzen. Diese Beobachtung paf st sehr gut zu den häufigen
Überlegungen darüber, ob eine Frage zu diesem oder jenem
Wissensgebiete gehöre. Für uns ist diese chronologische Stellung
von besonderem Werte; denn wir werden annehmen müssen,
dafs beide Schriften genauer miteinander ausgeglichen sind und
haben ein um so gröfseres Recht, auch den viel behandelten
und viel mifsverstandenen Schlufs yon M 10, der ja ebenfalls
ein Nachtrag ist, ans Gedanken der Analytika heraus zu
interpretieren.
Damit wollen wir die philologischen Bemerkungen ab-
sehlief sen. Einzelne Stellen werden, wenn die Untersuchung
auf sie hinführt, besprochen werden.
2« Wahrnehmung nnd Wissenschaft.
31. Wir sahen oben, eine wie wichtige Rolle die Sophisten
für die Entstehung der Lehre yon den allgemeinen Begriffen
spielten. Aristoteles weifs davon nichts mehr; für ihn gehören
sie kaum in die Geschichte der Philosophie; war doch die
Entwicklung Piatos bei seinem Eintritt in die Akademie, zu
deren Zeit der Theätet schon erschienen war, nach dieser
Richtung hin abgeschlossen. Aber natürlich war der Kampf
Piatos gegen die Sophisten in ganz Griechenland bekannt,
sofern er nämlich literarisch zum Austrag gekonmien war,
namentlich durch den Gorgias und Phädrus, die auch Aristoteles
gewifs gelesen hatte. Weil er hier dem Plato Recht gab, trat
er wohl in die Akademie ein. Einmal, bei der Begründung
des Satzes vom Widerspruch, nimmt er Gelegenheit, den Prota-
goras zu bestreiten, und da nimmt er die Waffen, die die
Akademie bereit hatte, und die besonders im Theätet geschärft
waren: 1. alles Reden und Denken ist unmöglich, wenn man
nicht mit einem Worte ein stetig Identisches meinen kann
(1006 a 29— 1007 a 20); 2. Sein und Substanz ist nach Prota-
goras unmöglich; 3. Seine Behauptung hebt sich selber auf
Digitized by
Google
69
(1008 b 3ff., 1012 b 13). Anch findet Aristoteles ganz wie Plato
den Gnind für die Irrtümer des Protagoras in der Natnr der
von ihm allein als Erkenntnisquelle angesehenen Wahrnehmung
(1009 a 22; blf.) und den damit zusammenhängenden Problemen,
die die Tatsache des Werdens stellt. Man hat bisher nicht
genügend Wahrnehmung und Denken getrennt (1009 b 12—39),
nnd die Schuld an allem Verkehrten trägt die irrtümliche An*
nähme, dafs das Seiende sich mit dem Wahrgenommenen er-
schöpfe (1010 a 1 f). Alle diese Gedanken enthalten fUr uns
nichts Neues: sie stammen von Plato und so wird er denn auch
einmal zitiert (1010 b 12, gemeint ist Theät. 178 c, 171 e). Es
konunt nicht oft vor, dafs Plato mit Anerkennung genannt
wird, allein in diesem Punkte, der Widerlegung der Sophisten,
glaubt Aristoteles offenbar, dafs die Arbeit Yon seinem Lehrer
getan sei. Auffallen mufs es daher, dafs er ihn nicht öfter
zitiert: es ist eben nicht seine Gewohnheit, stets zu sagen: dies
habe ich da und da gelernt; wir müssen uns das merken, um
von hier aus, wo doch die Gemeinsamkeit der Gedanken ganz
offenbar ist, unsere Schlüsse auch für andere Teile seiner Lehre
ziehen zu können.
Auch das positive Ergebnis aus solchen Betrachtungen ist bei
beiden das gleiche: 1. Was das Wahrnehmbare betrifft, so haben
die Sophisten eigentlich recht: es ist relativ; 2. eben deshalb ist
man genötigt, noch eine andere Substanz anzunehmen (1009 a 37),
und diese wird sich als die eigentlich wesentliche herausstellen.
Wir müssen hier auf den ersten Punkt besonders deshalb ein-
gehen, weil nach Aristoteles ausdrücklich die Wahrnehmung,
nnd zwar sie allein, das Einzelne, das Individuelle erfassen
soll (1036 a 2-6; 1039 b 28; de anima 417 b 22; An. post. 81 b 6,
87 b 31; Bonitz, Ind. 20 b 25 f.); damit sind wir aber bei dem
Gegenstande unserer Untersuchung wieder angelangt. Die Wahr-
nehmung ist in den spezifischen Sinnesqualitäten, den Uta, zwar
immer wahr (Bon. 20 a 39), aber doch nur, wenn man alle jene
Relationen berücksichtigt (Met 1010 b 3 — ^26). Da sie zudem
das Einzelne nicht einmal als solches gibt, sondern immer nur
dessen Qualitäten, die oviißeßrpc&ta, so versteht man es, wenn
Aristoteles sagt: Iv rotg alcQ-rj-tolg jtoXXfj i^ tov äoglörov q)vöiq
IwjtaQXBi (Met. 1010 a 3), wenn er leugnet, dafs es durch sie
ein Wissen gebe (An. post. 87 b 28 ; vgl. 75 b 24). Aber noch nach
Digitized by
Google
70
einer anderen Seite ist die Wahrnehmung relativ; ihr Inhalt kommt
nicht ohne ein empfindendesSubjekt zastande (Met 1010 b 30—39),
nnd dasjenige, was wir empfinden, ist durchaus verschieden
von dem, was diesen Zustand in nns herbeigeführt bat (de anima
420 a 6 ff.); bisweilen ist auch die griechische Bezeichnung ver-
schieden: etwa bei einer Saite das Schwingen und das Tonen;
aber genau so ist es auch beim Gesichtssinn, wo nnr die Be-
nennung auf der Seite des Objekts fehlt Ist aber die so be-
schaffene Wahrnehmung das einzige Mittel, nns die Individna vor
Äugen zu stellen — nnd das ist sie, denn sobald sie schwindet,
bleibt nur etwas Allgemeines in nns zurück (1036 a 6 — ^9), nnd
auch die Benennungen sind alle allgemein (1035 b 1—2) — , so
ist hieraus klar, dafs für Aristoteles das Einzelne niemals die
höchste Substanz bedenten kann, ans der alles ableitbar wäre.
Man darf anch nicht vergessen, dafs er bei Plato zwanzig
Jahre unter dem Eindruck einer idealistischen Philosophie
gelebt hat, dafs er ferner dessen Ansichten über die Wahr-
nehmung nnd die sinnlichen Dinge nicht bekämpft; vielmehr
dreht es sieh in dem Streite immer um die Idee nnd deren Ver-
hältnis zu jenen.
Es mufs also etwas anderes noch geben, als die sinnlichen
Dioge, wenn es nämlich Wissenschaft geben soll (999 b 1 ff.).
Klar wird es ausgesprochen, dafs das Wissen etwas Bleibendes
fordere, was im Individuellen nicht enthalten sei, nnd dafs dies
von Sokrates richtig gefunden sei in der Definition, im All-
gemeinen 1078 b 12—30. So findet Aristoteles den Weg zum
Allgemeinen, dessen Behandlung durch ihn wir nntersnchen
wollen. Man merkt an seinen Worten, dafs dieser Weg bereits
gebahnt war, dafs er nicht sein Entdecker ist. Ob es wirklieh
so etwas gebe wie votjoig, bctöxijiifj, oqoi, d^icSfiota, das ist
für ihn keine Frage mehr. Die Beweise, die er selber daf&r
vorbringt, dafs vovg und äiod'f]öig verschieden seien, sind nicht
sehr tief fundiert (de an. 427 b 5 f.; 429 a 29— b 9) nnd zeigen,
dafs er sich hier keinem ernsthaften Gegner mehr gegenüber
glaubt. Der Kampf Piatos hatte eben der hcicxtjiiTj einen fftr
Jahrhunderte nnbestrittenen Sieg errnngen, bis dann schlielslieh
gegen Ende des Altertnms die Bhetorik doch wieder die Allein-
herrschaft an sich reifst, änfserlich vollendet in der „Wider-
legung'' des Plato durch den Hedner Aristeides.
Digitized by
Google
71
3. Logische Lehren Tom AUgemeineii«
32. Um die logische Natnr des AUgemeineD nach Aristoteles
za crkeDDCD, müssen wir den Begriff der vXt] nnd ovöla nach
Möglichkeit fernzahalten suchen, was freilich nicht ganz gelingt,
da der Philosoph selber das Logische vom Metaphysischen
nicht reinlich geschieden hat.
Der Ausdruck xa{h6Xov, den Aristoteles zur Bezeichnung
des Allgemeinen gebraucht, zeigt noch, daJb er hergenommen
ist Yon der Quantität des Urteils. So definiert er denn auch
Ityco xad^oXov ro üiavxl tj fif^ösvl vjcaQxscv (An. pr. 24 a 18;
vgl. Met 1023 b 30). Wir fanden diese Biezeichnung schon bei
Plato (Menon 77 a 6). Vom Urteil überträgt sich die Bedeutung
des Wortes uomittelbar auf das Prädikat (Met 1038 b 16):
TÖ xa^oXov xaB-^ vjtoxsifiivov xLvbq Xiyerai dal, und daher:
(vorher b 11) xovro Xiytxaixad-oXov, djtXelooiv 'djtdgxeiv Jtitpvxtv,
Das Wort xoivov kann fast ganz synonym gebraucht werden
(de part an. 644a27): xä dl xad-oXov xoivd. Das Gegenteil
dieses Begriffes, das analog gebildete xa&ixacxov, braucht da-
gegen keineswegs das Individuelle zu bezeichnen, sondern
Aristoteles meint damit, ganz wie wir mit unserem „Einzelnen'^,
oft das weniger Allgemeine, das Spezielle. Daran ändern auch
die ausdrücklichsten Erklärungen nichts, wie etwa Met 999 b 33:
xb yaQ ägid-fia iV rj xö xad-ixaöxov Xiysiv öia^igsi ovdiv;
denn man vergleiche nur Met. 1023 b 31: x6 fihv yäg xa&oXov
Xtyofisvov <äg oXov xi ov otixcag iöxl xa{h6Xov cog jtoXXä jibqux^v
xol xaxfjyoQ8tcd-ai xad-^ Ixdöxov xal iV cbtavxa elvai mg %xaöxov
olov äv&QWJtov, YotJcoVf d-Bov, oxe ojtavxa ^om. Genau so
de anima 414 b 32; vor allem de part an. 644 a 29: 7j fiev yaQ
ovala xo xfo elösi äxofiov, xQaxtCxov, bI xtg övvaixo Jisgl xwv
xa9-ixaoxov xal äxofiwv x<p slösi O'BcoqbIv x^Q^^f Söjcbq neQl
ävd^Qcijtov ovxo xal jcsqI oQvid-og (ferner Polit 1284 a 1 ; 1313 a 19;
de caelo 298b6degen. an.715a2, 716a3; An.post97b26— 39).
An allen diesen Stellen sind mit xa9^ixaöxov die untersten
Arten im Gegensatze zur Gattung gemeint Dies ist eine äufserst
wichtige Feststellung; denn nun werden wir auch eine Stelle
wie de gen. an. 767 b 32 richtig verstehen; auch da ist mit
xad-ixaoxov der avd-Qoonog gemeint im Gegensatze zum C,<pov:
(29) del ÖB löxvBi Jigog xfjv yivBöiv fiaXXov xb löiov xal xb
Digitized by
Google
72
xad-ixaOTor: 6 yaQ Kogtoxog xal äv&QOJtog löxt xal C,roov ' cXä
lyyvTEQOv xov lölov 6 ävd-gcojtog ij xö ycoov. Natürlich kanii
ixaoxov allein noch viel leichter eine weitere Bedentang an-
nehmen; ixaoxov yivoc findet sich nicht selten, und daher ist
nicht einzusehen, wie man Met. Z 6 1031 a 15 unter hxaoxov ohne
weiteres das Einzelding verstehen kann; das ganze sehr schone
Kapitel kommt dadurch in Gefahr, gänzlich milsyerstanden zu
werden.
Das Allgemeine also stellt sich als Prädikat eines Urteils
dar; ein solches kann nun zunächst in doppelter Weise gefällt
werden, von denen die eine Art für unsere Betrachtungen gleich
ausscheidet: Met. A 1017 b35: t« yaQ xa^öXov xa&' avxä ^-jtaQx^^
xa Sk öviißeßrjxoxa ov xa&^ avxä dXX^ ijtl xoiv xaB-^ txaoxa
ajtXcog Xiyexai. (An. post. 75 b 5 — 12.) Allem Allgemeinen haftet
ferner der Charakter des Notwendigen an (An. post 73 b 27 — 28,
06 b 3), dem Zufälligen dagegen niemals (An. post 1 30). Das
sind die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen beiden
Hauptarten des Urteils. Aber auch jene xaß^ aiV« vjtdQxoi-xa,
werden wieder in zwei Gruppen zerlegt, in das, was vom Wesen
eines Gegenstandes ausgesagt wird, und in das, was solchen
Wesensbestimmungen allgemein zukommt An. post 84 a 12:
xad-' avxa 6b öixxc5g ' oöa xe yäg iv kxeivoig kwjtdgxsc ir xfl
xl hOxLV, xal o\g avxa Iv reo xl ioxiv vjtaQxovöi avxolg; vgL
73 a 34; Met Z 5. Uns interessiert hier zunächst jene erste Art
des Allgemeinen (über die zweite s. u. § 34). In den genannten
Stellen wird es definiert, und damit stimmt die Erkl&mng
Met 1029 b 19: iv (o äga (ifi kriöxai Xoyo) avx6, Xdyovxi avro,
ovxog 6 Xoyog xov xl %jv elvai exdöxq). Das xl ^v dvai ist
dasjenige, dessen Xoyog der ÖQtOfiog ist Damit sind wir bei
der Definition angelangt, die ja auch bei Plato das AUgemeine
zum Ausdruck brachte. Dafs nämlich auch umgekehrt jeder
Sgcöfiög etwas Allgemeines darstelle, darttber läfst Aristoteles
keinen Zweifel. Der Xoyog, heilst es allgemein, also entweder
Definition oder Beweis (de an. 407 a 25 Xoyog 6h jtäg oQiofioc
7] djt66€i^ig), geht stets auf das Allgemeine Met 1035 b :34.
Aber auch ausdrückliehe Angaben finden sich: Met 1036 a29:
xov yaQ xaO-oXov xal xov eWovg 6 oQiCfdog; An. post 90 b 4.
Da£s ein oQiOfiog eigentlich nur von Substanzen möglieb sei
und der Begrifif in erster Linie und in vollem Sinne nur dort
Digitized by
Google
73
gelte, kommt hier noch nicht in Betracht: das ist eine der
Verqnicknngeii logischer and metaphysischer Erörterung bei
Aristoteles.
Man hat nun in Aristoteles^ Lehre von der Definition Un-
ebenheiten nnd Widersprüche finden wollen, mittelst deren sich
eine Entwicklung in seinem Denken, eine Chronologie in einigen
seiner Schriften konstruieren lasse. ^) Dieser Versnch beruht
jedoch auf einem Mifsverständnisse, wie wir versuchen wollen
zu zeigen. Zunächst mttssen wir die Resultate des schon
genannten Kapitels Z 12 der Metaphysik zusammenfassen, die
mit den Ausführungen von A 2—3 des Werkes ttber die Organe
der Tiere nicht stimmen sollen. Es handelt sich dort lediglich
um die Frage, wieso die Bestandteile der Definition eine Einheit
bildeten; als Ergebnis wird gewonnen: Die Definition besteht
nur aus der höchsten Gattung und dem letzten Artunterschiede;
dabei verhält sich dies beides wie vXfj zum €iöog, und die
Einheit ist somit ermöglicht, wenn wir den letzten Artunterschied
als das Wesen der Sache betrachten. Die zwischenliegenden
Artunterschiede sind im letzten enthalten und daher überflüssig.
Hauptbedingung für das Zustandekommen der Einheit ist also
dies, dafs man während des Spezialisierens bei demselben
Einteilungsgrunde bleibe. Daraus soll aber durchaus nicht
gefolgert werden, dafs es fttr jede Art einer Gattung eben nur
einen einzigen Einteilungsgrund gebe: im Gegenteil, man mufs
nur mit einem neuen von vorne anfangen. Tatsächlich werden
ja mehrere Merkmale als dem Menschen wesenseigentttmlich
genannt, die ausdrücklich nicht in dieselbe Ordnnngsreihe
gehören (1038 a 10—13). Das Problem, wie diese verschiedenen
letzten Artunterschiede zueinander stünden, wird wohl aus-
gesprochen, aber in dieser ofifenbar unvollständig gebliebenen
Untersuchung nicht gelöst (1037 b 21 — 22). Diese Bemerkungen
erfahren nun eine wertvolle Ergänzung durch de part. an. A2— 3,
nnr mufs man beachten, daf« diese Kapitel einen ganz anderen
Zweck verfolgen; wurde nämlich in Z 12 die Widerlegung eines
unverständigen Dichotomierens, wie es Aristoteles oftenbar
literarisch vorlag, nur eben gestreift, so ist diese Polemik hier
die Hauptsache. Dabei werden die Resultate des Metaphysik-
1) Brentano, Aristoteles and seine Weltanschanung, 1911, S. 17 f.
Digitized by
Google
74
kapitels genau vorauagesetzt: Geschlecht und Artanterschied
bilden eine Einheit nur dann, wenn der Einteilungsgiund der
nämliche bleibt (643 b 17—23). Die beiden Fehler, die auch
Met. Z 12 genannt waren, werden beinahe mit denselben Bei-
spielen wiederholt: man dürfe weder in eine andere Reihe,
noch auf etwas Nebeosächliches geraten. Femer ii^ird erklärt,
der letzte Artanterschied sei das döogj die dazwisohenliegeDden
kämen nicht in Betracht (644a 23, 643b 34-644 al; Met
1038 a 32). Nun wird jedoch weiter geschlossen: Da die Dicho-
tomie keine Einheit liefert, weil sie den Einteilaogsgrund
wechselt (oflfenbar taten das die bekämpften Gegner) (643 b 26),
da ferner das Wesen einer Sache niemals sich in einem einzigen
Artunterschiede erschöpft (644 all), die Dichotomie aber stets
nur einen solchen liefern kann, so kann man mit ihrer Hilfe
nicht zur Bestimmung der untersten Arten gelangen; yielmehr
mufs man gleich von vornherein (evO^ioog 643 b 23) das Geschlecht
nach mehreren Prinzipien teilen nnd diese für sich zu Ende
ftthren. Jede Reihe bildet einen neuen Anfang {eriQag aQxy
6ia(poQäg 643 b 22/3) und führt natürlich zu einer eindeutigen
Bestimmung: das wird nirgends bestritten, vielmehr voraus-
gesetzt (643 a1 — 5). Bekämpft wird lediglich die Meinung, es
könnte durch eine Dichotomie^) das Wesen völlig erfafst
werden, und dies war auch Z 12 keineswegs behauptet worden.
Ich kann daher nicht einsehen, da£s de part. an. jenem Kapitel
gegenüber einen Fortschritt darstelle. Unverkennbar dage^n
besteht ein solcher von An. post II, 13 zu Met Z 12. In den
Analytiken wurde zwar das Problem gestellt: wie kann die
Definition eine Einheit darstellen? — und Z 12 verweist ja
darauf — die Lösung jedoch wurde noch nicht gegeben; dafs
Aristoteles sie wirklich auch noch nicht gefunden hatte, zeigt
An. post. II, 13, wo die Frage nach der Einheit noch gar nicht
berücksichtigt wird. So kommt es auch, dafs der Fehler, vor d^n
Met. Z 12 und de part. an. A3 gewarnt wird, dort ruhig begangen
') sl Ö^^v o avd-QwnoQ axi^onow uovov (d. h. „allein" gehOrt zu
oxi'Qonovv, nicht zu av^Qwnoq), ovx(oq iylyvet^ av avxtj /lia Ötaipo^ - j'vw
d* insiSi] ovx laxiv, dvdyxrj noXXag slvai fiti vnb fxlccv Sial^eoiv, dVia
/tcjjv nXelovg ye rov avtov ovx fariv vnh filav StxotofxLav eIvoi, aXXa filav
xata fäav teXevxäv . iiare dövvalov oxiovv kaßetv xdiv xa^ l^xacror
^(pcav 6lxa ötatQOVgiivovq.
Digitized by
Google
75
wird (96 b 31: ^(pov ^fie^v öijiovp), und dafs der letzte Art-
unterschied noeh nieht als das alleinige Wesen der Sache
hervorgehoben wird. In der Topik wurde sogar umgekehrt
der Hanptnachdrnck auf die Gattung gelegt, und die zwisehen-
liegenden Arten erschienen keineswegs überflttssig (VI, 5,
143 a 15-28).
33. Was in allen diesen Ausführungen wiederkehrt, das
ist die nachdrückliche Behauptung, es gebe wirklich einen
letzten Artunterschied und damit unterste Arten. Die Durch-
führung dieses Gedankens ist nicht ohne Hilfe der Metaphysik
möglich, und so wird er einer der Grundpfeiler der aristo-
telisehen Philosophie überhaupt. In diesem Abschnitte interessiert
uns zunächst nur die logische Seite, da wir damit auf einen
Gradunterschied in der Allgemeinheit geführt werden. Die
untere Grenze dieser Stufenfolge bilden die sUrj (nicht die
Individuen, wie die Kategorien törichterweise behaupten). Sie
bilden eine nicht weiter teilbare Einheit {äzofia sÜei Bonitz
120 a 58— b 4); ausdrücklich wird betont, dafs sie nicht wieder
zu den unter sie fallenden Individuen in einem der Beziehung
zwischen Gattung und Art analogen Verhältnisse stehen (Met.
B 3, 999 a 5, 6; 1 8, 1056 b 6, 7). Nach diesen Erörterungen
unterscheiden sich also die Einzelgegcnstände logisch nicht,
sie sind siösi ?r, wie es so oft heilst (z. B. An. post. 97 a 37— 39;
Met 1058 b 8 — 9). Dann sind aber diese untersten Arten in
ganz anderer Weise allgemein, als die Gattungen, natürlich auch
in anderer Weise Einheiten, als die Individuen. Diese Doppel-
stellung des sldog werden wir noch sehr genau zu beachten
haben. Ebenso interessant ist nun auch die obere Grenze der
Gattungsreihe. Wenn nämlich das Allgemeine das Prädikat
eines Urteils darstellt, so müssen die allgemeinsten Gattungen
gebildet werden durch die allgemeinsten Arten, überhaupt aus-
zusagen, und das sind die Kategorien (1054 b 29 f., 1055 al,
1016 a 33 f., 1024 b 12 f. oxw^ra rfjg xaxtjyoQlaq), Wie aber
jenseits der unteren Grenze des Gattungsbereiches die Individuen
liegen, so werden jenseits der oberen Grenze noch ganz all-
gemeine Begriffe angetroffen, die in jeder Kategorie wieder-
kehren können, z. B. iv, 6v, ägx^, ctoix^lov, alxiov (vgl. Met.
998 b 22 f.; 1040 b 21— 23; An. post. 92 b 14); sie sind zu all-
gemein, als dafs ihnen die Einheit einer Gattung noch zuge-
Digitized by
Google
76
sprochen werden könnte: nnr ein ?r xar' ävaXoylav (1016 b 31)
bleibt ihnen, and in diesem Sinne allein kann man daher eine
allgemeine Untersuchung ttber diese Begriffe führen (Met. A 41
Die Kategorien hat Aristoteles aus der Akademie ttbernommeni)
— ohne jemals diese seine Quelle zu nennen. Die Ausdrttcke
ravxov, löov, ofioiov fttr die drei ersten Kategorien, die Plato
im Parmenides benutzte, kehren bei Aristoteles noch yielfaeh
wieder (1003 b 35— 36; 1004 a 18 die Gegenteile; 1054 a 31).
Vor allem scheint mir der Name auf platonischen Ursprung zu
weisen (s.o.S.46). Jedenfalls ist dann der Versuch, ausfindig zu
machen, wie Aristoteles auf seine Kategorien gekommen sei,
sie abgeleitet habe, mit allen Konsequenzen, die man aus diesem
Unternehmen für den Charakter der aristotelischen Philosophie
gezogen hat, von vornherein unberechtigt.
34. Um nun einen Zusammenhang zwischen dem bisher
behandelten Allgemeinen der Gattung und Art mit jener zweiten
Gruppe des Allgemeinen, nämlich den ovfißeßrpcora xad^ avrd
zu gewinnen, müssen wir die Definition mit Aristoteles als
(XQx?) djtoödgtoyq ansehen (An. post. 74 b 24; 75 b 30; 89 a 18;
90 b 24; Met. 1034 a 30—32; 1078 b 24; de an. 402 b 25). Jede«
beweisbare, also syllogistische Wissen fordert in doppelter
Weise unbeweisbare Voraussetzungen (An. post. 1, 10): 1. all-
gemeine Axiome, aus denen etwas bewiesen wird, die aber
nicht selber Vordersätze sein können (An. post. 77 a 10 f.),
2. Begriffe, die jedem Gebiete eigentümlich sind und die
Vordersätze bilden. Ausführlich zeigt Aristoteles, dafs es fftr
eine Definition keinen Beweis geben könne (An. post II, 3 — 8):
Die Bedeutung eines jeden Gegenstandes, auch der an sieh
zukommenden Bestimmungen, wird vorausgesetzt (76 b 6 — 7).
Aber darin unterscheidet sich nun das Wesensallgemeine vom
akzidentell Allgemeinen, dafs bei jenem auch das Sein an-
genommen werden mnfs, während es bei diesem bewiesen wird
(76 b 5—16). Immer wird es ja als die Sache des Beweisens
hingestellt, jene allgemeinen Eigenschaften aufzuzeigen, so dafs
0 Ich bin zu dieser Ansicht gekommen, ehe ich Gerckes Aas-
führuogen kannte, der Arch. f. Gesch. d. Philos. IV, 420 ff. duselbe mit
anderen Gründen beweist Über die Versuche einer Ableitung der Kate-
gorien vgl. Zeller 11,2*, Seite 264, Anm. 2 und P. Natorp, Piatos Ideen-
lehre, Seite 880 f.
Digitized by
Google
77
diese Aufgabe als das Wesen alles syllogistiscben Yerfahreits
angesehen werden kann (Met. 997 a 19—21; 1025 b 10—13;
1003 a 25; de an, 402 a 15; An. post. 75 a 28—31, 76 b 4). Damit
haben wir einen wesentlichen Unterschied jener beiden oben-
genannten Grnppen des Allgemeinen gefunden, nnd dieser hat
anf der Seite der dnrch Definition gewonnenen Gegenstände
noch wichtige Konseqnenzen. Das Sein wird bei den Begriflfen
wohl angenommen, ist aber als Bestimmang in der Definition
niemals enthalten : das Wesen der Einheit, des Menschen nsw.
nnd deren Existenz sind etwas dnrehans Verschiedenes (An.
post. 72 a 21 — 24 6 yäg ogiOfiog d^eöcg (liv loxt ' rid-STai yctg 6
aQid-fiijTixoa (lovdöa rö döialgsrov slvat xarä xb ütocov '
vjtoO'saig (T ovx eOri • ro yäg zl icxi (loväg xal x6 elvai fio-
vdöa ov xavxov 96 b 10 — 11), nnd keineswegs folgt eins aus
dem anderen. Mit dem Sein kann nicht die rein logische
Kopula gemeint sein; denn die Form eines Urteils hatte die
Definition schon vorher (fioväg x6 döialgerov löxt xarä xb
jtoödv): es steckt mehr dahinter, da die Annahme des Seins
die einzige Grundlage bildet fttr den Zusammenhang der ovii-
ßeßfficoxa xaO-^ avrd mit den wesentlichen Merkmalen; aus-
drttcklieh nämlich wird betont, dals erst durch diese Annahme
der Existenz jener Begriffe ein Schlafs auf die ihnen allgemein
anhaftenden Bestinunungen möglich werde: x(5 Ixelva elvai
ylvexai xb övfiJtsQaöfia (An. post. 76 b 38). Aufserst wichtig
ist eine Anmerkung, die Aristoteles in diesem Zusammenhange
macht: ohne die Zufügung jenes Seins sei der Begriff weder
allgemein noch speziell (77 a 3 ixe xb ahr/fia xal vjcod^söig
jiäöa 7] cog oXov, rj cjg xaxä liigog, ol d' oqol ovöixsgov xovxcdv).
Es fehlt also noch jede Umfangsbeziehnng, die vielmehr erst
dadurch zustande kommt, dafs jener Begriff verwirklicht gedacht
wird an den unter ihn fallenden Gegenständen: ein weiterer
Grund, mit Vorsicht von der Allgemeinheit des Begriffs zu
sprechen.
35. Aber wir stehen hier bereits am Ende rein logischer
Betrachtung; denn wie sich die zuletzt angeführte Anmerkung
mit der bestimmten Behauptung verträgt, alle Begriffe seien
allgemein, das kann nur mit Hilfe der erkenntnistheoretischen
Voraussetzungen des Philosophen auseinandergesetzt werden.
Ehe wir zu diesen ttbergehen, wollen wir noch kurz ver-
Digitized by
Google
78
gleichend auf die platonische Lehre znrttckblicken. Die Defi-
nition als logischen Aasdrack des Begriflfs, die Eiiiteilangs-
methode als wichtigstes Hilfsmittel des Definierens, den B^^'ff
als Grundlage nnd Voraussetzung alles beweisbaren Wissens:
dies alles übernahm Aristoteles von seinem Lehrer. Im ein-
zelnen geht fttr ihn die Entwicklung von Piatos späterer
Philosophie aus; die Forderung, mit Hilfe des Einteilens bis
zu den letzten Gliedern vorzudringen (den xoXXd des Philebns),
finden wir wieder in der Behauptung des Aristoteles, es gebe
wirklich Sxoiia elöei, und diese bildeten das eigentliche Ziel
der Begriffsbestimmung; und wenn wir bei Plato lernten, die
Indiyidna lägen als äjtsiga jenseits jener Stufenfolge, die vom
tv zu den jcoXjid führe, so sagt uns Aristoteles ebenfalls mit
voller Deutlichkeit, die letzte Art sei nicht wieder Gattung zu
den Einzeldingen, vielmehr bräche die Gattungsreihe vorher ab.
Über die Gemeinsamkeit der Kategorienlehre sprachen wir
schon. Die Übereinstimmung der Gedanken geht also ziemlich
weit. Ebenso unverkennbar ist es, dafs Aristoteles in einigen
Punkten die Gedanken weitergeführt hat. Die Frage nach
der Einheit des Begriffs führte zu einer schärferen Bestimmung
des Einteilungsprinzipes, und die eingehende Beschäftigung
mit dem Wesen des Beweises mulste auch fttr den Begriff, der
ja dessen Grundlage sein sollte, weitere Klärung bringen: sie
führte zur Unterscheidung der wesentlichen Merkmale von den
damit allgemein und notwendig zusammenhängenden Be-
stimmungen, sowie zur Ablösung des Seins vom Begriffe.
4. Yerhältnis des Allgemeinen und Einzelnen xn
Hubstanzialität nnd Erkenntnis.
36. Es handelt sich nun zunächst darum, das Verhältnis
des Allgemeinen zu dem, was nach Aristoteles Substanz sein
soll, klarzustellen. Nach zahlreichen Stellen der metaphysischen
und physischen Schriften kann man von einer ovoia in drei
verschiedenen Bedeutungen sprechen, ohne dafs die eine auf
die andere zurttckftthrbar wäre. Sie ist nämlich entweder
eidog (fiOQq)7J, rl rjv elvai), oder vXi], oder das aus beiden
zusammengesetzte, individuell existierende Sinnliche. Nach
ebenso zahlreichen Stellen kann es femer nicht zweifelhaft
Digitized by
Google
79
sein, dafs ovöla im vollsten und eigentlichsten Sinne nur das
elöog sein könne, das somit als ngckrj ovola bezeichnet za
werden pflegt. Hier begegnet nns also sogleich wieder die
Art, nnd zwar, wie wir zeigen wollen, genau im selben Sinne,
den wir im vorigen Abschnitte zu behandeln hatten: als unterste
Stufe des Allgemeinen. Wie konnte man aber trotz dieser
bestimmten Versicherungen (Met. 1005 a 35; 1022 a 17; 1029 a 5;
1032b 2; 1037b 2, a5, 28; 1038b 10; 1054 bl; 1071 b5> zu
der Behauptung kommen, nach Aristoteles sei die eigentliche
Substanz nur das sinnlich wahrnehmbare Einzelding? 1. Weil
es in den Kategorien wirklich so steht, 2. weil Aristoteles
sehr häufig betont rö xaß-oXov (ro xoivöv) ovökJtOTS ovöla,
3. weil er die platonischen Ideen, also Allgemeinbegriffe, als
Substanzen nicht gelten lassen will. Mit diesen Gründen
werden wir uns auseinanderzusetzen haben. Der erste ist
bereits erledigt, und wenn es gelingen sollte, die beiden anderen
ebenfalls als nicht stichhaltig zu erweisen, so *mufs das dazu
beitragen, jenes Schriftchen dem aristotelischen Gedankenkreise
nur um so ferner zu rttcken.
Zunächst wollen wir dartun, dafs wirklich das döoq als
ovola ütQoixTj mit dem logischen l($x<^ov elöog zusammenfallen
soll. Wenn das Aporienbuch (Met. B) den ursprünglichen Plan
zu einer geschlossenen Darstellung der Metaphysik bietet, wie
Jäger meiner Ansicht nach überzeugend dargetan hat, so hatte
Aristoteles die Ansicht, jene Gleichheit der beiden Begriffe des
elöog ausfllhrlicher zu behandeln. Beim 7. Problem (998 b 14
bis 999 a 23) ist die Antithesis (999 a 1—23) so gehalten, dafs
man unschwer erkennen kann: dies ist des Philosophen eigene
Überzeugung. Daran kOnnen auch die Einwände am Schlüsse,
die Aristoteles der gewählten Form wegen doch machen mufste,
nichts ändern; denn jeder konnte sie leicht auflösen: das elöog
ist wirklich nach seiner Lehre x<^0'^<^'^ov und ist ferner in ganz
anderem Sinne xaß-oXov als das yivog, sonst wäre es ja sinnlos
gewesen, nachdem einmal das Allgemeine im ersten Teile der
Aporie erledigt worden war, es mit einem ebensolchen noch
einmal zu versuchen. Aufserdem hat Aristoteles sich glücklicher-
weise klar über diesen Punkt ausgesprochen, de pari an. 644 a 24:
ijtsl öh o^ölat liiv elöt rä ecxara elöt], ravra öh xarä ro elöog
dölaq>0Qa, olov SmxQarrjg Koglöxog . . . vgl. 29 ovöla ro x<p
Digitized by
Google
1
80
elÖBc ätofiop als Beispiel a 31 und b 6—7 av&gcojtog; Sokrates
ist selbstverständlich ärofiov xar* slöog aber nicht selber löxaror
slöoq\ denn: oca aQid-fioJ xal alöet ev, oaa ö^elösi or jrctfTc
dgid^fdoj ovöla (Met 1016 b 86). Jede nicht letzte Art wäre
wieder Gattung der niedrigeren, und da die Gattung als du
xoivöv niemals ovala sein soll, so bleibt eben nur die unterste
Art dafür übrig.
Doch nun erhebt sich die grofse Frage: wieso sind letzte
Arten überhaupt möglieh? Sie sind gedacht als allseitig be-
stimmte, nicht femer teilbare {aroftov yäg rö 6/do^Met.Z. 1034 a8)
Einheiten. Das Individuum kann nicht gemeint sein; denn
dieses ist doQtörov (999 al — 3; vgl. m. 1010 a 1 — 4; ferner
1039 b 27— 30), und zwar einmal als Träger aller nebensächlichen
Merkmale (Met 1018 a 1—2; Phys. 196 b 28), sodann als zu-
sammengesetzt aus Materie, die überhaupt als Ursprung aller
Unbestimmtheit, mithin auch der avftßeßfjxora (1027 a 13 Met),
zu gelten hat (Met 1037 a 27 f.; 1049 a 36/7). Wollte also
Aristoteles eine wirklieh vollständig bestinmite ovcla gewinnen,
so mulste er die Materie von ihr vollständig absondern, und daher
lehrt er denn, das r/ ?jv elvai, die jtQokrj ovola sei völlig ohne
Materie zu denken (Met Z 5, 10, bes. 1032 b 14). Ist nun das
r/ T^v elvat wirklich identisch mit dem logischen Iöxcctov elöog,
so folgt, dafs materielle Merkmale überhaupt keine artbildenden
Unterschiede abgeben können. In der Tat ist dieser Gedanke
nicht nur in der Metaphysik, fttr die er eine der Grund-
voraussetzungen bildet (Met 1058 a 34— b 25), sondern auch in
logischem Zusammenhange klar ausgesprochen: An.po9tII. 13^
97 a 11 — 14: ov yäg xaxä jtäoav ÖLaq)OQav %tbqov ' ytoXlai yäg
duKpoQoi vjcaQxovöi TOtg avrolg rcj) siäst djüC ov xar' oröioj'
ovdh xad'' avrd (vgl. 37— -39). Es ergibt sich also der Satz: jede
wirklich letzte Art kann materielle Bestimmungen nicht ent-
halten.
Wäre jedoch äiejtgoiTfj ovala allein dadurch charakterisiert,
daTs die vhj von ihr ausgeschlossen sein soll, so kämen immer
noch die höheren Gattungen ebenfalls für sie in Betracht Eine
solche Annahme wird nun aber mit denselben Gründen be-
stritten, mit denen 2000 Jahre später Berkeley Lockes abstrakte
Ideen bekämpft: der Gattungsbegriff kommt mehreren Art-
begriffen gleichermalsen zu, müsste also, wenn er für sich
Digitized by
Google
81
gedacht wttrde, widersprechende Bestimmangen in sich auf-
nehmen (Met. 1039 b 2—4: ejceiza, el (ihv /lad-e^si [seil, ro g^or]
Tov dbcoöog xal rov jtoXvjtoöog, dövvaxov xt övfißalvei* rdvavxla
yuQ Sfia vjtäg^sL avrcp evl xal rtpöd xtvi ovri). In der Topik,
die das Bttstzeng des Peripatos im praktischen Disputieren
gegen fremde Liebren, auch gegen die Akademie, darstellt, ist
dieser Einwand gegen die Ideenlehre erhoben (143 b 23—32):
einen einheitlichen Begriff der Länge kann es nicht geben, denn
jede Länge muls entweder Breite haben oder keine, und daher
mttfsten diese Bestimmungen beide in einem allgemeinen Be-
griffe der Länge enthalten sein, wenn dieser wirklich alle vor-
kommenden Längen umfassen soll. Einem solchen Widerspruche
entgeht man nur dann, sobald man zu einem Begriffe kommt,
der nicht wieder zwei verschieden gearteten Gegenständen zu-
kommen kann, und einen solchen stellt das eöxatov elöog, die
Form, dar. Wenn wirklich materielle Merkmale nicht art-
bildend sind, so gehen diese also das elöog gar nichts an; für
dieses sind die Individua nicht mehr voneinander verschieden
(Met. 1058 b 5—12; 1074 a 33—36). So hat also das yivog, in-
sofern es stets unbestimmt ist, Ähnlichkeit mit der vJLtj, und
oft genug wird es direkt als solche bezeichnet. Met. 1057 b 37:
t6 yaQ xoLOvrov yivog xaZc5, o Sfigxx) iv xavxb Xiyexat /i?j
xaxä Ovf/ßeßijxdg Ixov öiatpogav, alß-'cog vXrj ov eix' äXXcog
(vgl. 1024 b 8; 1038 a 6; 1054 b 28; 1058 a 23— 24: xo 6e yivog
vXt] ov Xiysxac yivog). Nur muCs man solche Äufserungen nicht
zu wörtlich nehmen: es besteht lediglich eine Analogie zwischen
yivog und vXtj,
Aber es gibt wirklich nach Aristoteles zwei Arten der
Materie, die sinnliche und die geistige (1036 a 9; 1037 a 4;
1043 b 29; 1045 a 33—35); dies mufs man vor allen Dingen
sich merken. Die vXtj votjxij kommt den mathematischen Be-
griffen zu und soll also offenbar das ycoöov bezeichnen; so
kommt es, dals der Gegensatz ?r xax' elöog — l^v xax' dgid-fiöv
auch übergehen kann in ^v xax' siöog — ^ xatä xo jioöov
(Met 999 a 3; 1010 a 23— 25; 1016 b 23; 1053 a 20). Diese vXrj
voTfcq ist nach Met. 1086 a 9 ff. immer im Sinnlichen enthalten
und fttr sich allein nie vorstellbar; nur gehört sie nicht zum
Inhalte der Sinneswahrnehmung, kommt sie dem Sinnlichen
nicht als solchem zu. Betrachte ich nämlich das nocov, sofern
PbUoiophiich« Abhandlimgta. XXXXIV. Q
Digitized by
Google
82
es diesem SiDolichen zukommt, so wird es zam rojtog^ der in
allem Sinnlichen enthalten ist (de caelo 275 b 11 alod^br
(P ovdlv lifj Iv röjtq))] so versteht man anch die Gegenflber-
Stellung in der Schrift ttber die Seele: xarä Xöyov — xccra
xoütov {oä. iiiys^og) 413 b 15, 29; 432 a 20; 433 b 24/25, wobei
das TOJtq) dem dgi&fKp der Metaphysik entspricht: 427 a 5
Tojcco dh xal dgiO^/Kp döialgsrov; sehe ich dagegen von dieser
Beziehung des Jtoöov zur Sinnlichkeit ab, so fällt damit das
:jtov, der bestimmte Ort, fort, und man erhält das mathematiaehe
Jtoöov, die vXtj votitj] wie sie oben beschrieben wurde (Met 1092
6 fiev yaQ rojcog rc5v xa&^ txaörov Idiog, dio ji^copeöra rojrn,
tä öh fiaO-Tifiarixä ov jtov).
Nun sind wir soweit, um sagen zu können, wie etwa
Aristoteles seine „Form^^ gegen die Angriffe verteidigt haben
würde, die Berkeley gegen die allgemeinen Ideen richtet, und
wieso er glauben konnte, sein elöog werde durch die von ihm
selber gegen die platonische Idee erhobenen Einwände nieht
getroffen. Nehmen wir das Beispiel des Dreiecks: es ist etwa
zu definieren als eine Figur, die von drei sich sehneidenden
graden Linien begrenzt wird. Die GrOlse der Seiten und
Winkel geht diese Definition nichts an, sondern kommt über-
haupt erst in Betracht, wenn ich mit ihr die vXtj vorftf] ver-
binde, wenn ich also daran gehe, ein Dreieck mir wirklich als
eine Gröfse zu konstruieren. Durch diesen Schritt wird aber
etwas völlig anderes geschaffen (die Definition ist mit niehts
von dem, was nur irgendwie vXrj enthält, wirklieh identiseh,
s. u. S. 84), wird ein Übergang in eine andere Wissenschaft ge-
macht. Doch davon später. Wenn also die reine Definition
von den Teilen des ausgedehnten Dreiecks nichts enthalten
kann, so ist sie mithin vollkommen eindeutig bestimmt nnd
enthält keine widersprechenden Bestimmungen.
Völlig deutlich wird es, dals Aristoteles so aufgefafst
werden will, wenn wir nun zu der Met Z 10 behandelten Frage
übergehen, ob denn die Teile des Gegenstandes als Bestimmungen
in seinem Begriffe auftreten müfsten. Als Antwort findet Aristoteles,
dafs das reine elöog, befreit von jeder Materie, niehts von
etwaigen Teilen des Gegenstandes wisse. Aus dem Begriffe
des Kreises (rb ix ^lioov oxfjficc laov) lassen sich Halbkreise,
Segmente usw. nicht ableiten, sondern um solche „Schnitte''
Digitized by
Google
88
führen zu können, mnfs man notwendig vXtj binzanehmen.
Freilich stelle diese Materie eine Zwischenstufe dar zwischen
der sinnfälligen, z. B. Erz oder Wachs, nnd dem immateriellen
elöog, nnd daher kann immerhin noch von einem Xöyog jenes
teilbaren, mathematischen Kreises oder der Silbe geredet werden,
während das Material, ans dem Buchstaben oder Kreise her-
gestellt werden, niemals in einen Xdyog aufgenommen werden
könne. Auch dadurch also tritt der Unterschied beider Materien
als alcdTftfj und vorittj deutlieh zutage.
Eine im ersten Augenblicke etwas überraschende Problem-
stellung ¥rird dies Verhältnis zwischen Begriff und Materie
weiter klären helfen. Met Z 6 handelt über die Frage, ob das
t/ 9/r dvai mit seinem Gegenstände völlig übereinstimme oder
nicht, und bei welchen Gegenständen dies etwa der Fall sei.
Dies Kapitel behandelt auch P. Natorp in seinem Buche über
Piatos Ideenlehre (S. 389 „Die Form als Definition^); aber hier
scheint er mir den Sinn der Ausführungen verfehlt zu haben,
und da er gerade daraus jene von uns vor allem bekämpfte
Behauptung ableitet: für Aristoteles fielen Einzelding und Idee
zusammen, so müssen wir auf den Gedankengang näher ein-
gehen, und zwar von dem Punkte an, wo der Philosoph zu den
xa»' avrä Xerö/ieva übergeht (1031 a 28). Die Frage heilst:
JtorsQOV ravTOV ioziv rj h^sgov rö rl ^v sivai xal %xaCxov
axsyniov {ixaarov heilst „ein jedes^, nicht „das Einzelding^,
wie meist übersetzt wird, s. o. S. 71/72). Die Antwortet lautet:
Bei allen wirklich ursprünglichen Substanzen, denen also keine
anderen irgendwie übergeordnet sind, fällt ihr Begriff mit ihnen
selber völlig zuammen; denn täte er es nicht, so wäre er not-
wendig eine höhere Substanz, und die Voraussetzung, es solle
keine übergeordneten Wesenheiten geben, wäre verletzt. Wenn
also die Ideen Piatos z. B. solche ursprünglichen Substanzen
sein sollen, so müssen sie mit ihrem Begriff, ihrer Definition
identisch sein.^) Im folgenden bat sich dann Aristoteles durch
die Polemik gegen Plato wie so häufig von seinen Gedanken
etwas abführen lassen. Doch wird das Resultat noch einmal
0 Hiernach glaubt Aristoteles also -- und das bestätigen anch andere
Stellen ~, nach Plato sollten sich Idee and Definition inhaltlich nicht
völlig decken. Wieweit das Eutriflft, wollen wir nicht weiter untersachen;
sicher treibt hier der jonog voi^toc sein Unwesen.
6*
Digitized by
Google
84
klar aiiBgesprochen: die hinreichende Bedingung, damit etwas
mit seinem Begriffe zusammenfalle sei die: es müsse xa&* airc
jcal jcQwra gesagt werden (1031 b 19 heilst avrd ixacrov wieder:
ein jedes Ding nach seinem Wesen). Aach beim avfißeßrpck
fällt die betreffende Eigenschaft mit ihrer Definition zusammen,
wenn man sie nnr reinlich absondert und nicht das Subjekt,
dem sie anhaftet, mitfalsi Resultat: 1032 a 5 — 6 ort fiev oir
ijcl r(DV ütQ(Dxa)V xal xaff^ avxä jLeyo/iivfDV ro exacrcp eirat
xäi txaotov xb avxb xal %v iöxi, öfßov. Welches er selber
fUr jene ursprünglichen Substanzen hielte, hatte Aristoteles in
Z 6 selbst nicht gesagt. Daher ist die Stelle am Schlüsse von
cap. 11, die den Inhalt jenes Kapitels rekapituliert und seine
eigene Ansicht durch Beispiele erläutert, Wort für Wort wichtig.
Denn nun zeigt sich, dafs er mit jenen xa^' avxä xäi jtgdna
Xeyöiieva lediglich die reinen, von aller Substanz befreiten £idr;
gerade im Gegensatze zum £inzelding, zum axyvoZaVf gemeint
habe. Er fbhrt das bekannte Beispiel der xafutvXöxfig an und
sagt ausdrücklich: fttr Materie und Einzelding gälte das Resultat
von Z 6 nicht: 1087 a 33— b 7.^) Dals zum mindesten an dieser
Stelle Ixaöxov nicht das Einzelding bezeichnen kann, mnis
wohl jeder zugeben. Ein weiteres lehrreiches Beispiel ftr
diesen selben Gedanken liefert H3; die Definition käme nur
dem bUo(; zu; die Seele sei mit ihrem Begriffe identisch, der
Mensch aber (also b16o(; + vXtj) durchaus nicht; die Materie ist
ja, wie wir sahen, in der wahren Definition niemals als Be-
stimmung enthalten. Es sei denn, fügt der Philosoph hinzu,
auch die Seele könne Mensch genannt werden, und dann sei
dieser im einen Sinne mit seinem xl ?)v alvai identisch, im
andern nicht. Damit glaube ich auch den sachlichen Angriffen
Natorps den Boden entzogen zu haben.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich nun aber, dafs
Aristoteles nicht nur das Einzelding und die Definition fUr
etwas Grundverschiedenes hält — das wäre nach Plato keine
>) xal Sri xb tl ^v slvai xal Hxaarov inl nvwv fxhv ravxov, oMnrff
inl T<öv 7CQWT(ov ovai(ov, olov xafJinvXoxrjg xal xafinvXoTijxi tbiai, h
TCQioxri iaxlv, Xiy<a Sh nQfixrjv, fj (irl Xkysxai x<p aXXo iv aXkip tlvat xtd
vnoxetfiivip (oq vXy ' ooa 6h cJ$ vXrj tj wq aweiXrjfJifiiva xy vkfi ov xavto
ov6h ooa xaxä avfjißeßfixbq iv, olov 6 SofXQaxrig xal x6 fxovaixov • xavta
yaQ xavxa xaxä av/jißtßijxoq.
Digitized by
Google
85
grofse LeistuDg mehr gewesen — , sondern er scheidet anch
die Definition von einem, wenn anch dnrch sie ToUkomraen ans-
gedrttckten Gegenstande, eben dem ri ^v eivai; so allein ist anch
der oft wiederkehrende Ansdrnck gerechtfertigt: to r/ f]v elvai, ov
6 Xoyoq oQLöiioq (1017 b 21, 22 Met.; vgl oben S. 66 § 29). Diese
Beobachtnng ist bei einem Denker, der die Snbstanzialität der
Idee so hartnäckig bekämpft, von besonderem Interesse. Von
wirklich fundamentaler Bedentnng ist jedoch die Entdeckung,
dafs anch bei den Gegenständen der Mathematik der Begriff
von der als Gröfse gedachten Vorstellung zu unterscheiden sei:
jener falle mit seiner Definition vollkommen zusammen, diese
jedoch nicht, enthalte vielmehr vXy} (votjr?]). So kommt Aristoteles
zu der Scheidung von Begriff und Anschauung, die uns dnrch
unsere Spracheso leicht gemacht ist, für die er jedoch in der seinen
keine Ausdrücke fand. Hier mnfs unsere Untersuchung noch ver-
weilen; denn nun erst sind wir bei dermodern etwasoausgedrtlckten
Hauptfrage angelangt: gibt es allgemeine Anschauungen?
37. In allem bisher Besprochenen nämlich ist noch nicht
dasjenige zur Geltung gekommen, was man im engeren Sinne
als abstrakt zu bezeichnen hätte. Aristoteles selber hat durch
seinen Terminus dg)alQeöig den Anstofs zur Bildung des Wortes
Abstraktion gegeben; es gilt also nun zu untersuchen, was er
mit seinen k§ ä^aigiöecDg Xeyöfisva gemeint habe, nnd wie sich
diese Lehren einordnen in die bisher vorgetragenen Gedanken.
Den Übergang gibt uns eine Erörterung des 10. Kapitels im
Buche Z der Metaphysik, die ganz vereinzelt geblieben ist,
und die uns belehrt, dafs es eine vXrj (6g xad-oXov gebe im
Gegensatze zu einer icxcctr] vXrj: 1035 b 27 6 rfe av&Q(OJtog xal
6 Yjtjtog xal rä ovroig Ijti zmv xad-^ %xacra, xad-oXov 61, ovx
börlv ovola, dXXä övvoXöv xi Ix rovöl rov Xoyov xal rtjcdl
tfjg vXj]g (Dg xad-öXov ' xad^* txaiSrov &bx xfjg köxdrijg vXf/g 6
2!(oxQdT7]g rjöf] löxlv xal Ijtl töjp aXXcor ofiolcc^g. Gleich darauf
wird dieser Unterschied mit vXt] vorjrij und alöB^ijTy wieder-
gegeben, den wir ja bereits kennen; in der Tat kann ja eine
vh/ oyg xad-oXov niemals sinnlich sein nach aristotelischen
Voraussetzungen. Wir lernen also hinzu, dafs ein ovroXov aus
Form nnd Materie nicht notwendig ein Individuum ergeben
mtisse. Ordnen wir demnach alle Gegenstände nach ihrer
metaphysischen Beschaffenheit, so ergibt sich folgende Tabelle:
Digitized by
Google
86
ri Tjv alvai I ^ {iöxcirfi vXfj) l^v xar' dgiß-fior
ÖQiöfiog I fjZti vorftri _ (olov xä [la^-
(ßv xaz' elöog) [ \vX7i<&gxad'6Xov)~ fiarcxd)
Beispiele:
0(palQa = ro ^x f a) /a^lxo? = riöe y x^^^V <^^^^Q^
Hiöov Oxfifdcc Icop \ b) fitya&og = o^atga fia&fjftartxt}
oiov
^ ävd-Qcoytog = , .
tpvx>] ^ICCVOIJTtXf}
V aide al cdgxag „ ,
ra OB xa ooxa
b) ö(öfia = ^oJov dlxow
Als ovölai^ das heilst als selbständig existierende Gegen-
stände, können nur die ersten drei Arten {eUog und Groppe a)
angesehen werden, nnd zwar im höchsten Sinne nur das döoi.
Dieses ist an sich ohne Umfangsbeziehnng; denn es kann je
nach der Art der hinzutretenden vkrj sowohl das Einzelne wie
auch das Allgemeine konstitnieren. Und jetzt werden wir uns
an die feine Bemerkung An. post. 77 a 3 gern erinnern (& o.
§ 34 Schlufs). Die Gruppe b) kann immer nur an einem
Sinnlichen existieren, ist niemals ovola (Met 1035 b 28; 1036 a 10),
wird freilich, und das ist nun die Hauptsache, immer so be-
trachtet, als wenn sie fttr sich bestünde. BUermit haben wir
nun genau das gefafst, was Aristoteles sonst xa ig dq>aiQe6H)^
XsrfoiiBva nennt, und wofür er meist auf die mathematischeD
Gegenstände, die ja auch an unserer Stelle zur Charakteristik
herangezogen werden, exemplifiziert Aber man darf nicht
sagen, der Begriff dieses Abstrakten werde yon Aristoteles nur
auf die Mathematik eingeschränkt. Ebensowohl, wie ich to
diesem gezeichneten Dreieck nur die Lagebeziehungen tod
Seiten und Winkeln in Betracht ziehen kann, also die Aus-
dehnung im allgemeinen, ebenso kann ich diese Nase — um
ein oft benutztes aristotelisches Beispiel zu gebrauchen — Dar
in ihrer Eigenschaft als stumpfnasig betrachten. Das ergibt
den allgemeinen, wenn auch nicht substanzi eilen, Begriff der
CiiiÖTTjg] und so sagt denn Aristoteles auch de an. 429 b 18:
jtdXiif de ijtl xwv Iv d^aiQeösi d^n^an' xo evd^v cog xö omor'
Digitized by
Google
87
lisxä cwBx^^ 7&Q' 0 Unsere obige Zasammenstellnng zeigt
ferner mit voller Deatlichkeit, dafs der Unterschied der bIötj
und dq>7jQ7]fi6va^ der Objekte der Metaphysik und Mathematik,
kein hlots logischer sei und auf dem Grade der Abstraktion
beruhe: lediglich die vXij, die niemals wegabstrahiert werden
kann, da iu allen Dingen vX?] enthalten ist und folglich dg
xad-oXov in jedem Abstrakten stecken bleiben muls, gibt das
Kennzeichen ab. 2)
Zu bemerken ist noch, dafs es von jenen abstrakten Gegen-
ständen der Gruppe b) auch eine Definition gibt mit allen ihren
oben dargestellten, formell logischen Eigenschaften, wenn auch
nur in uneigentlichem Sinne (Z 5, 1031 a 1 — 14) oder, wie es
an anderer Stelle heilst, xax" dväXoylav: H2 — 3 (1043 a 4).
Das dort angefahrte Beispiel ist wieder recht lehrreich. Das
ddoq des Hauses ist axdjtaöfia (1043 a 33) oder dyystov cxBJia-
OTixov (a 16); die Definition des övyoXov : jtXlvd-oc xal Xld-oc
didl xelfdsva, Aristoteles selbst warnt, dies beides zu ver-
wechseln (H 3 Anfang); nur das slöog ist ovola, nur das elöog
wird durch seine Definition vollkommen zum Ausdruck gebracht,
nur das slöog enthält nicht die Teile des Gegenstandes als
Bestimmungen, dies alles aber deshalb, weil es allein von aller
Materie frei ist
Femer ist es natürlich nicht nötig, dafs gerade die unterste
Art in dem Abstraktallgemeinen stecke; es kann sich in einem
solchen auch einer der im elöog enthaltenen Gattungsbegriffe
mit der vXij (hg xad-oXov verbinden. Denn diese h^ äfpai-
Qtötcog XBy6(iBva werden so gewonnen, dafs man an einem
Sinnlichgegebenen eine Keihe von Merkmalen ttbersieht und
nur die andern gemeinsamen betrachtet (Met.M2 — 3, 1077 b 12 ff.).
In diesem Prozefs braucht man nicht z. B. beim Menschen
stehen zu bleiben: Dieser kann auch als ^wov untersucht
werden; nur dafs auch da die vXi] nicht schwindet; denn diese
ist allen g(pa gemeinsam. Aus diesem Grunde heifst es Met.
') In der Erklär ODg dieser Stelle zeigen die beiden Auflagen des
Trondelenburgschen Kommentars eine interessante Abweichsng. Die
zweite Anflage kommt unserer Auffassung näher; nur können wir nicht
zugeben, dafs es sich nur um Grade der Abstraktion handle. Siehe
S. 395 der 2. Anflage.
*) Siehe Anhang 4.
Digitized by
Google
88
1037 a 6: 6 de äv&Qcojtog ^ r& ^diov xb Ig d(iq>olv <&q xct&oXor.
In der Mathematik ist es ganz offenbar, dab auch an einer
sinnlichen Fignr, sofern sie ttberhanpt ein Polygon ist, etwas
bewiesen werden kann, dals dabei also die Abstraktion weiter
nnd weiter getrieben wird.
Die Mathematik und damit alle beweisende Wissenschaft
hat es nnn mit jenen ^g dg>aiQ^ö6cog Xsyofisva zu tun. Wamm
geht sie nicht von den bIötj selber ans? Dafs sie es nicht tat,
kann keinem Zweifel unterliegen; denn die biöti gehören ja
zur jtQcirfi <piXoöo(pla. Aber jetzt wird uns anch der Gmnd
deutlich: alles beweisbare Wissen geht auf die allgemeinen,
nicht im Wesen enthaltenen Eigenschaften, z. B. aggsv-^ßv
beim Lebewesen, Ttegmov-aottov bei der Zahl, 'löop-aricor
bei der Gröfse, sv&v-xdfjUtvXov bei der Linie usw. (Met. Z 5,
1030 b 21 f.; de an. 402 a 15 t(dv xarä övftßBßtpcÖQ lölaw «.to-
ÖBi^iq An. post. 73 a 18 f.; 76 b 7 f.). Diese sind aber niemals
aus der reinen Form ableitbar, sondern treten stets erst mit
der Materie auf: Met. 1058 b 21 rb 61 aggsv xal &tjXv vor
gcöov olxBta liBV jcdd-fj, dXX^ ov xarä rijv ovölav dXX^ Iv rj
tU^ xai Tfo öwfiati. Deshalb mufs man immer ein Sinnliches
vor Angen haben in aller beweisenden Wissenschaft, betrachtet
dies jedoch nicht als solches, sondern — genau wie die rx//
voT/TT] selber — nur in einer bestimmten Beziehung, gleich als
wenn diese abstrahierbar wäre: Met. 1078 a 5 xokXä 6b orfd-
ßißfpcB xaö-' avrd rotq Jtgdy/iaöi ^) ixaotov v^dgxBc rcSr roi-
ovTcov, ijcBl xal ^ d^Xv rb ^<pov xal ^ äggBv, I6ia Jtdd^ lorir,
xalrot ovx Icxt ri BrjXv ov6* aggev xBX(x>giö(jtBvov rcöv Coicn*'
SöxB xal ^ nr]xri fiovov xal ^ ijtljiB6a, 21: ägiöra 6*av ovro
d^Boygrid^Bli] ixacrov, bX rtg rb iitj xBxa}giöfidvov d-Blrj x^^^<^^>
ojTBg 6 dgid-fiijrcxbg ütotBl xal 6 yBmpiirgrjq usw. Damit haben
wir nun auch den Sinn jener Hinzufttgung des Seins gefunden
(oben § 34), die in den An. post. verlangt wurde, damit ein
Zusammenhang zwischen ogoq und den cvfdßBßfpcora xa&^avra
ermöglicht werde. Dafs nämlich etwas, dessen Begriff gefunden
ist, nun auch wirklich „sei^, dies festzustellen sollte Aufgabe
der Bjcaycoyrjy des Abstrahierens also aus den Wahrnehmungen,
sein (An. post. 1, 18; II, 7 Anfg.), und damit ist ja die Beziehung
auf die vXt] unmittelbar gegeben; so steckt auch in jener Hinzu-
fUgung des Seins die Meinung, dafs erst die Verbindung des
Digitized by
Google
89
reinen Begriffes mit der vXt) die Grandlage abgeben könne für
den Znsammenhang, den die syllogistische WisBenschaft auf-
zeigen will. Allgemein sind ihre Sätze, soweit es eine vX?]
ojg xa^öXov, eine vkrj voTjrtj gibt. (Man vergleiche damit die
Kantische Erklärung: synthetische Urteile seien nnr mit Hilfe
der Anschanung möglich ; synthetische Urteile a priori nur mit
Hilfe einer reinen Anschauung). Gibt es nun also nach Aristo-
teles allgemeine Anschauungen? Nein, ftir sich nicht, sondern
immer nur an einer sinnlich individuellen, davon nicht abtrenn-
baren. Hier weiter zu forschen, wird Aufgabe der Psychologie sein.
38. Um den Unterschied der ^g dq>aiQioBa)q Xsyofdsva und
der ttÖTj recht hervortreten zu lassen, wollen wir nun einmal
die Merkmale zusammenstellen, die das Wesen der Substanz
ausmachen.
Diese soll erstens iSjtoxelfievov sein; daraus hat man ge-
folgert, nur das Einzelding könne Substanz sein. Doch das
will Aristoteles gar nicht. Ein vjtoxel/jisvov gibt es in drei-
fachem Sinne, als eldog, als vZi] und als övvetXrmiiivov (Met.
Z 2, 1029 a 2). Wie wenig zureichend aber diese Wesens-
bestimmung der Substanz ist, zeigt besonders einmal J8,
1017 b 23: Ovfißalvec xara ovo TQÖJtovQ rrjv ovolav XiyBöO-at,
xb vjtoxslfisvov eöxccrov, o lifjxixt xar' äXXov Xlyerat, xal
o av x66b xt 6v xal xcoQiCxov xi ' xoiovxov de exäoxov iy [JioQtpij
xal xb sldog, und ferner An. post. 83 a 24 f., wo xaxd xivog
xaxriyoQtlod-at gar nicht identisch ist mit xaff* vjtoxeinivov
Xtyec^ai, sich dies letzte vielmehr blofs auf die övfißsßTjxoxa
bezieht (vgl. 78 b 8). Sehr wohl kann also die Substanz Prä-
dikat eines Urteils werden, allerdings nur eines Urteils von
ganz bestimmter Beschaffenheit; vjtoxelfisvov hat mithin keine
rein logische Bedeutung, ist vielmehr erst durch den Gegensatz
ovala-övfißsßfixög selber bestimmt und daher wenig geeignet,
ein festes Kriterium für die Snbstanzialität abzugeben. Aber
selbst wenn man ihn vollständig einheitlich fassen wollte, als
das absolut letzte Subjekt aller Prädikate, so würden wir
dadurch nach Aristoteles' Ansicht doch nicht auf die sinnlichen
Einzeldinge geführt. Die ovcla als sldog kann in der Tat
ausgesagt werden, wie die bisher angeführten Stellen beweisen
(vgl. noch 1043 a 6 ro xf/g vXrjg xaxriyoQovuevov avxf) tj ireQxsia\
aber ihr Subjekt ist dann die vXtj: Met. Z 1029 a 23 xä (lev
Digitized by
Google
90
yaQ äXXa rfjg ovclag xaxrjjoQBlrai^ avvij 6^ xffq vXtjg cSan xo
Icxarov xad^ avtd ovre xi ovre Jtocöv ovre äXXo ovöer ioTir
ovde al djto^dösig. DenÜieh also wird hier jenes Etwu
bezeichnet, das durch keinerlei Aussage bestimmbar ist, das.
wie es an anderer Stelle heilst, völlig unerkennbar ist 1036 a 8
/} 6^ vXtj ayvmcxoq xad-^ avxrjv. Dafs diese so gefaüste Materie
nicht metaphysisch das Subjekt aller Wesensbestimmtheit sein
könne, ist klar, und an der besprochenen Stelle wendet sieh
dann auch Aristoteles mit Nachdruck ab zur fioQg>fj, als der
wirklichen jtgcixtj ovöla, nicht ohne hinzuzufügen: 1029 a 30
XTjp fisv xolvw ig d(iq>otv ovölav, Xiya} öh x^v ex xe xyg rxi/j
xal xfjg (iOQg>fjg (also das Einzelding) d^exiov ' vcxiga 7C(»
d^ßri ' <pavBQä öi Ttcog xal fj vXrj. Daraus schlieüsen wir, dab
Aristoteles selber den Begriff des vjtoxelfisvov in seinen
äufsersten Eonsequenzen als Kriterium der xQ(6xtj ovola ver-
worfen habe.
Wir müssen es Aristoteles schon glauben, dafs er die-
jenigen Merkmale, die er sowohl hier, als auch 1017 b 23 f.
dem v3toxel(iBvov vorzieht, wirklich als die für seine jrpoJr/i
ovola wesentlichen ansieht: 1029 a 26 Ix fiev ovv xo-vxan' &H'>-
qovCl ovußalvH ovölav alvai X7]v vXtjv. äövvaxov öi^xal fc{*
xb x(X)QtGxdv xal xo xöös xc vjtaQxsiv öoxtl fidXiöxa xf} ovoui,
dco xo ddoq xal xb i§ dfig>otv ovola öo^eiev av dvat [iäXXor
xfjg vXfjg, Dafs nun das elöog, die Form, dieser Forderung
vollkommener Bestimmtheit und daher Unabhängigkeit genüge,
dafür gibt es mehr als genug Belege; dafs die Form allein
sie vollständig erfülle, wird sich ebenfalls zeigen; und doch
hat man gerade dies verkannt, mufste es verkennen, wenn
man auch in den metaphysischen Schriften die Lehre finden
wollte vom Einzelding als der höchsten Substanz. Zeller
schreibt, Ph. d. Gr. 11,2, »340: „Die Form oder der Begriff ist-
[nach Aristoteles nämlich] „immer ein Allgemeines, sie bezeichnet
nicht ein Dieses, sondern ein Solches.'^ Von diesen Behauptungen
ist die erste zwar richtig, aber in ihrer Uneingeschränktheit
irreführend: wir fanden bereits mehrere Arten des Allgemeinen,
die mit dem slöog nicht zusammenpassen: xb yevog, xa or/i-
ßeßt^xoxa xad-^ avxä, xd ig dg)aiQeoea>g XsYOfiSva, die zweite
beruht auf einem Mifsverständnisse, und die Stelle, die dies
veranlalst hat, ist auch für unsere Betrachtung recht lehrreiek
Digitized by
Google
91
Zeller zitiert Met. Z 8, 1033 b 21, lälst freilieh gerade das Sub-
jekt zu jenem roiovös fort; und das ist in der Tat nicht ganz
einfach zn finden. In diesem Kapitel hatte der Philosoph
vorher immer wieder behauptet, das elöog sei, genau wie die
Materie, ein roöe n (1033 b 3, 10, 13, 19), und dies entspricht
aach seinen sonstigen Äufsernngen (Met. 1017 b 25; 1029 a 28;
1042 a 29; 1003 a 10; 1030 a 3, 6, 19; 1037 b 27; de an. 412 a 8).
Unglttcklicherweise aber wendet er sich von b20 ab wieder
gegen Plato nnd schliefst: g>aveQdv aga ort ij rwv slöwv alrla,
(og dfod'aöl rcvsg Xiyeiv rä elÖTj, el ecxiv äxra jtagä rä xad-^
%xacxa, jtQoq re rag yeviöeig xal rag ovclag ovöhv XQV^^l^^*
Also mnfs er doch im vorhergehenden von seinem ddog zum
platonischen übergegangen sein, and das Subjekt des von
Zeller zitierten Satzes ist bereits dieser bekämpfte Begriff.
Der Unterschied wird durch die verschiedene Wirkung des
aristotelischen und platonischen ddog klargemacht: jenes schafft
ein rorfl ^x xovöl (b 3), ein (htav röös (b 24), d. h. wirkliche Indi-
vidua, wie Eallikles, Sokrates, und ist somit brauchbar als
Snbstanzbegriff; dieses hingegen erzeugt nur ein rode roiövöe
(b 24), ein Abstraktallgemeines öq)alQa x<x^xfj oXwg (b 26), also
keine Substanz, und deswegen ist es unbrauchbar. Der Fehler
ist demnach bei Plato der, dafs er jenes Allgemeine, das immer
nur an einem Sinnlichen gedacht werden kann, loslöste und
zum Erzeuger dessen zu machen suchte, von dem es doch
abhängt. Da jenes abstrakte Haus ein roiovös ist, d. h. Un-
bestimmtheiten enthält, so kann es nicht ovola sein. Soll in
diesem Kapitel der Schlufs von b20 an nicht dem Anfang
strikt widersprechen, so muls man eben jenen Unterschied des
elöog und dtpi^QTinivov anerkennen, den wir schon unabhängig
von dieser Stelle charakterisierten. Natürlich ist es ganz
besonders wertvoll, dafs hier Aristoteles in dieser Unter-
scheidung zugleich sein Verhältnis zur platonischen Lehre zu
fassen sucht.
Auf dasselbe Ergebnis, vielleicht noch etwas klarer, fuhrt die
Untersuchung des mit dem rdöe ri fast gleichwertigen xwqlcxov.
Das döog ist x<^Q^or6v^ daran kann kein Zweifel sein (aufser den
oben Zeile 6 angefahrten Stellen : 107 1 a 8), schon weil es hvrtXixBta
ist (de an. 412 a 10: xb & elöog IvraXexeta; vgl. 21, 414 a 17;
Met Ö8): ^ yaQ kvreXixeta x^Q'^t^h Met. 1039 a 7. Natürlich
Digitized by
Google
92
XcoQiördv xara X6yov\ etwas anderes ist undenkbar, da das
ddoq niemals ein iV aQtO-ficp, rojtm, fieyed-st, ücoco} sein kann
(s. 0. S. 81/2). Das Abstraktallgemeine dagegen ist ein jrooor.
fuhrt vXfj bei sieh und kann daher niemals x^()£0rdi' xcnra to
slöog oder xarä xov Xoyov sein. Anf der anderen Seite kann es
aber aneh nieht x^()£<Tro^ xaxa x6 jtocöv sein; denn das sind
nur die Individna, von denen dieses Abstrakte ja niemals ab-
lösbar sein soll. Somit kommt ihm das Prädikat x^Q^^^^' ^
keinem Sinne zn, nnd folglieh ist es aneh nieht ovöla. Zndem
kommt gegen die dtpxiQW^'^^ dasselbe Bedenken wie gegen die
yivTi io Betraeht Denn sie sind es ja, denen die övfißeßjpcora
xad- avra anhaften; ^^(»fOTa, für sich betrachtet, sind sie
daher xotvd, unbestimmt, können widersprechende Dinge unter
sich befassen; wie die yivri, so können also auch sie nicht
Substanzen sein.
Aristoteles unterscheidet scharf drei theoretische Wissen-
schaften ütQcoTT) q)tXo6o(pla (d-eoXoyla), fiad^Tjfiovixfj und fpromi
z. B. Met. E, 1026 a 18 f.; de an. 403 b 11—16: 6 ^vcucoq jf^Qi
ajtavd^oöa rov rotov^ öwfiazog xal rfjg roiavTTjg vXrjg iQja
xal jtd^T) • o6a de fiij fj roiavra, äXXog, xal jtsgl rirwv fiir
tbxvIttjg, iäv rvxxi, olov rixxwv ^ largög, t(5v de fiij ;i^co()«örc>r
fiiv ij de fi^ roiovTOv öcifiarog Jtdd-i] xal i§ dq>aiQic%(og , o
f4a9-7]f4arix6g, i] 6h xexcoQiOfj^va 6 jtQwrog g>iX6öo(pog. Nehmen
wir das Beispiel der Kugel. Die reine Form, das elöog (nicht
die Gestalt als Gröfset!) gehört zum Gebiete der xQcoTfj
ff)iXo(Sofpla\ damit kann beweisende Wissenschaft nichts an-
fangen, wenn sie nicht das Sein dieses Begriffes ebenfalls an-
nimmt, und das kann sie nur, wenn sie es an einem, dabei
freilich als solchem nicht in Betracht kommenden Sinnlichen
anwendet; so wird aus dem elöog ein Ig dq)aiQi6Bcog XvfoiiBvor,
das zur mathematischen Betrachtung tauglich ist. Die Erz-
oder Wachskugel endlich, sofern ihr Material in Betracht kommt,
gehört zur Physik; auch diese beschäftigt sich nicht mit dem
Individuum als solchem: das tut keine Wissenschaft, wenigstens
keine theoretische, aber sie sieht doch auch nicht von der sinn-
fälligen Materie ab. Diese bewundernswerte Scheidung der
Wissenschaften verliert völlig ihre Kraft, wenn nicht auch die
Objekte ebenso scharf voneinander gesondert werd^, also vor
allem eUog und d^i^iQfifiivov. Das kommt aber in den Dar-
Digitized by
Google
93
Stellungen der aristotelischen Philosophie nieht genügend zam
Aasdruck. Pkto, so meint Aristoteles, falste seine Ideen ganz
in der Weise mathematischer Gegenstände, löste sie aber dennoch
von allem Sinnlichen völlig ab. Das ist ein Widersprach, be-
hauptet er; and mit Recht: denn das würde die Annahme einer
Binnenfreien, übersinnlichen oder reingeistigen Anschanang be-
deuten, die es nun einmal nicht gibt
39. Es bleibt nur noch übrig, dafs wir vom Verhältnis des
Allgemeinen zur Erkenntnis, zum vovg sprechen. Met A 7, 1072 b 22
heilst es: ro yäg ösxrixbv rov vot/tov xal rfjg ovolaq vovg,
IvsQyel ÖS excov. Und vorher: eaxrudv öi voBt 6 vovg xazä
fisrdXfppiv rov votftov ' vorjrog yäg ylyvBxai d^tyydvcov xal voqjv,
SöxB ravxov vovg xal votjtöv. Wie Plato, so vergleicht auch
Aristoteles dieses Erfassen des votjtov mit dem Wahrnehmen
(An. post 76 b 36, de an. 430 a 17, b 27). Und ähnlich, wie die
Wahrnehmung der spezifischen Qualitäten, der iöiaj nur wahr
sein kann (de an. 418 a 11; 427 b 12; 428 b 18: ^ aiod-rjoig röiv
(iiv lölov äXijdrjg löXLV dsl rj ort oXlytoxov Ix^ovoa xb ypsvöog),
so ist auch bei jenem einfachen Erfassen des vovg keine
Täuschung möglich: entweder er „begreift^ seine Objekte
richtig, oder er kennt sie gar nicht (Het 9 10, 1051 b 23 f.;
de an. 430 b 29: ScntQ x6 bgäv xov lölov äXt^d-ig, et 6* ävV-Qwjcog
xb Xsvxbv 7) (ifj, ovx äXTjd-hg del, ovxoog ex^t oöa ävav vXtjg).
Wenn nun der vovg ständig wirkend gedacht werden mufs, so
ist sein Wesen eben vobZv (de an. 429 a 22 — 24), und daher ist
er mit den sldrjj den voijxd, identisch: ijtl filv yaQ xöjv ävev
vXrjg (natürlich in ganz strengem Sinne), xb avxo kcxt xb voovv
xal xb voovfisvov de an. 430 a 3, 20. i) Dann müssen aber alle
Prädikate sich austauschen lassen, und dies ist in der Tat der
Fall. Einmal nämlich werden die slörj stets als kvegysla ovxa
bezeichnet (Met 1043 a 5; 1045 a 13; 1051 b 28; 1071 a 8);' hierin
haben wir nur einen neuen Ausdruck für die absolute Bestimmt-
heit der Form zu erblicken; denn das Gegenteil dieses Begriffes,
övvafiig, umfalst alles das, was noch weiterer Bestimmung zu-
gänglich ist, also yivog und vXij. Und umgekehrt ist der vovg
jtocT/xtxög^) allein x^Q''^'^^^ (de an. 429 b 21 xal oXcog äga cog
0 Vgl. Met -4, 1 074 b 21 f. ; 1075 a 8 f.
«) Siehe Anbang S«
Digitized by
Google
94
X<oQtOra xä jcgayfiaxa tfjg vXrjg, ovrco xal ra xbqI rbv vovr,
d.h. abtrennbar ist nur der vorq, der die Form denkt, niebt
der, der die mathematischen Gröfsen bearbeitet; vgL 429 b 5:
430 a 17, 22, b26), selbstverständlich ebenfalls xccrä la^r
(429 a 10—12): alles andere hätte keinen Sinn. NatOrlich sind
anch die abstrakten Gegenstände vofjTci; der Ansdmck ibj
voTjTf] weist schon darauf hin; aber sie werden nicht xar
ivsQYsiap, d. h. nicht xexwQiOfiivcoq gedacht: de an. 431 b 12
rä öh Iv d(paiQiCBi Xsyofjtsva voet Söxeg av el ro öifiov, y fikr
Ctfiov, ov xexcoQiöfjiivoog ovto) zä fia^fiattxä ov xexa^Qto-
fiiva (6g xex<oQiö/jiiva voet usw. Darttber Genaueres im folgeodeo
Abschnitt.
Diese letzte Unterscheidung wird nun besonders gut er-
läutert durch die Analytiken, die durchgehend btiar^fiij cbto-
öeixxixrj von einem noch höheren Wissen, durch das wir fttr
jene die Voraussetzungen besäfsen, unterscheiden; und dieses
höhere oder frühere ist der vovg (z. B. 88 b 86 Uya> yag vovv
dgxfjv kmoxri(ii]g\ bes. 100 b 5—17). Das Wichtigste ist nun,
dafs wir dort auch erfahren, wieso die bticxijiifj nur eine Er-
kenntnis öwd/isi verschaffe: die Kenntnis des Allgemeinen, %. R
dafs in allen Dreiecken die Summe der Winkel zweien Reehten
gleich sei, gibt nur die Möglichkeit, dies auch ftLr ein be-
stimmtes, z. B. rechtwinkliges Dreieck einzusehen; nin die
Wirklichkeit dieser Erkenntnis zu gewinnen, muls ich mich
erst auf anderem Wege überzeugen, dafs es ein rechtwinkliges
Dreieck gebe (86 a 22); dies geschieht zuletzt durch Wahr-
nehmung (An. post 118, ausdrücklich für xä i| dg>atQecioK
Xsyofisva'j II, 7 Anfg.). Noch etwas genauer wird derselbe Ge-
danke An. pr. II, 21 behandelt (besonders 67 a 27 f.)« Dort er-
fahren wir, dafs zur vollen Erkenntnis aufser der Kenntnis des
Allgemeinen und der Wahrnehmung des Einzelnen noch eine
iTtiöxTJfitj xaxd xb Irsgyelv notwendig sei; das will besagen:
ich darf nicht nur wahrnehmen, sondern ich mufs in dieser
Wahrnehmung „wirken'', mufs den Begriff, der dem allgemeinen
Satze zugrunde lag, auf diesen besonderen Fall anwenden, um
ihn unter das Allgemeine unterordnen zu können.
Ist es nun hierdurch klar geworden, wieso die allgemeine,
syllogistische Erkenntnis, z. B. der Mathematik, nur eine hti-
ox?]fi7j xaxä övvafiiv, das Erfassen der sUtj dagegen eine ixt-
Digitized by
Google
95
arrjfii] xoT^ hioysiav ist, SO haben wir damit das Rüstzeug
gewoDoeo. nm auch jene berühmte Stelle am Schiasse des Buches
M der Metaphysik erklären zu kOnnen (10Ö7 a 10—25). Dort
hat man allgemein die Worte (18) 'fj 61 ipigyeia <&QtO(iiv7i xai
a)QiC(iivov rovöi rtvoq auf die Erkenntnis des Einzeldinges
bezogen, das dann allerdings allein ovola sein könnte. Aber
dann wäre ja mit jener höchsten Erkenntnis die Wahrnehmung
gemeint, die allein das Einzelding erfassen kann, die aber an
jener Stelle der An. pr. 67 a 27 ausdrücklich von der ijttcr^fiT]
xor' iviQYBiav unterschieden wird. Und dann ist auch das
Einzelding keineswegs (oQiöfiivov, vielmehr jeder Definition
unzugänglich (Met. 1039 b 27), und eine iTtcorfj/i^ davon ist über-
haupt unmöglich. Aufserdem würde die ganze Praxis des
Aristoteles dieser Behauptung ins Qesicht schlagen: denn er
ist es doch, der überall den zvjtog, den xagaTct^Q sucht, und
wo hätte er jemals die Untersuchung des Einzelfalles in seinem
Forschen als der Weisheit letzten Schluls behandelt? Die
Worte müssen also anders aufgefafst werden. Mit dem Ijtl-
öracd-ai dwäfisi, das selber in dieser övvaficg die vXtj xad^öXov
also Unbestimmtheit enthalten und auf ebensolche Gegenstände
gehen soll, ist offenbar die ijtior^fif] cbtoösixnxfj gemeint
Wir haben gesehen, da£s deren Grundbegriffe, die dipyQTjfiiva,
in der Tat mit vltj xad-olov verbunden sein sollten und, weil
sie so als ydrij weiteren (widersprechenden) Bestimmungen zu-
gänglich sind, wohl als ddQiora bezeichnet werden können.
Gerade diese Eigenschaft machte sie ja untauglich zur Substanz.
Diesem htlctacd-ai övvdfisi ist ein kjtlöraa^ai ivsQyiu} ent-
gegengestellt, das alle jene die Substanzialität ausschlielsenden
Bedenken nicht erregt, und eine Bedingung erfüllt nur das
Wissen der reinen Biotin des vollkommen Bestimmten also, nicht
das des Einzelnen, das ja auch wieder vXri enthält und da-
durch doQiöTOV wird. Die sldri sind nicht xad-öXov im Sinne
des xoivov, des äogiörov; sie haben eigentlich überhaupt keinen
Umfang, kommen wenigstens nicht verschiedenen Dingen zu:
denn die aro/ia xad-^ dgid-fiöv sind, wie wir sahen, nach dem
elöog nicht verschieden. Sobald man diese Umfangsbeziehnng
hinznnimmt, also einen Gegenstand hervorbringen will, der
alles diesen Einzelnen Gemeinsame enthielte, kommt man zum
Abstrakten. Nur der vovg xoijjracög streift im Erfassen der
Digitized by
Google
96
fioQip?} alle und jede vXij ab, oder ist vielmehr für sie voll-
kommen anzugäDglieh. Somit dürfte es sieher sein, dals sieb die
Worte: r) cT Ivigfeta <DQtö(iivri xal dQiöfiivov rovöt za^og auf
den vovg und die tiÖTj ävsv vXtjq beziehen. Was dann noeli
folgt (1087 a 19 f.). hat lediglieh den Zweek, naehzuweiseD, dab
das Allgemeine im Sinne der Gattung nicht ovola sein könne,
was ja viele Parallelen in der Metaphysik hat (YgL besonders
zu a 19 noch Z 8, 1033 a 30.)
40. Nur bei dieser Auffassung endlich tritt aneh der
historische Zusammenhang zwischen der aristotelischen und
platonischen Philosophie so zutage, wie wir es erwarten, w^m
wirklich Aristoteles von seinem 18. bis zum 88. Lebensjahre Mit-
glied der Akademie war. Sein Verhältnis zu Plato soll uns
am Schlüsse auch dieses Abschnittes beschäftigen.
Dem platonischen slöog entspricht das aristotelische. Bei
beiden stellt es das Prinzip der vollständigen Bestimmtheit dar,
die immer nur durch das Denken erreichbar sei und in der
Definition ihren Ausdruck finde. ^) Beide fassen das siöoc als
einen vom Einzelding verschiedenen, durchaus selbständigen
und abtrennbaren Gegenstand. Wenn Aristoteles ferner seine
fiOQg)7j als icxccTOv sldog als arofiov versteht, so müssen wir
darin eine Verwandtschaft mit der fttr Piatos letzte Periode
charakteristischen Forderung erblicken, bei aller Einteilung
der Gattungen bis auf die letzten nicht weiter teilbaren Arten
zu gehen und dann erst den Begriff ins cbrstQov zu entlassen.
Diesem jiiQag ist bei beiden Denkern ein Prinzip der Un-
bestimmtheit, der Individuation entgegengestellt: die vjLij. Sie
ist an sich völlig unerkennbar, auch nicht wahrnehmbar, nnd
nur als das zu denken, was allen Bestimmungen zugrunde liegt
ohne durch eine solche Kategorie selber getroffen zu werden.
Zwar wenn nun Plato kühn genug dieses Prinzip mit dem
Räume identifiziert, so glaubt Aristoteles ihm hier doch nicht
ganz folgen zu können; doch steht er Plato durchaus nicht
sehr fern in diesem Punkte, wie seine Kritik Phys. J 1—4 be-
weist; er würde es sich gefallen lassen, wenn man als letzte
Materie das „Volumen", das allen ausgesagten Eigenschaften
*) Vgl. Met. 1022 a 9—10: z^g yvdcewq ya^ xovto (x6 xl iv eivai)
ni^ag.
Digitized by
Google
97
zugrunde Hegt, definierte (vgl. 211 b 29 f.). — Die Individua der
sinnlichen Anschauung sind nach beiden zusammengesetzt aus
diesen beiden Seiten, dem Bestimmten und dem Unbestimmten ;
ihre Anzahl in jeder Art ist unbegrenzt, i) Bei der Erzeugung
dieses Sinnlichen verhält sich das elöoq zur vXtj, wie das
Männliche zum Weiblichen. 2)
Fassen wir nun die Erkenntniskräfte ins Auge, die uns
zum Erfassen der genannten Gegenstände zu Gebote stehen, so
stimmen wieder beide Denker tlberein, dafs zu scheiden wären:
vovq und alöd-TjCigj entsprechend den eUi] und den Individuen,
(die vXr] ist ayvcoöxoq) dafs aber dazwischen noch eine beson-
dere Stelle die emörfifiat einnähmen, insbesondere die Mathe-
matik. Auch in der Bewertung dieser drei Arten der Er-
kenntnis sind die beiden Philosophen einig. Die Weiterarbeit
des Aristoteles besteht nur darin, dafs er die Eonsequenzen
der platonischen Gedanken, die Grenzlinien zwischen den
einzelnen Gebieten schärfer ins Auge fafst Wenn das eldog
vollständig bestimmt und selbständig sein soll, so kann es
niemals irgendwie die Gattung zu verschiedenen anderen
Begriffen darstellen. Dem Gattungsbegriff kommen, sei es bei
der Definition in den diag)OQal eldojtoiol, sei es bei deren
Verbindung mit der vXtj xad-öXov in den övfißsßTjxora xad-'
avrd Bestimmungen zu, die gleichzeitig in ihm nicht gedacht
werden können, es also unmöglich machen, ihn als abtrenn-
baren Gegenstand, als Ursache alles Bestimmten am Einzelding
zn benutzen: er ist rocovöe. Da die Idee nun von Aristoteles
als Gattung aufgefafst wird (Met. 1042 a 15 reo öh xaß-oXov
xaX reo yivu xal al löiai avvdjtrovöcv ' xarä röv avrdv yäg
X6yov ovalat dvxovöiv slvai), so mufste sie ihm also in diesem
Punkte gänzlich unzulänglich erscheinen. Hier setzen daher
seine schwersten Angriffe ein, und vielleicht haben sie mit
dazu beigetragen, dafs Plato in letzter Zeit auf die Einteilung
bis zum ätftTjrov so grofsen Wert legt. Der andere Vorwurf,
0 Es sei doDD, dafs einmal alle Materie verbraucht sei, wie bei
Aristoteles Hir den Himmel, der deshalb nur einmal da ist, d. h. in einem
einzigen Exemplar: de caelo 287 a 25 f.
^) Met9S8al— 7: wenn Aristoteles dort dem Plato die entgegen-
gesetzte Anncht zaweist, so gibt ihm der Timäos offenbar unrecht.
Philoiophische Abhandlungen. ZXXXIV. 7
Digitized by
Google
der ebenfalls beBtäodig wiederkehrt, Plato halte die Ideen
fttr lodividna, seheiot mir durch die uns erhaltenen Dialoge
nicht gerechtfertigt werden zn können und nur heryorgemfen
zu sein durch die Mythen der berühmten Schriften aas der
ersten Periode. Auch lernen wir fttr Aristoteles daraus wenig
Neues: seine fiOQq>ij ist natttrlich nur elösi ^v, wie alles t^tiror
(de an. 429 b 28 ^v öi ri rö votjtov elösi). Einen wesentlieheii
Fortschritt stellt endlich auch die schärfere Trennung tod
:jtQcjxf} ^iXoöoipla und fiaO-t/fiaTixT} dar, die bei Piato immer
etwas FlieCsendes behielt und nur auf der Methode zu beruhen
schien. Aristoteles verlegt den Unterschied in die Objekte und
weist der syllogistischen Wissenschaft das Abstraktallgemeine
zu, das vXfj xad-oXov enthält, also auch rein gedanklich niebta
Selbständiges darstellt.
So steht also Aristoteles ganz auf platonischem Boden
und arbeitet in diesem Sinne weiter, nicht ohne einen guten
Schritt vorwärts zu tun. Dabei mag das Streben nach selb-
ständiger Grundlage für seine neue Schule und die Entwicklung,
die die Lehre Platoa bei dessen legitimen Nachfolgern gefunden
hatte, den Unterschied in seinen Augen vergröfsert haben. In
einer Frage kann ich jedoch nicht einsehen, wieso Aristoteles
weitergekommen sein -sollte, als Plato: das ist das Problem
des Zusammenhanges zwischen Begriff und Individuum. Wenn
man es so darstellt, als gehe die Entwicklung der griechischen
Philosophie dahin, den Begriff mit dem Einzelding in Eünklang.
in eine denkbare Beziehung zu bringen, so trägt man die
modernen Bemühungen nach einem Monismus in eine Zeit
hinein, in der solche Bestrebungen noch gar nicht den Haupt-
gesichtspunkt abgeben; im Grunde war die Weltanschauong
von Piatos und Aristoteles' Gegnern, den Sophisten, riel monis-
tischer als deren eigene. Die Antwort nun des Aristoteles aaf
die Frage, wie denn sUoq und lU^, Bestimmtheit und Un-
bestimmtheit, eine Einheit eingehen könnten, steht H 6 der Met
Er meint, mit seiner reinlichen Scheidung von vXri und fiOQqfl
diese Frage überhaupt tiberflüssig gemacht zu haben. Beides
ist dasselbe, wenn man die vXtj als das durch dieses eidoc
Bestimmbare ansieht. Beabsichtigt wenigstens war in Platoa
jtiQaq und äjteiQov genau dasselbe; Aristoteles mag die Begriffe
reinlicher herausgearbeitet haben, aber ihren Zusammenschlufs
Digitized by
Google
99
im Sinnlichen hat anch er nicht besser erklärt, da er hier
überhaupt kein Problem mehr sah.
Sehr viel weiter gefordert ist dagegen bei ihm die psycho-
logische Analyse der Probleme, zu der wir nunmehr ttber-
gehen wollen.
5. Psychologische Theorie der Abstraktion.
41. Das wichtigste Ergebnis des vorigen Abschnittes war
die Feststellung der absoluten Verschiedenheit der sldi} von
den ig dq)aiQiaea}q kayopiera, und diese Erkenntnis wird auch
in die psychologischen Darlegungen des Philosophen Klarheit
bringen. Die Seele ist auf der einen Seite ein kritisches, auf
der anderen ein kinetisches Vermögen (de an. 432 a 15 — 18).
Nach jener ersten, die fttr uns allein in Betracht kommt, um-
fafst sie alö&TjOig und vovg. Ausdrücklich sollen nämlich in
ihr die entsprechenden Unterschiede wiederzufinden sein, die
sich in der Natur der Gegenstände fanden (430 a 10—14). Da
nun die Gröfse und der Begriff der Gröfse, das Wasser und
der Begriff des Wassers etwas anderes sind, so mufs die Seele ^)
anch für jedes ein besonderes kritisches Vermögen besitzen
(429 b 10 ff.), das Wahrnehmungsvermögen für die sinnlichen
Eigenschaften, den vovg für die Begriffe. Es ist nun sehr zu
beachten, dafs in jedem dieser so aufklärenden Kapitel de an.
III, 4 — 8 der Unterschied des Abstraktallgemeinen vom reinen
votftov betont wird. So heilst es denn auch gleich bei dieser
Scheidung der Seelenvermögen nach der Art der Gegenstände:
jtdXiv &ijti Tc5v Iv äq>aiQioec ovrov ro €v9i) (og ro öifiov'
fisrä öwsxovg ydg ' ro 61 zt 7jv eivai el Icxiv %xbqov ro hvd^Bl
elvac xol ro ev^^v, aXXo ' Igtod yäg övdg, srigo) äga rj irigcog
ixovTc^) xQlvsi.xal oXcog aga (bg xcoQLöxd xä jigayfiaxa xfjg
vXijg ovxQ} xal xä jtegl xöv vovv. Deutlicher kann der Unter-
schied des ätpyQfjfd^pov vom elöog nicht gemacht werden. Im
folgenden wird auf die Identität von vovg und poovfievov
hingewiesen, wieder aber nur ijri xc5v ävsv vXfjg, Denn, heilst
es am Schlüsse des Kapitels: „bei dem, was mit der Materie
>) ywxi} ist 429 b 10 ff. Subjekt, nicht vovg. Dies Subjekt wird auch
sonst häufiger fortgelassen.
*) Siehe Anhang 6.
7*
Digitized by
Google
100
verbunden ist, gehört ein jedes nnr der Möglichkeit nach zu
den vofjrdj so dafs diesen nieht allen der vovg zukommt, wohl
aber dem vovg die Eigenschaft des voi]t6v". Im näehsteo
Kapitel wird dieser selbe Unterscbied mit Ixiön^fif) xctr* hio-
yuav und tloxcl dvvafjiv wiedergegeben, eine Ausdrucksweiee, die
wir schon ans der besprochenen Metaphjsikstelle (M 1 0) kennen.
Gemeint ist hier dasselbe, nur dafs die Worte xccrä övrauir
dadurch eine etwas andere Wendung erhalten, dafs in örraftu
mehr die Bedeutung des Vermögens (als Kraft), als die der
Unbestimmtheit liegt, was ja bei Aristoteles auch sonst beides
abzuwechseln pflegt. Aber da diese Wandlung der Begriff der
vXrj genau mitmacht, diese aber überall, auch an unserer Stelle,
das entscheidende Kriterium dafttr abgibt, ob etwas reine
ivtQYsia sei oder nicht, so sind in der Tat hier wie Met M 10
mit ijciOTTJf/fj xarä dvvafiiv dieselben Gegenstände, nämlich ra
^g d(paiQiö£a)q Xeyofievaj gemeint. Die wirklichen^ mit sinnlicher
Materie verbundenen Einzeldinge kommen an beiden Stellen
nicht in Betracht, sie sind weder BMcr7p:a noch überhaupt
voTixd. Für den Zusammenhang der aristotelischen Gedanken
ist ein Satz besonders wichtig (430 a 20/21 = 431 a 1 — 3): ro
&avr6 iöTiv ?) xax* IvtQfBuxv ijtiörrjfifj rtp ütQoynaxt ' 7)6h xcrra
övvafiip XQ^^^ JtQOxiQa iv rm evl, oXcog de ovöe xQ^^^i^- Auf
ihn, wie auf den Schlufs des Kapitels müssen wir später noch
einmal zurückkommen.
Besonders wertvoll ist das nächste Kapitel (6), das über
den Unterschied der votjöiq xwv ddiaiQerfDV und der ovt'^eou
voTjfidrcor handelt und damit auf den Begriff der Zeit, in der
gedacht wird, hinführt. Sobald ich irgend eine Länge als
geteilt oder als Summe von Teilen denken will — nnd das
mufs doch nach Met. Z 10 der Mathematiker durchaus — ^ mufs
ich auch die Zeit teilen, in der ich eine solche Länge denke.
Nur die sUtj, die xarä ro jcoöov weder teilbar noch nnteilbar
sind, weil sie jede Ausdehnung abgestreift haben, müssen in
einer unteilbaren Zeit gedacht werden. Bei den d^^Qt^fitra^)
z. B. der Mathematik kommt freilich jene unvermeidliche psycho-
logische Tatsache, dafs sie nicht in einem Augenblicke denkbar
sind, nicht in Betracht: sie werden in jeder Hinsicht als unteilbar
') Siehe Anhang 6.
/Google
Digitized by ^
101
angesehen. Aber diese Einheit ist nieht abtrennbar, mithin
auch nicht hegysla. Sehlierslieh heifst es dann am Ende des
Kapitels, wie auch am Anfang, der vovg sei, insofern er ra
döialQBza, also im wahren Sinne nur rä sIöt], denke, keinem
Irrtum ausgesetzt; hinzugefügt wird noch einmal: ovrcog Ix'^i
oöa ävev vXijg. So sieht man also trotz der schlechten Über-
lieferung des Kapitels noch deutlich, dafs es sich um eine
Differenzierung innerhalb des vovg darin handelte.
Im folgenden Kapitel, von 431 b an, wird dies wieder ganz
deutlich (2): ra fihv ovv elötj rb votjtixov Iv xolg ^avräafiaöi
voet, (12) rä de iv dg)aiQiasc XeyöfiEva voet Söjceg av el zö
oifiovJ) Dieser neue Gedanke kehrt etwas ausführlicher
wieder 432 a 3 — 14: h xolg bIöbcl rolg alcB-rjrotg xä vojjxd
ioxt, aber, heilst es ausdrücklich: xä xe kv ä^aigiöei Xeyofieva
xal oöa xcjv alod-r/xcov ^eig xal ndd^tj^ das bezieht sich also
lediglich auf die Abstrakte und die ovf/ßeßijxoxa xad-^ avxd;
diese können nur in einem g)dvxaöfia vorgestellt werden,
welches den Sinneseindruck ohne dessen vkrj alößTjxTJ bedeutet,
sie können von ihm nicht gelöst werden. Davon werden jedoch
die 3tQcix7} voijfiaxa 432 a 12 geschieden, die nur nicht ävev
g)avxaa(idx(ov gedacht werden können. Diese psychologische
Begleiterscheinung ist aber „ nebensächlich '': um dies klar zu
erkennen, müssen wir noch eine dritte Stelle heranziehen de
mem. 450al — 4: avfißalvec yaQ xb avxb jcdO^og iv xtp voelv
ojcBQ xal iv xw ötaygdipeiv ' ixel xe yäQ ovd-lv jtQOöxQoifievoi
xq xb Jtoobv coQiöfiivov elvat xov xQiycivov, oficag YQdg^ofiev
ojQiö/iivov xaxä xb nooöv ' xal 6 vomv (oöavxog xav fd^ jtoöbv
voll, xid-exai jtgb Sfifcdxcov jtoöov, voel &ovx ?} Jtoöov, Dies
letzte unterscheidet das mathematische vom reinen Denken.
Der Mathematiker betrachtet alles ^) jioöov. Natürlich können
Gegenstände, die in dieser Weise vXrj xad-oXov enthalten, nicht
Xo?QiOxd, nicht rein ivegyela sein. Dagegen bei den elötj kommt
auch die Quantität im allgemeinen nicht in Betracht, mag man
auch (psychologisch!) gezwungen sein, sich ein solches all-
gemeines Schema vor Augen zu stellen. Der Grund hierfür
wird auch angegeben: ovx ivd^x^xai {^ V^X^'l) ^oetv ovöev
ävev xov öwexovg, ovö^ ävtv XQ^^ov xä (i?) iv XQ^^^ ovxa,
^) Ein anderes dh kann dem (Jiiv (b 2) nicht entsprechen.
/Google
Digitized by ^
102
das ist einfach eine Tatsache. Die slöi] sind also, weil sie
auch das Jtoaov ddQiOrov nicht enthalten, xayQiörd nnd lve(ryeir.;
sind aber somit die Abstrakta ungleich stärker von den g:ear'
tdöfiara abhängig, so wird aach der Zusammenhang mit der
im vorigen Absatza behandelten Bestimmung klar: da bei der
fpavxacla die Möglichkeit der Täuschung beginnt (428 b 10 f^
bes. 17), so können nnr die davon ganz nnabhängigen, wenn
auch von ihr begleiteten bIöi] als stets wahr betrachtet werdend)
Fassen wir die bisher gewonnenen Bestimmungen zusammen,
so haben wir auf der einen Seite den vovq jtoifjTixog, der
reine ivtQyeux^ daher x(^Q^<^'^og ist, sich nur mit den eJdri ar^r
vXijq beschäftigt, diese h däiaiQero} XQ^^'^ denkt, ohne Mög-
lichkeit des Irrtums, und mit diesen seinen Gegenständen
identisch ist. Dem steht gegenüber der vovg jra^/rrxoc, der
ohne das Material der Sinnlichkeit nicht auskommt, also nur
Gegenstände hat, die öwdiist votjrd sind, d. h. rä Iv d^aiQtoei
XsYOfiera, die die vkrj xad-oXov noch enthalten; er denkt sie
nur in ausgedehnter Zeit, nur in den <pavxdo(iaxaj ist daher
dem Irrtum ausgesetzt. Begleitet sind beide stets von der
q^apraölay die in diesem Sinne auch zur vorjaig gezählt werden
kann (433 a 9); aber der vovg jtotrjTixog ist nur zufällig von
ihr begleitet, der vovg jcad-rjrtxog entnimmt ihr wesentliche
Bestimmungen. Beide sind natürlich von der atö^r^öiCj die
allein imstande ist, ein iv xar' dQid-fiov zu erfassen, grund-
verschieden.
42. Einen Schritt weiter kommen wir, wenn vnr die Rolle
der tpamaöla näher ins Auge fassen; sie ist das Vermögen der
g)avTdöf£ara, die sich immer nur im Anschlufs an die sinnlichen
Wahrnehmungen bilden können, von dieser selbst jedoch, sowie
vom i'ofg verschieden sind (de an. jr3, bes. 428 b 10 — 17). Wenn
nämlich die aktuelle Wahrnehmung vorttber ist, so bleiben noch
Residua, und das eben sind jene fpayrdofiara, die das Schrift-
chen j€£qI kwxvlow so lebendig schildert. Natürlich sind sie
nur cSojreQ ra aloß^fjfiara, denn die vXtj alod^tj verschwindet
mit dem Aufhören der wirklichen Wahrnehmung (de an. 432 a
9 — 10). Alles was nachher noch übrig bleibt, ist nur noch ab
^) Das Urteil, die YorbinduDg von ovala and avfißeß^xoxa, soll jt
ausdrücklich xatd tfjv fpavtaolav erfolgen: de an. 402 b 22: ineiSdv yd^
^Xo>f^^v dnoÖiöovai xatd tjJv ipavxaaiav ne^l xwv avßßfßrixoxwv ....
Digitized by
Google
103
xoivop oder xa»6Xov falsbar (Met. Z 10, 1036 a 6— 8); natttrlieh,
denn alles Individaelle ist ja nur darch Wahrnebmang uns
zugänglich, die ttbrigens auch nach Aristoteles in innere and
änfsere za teilen ist (de somno 454 a 3 tov yäg alöß^avofisvov
TOVTOV iyQfjyoQtvai vogil^o/isv xal tov iyQrffOQOta üidvra fj
xojv l^cod-iv rivog alod^dreo&^ai ?j rcov Iv avxrp xtvrjöeoov).
Und so bietet die (pavxaöla eine erste Grandlage der Abstrak-
tion, da in ihr viele Merkmale des Individaams fehlen mtlssen.
Zn einer solchen Voraassetzang wird sie aber noch von einer
anderen Seite her: sie ist nämlich anch die Grandlage des
Gedächtnisses. Denn wird eine tparraola nicht für sich be-
trachtet, sondern als ein Zeichen oder Bild eines anderen
bewafst, so ist dies eine Erinnerung; dabei ist die Wahrnehmung
der Zeit wesentliche Voraussetzung; denn ich mufs wissen, dals
dies tpdvraciia von frtther herstammt, dals also dies jetzt in
mir Wahrgenommene das Residuum ist, welches von einer
bestimmten frttheren Wahrnehmang tlbrig geblieben ist. Des
bestimmten Zeitpunktes jener ersten Wahrnehmung braucht
man sich freilich nicht bewufst zu werden (452 b SO— 453 a 4).
Diese [ivi^iiri aber ist nun wieder, so lehrt das bekannte 1. Kapitel
der Metaphysik, ebenso wie das letzte der Analytiken, Grund-
voraussetzung für das Zustandekommen aller Wissenschaft,
weil aller Induktion^), ohne deren Hilfe nicht abstrahiert
werden kann.
Damit wären wir denn bei der Hauptfrage dieses Ab-
schnittes angelangt: wie kommen die Allgemeinbegriffe zu-
stande? Der einzige Weg, auf dem etwas in unsere Seele
hineinkommen kann, ist die Sinnlichkeit. An. post. 1, 18 belehrt
uns, alles Lernen geschehe entweder durch Induktion oder
Beweis; doch da der Beweis auch wieder auf allgemeinen Be-
griffen ruhe, die nur durch Induktion bekannt gemacht würden,
so sei diese also zu jeder Wissenschaft erforderlich, und da die
Induktion wieder nicht ohne sinnliche Wahrnehmung möglich
sei, 80 mtlsse mithin in dieser ttberall der Ausgangspunkt
gesucht werden. Hinzuzunehmen ist jedoch noch I, 31 : durch
Wahrnehmung kann man nichts wissen; denn das Allgemeine
kann nie wahrgenommen werden, sondern immer nur ein in
1) Siehe Anhang 7.
Digitized by
Google
104
Raam und Zeit bestimmtes {jtov xal vZ^v) Einzelnes — j} (S
tjnarrjfiTj reo rö xa&oXov yvcogl^eiv loxlv. Aber ans einer oft
sich wiederholenden Wahrnehmung kann man das Allgemeiiie
„anfspttren" {d^tiQSVBiv). Die Bedentang der SinDlichkeit »eigt
sehr schön die Bemerkung: Ivta yaQ sl scogcSfisv ovx äv i^^ovfin'
ovx cös slöözeg rm ÖQäv dXX^(6g sxovTsg zo xad^oXov ix rot
oQäv. (Hingewiesen sei noch ^nf die Worte 88a 8: jisqI 6t
Töjv jtQciriav aXXoq X&foq.) Im gleichen Sinne ist die Stelle
90 a 20—30 aufzufassen. Das Wort yvcogl^siv hat bei Aristoteles
eine ähnlich unbestimmte Bedeutung, wie etwa to perceire bei
den Engländern. Bald wird es dem begrifflichen Erkennen
entgegengesetzt (z.B. Met. 1036a 5, 6), meist jedoch umfafst es
beides, Erkennen und Wahrnehmen, wie yiyv(DOxeiv auch. Es
zeigt also keineswegs immer eine Tätigkeit des vovq an.
Wenn nun das Allgemeine aus der wiederholten gleieh-
sinnigen Wahrnehmung bekannt wird, so ist natürlich Voraus-
setzuDg^ dafs die vorangehenden während der späteren im Ge-
dächtnis bleiben, und von diesem Gesichtspunkt aus wird im
letzten Kapitel die iivri(iri als die fär die Abstraktion wichtigste
Funktion beschrieben. Diese soll nur immer das in den ver-
schiedenen Wahrnehmungen Gleiche festhalten: 7}QefifJ0atrT0C TOV
xad-oXov Iv rfj tpvxij, o av Iv äjiaoi ev iv^j IxbIvok; to avro.
In der ^avxacla, auf die die Erinnerung zurückgeht, lag ja
schon der Anfang dieser Abstraktion. Nun kommt Aristoteles
dem noch mehr entgegen durch einen neuen Gedanken: zwar
ist der Gegenstand der Wahrnehmung immer individuell; aber
diese selber enthält ja die vXri nicht, sogar nicht einmal die
Gröfse (de an. 11,12), ist vielmehr ein Xoyoq. An.po8t, 100 b 16; 18:
xal yaQ dcad-dvtrai fisv rö xad^ Ixaöxov, ?) 6' alod^t^öig rov
xad^oXov loxlv, olov dv&^gwjtov, dXX^ ov KaXUov di^poJjror;
vgl. 1, 31 Anfg. Dahin gehört auch die Bemerkung (Phys. 184 b 13 f.),
dass die Kinder zuerst alle Leute für Väter und Mtttter an-
sähen, und daher das Allgemeine als ein Ganzes zunächst näher
liege. Aber ausdrücklich sagt Aristoteles ja, dals das All-
gemeine der Gegenstand der Wahrnehmung niemals sein könne,
und so streiten die genannten Ausführungen nicht gegen die
zahlreichen Stellen, wo es heilst: für uns seien Einzelnes und
Wahrnehmung das Frühere, und diesem Wege folge die ijtar/orp]^
der Natur nach aber das Allgemeine, und dem folge der Beweis.
Digitized by
Google
105
z. B. An. poflt 71 b 31 ff, 72 b 27 f. Folglieh kann die i^taycoy^
allein ans mit dem Allgemeinen bekannt maehen (vgl. auch
Nik. Eth. 1139b86ff, wo auf die Analytiken offenbar an-
gespielt wird).
Wieso kann dann aber wissenschaftliehe Erkenntnis die
Wahrnebmnng an Wert übertreffen, wenn ihre Grandbegriffe
nur ans deren Gegenständen abgeleitet sind? Hier ist zunächst
zu bedenken, dafs ja selbst zu der Fähigkeit, Wahrnehmungen
im Gedächtnis zu behalten, noch etwas hinzukommen mnfs,
nämlich ein Xoyog An.post 100 a 1— 3: jtoXXdSv öh toiovtcov
yirofidvwv TJdt) öcafpoQa rtg ylverai^ Sörs rotg (lev ylvsöd-ai
Xoyov Ix xfjq roiovrcDv giovf/g rotg de fifj» Das Allgemeine mufs
darin „aufgespart'' werden, wie wir eben sahen. Sodann aber
darf man den Sehlufs der Analytika nicht zu gering werten;
dort erfahren wir, dafs nun erst, nachdem die Abstrakta bekannt,
in uns „hineingebracht'' (100 b 3) worden seien, die Tätigkeit
des vavg beginne. Das ist die Hauptsache: alles, was wir
bisher gehört haben, geht ja nur den vovg nad^xtxoq an, das
Gedächtnis vor allem, das ja ebenfalls ein ndd-oq ist, 100 a 13:
7/ 6e rpvxf] vjtaQxei roiavrrj ovaa, oi'a öi'vaadoi jrdöxecv xovxo.
Nur kann der vovg jioirixutog nichts ohne den vovg jca&^rjxixog
denken de an. 430 a 23—25 (vgl. Zeller II, 2, »574 Anm. 4), und
daher beginnt auch erst mit dessen Einsetzen die Erinnerung;
aber das Gedächtnis, so wird versichert, bleibt ftlr die Er-
kenntnis der alöt] völlig unwesentlich (de mem. 450 a 24 — 25;
451a 28 — 29). Also schafft der vovg jtocrjxtxog als reine
IrtQyeca seine Objekte selber. Aulserdem würde auf die eidt)
keine Induktion der Welt führen; denn diese wttrde ja die
vXti wg xad'oXov niemals beseitigen können, was doch ftlr das
xl f^v eivai Wesensbedingung ist. Das Aulserste^ was auf diesem
Wege erreichbar ist, sind jene dtpj^iQtjuiva, zu denen natürlich
auch die abstrakteren Begriffe der Gattungen, wie z. B. C^olov,
oxfjfta usw., gehören, bis hinauf zu den höchsten Gattungen
(s. 0. S.87/8): sie alle haben nach Aristoteles die vX?] nicht abge-
streift und sind nur övvdfisi vorjxd.
Im Sinne dieser Schlufsbemerkungen der Analytiken haben
wir auch die verwandten Ausführungen im 6. Buche der Nikom.
Ethik zu verstehen. Dort heilst es einmal (1039 b 20— 31):
f) (ilv öij küiaycoyrj aQx^j loxiv xa\ xov xad-oXovj 6 de OvXXoycCfiög
Digitized by
Google
106
ix Tc5v xa&^oXov, elalv aga dQX(u i§ c^v 6 CvXXoyidnoq, mv ov%
löTL övXXoyiöf/og * Inayioyri aga — und dann wieder mit der-
selben EntschiedeDheit: Xeljcsrat äga vovv dvai rwv dQXför,
da (pQovrjCcq ijtiörijfiT] öotpla das nicht leisten konnten 1141 &
3—8. Besonders klar ist die Stelle 1142 a 25— 30, nach der
die tjciattj/it] von vovg und aloO-tjotg gleichsam nmrahmt sein
soll: was über ihr liegt, das nämlich, wovon es keinen koyoq
gibt, ist das Gebiet des vovg, nnd ebenso gibt es auf der
anderen Seite noch ein Gebiet des Sinnlichen, Einzelnen. Etwas
später, 1143 a 35— b 5, werden diese beiden Enden allein
dem vovg zugesprochen; aber es versteht sich von selbst,
dafs der Satz: rot'nxfp (seil. r(5v xaö-' ixaöTo) ovv tx^i^ itl
alöd^^jöiv, avxtj &IctI vovg nur auf den vovg jtaO^ixoq gemünzt
sein kann.
Die Abhängigkeit des vovq jtoirjrixog vom vovg xaO^prixa:
kann nur psychologisch sein: sie ist anch lediglieh im einzelnen
Menschen vorbanden, mit dessen Tode sie auch bei ihm auf-
hört; denn so werden wir nur jenen Satz der Schrift über die
Seele verstehen: /} xarä ävvafiiv lünöryiii] jtQoriQa Iv rro tri,
oXog de ovöh XQovm: im einzelnen Menschen mufs zeitlich vor
jeder Erkenntnis der sIöt] die Affektion des vovg xad^f/rixo^
durch die ijtayary?} vorhergehen, im ganzen Weltall aber nicht
Dadurch ist offenbar auf den göttlichen vovg hingewiesen, der
nach Met.^ als aQx^] xivrjceoog dxlvfjrog alle Dinge erst erzeugt:
eöTt yaQ i^ errsXexsla ovrog jcdvta rd yiyvoiisva (de an. 431 a 3).
Er ist also als reine Ivlgyeia, als vovg xoujnxog völlig nn-
begleitet von jeglichem jcdd^og, das Gedächtnis eingeschlossen.
Auch bei uns ist der vovg nocriTixog der Grund aller apodiktischen
Gewilsheit, da er die Grundlage des syllogistischen Wissens
bildet. Erst dadurch, dafs wir die von der sinnlichen Wahr-
nehmung abstrahierten Begriffe „abgelöst^ wenigstens betrachten,
dafs wir sie also in der Weise setzen, in der der vovg die
döfj erkennt; erst dadurch kommt ja die Mathematik und jede
andere beweisende Wissenschaft zustande. Jener bildet also
gleichsam den Transformator, der die induktiv abstrahierte All-
gemeinheit in die deduktiv-abstrakte umwandelt Die Induktion
mufste das Allgemeine als Bestandteile eines Einzelnen bestehen
lassen; die syllogistische Wissenschaft setzt sich, obwohl sie
daran auoh nichts ändern kann, mit Hilfe des vovg jtoifjrtxoi
Digitized by
Google
107
darüber hinweg. DeBsen Objekte selber werden durch an-
mittelbare Bertthrang erfafst und in der Definition vollkommen
adäqnat ausgedruckt; sie können daher nicht unmittelbar als
Anfang des Beweises gelten, da ein solcher immer Anschauung
nötig hat, zum mindesten vXi] vorjr^. Daraus würde z. B. folgen,
dafs der göttliche Verstand keine Mathematik triebe, über-
haupt den Beweis nicht nötig habe. Aber leider sind über
diese Seite der aristotelischen Lehre die erhaltenen Aus-
führungen so spärlich, dafs wir hier nicht weiter vordingen
können.
43. Schauen wir auch jetzt wieder auf die platonische
Philosophie zurück, so müssen wir staunen, wie genau auch
die Psychologie des Allgemeinen an die bei jener vorhandenen
Ansätze anknüpft. Piatos übersinnlicher Ideenscbau entspricht
jenes d-Lf/dvatv der firf//, das ebenfalls mit der Wahrnehmung
verglichen wird. Nach Plato war die Beobachtung der Gesctz-
mäfsigkeit in der sinnlichen Welt dasjenige, was uns zu den
Ideen hinleitete, und diese Andeutung (wir wissen ja nicht,
was Plato mündlich alles gelehrt hat) finden wir bei Aristoteles
zur Lehre von der Inayoiyili erweitert. Sein Lehrer hatte bei
aller Verherrlichung der Ideenerkenntnis doch immer zugeben
müssen, dafs ganz abgelöst von der Sinnlichkeit der Mensch
in dieser Welt nicht denken könne, und auch diese psycho-
logische Abhängigkeit des reinen Verstandes kehrt bei Aristoteles
wieder in der Behauptung, der vovq jtoujrixog denke bei uns
nicht ohne den vovg jra&7)Ttx6g und ohne qxxvraöiia. Die Be-
merkung Piatos, die Mathematik müsse immer eine sinnliche,
in ihrer Gröfse also bestimmte Figur, an der sie beweise, zu-
grunde legen, wenn sie sie auch nicht als in dieser Weise be-
stimmt meine, findet sich bei seinem Schüler genau ebenso
wieder. So sind dessen Grundgedanken aus dem platonischen
Ideenkreise heraus entwickelt. Ungleich feiner und reicher
erseheinen freilich die empirisch psychologischen Analysen der
einzelnen Funktionen, z. B. die Scheidung der döj] von der
^9>WW^^^f der Ijcaycoy?} von djcoöei^ig und oQcöfiögj der firrj/iij
und dvdfiV7]öig. Aber wir wissen gar nicht, das dürfen wir
nicht vergessen, wie weit die Akademie darin gekommen ist,
da Aristoteles das Eigentum seines Lehrers nicht ausdrücklich
von seinen eigenen Gedanken zu scheiden pflegt; seine Scbul-
Digitized by
Google
108
Bchriften sind aber mit Piatos Dialogen nicht vergleichbar.
Weil jedoch dasjenige, was wir aufser diesen Dialogen vod
seiner Philosophie noch wissen könnten, endgültig noch nicht
herausgearbeitet ist, so haben wir ans begnügt, am Ende
der drei letzten Abschnitte (§§ 35, 40, 43) die direkt be-
zeugten Lehren mit der Philosophie des Stagiriten zu ver-
gleichen.
Bebapltnlation.
44. Es bleibt noch übrig, die Lehre des Aristoteles kurz
zusammenzufassen.
Für den Nachweis der Existenz der allgemeinen Begriffe,
sowie deren Notwendigkeit für die Wissenschaft, konnte er die
Gedankenarbeit des Plato voraussetzen.
Als ihr logischer Ausdruck gilt ihm die Definition, die
Angabe von Gattung und Art; die damit gegebene Stufenfolge
der Allgemeinheit findet ihren Abschlufs nach unten in den
letzten Arten, nach oben in den Kategorien. Im Syllogismus
bietet die Definition den Ausgangspunkt dar, über den der
Beweis nicht hinauskommen kann; allerdings mufs erst das Sein
hinzugefügt werden, damit die dann zu folgernden, allgemein
zukommenden Eigenschaften ableitbar werden. Wir fanden in
der logischen Annahme unterster Arten, die nur dadarch er-
reicht werden konnten, daCs materielle Unterschiede nicht art-
bildend sein sollten, eine Vermischung mit metaphysischer
Betrachtungsweise. Ebenso lag in jener Hinzufügung des Seins,
die durch Induktion geschehen sollte, bereits ein Hinweis auf
den Übergang zum abstrahierten Begriff.
Metaphysisch stellte sich jenes ioxoxov eldog als die reine,
von jeder Materie freie Form heraus, als die höchste Substanz,
da alle Prädikate, die von einer solchen gelten müssen, auf sie
in besonderem Mafse zutreffen. Daneben trat, als zweite
Substanz, die völlig unbestimmte, rein bestimmbare Materie
als das Prinzip der Individuation. Ebenfalls eine Einheit, die
nicht weiter reduzierbar war, wenigstens für die Erkenntnis,
bildete als dritte Substanz der individuelle Gegenstand der
Sinnlichkeit. Davon mufsten als nicht substanziell die abstrakt-
allgemeinen Gegenstände durchaus geschieden werdenj wenn
Digitized by
Google
109
nicht in die aristotelischen Gedanken die heilloseste Ver-
wirrung gebracht werden sollte. Sie entbehren der sämtlichen
Prädikate der Substanz, sind immer nur an einem Sinnlichen.
Nur werden sie in den Wissenschaften, die jene zu ihren
Objekten haben, nicht als im Sinnlichen enthalten, sondern
al9 abtrennbar in Betracht gezogen. In ihnen steckt, soweit
anch die Abstraktion getrieben sein mag, d. h. so eng man
den Kreis der Merkmale zieht, die man an diesem Sinnlichen
allein betrachten will, immer noch „Materie im Allgemeinen",
und gerade dieser Umstand verhindert es, dafs diese Begriffe
Substanzen seien. Als Erkenntnisvermögen entsprechen den
Substanzen: der vovg jcocfiTcxög, der die slöt] erfafst, mit
diesen identisch, also ebenfalls Substanz ist, die aloO^rjaig, die
uns die Erkenntnis der Individua vermittelt, aber nur dvväfiec
mit ihnen zusammenfUllt; die substanzielle Materie ist un-
erkennbar. Dem Abstrakten schliefslich entspricht die ijtiör/ifir]
djtodeiXTiXf], die nur eine ijtiCtTJfii] dwdfisi ist.
Psychologisch endlich ist zwar im Menschen der vovg
jtocrjTixog an den vovg övvdfiei oder vovg jtad-ijrixog gebunden.
Dieser mufs zeitlieh vorangehen; aber sein eigentliches Wesen
erreicht der unsterbliche vovg erst dann, wenn er von diesem
getrennt ist; dann ist er mit dem göttlichen identisch. Freilich
Gedächtnis und ferner Beweise sind' seinem Wesen fremd; er
bertihrt nur unmittelbar die släfi, ohne von ihnen affiziert zu
werden, da jene mit ihm eins sind. So denkt er sich selbst.
Der vovg jtad-riTixög, selber nicht substanziell und vergänglich,
macht den Menschen mit dem Allgemeinen bekannt, und zwar
durch die Induktion, die wieder auf Wahrnehmung und Ge-
dächtnis zurtlckgeht; dies sind aber jtdd-ij. Ebenso ist er ab-
hängig von den tpavTaCiiara^ nicht allein als den Erinnerungs-
bildern, sondern auch als den Vorstellungen, in denen er das
Allgemeine denken mufs. Die durch ihn geleistete Abstraktion
ist also durchweg auf jidd^ basiert. Wenn in den be-
weisenden Wissenschaften von dieser Herkunft der abstrakt-
allgemeinen Gegenstände und den psychologischen Bedingungen
ihrer Vorstellung abgesehen wird, so ist das lediglich dem
Einflüsse des vovg ütotrjttxog zu danken, nach dessen
Muster die d(pxiQri(iiva als xo>(>£(;ra gesetzt werden. Er also ist
die wahre Grundlage alles allgemeinen und notwendigen Wissens.
Digitized by
Google
110
Wenn man nur die von der Vernunft unmittelbar ge-
Behauten (nieht angesehauten) Formen der Dinge überall
Borglieh unterseheidet von den aus dem Sinnliehen abstra-
hierten Gegenständen, so wird man in diesen Gedanken de«
Aristoteles Scharfsinn und gröfste Konsequenz nieht vennissen;
ja man wird finden, dafs sie weit mehr enthalten, als die
modernen Behandlungen derselben Probleme Yorausaetzen, und
daher bleibt eine Beschäftigung mit Aristoteles nicht nur
historisch, sondern vor allem sachlich auch in die heutige
Philosophie eine Einleitung von unttberschätzbarem Werte.
Digitized by
Google
Anhang.
1. Ich möchte hier die Hauptstellen zasammenfassen, die
mir za beweisen scheinen, dafs vom Theätet ab das Urteils-
problem im Vordergründe stehe. Die erste ist Tbeät. 184—187,
der einzige positive Ertrag des Dialogs, wo zuerst jene Zusammen-
stellung der höchsten Gattungen auftritt, und zwar als Begriffe,
die durch die der Seele eigentümliche Funktion des xqIvuv
(186 b 8) oder öo^dC^siv (187 a 8) entstehen. Deutlich tritt es
im Parmenides zutage, dafs das im Urteil ausgesprochene
„Sein" allein die Erkenntnis begreiflich mache (155 d 6 f.), und
daher ist die Digression 155 e 6— 157 b 5 auch einem Urteils-
problem gewidmet: wie verhalten sich entgegengesetzte Urteile
zueinander in der Zeit? Vollends im Sophisten wttfste ich
nicht, wie man die „Mischung der Ideen" anders deuten wollte,
als auf das Zusammentreten von Subjekts- und Prädikatsbegriff
zum Satze. Oder was soll die cvfiJiXox?) tc5v slöcov, die den
Xoyog konstituiert; anders bedeuten? (259 e 5). Die dabei auf-
tretenden höchsten Gattungen des im Urteil aussprechbaren
„Seins" oder Zusammenhanges, dasjenige, was Prädikat und
Subjekt „zusammenhält, so dafs eine Mischung (d. h. ein Urteil)
möglich wird" (253 e 1-3), das eben sind die von Aristoteles
als Kategorien ttbemommenen Begriffe (s. oben S. 76). Dafs es
im Sophisten das Urteil ist, welches im Mittelpunkte der Unter-
suchung steht, und nicht die Begriffe, das zeigt besonders der
Schlafs, indem auch der sprachliche Ausdruck des Urteils
geprüft wird, 262 ff. Nur wenn auch vorher vom Urteil geredet
war, gehören doch diese Ausführungen über ovofia und gf/fia
überhaupt hierher. — Derselbe Begriff der Mischung kehrt im
Digitized by
Google
112
Philebas nnd Timäns wieder, und so, meine ich, ist die Behaup-
tung gnt gegründet, es spiele fortan fttr die alte Frage naeh
der Erkenntnis das Problem des Urteils die Hauptrolle, die
früher dem Problem der Begriffe zugefallen war.
2. Die Ansieht, dafs Z 7 — 9 der Metaphysik nicht in den
Zusammenhang gehören, in dem sie stehen, hat schon P. Natorp
vorgebracht (Philosophische Monatshefte 24 [1888], S. 563 f l
ohne indessen die Zitate in H und 9 zu berttcksiehtigcn. Doch
möchte ich seinem Versuche, die Kapitel durch Umstellung in
dem ursprünglichen Plan der Erörterung zu halten, dreierlei
entgegenhalten:
a) Die Kapitel 15 und 16, mit denen er sie zusammen-
nimmt, gehören, ganz wie 13 und 14, zur Kritik der platonischen
Substanz.
b) Die Verweisung Z 15, 1039 b 26 öiöecxzai /dp ort
ovÖBlq xavxa ysvvä ovöb jcolbI sagt gar nicht, dafs dieser
Nachweis vorher in derselben Schrift erbracht ist; vielmehr
sind die Worte genau so aufzufassen, wie die sonst fast wört-
liche Wiederholung, die nicht viel später in derselben Schrift
wiederkehrt: 1043 b 16 ötdecxTac de xal öeörjXarrai ir äXlou
ort xb elöog ovöelg jtoisl ovöe yevvä; hier wird deutlich
auf denselben Gedanken als in einer anderen Abhandlung ent-
halten verwiesen.
c) Die Rekapitulation H 1 ignoriert den Inhalt von Z 7—9
völlig; die Worte 1042 a 25 f., in denen Natorp eine Re-
kapitulation sieht, bilden zu deutlich den Anfang der eigenen
Erörterungen des Buches H über avvoXov und vXt^ als Substanzea
3. Die Worte ZU, 1037a 10 flf. jtoxsQOv &Uxi xaga Tf)r
vXfjv xöjv xoiovxcov ovOLwv xcg äXXf], xal öet g^refi' ovolar
aihc5v ixigav xivä olov aQi&fiovg rj xi xoiovxot^, axejfxtor
vöxEQov beziehen sich auf Plato, der durch Einführung einer
besonderen vXi] neue Substanzen erzielte, welche in ihrer Be-
rechtigung von Aristoteles geprüft werden sollen. E^ kann
damit aber nicht gemeint sein, dafs eine Kritik der Idee über-
haupt noch aufgeschoben werden solle: denn sie folgt in der
Tat sogleich, weil ja mit dem xoivov und xad-okov^ den /hv^
von 13 — 16 vor allem die Ideen getroflfen werden sollen; auch
I
Digitized by
Google
113
H 1 kann ja, obwohl es aasdrtteklieb auf diesen ZusammeD-
hang verwiesen hat, jenes cxejtreov vöxbqov wieder aufnehmen
(1042 a 23). Man sieht also, dafs vielmehr die Hineinbeziehang
der iiad^naxixd das Wesentliche ist Denn mit der „anderen
Materie" in Z 11 kann nur das Grofs-nnd-kleine gemeint sein,
nnd H 1 beibt es ja ansdrttcklicb: nsgl 6b xwv löemv xal
T(3v (lad-fjfiaTixcQP vöregov öxbjctsov. Aristoteles fährt
1037 a 13 fort: „Dieser Frage znliebe" (ob nämlich etwas eine
besondere Substanz sei oder nicht) „versuchen wir ja auch die
sinnlichen Substanzen hier zu analysieren; denn nach einer
andern Seite gehört die Lehre von den sinnlichen Substanzen
zur Aufgabe der Physik und zweiten Philosophie." Gemeint
ist offenbar mit jener anderen Seite die Frage nach der dgxf]
xivrjöscocj die ja ebenfalls in der xarä xbv X6yov ovöia liegt.
So hat Aristoteles selber auf einen Unterschied der gegen-
wärtigen und der physikalischen Betrachtungsweise hin-
gewiesen.
4. In seinen Beispielen ist Aristoteles nicht sehr sorgfältig;
man darf an ihnen jeweilig nur das betrachten, was er gerade
durch sie erläutern will; das bekannteste Beispiel daftlr ist die
Definition des Menschen als eines ^(pov öbtovv. Diese ist sicher
nicht dessen ri ^v slvai, da das ohne Zweifel allein die Seele,
besonders der vovg ist. Und doch steht gerade diese Definition
als Beispiel des reinen slöog Mei Z 12: man soll eben nur das
Verhältnis von Gattung und Art an ihr ins Auge fassen, das
hier in seinem populärsten Falle sich darbietet (daher auch
nur: 2öra> yäg ovrog avxov Xoyog). ^(pov öbtovv ist vielmehr
die Definition des ovvoXoVj des mit der Materie verbundenen
döoqx fttr diesen Menschen (allgemein genommen) sind Beine
und Arme wesentlich; er ist nicht mehr '^xVj sondern sfitpvxov,
und ein solches soll man ja grundsätzlich definieren rotg xoi-
voZq BQ-foig xov Oci/iaxog xal xfjg tpvx^jg (de part an. 643 a 15).
So ist der merkwürdige Schlufs von ZU der Metaphysik
1036 b 21 ff. zu verstehen: ov yäg ndvxcog xov dvß^Qcijtov
fiiQog rj x^Qf ^^^^ ^ öwafiivi] xo iQyov djtoxeXelv, Söxs sfi-
Jl>vxog ovaa\ die ganze Stelle hängt mit de part. an. 3 innig
zusammen. Es handelt sich in ihr also um das ^(pov als ein
xoöe hv xw6s (1036 b 23), als ein ^g dfiq)Otv cog xa&^ojiov,
rbUoMphitohe Abhudlangen. XXXXIV. 8
Digitized by
Google
114
und bei einem solchen kann allerdings niebt von aller Materie
abstrahiert werden (vgl auch die Tabelle Seite 86).
Ebenso ist die Definition der Kngel xb Ix fiiaov oji^uc
löop docb im Gründe die der mathematischen, aasgedehnten
Engel. Ein ganz reines elöocj der ywxfj entsprechend, wire
vielleicht nur durch die Gleichung x2 + y* + z» = r* zu er-
reichen, also durch eine Zahlbeziehung. Es ist deshalb inter-
essant, da£s Aristoteles tatsächlich einmal, als es darauf ankommt
das reine elöog der Länge ohne Ausdehnung (avrsx^g de an.
429 b 18 f.) anzugeben, sagt: lo^rco /«(> &vdg — nach platonischem
Muster nattlrlich, aber doch offenbar ohne seinem Lehrer hier
Unrecht zu geben. Man sieht, auch die aristotelischen eUr^
steuern in ihren letzten Eonsequenzen auf die reinen Zahl-
beziehungen {(lixQOv jtQog (iirQOv, Phil. 25 b 1) zu, nnd ich
zweifle nicht, dals in diesem Sinne die Umbildung der Ideeo
in Zahlen von Plato gemeint war. Nattlrlich konnte der pytha-
goreisch-mystische Unsinn, den die Akademie damit trieb, von
der ernsten Wissenschaft aus nicht scharf genug bekämpft
werden.
5. Die Stelle de an. T 6, 430 b 16 f. ist leider verdorben;
vielleicht ist hier unsere Auffassung des Aristoteles imstande,
eine Verderbnis zu heilen. Die Worte eveöri yag xdv tovtok
XL döialQBxov zeigen erstens, dafs vorher c^JU' y ddud^c
nicht fehlen darf; denn gerade das soll erklärt werden, und
zweitens, dafs der Schriftsteller zu neuen (xa/) Gegenständen
tibergegangen ist, die im nächsten Satze mit dem owexh auf
eine Stufe gestellt werden: das konnten aber niemals die ädr^,
sehr wohl jedoch xd i§ dq>aiQic%(Dq Xey^fieva, wie 429 b 18 19
beweist. Somit sind diese die neuen Gegenstände, nnd ich
möchte ergänzen vor xaxd cvfißsßTpcöc 61^ welches sowieso mit
dem Vorangehenden in keiner Verbindung steht: xd i'iv c^ct-
giaei Xeyofieva voet kv dtatQsxcp XQ^^ ^^^ öiatgextp r^g V^'ri^^
was nach dem Vorangehenden rein mechanisch leidit über-
sprungen werden konnte. Also zu verstehen ist: „die abstrakten
Gegenstände denkt die Seele in teilbarer Zeit nnd einem
zusammengesetzten seelischen Akte, freilich nur unweseotlicb
und nicht als jenes, nämlich teilbar nach Zeit und Seelenakt^
sondern als unteilbar."
Digitized by
Google
115
6. Wir rnttfaten uns eigentlich, wenn wir vom voi}g xottj-
Tixög reden, mit der Brentano -Zellerschen Kontroverse ans-
einandersetzen, welches wohl eine der interessantesten Aufgaben
wäre; ich habe mich in sie erst vertieft, nachdem mir die Re*
snltate meiner Arbeit feststanden, nnd ich fand, dafs ich anch
zur Benrteilnng dieser Streitfrage eine ganz selbständige Position
gewonnen habe. Doch nm entscheiden zn können, mttfsten wir
die fragliehen Stellen, namentlich de an. III, 4—8 einer erneuten
genauen Interpretation unterziehen. Hier möchte ich nur ein
Beispiel herausgreifen, um zu zeigen, wie frei namentlich
Brentano mit dem Texte verfährt Ich will durchaus nicht
Zeller in allem beitreten, aber ich gestehe, dafs ich Brentanos
Interpretation nicht zu folgen vermag. In seiner neuesten Streit-
schrift „Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen
Geistes^ (Leipzig 1911) spielt wohl die wichtigste Rolle die
Stelle A 3 der Met 1070 a 21 f. (vgl. S. 16-18 des gen. Werkes).
Ich möchte kurz zeigen, daij9 auch diese Stelle zum mindesten
durchaus nicht sicher ftlr Brentano spricht
Wir beginnen mit der Erklärung 1070 a 13. Bei Einigem,
meint Aristoteles, gebe es ein rööe n nicht neben der zusammen-
gesetzten Substanz, wie z. B. das elöog des Hauses nicht selb-
ständig neben dem Hause bestehe, es sei denn, man suche dieses
in der rix^ij; dann sei aber darin keine vXtj mehr vorhanden
(welche also vorher doch darin war), und bei einer solchen
Substanz verlören die Begriffe yiveou; und (jpd^oQo. überhaupt
ihre Anwendnngsmöglichkeit Wenn es aber einiges gebe, bei
dem ein xoöb xi neben der övvd-irrj ovöla bestehe, so sei dies
nur bei den q}vosi ovxa der Fall. Aristoteles schliefst also die
dÖTj ävBv vXrjg hier überhaupt von der Betrachtung aus. Denn
dafs reines tlöog und vXi] beide vorher vorhanden sein mttssen,
ist klar und wird in den zu dieser Stelle parallelen Ausführungen
Z 7 — 9 vielfach betont: 1034 b 12 dsl yäg öst jtQOv^dgxsiv rr/v
vXfjv xal TÖ slöog; 1032 b 11: wäre öv/ißalvsi TQOjtov xivä ^g
vyulag xtjv f^^^vöa^^ ylyvBO&^ai xal xtjv olxlav l§ olxlag, xfjg
ävsv vXfjg X7)v Ixovoav vXtjr ' ^ yäg laxQix/j ioxc xal ^ oixo-
öofiiXT] xd slöog xfjg vyislag xal xfjg olxlag * Xiy(X) de ovölav
ävev vXrjg xd xl fjv elvai; vgl. noch 1034 a 21. Auch an unserer
Stelle wird doch mit el fi^ f) xix^i] die olxla ävev vXfjg als
sehr wohl vor dem sinnfälligen Hause bestehend ausgenommen.
8*
Digitized by
Google
116
Es folgt dann eine Zwisclienbemerknng tlber die Ideen. Dano
heifst es: rä /isv ovv xivovvta atxca (d. h. rä (pvoei) (oq jtQO-
yhysvTiiiiva ovra, rä & wq 6 X&foq äfia (d. h. rä rixvij). Waa
mit xä & ccq 6 Xoyoq gemeint sei, geht ans den nachfolgenden
Beispielen hervor vyUux nnd Oxfjfia rfjg xaXxfjq öipalQaq, also
dasselbe, was oben olxlaq xb slöog hiefs, wovon otxla ai'tv
vXi]q noch geschieden werden mnfste, nicht aber die xQwrii
ovala, das reine elöog. Das Wort Xoyog nämlich hat eine
viel weitere Bedentnng als slöog oder 6Qia/i6g; es amfafst %. B.
aach die cbidösi^ig; aach das Abstraktallgemeine fällt daronter
1030 a 14 f. (s. 0. Seite 83), ja sogar die alod^öig ist ein Xoyo:
(de an. 424 a 27 f.). Also besagt unsere Stelle nnr: dafs bei
den künstlich hervorgebrachten Gegenständen ein ebensolcher
vorher noch nicht vorhanden zu sein braucht; die allgemeioe
Engel entsteht erst mit der individuellen, wogegen das reine
elöog natürlich in der x^x^tj im Verstände des Hervorbringenden
vorhanden gewesen sein mnfs. Damit dagegen ein Mensob,
überhaupt ein q)vaei ov, zustande komme, müsse vorher ein
Mensch schon existieren, also nicht nur das reine döog eines
solchen, sondern auch das mit der Materie verbundene. Dann
erst folgen die für Brentano entscheidenden Worte, die aber
vielmehr gegen ihn entscheiden, wenn man nämlich das vrirklich
entscheidende Wörtchen nicht ausläfst: el 61 xal voxbqov ri
vjcofievei, axajcxiov. Es ist doch etwas anderes, ob ich sage:
„ob aber später noch etwas fortbesteht, mufs untersucht werden''
(so Brentano S. 18), oder ob ich sage: „ob aber aueh später
noch etwas fortbesteht, muls untersucht werden'^. In diesem
letzten Falle nämlich habe ich offenbar bereits dargetan, daJjB
vorher jedenfalls etwas bestanden habe, während die entgegen-
gesetzte Deutung lediglich durch die willkürliche Nichtbeachtung
von xal zustandekommt Auch Zeller hat ihn hier nicht korri-
giert. Überhaupt enthält seine Interpretation manches Ab-
stölsige: ein individuelles sldog olxlag z. B. gibt es meiner
Ansicht nach nicht, sondern damit ist das Abstraktallgemeine:
TcXlvB-oc xal ^vXa cool xslfisva gemeint, also das öxixaöfia öir
xfi vXy cpg xad-öXoVj die platonischen Ideen in aristotelischer
Auffassung. Schlielslich würde ich nicht von einer Präexistenz
des vovg jioi7/rcx6g sprechen; denn der ist ja vollständig zeitlos^
sondern vielmehr von einer Präexistenz des vovg im Vater des
Digitized by
Google
117
Menschen: dies ist A S gemeint. Aber darin hat Zeller sicher
recht: der vovq konnte nicht dd-dvaroq nnd ätötoq genannt
werden, wenn er zu einer bestimmten Zeit geschafifen
worden wäre.
7. Der Begrifif der Erfahmng, wie sie in An. post. II, 19 nnd
Met. A 1 entwickelt wird, hat wenig Beziehung zn der Theorie
der Induktion, die Aristoteles An. pr. II, 23, 24 aufstellt. Diese
Ansführnngen sind, als Theorie der eigentlichen Induktion be-
trachtet, völlig unzulänglich (vgl. B. Erdmann, Logik I^ § 578),
und wir können zudem gar nicht begreifen, dafs diese so-
genannte vollständige Induktion, die An. pr. II, 23 ausdrücklich
gefordert wird, von Aristoteles verlangt werde, um die Ausgangs-
punkte ftir die Syllogismen zu vermitteln. Dagegen kann der
Weg der Erfahrung, wie ihn namentlich Met. A 1 schildert, diese
Aufgabe sehr wohl in Angriff nehmen. Den Unterschied, der
zusammenfällt mit dem zwischen der Betrachtungsweise der
Analytik und der Dialektik, haben wir uns etwa folgender-
malsen zu verdeutlichen.
In den Analytiken handelt Aristoteles von den Syllogismen,
nnd wenn er auf andere Formen des logischen Denkens zn
sprechen kommt, so will er jedesmal nur deren Beziehung zu
Sehltlssen klarlegen, sie womöglich auf solche zurttckfübren.
Dies war bei der hjcaymyi] nur flir die Form der vollständigen
Induktion möglich, bei der der Untersatz rein umkehrbar ist.
Kur in diesem Falle hat denn auch der Schluüssatz andere als
hypothetische Geltung. Aber Aristoteles kennt auch die eigent-
liche (jetzt wohl „unvollständig'' genannte) Induktion; nur
müssen wir eine Erörterung über sie, die ja stets ein hypo-
thetisches Moment enthält, in der Topik suchen, wo ja über-
haupt die auf den allgemeinen Annahmen aufbauenden Yer-
fahrungsweisen behandelt werden. Da heilst es denn 105 a 13:
Ijtayoyij öh fj cbtb rcov xad-^ ixaorov ijtl rä xad-oXov e(po6og,
olov el eari xvßEQV^xrjc; 6 ijtiordfievog XQdTiorog xal ^vloxog
xal ojicog ioxlv 6 kjciardfievog jtegl ixaoxov ägicrog. Auch
wird die Beziehung zur Wahrnehmung betont, mit der zu-
sammen sie dem Syllogismus gegenübertritt: iari 6s r) ftlv
Ijiayoyi jciO-avoirsgov xal öatpBöxBQOv xal xarä xrjv aHoO^rjöiv
yvcoQiiioixBQov xal xolg noXXolg xoivov, o de OvXXoyiOfiog
Digitized by
Google
118
ßiaarixcitBQOv xa\ jrpd^ rovg dvriXofixovq hao^iotepop. Thh
Aristoteles keineswegs Toraussetst, es mülsten alle eiDzeben
Fttlle registriert sein, damit man einen allgemeinen Satx ab
induktiv begründet hinstellen könne, geht am besten ans seinei
Anweisung hervor, wie man einem induktiv gefundenen Satze
entgegenzutreten habe: 153a 34 orav & imir/ovroq btl xoXk&v
ftrj öiöm rö xa&öXov, zore ölxaiov djcaiTBlv tporaöiv; fthnlieh
& cap. YIIL Auch finden sich Ansätze zu einer Theorie dieser
Art der Induktion: sie beruht, so lehrt der Philosoph, auf iet
Ähnlichkeit der untersuchten mit den nicht geprüften Flllen
und gleicht insofern sehr dem Analogieschlüsse; nur dafs dieser
auf die nicht geprüften Fälle allein schliefst, während die
Induktion zu einem allgemeinen, alle Fälle befassenden Satze
hinstrebt: 108 b 7 f. und besonders 152 b 10— 17. In derMeU-
physik 1048 a 35 f finden wir eine schöne Parallele: öfßov
ß*ijtl rc5v xad-^ ixacra rf] ijtayayyfj 6 ßovXöfied-a jidysip xai
ov öel navrbq ogov ^ijTetv dXXä xai tb ävdXofov awogär.
Überhaupt ist mit hnar[orfri meist die Induktion im Sinne der
Topik gemeint/ z. B. Met. 1055 b 18; An. posi 71 a 9—10. Dab
endlich Aristoteles diesem Induktionsschlusse nur hy]K)theti8eIie
Geltung einräumt, geht daraus hervor, dals er ihn in der
Topik behandelt; man vgl. noch An. postll, 5, 91 b 14/15, wo
ebenfalls die hjcaycoyiq als Beispiel eines nicht strengen Sehlusses
angeführt wird. Sonst finden wir bei unserm Philosophen
weiter keine Erörterung etwa über den Grundsatz, der diese
induktive Denkweise charakterisiere, oder den Recbtsgrnnd,
auf dem logisch genommen seine Geltung beruhe. Dahtf sind
wir auch nur im Anhange auf die Frage eingegangen.
Berichtigang:
S. 2, Z. 11 y. u lies g U, Abs. 4 statt § 35, Abs. 3.
Druck Ton Ehrhardt Ksitm G. m. b. H. in HaUe (Sude).
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Verlag von Max Nlemejer in Halle a. &
Bergmann, Hugo, Das Unendliche und die Zahl. 1913. 8. VII
88 8. Jb 2,o''
— Das philosophische Werk Bemard Bolzanos. Mit Benutzung un-
gedmckter Quellen kritisch untersucht. Nebst einem Anhange
Bolzanos Beiträge zur philosophischen Orundlegnng der Mathe-
matik. 1909. 8. XIV, 230 S. Jh 7,-
Eisenmeier, Josef, Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in de:
Philosophie. Eine Einftthrung in die wissenschaftliche Phil<-
sophie. 1914. 8. VIII, 111 S. J5 3,20
Festschrift für Alois Rieh!. Von Freunden und Schülern zu seinem
70. Geburtstage dargebracht 1914. 8. VII, 522 8. Jh H,-
Freytag, W., lieber den Begriff der Philosophie. Eine kritische
Untersuchung. 1904. 8. 47 S. jH 1 -
— Die Entwicklung der griechischen Erkenntnistheorie bis Aristoteles
In ihren Grundzügen dargestellt. 1905. 8. IV, 126 S. Jk l-
Gallinger, August, Zur Grundlegung einer Lehre von der Erinnernn^.
1914. 8. IV, 149 8. Jk 4-
Goedeckemeyer, Albert, Die Gliederung der aristotelischen Philosophie.
1912. 8. VI, 144 S. Jk 4-
Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. 2 Bände in 3 TeileD.
2. umgearbeitete und erweiterte Auflage. 1913. 8.
1. Prolegomena zur reinen Logik. 1913. XII, 257 S.
geb. ^6—; gebd. JlS.2:^
2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Eriienntnis.
2 Teile. I. Haltte. 1913. XI, 508 S. geh. Jk 14,-; gebd. Jk 16. >i)
Kraus, Oslcar, Die Lehre von Lob, Lohn, Tadel und Strafe bei
Aristoteles. 1905. 8. X, 78 S. .il 2.40
— üeber eine altüberlieferte Missdeutnng der Epideiktischen Rede-
gattung bei Aristoteles. 1905. 8. 30 S. Jk 1,—
— Neue Studien zur Aristotelischen Rhetorik, insbesondere fiber dss
yivoq, IjiL&WKxvKOv, 1907. 8. IV, 117 S. Jk 3,-
Losskij, Nikolaj, Die Grundlegung des Intnitivismus. Eine pro-
pädeutische Erkenntnistheorie. Uebersetzt von Johann Strauch.
1908. a IV, 350 S. Jk 8,'
Riehl, Alois, Immanuel Kant. Rede zur Feier des hundertjfthrigeD
Todestages Kants gehalten in der Aula der Universitilt Halle-
Wittenberg. 1904. kl. 8. 30 8. ' Jl 0,60
— Plato. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag. 2. durchgesehene
Auflage. 1912. 8. 35 S. Jl 0,60
Spranger, Eduard, Lebensformen. Ein Entwurf. 1914. 8. 110 S. ^2,40
Druck von Ehrhardt Karras Gr. m.b.H. in Halle (Saale).
Digitized by
Google
[ABHANDLUNGEN
ZUR PHILOSOPHIE UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN VON BENNO ERDMANN
XLV
IM/
ZUR CHARAKTERISTIK
VON
MACH'S ERKENNTNISLEHRE
RUDOLF THIELE
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMBYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
I I
l
I
Digitized by
Google
ABHANDLUNGEN
ZUR
PHILOSOPHIE
UND IHRER GESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
BENNO ERDMANN
FCNFUNDYIEBZieSTES HEFT
EÜDOLF THIELE
ZUR CHARAKTERISTIK TON MACH'S ERKENKTNISIjBHRB
HALLE A.S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
ZUR CHARAKTERISTIK
VON
MACH'S ERKENNTNISLEHRE
VON
RUDOLF THIELE
HALLE A. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
1914
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Fräulein Wera Kosstowa
in herzlicher Freundschaft gewidmet
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Inhalt
Seite
Emleitmig 1
I. Allgemeine ChankterisieniDg yod Maohs erkenntDlstheoretischem
Standpankt 6
IL Die Elementenlehre. Psychisches und Physisches 27
III. Ding mid Ich, der Sabstansbegriff. Die Hypothese fremden
Bewuiatseins 45
IV. Der Eansalbegriff und sein Ersatz doroh den Fanktionsbegrlff.
Beschreibung nnd Erklärung 71
y. Machs Stellongnahme gegen den natarwissenschaftllchen Realis-
mus. Anfgabebestimmang der Wissenschaft 94
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Einleitang.
Die YorUegende Arbeit verfolgt zunäehst den Zweck, eine
Daratellang und Yerdeutliehnng der Macbschen Erkenntnis*
lehre in ihren wesentlichen Zttgen zu geben. Bei der Mannig-
faltigkeit von Gegenständen philosophischen nnd speziell
erkenntnistheoretischen Interesses, die Mach in den Kreis
seiner Betrachtungen gezogen hat, dttrfte der Versuch sich
rechtfertigen, einmal durch schärfere Herausarbeitung der
leitenden Gesichtspunkte den eigentlichen Grnndcharakter
seiner Lehren zu bezeichnen. Das Eigentttmliche aber des
Maehschen Standpunktes ins rechte Licht zu rttcken scheint
nichts geeigneter, als die Übereinstimmungen sowohl als die
Unterschiede gegenüber jenen philosophischen Lehrmeinungen
hervorzuheben, als deren Fortbildung und Umbildung man die
Maehsehen Aufstellungen in sachlicher Hinsicht zu betrachten
hat Damit mrd diesem Standpunkte zugleich sein historischer
Ort in der allgemeinen philosophischen Problementwicklung
angewiesen.
Ausgehend ttberall von einzelwissenschaftlichen Gesichts-
punkten, aber die Grenzen des Spezialgebietes hinter sich
lassend, ist Mach zu einer allgemein-philosophischen Orientierung
gelangt, die ebensoviel Zustimmung wie Ablehnung in den
philosophisch und naturwissenschaftlich interessierten Kreisen
erfahren hat, jedenfalls aber in der Diskussion philosophischer
Prinzipienfragen eine hervorragende Rolle spielt und weiter
zu spielen bestimmt sein dttrfte. Neben den im engeren Sinne
erkenntnistheoretischen Problemen hat Mach besonders erkenntnis-
psyehologisehen und -biologischen Fragen sein Interesse zu-
gewandt Er ist dem wissenschaftlichen und dem vorwissen-
PhUoiophiNbe Ablumdlnngen XXXXV. 1
Digitized by
Google
Bchaftliehen Denken anf seinen vielfach versehlnngenen Pfaden
nachgegangen nnd hat insbesondere Überall sich bemttht, die
Motive, welche den Natarforscher bei seiner Arbeit leiten,
psychologisch zn dorchlenchten. Indem er die Erkenntnis-
tätigkeit als eine den allgemeinen biologischen Gesetzen unter-
stellte Lebensänfsernng anffafste, indem er, gewifs nieht als
der erste nnd einzige, den Entwicklnngsgedanken im Sinne
Darwins anf den Werdegang der Wissenschaft anwandte, hat
er bedeutsame Beiträge zn einer Biologie der Forschnng
geliefert. Die Lehre von der Umbildang nnd Anpassung der
Gedanken, die Auffassung der Wissenschaft als einer von dem
Ökonomieprinzip beherrschten Erscheinung bilden wohl die
bemerkenswertesten Gesichtspunkte, die diese Betrachtungs-
weise hervorgebracht hat. Eine ausgezeichnete Kenntnis der
Geschichte der Naturwissenschaften, die Mach in einer Reihe
von historisch-kritischen Arbeiten aus dem Gebiete der Physik
bewiesen hat, sichert diesen allgemeinen Betrachtungen eine
stabile Grundlage.
Diese erkenntnispsychologischen und erkenntnisbiologischen
Ausführungen, ebenso wie die verschiedenartigen logisch-
methodologischen Untersuchungen, die sich auf GegenstiLnde
wie das Experiment und Gedankenexperiment, die Hypothese,
das Problem, Induktion und Deduktion usw. beziehen, sollen
in folgendem nicht besonders erörtert werden. So sehr diese
Gedankengänge auch mit der Machschen Grundttberzengiing
zusammenhängen und dieselbe in mannigfacher Weise ra
beleuchten geeignet sein mögen, so liegt doch ein Eingehen
auf sie jedenfalls aufserhalb des Planes unserer sich auf
Prinzipielles beschränkenden Darstellung. Bei dieser Be-
schränkung entftlllt auch die Notwendigkeit einer spezielleren
und zusammenhängenden Erörterung der Liehren von Sanm,
Zeit und Mathematik bei Mach. Im allgemeinen ist ja die
Art, wie diese Gegenstände behandelt werden, in der Tat
ganz besonders geeignet, einen philosophischen Standpunkt in
erkenntnistheoretischer Hinsicht zu charakterisieren. Für die
Kennzeichnung der Machschen Position jedoch ist sie nieht
eigentlich mafsgebend, nicht mehr jedenfalls, als das etwa bei
Hume der Fall ist. Diese Ausführungen bei Mach, die sich
auf rein empiristischen Voraussetzungen bewegen, beusprueben
Digitized by
Google
3
in der Hauptsache ein psychologisches underkenntniBgenetisches
Interesse. Die Beiträge zur „Psychologie and natürlichen Ent-
wicklung der Geometrie'', die Untersnchnngen ttber die Be«
Ziehungen des „physiologischen Banmes", d i. des Banmes der
Sinneswahrnehmong, znm metrischen (spez. Enklidisehen)
Banme sowie die analogen Betrachtangen ttber die Zeit stehen
im Mittelpunkte dieser Aasftthrangen. Daneben kommen
besonders in Betracht die Erörterangen ttber den „physikalischen
Baam^ and die „physikalische Zeit'', die, ebenso wie die
kritische Untersachong weiterer Grandbegriffe der Physik, für
die erkenntnistheoretische Fandierang dieser Wissenschaft
bedeatsam sind, and aaf die wir karz eingehen werden.
Aaf eine systematisch zasammenhängende Darstellang
seiner E^kenntnislehre hat Mach verzichtet. Vielmehr finden
sich seine erkenntnistheoretischen Lehren mit den oben bertthrten
Gedankenreihen in einer Weise yerflochten, die es nicht immer
ganz leicht macht, beides reinlich aaseinanderzahalten. Eine
solche Trennang ist aber im Interesse einer genaaen Bezeichnung
der Problemlage darchaas notwendig, da es za irrtttmlichen
Aaffassangen ftthren maus, wenn man etwa Aasftthrangen, die
rein biologisch gemeint sind, ohne weiteres erkenntnistheoretisch
interpretieren wollte. Derartige Yerwechselangen, die ja darch
die Art der Machschen Darstellang nahegelegt sind, scheinen
in der Tat nicht selten za Yerkennangen seines Standpunktes
Yeranlassong gegeben zu haben.
Bei unserer Darlegung der Machschen Erkenntnislehre
werden wir besonders auf eine Seite derselben Rttcksicht
nehmen, die wir mit einem später genau zu bestinunenden
Ausdruck als die phänomenologische bezeichnen wollen.
Es soll schon hier bemerkt werden, dafs die phänomenologische
Betrachtungsweise bei Mach nicht in voller Reinheit durch-
geführt ist, daiÜ9 vielmehr andere Auffassungen daneben sich
geltend machen, so indessen, daüs der hervorgehobene Gesichts-
punkt ohne Zweifel der malsgebende bleibt Die phäno-
menologische Analyse des unmittelbaren Tatbestandes
nnd die phänomenologische Aufgabebestimmung der
Wissenschaft scheint uns das eigentlich Charakteristische
sowohl als Bedeutsame der Machschen Aufstellungen. Die
Heraushebung dieser Gesichtspunkte und die Vereinigung
1*
Digitized by
Google
derselben zu einem mttglichfit geschlossenen Bilde, das das Wert-
volle dieser Anschaaang erkennen läfst, soll neben der
eigentlichen Darstellung und Yerdentliehnng der Machsehen
Gedankengänge das wesentliche Ziel dieser Arbeit sein.
Die Schriften Machs sind folgendennafsen zitiert worden:
A. d. E. Die Analyse der Empfindungen nnd das Verhältnis
des Physischen zum Psychischen, 6. Anfl. 1911,
(1. Aufl. 1885).
E. u. J. Erkenntnis und Irrtum . . . , 2. Aufl. 1906, (1. Aufl. 1905).
P. V. Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 4. Aufl. 1910,
(1. Aufl. 1896).
W. L. Die Prinzipien der Wärmelehre . . . , 2. Aufl. 1900,
(1. Aufl. 1896).
M. Die Mechanik in ihrer Entwicklung . . . , 7. Aufl. 1912,
(1. Aufl. 1888).
E. d. A. Die Geschichte und die Wurzel des Satzes you d^
Erhaltung der Arbeit, 1872, Neudruck 1909.
B. E. Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen,
1875.
S. E. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe,
Pflttgers Areh. f. d. ges. Physiol. Bd. 186, 1910, S. 263.
L. Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Er-
kenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeit-
genossen, „Scientia'' Rivista di Scientia Bd. VIL 14,
S. 225; auch Physikalische Ztschr. Bd. 11, 1910, S.599.
Von den yielenkleinerenZeitschriftenartikeln und Akademie-
abhandlungen Machs, meist physikalischen oder physiologischen
Inhalts, sind die wichtigsten in den bereits zitierten Populär-
wissenschaftl. Vorlesungen zum Abdruck gekonmien. Die übrigen
enthalten nichts von prinzipieller Bedeutung, das nicht in den
genannten HauptschriÄen genttgende Berücksichtigung gefanden
hätte, und brauchen daher fbr unsere Zwecke nicht heran-
gezogen zu werden.
Digitized by
Google
L AUgemeine Charakterisierung Yon Machs
erkenntnistheoretischem Standpunkt
1. Die StelluDg eines Denkers zum Realitätsproblem
ist fttr die Kennzeichnung seines erkenntnistheoretischen Stand-
punktes Yon mafsgebender Bedentnng; denn sie begründet ja
so fandamentale Unterschiede der Orientiemng, wie sie sich
in dem Gegensatz von Bealismas und Idealismus aussprechen.
Mit dem Realitätsproblem aber in engem Zusammenhange
steht die (metaphysische) Frage nach der Natur des Wirklichen,
des als real Erkannten, deren Lösungsversuche durch Aus-
drücke wie Materialismus, Spiritualismus, Dualismus usw.
bezeichnet sind. Machs Stellungnahme zu diesen Fragen soll
uns zunächst beschäftigen und zur allgemeinen Charakterisierung
seiner erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung dienen. Die
uns geläufige Sonderung der beiden verwandten Probleme, die
noch den Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts fast völlig
fremd ist, ist auch bei Mach zwar angedeutet, aber nicht
reinlich durchgeführt, so dals dies auch in unserer Darstellung
nicht ohne Eünstlichkeit zu erreichen gewesen wäre.
Das Realitätsproblem in allgemeinster Formulierung besteht
in der Frage, ob sich in der Mannigfaltigkeit des unmittelbar
Vorgefundenen das, was wir als wirklich zu bezeichnen haben,
erschöpft, oder ob sich im denkenden BewuJj9tsein Momente
finden, die auf ein über diesen Bestand hinausgehendes und
denselben bedingendes Sein hindeuten. Die Bejahung des
ersten Teiles des Frage bezeichnet den Standtpunkt der
„Immanenzphilosophie^.i) Alle anderen philosophischen Stellung-
0 Die Hauptvertreter dieser RichtuDg sind Schuppe, Rehmke, von
Sohubert-Soldern und Max Kauffmaon, letstere beiden Denker mit einer
ihnen eigentümlichen Betonung des erkenntniBtheoretischen Solipsismus.
Digitized by
Google
6
nahmen sind demgegenüber dadnreh charakterisiert, dab sie
in irgend einem Sinne „transscendente^ Faktoren anerkennen.
Sie statuieren einen Unterschied zwischen BewnJÜBtem nnd
Anfserbewnistem nnd sehen in letzterem das den weehselnden
Inhalt des Bewnistseins Bedingende. Dabei macht es ftir das
so festgelegte Problem zunächst keinen Unterschied, ob diese
aulserbewafsten Bedingungen des Bewuüstseinsinhalts in einem
materieUen oder, wie etwa bei Berkeley, in einem geistigen
oder, wie bei Kant, in einem seiner Natur nach nicht näher
zu charakterisierenden Realen angenommen werden. Im engeren
Sinne fällt das Bealitätsproblem mit der Frage nach der
Existenz einer materiellen Aufsenwelt zusammen, und man
bezeichnet nach herrschendem philosophischen Sprachgebrauch
den Standpunkt, welcher eine solche Aufsenwelt behauptet, als
Realismus, den entgegengesetzten als Idealismus. Hier berührt
sich das Realitätsproblem aufs engste mit der Frage nach der
Natur des Wirklichen in dem oben bezeichneten Sinne. Die G^gen-
satzpaare bewufst — aulserbewult, geistig — materiell, psychisch
— physisch werden nicht mehr scharf auseinander gehalten.
Mit dem Idealismus und der Immanenzphilosophie leugnet
Mach die Existenz einer „Aufsenwelt^ im Sinne der gewöhnlichen
Sprech- und Denkweise, mit dem Idealismus das Dasein einer
materiellen Aufsenwelt, mit der Immanenzphilosophie das einer
über den Bestand des unmittelbar Gegebenen hinausgehenden,
aufserbewufsten Wirklichkeit überhaupt. Die Motive zu dieser
Stellungnahme uns deutlich zu machen — soweit eine solche
Motivierung überhaupt gegeben werden kann — werden wir
zweckmäfsig erst später versuchen. Man hat ja doch eine
derartige Grundüberzeugung, gerade wie die entgegengesetzte
realistische, als in einer ganz ursprünglichen Denkrichtung
wurzelnd zu betrachten und anzunehmen, dafs sie sich im
allgemeinen bei ihren Vertretern schon lange in voUer
anschaulicher Klarheit vorfindet, ehe diese daran gehen, sie
in begrifflicher Form zu entwickeln. Einen Beweis fbr die
Richtigkeit seiner Überzeugung, etwa aus den unhaltbaren
Konsequenzen des Gegenteils, wie ihn z. B. Berkeley in seiner
Polemik gegen die Lockesche Unterscheidung der primären
und sekundären Qualitäten zu liefern versucht hat, hat Mach
nirgends ausdrücklich gegeben. Er beschränkt sieh vielmehr
Digitized by
Google
darauf, die Dnrehftihrbarkeit seiner Ansichten aaf den von
ihm bearbeiteten wissenschaftlichen Spezialgebieten darzntnn,
sie als die einfachsten and „ökonomischsten^, dabei völlig
zulänglichen zu erweisen nnd damit einen nicht nnwesentlichen
Ansprach der gegnerischen Position abznlehnen.
Darch die Yemeinang der Aolsenwelt, die ihm mit dem
Idealismas and der Immanenzphilosophie gemein ist, ist aber
die Stellang Macbs zum Realitätsproblem noch nicht hin-
reichend gekennzeichnet. Während nämlich der Idealismas
auf Grand der Bestreitang einer materiellen Anlsenwelt za der
Überzeagang kommt, dafs alles Sein seiner Natar nach geistig
sei, fbr die Immanenzphilosophie aber die gesamte Wirklichkeit
Bewafstseinstatsache wird (Inhalt eines „bewnfsten Ich^ bezw.
eines „Bewnfstseins ttberhanpt^, Schappe), gelangt Mach za
einer wesentlich anderen Einsicht. Er erkennt den Be-
wnlstseinscharakter oder die psychische Natar des
anmittelbar Gegegebenen nicht an. Dieser Umstand
nnterscheidet ihn prinzipiell von den beiden genannten Stand-
pankten, aber aach zugleich von den ttbrigen Richtungen der
Philosophie, und bildet somit das eigentlich charakteristische
Merkmal seines Grundgedankens. Unsere Aufgabe wird also
zunächst darin zu bestehen haben, uns den eigenttlmlichen
Sinn dieser von der gewöhnlichen Orientierang sich so weit
entfernenden Auffassung zu vergegenwärtigen.
Wir gelangen zu einem Verständnis der Machschen Position
vielleicht am zweckmäfsigsten durch die folgende Betrachtung,
die sich bei Mach selbst nirgends darchgeftihrt findet, sondern
in freier Weise za zeigen versacht, wie man von den diesem
Standpunkte am nächsten stehenden philosophischen Über-
zeugungen aus zu demselben gelangen kann. Auf eine Voll-
ständigkeit der Entwicklung in historischer Beziehung kann
dabei natttrlich nicht ausgegangen werden.
Indem man eine Tatsache als Bewufstseinstatsache, als
ihrer Natur nach psychisch bezeichnet, meint man sie damit,
wenn anders dieses Attribut überhaupt einen angebbaren Sinn
haben soll, in bestimmter Weise zu qualifizieren. In der
Tat ist dies für das Descartessche Denken etwa völlig selbst-
verständlich and unter den (dualistischen) Voraussetzungen
dieses Denkens auch in keiner Weise zu beanstanden. Denn
Digitized by
Google
8
für diesen Philosophen steht ja fest, dafs Geist nnd Materie,
denkende nnd ausgedehnte Substanz (snbstantia eogitans und
snbstantia extensa) wenn anch nicht gleich unmittelbar — das
beweist die Möglichkeit des Zweifels an der Realität der
Eörperwelt — , so doch beide in wohlyerbttrgter Weise gegeben
sind. Die beiden Substanzen unterscheiden sich voneinander
durch die Attribute des Denkens und der Ausdehnung (eogitatio
oder conscientia und extensio). Damit ist aber die eine gegen-
über der anderen in genau bestimmter Weise als ein Eigen-
tümliches charakterisiert.
Bei Descartes tritt die bereits in der antiken wie in der
christlich-mittelalterlichen Philosophie angelegte Lehre von den
zwei Substanzen, der körperlichen und der geistigen, zum
ersten Male in klarer und zugespitzter Formulierung auf; von
da ab bleibt sie mit den in ihr enthaltenen Problemen
einer der treibenden Faktoren in der Entwicklung des
philosophischen Denkens. In der durch die Rezeption der
mechanischen Naturauffassung wesentlich mitbestimmten grund-
sätzlichen Unterscheidung Lockes zwischen primären imd
sekundären Qualitäten ist diese dualistische Auffassung fest-
gehalten. Die Verschiebung aber des Schwerpunktes der Frage
nach der erkenntnistheoretischen Seite hin, die bei Locke Euerst
deutlich hervortritt, bringt ein ganz neues Moment in die
Diskussion und bildet für die weitere Entwicklung einen
bedeutsamen Impuls. Fttr jeden dualistischen Standpunkt,
gleichviel wie er gewonnen sei und ob er in rein metaphysiseher
oder in erkenntnistheoretischer Wendung auftrete, ist selbst-
verständlich das Psychische von dem Physischen, das Geistige
von dem Materiellen durch angebbare Merkmale unterschieden,
wodurch allein diesen Ausdrücken ein bestimmter Sinn zukommt
Worin aber diese Unterschiede von den verschiedenen Denkern
erkannt werden, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Es kommt
für unsere Zwecke allein darauf an, den Dualismus als einen
möglichen und tatsächlich vertretenen Standpunkt in der
behandelten Frage festzustellen.
Fttr den Idealismus Berkeleys bedeutet die Behauptong
einer AuTsenwelt im Sinne einer materiellen Wirklichkeit extra
mentem in jeder Hinsicht einen Ungedanken. Die von jenen
Denkern dualistischer Orientierung behauptete materielle Seite
Digitized by
Google
9
des Seins wird also hier aufgegeben nnd damit das Wirkliche
als ein Geistiges erkannt Geister (spirits) und deren Vor-
stellungen (ideas) machen allein den Bestand des Wirklichen
aus: „Nothing properly but Persons, i. e. conscions things, do
exist. All other things are not so much existenees as manners
of y* existence of persons/ *) Das Sein der Ideen besteht in
ihrem Perzipiertwerden durch die Geister, „their esse is
pereipi''.^) Sie sind Objekte, die Geister Subjekte des Bewufst-
seins. Die Körper, die „äuberen^ Dinge (extemal things), die
dem gewöhnlichen Denken als ein vom Geiste toto genere
Verschiedenes erscheinen, sind Berkeley nichts als Komplexe
solcher Ideen (collections of ideas) ') und damit Affektionen oder
Modifikationen (manners) der Geister,^) die an ihnen entweder
durch sie selbst oder durch einen ttbergeordneten Geist (Gott)
bestimmt werden. So gelangt Berkeley zu einem mit seinem
Idealismus aufs engste zusammenhängenden Spiritualismus.
Man kann nun mit Grund fragen, ob es logisch zulässig sei,
das Ganze nicht nur einer möglichen Erfahrung, sondern des
Denkbaren ttberhaupt in dieser Weise als ein Geistiges zu
qualifizieren, ob es angängig sei, einen Begriff, der notwendig
die Beziehung auf ein Korrelat in sich trägt, nach Streichung
dieses Korrelats im gleichen Sinne weiter zu verwenden. —
In der Tat, wenn Berkeley nach Beseitigung der materiellen
Wesenheiten die ihm darin noch ttbrigbleibenden Substanzen,
den alten Ausdruck beibehaltend, als geistige bezeichnet, so
fttgt er damit dem blofsen Substanzbegriff kein neues, charakteri*
flierendes Merkmal hinzu. Denn gewiiüs kann ja die Behauptung
einer geistigen Substanz nur für denjenigen eine sinnvolle
sein, der mit ihr die gleichviel auf welchem Wege gewonnene
Einsicht verbindet, dals ein andersartiges Reale existiere. Wenn
Berkeley dennoch, was ja aufser Frage steht, das Wirkliche
in seiner Gesamtheit als ein Geistiges bezeichnen will und
0 Berkeley's GommonpUiee Book, grofse Frasersohe Ausg., S. 469.
^ Principles of Human Knowledge, Sekt III.
») 1. c. Sekt I.
*) Obgleich die Bezeichnang der ideas als y^manDers*', Modifikationen
der Geister sich in den späteren Berkeleyschen Schriften dieser Periode
seiner Produktion ansdrtlcklich nicht mehr findet, hat er diese Auffassung
doch der Sache nach festgehalten.
Digitized by
Google
10
damit eine dasselbe kennzeichnende Aussage getan zu haben
glaubt, ohne sieh dabei der angegebenen Schwierigkeiten
bewnlst zn werden, so ist dieses Verhalten eben nnr aus den
historischen and psychologischen Voraussetznngen eines Denkens
heraus verständlich.
Indessen ist mit dieser Erörterung der Sinn des Berkeley-
scheu Spiritualismus nicht erschöpft, ja nicht einmal sein
wesentlicher Charakter getroffen. Dieser liegt vielmehr in dem
Festhalten des Substanzbegriffes überhaupt im ZusammeDhange
seiner idealistischen Orientierung. Sehen wir nämlich von
iener nur durch den Gegensatz zu möglichen andersartigen
Existenzen zu rechtfertigenden Qualifikation seiner Substanzen
ab, so bedeutet bei ihm die Behauptung: es gibt geistige
Substanzen nichts anderes als: es gibt denkende, iehartige
Wesen (I, myself, person). Diese aber sind als aktive Wesen
im Gegensatz gedacht zu den rein passiven Ideen. DaliB es
unter der hier nicht zur Erörterung stehenden Voraussetzung
solcher gleichviel wie zu nennenden und nur durch ihren Gegen-
satz zu den Ideen zu bestimmenden Substanzen in logischer
Hinsicht durchaus zulässig ist, die Ideen als deren Affektionen
oder Inhalte, als Objekte oder Inhalte des Bewufstseins aufzu-
fassen, ist deutlich. Es ergibt sich also auf diese Weise ein von
dem dualistischen wesentlich verschiedener, in sich völlig möglicher
BewuCstseinsbegriff. Der (richtig zu verstehende) spiritualistisehe
Substanzbegriff ist es also, der in der hier in Betracht gezogenen
Hinsicht den Berkeleyschen Standpunkt charakterisiert.
Der Berkeleyschen Orientierung steht die Immanenz-
philosophie insofern nahe, als sie an dem Ich als einem sehleeht-
hin Realen festhält, ja dieses geradezu zur philosophischen
Grnndtatsache und seine Anerkennung zum einzig mögliehen
Ausgangspunkt einer erkenntnistheoretischen Besinnung macht
Damit kann sie dann auch von Bewufstseinsinhalten dieses
Ich reden. „Absolut klare unmilsverständliche unbezweifelbare
Tatsache ist nur das Ich, oder was damit gleichbedeutend ist,
,das bewufste Ich^ Und die Tatsache darf in keinem FaUe
einfach umgangen werden, dafs dieses bewufste Ich alle jene
Data der Sinne zunächst als Inhalt seines Bewufstseins vor-
findet. Mag dann an dieser Tatsache gedeutet werden , was
da will; von ihr mnls als dem Ersten ausgegangen werden''
Digitized by
Google
11
(Sehappe).0 Ein prinzipiell trennendes Moment, aber gegenüber
Berkeley ist dadurch gegeben, dafs diese philosophische
Richtung jeden transszendenten Faktor als Ursache dieser
Bewnüstseinsinhalte, wie er bei Berkeley in dem Gottesbegriff
gesetzt wird, schlechthin leugnet.
Locke war als Kritiker der überlieferten Snbstanzvor-
Stellung aufgetreten; das Snbstanzproblem stand im Mittel-
punkte seines Philosophierens. Er hat mit der Zersetzung des
Snbstanzbegriffes einer bis auf ihn hin vorwiegend rationalistisch
gerichteten Philosophie begonnen, indem er den dogmatischen
Glauben an die Erkennbarkeit der Substanzen erschütterte und
sie als „somethings I know not what^ kennzeichnete. Berkeley,
an Locke anknüpfend, führt diese Auflösung weiter. Aus
seiner idealistischen Gmndstimmung heraus leugnet er die
Existenz und Möglichkeit materieller Substanzen, um allein
die Geister als substantielle Wesenheiten anzuerkennen. Bereits
der unmittelbare Nachfolger Berkeleys in der empiristischen
Entwicklnngsreihe geht darüber noch hinaus, indem er auch
diesen spiritualistischen Substanzbegriff zu beseitigen sucht
Hnme bricht, prinzipiell wenigstens, mit der substantiellen Auf-
fassung des Geistes: wie es für Berkeley schon die Körper
waren, so ist nun für Hume auch der Geist nichts als „a bündle
or coUection of different perceptions^.^ Die „perceptions^
(„impressions" und „ideas^) bilden, in ihren mannigfachen
Gruppierungen, ausschlief slich den Bestand des unmittelbar
Vorgefundenen.
Im Gegensatz aber zu Berkeley machen sich bei Hume
wieder deutlich realistisch-dualistische Tendenzen bemerkbar,
was ja durch das Aufgeben des Substanzbegriffes im Gebiete
des Unmittelbar-Gegebenen nicht ausgeschlossen wird.
Mag man auch, und zwar mit Becht, diesem Moment im
Zusammenhange der Humeschen Philosophie eine noch so
geringe Bedeutung beilegen, so kann doch nicht zweifelhaft
sein, dafs Hume den Dualismus zwischen Bewufstsein und
Anfsenwelt nie vollständig überwunden, allerdings auch niemals
mit voller Überzeugung behauptet hat In dem Gefühl dieses
0 W. Sehnppe, Erkenntnistheoretiache Logik, 1878, S. 60.
t) Hume, Treatlse of Hnnum Natore, ed. Green and Grose, vol. I. p. 534.
Digitized by
Google
12
Zwiespalts dürfte f ttr ihn neben anderen ein Beweggrund liegen,
der ihn seinen Standpunkt als Skeptizismus bezeiehnenlälst Sehoo
in dem Ausdruek „impression^ klingt der dnalistisehe Gedanken-
kreis an; die durch die Einbildungskraft (imagination) zu den
einzelnen Qualitäten ;,hinzugediehteten^ (feign) „unknown some-
things'V) »original substances^,^) „unknown causes^',^) „natural
and physieal eauses^y^) oder wie die ähnlichen Wendung^
sonst lauten, bieten weitere Belege für eine solche Tendenz
zum Dualismus. Allein man wird diese Belege auch nicht als
fbr den Humeschen Standpunkt entscheidend ansprechen dttrfen;
denn anderswo spricht sich Hume mit Entschiedenheit gegen
die Annahme eines solchen „unknown, inexplicable somethmg^
als Ursache unserer Perzeptionen aus>) Humes Stellungnabme
zu dem Problem, das er durch seine Behandlung so sehr als
ein solches hat hervortreten lassen, ist in der Tat eine unent-
schiedene geblieben. Die an den Namen Humes knüpfende
Umgestaltung der Problemlage, soweit wir sie hier zunächst
zu erörtern AnlaJüs haben, ist gegeben durch die Auflösung des
spiritualistischen Substanzbegriffes.
Verneint man mit Berkeley die Existenz einer materiellen
Aufsenwelt und weiter einer über das unmittelbar (tatsächlich
oder möglicherweise) Gegebene hinausgehenden Wirklichkeit
Überhaupt, und stimmt man gleichzeitig Hume in der Auf-
lösung des substantiellen Ichbegriffes zu, so besteht kein Grund
mehr, ja es verbietet sich geradezu, noch weiterhin Yon einem
Psychischen, von Bewufstseinsinhalten usw. zu sprechen. Ein
derartiger Psychomonismus oder Panpsychismus bezw. Kon-
zeptionalismus hätte keinen falsbaren Sinn.^) Ein solcher
0 Treat I. S. 507.
«) 1. c. S. 317.
») 1. c. n. S. 75.
*) Enquiry conceming Human Understanding, ed. Green and Groie,
Sect. XII. Part. I. gegen Sohlufisi.
") Nach den Ausführungen, die Th. Ziehen in seiner .Psychophysio*
logischen Erkenntnistheorie* (2. Aufl. 1907) gegeben hat, könnte es den
Anschein haben, als ob dieser Autor einen solchen Standpunkt vertrete.
Ziehen bestreitet mit Berkeley die «eztrapsyohisohe Existeni" (& 6).
«Psychisch, beweist und existierend sind ganz kongruente Begriffe.
£sse=:peroipi*' (3.7). „...das Prädikat ,SeinS yEdstens" etc. ist...
bnohstablioh sinnlos, sobald es nicht bedeutet ,als Empfindung sein* oder
Digitized by
Google
13
Standponkt würde eine falsehe Eonseqneoz der Berkeley-
Hnmesehen Kritik darstellen. Für denjenigen, der sich die
Überzengnngen jener beiden Philosophen in der eben angegebenen
Verbindung za eigen macht, zerfällt die Mannigfaltigkeit des
Gegebenen nicht mehr in Empfindungen, Yorstellnngen, Bewnist-
seinsinhalte, wenn mit diesen Ansdrttcken irgendwie eine
lAlfl YorstelluDg sein'* (S. 99). Auch spricht Ziehen von „individuell-
psychischen'' und „allgemein -psychischen* Objekten (S. 105). Er geht
tber insofern Ober Berkeley hinaus, als er ebenso wie den Dingbegriff auch
den Ichbegriff völlig eliminieren will. Trotzdem aber setzt er esse and
percipi gleich and spricht fortwährend von „Empfindungen*' und „Vor-
Btellnngen'', was doch nur anter Voraussetzang eines Ich angängig scheint
(Vgl. S. 10). Dals es sich hierbei aber nur um eine mils verständliche
Ausdrucksweise handelt, geht bereits ans den , Erkenntnistheoretischen
Aaseinandersetzungen*' (Ztschr. f. PsychoL u. Physiol. d. Sinnesorg. 1002,
Bd. 27, S. 305; 1903, Bd. 38, S.91; 1906, Bd. 43, S. 241) vOllig deatUch
hervor (vgl insbes. Bd. 33, S. 96 f. and Bd. 43, 8. 242). Und in der im
vorigen Jahre erschienenen .Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und
physikalischer Grundlage" heilst es ausdrücklich: „Dies ,alles' [was wir
Dämlich erleben] darch eine gemeinsame Eigenschaft zu definieren ist, weil
efai anderes nicht existiert, nicht mOglich. Es bleibt uns nur mOglich, dies
,alles' mit einem Namen zu bezeichnen" (S. 1). Ziehen wählt die Be-
zeichnung „Gignomena^' oder „Gignomene", Ansdrücke, die nach seiner
Meinung in keiner Weise „priijadizierend" wirken können (S. 2). Die
den obigen Erörterungen zugrunde gelegte uud, wie sich bald zeigen
wird, den Schlüssel zam Verständnis des Machschen Standtpunktes bietende
Ansicht, dab es nicht möglich sei, das Ganze des Wirklichen irgendwie
za qualifizieren, wird aufser durch Ziehen auch noch durch J. Petzoldt,
einem Schüler von Bich. Avenarios, in seinem Bache „Das Weltproblem
vom Standpunkte des relativistischen Posidvismus . . . ." (2. Aufl. 1912)
vertreten. So heilst es dort z. B.: „Es ist logisch unmöglich, der Gesamt-
heit dieser Zusammenhänge [nämlich der Welt] ein qualitativ Kennzeichnen-
des abzugewinnen" (S. 179). Femer: Die Begriffe des Psychischen und
des Physischen „differenzieren sich in gegenseitiger unauflöslicher Beziehung
auf dem Grande der einen einheitlichen Urerfahrung, die weder das eine
noch das andere ist" (S. 180). Mit den Einzelheiten der Petzoldtschen
Entwicklungen kann ich mich vielfach nicht einverstanden erklären. Die
Petzoldtsche Schrift sowie die auf die „Psychophysiologische Erkenntnis-
theorie" folgenden weiteren erkenntnistheoretischen Veröffentlichungen
Ziehens wurden mir erst bekannt, als mir die oben dargelegte Anffiunung
des Machschen Grundgedankens und seiner Stellung im Zusammenhange
der historischen Entwicklung schon seit langem völlig geläufig war. Gerade
durch die zuerst irrtümliche Auffassung der Ziehenschen Erkenntnislehre
and durch die Schwierigkeiten, die in dem Humeschen Begriff der „Impression"
üegen, wurde ich auf sie geführt
Digitized by
Google
14
WeBensbezeichniiDg vorgenommen sein soll, sondern in einzelne
Tatsachen, Ereignisse, „Gegebenheiten^ schlechthin. Damit ist
aber der von Mach eingenommene Standpunkt bezeichnet
Diese Grnndttberzengnng findet bei Mach bereits in der
Terminologie einen adäqnaten Ausdruck. Mach vermeidet es
grundsätzlich, und zwar in vollem Bewufstsein der darin sich
aussprechenden erkenntnistheoretischen Wendung, die Bestand-
stttcke des Wirklichen in allgemeinster Hinsicht als Emp-
findungen usw. zu bezeichnen; er verwendet vielmehr den
indifferenten Ausdruck „Elemente^ Der Begriff „Emp-
findung'' gewinnt bei ihm einen spezielleren Sinn, was noch zu
erörtern sein wird.^) „Die Welt besteht aus Farben, Tönen, . . ^
die wir jetzt nicht Empfindungen und nicht Erscheinungen
nennen wollen, weil in beiden Namen schon eine einseitige,
willkttrliche Theorie liegt.^) Wir nennen sie einfach
Elemente.''^) In dieser Formulierung zeigt sich tlbrigens ein
Ansatz zur Trennung der beiden Probleme, von der eingangs
die Rede war. Der Begriff des „Elementes'' ist also ein durch-
aus zentraler in der Machsehen Erkenntnislehre. Mach unter-
läfst es ganz prinzipiell, das Wirkliche in irgend einer Weise
zu qualifizieren, Ober die Natur des Wirklichen in seiner
Gesamtheit etwas auszumachen. Ihrem Bestände nach aber
decken sich die Elemente natürlich vollkommen mit dem, was
man nach der gewöhnlichen Auffassung als Erscheinungen,
Bewufstseinsinhalte,alsmögliche Wahrnehmungen (das Wort
im weitesten Sinne genommen) zu bezeichnen hat. Der Umstand,
daCs Mach diese Qualifikation des Wirklichen als unmöglich
erkennt, ist es, was seinen Standpunkt recht eigentlich
charakterisiert. Hieraus wird nun auch verständlich, warum
0 Im zweiten Teil des folgenden Kapitels.
*) Von mir gesperrL — Man vergleiche dazu Kant, KriL d. r. Yen.,
l.Anfl. S. 251f. (Erdmannsche Ausg. S.244f.): Es folgt aus dem Begriff
der „Erscheinung'^ ,,dais ihr Etwas entsprechen ctisse, was an sich nickt
Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts ftlr sich selbst und auüier onserer
Vorstellungsart sein kann, mithin, wo nicht ein beständiger Cirkel henns-
kommen soll, das Wort Erscheinung schon ehie Bexiehung auf Etwas
anzeigt, dessen unmittelbare yoratellung zwar sinnlich ist, was aber aa
sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit . . ., Etwas,
d. 1. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein mula.'*
•) P. V. 239j 8. a. A.d.E. 18 0.
Digitized by
Google
15
Mach ansdrttcklich sieh dagegen verwahrt, dafs sein Stand- '
pankt mit einem idealistischen, panpsjchistisehen,
psyohomonistischen verwechselt werde.^) Es ist zwar ein
„monistisches^' 3) Weltbild, das Mach entwickelt, aber kein
psych omonistisches.
Bezeichnend fttr das Gesagte ist anch die Art, wie sich
Mach zn einer Frage stellt, die man ja als eine zuweilen ver-
wandte Formnlierang des Realitätsproblems (Descartes, Schopen-
haaer o. a.) anzusprechen hat, ob nämlich die Welt wirklich
existiere oder ob sie nur geträumt sei. Es ist klar, dafs Mach
diese Frage von seinem Standpunkt aus nicht als eine sinn-
volle gelten lassen kann. Denn um die Welt als Qanzes, um
den Inbegriff des Gegebenen als das eine oder andere zu
charakterisieren, mtllste ja gleichsam, so kOnnen wir nach dem
Vorausgeschickten sagen, ein unabhängiges Bezugssystem
gegeben sein. Es hat, sagt Mach, „die oft gestellte Frage, ob
die Welt wirklich ist oder ob wir sie blofs träumen, gar .
keinen wissenschaftlichen Sinn Wo kein Gegensatz') 1
besteht, ist die Unterscheidung von Traum und Wachen, Schein j
und Wirklichkeit ganz mttlsig und wertlos.'^*) '
Dals den „Elementen^' der Charakter der Wirklichkeit i
oder Realität zukommt, ist selbstverständlich. Sie sind wirklich '
zunächst in dem Sinne, in dem man, gleichgültig auf welchem
philosophischen Standpunkte man stehen mag, den „Emp-
findungen^ Wirklichkeit zuspricht. Aber sie besitzen zugleich
gewissermafsen einen höheren Realitätswert als jene, da sie
von Mach nicht als Abbilder von oder als Zeichen für letzte
und wahre Realitäten aufgefafst werden, wie sie von der
Transzendentalphilosophie und in anderer Weise von dem
naturwissenschaftlichen Realismus als hinter den Empfindungen,
den „Erscheinungen^ stehend angenommen werden, sondern als
die letzten Realitäten selbst. Die „Elemente'^ stehen für Mach ^
auf derselben Stufe der Realität, auf der Air den Anhänger
der Transzendentalphilosophie die „Dinge an sich" stehen.
0 VgL z. B. A. d. E. 295; £. a. J. 13 f. Anm. . Mach denkt dabei
besonders an Berkeley, Verwom nnd 6. Heymans.
*) A. d. E. 255.
^ Von mir gesperrt.
«) A.d.E.9.
Digitized by
Google
16
Über die Konseption und Entwicklung seines Grund-
gedankens hat sieh Mach wiederholt aoBgesprochen. Die
charakteristischste dieser Äufserungen möge hier folgen, da sie
geeignet ist, nns den Standpunkt Machs psychologisch nodi
näher za bringen M) ,,Ich habe es stets als besonderes Glllek
empfunden, dals mir sehr frtth (in einem Alter von 15 Jahren
etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kants ,Prolegomena za
einer jeden künftigen Methaphysik' in die Hand fielen. Diese
Schrift hat damals einen gewaltigen, unauslöschlichen Eindruck
auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer
philosophischer Lektüre nie mehr gefühlt habe. Etwa zwei od^
drei Jahre später empfand ich plötzlich die müfsige Rolle, welcbe
das ,Ding an sich^ spielt An einem heiteren Sommertage im
Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem loh als
eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich
stärker zusammenhängend". Dieses intuitive Erleben der Welt
als eines Zusammenhanges von Empfindungen ist wohl noch
durchaus im idealistischen Sinne zu verstehen. Mach spricht
verschiedentlich ^) von einer „idealistischen Phase" seines Denkens,
die er in der Jugend durchzumachen hatte. Weiter heilst es
an derselben Stelle: „Obgleich die eigentliche Reflexion sieh
erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment fbr meine
ganze Anschauung bestimmend geworden. Übrigens habe ich
noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor ich
imstande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Spezial-
gebiete festzuhalten. Man nimmt mit dem Wertvollen der
physikalischen Lehren notwendig eine bedeutende Dosis falscher
Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten werden
mufs, recht schwer losgeht, gerade dann, wenn diese Lehren
geläufig geworden. Auch die überkommenen instinktiven Auf-
fassungen traten zeitweilig mit grofser Gewalt hervor und
stellten sich hemmend in den Weg. Erst durch abwechselnde
Beschäftigung mit Physik und Physiologie der Sinne, sowie
durch historisch-physikalische Studien habe ich (etwa seit 1863),
nachdem ich den Widerstreit in meinen Vorlesungen über
Psychophysik (im Auszug in ,Zeitschr. f. prakt Heilkunde',
0 A. d. E. 24 Anm.
») VgLz.B. A.cLE.46, 2960.
Digitized by
Google
17
Wien 1863, S. 364) noch dnrch eine physikalisch-psyeholgieehe
Monadologie ^ Yergeblieh zn lösen yersncht hatte, in meinen
Ansichten eine grölsere Festigkeit erlangt.'' Auf seinem end-
gültigen Standpunkt steht Mach dem Dnalismns nnd dem
Idealismus gleich fern.^)
Mach bemerkt gelegentlieh, dafs der Kritik, die seine
Überzengnng gewöhnlich einer idealistischen (der Berkeleyschen)
gleichsetzt,^) seine „Welt ans Elementen'', ans der die „Materie"
verbannt ist, zuweilen als „zn Inftig" erschienen sei.^) Man
kann in der Tat kaum besser znm Ausdruck bringen, wie dem
Andersorientierten der Idealismus in der Regel erscheint Trifft
diese Bezeichnung aber schon auf den Idealismus nicht zu,^)
so gewifs noch weniger auf den Standpunkt Machs. Mach
erscheint die Welt so real, wie nur irgend einem realistischen
Denker. Es sind ftir ihn nicht Chimären, die uns umgeben,
auch nicht Vorstellungen, hervorgerufen von irgendwelchen
unerkennbaren Dingen, sondern die Dinge selbst in ihren
wahren Beschaffenheiten. Man mufs sich in diese eigentümliche
intellektuelle Sehgewohnheit hineinversetzen, um den
Machschen Grundgedanken nicht mifszuverstehen.
Wollen wir den Platz angeben, den die Machsche Über-
zeugung in der historischen Entwicklung des philosophischen
Denkens einnimmt, so haben wir zu sagen, dafs sie sich als
eine konsequente Fortbildung des Idealismus in der Richtung
über Berkeley und Hume und zugleich als eine Überwindung
dieses Idealismus darstellt. Mit Rücksicht darauf, dafs Mach
sich grundsätzlich auf das (als solches nicht weiter zu
qualifizierende) Gegebene und damit auf die Kon«
statiemng von Tatsachen beschränkt, dafs er dieses Un-
1) Mach spricht verschiedentlich davon, dab er durch eine monado-
logiBche WeltaofGuMiuig hindurchgegaDgen ist (Vgl. z. B. a. L. 3 £). Dafo
diese Tatsache nicht ganz ohne Einfluiis auf sein Denken geblieben ist,
scheint uns ans dem am Schlüsse von Kap. 8 Erörterten hervorzngehen.
«) Vgl. A. d. R 46.
») Vgl A. d. E. 295.
•) A. d. £. 295£
*) Man denke an die gewühnlich nicht genügend beachtete Berkeleysche
Unterscheidung der Ideen in „real things'* und »,images of things'* oder
Ideen im engeren Sinne („more properly termed ideas'*), auch ,,ch!meras"
genannt (Prino. Sect 33 ff., Three Dialognes S. 330.).
Philotophiflche Abhandluniren XXXXV. 2
Digitized by
Google
18
mittelbar-Gegebene, wie wir von nnn an sagen werden,
nnd als dessen Bestandteile wir eben die „Elemente'' zu betraehteo
haben, für das allein Wirkliebe erklärt nnd jede meta-
physische Übersehreitnng dieser Sphäre als nnzulässig betraehtet
können wir seinen Standpunkt mit einem allerdings bereits
vieldeutig gewordenen Ausdruck als einen positiyistisehen
bezeichnen.
2. Im Sinne der traditionellen Auffassung wird man zu
sagen haben, die Aufgabe der Tatsachenwissenschaften bestehe
darin, die Vorgänge der realen Welt zunächst zu beschreiben
und weiterhin in ihrem gesetzmäfsigen Zusammenhange zn
erklären. Diese Unterscheidung zwischen Beschreibung und
Erklärung wird fast allgemein als berechtigt zugegeben, und
mit ihr verbindet sich eine verschiedene Wertung der beiden
anerkannten Forschungsaufgaben. Denn die herrschende Meinung
läfst behaupten, dafs das eigentliche Ziel der Forschung in
der Erklärung der Vorgänge bestehe, welche Einsicht in den
kausalen Zusammenhang des Geschehens gewährt, dafs dagegen
der blofsen Beschreibung eines Gebietes von Tatsachen lediglieh
die Bedeutung einer Vorstufe für diese letzten Endes zn
leistende wissenschaftliche Arbeit zukonmie. Diese landläufige
prinzipielle Unterscheidung und verschiedene Bewertung von
Beschreibung und Erklärung wird von Mach nicht anerkannt
Hierin liegt ein für seine ganze Erkenntnislehre bedeutsames
Moment, auf das wir an dieser Stelle nur soweit einzugehen
haben, als es fttr die allgemeine Kennzeichnung seines Stand-
punktes notwendig erscheint.^)
Was Mach zu seiner Haltung gegenüber der eben erwähnten
Frage bestimmt, ist seine Stellung zum Kausalproblem. Man
wird aber als eigentlich charakteristisch fttr seinen Standpunkt
nicht sowohl seine Auffassung des Kausalbegriffes selbst als
vielmehr die aus ihr flief sende Konsequenz, die alleinige An-
erkennung der Beschreibung als wissenschaftlicher Aufgabe,
ansehen müssen. Mach spricht dem Kausalbegriff seine wissen-
schaftliche Berechtigung ab, d. h. zunächst dem analytischen
^) Ansftthrliclier werden wir auf diesen Gegenstand in KJ4>itei 4
zurückkommen.
Digitized by
Google
19
£aiisalbegriff der rationalistischen Philosophie. Gegen diesen
richtet sich eigentlich seine Polemik. Den Kantschen Kausal-
begriff, den er gleichfalls bekämpft, scheint er von jenem nicht
gehörig zu unterscheiden, wie er denn überhaupt, soweit man
dies aus seinen Äufserungen entnehmen kann, die Eigenart
der kritischen Methode Kants nicht richtig erfafst hat. Gegen
den „analytisch-rationalen Kausalbegriff'' <) Stellung zu nehmen
sind fttr Mach ganz ähnliche Grttnde mafsgebend wie fttr
Hume. Dafs aber die Ereignisse der realen Welt untereinander
in einer konstanten und daher gesetzmäfsigen Verknüpfung
stehen, die Wissenschaft überhaupt erst möglich macht, dafs
auf Grund dieses regelmäfsigen Ablaufs der Vorgänge sich
in dem erfahrenden Subjekt eine feste Gewohnheit heraus-
gebildet hat, derzufolge dieses unter dem „psychischen Zwang''^)
steht, bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses das mit diesem
erfabrungsgemäfs verknüpfte zu erwarten: das zu bezweifeln
liegt Mach gerade so fem wie Hume. Die Gesetzmäfsigkeit
und damit die wissenschaftliche Erfafsbarkeit des Geschehens
steht für beide Denker aufser Frage. Mach ist sich dieser
Übereinstimmung mit Hume völlig bewufst.
Mit dem Aufgeben des analytisch-rationalen Kausalbgriffs
entfallen für Mach auch die „kausalen Erklärungen ''.s) Die
Aufgabe der Wissenschaft erschöpft sich dann aber in der
blolsen Beschreibung von Tatbeständen, in der „Konstatierung
von Tatsachen und ihres Zusammenhanges^^) „Wo wir eine
Ursache angeben, drücken wir nur ein Verknüpfungsverhältnis,
einen Tatbestand aus, d. h. wir beschreiben.''^) Was aber für
Mach die Besehreibungen der Physik, überhaupt der exakten
Naturwissenschaften ,ö) von jenen der gewöhnlich nur als be-
Behreibende bezeichneten Disziplinen charakteristisch unter-
scheidet und ihnen jenen gegenüber die Dignität von Er-
1) Vgl. B. Erdmann, Über Inhalt und GeltUDg des Kausalgesetzes,
Halle 1905.
») W. L. 484.
») A. d. E. 274.
*) F. V. 424, 426.
») W. L. 435.
^ Auf die GeiBteswissenschafken nimmt Mach dabei, aoBdittckliön
wenigstens, keine Rücksicht.
2*
Digitized by
Google
iö
klärangen gibt, werden wir uns an späterer Stelle Tergegeo-
wärtigen.1) Jedenfalls ist die Anfgabe der Wissenschaft eine
rein deskriptive. Bleibt man sich dieser Einsicht bewnist, so
empfiehlt es sich nach Mach, den Eansalbegriff ganz anfen-
geben nnd dnrch den (mathematischen) Fnnktionsbegriff zn
ersetzen. In diesem Pnnkte geht Mach ttber Hnme hinans.
Da gewöhnlich yerschiedene Beschreibnogen desselben Tat-
sachengebietes möglich sind, so ist die Fordemng noch weiter
einzuengen: die Beschreibung soll die einfachste, „ökonomischste''
sein. In diesem Sinne hat Mach die „ökonomische Dar-
stellung des Tatsächlichen^'^) als das Ziel der Forschung
bezeichnet.
Mach ist mit seiner Auffassung nicht allein geblieben.
Vor allem hat Gustav Eirchhoff, wenigstens mit Rtteksieht auf
sein Spezialgebiet, einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Er
hat bekanntlich die Aufgabe der Mechanik dahin bestimmt,
dafs sie „die in der Natur yor sich gehenden Bewegungen
vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben''
habe.') Im Sinne der gegebenen Ausführungen wollen
wir den Standpunkt Machs als einen rein deskriptiven
bezeichnen.
Das gleichviel wie zu bestimmende Reale ist als solches
Gegenstand des Erkeunens überhaupt und des wissenschaftliehen
Erkennens insbesondere. Das Reale besteht für Mach aus-
schlief slieh in dem, was in der unmittelbaren Erfahrung tat-
sächlich gegeben ist oder doch möglicherweise gegeben sein
kann. Auf dieses also hat sich nach Mach die Wissenschaft
als auf ihr Objekt zu beziehen. Die Aufgabe der Wissenschaft
ist eine rein deskriptive; sie vollendet sich in der übersichtlichen
Beschreibung und Inventarisierung des in der Erfahrung
gegebenen Materials. Wer sich andere Ziele setzt, der treibt
nicht Wissenschaft, sondern verfolgt „Scheinprobleme**.*) Alles,
was über eine solche positivistisch-deskriptive Orientiemng
über das Wirkliche hinausgeht, bezeichnet Mach als „meta-
0 Kap. 4 gegen Schlafs.
«) P. V. 426.
■) Kirohhoff, Yorlesangen ttber Mechanik, 1897, S.l.
*) Vgl A. d. E. IX.
Digitized by
Google
21
physisch'' and damit als „mttfsig'V) ^^^ ^^ erkennt mit
J. B. Stallo als die Yornehmste Aufgabe einer erkenntnis-
theoretischen Besinnang auf die Grundlagen der Wissen*
Schaft: „to eliminate from scienee its latent metaphysical
Clements".^)
3. Mach lehnt den Namen des Philosophen ab; er will
lediglich Naturforscher sein. ,,Ich mache keinen Anspruch auf
den Namen eines Philosophen. Ich wttnsche nur in der Physik
einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen
muls, wenn man in das Gebiet einer anderen Wissenschaft
hiottberblickt, da schliefslich doch alle ein Ganzes bilden sollen.
Die heutige Molekularphysik entspricht dieser Forderung ent-
schieden nichts So heilst es im Fortgang der S. 16 f.
zitierten Stelle. „Es gibt vor allem keine Machsche Philosophie,
sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Methodologie und
Erkenntnispsychologie, und beide sind, wie alle naturwissen-
schaftliehen Theorien, Yorläufige, unvollkommene Versuche''.^)
Trotz dieser und ähnlicher Versicherungen aber ihres Urhebers^)
werden wir nicht umhin können, den Machschen AufstelluDgen
eine weitergehende Bedeutung beizulegen ; sie treten tatsächlich
mit dem Anspruch einer Weltanschauung auf. Dafs Mach
seine Untersuchungen in einem lediglich naturwissenschaftlichen
Interesse unternommen haben will, kann daran nichts ändern.
Wenn er also seine Hauptleistung zusammenfassend als eine
naturwissenschaftliche Methodologie und Erkenntnispsychologie
bezeichnet, so wählt er diese Bezeichnung sicher zu eng; er
geht ttber die Grenzen der Einzelwissensehaft sowie ttber die
blofse Methodologie und Erkenntnispsychologie eines wissen-
schaftlichen Spezialgebietes tatsächlich hinaus. Aufserdem
geht aus seiner ganzen Haltung mit Deutlichkeit hervor, dafs
er Fragen wie etwa die der Transzendenz keineswegs nur als
solche betrachtet, die aulserhalb seiner besonderen Arbeitssphäre
») A.d.E.Vn.
*) W. L. IX. Vgl J. B. Stallo, The Concepts and Theories of mödeni
Physics, dtseh. v. H. Kleinpeter, 1901, XY.
•) £.u. J.yilAnm..
«) Vgl. a. £. n. J. 13 Arno. ; A. d. £. VI, 26, 300 usw. .
Digitized by
Google
22
liegen, sondern dafs er ihnen überhaupt jede nur mögliehe
Berechtigung abspricht Mach ist seiner Überzengnng naeh
Positiyist (in dem angegebenen Sinne), und als solcher nimmt
er einen philosophischen Standpunkt ein, der dem Realismus
und dem Idealismus nebengeordnet ist. Eine andere Frage ist
es, ob Mach ein einheitliches und in sich konsequentes System
der Erkenntnistheorie gegeben hat, das auf Vollständigkeit
wenigstens ausgeht und jeder berechtigten Frage ihren
systematischen Ort anweist, wenn es sie vielleicht auch nicht
erschöpfend beantwortet. Dafs die Maehsche Lehre ans einer
einheitlichen Qrundauffassung fliefst und in sich folgerichtig
durchgeführt ist, soll aus unseren Darlegungen herrorgehen.
Systematische Vollständigkeitdagegen ist nicht einmal erstreb t^
f^ne Reihe von Prinzipalfragen der Erkenntnistheorie, die auch
er Yon seinem Standpunkte aus als berechtigte Probleme an-
erkennen würde, hat er als seinem Interesse ferner liegend
kaum gestreift.^)
Für Mach ist es völlig selbstverständlich, dafs das Wirkliche
sich in dem Unmittelbar -Gegebenen erschöpft; und nicht
<) Vgl. A. d. E. IX : „Nicht eine Lösung aller Fragen, sondern eine
erkenntnistlieoretische Wendung wird hier versucht/'
*) Es gut dies von dem ganzen Kreise von Fragestellungen, wekbe
die logische Struktur der Erfahrung, die Denknotwendigkmt usw.
betreffen. Wir denken in erster Linie an die durch Hume vorgenommene
fundamentale Einteilung der Gegenstände der Erkenntnis („objects of
human knowledge") in ,,relations of ideas'' und ,,matter8 of facf' und die
damit zugleich gegebene Unterscheidung der Urteile in „demonstratire
reasonings*' und ,,moral reasonings*'. Die relations of ideas, wie sie in den
mathematischen Sätzen zum Ausdruck kommen, werden mit Notwendigkeit
gedacht in dem Sinne, dals ihr Gegenteil als einen Widersprach in sich
schliefsend schlechterdings undenkbar ist; von den matters of fact, d. L
den in den physikalischen Sätzen gedachten Sachverhalten, gilt das gleiche
nicht. Dafs Mach diesen Unterschied kennt und anerkennt, geht ans
folgendem hervor: „Auf der Übung, die Vorstellung der Tatsachen mit
jener ihres allseitigen Verhaltens fest zu verbinden, beruht die starke
Erwartung eines bekannten Erfolges, der dem Naturforscher wie eine
Notwendigkeit erscheint. Das Verhältnis, welches in den geometrischen
Anschauungen von selbst besteht, wird hier allmählich künstlich her-
gestellf' (W. L. 457 f.). Von den in den mathematischen Sätsen ausge-
drückten Verknttpfungsverhältnissen mulls er dagegen sagen : „Ein anderes Ver-
hältnis, oder wenn man lieber so sagt: das Gegenteil, ist unvorstellbar^
(W.L.456). Dagegen: „Physikalische Erfahrungen verhalten ridianden^
Digitized by
Google
23
weniger selbstverstäDcUich erscheint es ihm, daüs in der voll-
ständigen nnd einfachsten Beschreibung nnd Inyentarisiernng
dieses Gegebenen die alleinige Anfgabe des Erkennens besteht.
Dieser positiyistisch-deskriptiye Standpunkt macht, wie natürlich
auf absolnte Geltung Anspruch, so sehr, dafs Mach jede Frage
nach einem möglichen Transzendenten oder jeder Versuch,
einen Einblick in den Wirkuogszusammenhang des Geschehens
zu gewinnen, ohne irgendwelchen wissenschaftlichen oder philo-
sophischen Sinn zu sein scheint. Denn ausdrücklich als sinnlos,
nicht etwa nur als aussichtslos erscheint ihm jede Frage, die
über die angegebene Problemstellung hinausgeht Nicht ein
Verzichtleisten, wie es sich in dem Dubois-Reymondschen
„ignoramus, ignorabimus" ausspricht, sondern eine grundsätzliche
Ablehnung aller derartigen Probleme ist für seinen Standpunkt
eharakteristisch.1) Wenn man nun auch nicht zugeben will, dafs
durch die Machschen Bestimmungen das Erkenntnisziel voll-
ständig bezeichnet sei — und man wird dazu um so eher
berechtigt sein, als Mach ja den eigentlichen Beweis für diese
seine Aufstellung schuldig geblieben ist — , so wird man doch
nicht bestreiten können, dafs es wenigstens teilweise getroffen
wird. Und dann ist es möglich zu untersuchen, ob Mach
wenigstens an der Lösung dieser beschränkteren Aufgabe mit
Erfolg tätig gewesen ist Setzt man sich allein die Analyse
und gedankliche Darstellung des Unmittelbar-Ge-
gebenen zum Ziel, ohne damit metaphysische oder im eigent-
lichen Sinne erkenntnistheoretische Fragestellungen irgendwie
auBSchliefsen zu wollen, so gelangt man zu einer Betrachtungs-
weise, die wir zweckmäfsig als eine phänomenologische^)
bezeichnen werden.
(ib.)* 1^8 aber diese Einsicht im ZusammenhaDge der Machschen Lehren
irgendwelche Bedeutung gewinnt, kann man nicht sagen. Jedoch mufs
man noh gegenwärtig halten, will man den Machschen Standpunkt nicht
falsch beurteilen, dab solche Aussagen über die logische Struktur der
Erfahrung auf ihm keineswegs ausgeschlossen sind.
^) Vgl. A. d.E. 298: „Die Probleme werden entweder gelöst oder
als nichtig erkannt*'
*) Das Wort „ Phänomenologie '* wird neuerdings sehr häufig und in
mannigfachen, oft allerdings nur wenig yoneinander abweichenden Be-
dentangen gebraucht (z. B. Husserl, Stumpf usw.). Keine derselben deckt
sich mit der hier sugrnnde gelegten.
Digitized by
Google
24
Die Phänomenologie, in dem so yerstandenen Sinne, ist
ein System von allgemeinen Sätzen über die Struktur dei
Unmittelbar*Oegebenen. Sie yermeidet grundsätzlich, etwaigea
metaphysischen Untersuchungen oder kritischen Erörterung»
der Erkenntnisgrundlagen in irgend einer Weise Yorzugreifeo;
sie will, und das in bewufster methodischer Absieht,
ttber die Zulälsigkeit oder Aussicht solcher Fragestellungen
nichts ausmachen. Nicht darum also handelt es sich| ob man
das Unmittelbar-Gegebene als das allein Wirkliche anzuerkennen
hat — was eine metaphysische Frage ist, die der PositiYismus
in dem oben bestimmten Sinne bejaht — y sondern um die
Beschaffenheit dieses Gegebenen. Was denken wir in
dem Begriffe des Dinges, der Kausalität, wenn wir alle meta-
physischen Gesichtspunkte aus dem Spiel lassen und uns darauf
beschränken, allgemein und in einer ftlr die Einzel-
wissenschaften annehmbaren Weise zu formulieren, was
uns in jeder unmittelbaren Erfahrung gegeben ist Waa
denkt die Physik tatsächlich in dem Begriff der Kraft, ab-
gesehen von allen metaphysischen und anthropomorph^i
Zutaten usw. Solcher Art sind die Probleme, die hier zu
verfolgen sind.
Halten wir uns streng an diese Begriffisbestimmung der
Phänomenologie, so können wir nicht sagen, dafs die
Macbschen Ausführungen einen rein phänomenologischen
Charakter tragen. Vielmehr müssen wir zugeben, dals sie von
mannigfachen erkenntnistheoretischen und selbst metaphysischen
Elementen durchsetzt sind. Wir werden aber die phäno-
menologischen Gesichtspunkte durchaus in den Vordergrund
unserer Darstellung und Erörterung rücken und glauben damit
der Eigenart und der Bedeutung der Machschen Lehren am
besten gerecht zu werden.
Keineswegs ohne weiteres mit dieser phänomenologischen
Absicht gegeben, aber tatsächlich bei Mach auf Grund seines
Positivismus aufs entschiedenste ausgesprochen, ist die Auf-
fassung, dafs die Wissenschaft es ausschliefslich mit dem
Unmittelbar-Gegebenen zu tun habe, dafs sie nirgends Anlafs
habe, ttber dessen Bestand irgendwie hinauszugehen. Aus dieser
Auffassung heraus leugnet Mach die Notwendigkeit, eine
besondere physikalische Materie anzunehmen, sofern darunter
Digitized by
Google
25
ein anfBersinnlieheB Beale yeratanden werden soll. Damit negiert
er zugleich die Molekttle, Atome nsw. ab Produkte der Unter-
teilung einer solchen hypothetischen Materie. Das Unmittelbar-
Gegebene, wie es sich der phänomenologischen Betrachtung
darstellt, ist das alleinige Objekt der Wissenschaft. Die
Möglichkeit dieser Auffassung kann natürlich nur durch die
tatsächliche Durchflihrbarkeit derselben dargetan werden.
Wir können von einer phänomenologischen Aufgabe-
bestimmung der Wissenschaft bei Mach reden.^
Versuchen wir nun, die zu behandelnden Gegenstände in
eine innere Ordnung zu bringen. Es wird zunächst zu fragen
sein, wie sich fttr Mach der Bestand des Unmittelbar- Gegebenen
darstellt. Die Antwort darauf liegt in der Elementenlehre.
Im Zusammenhang damit steht die Frage, ob sich etwa inner-
halb des Gegebenen ein prinzipieller Unterschied aufweisen
läfst, wie man ihn gewöhnlich in dem Gegensatz von Psychischem
und Physischem zu erkennen glaubt Dafs Mach Psychisches
und Physisches als zwei materiell yerschiedene Gegebenheiten
nicht anerkennt, geht aus allem, was bisher gesagt wurde,
mit Deutlichkeit hervor. Indessen wird sich zeigen, dafs dieser
Gegensatz bei ihm in einer anderen Form auftritt (Kap. 2).
Weiter werden wir dann fragen müssen, wie sieh nach Mach
die einzelnen Bestandstücke des Gegebenen zu mehr oder
minder beständigen Gebilden zusammenordnen; wir werden in
eine Erörterung des Ding- und des Ichbegriffes und, in Ver-
bindung damit, des Substanzbegriffes einzutreten haben. Im
Anschlnfs an die Erörterung des Ichbegriffes soll untersucht
werden, wie sich Mach zur Frage der Vielheit der Iche oder,
was damit gleichbedeutend ist, der Existenz fremden Bewufst-
seins stellt (Kap. 3). Sodann ist zu fragen, welcher Art sich
Mach die Beziehungen denkt, die innerhalb des Gegebenen
stattfinden. Wir dürfen uns dabei in der Hauptsache auf
diejenigen Relationen beschränken, die den Zusammenhang des
Geschehens bestimmen, und die man gewöhnlich als „kausale''
0 Man kann diese Aaffassang auch vertreten, ohne auf dem positl-
viBtiBohen Standpunkt in dem oben bezeichneten Sinne %u stehen, d. h. ohne
das Unmittelbar-Gegebene mit dem Wirklichen überhaupt zusammenfallen
sa lassen, wie Mach es tut (ygl. S. 17f.).
Digitized by
Google
26
bezeiehnet Auf die rämnlich-zeitlichen Beziehangen werden
wir nur gelegentlich za sprechen kommen (Kap. 4). In der
Auffassang vom Wesen und Ziel der Wissenschaft findet die
Machsche Überzeugung ihren letzten und prägnantesten Ausdruck.
Mach sucht die Haltbarkeit seiner Anschauungen darzutun,
indem er sie gegenüber den Einsprüchen einer realistisch
gerichteten Physik aufrechterhält, die seiner Aufgabebestimmung
der Wissenschaft entgegensteht. Die Erörterung dieses Punktes
soll den Beschlufs unserer Darstellung bilden (Kap. 5).
Digitized by
Google
IL Die Elementenlel]ire.
Psychisches und Physisches,
1. Der Begriff des „ElementeB^' bei Mach in allgemeiner
erkeDutnistbeoretiflcher und phänomenologiBcher Hinsieht hat
sich uns bereits ans den Erörterungen des vorigen Kapitels
ergeben. Wir haben uns deutlieh gemacht, dafs Mach unter
den Elementen die Bestandstttcke des Unmittelbar -Gegebenen
versteht, das für seinen Positivismns mit dem Wirklichen über-
haupt zusammenfällt (vgl. S. 17 f.). Damit ist klar geworden
dafs es nur eine Art von Elementen gibt, dafs die Elemente
ihrer Natur nach „gleichartig^ sind.^ Ein Orund, warum man
sie in ihrer Gesamtheit, aber auch warum man die einen oder
anderen von ihnen eher psychisch als physisch nennen sollte,
ist schlechterdings nicht angebbar.
„Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten usw. sind
in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben
sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden ^^2) Diese
Farben, Töne usw. sind es nun, die nach Mach den Bestand
der unmittelbar vorgefundenen Wirklichkeit bilden; sie sind,
wie er vom Standpunkte seines Positivismus sagt, „die
eigentlichen realen Elemente der Welt'^^) Dafs die mitgeteilte
Übersicht über die Elemente nicht vollständig zu sein bean-
sprucht, geht schon aus der Formulierung hervor. Auf eine
wirklieh erschöpfende Aufzählung und systematische Einteilung
der Elemente nach ihren qualitativen Besonderheiten, die in
einer tatsächlich ausgeführten Phänomenologie natürlich die
') A. d. E. 255; siehe auch A. d. £. 17 n. 253; M. 459.
«) A. d.E. If.
•) P. V. 243.
Digitized by
Google
28
Grandlage für alle weiteren Untersaehnngen za bilden hätte,
hat Maeh yerzichtet; vielmehr begnügt er sieh in dieser
Hinsicht mit Andentangen.^) Indessen ist klar, dafs die
Machschen ,, Elemente '^ abgesehen von ihrem besonderen
erkenntnistheoretischen Charakter, mit dem sich decken, was
die Psychologie in allgemeinster Wendnng als elementare
„Inhalte'' bezeichnet. Und weiter scheint zunächst deotlicli,
dafs Mach unter seinen Elementen die „intellektuellen'* und die
„emotionalen" Inhalte der Psychologie in gleicher Weise befaüst
Tatsächlich aber glaubt er, wie aus unzweideutigen Äufsernngen
herYorgeht,^) die emotionalen Inhalte auf weniger analysierte,
diffuse, unscharf lokalisierte Sinnesempfindungen zurückführen
zu können,') so dafs also die Gefühle nicht den Elementen
zuzurechnen wären. Näher auf diese Aufzählung und Klassi-
fikation der Elemente einzugehen liegt für uns kein Grund
Yor, da sie bei Mach eben nichts besonders Charakteristisches
bietet. Nur zwei Momente werden uns noch weiter unten
beschäftigen mtlssen : Zunächst die Frage, wie sich Mach zu der
von der Psychologie vorgenommenen Unterscheidung von „Emp-
findungen" und „Vorstellungen"^) verhält, da diese Unterscheidung
auch von hoher erkenntnistheoretischer Bedeutung ist Und
sodann die ja ersichtlich eine Schwierigkeit enthaltende Tat-
sache, dafs Mach zu seinen Elementen neben den Farben,
Tönen usw. auch die „Räume" und „Zeiten" rechnet.
Zuvor aber mufs die Bestimmung des Elementenbegriffes
noch nach einer anderen Seite hin ergänzt werden. Wir
haben gesehen, dafs Mach fttr seine besonderen Zwecke dem
Worte „Element" einen Sinn beilegt, den man mit ihm sonst
nicht verbindet, indem er durch diesen Ausdruck Bezeichnungen
wie „Vorstellung" und „Erscheinung" für die Bestandsttteke
des unmittelbar vorgefundenen Wirklichen vermeiden will
1) Vgl. zu der oben mitgeteilten Aufirtellung der Elemente nock
P. V. 239; E.u. J.8; M. 459.
*) A. d.E. 17; E.U.J.22.
*) Er findet sich also in Übereinstinunuiig mit der bekaonten Tbeoris
von James und Lange.
*) Oder,, Wahmehmungsvorstellangen" und „abgeleitete" (Erinnenmgs-,
Einbildangs-, abstrakte) Vorstellungen (B. Erdmaon). Der psychologische
Sprachgebrauch ist schwankend.
Digitized by
Google
29
(ygl. S. 14). Aber auch die nrBprflngliche Wortbedeatnng von
„ Element '^y die auf die Einfachheit, Unzerlegbarkeit des so
bezeiehneten Gegenstandes geht, ist bei Mach erhalten. Die
Elemente sind für ihn „letzte Bestandteile'V) »die einfachsten
Bausteine der physikalischen (nnd aneh der psychologischen)
Welt".*) In welchem Sinne die Psychologie von einfachen,
anzerlegbaren Inhalten spricht, mttssen wir hier als bekannt
Toranseetzen. Die einen Klang oder ein Geräusch zasammen-
setzende Tönen (im Helmholtzschen Sinne), an denen sich zwar
noch verschiedene Eigenschaften oder Merkmale (Qualität,
Intensität usw.) nnterscheiden lassen, die aber nicht weiter
in einzelne tonale Bestandteile zerlegt werden können, geben
ein naheliegendes Beispiel fttr einfache Sinnesinhalte ab. Mach
schreibt seinen Elementen Einfachheit oder Unzerlegbarkeit
ganz im gleichen Sinne zn. So betrachtet er z. B. die Grund-
farben (d. h. die sechs „Urfarben" im Sinne Herings) im Unter-
eehiede von den übrigen Gliedern des Farbensystems als
elementar.') Wenn Mach von den Elementen sagt, dafs sie
Bestandteile seien, „die wir bisher nicht weiter zerlegen
konnten",*) dafs „eine weitere Auflösung bisher noch nicht
gelungen ist",^) so will er damit zum Ausdruck bringen, dafs
er die Reduktion des vorgefundenen Mannigfaltigen auf
einfachste Bestandteile noch nicht für abgeschlossen hält. Das
mag unter anderem ein Grund sein, warum er auf eine voll-
ständige systematische Aufstellung der Elemente so geringen
») A. d. E. 4.
«) A. d. E. 84.
") Ober die Frage, ob die Grundfarben als die einfachen „Bestand-
teile'* der Übrigen (als zusammengesetzt betrachteten) Farben (P. Y. 248,
£. a. J. 12 Anm.) anfzufaasen sind, oder ob man sie mit v. Kries als blofse
ausgezeichnete Punkte einer Mannigfaltigkeit zu charakterisieren hat (Arch.
1 Anat u. Physiol. 1882 Suppl, S. 46), deren eigentttmliche Stellung im
Farbensystem, wie G. £. MtUler es näher ausführt, dadurch gegeben ist,
dafs beim Durchlaufen der Farbenreihe bei den Grundfarben der Eindruck
aaftritt, als ob die „qualitative Empfindungsttnderung ihre Richtung wechsle"
(Zeitschr. f. Psycho!, n. Physiol. d. Sinnesorg. 1896, Bd. 10, 8. 69), bestehen
anter den -Psychologen noch Heinungsvenehiedenheiten. Doch dUrfte die
letztere Ansicht die zutreffendere sein.
*) A.d.E.4.
•) A. d. E. 84. Vgl a. A. d. E. 24; B. E. 118f.; E. n. J. 12 Anm., 44.
Digitized by
Google
so
Wert legt Diese Redaktion denkt sich Maeh ttbrigens nicht
auf dem Wege rein psychologiseher Zergliederung des Erlebnis-
inhalts zn Ende geführt, sondern unter Leitung der Methoden
der Physiologie. In diesem Sinne gebraucht er gelegentlich
die Wendung, dafs die „ Physiologie '^ uns die „eigentlicheo
realen Elemente der Welt^ erschliefsen werde.^)
Völlig klar und im Bewuf stsein ihrer erkenntnistheoretischea
Tragweite Yollzogen ist die Unterscheidung zwischen Empfindung
und Vorstellung erst bei Hume. Die Gegenttberstellnng der
„impressions'^ und „ideas^^ oder „thoughts^ als der beiden
charakteristisch verschiedenen Unterarten der „pereeptions"
bildet geradezu einen der Orundfaktoren der Humeschen
Erkenntnislehre. Deutlich angelegt indessen, und ebenfalls
bereits erkenntnistheoretisch gewendet, findet sich diese Unter-
scheidung schon bei Berkeley in dem Gegensatz der „real
things" und „images of things" oder „more properly termed
ideas".^) Den einzigen Unterschied zwischen den beiden Arten
von (einfachen) Perzeptionen, soweit er als ein rein phäno-
menaler, erscheinungsmäfsiger in Betracht kommt — eine
andere Unterscheidung ist durch die Verschiedenheit ihres
Ursprunges gegeben — , sieht Hume in den „different degrees
of force and vivacity",*) die sie besitzen. Die ideas werden
gegenüber den impressions als „less foreible and lively",*) als
„more feeble pereeptions"^) charakterisiert. Im übrigen sind
sie diesen in inhaltlicher Beziehung völlig gleichartig: die
(einfachen) Ideen sind „copies of our impressions^.*) Auf die
vielen neueren Versuche, den Unterschied zwischen Empfindung
und Vorstellung sei es als einen qualitativen, sei es als einen
intensiven zu bestimmen, haben wir nicht einzugehen. Erwähnt
soll nur noch werden, dals Th. Ziehen das unterscheidende
Merkmal zwischen den beiden Arten psychischer Inhalte,
unter starker Herausstellung des rein phänomenologischen
0 P. V. 248. Vgl. a. E. u. J. 12 Anm. .
«) Vgl S. 17 Anm. 5.
') Treat 396, s. a. 811 f. u. Enqn. 13 (Ed. Green and Grose).
*) Enqu. 18.
«) Enqn. 14.
«) Enqu. 14; s. a. Treat. 396.
Digitized by
Google
31
Moments, in der den Empfindungen eigenen „sinnlichen Leb-
haftigkeit^'*) sieht, dabei mit Recht betonend, dafs dieser
Unterschied nur erlebt, nicht aber irgendwie definiert werden
könne.
Der Gegensatz, den die Psychologie zwischen Empfindungen
und Yorstellungen statuiert, durchzieht in entsprechender Weise
bei Mach die Mannigfaltigkeit der Elemente. Dafs sich aber
Mach der erkenntnistheoretischen Wichtigkeit dieses Gegen-
satzes voll bewufst geworden sei, wird man kaum behaupten
dürfen; jedenfalls gewinnt er im Geftige seiner Lehre keine
rechte Bedeutung. Mach bedient sich der Ausdrücke Emp-
findung und Vorstellung, wo er beide einander gegenttberstellt,
ganz im Sinne der gewöhnliehen psychologischen Terminologie.^)
Den Unterschied zwischen den beiden Arten von Inhalten
bezw. Elementen findet er, abgesehen von der besonderen
Weise ihrer Verknüpfung, hauptsächlich in der geringeren
Intensität und der Flüchtigkeit der Vorstellungen gegenüber
den Empfindungen. „In der Tat besteht im normalen psychischen
Leben ein sehr starker Unterschied zwischen beiden Arten
psychischer Elemente**.^) Es ist ausdrücklich von „Sinnes-
empfindungen'' und „Vorstellungen" die Rede. Und weiter:
,Jch sehe eine schwarze Tafel vor mir. Ich kann mir mit
der gröfsten Lebhaftigkeit auf dieser Tafel ein mit scharfen
weifsen Strichen gezogenes Sechseck oder eine farbige Figur
vorstellen. Ich weifs aber, pathologische Fälle abgerechnet,
immer, was ich sehe, was ich mir vorstelle".*) Der Unterschied
wird nun näher charakterisiert, und schlief slich heilst es:
„Die Vorstellungen unterscheiden sich in normalen Fällen von
den Empfindungen wohl durch ihre geringere Intensität, -vor
allem aber durch ihre Flüchtigkeit".«^) Empfindungen und
>) Ziehen, Leitf. d. physiol. Psychol, 8. Aufl. 1908, S. 140.
«) Über den speziellen Süm des Wortes ,,Empfinduog'' bei Mach vgl
später, im zweiten Teil dieses Kapitels.
») A. d. E. 163. Von mir gesperrt. Der Ausdruck „psychische" El.
wird später AofklMrung finden«
-) ib. .
») ib. . Vgl. a. A. d. E. 164 u., femer A. d. E. 209, wo von dem
„Schattenhaften und Vergänglichen der Vorstellung gegenüber der Simiea-
empfindung" gesprochen wird, A. d. E. 169: „es lassen sich alle Übergänge
Digitized by
Google
32
Yorstellangen unterscheiden sich ferner durch die Art ihrer
Verknttpfang. Die Vorstellnngen stehen nämlich nntereinander
im assoziativen Znsammenhange, die Empfindungen als objektive
Gegebenheiten, als Elemente im Sinne Machs gefalst natttrlieh
nicht ;^) auch hierbei ist der phänomenale Unterschied von Emp-
findung und Vorstellung selbstverständlich Voraussetzung.
Mach unterscheidet also innerhalb der Mannigfaltigkeit des
Gegebenen zwei charakteristisch verschiedene Arten von
Elementen. Die den „Empfindungen^ der Psychologie ent-
sprechenden Elemente bezeichnet er häufig durch die grofsen
Buchstaben ABG..., die den Vorstellungen entsprechenden
durch aßy ,.?)
Wir haben bereits gesehen, dals Mach in seiner Auf-
zählung der Elemente neben den Farben, Tönen usw. auch
„Räume'^ und „Zeiten^' erwähnt, was zunächst ganz unver-
ständlich ist. Um tlber diesen Punkt Klarheit zu gewinnen,
müssen wir auf die Lehren von Baum und Zeit bei Mach
näher eingehen. Wir haben es dabei in diesem Zusammen-
hange nur mit dem phänomenalen Baum und der phänomenalen
Zeit zu tun, mit dem Baume und der Zeit der unmittelbaren
Anschauung. Auf die Untersuchungen Machs ttber die
Begriffe des „physikalischen"^ Baumes und der „physikalischen"
Zeit und seine Tendenz, die Baum-Zeitgrölsen aus den
Gleichungen der Physik völlig zu eliminieren, werden wir bei
späterer Gelegenheit zu sprechen kommen. Wir haben bei
unseren Erörterungen natttrlieh keine Veranlassung, auf die
vielen psychologischen und sinnesphysiologischen Einzelheiten,
die Mach in diesen Untersuchungen vorbringt und denen sein
Interesse an diesem Gegenstande in erster Linie zugewandt ist,
näher einzugehen.
Physiologisch (und psychologisch) betrachtet sind Baum
und Zeit nichts anderes als „besondere Arten von Empfindungen^')
von der Empfindung znr Vorstellnng nachweisen *', u. £. n. J. 22. — Zo-
weilen seheint es, als ob Mach den intensiven (oder quilitatiyeo)
Unterschied von Empf. nnd Vorst. ganz negieren und nur die Art der
Verknüpfung fUr die Unterscheidung ma&gebend sein lassen will, so best
A. d. £. 16 f.; E. u. J. 22. Doch sind die Stellen nicht ganz klar.
0 A d. E. 169, 29; E. u. J. 11, 22.
•) A. d. E. 7.
•) A. d. E. 284.
Digitized by
Google
8^
„Sofern wir räumlich wahrnehmen, beruht diee nach unserer
Anffasenng auf Empfindungen 'V) ^^^^^ ^^^ „Raumemp-
findnngen^, die auf Grund einer physiologisch -entwicklungs-
geschichtlichen Hypothese auch als „ Organempfindungen '^ den
spezifischen „Sinnesempfindungen'' gegenttbergestellt werden.^)
Ähnliches gilt fUr die Zeitempfindnngen. Raumempfindungen
und Sinnesempfindungen können nur „ miteinander '^ auftreten;')
genauer gesprochen: die Raumempfindungen sind stets an
Sinnesempfindungen gebunden, während es umgekehrt auch
Sinnesempfindungen gibt, die „ohne deutliche Raumempfindung^
auftreten.^) Dagegen begleitet die Zeitempfindung jede andere
Empfindung.^) Wir sehen zunächst, dafs Mach das Wort
„Empfindung^ hier in einem ganz allgemeinen und unbestimmten
Sinne gebraucht. Man wird sich mit Recht fragen dürfen, ob
denn die Raum- und Zeitempfindnngen, was doch fUr die
übrigen von der Psychologie als Empfindungen bezeichneten
Inhalte charakteristisch ist, auch ein qualitativ und intensiv
in sich abgestuftes System bilden. Nun spricht Mach ja in
der Tat von einem System von „stetig abgestuften Orts-
qualitäten^';^) ob er aber diese „ Ortsqualitäten ^', d. h. die ver-
schiedenen unterscheidbaren Raumwerte des Seh- bezw. des
Tastraumes, als ein Analogen zu den Qualitäten der „Sinnes-
empfindungen'' auffaTst, wird, ebenso wie die Rolle der Intensität,
nicht recht ersichtlich. Von Raum- und Zeitempfindungen
zu sprechen mufs man also, wenn dieser Begriff nicht genauer
festgelegt wird, als das bei Mach geschehen ist, mindestens
als bedenklich bezeichnen. Übrigens läfst die Begriffs-
bestimmung der Psychologie gerade in diesem Punkte fast
allgemein die gehörige Präzision vermissen. Indessen ist klar,
dafs Mach jedenfalls einen Unterschied macht zwischen den
Empfindungen einerseits und Raum und Zeit andrerseits; die
Unterscheidung zwischen Organempfindungen = Raumemp-
findnngen und Sinnesempfindungen ist, ob sie nun zutreffend
0 A. d. £. 150.
>) A. d.E. 1510 ; E. n.J. 345.
^ A. d. E. 151; £. u. J. 345, 350, 390.
•) A. d. E. 200.
^ ib. . Man denke an das bekannte Analogen bei Kant.
•) E. u. J. 390, s. a. 345.
Philosophische Abhandlungen XXXXY. 3
Digitized by
Google
84
sei oder nicht, jedenfalls in der Absicht vollzogen, der anmittel-
baren Tatsache einer charakteristischen Verschiedenheit zwischen
diesen beiden Qegebenheiten gerecht zn werden. Die Neben-
einanderstellnngen von Farben, Tönen, Bänmen and Zeiten
darf also, wo sie bei Mach sich findet, als in gewisser Hinsicht
provisorisch angesehen werden.^)
Weiter ist zn bemerken, dafs Mach nicht von einer Banm-
oder Zeitempfindnng schlechthin, sondern, wie wir gesehen
haben, von einzelnen Ranmempfindnngen nnd Zeitempfindnngen,
von „Räumen" nnd „Zeiten" spricht nnd diese als „Elemente'^
bezeichnet Das erinnert uns an die bekannte Lehre von den
räumlichen und zeitlichen minima perceptibilia, die besonders
von Berkeley und Hume vertreten worden ist, und wir können
uns in der Tat am besten Klarheit ttber die Machsehe Auf-
fassung verschaffen, wenn wir von dieser Lehre ausgehen.
Für Berkeley und Hume zer^lt der Wahrnehmungs- ebenso
wie der Vorstellungsraum, gleichgültig ob er dem Gesichtssinn
oder dem Tastsinn angehöre, in eine Mannigfaltigkeit lelzter
nicht weiter unterteilbarer Raumelemente, die als „minima"
oder ,.points" („min. visibilia" und „min. tangibilia")') bezeichnet
werden, und die natürlich nur unter gewissen Bedingungen als
solche zum Bewulstsein kommen. Ähnliches gilt, deutlieh
ausgesprochen nur bei Hume, auch fttr die Zeit Diese minima
besitzen selbstverständlich noch räumliche bezw. zeitliehe
Eigenschaft; sie sind eben die kleinsten wahrnehmbaren und
vorstellbaren und, das steht fttr diese Denker völlig auüser
Frage, auch denkbaren Räume bezw. Zeiten. Raum und Zeit
in extenso gehen aus diesen Elementen hervor, indem diese
sich aneinanderlagern, indem sie Jn a certain manner disposed^
sind.3)
Ganz ähnlich liegen nun die Dinge bei Mach. Die einzeben
Raum- bezw. Zeitelemente sind in der Anschauung nicht weiter
zerlegbar, das geht aus dem Elementenbegriff mit den an-
gegebenen Vorbehalten ohne weiteres hervor. Und sie bilden,
0 Vgl. a. E. u. J. 447 (Abschnitt 17 Anfang).
*) Berkeley, Essay towards a new theory of vision, Sect 54, 62, ^0;
Princ. Sect. 132 usw.
') Home, Treat. 341 (Raum), 344 (Zeit).
Digitized by
Google
35
im Unterschiede yon den anderen Elementen (den „Sinnes-
empfindangen"}, eine bestimmte Ordnung, die man eben nur
als räumliche bezw. zeitliche Ordnung bezeichnen kann. Mach
spricht von „benachbarten, unterscheidbaren . . . Ortsqualitäten *V)
weiter hebt er hervor, dals „Zeit und Baum physiologisch nur
ein scheinbares Kontinuum darstellen und höchstwahrscheinlich
aus diskontinuierlichen, aber nicht scharf unterscheidbaren
Elementen sich zusammensetzen ^^) Diese Elemente ordnen
sich zusammen und bilden „ein festes bleibendes Schema öder
Register*',') in welches die jeweilig gegebenen Sinnesqualitäten
eingeordnet werden, ohne die es allerdings gar nicht in die
Erscheinung treten kann.<) Das gilt Air die Eaumelemente
und die Zeitelemente in gleicher Weise.^) Damit ist klar, dafs
auch bei Mach Raum und Zeit gegenüber den spezifischen
Sinnesempfindungen ihre eigentttmliche Stellung behalten.
Die „Elemente*' sind ein ^Erstes in dem Sinne, dafs alles
auf sie sich zurttckfUhren läfst oder aus ihnen sich aufbaut,
nicht aber so, dafs sie das Zuerst -Bemerkte darstellten, dafs
sie den Ausgangspunkt bildeten auch für die unreflektierte
Betrachtung der Welt. Im Gegenteil sind sie Produkte einer
„absichtlichen Analyse''®) oder, wie Mach auch sagt, einer
,^b8traktion".'') Ihre Isolierung hat bereits in ihren Anfängen
eine gewisse Summe von Erfahrungen zur Voraussetzung und
erfolgt weiterhin unter Leitung wissenschaftlichen Interesses,
sie ist „auf dem vollkommen naiven Standpunkt des primitiven
Menschen kaum denkbar".») Dem naiven Bewufstsein erscheint
jedes Ding zunächst als ein einheitli(^hesQanze; die verschiedenen
Sinnessphären angehörenden Komponenten werden zunächst
0 E, n. J. 890.
") E.u. J.447f.
') £. n. J. 390. Vgl. a. M. 464: „Raum und Zeit sind wohlgeordnete
Systeme von Empfindungsreihen^'.
*) £. u. J. 345. Das soll sich auch gegen Kant richten (E. n. J. 350).
*) E. u. J. 432.
•) A. d. E. 160.
*) A. d. E. 4 Anm. Hnme bezeichnet diesen Prozels als „distinction
of reason", d. i. Trennung von Eigenschaften, die in der Natur nicht
trennbar sind, wie die Gestalt einer Kugel von ihrer Farbe. (Treat 1 333,
379u.). Der Ausdruck y,Abstraktion" ist dafür schlecht gewählt
«) E. u. J. 12 Anm.
3»
Digitized by
Google
86
noch nieht gesondert. i) Erst allmählich nnd unter dem Einflols
mannigfacher Erfahrungen vollzieht sich diese Trennung. Das
Sichtbare löst sich von dem Tastbaren, sobald bemerkt väri
dafs mit den Bedingungen der Sichtbarkeit nicht notwendig
auch zugleich die Bedingungen der Tastbarkeit erf&Ut sein
mttssen (Spiegelbild).^) Ähnlich lösen sich auch die Übrigen
Sinnesqualitäten voneinander. Aber die Analyse geht noch
weiter; das Sichtbare zerfällt in Farbe und Gestalt „Zwei
Dinge können von gleicher Farbe aber ungleicher Gestalt sein;
sie können von verschiedener Farbe und gleicher Gestalt sein.
Hierdurch teilen sich die Gesichtsempfindungen in Farben-
empfindungen und Raumempfindungen, die wohl voneinander
unterschieden, wenn auch nicht voneinander isoliert dar-
gestellt werden können ".«) Unter den Farbenempfindungen
treten dann weiter die Grundfarben hervor,^) und so sehreitet
die Analyse fort bis zu den letzten nicht weiter zerlegbaren
Elementen. Den Ausgangspunkt für diese ganze Entwicklung
bildet also der unmittelbare volle Erlebniszusanmienhang. Und
dieser ist auch ftlr das unbefangene Bewufstsein das Primäre
— im Sinne des schlechthin Vorgefundenen — in jedem
Augenblick: Wir sehen unter gewöhnlichen Umständen „nicht
Farben nnd Formen, sondern die Körper im Baume".*)
Die so auf dem Wege der Analyse oder „Abstraktion^
gewonnenen Elemente sind also die einzelnen qualitativ ver-
schiedenen Seiten, die das Gegebene darbietet, das nicht
etwa als die Summe aller dieser Elemente zu charakterisieren
ist, sondern an sich ein einheitliches Ganze bildet, in keiner
Weise einem musivischen Bilde vergleichbar. Die Elemente
sind keine besonderen Existenzen; sie kommen ,4soliert"<^) gar
nicht vor. Sie haben mit Atomen oder mit Man ade n durch-
aus nichts gemein.7)
0 E. u. S. 12, Anm. «) A. d. E. 84.
*) ib. (Hume: „diBtinction of reason*. Vgl. vorige Seite , Anm. 7).
*) A d. E. 4.
») A. d. E. 170. Vgl. A. d. E. 160: „Wir sehen nidit optische Bilder
in einem optischen Raam, sondern wir nehmen die uns umgebenden
Körper mit ihren mannigfaltigen sinnlichen Eigenschaften wahr^*.
•) E. u. J. 460.
^) In einem anderen Zusammenhange erscheinen sie allerdings als
metaphysisch hypostasiert. Vgl. später. — Trotzdem aber wird man Mach
Digitized by
Google
87
Wollen wir uns anf Grund des Vorgeflilirten noch einmal
ganz kurz vergegenwärtigen, wie sieh fttr Mach das Gegebene
(das ftor ihn der Inbegriff des Wirklichen ttberhaupt ist)
darstellt, so können wir sagen: Das Gegebene ist eine
räamlich-zeitlieh geordnete inhomogene Mannig-
faltigkeit. Die verschiedenen qualitativen Seiten, die das
Gegebene aufweist, und die es in ihrer räumlich -zeitlichen
Anordnung als ein Inhomogenes erscheinen lassen, sind die
Elemente.
2. Die Elemente stehen untereinander in den mannig-
fachsten Verknttpfungszusammenhängen. Diese Zusammen-
hänge nun sind von ganz verschiedener Art, je nachdem sie die
Sinnesoberfläche Überschreiten oder nicht. Unter der Sinnes-
oberfläche oder Sinnesperipherie wollen wir hier den In-
begriff der sensorischen Endorgane des Nervensystems verstehen,
d. h. die Gesamtheit aller derjenigen Gebilde, die, nach
gewöhnlicher Auffassung, als Aufnahmeapparate für die die
Sinnesreize abgebenden physikalischen Bewegungen in Frage
kommen. Welche näheren Vorstellungen man sich über die
Natur des Reizvorgauges macht, ob man ihn ttberhaupt, in
Übereinstimmung mit der herrschenden Anschauung, als Be-
wegnngsvorgang auffassen will oder nicht, ist für das Folgende
belanglos. Jedenfalls besitzt, wie sich zeigen wird, die
Sinnesperipherie eine eigentttmliche Bedeutung. Mach selbst
spricht nicht von der Sinnesperipherie, sondern statt dessen
von der „räumlichen Umgrenzung U unseres Leibes",0 die er
im allgemeinen mit der Körperhaut gleichzusetzen scheint. >)
Indessen wird aus den nachstehenden Erörterungen deutlich
werden, dals die von uns vorgeschlagene Abänderung eine
Präzisierung der Machschen Auffassung bedeutet, die an dem
Grandgedanken Machs jedenfalls nichts ändert Es soll jedoch
ab einen Vertreter der „atomistischen" Psychologie in dem Sinne
bezeichnen müssen, in dem diese Richtung von William James bekämpft
wird. (Vgl. W. James, Principles of Psychology 1891 , bes. Kap. IX „The
stream of thonght'^ voL I p. 221.)
») E.U. J.Sff., 18. Vgl. L. 14.
«) Vgl A. d. E. 16.
Digitized by
Google
88
in folgendem, anter Beachtung der angegebenen Modifikation,
das bequeme Symbol „U'* beibehalten werden.
Wir wollen nun die unter dem Gesichtspunkte der U
zuzuschreibenden Funktion sich ergebenden möglichen Abhängig-
keitsverhältnisse der Elemente aufstellen, indem wir uns dabei
zunächst nicht streng an die Ausführungen Machs halten, da sie
nicht ganz systematisch und in terminologischer Hinsicht nicht
ganz konsequent sind, und erst nachher zeigen, dafs unsere
Aufstellung mit der von Mach beabsichtigten der Sache Dach
tibereinstimmt. Wir haben folgende Abhängigkeiten oder
Beziehungen der Elemente zu unterscheiden:
1. a) Beziehungen zwischen den Elementen auf serhalb U
(den A, B, G...0): physikalische Abhängig-
keiten,
b) Beziehungen zwischen den Elementen innerhalb U
(den K, L, M . . .0). Versteht man mit Mach unter U
die Kürperoberfläche, so kann man diese Abhängig-
keiten als physiologische bezeichnen. Nimmt man
dagegen die U- Grenze in dem von uns vorgeschlagenen
Sinne, so fallen alle diejenigen Lebens Vorgänge mit
unter a, die sich in den von sensiblen Nerven-
endigungen frei bleibenden Begionen des Körpers,
z. B. innerhalb des Lumens der Gefäfse usw., ab-
spielen,^) und es bleiben unter b ausschlielslich die
Vorgänge innerhalb der nervösen Substanz (ein-
schliefslich der nervösen Endorgane): neurophysio-
logische Abhängigkeiten.
Die beiden unter a und b getrennt aufgeführten Arten
von Abhängigkeiten, die gemeinschaftlich dadurch
charakterisiert sind, dafs sie die Sinnesoberfläche nicht
überschreiten (d. h. aufserhalb oder innerhalb der-
selben verbleiben), wollen wir zusammenfassend als
physikalische Abhängigkeiten im weiteren Sinne
bezeichnen oder auch, da die Unterscheidung von a
») Vgl. S. 32.
') Solche Vorgänge würden nach unserer Definition sich aufs er halb
der Sinnesoberfiäche oder der U-Grenze abspielen. Ebenso würde auch
ein von einer Anaesthesie befallener Körperteil auiserhalb U liegen.
Digitized by
Google
89
aod b für das Folgende ohne Bedentnng sein wird,
Bchleehtbin als: physikalische Abhängigkeiten.
2. Beziehungen zwischen den Elementen anfserhalb U nnd
denen innerhalb U, Beziehungen, welche die U- Grenze
überschreiten: psychophysiologische Abhängig-
keiten.
Diesen beiden anter 1 nnd 2 aufgeführten Arten von
Beziehungen, bei denen die U-Grenze eine malsgebende Bolle
spielt, ist eine dritte Art an die Seite zu stellen, bei der das
nicht der Fall ist Es sind das die besonderen Abhängigkeiten
zwischen denjenigen Elementen, die den Vorstellungen (und
ev. auch den emotionalen Inhalten) der Psychologie entsprechen.
Hierhergehören die assoziativen und möglicherweise noch andere
Arten von Zusammenhängen zwischen den Vorstellungen. Also
3. Beziehungen zwischen den in psychologischer Wendung
als Vorstellungen zu bezeichnenden Elementen (den a,
Ä 7- ••*))• psychologische Abhängigkeiten.
Ausdrücklich findet sieh bei Mach diese Dreiteilung
nirgends;^) doch geht aus seinen AusfUhrungen mit Deutlichkeit
hervor, dafs er die genannten drei Arten von Abhängigkeiten
kennt und anerkennt. Zweifelhaft könnte es allerdings zu-
nächst scheinen, ob Mach auch die dritte Art von Beziehungen,
die wir als psychologische bezeichnet haben, als eine besondere
gelten läfst, da er sie (aus Gründen, die sich gleich zeigen
werden) nicht mit den beiden anderen zusammen nennt. Doch
heilst es ausdrücklich: „Die Vorstellungen hängen . . . unter-
einander wieder in anderer Weise zusammen (Assoziation,
Phantasie) als die sinnlichen Elemente ABC... K L M . . .^V)
„Der (assoziative) Zusammenhang der Vorstellungen ist allerdings
ein anderer als jener der Empfindungen^^) usw. Die Abhängig-
keiten, die wir oben als physikalische bezeichnet haben, werden
von Mach ebensogenannt; die von uns als psychophysiologische
bezeichneten Abhängigkeiten heilsen bei Mach gewöhnlich
„physiologische^, doch steht, wie gesagt, die Terminologie bei
ihm nicht fest
1) Vgl S. S2.
*) Auch die Unterscheidasg in der „Allgemeineo Bemerknng'* E. d.
A. 57 deckt sich nicht mit der oben getroffenen.
») A d. E. 29. *) A. d. E. 169. Vgl. a. E. u. J. 1 !, 22.
Digitized by
Google
40
Von höchster erkenntDistheoretischer und phanomeno-
logiBcher Bedeutung ist die Beachtung der Verschiedenartig-
keit der physikalischen und der psychophysiologischen Abhängig-
keiten. Denn der Unterschied dieser beiden Arten Ton
Beziehungen begründet den Gegensatz Yon physikalischer und
psychologischer Betrachtungsweise, von Physik und Psycho-
logie, beide Begriffe im weitesten Sinne genommen. Die
Elemente ABC... zeigen eine „Doppelabhängigkeit^V) s^^
erweisen sich als abhängig ^von Elementen aulserhalb U, und
von Elementen innerhalb U".0 „Die Bestandteile meines
Befundes im Baume hängen . . . nicht nur im allgemeinen von-
einander ab, sondern insbesondere auch von den Befunden an
meinem Leib, und dies gilt mutatis mntandis von den Befunden
eines jeden^^) Genauer : „Wir haben ... die räumliche Um-
grenzung U unseres Leibes immer vor Augen und sehen^ dafs
die Befunde aulserhalb U ebensowohl vaneinander, als
auch Yon den Befunden innerhalb U abhängen^^) Die erste
Art der Abhängigkeit ist, wie wir gesehen haben, eine
physikalische, die zweite „ganz anders geartete, die Grenze U
überschreitendem^^) eine psychophysiologische („physiologische"*}.
Je nachdem nun ein Element als Glied eines physikalischen
oder eines psychophysiologischen Znsammenhanges auftritt, je
nachdem wir auf die eine oder auf die andere Art der Ab-
hängigkeit reflektieren, und nur insofern dies der Fall ist,
bezeichnen wir dasselbe Element A, B, G das einemal als
„physikalisches Objekt'^,*^) „physikalisches Merkmal",?) das
andremal aber als „psychologisches Objekt",^) oder als
„Empfindung^») Das ist der spezifische Sinn, den das Wort
„Empfindung'^ bei Mach gewinnt „Eine Farbe ist ein phy-
sikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit
») E. U. J. 18.
•)ib.
•) E. u. J. 8.
*)ib.
») L. 14.
•) A. d. E. 13, 14. 34 u.
^) L. 15. Aach ,, physikalisches" oder „physisches Element", A. d.
£. 36, 51;£. u. J. 10.
">) A. d. £. 14. Auch „psychisches Element", A. d. £. 36, Sl ; £. o. J. 10.
•) A. d. E. 13, 14, 36, 265; E. u. J. 9o, 21; S. E. 263 usw.
Digitized by
Google
41
TOD der beleuchtenden Lichtquelle (anderen Farben, Wärmen,
Räumen usw.) achten. Achten wir aber anf ihre Abhängig-
keit von der Netzhaut (den Elementen E L M . . .), so ist sie
ein psychologifiches Objekt, eine Empfindung. Nicht der
Stoff, fiondern die UnterBuchungsrichtung ist in beiden
Gebieten f^erschieden".^) Und in ähnlicher Wendung: Die
„Elemente zeigen sich sowohl von auf serhalb U, als von inner-
halb U liegenden Umständen abhängig. Insofern und nur
insofern letzteres der Fall ist, nennen wir diese Elemente auch
Empfindungen V)
Damit die hier vorgetragene Machsche Auffassung noch
deutlicher werde, möge noch ein etwas näher ausgeführtes
Beispiel fttr den Unterschied der physikalischen und der psycho-
logischen Betrachtungsweise folgen. „Wir betrachten zunächst
den gegenseitigen Zusammenhang der Elemente des Komplexes
ABC...., ohne auf K L M . . . . (unsern Leib) zu achten.
Jede physikalische Untersuchung ist yon dieser Art. Eine
weilse Kugel fällt auf eine Qlocke; es klingt Die Kugel
wird gelb vor der Natrium-, rot yor der Lithiumlampe. Hier
scheinen die Elemente (ABG....) nur untereinander
zusammenzuhängen, von unserm Leib (K L M ) unabhängig
zu sein. Nehmen wir aber Santonin ein, so wird die Kugel
auch gelb. Drücken wir ein Auge seitwärts, 60 sehen wir
zwei Kugeln. Schliefsen wir die Augen ganz, so ist gar keine
Kugel da. Durchschneiden wir den Gehörnerven, so klingt es
nicht. Die Elemente ABC hängen also nicht nur unter-
einander, sondern auch mit den Elementen K L M . . . . zu-
sammen. Insofern, und nur insofern, nennen wir ABG....
Empfindungen . . .''') Aber: das betrachtete Element als solches
wird „in seiner Natur nicht geändert, ob wir unsere Auf-
merksamkeit auf die eine oder auf die andere Form der Ab-
hängigkeit richtend«) Und so kann Mach denn sagen: „Ich
sehe daher keinen Gegensatz von Psychischem und
») A. d. E. 14.
«) E.U.J. 8f.
•) A. d. E. 12 f Man kann den Sachverhalt wohl nicht klarer und
schöner zmn Aosdrack bringen, als es in diesen Worten Machs geschehen
ist VgL «. A. d. E. 35 f., 48 n, 51 o, 1930, 253, 255, 301, 305; £. u. J. 21,
54 usw.
0 A. d. E. 36.
Digitized by
Google
42
Physischem^ sondern einfache Identität in bezng aaf
diese Elemente^O ^ yersehwindet fUr diese Betrachtangs-
weise die „Klnft zwischen Körpern nnd Empfindungen, zwischen
anfsen nnd innen, zwischen der materiellen nnd geistigen
Welt^.3) Allein die Untersnchnngsrichtnng,') die aaf die eine
oder auf die andere Seite der „Doppelabhängigkeit'' gehende
Betrachtung ist es, die uns dasselbe Element entweder ab
ein physikalisches oder als ein psychisches, eine Empfindaog,
bezeichnen läfst. Übrigens braucht es sich dabei nicht gerade
um eine wissenschaftliche Untersuchung zu handeln. Aach
das naive Bewufstsein auf der Stufe der praktischen Welt-
anschauung unterscheidet natttrlich bereits die beiden Fomnen
der Abhängigkeit; die Erkenntnis der Doppelabhängigkeit der
Elemente ist, wie später zu erörtern sein wird,^) die Bedingong
fDr die Möglichkeit der Abgrenzung des Ich gegen die Umwelt
Damit ist klar, dals Mach an die Stelle des materialen
Gegensatzes zwischen dem Psychischen nnd dem Physischen,
den man gewöhnlich behauptet, einen, so können wir sagen,
funktionalen Gegensatz treten lälsi So stellt sich dieses
Verhältnis der phänomenologischen Betrachtung dar. Mit
dieser Bestimmung glaubt Mach den Dualismus des Psychischen
und Physischen „auf das Wesentliche zurttckgeftthrt und zugleich
von traditionellen abergläubischen Auffassungen gereinigt zn
haben"»)
Nicht tlberflttssig wird es erscheinen, wenn wir uns noch
kurz vergegenwärtigen, welche Auffassung des Verhältnisses
von Reiz und Empfindung sich auf diesem Standpunkte ergibt
Denn obgleich die Beantwortung dieser Frage in den voran-
gegangenen Ausftthrungen schon enthalten ist, dürften noch
einige Unklarheiten geblieben sein.*) Selbstverständlich ist
jedenfalls, dafs fttr diese ganze Anschauungsweise ein „äulserer",
0 A. d. E. 36.
») A d. E. 13. Vgl. A. d. E. 58, 2o3, 277.
•) A. d.E. 14.
*) Vgl.S.60flF.
•) A. d.E. 298.
^ Dafs eine alte und fest eingewurselte Denkgowohnbeit gerade an
dieser Stelle vielfach Schwierigkeiten in der pbXnomenoIogischen Be-
trachtungsweise erblicken lä&t, die tatsächlich nicht vorhanden sind, habe
ich oft im GespriUsh erfahren.
Digitized by
Google
43
„materieller'* GegenstaDd als SinDesreiz nicht in Frage kommen
kann. Solehe Gegenstände zn gleichviel welehen Zwecken
heranzuziehen war in den bisherigen Erörterangen dieses
Kapitels noch keine Veranlassung; and die folgenden Kapitel
werden aosfbhrlich dartun, dafs Mach deren Existenz überhaupt
bestreitet. Damit ist aber klar, da£s yon einem Reizvorgange
im Sinne der gewöhnlichen physiologischen nnd psychologischen
Denkweise bei dieser Orientierung gar nicht die Rede sein
kann. Besteht dann aber überhaupt noch, so werden wir uns
fragen, ein Qnmd oder auch nur eine Möglichkeit, von einer
Zuordnung von Reiz und Empfindung zu sprechen? Ja und
nein. — Damit eine bestimmte Empfindung, etwa die Emp-
findung des Gelb der Natriumflamme, zustande komme, ist es
nötig, dafs eine Reihe von Bedingungen erfüllt sei. Dafs
gevrilse Bedingungen erfüllt seien heilst aber zunächst nichts
anderes, als dafs gleichzeitig mit der Gelbempfindung, und
zwar erfahrungsgemäfs in konstanter Verbindung mit ihr,
bestimmte andere Empfindungen sich finden oder finden lassen.
So zeigt sich z. B. bei Anwesenheit dieser Gelbempfindung im
Spektroskop die charakteristische Doppellioie, die- der Fraun-
hoferschen Linie D im Absorptionsspektrum der Sonne ent-
spricht; am Fresnelschen Spiegel oder hinter dem Beugungs-
gitter finden sich Interferenzstreifen von bestimmtem Abstände,
woraus sich unter Berücksichtigung der übrigen mafsgebenden
Umstände die Wellenlänge des Natriumlichtes auf 589 ////
berechnen läfst usw. Zu diesen Bedingungen aufserhalb
der U-Grenze kommen noch solche hinzu, die innerhalb U
liegen. Das Sinnesorgan, weiterhin die sensoriechen Nerven
und die entsprechenden Teile des nervösen Zentralorgans
müssen intakt sein, d. h. sie müssen bestimmte Merkmale auf-
weisen (z. B. darf die Kontinuität des Nerven nicht unter-
brochen sein usw.), damit die Empfindung zustande kommen
kann. Andern sieh die äufseren oder inneren Umstände,
indem etwa das Nervensystem toxischen Einflüssen unterstellt
wird, so ändert sieh auch bezw. verschwindet die Empfindung.
Will man nun die Gesamtheit der äufseren (aufserhalb U
liegenden) Umstände, an deren Vorhandensein das Auftreten
der Empfindung gebunden ist und die sich, wie da9 gegebene
Beispiel erkennen läfst, auch quantitativ darstellen lassen, als
Digitized by
Google
44
Reizlage bezeichnen, bo ist gegen einen solchen Sprach-
gebranch natürlich nichts einzuwenden. Jedenfalls aber weicht
diese phänomenologische Beschreibnng des Verbältoisaes yod
„Reiz^^ nnd „Empfindang'' von der sonst in der Physiologie
gebräuchlichen Auffassung beträchtlich ab.^)
Wollen wir den Hauptpunkt der yorangehenden Er-
örterungen noch einmal kurz zum Ausdruck bringen, so können
wir sagen: Die Worte ,, psychisch^ und „physisch^ bezeichnen
keine Charaktere, die den Elementen an sich zukommen, sie
enthalten vielmehr ein Moment der naiv-praktischen bezw.
bewufst- wissenschaftlichen Stell ungnahme. An die Stelle des
materialen Gegensatzes zwischen Psychischem und Physi-
schem tritt ein funktionaler Gegensatz.
0 Daus sich aach mit dieser Betrachtungsweise die Annahme eines
psychophysiBchen Parallelismas vereinigen iäfst, künnto als eine paradoxe
Behauptung erscheinen. Tatsächlich aber ist Mach ein Vertreter dieser Ansicht,
die er als eine wertvolle Arbeitshypothese hochschätzt. Wie und io
welchem Sinne das müglich ist, geht ans folgenden Worten (A. dL £. 51)
hervor, die als völlig klar ohne weitere Erläuterung hier Platz findea
sollen: „Wenn ich ein grUncs Blatt sehe, was durch gewisse Gehin-
prozease bedingt ist, so ist jenes Blatt in seiner Form nnd Farbe aller-
dings verschieden von den Formen, Farben usw., die ich an dem unter-
suchten Qehim finde, wenn auch alle Formen, Farben usw., an sich
gleichartig, an sich weder psychisch noch physisch sind. Das gesehene
Blatt, als abhängig gedacht vom Gehimprozeis, ist etwas Psychisches,
während dieser Gchirnprozefs selbst in dem Zusammenhang seiner Elemente
etwas Physisches vorstellt. Und fiir die Abhängigkeit der ersteren
unmittelbar gegebenen Elemcnteugruppe von der durch (vielleicht
komplizierte) physikalische Untersuchung sich erst ergebenden zweiten
Gruppe besteht das Parallelismusprinzip.**
Digitized by
Google
III. Ding und Ich, der Siibstanzbegriff,
Die Hypothese fremden Bewiifstseins.
1. In dem Zusammenbange der Elemente, der fortwährenden
nnd mannigfachen Veränderungen unterliegt nnd der „im
Grunde nur einer ist",!) tritt daß „relativ Festere und
Beständigere^ hervor und findet seinen Ausdruck in der
Sprache.^) Elementenkomplexe von mehr oder minder grofser,
niemals aber, soweit die Erfahrung reicht, absoluter Beständig-
keit sind es, die wir als Dinge, Körper usw. bezeichnen. Auch
das Ich ist nichts anderes als ein Komplex, eine relativ
konstante Znsaromenordnung von Elementen.*
Diese Bestimmungen könnten so gemeint sein, dafs sie
lediglich zum Ausdruck bringen sollen, als was uns Ding und
Ich in der unmittelbaren Erfahrung gegeben sind. Gar nicht
braucht damit natürlich gesagt zu sein, dafs kein Grand
bestehe, ttber diesen unmittelbaren Tatbestand irgendwie hinaus-
zugehen. Sollen die obigen Bestimmungen des Dinges und des
Ich ohne Btlcksicht auf die Entscheidung dieser erkenntnis-
theoretischen oder metaphysischen Frage getroffen sein, so
legen sie fest, was wir als phänomenologischen Ding-
bezw. Ichbegriff oder, indem wir beide Arten von Gegen-
ständen zusammenfassen, allgemein als phänomenologischen
Gegenstandsbegriff bezeichnen können. Obgleich auch im
Hinblick auf den Ding- und den Ichbegriff das Interesse
Maehs sich in der Hauptsache auf die gedankliche Formulierung
des unmittelbaren Tatbestandes richtet, so sind doch auch
') A. d.E. 18.
«) A. d, E. 2.
Digitized by
Google
46
hier Beine Ausftthrangen nicht rein phänomenologisch gemeint;
wie überall sind sie zugleich der Aasdrack seiner philo-
sophischen oder metaphysischen Stellungnahme. Bevor wir
nnn auf die Machschen AnsfUhrungen näher eingehen, scheint
es zweckmäfsig, noch einige Worte ttber den DingbegT'iff bei
Berkeley, Harne und J. St. Mill zu sagen. Denn diese Denker
haben den Dingbegriff in phänomenologischer Hinsicht — in
engstem Zusammenhang natürlich mit der erkenntnistheoretisehen
Fragestellung, an der sie in erster Linie interessiert waren —
in einer Weise behandelt, die Mach keine wesentlich neuen
Momente mehr beizubringen gestattete.
Wie wir bereits hervorzuheben hatten, bestreitet Berkeley
das Dasein „äufserer", „materieller^ Dinge, wenn darunter
selbständige, von ihrem Vorgestelltwerden unabhängige Elxi-
stenzen verstanden werden: „The external objects do not
sabsist by themselves, but exist in minds^^*) Eine unmittelbare
Eonsequenz dieses Idealismus ist es, da£s die Körper, die
„sensible things''^) (im Unterschiede von den „thinking things"')
oder Geistern) als Ideenkomplexe („collections of ideas"/)
„combinations of sensible qualities"^) aufgefalst werden, deren
einzelne Bestandteile gewöhnlieh verschiedenen Sinnesgebieten
angehören.<^) Nur der Umstand, dafs diese verschiedenen
Qualitäten in der Regel beisammen angetroffen werden („are
observed constantly to go together^'O), läfst sie uns zu einem
Dinge zusammenfassen und mit einem Namen belegen.^) Die
Auflösung des Körpers in eine Reihe von Ideen gelingt restlos;
entferne ich nacheinander die einzelnen Sinneskomponenten
1) Vgl. S. Bf.
<) Prino. Sect 1, 8, Diftl. S. 264 ff., usw.
») Prino. 3.
*) Prino. 1.
*) Prino. 38, Dial. S. 265. Andere Wendungen, die dasselbe beEeichnen
sind z. B.: „mixtore or oombination of qnalities" (DiaL S. 291), „seyeral
qualities imited or blended toyether*' (Dial. S. 291), „ideas blended or
combined together*' (Prino. 3) usw.
*) Der Körper ist „a congeries of sensible impressions, or ideas
perceived by various senses" (Dial. S. 345). Aber auch ein nur in einer
Sfnnesqualität gegebener Gegenstand wird als „one thing" bezeichnet
(Dial. S. 341).
') Theor.of Vision 46.
•) Prino. 1, Dial. S. 341.
Digitized by
Google
47
— vgl. das bekannte Beispiel von der Kirsche 0 — ^9 so bleibt
nichts, gar nichts übrig, kein „being distinet from sensations^.^)
Damit ist die köi*perliche Substanz völlig zerstört. Es bleibt
dann also auch kein einheitliches gemeinsames Substrat für
die verschiedenen ein Ding ausmachenden Ideen, es hat keinen
Sinn mehr zu behaupten, da£s wir dasselbe Ding durch
verschiedene Sinne wahrnehmen, etwa sehen und tasten, wenn
der Ausdruck „dasselbe Ding" in einem anderen als dem
oben bezeichneten Sinne genommen werden soll. „It is a
mistake to think the same thing affects both sight and touch ",'^)
„Strictiy speaking . . ., we de not see the same object that
we feeP^) und „We never see and feel one and the same
object That which is seen is one thing, and that whieh is
feit is another".*) Das „vielgestaltige vermeintliche philo-
sophische Problem von dem einen Ding mit seinen vielen
Merkmalen", um eine gelegentliche Wendung Machs<^) zu
gebrauchen, hat also, wie wir sehen, bei Berkeley bereits eine
Erledigung gefunden, die wir als eine phänomenologisch in
jeder Hinsicht befriedigende bezeichnen dürfen. Mehr als die
Tatsache des (relativ) konstanten Zusammenhanges verschiedener
Empfindungen (oder Elemente) ist in dem phänomenologischen
DingbegrifiT nicht enthalten. Mit dem Worte „Znsammenhang"
wollen wir zum Ausdruck bringen, dals das Ding natürlich nicht
in der Gesamtheit seiner Teile besteht, sondern dafs zu den
Teilen noch das Beziehungsgesetz derselben als das Ding
charakterisierend hinzukommen mufs.
Einer ganz entsprechenden Auffassung vom Dingbegriff
begegnen wir bei Hume. Auch für ihn sind die Dinge nichts
als „coUections of sensible qualities",^ „coUections formed by
the mind",^) usw. Auf die bedeutsamen und Kantsche Gedanken
») Dial. S. 345.
>) ib. . Vgl. a. Dial. S. 265 („It seems, therefore, . . .'').
•) Theor. of V. 186.
«) Dial. S. 341.
») Theor. of V. 49. Vgl. a. The Theory of Vision vindicated and
explained, Seet 9 f., 15 usw.
«) A. d. £. 5.
') Treat. 392.
■) 1. c 506.
Digitized by
Google
48
vorwegnehmenden ErOrternngen Hnmes, nach denen die Idee
der Existenz eines Dinges nicht nnter die Merkmale desselben
zn rechnen ist,i) haben wir in diesem Znsammenhange nicht
einzugehen. Nicht in der Auffassang der körperliehen Substanz,
sondern in der später noch genauer zu behandelnden Auf-
fassung der geistigen Substanz liegt in der hier in Betracht
kommenden Hinsicht der Fortschritt des Gedankens bei Hnme
gegenüber Berkeley.
Stuart Mill hat in der „Examination of Sir WUliam
Hamilton's Pbilosophy"*) eine „psychologische Theorie des
Glaubens an eine Aufsenwelt'^^) gegeben, in der er Tom Stand-
punkte der Assoziationspsychologie aus zu zeigen versucht,
wie sich auf Grund der vorhandenen Sinnesdaten und durch
die Wirksamkeit der Ideenassoziation der Glaube an die
Existenz einer vom Vorstellen unabhängigen Körperwelt ent-
wickelt. Bekanntlich findet er den Aulafs zur Bildung dieses
Glaubens und letzten Endes auch seinen Inhalt in den durch
die Gleichmäfsigkeit der Erfahrung garantierten permanenten
Wahrnehmungsmöglichkeiten („permanent possibilities of
Sensation".*) „ . . . My conception of the world at any given
instant consits, in only a small proportion, ofpresent sensations^;
zu diesen „present" oder „actual sensations" konmit vielmehr
hinzu „a countless variety of possibilities of sensation^^) Wie
nun allmählich die Empfindungsgrundlage dieser Wahrnehmungs-
möglichkeiten („their groundwork in Sensation"^) vergessen
wird und sie zu einem völlig Andersartigen („something
intrinsically distinct of it"')) — eben der „Materie" den
„äulseren" Dingen — werden, wie dann diese possibilities zur
beständigen und unabhängigen Ursache der ihnen gegenüber
als flüchtig („fugitive"^)) und als ein Zufälliges („aeeident"*))
0 L c. 394. Vgl. 870 u. 396.
*) Wir zitieren nach der 1865 Id London erschienenen Ausgabe.
') Überschrift zn Kap. 11.
*) L c. 198.
») 1. c. 193.
•) 1. c. 196, 8. a. 195.
») ib. .
•) 1. c. 193.
») 1. c. 195.
Digitized by
Google
49
angesehenen „actoal sensationB'^ werden, das haben wir hier
nicht weiter zn verfolgen. Für unsere Zwecke kommen diese
Erörterungen nur insofern in Frage, als sie eine Ergänzung
des Dingbegriffes enthalten in bezug auf einen Umstand, der
sieh bei Berkeley zwar deutlieh angelegt findet,^) aber jeden-
falls von ihm nicht so ausdrücklich in Betracht gezogen
worden ist. Diese Ergänzung liegt in der Bemerkung, dafs
sieh das Ding, das „sensible thing'' im Sinne Berkeleys, nicht
in dem augenblicklichen Wahrnehmungsbestande erschöpft,
sondern dafs die gegenwärtig aktuellen Empfindungen die
Anwesenheit anderer Empfindungen oder Empfindungsgruppen
ankündigen („announce'*), die als erfahrungsgemäfs mit ihnen
verknüpft unter den gegenwärtigen Umständen möglich sind
(„present possibilities ''')). Solche Inbegriffe von zusammen-
gehörigen gegenwärtigen und möglichen Empfindungen sind es,
die wir als Körper, Dinge, materielle Substanzen bezeichnen.
„When we think of anything as a material substance, or body,
we either have had, or think that on some given supposition
we should have, not some one Sensation, but a great and even
an indefinite number and variety of sensations, generally belong-
ing to diflerent senses, but so linked together, that the presence
of one announces the possible presence at the very same
instant of any or all ofthe rest''.^) Jede einzelne Empfindung
wird einer solchen Gruppe von möglichen Empfindungen zu-
geordnet und dann als Zeichen für deren Vorhandensein
genommen.^) Das Ganze der mögliehen Empfindungen gewinnt
gegenüber den in jedem Augenblick tatsächlich vorhandenen
Empfindungen die Bedeutung eines Unveränderlichen, Be-
harrenden: „The whole of the sensations as possible forms
a permanent back-ground to any one or more of them that
are, at a given moment, actual^^)
Auf diese beiden Gedankenreihen lassen sich, wie uns
scheint, die Machschen Bestimmungen über den Dingbegriff
0 Vgl. z. B. Princ. 3. Auch in der Lehre von der ,, Suggestion **
(besonders deutlich hi der Theor. of V.) finden sich verwandte Momente.
«) 1. c. 194.
») 1. c. 193 f.
*) 1. c. 195.
") l. 0. 195. S. a. 194.
PhlloBophiMhe Abhandlangen XXXXV. 4
Digitized by
Google
50
der Sache naeh — an eine historisehe Abh&ngigkeit zu denken
liegt kein Grund vor — im wesenüiehen znrttekfbhren. Der
Dingbegriff ist also fllr Mach zunächst nichts weiter als der
Ansdrnck der Tatsache, dafs die „Elemente" relativ konstante
Verbindangen eingehen, dafs sie sich zu mehr oder minder
beständigen Grnppen znsammengeordnet finden. Der Körper,
das Ding ist nichts als eine „Empfindnngsgrnppe [in allgemeiner
Bezeichnung eine Eiementengrnppe, ein „Elementenkomplex^O]
von yerhältnismäCsig gröfserer Beständigkeit^^) Wegen dieser
relativen Beständigkeit hebt er sich ab von der „wechselnden
Umgebnng'^') „Als relativ beständiger zeigen sich zanächst
räumlich und zeitlich (funktional) verknüpfte Komplexe von
Farben, Tönen, Drücken usw. . . .**, eben die „Körper".*) Aber:
„Absolut beständig sind solche Komplexe keineswegs".^) Viel-
mehr vollziehen sich an ihnen die mannigfachsten Ver-
änderungen; Teile verschwinden, andere kommen hinzu. „Die
Summe des Beständigen bleibt aber den allmählichen Ver-
änderungen gegenüber doch immer so grofs, dafs diese zurück-
treten." ^) Und so kommt es, dafs wir trotz dieser Veränderungen,
zumal wenn noch auf die „Stetigkeit des Übergangs"^ geachtet
wird, von „demselben" Dinge sprechen.^) Die einzelnen
Bestandteile der Komplexe, die vnr als Körper bezeichnen,
gehören gewöhnlich verschiedenen Sinnessphären an. Der
Körper ist „eine verhältnismäfsig beständige Summe von Tast-
und Lichtempfindungen, die an dieselben Raum- und Zeit-
empfindungen geknüpft ist",®) „ein Komplex von Eigenschaften,
die in verschiedene Sinnesgebiete fallen ".i<^) Die Tatsache
dieser Zusammenordnung der Elemente zu Komplexen von
0 A. d. £. 23, 268 asw.
») F. V. 231.
•) ib. .
*) A. d. E. 2.
») ib. . Vgl. a. P. V. 281 ; A. d. E. 300.
•) A. d. E. 2. S. a. P. V. 231 ; M. 459.
») P. V. 231.
") Auch dalli wir den KOrper bei verschiedener Orientienuig u
UDserem Leibe, in der Bewegnog usw. als „denselben'* beceichneOp hat
keinen anderen Sinn. Vgl. A. d. E. 7 u. .
») M. 494.
") W. L. 366. Vgl. P. V. 234 ; A. d. E. 270 u.
Digitized by
Google
61
relativer Beständigkeit drttekt sieh auch in der Sprache aus;
die gewöhnlieh beisammen angetroffenen, ein Ding aus-
machenden Elemente erhalten auch einen Namen.i)
Der Körper iäfist sich also in eine Mannigfaltigkeit von
Elementen auflösen; und diese Auflösung ist eine völlig
reinliche. „Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts aufser
dem Zusammenhang der Elemente, der Farben, Töne usw., aufser
den sogenannten Merkmalen ^.^) Bringt man die einzelnen
Komplexbestandteile, die einen Körper konstituierenden Elemente,
nacheinander zum Verschwinden, so bleibt nichts tibrig, kein
„dunkler Klumpen'',^) kein „bleibender Kern ^,4) der als seine
Substanz zu bezeichnen wäre. Wie die Vorstellung eines
solchen Kernes entstehen kann, ist psychologisch wohl ver-
ständlich. Farben, Töne usw. erscheinen als relativ „ flüchtig "
gegenttber dem „Tastbaren'', das sich als ein „beharrlicher,
nicht leicht verschwindender Kern'' darstellt und als „Träger"
der flüchtigeren Bestandteile des Komplexes erscheint.^) Mach
hebt hiermit die auch von anderer Seite schon vielfach
betonte Bedeutung der haptischen Qa&litäten für das Zustande-
kommen der Vorstellung einer objektiven Aufsenwelt hervor,
ein Gedanke, der seinen prägnantesten Ausdruck in der Unter-
scheidung der primären und sekundären Qualitäten gefunden hat.
Die genauere Betrachtung führt nun zwar zu der Einsicht, daCs
das Tastbare sich in keiner Weise prinzipiell von dem Sicht-
baren, Hörbaren usw. unterscheidet; allein diese Einsicht kann
gegen die alte und durch die Autorität der mechanischen
Naturanschauung noch wesentlich unterstützte Denkgewohnheit
nicht aufkommen.<^) Aber auch wo sich im philosophischen
Denken die richtige Auffassung schliefslich durchgesetzt hat,
wird der Gedanke eines substantiellen Kernes no^sh aufrecht
gehalten. Da man aus dem einen Körper bildenden Komplex
von Elementen jedes einzelne herausnehmen kann, ohne dafs
der Körper aufhört, derselbe zu sein, so entsteht der Gedanke,
>) Vgl. A. d.E. 2, 6 0., 84.
•) A. d. E. 6.
«) P. V. 234.
^ A. d. E. 9f.
») A. d. E. 6. S. a. W. L. 423.
•) A. d. E. 6.
Digitized by
Google
S2
dafs auch nach Wegfall aller Eomplexbestaodteile noch etwas
znrttckbleibe.i) Es bildet sich die Vorstellnng eines „anfser-
sinnlic henjene Elemente zasammenhaltenden, Substantiellen
Kernes, einer anfsersinnlichen Bedingung der Wahrnehmung^'.^)
Auf diese Weise kommt, nach der Meinung von Mach, die
Vorstellung des „Dinges an sich'' zustande.') Fttr ihn versteht
sieh von selbst, und damit stellt er sich eben auf den positi-
vistischen Standpunkt, dafs solche „unergründlichen"^) Dinge,
solche „unbekannten, nicht gegebenen Urvariable (Dinge an
sich)''*) gar nicht existieren. Nach einem Substrat, einem
anfsersinnlichen Träger für die verschiedenen Merkmale des
Dinges zu fragen hat gar keinen angebbaren Sinn, das Problem
von dem „einen Ding mit seinen vielen Merkmalen"*) ist
ein völlig mttfsiges. Natürlich ist es auf diesem Standpunkt
auch unzulässig, ja geradezu sinnlos, die Empfindungen als
„Wirkungen"^) äaf serer Dinge aufzufassen. „Nicht die Körper
erzeugen Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Emp-
findungskomplexe) bilden die Körper".^)
Die Analogie zwischen den bisher dargestellten Be-
stimmungen Machs über den Dingbegriff und denen bei Berkeley
und Hnme ist ohne weiteres deutlich. In rein phänomeno-
logischer Hinsicht treffen sie völlig zusanlmen. Dagegen
besteht ein Unterschied, und sogar ein ganz fundamentaler
Unterschied, in bezug auf die philosophische Auffassung
bei den beiden Denkern. Er ist gegeben durch den Idealismas
Berkeleys auf der einen, die positivistische Orientierung Machs
auf der anderen Seite, den Aufbau der Körper aus einfachen
„Ideen" dort, aus letzten „Elementen" hier. Die folgenden
») P. V. 231 ; A. d. E. 5. •) W. L. 423u. .
*) „So entstellt in natürlicher Weise der anfiuiKS imponierende,
später aber als ungeheuerlich erkannte phüosophische Gedanke eines (von
seiner „ Erscheinung ** verschiedenen unerkennbaren)' Dinges an sich"
A. d. E. 5. Vgl. R V. 23J ; E. u. J. lOf. . — Wie wenig die Machsche Dir-
Btellnng in diesem Punkte das Richtige trifft, braucht kaum hervorgehoben
zn werden.
*) E.U.J. 13.
») A. d. E. 28.
•) A. d. E. 6. Vgl. A. d. E. 293 u. .
») A. d. E. 10, 28.
•) A. d. E. 23.
Digitized by
Google
53
AnsfbhraDgen werden ans nnn eine Verwandtschaft von Mach
und Stuart Mill hinsichtlich der Anffassang des Dingbegriffes
erkennen lassen.
Häufig bezeiehnet Mach die Körper statt als „Elementen-
komplexe" als „Gedankensymbole ftir Elementenkomplexe". i)
y,Ich betrachte den Körper oder den Elementenkomplex oder
den Kern dieses Komplexes als stets vorhanden, ob er mir
augenblicklieh in die Sinne fällt oder nicht. Indem ich den
Gedanken dieses Komplexes oder das Symbol desselben, den
Gedanken des Kerns mir stets parat halte, gewinne ich den
Vorteil der Voraussicht, und vermeide den Nachteil der Über-
raschung. Ebenso halte ich es mit den chemischen Elementen,
die mir als bedingungslos beständig erscheinen ".2) Ein Stttck
Natrium z. B. kann die verschiedensten Umwandlungen durch-
machen, sich verflüssigen, in Dampf verwandeln, mit anderen
Stoffen Verbindungen eingehen, so dafs das silberweiCse Metall
schlielslich gar nicht mehr zu erkennen ist. Der Dampf kann
sich aber kondensieren, bei entsprechender Behandlung der
sogen. „Verbindungen" können „die gänzlich verschwundenen
Eigenschaften wieder zum Vorschein kommen, wie ein Körper,
der bei der Bewegung eine Zeitlang hinter einer Säule ver-
borgen war, wieder sichtbar werden kann.^) Wir sprechen
inamer noch von „demselben" Natrium. „Es ist nun ohne
Zweifel sehr zweckmäfsig, den Namen und Gedanken fllr eine
Gruppe von Eigenschaften, wo dieselben hervortreten können,
stets bereit zu halten. Mehr als ein ökonomisch abkürzendes
Symbol fttr alle jene Erscheinungen ist aber dieser Name und
Gedanke nicht".^) Wie weit sich etwa in diesen Kernen,
Symbolen usw. ein gewisses Festhalten an der überlieferten
Substanzvorstellung, eine Anbequemung an die gewöhnliche
Denkweise ausspricht, wollen wir hier unerörtert lassen.^)
Man wird ja ohne weiteres an die „verworrene Vorstellung"
0 A. d. £. 23.
>) A. d. E. 268 f.
») F. V. 283.
*) ib. . Vgl. A. d. E. 293 ; W. L. 355.
*) Für den ,,Hand- und Hansgebraach" hat Mach jedenfalls die
geläufigen Begriffe Substanz, Materie usw. nicht abschaffen wollen.
(A. d.E. 271).
Digitized by
Google
54
erinnert, die nach Locke, za den sinnlichen EinzelyorBtellangen
hinzukommend, den betr. Körper als ein Substantielles charakteri-
sieren soll. Sicher ist jedenfalls, dafs Mach diese Symbole,
diese „ Etiketten ^^,1) und wie die ähnlichen Wendungen lauten
mögen, in keiner Weise realisieren oder hypostasieren
will. Sie haben keine Existenz „aufserhalb unseres Denkens''.^)
Sie sind unbestimmte Totalvorstellungen der betr. Körper,
deren Bedeutung darin besteht, dafs sie „eine Reihe wohl-
geordneter sinnlicher Eindrücke wachrufen ^,3) Zeichen fttr
Inbegriffe von „ Eigenschaften'^, die unter gewissen Umständen
„hervortreten können'^ Die Verwandtschaft dieser IfacbBeben
Ausführungen mit den oben berührten Gedankengängen von
J. St. Mill braucht kaum besonders heryorgehoben zu werden.
Die nächstfolgenden Erörterungen werden diese Verwandtschaft
noch deutlicher hervortreten lassen.
„Stoff ist mögliche Erscheinung,«) ein passendes
Wort fttr eine Oedankenlttcke .... Wenn wir Sauerstoff und
Wasserstoff in einer Eudiometerröhre explodieren lassen, so
verschwinden die Sauerstoff- und Wasserstofferscheinungen und
es treten dafür die Wassererscheinungen auf. Nun sagen wir,
Wasser besteht aus Sauerstoff und Wasserstoff. Dieser Sauer-
stoff und Wasserstoff sind aber nichts als zwei beim Anblick
des Wassers parat gehaltene Gedanken oder Namen
für Erscheinungen, die nicht da sind, die aber jeden
Augenblick wieder hervortreten können,«) wenn wir das
Wasser zerlegen, wie man sich auszudrücken beliebt Es ist
mit dem Sauerstoff ganz so wie mit der latenten Wärme. Beide
können hervortreten, wo sie im Augenblick noch nicht bemerk-
bar sind. Ist die latente Wärme kein Stoff, braucht es anch
der Sauerstoff nicht zu sein^.^) Was Mach in diesen ans-
gezeichneten Worten „mögliche Erscheinung'', „parat gehaltenen
Gedanken'' nennt, das bezeichnet Mill als „present possibilities''.*)
Wenn Mach den Sauerstoff (am Schlüsse des Zitats) überhaupt
nicht als „Stoff'' gelten lassen will, so heilst das natürlich nur,
dafs er für ihn — und für Mill würde das gleiche zutreffen —
») F. V. 231 f. «) F. V.231.
») F. V. 233. <) Von mir gesperrt.
B) £. d. A. 25 und, aaüser dem ersten Satze, W. L. 824. Vgl. a. W.L433.
•) Vgl. S. 49.
Digitized by
Google
55
kein Stoff im metapbjgisehen Sinoe ist, keine von den wahr-
nehmbaren Qualitäten verschiedene Materie, so wenig wie nach
der herrschenden (d. h. ans der Überwindung der Blackschen
Wärmestoffyorstellnng hervorgegangenen) Anschauung die
Wärme. Er ist eben nichts als „mögliche Erscheinung", als
der Inbegriff der „Sauerstofferscheinungen", damit aber selbst-
verständlich ein Stoff, ein Körperliches im Sinne eines Kom-
plexes Kusammenbestehender Elemente. Die Mannigfaltigkeit
innerhalb weiter Grenzen zusammen angetroffener Elemente,
d.h. der Dingkomplex, ist reichhaltiger, als sie im unmittel-
baren Bestände der Wahrnehmung erscheint Zu den augen-
blicklich gegenwärtigen Bestimmungen kommen noch die unter
gegebenen Bedingungen möglichen hinzu. Aber über die
Gesamtheit der aktuellen und fUr die Wahrnehmung möglichen
Bestandstocke des Dingkomplexes hinauszugehen und eine
besondere von diesen verschiedene Materie anzunehmen, besteht
durchaus kein Grund. Der gemeine Mann und ebenso der
Naturforscher, im Unterschiede von dem Anhänger Kants,
kommen völlig aus, wenn sie „der einzelnen Sinnesempfindung
das Ding als Vorstellungskomplex aller erinnerten und noch
erwarteten an diese Empfindung sich knüpfenden Erfahrungen
gegenttberstellen".!) Wenn der Chemiker beim Anblick des
Wassers etwa den Gedanken an die „Sauerstoff- und Wasser-
stofferseheinungen" bereit hält, indem er z. B. das Aufleuchten
des glimmenden Spanes erwartet, das die Anwesenheit von
Sauerstoff verrät, wenn er sagt, das Wasser bestehe ans
Wasserstoff und Sauerstoff, die in bestimmtem Gewichts- oder
Volamenverhältnis verbunden sind, und diesen Sachverhalt
durch die Formel H2O bezeichnet^ so hebt er damit den
Inbegriff der möglichen Erscheinungen hervor (perm. bzw. pres.
posB. bei Mill), die fttr ihn als Chemiker das Wasser charak-
terisieren. In der Gesamtheit dieser chemischen und der zu-
gehörigen physikalischen Merkmale (Farbe, Dichtigkeit, Gefrier-
punkt, elektrisches Leitvermögen usw.) '), die teilweise im Augen-
0 A. d. E. 296 Anm. . Vgl. L. 16.
^ Dafs Übrigens auch solche abstrakten begriftUehen Bestimmungen
wie Dichte, Leitvemiögen usw. sich för Mach in „sinnliche Elemente ** auf-
lösen, hat er fai der Lehre vom Begriflf gezeigt. Vgl bes. P. Y. 280 ff.;
A. d. £. 262ff.; £, u. J. 114, 126£; W. L. 403f., 415it
Digitized by
Google
56
blick in die Sinne fallen, teilweise anter bestimmten und angeb-
baren Bedingungen in die Sinne fallen können, besteht das^
was wir Wasser nennen. Dafs die philosophischen Voraus-
setzungen bei Mach und bei Mill ganz verschiedene sind, ist
bekannt. Die weitgehende Übereinstimmung, die wir zu kon-
statieren hatten, betrifft die Analyse des Bewnfstseins der
Dinghaftigkeit, die Charakteristik des Dinges in der unmittel-
baren Erfahrung, den phänomenologischen Dingbegriff. <)
Die Beständigkeit der Körper liegt also nicht in dem
Beharren eines intelligiblen Kernes, sondern in der (relativen)
Konstanz gewisser Zusammenhänge oder Beziehungen zwischen
den (unmittelbar gegebenen) Elementen. Das gilt für jede
Art von Beständigkeit oder Substantialität, wo immer wir
AnlaCs haben, von einer solchen zu sprechen. Substantialität
ist „Beständigkeit der Verbindung''. 2) Eine genau formulierte
Abgrenzung des Substanzbegriffes gegen den Begriff des Dinges
oder Körpers findet sich bei Mach nirgends. Man kann nur
sagen, dafs er den Substanzbegriff in einem allgemeineren
Sinne gebraucht als den Dingbegriff. Substantialität, d. L Be-
ständigkeit der Verbindung, drücken alle physikalischen Sätze
auSy insbesondere auch die physikalischen Erhaltungssätze, wie
der von der Konstanz der Energie. Natürlich ist auch der
Zusammenhang, den das Ich darbietet, ein in diesem Sinne
substantieller. Auf den Substanzbegriff in dieser allgemeineren
Form näher einzugehen haben wir hier keine Veranlassung.
Die folgenden Angaben sind nur als eine Ergänzung zu den
bisher mitgeteilten Bestimmungen Machs über den Ding-
begriff gedacht.
„Das bedingungslos Beständige nennen wir Substanz''.^)
Aber: „Eine wirkliche bedingungslose Beständigkeit gibt es
nicht .... Wir gelangen zu derselben nur, indem wir Be-
dingungen übersehen, unterschätzen, oder als immer gegeben
betrachten, oder willkürlich von denselben absehen. Es bleibt
>) Mach kommt gelegentlich auf die Millschen EmpfindongsmOgtich-
keiten zu sprechen (A. d. £. 296) und erklärt diesen Begriff merkwürdiger-
weise für „überflüssig". An seine Stelle soll der „ mathematische Fonktioiit-
begriff' tretea. Uns erscheint dies wenig glückUch, ja nicht einmal
ganz klar.
«) A. d. E. 270; E. u. J. 186; W, L. 424, nsv- ») A. d. E. 268.
Digitized by
Google
57
nar eine Art der Beständigkeit, die alle Yorkommenden Fälle
von Beständigkeit nmfafst, die Beständigkeit der Ver-
bindnng (oder Beziehnng). Auch die Substanz, die Materie,
ist kein bedingungslos Beständiges." *) „Könnte man sämtliche
sinnliehe Elemente messen, so würde man sagen, der Körper
besteht in der Erftlllnng gewisser Gleichungen, welche
zwischen den sinnlichen Elementen statthaben. Auch wo man
nicht messen kann, mag der Ausdruck als ein symbolischer
festgehalten werden. Diese Gleichungen oder Beziehungen
sind also das eigentlich Beständige." 2) An die Stelle der
„nicht beständigen Körper" tritt also das „beständige Gesetz". 3)
„Die Beständigkeit der Verbindung der Reaktionen aber, welche
die physikalischen Sätze darlegen, sind die höchste Substan-
tialität, welche die Forschung bisher enthüllen konnte, be-
ständiger als alles, was man Substanz genannt hat."^) Man
mag daher diese Zusammenhänge, diese Gleichungen immerhin
als „Noumena", als „Ausdruck von Realitäten" ansehen. <»)
Es ist hieraus ersichtlich, wie vollkommen Mach in seiner
Auffassung des Substanz- und speziell des Dingbegriffes den
Boden der realistisch-dualistischen, sowie auch der idealistisch*
spiritualistischen Deutung des Seins yerläfst, und wie er zu
einer rein phänomenologischen Orientierung gelangt.
2. Wie der Körper, so ist ftlr Mach auch das Ich nichts
als ein Komplex von Elementen, ein Komplex, dem ebenfalls
keine unbedingte Beständigkeit zukömmt. „Das Ich ist so
») A. d.E. 270. Ygl.P.Y.471.
«) W. L. 424.
•) A. d. E. 294.
*) E. u. J. 136, L. 18.
*) W. L. 424. — Der Begriff der Substanz im Sinne eines Sabstrates
exiBÜert für die plittnomenologisohe Betrachtung Belbstyerständlich niolit.
Wir sprechen besser nicht von Substanzen, sondern von substantiellen
Znsammenhängen (so auch bei dem Ich, dem Ichzusammenhange, ygL
später). Es ist, wie wir oben sagten, dasBeziehungsgesetz der Teile,
welches, neben diesen selbst, das Eigentümlictie jedes Gegenstandes
(Dbg oder Ich) ausmacht. Natürlich läfst auch diese Auffassung nicht
yerneineu, da£9 das Ganze in bestimmtem Sinne (nämlich für die
nnreflektierte Anschauung) vor seinen Teilen gegeben .ist..
Digitized by
Google
58
wenig absolat beständig als die Körper." i) Was die scheinbar
völlige Beständigkeit des Ich vortänseht, was es als ein
Identisches und Beharrendes gegenüber den wechselnden Emp-
findnngen erseheinen läfst, das ist in der Hauptsache die
Kontinuität und Langsamkeit der sich an dem „lehkomplex"^)
vollziehenden Verändernngen, die Tatsache, dafs die Erlebnisse
von gestern in den Erinnerungen von heute fortbestehen and
erst allmählich verloren gehen oder an Wirksamkeit verlieren.
Indessen kann es kaum gröfsere Unterschiede im Ich ver-
schiedener Menschen geben, als sie sich an demselben Ich
in der Jagend und im Alter finden.')
Das Ich ist also auch nur ein „funktionaler Zusammen-
hang der Elemente",^) dessen Unterschied von den Körperu
hauptsächlich dadurch gegeben ist, dafs in den Ichkomplex
neben den Elementen, die die Körperwelt konstituieren, auch
Vorstellungen, Wollungen usw. eingehen.^) Auf weitere Unter-
schiede werden wir noch zu sprechen kommen. Aufserhalb
dieses Zusammenhanges der Elemente nach einem Ich zu suchen,
bedeutet fUr Mach ein sinnloses Unternehmen. Das Ich geht
in demselben restlos auf und zeigt auch in dieser Hinsicht
eine völlige Analogie mit den Körpern. „Ein unbekanntes,
unerkennbares Etwas hinter diesem Gretriebe haben wir nicht
nötig, und dasselbe hilft uns auch nicht im mindesten zu
besserem Verständnis^. <^) Die beiden Probleme des „unergründ-
lichen Dinges'' und des „unerforschlichen Ich'' sind gleicher-
weise „ Scheinprobleme ''.'^) Läfst man sich an dieser Be-
stimmung des Ich nicht genttgen und fragt: „wer hat diesen
Zusammenhang der Empfindungen, wer empfindet", so begeht
mau nach Mach den Fehler, zu- der Gesamtheit der einzelnen
Elemente, die das Ich ausmachen, ihren „unanalysierten Komplex"
nochmals hinzuzudenken. ») Das Ich ist also nichts Substantielles
0 A. d. E. 8. Vgl. a. A. d. E. 2.
•) A. d.E. 21; E. u. J.427.
») Vgl. A. d. E. S, 19.
*) E.U. J.ll.
•) Vgl.A.dE.7.
•) E. u. J. 11. Vgl. a. E. u. J. 461.
') E. u. J. 13f. . Vgl. a. A. d. £. 293 Anm.
") Ad.E.20.
Digitized by
Google
59
in dem gewöhDÜchen Sinne, kein Til[ger von Eigenscbaften,
keine „unteilbare Einbeif*,!) kein Gefäfs fttr die wecbselnden
Inbalte. Das leb ist gar niebts Ursprttngliebes gegenüber
den Elementen, der Saebyerbalt ist rielmebr gerade nm-
gekebrt: „Niebt das leb ist das Primäre, sondern die Elemente
(Empfindungen) Die Elemente bilden das leb".') Nacb-
dem das leb so in eine Reibe von Elementen aufgelöst ist, bat
es natttrlieb aneb keinen Sinn mebr, die Empfindungen als
Affektionen des leb aufzufassen. Das leb ist dann niebt mebr
als ein „räteelbaftes Wesen" zu betraebten, das dureb „Wecbsel*
Wirkung" mit den niebt minder rätselbaften Körpern „die allein
zugänglicben Empfindungen erzeugt". ')
Die bisber mitgeteilten Feststellungen Maebs über das leb
lassen eine enge Verwandtscbaft mit den Ansiebten Humes über
diesen Gegenstand erkennen. Wir batten bereits in Kap. 1
Veranlassung, auf diese Humeseben Gedankengänge kurz hin-
zuweisen; bier wollen wir nocb einige näbere AusfÜbrungen folgen
lassen, die uns die Maebscbe Auffassung in cbarakteristiscber
Beleucbtung ersebeinen lassen. Es unterliegt fttr Hume keinem
Zweifel, dafs wir keine Idee unseres leb (seif) besitzen; ein
lebbewufstsein in diesem Sinne gibt es niebt. Sueben wir
unser leb zu erfassen, so finden wir stets nur eine Mannig-
faltigkeit von einzelnen Impressionen und Ideen vor. „For my
part, wben I enter most intimately into what I call myself,
I always stumble on some partieular pereeption or otber, of
heat or eold, ligbt or sbade, love or batred, pain or pleasure." ^)
Dals das leb in dieser Mannigfaltigkeit von besonderen Per-
zeptionen völlig aufgebt, ist fttr Hume eine Tatsaebe, die
gänzlicb aufser Frage stebt „If any one, upon serious and
unprejudiced reflexion, tbinks be bas a different notion of
bimself, I must eonfess I can reason no longer witb bim."^)
Wer sieb als ein einfacbes und beständiges Wesen („something
simple and eontinued") zu erkennen glaubt, der muls ganz
0 A. d. £. 21. — Vgl. aber, was wir S. 57 Anm. 5 am Schlufs gesagt
haben.
«) A. d. E. 19.
•) A. d.E. 24.
*) Treat. 584.
■) ib. .
Digitized by
Google
60
anders organisiert sein.^) Es folgt also, dafs der Geist nichts ist
als „a bandle or coUection of different perceptionsV)
Der Geist ist einem Theater yergleiehbar, auf dem die Per-
zeptionen kommen nnd gehen; von dem Theater selbst aber,
dem Schauplatz, auf dem sich die Szene abspielt, haben wir
nicht die geringste Vorstellung.') Der Geist besitzt keine
Einfachheit („simplicity^) zu einer bestimmten Zeit und keine
Identität („identity^) zu verschiedenen.^) Die scheinbare
Identität der Person hat ihren Grund in dem durch die
Assoziation bedingten „smooth and uninterrupted progress of
the thought^ und vor allem in dem Gedächtnis.^) Es besteht
aber kein „real bound among the perceptions" als Grundlage
des Ich;<) dieses Band existiert vielmehr nur in der Einbildung:
„The identity, which we ascribe to the roind of man, is only
a fictitious one."'')
Wir können uns Machs Auffassung des Ich durch nichts
anscbaulicher vergegenwärtigen als durch die folgenden Worte
von Georg Chr. Lichtenberg,^), die Mach selbst als einer ver-
wandten Denkrichtung entspringend erkannt hat:^) „Wir werden
uns gewisser Vorstellungen bewufst, die nicht von uns ab-
hängen; andere, glauben wir wenigstens, hängen von uns ab;
wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer
Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte
man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen: cogito, ist
schon zu viel, sobald man es durch ich denke tibersetzf
Aber wir haben den bisher dargestellten und erörterten
Ansftlhrungen Machs ttber den Ichbegriff noch eine weitere Ge-
dankenreihe anzufügen. Sie betrifft die besondere Charakteristik
des Ichkomplexes gegenttber den Dingkomplexen, den Körpern
der „Umwelt^, sowie die Abgrenzung des Ich gegen die
0 Treat. 434.
•) Ib. , vgl. S. 495.
») Treat. 634f .
*) Treat 634.
'^ Treat. 541.
•) Treat 540.
') Treat 640 o. .
•) G. Chr. Lichtenberg, Vermischte Schriften 180 t, IL S.95.
•) S. A. d. E. 23.
Digitized by
Google
61
Umwelt, die Heraushebnng desselben ans dem allgemeinen
Zusammenhange der Elemente, der ja, wie wir gesehen haben,
„im Grnnde nur einer ist^ (S. 45).
Versucht man den anmittelbar vorgefundenen Tatbestand
im Sinne der phänomenologischen Betrachtungsweise, also un-
bekümmert um metaphysische oder auch dem naiven praktisch
gerichteten Bewnfstsein entfiief sende Vorurteile, sich zu deut-
licher Anschauung zu bringen, so stellt er sich folgendermafsen
dar: Ich finde mich im Räume zusammen mit anderen Objekten,
die mir teils als leblos, teils als belebt erscheinen. Unter diesen
Objekten befindet sich auch mein Leib, und dieser ist fttr
mich „ebenso ein sichtbares, tastbares, überhaupt sinnliches
Objekt, welches einen Teil des sinnlichen Raumfeldes ein-
nimmt, neben und aufs er den übrigen Körpern sich befindet,
wie diese selbst ^.i) Indessen weist dieser Gegenstand, den
ich als „meinen Leib'* bezeichne, den anderen Gegenständen
gegenüber charakteristische Unterschiede auf; er ist ein „durch
Besonderheiten ausgezeichnetes" ^) Glied in der Mannigfaltigkeit
der Objekte, d. i. der Komplexe von Elementen. Diese Unter-
schiede sind, neben „individuellen Merkmalen '^s) (das heilst
wohl Modifikationen von Eigenschaften, die den anderen Kom-
plexen ebenfalls zukommen, wie Gestalt], Farbe, GröCse usw.),
in der Hauptsache durch folgendes gegeben:^) Bei Berührung
meines Leibes treten eigentümliche Empfindungen auf, die ich
bei Berührung anderer Körper oder Leiber nicht konstatieren
kann.^) Ferner ist mir mein Leib weniger vollständig sichtbar
als die ähnlichen Komplexe, die mich umgeben, die Leiber
anderer Menschen. Insbesondere wird er ohne Kopf gesehen,
») E. u. J. 5.
«) A. d. E. 7.
«) E. u. J. 5.
*) Diese gaoze Charakteristik folgt den AusfÜhnuigen vonE. u. J. 5f.
and A. d. £. 15.
') Mach denkt hierbei offenbar an folgendes : Sehe ich eioen Geg^en-
stand meine Haut berühren, so bemerke ich gleichzeitig damit bestimmte
Tast- und TemperatarempfiodaDgen , von denen ich nichts wahrzunehmen
vermag, wenn ich denselben Gegenstand die Haut eines anderen Menschen
(d.i. zunächst eines ähnlichen Komplexes) berühren sehe. Zar weiteren
Bezeichnung des Gegensatzes zwischen meinem Leib and den übrigen
Leibern mols man auch die meines Wissens zam ersten Male von Tl^. Waitz
Digitized by
Google
62
oder der Kopf ist doeb, unmittelbar weDigstend, nnr zum
kleinsten Teile siehtbar. Aueh erscheint mir mein Leib unter
einer anderen Perspektive als die ttbrigen Leiber; ich kann
denselben optischen Standpunkt anderen Leibern gegenüber
überhaupt nicht einnehmen. Ähnliches läCst sieh von dem
Tastsinn und den übrigen Sinnen sagen. Auch meine Stimme
höre ich, wegen der Eopfresonanz, ganz anders als die Stimmen
anderer Menschen. Besonders aber ist hervorzuheben, dafs sieb
an den Willen zur Bewegung, an Jede lebhaftere Bewegungs-
vorstellung*^,^) sofort die entsprechende Bewegung des einen
bestimmten Leibes, eben meines Leibes, ansehlielst Und
endlich bringt ganz allgemein jede Störung, die meinen Leib-
komplex betrifft, weit auffallendere und tiefergehende Ver-
änderungen hervor, als wenn sie einen anderen Komplex
betrifft. „Ein Magnet in unserer Umgebung stört die be-
nachbarten Eisenmassen, ein stürzendes Felsstück erschüttert
den Boden, das Durchschneiden eines Nerven aber bringt das
ganze System von Elementen in Bewegung^. 2) Das ist die
phänomenologische Beschreibung des Tatbestandes, eine
Beschreibung dürfen wir sagen, die, obgleich sie Lücken auf-
weisen mag, ihren Gesichtspunkten nach kaum treffender ge-
geben werden könnte.
Mit Rücksicht auf diesen Tatbestand, auf den charak-
teristischen Unterschied meines Leibes von den übrigen vor-
handenen Elementenkomplexen, läfst sich die Gesamtheit der
Elemente darstellen durch das Symbol ABC... KLM...
a /? 7 . . ., worin die A B G ... die Elemente bezeichnen, aus denen
sich die Körper der Umwelt aufbauen, die KLM... den
Komplex bilden, den ich meinen Leib nenne, endlich die
aßy ... die Vorstellungen der Erinnerung und der Einbildung
sowie die emotionalen Inhalte darstellen.^) Für die Abgrenzung
hervorgehobenen „Doppelempfindungen" berücksichtigen, die bei Be-
rtthrong eines Körpergliedes mit einem anderen desselben Körpen ent-
stehen. (Th. Wsitz, Lehrbach der Psychologie als Natorwlssensohaft,
1849, S. 258).
0 A. d. £. 15. Mach nimmt in bezog auf die WUlenstheorie einen
Khnllchen Standpunkt wie Ziehen und Mfinsterberg ein. Vgl bes.
A. d.E. 82, 140 f.
») A. d. E. 18f. •) A. d. E. 7. Vgl. S. 32.
Digitized by
Google
63
von ELM... gegen die A B C ...- Komplexe ist mafs-
gebend zunächst die ränmliehe Grenze dieses trotz seiner
Beweglichkeit in ränmlicher Beziehung relativ konstanten Kom-
plexes, <) die „ränmliehe Umgrenzung U unseres Leibes",^) und
sodann die Erkenntnis aller der im vorigen Abschnitt be-
zeichneten Eigentümlichkeiten desselben. Ausdrücklich soll
hier nochmals betont werden, was nach allem bisher Gesagten
ja eigentlich selbstverständlich ist, dafs die sämtlichen Kom-
plexe einschliefslich des K L M ...- Komplexes sich für diese
ganze Betrachtungsweise nebeneinander im Sehraum (das Wort
im Sinne Herings genommen) bezw. im haptischen Räume
befinden. Die U-Grenze geht mitten durch den Sinnesraum
hindurch und spaltet ihn in zwei charakteristisch voneinander
unterschiedene Sphären: den Leib und die Umwelt. s) In der
Kegel fafst man nun die aßy ... mit den K L M . . . zusammen
und stellt diesen Komplex von Elementen als „Ich^ dem In-
begriff der ABC... als der Körperwelt gegenüber.*) Zu-
weilen wird auch aßy... als Ich, ABC... KLM... als
Körperwelt aufgefafst, wobei aber zu beachten ist, dafs ein
engerer Zusammenhang zwischen den aßy... und den KLM...
^) Mach spricht gelegentlich von ^^räamlicher Sabstaotialität'«
A. d.E. 156 f.
>) E. u. J. 8. Vgl. S. 37.
') Dafs Mach die U-Grenze rein räumlich anffafst, haben wir bereits
weiter oben gesehen (vgl. S. 87). Und ebenda haben wir gezeigt, dafs für
die Bestimmung des Verhiiltnisses des Physischen zum Psychischen diese
ränmliehe Auffassung nicht völlig ausreicht und schlieislich auch gar nicht
hn Sinne Machs liegt. Man könnte nun daran denken, auch für die Ab-
grensoDg des Leibes gegen die Umwelt die Sinnesoberfläche (wie
sie dort von uns definiert wurde) statt der rein räumlichen Umgrenzung
des Leibes malsgebend sein zu lassen. Jedenfalls bestehen hier zwei
prinzipiell yerschiedene Abgrenzungsmöglichkeiten, und sich für die eine
oder andere zu entscheiden ist schließlich Sache der Definition. Natürlich
wfard man es yorziehen, die räumliche Zusammengehörigkeit, die ja übrigens
mit ehier physiologischen Zusammengehörigkeit verbunden ist, den Aus-
schlag geben zu lassen, da es dem Sprachgebrauch sowie dem praktischen
Bedürfnis völlig entgegenlaufen würde, wollte man etwa einen anästhetischen
Körperteil oder solche Gebiete im Innern des Körpers, die von sensiblen
Nervenendigungen frei sind, nicht zum Leibe rechnen.
•) A. d. E. 7 u. 10.
Digitized by
Google
64
als zwischen den aßy... und den ABC... besteht^) Das
Ich stellt sich dann dar als ein „an einen besonderen Körper
(den Leib) gebundener Komplex von Erinnerungen, Stimmungen,
Gefllhlen".^)
Die so getroffene Abgrenzung des Ich gegen die Körper-
welt oder „Anisen weit",*) die in ihrem Resultat der gewöhn-
lichen Auffassung am meisten nahekommt, erfolgt unter einem
ganz bestimmten Gesichtspunkt und ist als eine wohldefinierte
zu bezeichnen; sie ist aber keineswegs eine ausschliefslich
berechtigte oder unbedingt notwendige. Diejenigen Elemente
von ABC..., welche aßy . . ^ „stärker alterieren",*) wie z. B.
ein Schmerz, werden gewöhnlieh dem Ich zugerechnet, und so
kann durch Angliederung immer neuer Elemente eine beliebige
Ausweitung des Ich erfolgen. Es zeigt sich, „da£s das
Recht, ABC... zum Ich zu zählen, nirgends aufhört. Dem-
entsprechend kann das Ich so erweitert werden, dals es
Bchlielslich die ganze Welt umfafsf*.^) Und so läfst sich
sagen: „Das Ich ist nicht scharf, abgegrenzt, die Grenze ist
ziemlich unbestimmt und willkttrlich verschiebbar".^) Wie
immer aber diese Abgrenzung auch vollzogen werden mag, die
U-Grenze bleibt bestehen. Sie geht eben, wenn man das Ich
weiter falst als es oben geschehen ist, „mitten durch das Ich".^)
3. Wir haben die Machschen Bestimmungen ttber das Ich
bisher absichtlich so dargestellt, als handle es sich dabei
1) A. d. E. 7. Worin dieser „ engere Zosunmenhftng*' besteht, wird
nirgends genaner ausgeführt
«) A. d. E. 2.
') In phänomenologischem Zasammenhange dürfte man besser doi
Ausdrnck , Umwelt ** ^i^ebrauchen, dem der metaphysiaohe Beigeschmack
des «aufsen'' nicht anhaftet.
*) A. d. E. 10.
») ib. . •) ib. .
7) £. u. J. 9. Mach sagt mifsverstiindlich : „mitten dnreh das pBewoTst-
sein'**. — Die Ansdrücke „engeres** und „weiteres Ich'* (£. o. J.6, 9)
sind vermieden worden, da sie von Mach ziemlich unbestimmt gebraacht
werden. Von den Gesichtspunkten, die Mach die Abgrenzung des Ich als
aus „praktischen" Gründen erfolgend bezeichnen lassen (vgl A. d. K 11,)
]8f. a. s. f.), ist hier ganz abgesehen worden, da sie seiner biologisch-
ükonomischen Betrachtungsweise angehören (vgL d. Einl.).
Digitized by
Google
65
lediglich um eine rein phänomenologisehe BeBehreibung und
Analyse des in der nnmittelbaren Erfabmng vorgefundenen
Tatbestandes, als interessiere Mach allein die Frage, wie ist
mir das Ich unmittelbar gegeben, durch welche Eigentümlich-
keiten unterscheidet es sich von den übrigen Gegenständen,
die mit ihm den gleichen Baum (den Raum der Sinneswahr-
nehmung) teilen, wodurch ist die Abgrenzung des Ich gegen
diese anderen Gegenstände bedingt? Wir werden jetzt zu
zeigen haben, dals die Machschen Absichten über diese phäno-
menologischen Fragestellungen tatsächlich weit hinausgehen. £s
geht das hervor aus der Art, wie er die Frage nach der Viel-
heit der Iche behandelt
Es ist selbstverständlich, dafs eine phänomenologische
Darstellung des Vorgefundenen in keiner Weise über das
hinausgehen kann, was man in der gewöhnlichen, aber bereits
eine philosophische Theorie enthaltenden Ausdrucksweise als
die Sphäre „meines Bewufstseins^, den Inbegriff „meiner
Vorstellungen" bezeichnet. Denn Vorgefundenes und Bewufst-
seinsinhalt fallen ihrem Bestände nach völlig zusammen;
nur die Interpretation, die verschiedene philosophische Ein-
stellung demselben Tatbestande gegenüber, bedingt diese Ver-
schiedenheit der Bezeichnung. In dem Bestände des Vor-
gefundenen gehört natürlich auch das Ich, d. h. das Ich der
unmittelbaren Erfahrung, von dem hier allein die Rede sein
kann. Die Tatsache nun, dafs eine derartige Betrachtungs-
weise prinzipiell nicht über das „eigene Bewufstsein" hinaus-
zufilhren vermag, darf nicht Veranlassung geben, sie einem
solipsistischen Standpunkt gleichzusetzen. Und das nicht
sowohl deshalb, weil das Ich selbst in eine Mannigfaltigkeit
einzelner Data aufgelöst ist^^ als vielmehr, weil diese Frage
des Solipsismus durch diese ganze Betrachtung überhaupt nicht
getroffen wird. Das Problem der Vielheit der Iche, der
Existenz fremden Bewufstseins, die Frage, ob dem von „mir"
konstatierten Tatsachenzusammenhange analoge Zusammenhänge
bestehen, ist gar nicht Gegenstand phänomenologischer Er-
örterung, sondern gehört einem ganz anderen Kreise von
0 Auch nach Anflöenng des substantielleii Ich (Home) könnte man
einen Standpunkt einnehmen, der dem Solipsismus gleichkommt.
PbUoaophiicbe Abhaadlangtn. XLV, 5
Digitized by
Google
66
Fragestellaogen an. Alles, was sich in phänomenologisclier Hin-
sicht znr Frage der Vielheit der Iche sagen läüst, ist nach nnseier
Ansicht etwa folgendes: Es wird leicht konstatiert, dafs der
eigene Leib, der als „mein Leib' bezeichnete Komplex, in der
Reihe der Elementenkomplexe eine ausgezeichnete StelluDg
einnimmt, die durch die oben (S. 61 ff.) näher bezeiehneten
Eigentümlichkeiten dieses Komplexes gegeben ist. Besonders
hervorzuheben ist der Umstand, dafs, Ton bestimmt angebbaren
Einschränkungen abgesehen, jede genügend lebhafte Bewegung»-
Vorstellung, die sich auf einen Teil meines Leibes bezieht, mit
der entsprechenden Bewegung dieses Körperteils in einer für
das Bewnistsein unmittelbaren Weise verknüpft ist Dieser
unmittelbare Zusammenhang zwischen BewegungsvorstelloDg
und wirklicher Bewegung ist nicht festzustellen, wenn sich
die Bewegungsvorstellung auf ein beliebiges Objekt aulserhalb
meines Leibes, auf ein Objekt der Umwelt, bezieht An die
Vorstellung der Bewegung meiner Hand schliefst sich, wenn
sie von den Umständen begleitet ist, die in gleichviel welchem
Sinne von einem „Willensbewufstsein", einer „Willens-
anstrengung'' reden lassen, diese Bewegung in regelmäbiger
Folge an^); stelle ich mir dagegen die Bewegung etwa eines
Hauses noch so lebhaft vor, so wird auf diese Bewegungs-
vorstellung nur in den seltensten Fällen eine Bewegung dieses
Objektes tatsächlich folgen, so jedenfalls, dafs von einem
konstanten oder gesetzmäfsigen Znsammenhang dabei schlechter-
dings nicht die Rede sein kann. Nicht weniger bedeutsam ist
die Tatsache, dafs die sämtlichen Gegebenheiten der Umwelt,
ja selbst die Befunde an meinem Leibe, sich als durchgängig
abhängig erweisen von dem Zustande meines sensiblen Nerven-
systems einschl. der peripheren Endapparate, der Sinnesorgane.
An bestimmte Änderungen im Nervensystem sind bestinmite
Änderungen in der Umwelt gesetzmäfsig gebunden. Nun finden
sich unter den Komplexen der Umwelt solche, die weitgehende
Ähnlichkeiten mit meinem Leibe erkeimen lassen. Wir sehen
an diesen Komplexen Veränderungen vor sich gehen, Be-
1) Ob man «af dem St&ndtponkt der Zieben-Mfinsterbergschen
Willenstheorie steht oder nicht ist f&r diese phSnomenologische
Analyse ohne Belang.
Digitized by
Google
67
wegnDgen sieh voUzieheD, die von den gröbsten Reflexen nnd
Automatismen bis hin za den feinsten und wohlkoordiniertesten
Ansdrncksbewegnngen, insbesondere den Sprechbewegnngen,
eine völlige Analogie zn den am eigenen Leibe beobachteten
Bewegungen aufweisen, die hier zum Teile nachweislich an
Bewegungsvorstellangen geknüpft sind. Wir konstatieren ferner
an jenen Komplexen Nerrensysteme und Sinnesorgane, die den
unsrigen innerhalb weiter Grenzen entsprechend organisiert
sind. Auf Grund dieser Tatsachen ergänzen wir nach
Analogie zu den dort beobachteten Bewegungen die ent-
sprechenden Bewegungsvorstellungen, denken wir an diese
Nervensysteme, und eventuell sogar an primitivere Strukturen,
Empfindungen, Vorstellungen usw. in funktionaler Abhängigkeit
gebunden. Auf diesen Prozels, der mit unseren wenigen An-
gaben noch keineswegs erschöpfend dargestellt ist, näher einzu-
gehen, haben wir hier keinen Anlals. Jedenfalls ist deutlich, dafs
der Analogieschlulsttber das unmittelbar Gegebene hinaus-
führt. Wo immer man von den Empfindungen oder Vor-
stellungen anderer Menschen oder Lebewesen spricht, von
Tatsachen, die nicht in dem mir allein zugänglichen Tatsachen-
Zusammenhänge auftreten, da begeht man einen Transzensus —
allerdings, woran niemand ernstlich zweifeln kann, einen be-
rechtigten und geradezu geforderten Transzensus.
Wir haben bereits angedeutet, dafs es Mach auf eine
solche phänomenologische Erörterung der Tatsachen, die zur
Annahme einer Vielheit von Ichen führen, nicht eigentlich an-
kommt. Er hebt allerdings öfters hervor, dafs die Behauptung
der Existenz fremden Bewufstseins sich zunächst auf einen
Analogieschlufs stütze: „Bei Beobachtung des Verhaltens der
übrigen Menschenleiber zwingt mich nebst dem praktischen
Bedürfnis eine starke Analogie, der ich nicht widerstehen
kann, auch gegen meine Absicht, Erinnerungen, Hoffnungen,
Befürchtungen, Triebe, Wünsche, Willen, ähnlich den mit meinem
Leib zusammenhängenden, auch an die anderen Menschen- und
Tierleiber gebunden zu denken ^^<) Indessen glaubt Mach das
Dasein einer Mehrheit von BewuTstseinszusammenhängen noch
auf einem ganz anderen Wege und mit einer Sicherheit erweisen
*) E. u. J. 6. Vgl. E. u. J. 7; A. d. E. 12, 14, 27; L. 12.
Digitized by
Google
68
zn kODnen, die der blofse Analogieschlnls niemals zu erreichen
vermag. 1) Wir können nns entsprechend unserer besonderen
Aufgabestellung ttber diese* Spekulationen ganz kurz fassen.
„Alle Elemente ABC... KLM... bilden nur eine zu-
sammenhängende Masse, welche, an jedem Element angefalst,
ganz in Bewegung gerät, nur dafs eine Störung bei KLM...
yiel weiter und tiefer greift, als bei ABC Ganz un-
willkürlich ftlhrt das Verhältnis zn dem Bilde einer zähen
Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammen-
hängt^.2) „Dieselben Elemente hängen in yielen Yerknüpfnngs-
punkten, den Ich, zusammen. Diese Yerknttpfungspunkte sind
aber nichts Beständiges. Sie entstehen, vergehen und modi-
fizieren sich fortwährend'^') Dafs die Elemente im Ich „fester
zusammenhängen'' ist eine Behauptung, die sich unter Um-
ständen auch der Solipsist gefallen lassen könnte. Denn auch
ftlr den Solipsisten bleibt die durch die U- Grenze gegebene
Trennung des „engeren Ich'' von der Umwelt bestehen, und
man könnte vielleicht den Ich -Zusammenhang gegenüber den
Zusammenhängen in der Umwelt mit jenem allerdings recht
unbestimmten Ausdruck als einen „festeren" charakterisieren.
Was heilst es aber, dafs die Elemente, genauer dafs „die-
selben" Elemente in „vielen Verknüpfungspunkten zusammen-
hängen", und was lälst Mach diese verschiedenen „Ver-
knüpfungspunkte", deren Bedeutung ganz dunkel bleibt, als
ebenso viele Iche bezeichnen? Die Anschauung, die eine Viel-
heit von Ichen, eine Vielheit von Bewnistseinszusammenhängen
(denn nicht an die fremden Leibkomplexe darf man denken)
nebeneinander in sich vereinigte, ist unvollziehbar. Was uns
hier zugemutet wird, ist eine Unmöglichkeit. Man hat das
Gefühl, als ob man sich selbst überspringen sollte.
Es ist deutlich, dafs wir mit diesen Bestimmungen den
Boden der reinen Phänomenologie völlig verlassen und uns auf
metaphysisches Gebiet begeben haben. An die Stelle der
blofsen Beschreibung von Tatsachen ist hier das Gleichnis
getreten. Mag man immerhin das Bild von der „zähen Masse,
0 Vgl. A. d. £. 12: „V^ir sind auf diesen Weg [nämlich den Analogie-
schluß] nicht beschiiinkt*'.
>) A d. £. 13 f. . Vgl. A. d. £. 28, 24 Anm.
») A. d. E. 294.
Digitized by
Google
69
welehe an mancher Stelle (dem Ich) fester znsammenhängt^,
als eine richtige Darstellang des eigenen Bewafstseins-
znsammenhangeB gelten lassen und diesen ganzen Znsammen-
hang als ein Yerkntlpfnngssystem von „Elementen'^ auffassen:
wo aber bleiben dann die andern Yerknttpfnngssysteme, deren
Existenz behauptet wird, die fremden Bewnfstseinssphären?
Auf keinen Fall sind sie in gleich unmittelbarer Weise wie
die eigene Bewulstseinswirklichkeit gegeben. Und alles, was
man zunächst sagen kann, ist dies, dals mannigfache Grttnde
uns ihre Annahme nahelegen oder aufnötigen, eine Annahme,
die natttrlich weiterer philosophischer Prüfung sowohl fähig als
bedürftig ist Wer sieh aber lediglich auf die Beschreibung
des unmittelbar Vorgefundenen beschränkt, gelangt an keiner
Stelle ttber die eigene Erlebniswirklichkeit hinaus.
Und in der Tat seheint Mach, wo er das Problem der
Vielheit der Iche behandelt, eine ganz andere Betrachtungs-
weise als gewöhnlich anzuwenden. Die Elementenlehre bietet
in diesem Znsammenhange ein neues Antlitz dar. Die Elemente
sind hier nicht mehr die verschiedenen unterscheidbaren Seiten
des Unmittelbar-Gegebenen, als was sie sich der phänomeno-
logischen Betrachtungsweise darstellen, sondern sie erscheinen
als metaphysische Existenzen. Wir haben es hier mit einer
Art von sensualistischem Atomismus zu tun. Die metaphysisch
hypostasierten Elemente mischen und entmischen sich nach
der Weise der physischen Atome, und diese Gemische bilden
je nachdem die Körper oder die bewufsten Iche (wobei aller-
dings nicht klar wird, wie der Unterschied beider zustande
kommt). 0 Betrachtet man Stellen wie „die Elemente bilden
das Ich^V) 99 A^ ^^^ Empfindungen baut sich das Subjekt auf^')
in dieser metaphysischen Beleuchtung, so erscheinen sie ganz
anders als bei phänomenologischer Interpretation. Das Be-
wuüstsein bedeutet fUr diese (metaphysische) Auffassung nichts
als die Tatsache, dafs bestimmte Elemente, die an sich
selbständige Existenzen sind, sich in einer gevrissen Ver-
gesellschaftung finden. „Ich empfinde grttn, will sagen, dals
>) Vgl.E.tt.J.460.
«) A d. E. 19.
») A d. E. 21.
Digitized by
Google
70
das Element grttn in einem gewissen Komplex von anderen
Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt Wenn ieh
aufhöre, grttn zu empfinden, wenn ieh sterbe, so kommen die
Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gresellschafl
vor^O fj^^ I<^b is^ keine unveränderliche, bestimmte, scharf
begrenzte Einheit^;^) es steht „mitten im Fluls der Welt, aus
dem es hervorgegangen und in den zu diffundieren es wieder
bereit ist^') Wir haben, nach der besonderen Absicht unserer
Darlegungen, keinen Anlals, auf diese Gedankengänge Haehs
noch weiter einzugehen. Jedenfalls aber — und das hervor-
zuheben ist von Wichtigkeit — sind die phänomenologischen
Gesichtspunkte Hachs in ihrer Bedeutung ganz unabhängig von
seinen metaphysischen Anschauungen. Auf sie aber kommt
es uns an. In der phänomenologischen Betrachtungsweise er*
blicken wir das eigentlich Wertvolle und Bleibende der
Machschen Darlegungen, das dem Streite der Meinungen in
ganz anderer Weise entrückt ist als diese doch zum mindesten
recht diskutablen Anschauungen.
^)A.d. £. 19. S. a.A.d. £.40. .
«) ib. .
■) E. n. J. 462. — Die Tatsache, d&is das Machsohe Denken durch
eine monadologiBcbe Weltauffassuog hindurchgegangen ist (s. S. 17),
legt den Gedanken an eine monadologische Ausdeutung der obigen Steüei
nalie. Man vgl. die ,, vielen VerknUpfangspunkte", in denen „dieselben**
Elemente ausammenhSngen und die als ebensoviele BewuGitseiDSBphiren
aufgefalBt werden, mit den Honaden bei Leibniz, deren jede einselne anf
Grund des zwischen ihnen bestehenden „rapport constant et r^l6" eine
„expression" oder „repr6sentation" der Zustände aller übrigen in sich
erzengt. (Gerhard'sche Ausg. IL, S. 112). Die Honaden werden ja hier
auch als Verkntipfungszentren anfgefa&t, in denen die Wirklichkeit war
sammenhängt; und „expression" oder „reprösentation*' ist belLeibnia der
Oberbegriff zu den verschiedenen Arten der Vorstellungen oder Bewuist-
seinsinhalte, jede Honade also gerade durch diese inneren Zustünde ein
bewulstes Wesen. Doch soll diesen eventl. Zusammenhängen hier nieht
weiter nachgegangen werden.
Digitized by
Google
IV. Der Kansalbegriff
nnd sein Ersatz durch den Fnnktionsbegriff.
Beschreibung und Erklärung.
1. Das Wirkliche stellt sieh dem wiflsenschaftlichen Be-
wnfstflein dar als ein geordnetes Ganze, ein Kosmos, dessen
flämtliche Teile in darchgängiger nnd gesetzmäfsiger Beziehung
zueinander stehen. Eins erscheint als abhängig von dem andern,
eins darch das andere bedingt Diese Beziehungen systematisch
zu erforschen und gedanklich darzustellen ist die Aufgabe der
Wiflsenschaft
Das ist auch Machs Ansicht. Die Bestandstücke des
Wirklichen, zwischen denen Beziehungen stattfinden, sind nun,
wie wir gesehen haben, die „Elemente^. Die Wissenschaft hat
also, ganz allgemein gesprochen, die Zusammenhänge der
Elemente zu ermitteln. „Unser Forschen geht nach den
Gleichungen, welche zwischen den Elementen der Erscheinungen
bestehen.^ 1) Man kann in yerschiedenem Sinne von einem
Zusammenhange der Elemente, von Gleichungen zwischen den
Elementen reden. Wir haben es in folgendem ausschlielslich
mit dem Zusammenbang im Geschehen zu tun, den Gesetz-
mälsigkeiten, welche den „Fluls der Elemente^ beherrschen,
und die zu erforschen das Ziel der Naturwissenschaft ist>)
Bereits das naive, unwissenschaftliche Denken gelangt zu
der durch mannigfache Erfahrungen gestützten Einsicht, dafs
auf ähnliche Ereignisse in der Regel ähnliche folgen. Der
Eindruck einer innerhalb weiter Grenzen bestehenden Gleich-
förmigkeit oder Regelmäfsigkeit im Ablauf des Geschehens
0 P. V. 236.
») P. ¥• 239.
Digitized by
Google
72
dräDgt sich geradezu anf. Das wisBengchaftliche und philo-
sophische Denken bleibt bei dieser ursprünglichen Tatsache
nicht stehen. Es macht die Gleichförmigkeit des Natur-
geschehens zum Problem und erzengt den Kausalbegriff in
seinen mannigfachen Variationen. Der Zusammenhang zwischen
den beiden regelmäfsig aufeinanderfolgenden Ereignissen, die
nun als Ursache und Wirkung unterschieden werden, wird als
ein notwendiger aufgefafst; die Wirkung ist durch die Ur-
sache eindeutig bestimmt, sie ist in ihr enthalten. „Ex data
causa determinata necessario sequitur effectus . . .^ >), so hat es
Spinoza bekanntlich ausgedrückt. Wenn aber die Wirkung in
der Ursache bereits (logisch und ontologisch) enthalten ist, so
ist auch mit der Erkenntnis der Ursache zugleich die Er-
kenntnis der Wirkung gegeben und umgekehrt „Effectus
cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit*'.')
Mit dieser Auffassung hängt aufs engste die Vorstellung des
Wirkens oder Erzeugens, die Vorstellung der Kraft zusanojnen.
Die Kräfte zu erforschen, welche in oder hinter den Er-
scheinungen tätig sind, gilt ftlr diese Orientierung als das
höchste und letzte Ziel allen Nachdenkens über das Geschehen.
Gegen diesen analytisch-rationalen Kausalbegriff^)
und den mit ihm zusammenhängenden Kraftbegriff richtet sich
die zersetzende Eiitik David Humes. Was wir tatsächlich
konstatieren können, ist nach ihm immer nur die regelmäfsige
Aufeinanderfolge der Ereignisse. Von einem Enthaltensein der
Wirkung in der Ursache ist uns schlechterdings nichts bekannt;
die Wirkung ist von der Ursache völlig verschieden („totally
different^ ^)). Und ebensowenig wissen wir etwas von einer
„power, force, energy",^) welche Ursache und Wirkung zu-
sammenhält („binds the effect to the cause''*)) und den
Zusammenhang zwischen beiden zu einem notwendigen macht
>) Ethie. Axiom. UI.
>) 1. c. Axiom. IV.
») Vgl. S. 19 Anm. 1.
0 Enqu. 26.
^) Enqu. 5 1 ff. Vgl a. Treftt. 45 1 , wo der Kraftbegriff durch die Qmonym
gebrauchten Aasdrücke „effioacy, agency, power, force, enetgy, neeesn^,
connexioD, producti^e quality'* bezeichnet wird.
^) EDqa. 52.
Digitized by
Google
73
(„renders the one an infallible conseqaence of the other''. 0)
Die Glieder der Eaasalreihe sind „conjoined^, nicht aber
„connected''.^) Daher sind wir auch durchaus nicht imstande,
auf Ornnd der Erkenntnis der Ursache ohne entsprechende
vorangegangene Erfahrung, rein auf dem Wege rationalen
Schliefsens, die Wirkung vorherzubestimmen. Wir ergänzen
die Wirkung zu der Ursache „not by reason, bnt by ex-
perience^.3) Nicht die Erkenntnis der geheimen Kraft („secret
power" *))j durch die ein Ding das andere hervorbringt oder
auf das andere wirkt, sondern allein die Gewohnheit („custom
or habit'' 0) ist das Prinzip, auf dem unsere Kausalnrteile
ruhen. Sie bestimmt das Denken, „from one object to its
usual attendant'',*) d. h. von der Ursache zur Wirkung ttber-
zugehen. Und dieser Zwang, den wir fühlen, ist auch die
Grundlage der (subjektiven) Notwendigkeit, die den Kausal-
urteilen eignet.'') Die Bestimmung des Ursachebegriffs kann
demnach nur so lauten: Eine Ursache ist „an object foUowed
bj another, and where all the objects, similar to the first, are
followed by objects similar to the second''.^) Und dieser
Definition tritt ergSuzend eine zweite (subjektive, psycho-
logische) zur Seite: Eine Ursache ist „an object followed by
another, and whose appearance allways conveys the thought
to that other".«) Das ist der reine tatsächliche — wir können
auch sagen phänomenologische — Ausdruck dessen, was
wir unter Ursache und Kausalzusammenhang verstehen, wenn
wir jede metaphysische Voreingenommenheit beiseite lassen.
In diesen Definitionen des Ursachebegriffs ist, wenn man sie
recht betrachtet, eine philosophische Theorie nicht ent-
halten; sie bringen lediglich einen unmittelbaren Tatbestand
zum Ausdruck.
0 Eoqa. 52.
>) Enqu. 58, 61,62.
*) Enqcu 25.
*) Enqu. 32.
») Enqu. 87.
B) Enqu. 62; Treat459.
0 ib. ib. .
«) Enqu. 63.
^) ib. . Die eDtsprechenden nur im Wortlaut abweicheoden Definitionen
im Treatise finden sich auf S. 463 f., auch auf S. 465. .
Digitized by
Google
74
Die Machsche EauBallehre stimmt mit der Hnmeschen in
vielen nnd wesentlichen Pankten ttberein; indessen finden sieb,
wie wir sehen werden, auch Abweichungen. Jeden&Us aber
bildet eine Besinnung auf Humes Theorie der Kausalität eine
zweekmäfsige Grundlage fbr das Verständnis der Maehschen
Ansichten über diesen Gegenstand. Auf die Frage, ob und
wie weit etwa eine direkte Abhängigkeit Maehs von Hume
anzunehmen sei, wollen wir hier nicht eingehen. i) Sicher ist,
dafs die Lehren beider Denker aus derselben intellektuelleo
Grundstimmung nnd demselben phänomenologisch gerichteten
Interesse heraus entstanden sind.
Die Begriffe Ursache und Wirkung gehören bereits zum
Bestände der yorwissenschaftlichen Weltanschauung. Unter
dem Zwange der Erlebnisse sind sie zunächst ganz „instinktiv
und unwillkürlich^ entwickelt worden*); sie haben den un-
mittelbarsten biologischen Interessen des Organismus zu dienen.
„Es ist ein Bedürfnis alier mit Gedächtnis ausgestatteten Lebe-
wesen, dafs deren Erwartung unter gegebenen Umständen
erhaltungsgemäfs geregelt sei.^') Diese Erwartung eines
bestimmten Ereignisses auf Grund gegebener Umstände ist aber
der Eausalschlufs in seiner ursprünglichsten Form. „Bei
genügender Anpassung werden die Tatsachen von den Ge-
danken spontan abgebildet, und teilweise gegebene Tatsaehen
werden ergänzf,^) d. h., speziell mit Bücksicht auf das Ge-
schehen, das Eintreffen eines bestimmten Ereignisses wird
vorweggenommen, erwartet. Die Bedingung für die Möglichkeit
einer derartigen „ Anpassung der Gedanken an die Tatsachen'',
die uns solche durch den Erfolg gerechtfertigten Vorhersagen
zu machen gestattet, ist natürlich „eine hinreichende Beständig-
keit unserer Umgebung". >) Und diese Bedingung ist erfüllt
(vgl. S. 78).
Die faktische Grundlage aller unserer Eausalitätsvorstellungen
bildet die regelmäfsige Abfolge der Ereignisse. Die Erfahrung
0 Diese Übereinstimmuiig mit Home wird Often von Mach hervor-
gehoben, E. B. W. L. 483, 435; P. V. 482.
«) M. 461.
>) E. u. J. 461. Vgl. P. V. 468f. .
*) A. d. E. 279.
») A. d. E. 272.
Digitized by
Google
75
lehrt unBj daJjs das Ereignis A das Ereignis B in regelmäfsiger
Folge nach sich zieht, dafs das Eintreffen von B an das Ein-
treffen von A gebnnden ist. Bei dieser Tatsache aber macht
das Denken nicht Halt. Wir fragen nach dem Wesen dieser
Verknttpfang. Das nns geläufigste, vertraateste Geschehen
haben wir in der eigenen Willenshandlnng Tor uns;^) hier
suchen wir denn anch zuerst Aufklärung ttber den Zusammen-
hang von Ursache und Wirkung. Hume hat nun gezeigt, dafs
„die Verknttpfnng, Sukzession, zwischen Willen und Bewegung
ganz von derselben Art ist, wie jede andere in der Erfahrung
gegebene Verknüpfung oder Sukzession 'V) ^^^ ^^^ schlechter-
dings keine Vorstellung davon haben, wie der Wille es anftngt,
den Arm zu bewegen.') Mach stimmt diesem Resultat der
Hnmesehen Untersuchung völlig bei.^) Ebensowenig besitzen
wir Einsicht in den Znsammenhang von Ursache und Wirkung
auf dem Gebiet des rein mechanischen Geschehens. „Die
genaue Analyse zeigt..., dals wir davon ebenso wenig wissen,
warum ein stolsender Körper einen gestofsenen in Bewegung
setzt, wie davon, warum unsere psychischen Zustände physische
Folgen haben. Beide Verknüpfungen sind einfach in der Er-
fahrung gegeben."^) Weder in uns noSh aufser uns stofsen
wir auf Kräfte, die uns das „Wirken^' der Dinge aufeinander
verständlich machen könnten.
Bevor wir nun die Konsequenzen aus dieser Überzeugung
weiter verfolgen, ist es zweckmäfsig, noch mit einigen Worten
auf den Kraftbegriff bei Mach einzugehen. Was verstehen
wir denn überhaupt unter einer „Kraft'*, oder vielmehr was
bedeutet dieser Begriff, wo er im strengen, wissenschaftlichen,
hier also zunächst physikalischen Sinne gebraucht wird? Die
Antwort ist: nichts anderes als eine „Beständigkeit der Ver-
bindung^ gewisser Geschehnisse untereinander.*) „Wenn ich
») Vgl. W. L. 432.
•) W. L. 482.
•) Vgl. Hume, Enqu. 54flf.
0 W. L. 433. Vgl H. 460f. . Man beachte aber auch das W. L. 432 u.
Gesagte.
*) W. L. 434. Vgl Harnes berahmtes Beispiel von der Billardkugel
(Enqu. 26, 41, 52, 62, 65).
•) A. d. E. 271, 272.
Digitized by
Google
76
sage, ein Körper A ttbe anf B eine Kraft ans, so heilst dies,
da£8 B sofort eine gewisse Beschlennigimg gegen A zeigt, so-
bald es diesem gegenttbertritt^.^) Mehr als die Tatsache, dafs
die Körper unter gewissen Umständen gegenseitig aneinander
Beschleunigungen bestimmen, deren Grölsen in einem konstanten
und angebbaren Verhältnis zu den Gröfsen der „Hassen'' 2) dieser
Körper stehen, ist in dem (mechanischen) Kraftbegriff nicht
enthalten. Von irgendeiner okkulten Qualität der Körper,
einem metaphysischen Agens, steckt schlechterdings nichts
darin. „Wirklich glaubt man Bewegungen besser zu verstehen,
wenn man sich die ziehenden Kräfte vorstellt, und doch leisten
die tatsächlichen Beschleunigungen mehr, ohne Überflüssiges
einzufahren ''.3) „Wenn wir von , Anziehungen der Massen'
sprechen^ könnte es scheinen, als ob dieser Ausdruck mehr
enthielte, als das Tatsächliche [nämlich die beobachtbaren und
mefsbaren Beschleunigungen]. Was wir aber darttber hinaus
hinzutun, ist sicherlich mttfsig und nutzlos''.^) Solche Zutaten
entstammen der primitiven Weltanschauung des „Fetischismus,
. . . der mit seinen letzten Spuren, mit der Vorstellung von den
Kräften, noch in unsere heutige Physik herüberragt'^.^) Kraft
im Sinne der Mechanik ist ein „ beschlennigungsbestimmender
Umstand '^<^) Aus hier nicht zu erörternden Gründen wird
das Produkt aus Masse und Beschleunigung, das bei der physi-
kalischen Darstellung d6r Bewegungsvorgänge eine hervor-
ragende Rolle spielt, definitionelP) als Kraft festgelegt Die
übrigen Kraftvorstellungen der Physik lassen sich in ähnlicher
Weise auf ihren tatsächlichen Gehalt reduzieren.^) Die
Physik hat also nach Mach keinen Anlafs, in ihrem Kraft-
begriff über die unmittelbar zugänglichen Tatsachen irgendwie
hinauszugehen. An die Stelle des alten ontologischen tritt
der phänomenologische Kraftbegriff.^)
I
») A. d. E. 271 f. «) Vgl. Im folgenden Kapitel.
•) P. V. 284. *) W. L. 435.
») W. L. 400 u. F. V. 273 f.; M. 442.
•) W. L. 324. ') Vgl. M. 242.
') Verwandte Tendenzen finden sich belcanntlioh in der Kirchhofbehen
und der Hertzschen Mechanik.
>) Dafa dieser zum mindesten füi die Zwecke der Physik yöUig
reicht, unterliegt keinem Zweifel.
Digitized by
Google
77
Wenn wir aber nirgends in der Natnr auf Kräfte (im meta-
physischen Sinne) stofsen, so besitzen wir anch keinerlei Ein-
sicht in den Wirknngszusammenhang. Die Verknüpfung zwischen
Ursache nnd Wirkung ist dann eine rein empirische, sie mnfs
in jedem Falle erst durch die Erfahrung^) gestiftet werden.
Wo wir uns auf hinreichende Erfahrung stützen können, sind
wir imstande, auf Orund gegenwärtiger Umstände künftige
Veränderungen mit mehr oder minder grolser Sicherheit, je
nach dem Orade der Anpassung der Gedanken an die Tat-
sachen, Yorherzusagen; „in uns neuen Gebieten yerläfst uns
aber unsere Prophetengabe ^') Die Gewohnheit allein, die
durch die Gleichförmigkeit des Geschehens in uns entwickelte
Gleichförmigkeit und Beständigkeit des Gedankenverlaufs läfst
uns erwarten, dals ähnliche Ereignisse ähnliche Folgen haben
werden. „Ähnliche Ereignisse erzeugen ähnliche Erwartungen^')
Auch in diesem wesentlichen Punkte stimmt Mach völlig mit
Hume überein.
So beruht denn schliefslich auch das Bewufstsein der
Notwendigkeit, mit dem wir unsere Eausalaussagen voll-
ziehen, nicht auf einer rationalen Einsicht in den Wesens-
zusammenhang von Ursache und Wirkung, sondern lediglich
auf Gewohnheit „Auf der Übung, die Vorstellung der
Tatsachen mit jener ihres allseitigen Verhaltens fest zu ver-
binden, beruht die starke Erwartung eines bekannten Erfolges,
der dem Naturforscher wie eine Notwendigkeit erscheint Das
Verhältnis, welches io den geometrischen Anschauungen von
selbst besteht, wird hier allmählich künstlich hergestellt
So bildet sich das heraus, was man gewöhnlich als Gefühl für
die Kausalität bezeichnet''^) Dem entwickelten, durch Er-
fahrung befruchteten Bewnfstsein, dem die Verknüpfungen
zwischen den Tatsachen geläufig geworden sind, tritt die
Nötigung, häufig zusammen erfahrene Tatsachen nun auch zu-
sammen zu denken, wie eine „fremde Macht''^) gegenüber.
») Vgl. A. d. E. 2730.; W. L. 434 flf.; M. 460.
«) W. L. 383. Vgl. F. V. 262 f.
') P.V. 462. (An dieser Stelle allerdings ohne deutlich ersichüichen
Zusanunenhang mit der Eansalltätstheorie}.
*) W. L. 467f. . Vgl. dazu S. 22 Anm. 2.
») A. d. E. 272; P. V. 252; W. L, 388.
Digitized by
Google
78
Indessen haben wir diese Macht in nns zu suchen; es ist die
Assoziation. 1) Der Zwang, dem wir nns unterstehen fühlen,
ist ein „psychischer Zwang".*) Dieser „logischen"*) Notwendig-
keit, einen Tatsachenzasammenhang so und nicht anders za
denken, eine äofsere „physikalische"') oder „Natamotwendig-
keit"^) gegenttberzustellen, die die Tatsachen beherrscht und
Gedanken und Tatsachen einander entsprechen läfst, haben
wir kein Recht „Anspruch auf Unfehlbarkeit" haben denn
auch unsere Voraussagen nicht. ^) Alles, was sich in dieser
Hinsicht sagen läfst, ist dies: „Eine annähernde Stabilität macht
die Erfahrung möglieh, und die tatsächliche Möglichkeit der
Erfahrung läfst umgekehrt auf die Stabilität der Umgebung
schliefsen. Der Erfolg rechtfertigt unsere wissenschaftlich*
methodische Voraussetzung der Beständigkeit"^)
2. Bis hierher hatten wir in allen prinzipiellen Fragen eine
weitgehende Übereinstimmung zwischen Mach und Hnme zu
konstatieren. Diese Übereinstimmung betrifft, um es mit einem
Worte zu sagen, die psychologische Theorie der Eausal-
urteile. Jetzt werden wir sehen, dafs Mach sich in der
logischen Fassung des Kausalbegriffes beträchtlich von Hnme
entfernt, ja dafs sein Bestreben sehliefslich dahin geht, diesen
Begriff völlig aufzugeben und durch den mathematischen
Funktionsbegriff zu ersetzen. Hervorzuheben ist jedoch, dals
die bisher gegebenen Darlegungen dadurch in keiner Weise
berührt werden; denn was von den als Glieder eines Kausal-
zusammenhanges betrachteten Ereignissen gesagt worden ist —
dafs ihre Verknüpfung eine rein empirische sei, dafs dem-
0 W. L. 383.
«) W. L. 434.
*) W. L. 434, 437 ; A d. £. 72. Der Ausdruck wird ziemlich unbestimmt
gebraucht.
*) W. L. 437.
*) A. d. E. 72.
•) A. d. E. 273. Vgl E. u. J. 283; W. L. 883 u. P. V. 262.
») E. u. J. 32. Vgl. E. u. J. 80, 32 Anm , 277, 2S2ft, 458; P. V. 230, 252,
478 ff. . Mach betrachtet, wie aas diesen Stellen hervorgeht, die Voraus-
Setzung der Beständigkeit des Natnrgeschehens als ein methodisches
Postulat der Forschung, nicht aber als eine Forderung des Denkens,
einen apriorischen, konstitutiven Faktor der Erfahrung.
Digitized by
Google
79
gemäfs auch die Notwendigkeit, mit der wir diese YerknttpfuDg
denken, lediglich in nns bestehe — , das bleibt richtig,
wenn man dieselben Ereignisse in der zn erörternden Weise
als Glieder einer Fnnktionalbeziehnng anffafst.
Es ist eine ganze Beihe von Bedenken, die Mach gegen
den Eansalbegriff vorzubringen hat. Da ihm aber bei seiner
Polemik vielfach die naiveo, popnlären Begriffe von Ursache
nnd Wirkung vorschweben, die in ihrer tatsächlichen Un-
klarheit und Unbestimmtheit der Kritik keine rechte Angriffs-
fläche bieten, so ist es nicht verwunderlich, dals auch seine
Einwendungen zuweilen die nötige Präzision vermissen lassen.
Es scheint uns daher im Interesse einer klaren Herausarbeitung
der Machschen Gedanken zu liegen, wenn wir, statt seine
einzelnen Einwände der Beihe nach durchzugehen, nnr unter-
suchen, inwiefern in seinen Bestimmungen eine Abweichung
von der scharfen Fassung des Kausalbegriffs bei Hnme zum
Ausdruck kommt. Durch eine solche Angabe ist natttrlich
Maehs Stellung zum Kausalbegriff ganz allgemein gekennzeichnet
Wie in den bisherigen Darlegungen, so soll also auch in folgen-
dem der Vergleich mit Hume kein selbständiges Interesse be-
anspruchen, sondern zunächst zur Klarstellung der Machschen
Gedankengänge und letzten Endes zur Feststellung des phäno-
menologisch Bedeutsamen darin dienen.
Wir gehen zweckmäfsig von der bereits angegebenen Be-
stimmung des Ursachebegriffs bei Hume aus. Eine Ursache
ist „an object followed by another, and where all the objects
similar to the first are followed by objects similar to the
seeond". Hierin sind zwei Aussagen ttber Ursache und
Wirkung enthalten: 1. Die Wirkung ist durch die Ursache
vollständig oder eindeutig bestimmt — wegen der Voraus-
setzung, dafs unter entsprechenden Umständen stets ent-
sprechende Folgen eintreten. Oder auch: zu jedem be-
stimmten Ereignis, das man als Wirkung betrachtet, läüst sich
eine und nur eine zureichende Ursache angeben. 2. Die Wirkung
folgt der Ursache.^). Und darin liegt zunächst, dafs Überhaupt
ein zeitliches Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung besteht,
^) Der genaaere Ausdrack bei Home lautet, die Ursache sei „prece-
dent and contigaons to*' the effect Treat. 468.
Digitized by
Google
80
nnd BodaoD, dafs die kausale Relation einsinnig, nicht nmkehrbar
ist, dafs Ursache nnd Wirkung nnvertauschbar sind.^) Von
der metaphysischen Vorstelinng der Kraft oder des Wirkens,
von irgendeiner dynamischen Ansdentnng des Eansalznsammen-
hanges, ist in diese Festlegungen schlechterdings nichts auf-
genommen.
Gegen die erste der Homeschen Bestimmungen, die ja
lediglich die Möglichkeit einer bestimmten (eindeutigen) Zu-
ordnung der Ereignisse auf Grund ihres erfahrnngsgemäls
konstanten Zusammengehens zum Ausdruck bringen soll, hat
Mach natürlich nichts Prinzipielles einzuwenden. Sie ist wie
für die kausale, so auch für die funktionale Betrachtang der
Naturzusammenhänge die unumgängliche Voraussetzung, die
Bedingung fttr die Möglichkeit einer Naturwissenschaft fiber-
haupt. Nur die Oberflächlichkeit und Unvollständigkeit,^) die
nach seiner Ansicht in einer solchen Beziehung der Ursache
auf die Wirkung und umgekehrt liegt, hat er zu tadeln; nnd
diese Mängel der gewöhnlichen Auffassung lassen ihn sieh nach
einer präziseren Formulierung des Sachverhaltes umsehen.
„Die Znsammenhänge in der Natur sind selten so einfach,
dafs man in einem gegebenen Falle eine Ursache und eine
Wirkung angeben könnte/' ') „Gewöhnlich werden nnr zwei
besonders auffallende Bestandteile eines Vorganges als Ursache
und Wirkung aufgefafst. Die genauere Analyse eines solchen
Vorganges zeigt aber dann fast immer, dafs die sogenannte
Ursache nur ein Komplement eines ganzen Komplexes von
Umständen ist, welcher die sogenannte Wirkung bestimmt
Deshalb ist auch, je nachdem man diesen oder jenen Bestandteil
des Komplexes beachtet oder übersehen hat, das fragliehe
Komplement sehr verschieden.^^) Betrachten wir z. B. die
Erwärmung eines in irgend ein Medium eingebetteten Körpers
durch die Sonne. ^) Nach der landläufigen Auffassung ist die
Sonne als die Ursache der Zustandsänderung des Körpers
^) Aufserdem ist natürlich implioite die Voraussetztmg gemadit, däb
gleiche Fälle in der Natur überhaupt yorkommen. Dala dies im strengen
Sinne gilt, wird von Mach bestritten. Vgl. P. Y. 230; M. 459.
») E. u. J. 277.
•) A. d. E. 74. Vgl. W. L. 435 u. 436.
*) E. u. J. 277. ») Vgl. A. d. E. 76f.
Digitized by
Google
81
anzusehen. Bei genauerer Betrachtung des Sachverhalts zeigt
sieh jedoch, dafs die Beziehung zwischen Körper und Sonne
nur ein Glied einer Mannigfaltigkeit Ton Beziehungen ist, die
zwischen dem KOrper und seiner gesamten Umgebung bestehen,
und dafs aufser der Sonne die sämtlichen Teile der Umgebung
gleichfalls auf die Temperaturänderung des Körpers Einflnfs
haben. Die Heraushebung der Sonne als der Ursache der
Erwärmung des Körpers ist also im gewissen Sinne willkürlich; i)
sie wird der ganzen Kompliziertheit des Tatbestandes in keiner
Weise gerecht, kann daher höchstens als ein „primitiver, vor-
läufiger Notbehelf"') gelten. Die Bezeichnung der Sonne als
Ursache ist aber geradezu falsch, wenn damit zum Ausdruck
gebracht werden soll, da£s diese allein die Znstandsänderung
des Körpers vollständig bestimme. Es ist ersichtlich, dafs die
Diskrepanz zwischen der Machschen und der gewöhnlichen
(sowie auch der Hnmeschen) Auffassung in diesem Punkte eine
mehr oder minder scheinbare, nur durch die Worte bedingte
ist. Sie verschwindet, wenn man, wie man dies natttrlieh
tun muls, als die zureichende Ureache eines bestimmten
Erfolges die Gesamtheit der mafFgebenden Umstände
betrachtet.
Tiefer greift der zweite Einwand, der sich auf das zeitliche
Verhältnis von Ursache und Wirkung bezieht. Dafs durch die
Behauptung der zeitlichen Aufeinanderfolge von Ursache und
Wirkung in der Tat ein wesentliches Charakteristikum des
Kausalbegriffes getroffen wird, will Mach nicht bestreiten.
Aber eben deshalb hält er diesen Begriff fttr ein unzulängliches
Mittel zur exakten Erfassung und Darstellung der Abhängigkeiten
im Geschehen.
„Tritt einer Masse A eine Masse B gegenüber, so folgt
hierauf eine Bewegung von A gegen B hin. Dies ist die alte
Formel, (renauer betrachtet zeigt sich aber, dafs die Massen
A, B, C, D . . . aneinander gegenseitig Beschleunigungen be-
stimmen, welche mit der Setzung der Massen zugleich gegeben
0 Vgl P. V. 229: „Was wir Uraadie und Wirknog nennen, sind
hervorstechende Merkmale einer Erfahrung, die ftlr unsere Gedanken-
naehbildnng wichtig sind^'.
«) A. d. E. 76.
PhiloBophische Abhandluii«ren XXXXV. 6
Digitized by
Google
8^
Bind.^^) Handelt es sieh nur nm zwei Hassen, so ist die
Gesehwindigkeitsändernng der einen die Ursache der 6e-
sehwindigkeitsändernng der anderen nnd am gekehrt.
Ursache nnd Wirkung wären also in diesem Falle ver-
tanschbar."^) Eine ganz entsprechende Betrachtung labt
sich an einem WänneanstanEchprozefs dnrch Leitnng anstellen.^)
Auch in dem oben vorgeführten Beispiel der Erwärmnng eines
Körpers durch die Sonne lielse sieh, entgegen der gewöhnliehen
Anschauung, die Temperaturänderung des Körpers als die
Ursache der Temperataränderung der Sonne auffassen, wenn
beide allein vorhanden wären oder das Zwisehenmedium keinen
Einfluls hätte. Die Änderungen wären dann „simultan^ und
würden sich „gegenseitig bestimmen ^.^) Wo, wie in dem
konkreten Falle, keine solche „unmittelbare Wechselbeziehung^^)
stattfindet, wo eine „vielfach vermittelte Abhängigkeit''*) vor-
liegt, da hört die Umkehrbarkeit natürlich auf und die Wirkung
„folgf* auf die Ursache.''} Aber: alle .unmittelbaren
Abhängigkeiten,'' so lehrt die genaue Analyse, lassen sieh
aIb „gegenseitige und simultane" betrachten. s)
Das sind die Momente, die Mach gegen den Kansalbegriff
auch in der Humesehen Formulierung vorzubringen hätte und
die, da ihm die hervorgehobenen Mängel als dem Kausalbegriflf
wesentlich anhaftende erscheinen, seine Stellungnahme gegen
>) A. d. E. 74.
•) E. u. J. 278.
•) ib. .
*) A. d. E. 76.
») ib. .
•) E. u. J. 279.
^) ib. . Man beachte auch die weiter hier gegebenen Beispiele.
^) ib. . Vgl. A d. E. 75. Die obigen Erörterungen sind zu andentend
gehalten, nm über alle etwaigen Fragen AnfschlnlB zu geben und eyentnelle
MifsverständniBBe zu beseitigen. Eins schdnt uns aber ans den Machscheii
Darlegungen überhaupt nicht klar zu werden: wie nimlich die Zeit in die
„vermittelten*^ Abhängigkeiten hineinkommen soll, wenn die „unmittel-
baren ** Abhängigkeiten durchaus simultane sein sollen. (Vgl. bes. £. u. J. 280.)
Auch scheinen uns die Begriffe Simultaneität und Zeitloaigkeit
— in vielen, auch physikalisehen, Beziehungen spielt die Zeit keine
Bolle, sie sind aber deshalb keine simultane — nicht scharf auaeiDsnder
gehalten.
Digitized by
Google
diesen Begriff überhaupt bedingen. Die Lösnng der Schwierig-
keiten siebt Mach in dem Ersatz der kausalen Betrachtung
der Naturrorgänge durch die funktionale.
„Darin liegt für mich der Vorzug des Fnnktionsbegriffes
Yor dem Ursachenbegriff, dafs ersterer zur Schärfe drängt, und
dafs demselben die UnvoUständigkeit, Unbestimmtheit und Ein-
seitigkeit des letzteren nicht anhaftet'^ i) Die funktionale Dar-
stellung der Naturznsammenhänge enthält, im Gegensatz zur
kausalen, nichts anderes, als was uns tatsächlich gegeben ist;
und sie bringt dies mit aller nur erreichbaren und zu er-
wttnschenden Vollständigkeit und Exaktheit zum Ausdruck.
Das aber, was uns tatsächlich gegeben ist und durch den
Funktionsbegriff seine adäquate Darstellung findet, ist lediglich
die „Abhängigkeit der Erscheinungen voneinander, genauer:
Abhängigkeit der Merkmale der Erscheinungen voneinander",^)
letzten Endes die „Abhängigkeit der sinnlichen Elemente von-
einander",') Es werden die „Gleichungen" angegeben, welche
die Elemente A, B, C . . . verbinden, „Gleichungen von der Form
F(A,B,C..) = 0".^) Diese allein haben für die Wissenschaft
Interesse, in ihrer Ermittelung besteht die Aufgabe der
Wissenschaft. „Unser Forschen geht nach den Gleiehungeo,
welche zwischen den Elementen der Erscheinungen bestehen."^)
Und die Tendenz, die kausale Betrachtungsweise womöglich
überall durch die funktionale zu ersetzen, ist in der Wissen-
schaft unverkennbar. „In den höher entwickelten Natur-
wissenschaften wird der Gebrauch der Begriffe Ursache und
Wirkung immer mehr eingeschränkt, immer seltener .... Sobald
es gelingt, die Elemente der Ereignisse durch meisbare Grölsen
zu charakterisieren, was bei Räumlichem und Zeitlichem sich
unmittelbar, bei anderen sinnlichen Elementen aber doch auf
Umwegen ergibt, läfst sich die Abhängigkeit der Elemente
voneinander durch den Funktionsbegriff viel vollständiger
und präziser darstellen, als durch so wenig bestimmte
») A. d, E, 76. Vgl E. u. J. 278 ; P. V. 210.
») A. d. £. 74.
•) A. d. E. 301. Vgl W. L. 4360 ; P. V. 210 f., 284.
*) A. d. E. 87.
«0 P. V. 236.
Digitized by
6*
Google
84
Begriffe wie Ursache und Wirknng .... Die Physik mit ihren
Gleiehnngen macht dieses Verhältnis dentlicher^ als es Worte tnn
können."!)
Wo die A, B, C . . . nnr „qualitatire Merkmale" bezeichnen,
welche nntereinander verbunden, voneinander abhängig sind,
kann von Gleiehnngen, Funktionen nur im „symbolischen
Sinne" gesprochen werden.^) Im eigentlichen (mathematischen)
Sinne auf die Erscheinungen anwendbar ist der Fnnktions-
begriff nur da, wo sich die Elemente ^.durch mefsbare Grössen
charakterisieren" 3) lassen (wie etwa Farben und Töne durch
Wellenlängen oder Schwingungszahlen), wo also eine quanti-
tative Behandlung möglich ist Weiter setzt die Anwendung
des Funktionsbegriffes sensu stricto natttrlich voraus, da£s die
betrachteten Merkmale als variierend angesehen werden
können, d. h. dals sich Reihen von qualitativ gegeneinander
abgestuften Merkmalen aufstellen lassen — Mach spricht von
einem „Kontinuum von gleichartigen Fällen"^) — , die man als
voneinander abhängig betrachten kann derart, dals an jedes
Fortschreiten in der einen Reihe ein bestimmtes Fortschreiten
in der anderen gesetzmälsig gebunden ist, dafs sich jeder Wert-
änderung des einen Merkmals eine bestimmte Wertänderung
des anderen von ihm abhängigen eindeutig zuordnen läfst^)
Dals diese Bedingungen der Anwendbarkeit des Funktions-
begriffes auf die Naturerscheinungen nicht überall und ohne
weiteres erftlllt sind, versteht sich von selbst; die Benutzung
von Gleichungen zur Darstellung von Tatsachenzusammenhängen
ist also zunächst „nur in einem sehr beschränkten Gebiet"
möglich.*) Indessen zweifelt Mach nicht, dals dieses Ideal einer
wissenschaftliehen Darstellungsweise, das auf physikalischem
Gebiet bereits Wirklichkeit geworden ist — jede physikalisehe
0 E.U.J.278.
«) A. d. E. 304 (Zb. 8). Vgl. W. L. 424.
*) S. oben.
*) A. d. E. 281. Vgl dun W. L. 121, 488, 450; P. V. 211.
*) Mach selbst hat die Voraassetzangeii filr die AnwenduDg des
Fonktionsbegriffes so ausdrücklich nicht angegeben. Es unterliegt aber
keinem Zweifel, daft er den Fnnktionsbegriff in dieser strengen noathe-
matischen Form angewandt wissen wilL
•) A. d. E. 281.
Digitized by
Google
85
GleiehuDg vennag das deutlich zu machen — , sich im vollsten
Umfange wird erreichen lassen.^)
Wir haben noch auf die Rolle hinzuweisen, die bei Mach
die Ranm- und Zeitgröfsen in der fanktionalen Darstellung
der Naturyorgänge spielen. Da jedoch die Lehren vom
„physikalischen Ranm^ und der ^jphysikalischen Zeit'' bei Mach
zu kompliziert liegen, um im Rahmen dieser Abhandlung
eingehend erörtert zu werden, so mttssen Andeutungen
genttgen.
In psychophysiologischer Hinsicht sind Raum und Zeit,
wie wir bereits gesehen haben, „besondere Arten von Emp**
findungen'', physikalisch betrachtet aber stellen sie sich dar
als „funktionale Abhängigkeiten der durch Sinnesempfindungen
charakterisierten Elemente von einander ".3) Raum und Zeit
erkennen wir „wieder nur an gewissen Erscheinungen"; Raum-
und Zeitbestimmungen sind daher „wieder nur Bestimmungen
durch andere Erscheinungen ".3) Dafs z. B. die Schwingungen
eines Pendels sich in der Zeit abspielen, bedeutet, physikalisch
betrachtet, nichts anderes, als dafs dessen Exkursion von der
Lage der Erde abhängig ist^) Eine Erscheinung als Funktion
der Zeit betrachten heilst ganz allgemein, sie als abhängig von
dem Drehungswinkel der Erde und damit zuletzt als abhängig
von der Lage der Weltkörper zueinander betrachten. Alle Zeit-
messung besteht in einer „Winkel- oder Bogenlängenmessung". ^)
0 Die fasktioDalen Verknüpfaogen, die in den Gleichungen der
Physik zum Ausdruck kommen, soll man sich, so will Mach, nach Analogie
der mathematischen Verknüpfungen denken (Vgl P. V. 210 u., 284;
W. L. 4360.). Das ist zum mindesten irreführend. Die Gleichung der
Ellipse und die Zustandsgieichung eines Gases sind allerdings , rein als
Gleichungen d. h. als Formulierungen gewisser Beziehungen gedacht,
logisch und iormal YÖUig gleichartig; sie unterscheiden sich aber in ihrem
materialen oder erkenntnistheoretischen Charakter, insofern die durch sie
zur Darstellung gebrachten Abhängigkeiten ganz verschiedenartig sind,
verschiedenartig nämlich im Sinne der Humeschen Unterscheidung von
„matters of faot* und „relations of ideas*. Vgl. S. 22 Anm. 2.
s) A. d. £. 284. Vgl. E. u. J. 484.
*) E. d.A.34f..
*)M-217. Vgl P. V. 285, 496,
•) A. d. £. 280.
Digitized by
Google
86
„Wir können die Zeit ans jedem Naturgesetz eliminieren, indem
wir eine vom Drehnngswinkel der Erde abhängige Erseheinnng
an deren Stelle setzen/' i) Nehmen wir an, dals eine Seihe
yerschiedener Vorgänge durch Gleichungen dargestellt sei, welche
die Zeit enthalten; dann können wir aus diesen Gleichungen
die Zeit eliminieren und z. B. einen TemperaturüberschnJüs durch
einen Fallraum bestimmen.^) In ähnlicher Weise lassen sich
räumliche Grölsen eliminieren.') „Denken wir uns nun die
Raum- und Zeitlagen in den betreffenden Gleichungen in
der oben gedachten Weise ersetzt, so erhalten wir einfsush
jede Erscheinung als Funktion anderer Er-
scheinungen/'^)
Was die erörterten Gedankengänge Hachs in erster Linie
charakterisiert, das ist die Freiheit von jedem metaphysischen
Einschlag. Dieser Umstand unterscheidet sie grundsätzlich Yon
den Eausalitätstheorien der rationalistischen Philosophie. Da-
gegen teilen sie diese antimetaphysische Tendenz mit den
Humeschen Lehren über diesen Gegenstand. In der Tat ist
die Übereinstimmung zwischen Hume und Mach hinsichtiieh
der Kausalitätslehre weit grölser und bedeutsamer als die
Differenz. Die Richtung auf das Tatsächliche, schlechthin
Eonstatier bare, die phänomenologische Orientierung
ist beiden Denkern gemeinsam. Die Abhängigkeit der Er-
scheinungen voneinander zu ermitteln, in völliger Unbekümmert-
heit um die etwaigen okkulten Qualitäten der Dinge, das ist
ja im Grunde auch das Ziel, das Hume dem Nachdenken über
die Welt gesteckt wissen will. Sieht man den Unterschied
zwischen dem Eausalbegriff und dem Funktionsbegriff darin,
dafs letzterer ohne alle Nebenvorstellungen lediglich die in der
1) E. d. A. 35. Vgl A. d. E. 285.
») A d. E. 286.
•) Vgl. E. d. A 85.
*) ib. . Vgl. £. d. A. 57: «Wenn es gelingt, jede Enoheinung ab
Funktion der Erscheinang der Pendelbewegong hiniostellen, wenn dies
mit allen Ersoheinnngen , physisohen und psychischen, gelingt, so beweist
dies nur, dals alle Erscheinungen so zusammenhängen, daüi jede als
Funktion jeder andern dargestellt werden kann. Die Zeit ist also
physikalisch die Darstellbarkeit jeder Erscheinang als Fankti<Mi jeder
andern".
Digitized by
Google
87
Erfahrnng gegebene Abhäogigkeit der Erseheinimgeii zur Dar-
BtelluDg bringt — wobei man ihn dann allgemeiner fabt, ab
es in der Mathematik geschieht — , so kann man mit Recht
behaupten y dals bereits bei Hnme an die Stelle der kansalen
die funktionale Betrachtungsweise getreten ist. Ob die durch
engere Anlehnung an die mathematische Formulierung des
Funktionsbegriffes bedingten Abweichungen der Machschen
Auffassung von der Hnmeschen in der Tat als ein Fortschritt
anzusehen sind, kann hier nicht untersucht werden.
3. „Ein Anderes sei es, sagt man, einen Vorgang zu be-
schreiben, ein Anderes, die Ursache des Vorganges an-
zugeben." i) Die Bezeichnung der Ursache, die „kausale
Erklärung" ^\ soll mehr leisten als die blofse Besehreibung;
jene, so heilst es, liefere eine „neue Einsicht", während diese
einfach die Tatsache wiedergebe') und das „Kausalitäts-
bedttrfnis unbefriedigt lasse ".^) Die Beschreibung sei daher
nur ein Vorläufiges und die „Erklärung", d.h. die „Einsicht
in den kausalen Zusammenhang",^) das eigentliche Ziel, das
die wissenschaftlichen Bemühungen überall zu verfolgen haben.
Wenn nun aber, wie wir gesehen haben, die Begriffe
Ursache, Kraft, Wirken sich als unhaltbare Fiktionen erweisen,
so hat es natürlich auch keinen Sinn, von einem Einblick in
den kausalen Znsammenhang zu reden. Alle Erklärungsversuche,
wenn man das Wort „erklären" in dieser Bedeutung nimmt,
müssen dann notwendig illusorisch sein, und die einzig erfüll-
bare, ja einzig sinnvolle Aufgabe der Wissenschaft kann allein
in der Beschreibung des Tatsächlichen bestehen. „Wo wir
eine Ursache angeben, drücken wir nur ein Verknüpfungs-
verhältnis, einen Tatbestand aus, d. h. wir beschreiben." o) Das
Mittel der Beschreibung aber ist der Funktions begriff. Es
ist nach dem Gesagten klar, da£s diese Stellungnahme nichts
0 W. L. 432.
«) A. d. E. 274.
•) W. L. 436.
0 P. V. 284.
») F. V. 267.
•) W. L. 435. Vgl. A. d. E. 274.
Digitized by
Google
alfl eine unmittelbare and notwendige Eonseqaenz ans der
Hume-Maehsehen Auffaflenng des KansalbegriffeB ist
Wir können unB den UnterBchied zwischen der beschreiben-
den und der erklärenden Natnrbetrachtnng leicht an einem
Beispiel deutlich machen. Dalton^) fand das bekannte und
unter seinem Namen gehende Gesetz, dafs die Sättigungskapazität
eines Raumes für den Dampf einer beliebigen Flüssigkeit un-
abhängig ist von dem Vorhandensein und der Natur eines
anderen in dem Baume befindlichen Gases, oder, anders ans-
gedrttekt, dals der Druck eines Gas- (Dampf-) Gemisches
gleich ist der Summe der Partialdrucke der einzelnen Gase
(Dämpfe). Das so formalierte GeBetz ist nichts als die exakte
Beschreibung des Verhaltens eines Gasgemisches nach einer
bestimmten Richtung hin, yergliehen mit dem Verhalten seiner
Komponenten. Die blofse Beschreibung der Tatsache aber
genttgt Dalton nicht; er sucht nach einer Erklärung des
konstatierten Verhaltens der Gase, und dieses Bestreben flihrt
ihn zu folgender merkwürdigen Aufstellung: die Teilchen eines
Dampfes oder Gases können nur auf die gleichartigen Teilchen
drttcken.^) Mach sagt über diesen Erklärungsversuch: „Natür-
lich vermag diese hypothetische, einer experimentellen Prüfung
ganz unzagängliche Vorstellung die unmittelbar beobachtbare
Tatsache nicht klarer za machen." ^) Man erkennt hier deutlich,
wie das Bedürfnis nach einer kausalen Erklärung, einem^Ein-
blick in den Wirkungsznsammenhang, Dalton zu einem Über-
schreiten der Tatsachensphäre drängt
Wir wollten mit dem Besprochenen nicht etwa ein Beispiel
für einen milslnngenen Erklärungsversuch gegeben haben;
vielmehr haben wir damit das Unzulängliche jedes Erklärungs-
versuches überhaupt bezeichnet, wenn man das Wort „Erklärung*'
in dem bisher zugrunde gelegten Sinne nimmt. Jedenfalls ist
das die Ansicht Machs. Wo man nach den Kräften fragt,
welche die Massenbeschleunigung bewirken und mit deren
^) Die zugrunde gelegte historische Tatsache berichtet und erOrtert
Mach W.L. 21.
*) Das genauere Zitat vgl. W. L. 21 Anm.
•) W. L. 21.
Digitized by
Google
89
Erkenntnis die Erklärung fUr dieseB Phänomen gegeben Bein
soll, da haben wir einen ganz ähnliehen Fall vor ans. In der
Tat hält denn anch Mach solche Sätze wie das Newtonsche
Gravitationsgesetz, die man als umfassende Erklärungen einer
Reihe von Naturerscheinungen zu betrachten gewöhnt ist, fttr
blolse Beschreibungen gewisser Tatsachenzusammenhänge.
„Wenn... Newton die Planetenbewegungen , kausal erklärt^)
indem er statuiert, dals ein Massenteilehen m durch ein
anderes m' die Beschleunigung 9) = km'/r2 erfährt, und dals
die von verschiedenen Massenteilehen an ersterem bestimmten
Beschleunigungen sich geometrisch summieren, werden wieder
nur Tatsachen konstatiert oder beschrieben, welche sich
(wenn auch auf einem Umwege) durch Beobachtung er-
geben haben ''.2) Worauf es allein ankommt, das ist „die
Konstatierung von Tatsachen und ihres Zusammen-
hanges^,') die Angabe der „Beziehungen des Tatsächlichen
zu TatsäcTilichem",*) was durch die „Beschreibung"' voll-
ständig geleistet wird. Darttber hinaus enthalten die
(richtig verstandenen) naturwissenschaftlichen Sätze schlechter-
dings nichts.
Alles Forschen zielt letzten Endes auf eine blolse Eon-
statierung von Tatsachen hinaus, die Frage nach dem öiavt
löst sich ttberall auf in eine Frage nach dem ort: das ist der
Kern der Machschen Überzeugung. Man kann dem zustimmen,
d.h. zugeben, dals eine „ kausale '^ Erklärung in dem gekenn-
zeichneten Sinne nicht möglich ist und das Verlangen nach
einer solchen aus einer 'verkehrten Fragestellung hervorgeht,
und dennoch die Unterscheidung von Beschreibung und Er-
klärung aufrecht erhalten. Wir sprechen ja, ganz ohne
Rttcksieht auf den Ursachebegriff, von Erklärungen
überall da, wo es uns gelingt, eine Tatsache auf eine andere
zurückzufahren, sie in einen grölseren Zusammenhang einzu-
stellen, einem allgemeineren Satze unterzuordnen, oder eine
Oruppe von Tatsachen auf einen umfassenden begrifflichen
0 Von mir gesperrt.
«) A. d. E. 276. Vgl W. L. 435.
•) P. V. 424 u, 426.
*) W. L. 437,
Digitized by
Google
90
Ausdruck zu bringen. Das Fallen der irdischen E5rper stellt
sich uns dar als ein Spezialfall der allgemeinen Massen-
anziehuDg, wie wir gewöhnlich sagen. Wir ftthren es auf das
Gravitationsgesetz zurttck, ordnen es diesem unter; damit ist
dieses Phänomen für uns erklärt. Licht, strahlende Wärme
und Hertzsche Wellen weisen, bei aller Verschiedenheit ihrer
Erscheinungsweise, doch den gemeinsamen Zug auf, dals sie
sich in mancher Hinsicht verhalten wie eine transversale, mit
bestimmter GeschwiDdigkeit durch den Raum sich fortpflanzende
Wellenbewegung. Diese Erkenntnis, die in der Vorstellung
des elektromagnetischen Gesamtspektrums ihren prägnantesten
Ausdruck findet, besitzt, so sagen wir, einen hohen Erklärungs-
wert fttr das in Frage kommende Gebiet von Tatsachen. Eine
Überschreitung der Erfahrungsgrenzen ist mit derartigen
Reduktionen oder Einordnungen natürlich nicht gegeben.
Erklären, in diesem Sinne, bedeutet begriffliche Be-
arbeitung des Tatsächlichen. Von einem Eindringen in
den metaphysischen Zusammenhang des Geschehens ist dabei
keine Rede, darauf wird gar nicht ausgegangen. Dals eine
solche Bearbeitung wirklieh stattfindet und stattzufinden bat,
kann und will auch Mach natttrlich nicht in Abrede stellen.
Im Gegenteil erkennt er in dieser Vereinfachung und Ver-
einheitlichung des Erfahrungsmaterials gerade das eigentliche
Wesen der wissenschaftlichen Arbeit Wenn er ftir diese
Reduktionstätigkeit den Ausdruck „Erklärung^ vermeidet, so
liegt das wohl daran, dal s diesem Worte der durch die kausale
Naturbetrachtung ihm gegebene Nebensinn anhaftet In welchem
Sinne Mach Erklärungen nicht gelten lassen will, haben wir
oben gezeigt. In den tibrigen Punkten sind die Differenzen
unbeträchtlich. Man hat ja überhaupt den Eindruck, daüs
es {(ich bei dem ganzen Streit um Beschreibung und Er-
klärung zum nicht geringen Teil um einen Streit um Worte
gehandelt hat^
0 Psychologisch betrachtet heilst ErklSren „Gedanken von
geringerer Beständigkeit daroh solche von grölserer Beständigkeit stUtsen*'
(A. d. £. 373). Eine Erklärung ist ein „Ersatz firemdartiger Wahr-
nehmungs- oder Yorstellungsbilder durch geläufige und yertnmte*' (P. V. 420
ygl. P.y.225); sie bedeutet daher die „Beseitigung einer psychologischen
Digitized by
Google
91
Alle natnrwiBsenBchaftlichen Sätze, auch die allgemeinsten
Gesetze der Physik,!) sind also nichts als Beschreibungen
des Verhaltens der Natnrobjekte. Aber — und das nnter-
scheidet sie von den gewöhnlich so bezeichneten Aus-
sagen, z. B. der Beschreibung des Wachstums einer bestimmten
Pflanze, einer embryonalen Entwicklung') usw. — nicht etwa
Beschreibungen eines „Individualfalles^,') sondern Darstellungen,
die sich auf „unzählige Tatsachen''^) beziehen, „zusammen-
fassende Besehreibungen V) „generelle Beschreibungen in
den Elementen^*) Sie ergeben sich durch methodisches
Beonrnhigong'' (P. y/420). Eine Tatsache ist uns Uar, „wenn wir die-
selbe durch recht einfache, uds geläufige Gedankenoperationen , etwa
BilduDg von BescbieuDigangen , geometrische Summation derselben usw.,
Dschbilden köimeii'' (W.L. 437 f. u. P.V. 284 f.). Die Anforderungen an
die Einfachheit sind verschieden bei dem Orientierten und dem Unkundigen.
„Ersterem genügt die Beschreibung durch ein System von Differential-
gleichungen, wi&hrend letzterer den alhnählichen Aufbau aus Elementar-
gesetzen fordert '* (ib. ib.). Dafs die mechanischen Erklärungen sich
eines besonderen Ansehens in der Physik erfreuen, beruht darauf, dals die
mechanistischen Vorstellungen zu den „stärksten und besterprobten''
gehören, da sie einer yielgeUbten und vertrauten Tätigkeit entspringen
and in jedem Augenblick und ohne grofse Mittel nachgeprüft werden
künnen. (A. d. E. 273. Vgl a. bes. W. L. 316 f. ; P. V. 189). Aufserdem
bangt die Wertschätzung gewisser Vorstellungen bei der Erklärung auch
von den „Zeitumständen'' ab. (P. V. 427). Während man seit Galilei bis
in die jüngste Zeit hinein der Mechanik den höchsten Erklärungswert zu-
schrieb , scheint sich diese Auffassung jetzt zugunsten der Elektrodynamik
i&adern zu wollen (ib ). Auisermechanische Erklärungen können, wenn sie
„geläufiger" werden, eine ähnliche Autorität für das Bewufstsein erlangen,
wie sie die mechanischen von vom herein besitzen (A. d. E 274 Anm.).
Die mechanistischen Begriffe (besonders natürlich diejenigen, welche sich
auf nahewirkende Druck- und Zugkräfte beziehen) verdanken, ebenso wie
die anderen bei der Erklärung bevorzugten Vorstellungen, ihre Auszeichnung
unserer psychophysisohen Organisation, den besonderen biologischen und
historischen Umständen; sie sind, so kOnnen wir im Sinne Mach's sagen,
ein nQoxBQov ngb^ ^ßä^^ ii^<^ht aber ein nQoxsQhv xy ipvosi.
») Vgl P. V. 280; W. L. 488 und P. V. 285.
») A. d. E. 274.
») A. d.E. 274 f; P. V. 426.
*) P. V. 426.
») P. V. 224, 228, 286; W. L. 439.
•) A. d. E. 276.
Digitized by
Google
92
Abstrahieren von den Einzelheiten der Tatsachen, dnreh
„Schematisieren ''; ^) sie enthalten also weniger als diese selbst^)
Die Naturgesetze ermöglichen nns, die Tatsachen in Gredanken
nach- nnd vorzubilden. Das Fallgesetz z. B. ist „eine sehr
einfache nnd kompendiOse Anweisung, alle rorkommenden
Fallbewegungen in Gedanken nachzubilden^') Es erspart die
Beobachtung im einzelnen, die jedesmalige experimentelle
Bestimmung der zusammengehörigen Fallräume und -Zeiten
und ist daher „ein vollständiger Ersatz fttr eine noch so aus-
gedehnte Tabelle, die vermöge der Formel jeden Augenblick
in leichtester Weise hergestellt werden kann, ohne das
Gedächtnis im geringsten zu belasten ^^) Darin liegt der
Wert der zusammenfassenden Beschreibung.
In diese letzten Gedankengänge spielt bereits die bei
Mach so ausgeprägte biologisch -ökonomische Auffassung der
Wissenschaft hinein (vgl. die Einleitung). Die Naturgesetze
stellen den einfachsten und zweckmäfsigsten Ausdruck der
Tatsachen dar, oder suchen sich diesem Ideal doch möglichst
zu nähern. „Physik ist ökonomisch geordnete Erfahrung^.^)
Die Wissenschaft entlastet das Gedächtnis, indem sie die
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf möglichst wenige und
umfassende Begriffe bringt. Sie setzt uns damit zugleich in
den Stand, die Natur mit dem kleinstmöglichen Aufwand an
Arbeit zu beherrschen. Der „sparsamste, einfachste begriffliche
Ausdruck der Tatsachen",") die „ökonomische Darstellung des
Tatsächlichen"^) ist das Ziel der Wissenschaft Diese Be-
tonung des ökonomischen Gesichtspunktes bringt, wie sich
leicht zeigen liefse, einen relativistischen Zug in die Machschen
0 A. d. E. 276. Vgl. P. V. 236 u.
«) P.V.224a., 237 0.
•) P. V. 224.
') ib. Die Natorgesetze sind „HersteUnngsregeln" oder „Ableitnsgs-
regeln'S mittels deren sich die einen Vorgang chaiakterisierenden Zahlen-
tabellen aufstellen lassen. Vgl P. V. 286; W. L. 439 u. bes. 121 u. 45Sf.;
£. u. J. 204, 321 ; £. d. A. 31 ; L. 3 ; S. £. 273.
») P. V. 228.
•) P. V.238.
') P. V. 426 f. Vgl E. tt. J. 287, aach P. V. 16.
Digitized by
Google
93
DarlegQDgeD hinein. Auf diesen Pnnkt haben wir, mit Btlck-
sicht auf die Aufgabe, die wir um gestellt haben, nicht weiter
einzugehen.!)
*) Mach hat die in den letzten Abschnitten dargelegte Auffassung
bereits 1872 in £. d. A. vertreten. Er nimmt daher gegenüber Kirchhoff,
der 1874 die Aufgabe der Mechanik bekanntlich als die voUständige und
einfachste Beschreibung der in der Natur vor sich gehenden Bewegungen
bestimmt hat, die Priorität für sich in Ansprach (Vgl. P. V. 266 Anm.; E.
u. J. 287; M.yiII, 258t.). Man vergleiche dazu auch W. L. 404 f.: „Nicht
unwahrscheinlich ist es allerdings, dab Khrchhoffs Ansicht, der zu eingehenden
erkenntniskritischen Erörterungen keine Zeit fand, auf einem blofsen Aperen
beruhte, denn in einem Gespräch mit F. Neumann unterlieis er es, dieselbe
energisch zu vertreten." Auf eventuelle Vorgänger bezüglich dieser Auf-
£iasnng verweist Mach P. V. 266 Anm., 425; £. u. J. 287; A. d. £. 4K
Digitized by
Google
V. Machs Stellungnahme
gegen den naturwissenschaftlichen Realismus.
Aufgabebestimmung der Wissenschaft
1. Es ist eine von der NatarwiBBenschaft in der Regel ab
selbstverständlich hingenommene Überzeugung, dafs die Objekte,
auf die sie sich bezieht, anabhängig von ihrem Vorgestelltwerden
existieren. Die Gesetzmäfsigkeiten zu erforschen, welche die v
räumlich-zeitlich-materielle Anfsenwelt beherrschen, erkennt
sie als ihre Aufgabe. Das naturwissenschaftliche Denken ist
realistisch orientiert. Dabei setzt der naturwissenschafUiche
im Unterschiede von dem naiven Realismus die Gegenstände
der Aufsenwelt ihrer Beschaffenheit nach als verschieden
von den Vorstellungsinhalten voraus, er denkt sie sich als frei
von den sinnlichen Qualitäten. Die Welt der Naturwissen-
schaft, oder sagen wir genauer der mechanisch -atomistischen
Physik und derjenigen Disziplinen, die sich ihre Betrachtungs-
weise zn eigen gemacht haben, ist eine färb- und klanglose Welt
Welche intellektuellen Kämpfe es Mach bei der ungeheuren
Autorität, die diese Überzeugung besitzt, gekostet haben mag,
seine Anschauungen auch auf sein Spezialgebiet, die Physik,
zu übertragen, kann man sich vorstellen. Der Physiker ist ja,
80 sagt Mach, „von Haus aus gewöhnt . . ., zu jeder Definition
ein Eilogewicht in die Hand gedrückt zu bekommen''.^ Er
selbst äulsert sich über diesen Punkt seiner Gedanken-
entwicklnng ,wie schon oben (S. 16) erwähnt: „Übrigens habe
ich noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor icb
imstande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Spezial-
gebiete festzuhalten. Man nimmt mit dem Wertvollen der
») A. d. E. 297.
Digitized by VjOOQ IC
95
physikalischen Lehren notwendig eine bedeutende Dosis falscher
Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten werden
mnfs, recht schwer losgeht, gerade dann, wenn diese Lehren
geläufig geworden^.i) Dafg aber diese Gedankenanpassung sich
schliefslich vollziehen konnte, dafs diese „falsche Metaphysik'',
d. i. der naturwissenschaftliche Kealismns, schliefslich Über-
wunden wurde, dürfte ganz besonders dazu geeignet gewesen
sein, auf seine allgemeinen Anschauungen eine rückwirkende
Verfestigung auszuüben.
Wir haben als das wesentlichste Charakteristikum des
Machschen Standpunktes heryorgehoben, dals er den Gegen-
satz von Materie und Psyche nicht anerkennt. Mit dieser Be-
kämpfung des Dualismus ist zugleich, wie wir im ersten Kapitel
ausführlich dargelegt haben, seine Stellungnahme gegen den
Realismus gegeben, der das in der Sinneswahrnehmnng Vor-
gefundene als Erscheinung dem wahren Sein, das insbesondere
der Realismus der Naturwissenschaft eben in der Materie
usw. erblickt, gegenüberstellt. Die Machsche Orientierung
ist positivistisch; sie lälst allein das Unmittelbar-Gegebene
als wirklich und damit als Objekt des wissenschaftlichen
Nachdenkens gelten. Die Aufgabe der Wissenschaft überhaupt,
und so speziell auch der Physik (das Wort im weitesten Sinne
genommen), besteht aber darin, die Tatsachen zu bezeichnen,
die Beziehungen oder Gesetze, welche innerhalb des Wirklichen,
also des Unmittelbar-Gegebenen, statfinden. Alle über-
flüssigen oder gar inhaltsleeren Nebenvorstellungen sind dabei
fernzuhalten. Wenn die Machschen Anschauungen wirklich halt-
bar sein sollen, so mufs sich diese Bestimmung der wissen-
schaftlichen Aufgabe als eine völlig zulängliche erweisen; ins-
besondere mufs sich zeigen lassen, dals sie den ganzen Inhalt
der naturwissenschaftlich -physikalischen Fragestellung deckt.
Die Physik dürfte dann nirgends Anlafs haben, über den Bestand
des Unmittelbar-Gegebenen, wie es sich in den Daten gegen-
wärtiger oder doch möglicher Sinneswahrnehmung ausdrückt,
irgendwie hinanszngehen. In der Tat bekennt sich Mach
zu dieser Behauptung in ihrem vollen Umfange. Wir werden
jetzt zeigen, wie er seine Auffassung durchführt, wobei wir
>) A. d. E. 24 Anm.
/Google
Digitized by ^
96
nns natttriich auf die ErOrteruDg der weBentlichsten Punkte
beschränken mttssen.
Das yjStarre, sterile, beständige, unbekannte Etwas'^^i) das
„nach der vorgefafsten Meinung von Empfindungen gänzlich
verschieden sein mufs",^) die Materie, existiert lediglich
in der Phantasie. Wenn man durch den Begriff Materie mehr
zum Ausdruck bringen will als die Tatsache, da£s die
„Elemente" untereinander in bestimmter gesetzmäfsiger Weise
zusammenhängen, so verliert er seine wissenschaftliche Be-
deutung und gewinnt einen „metaphysischen" Charakter J)
Welchen Sinn aber, so wird man fragen, kann es dann noch
haben, wenn wir von Erhaltung der Materie sprechen?
Verliert ein so wohl fundierter und seinerseits die ganze
Wissenschaft der Chemie fundierender Satz wie der von der
Konstanz der Materie bei dieser Auffassung nicht völlig seine
Bedeutung? Keineswegs. Erhaltung oder Unzerstörbar-
keit der Materie, so lautet die Antwort Machs, heilst: „Er-
haltung des Gewichtes^) Das ist die „reine TatsacheV)
die durch jenen Satz zum Ausdruck gebracht wird, dasjenige,
was wir allein konstatieren und konstatieren können. Die
Bezeichnung der Tatsache hat aber allein in der Wissenschaft
Sinn und Wert Und gewils, wenn wir uns fragen, was alle
die Versuche, die seit Lavoisier bis in Sie jüngste Zeit (Laudolt)
zur Erhärtung dieses Satzes angestellt wurden, eigentlich be-
wiesen haben, so ist es sicherlich nichts weiter als das Faktum,
dafs bei allen chemischen Umsetzungen das Gesamtgewicht
der in Reaktion tretenden Körper einen konstanten Wert
besitzt. In den Begriff des Gewichtes aber geht nichts
von der Vorstellung einer aulsersinnlichen Materie
ein, wie die folgenden Erörterungen gleich deutlich machen
werden.
In der Physik spielt die Materie hauptsächlich in dem
Begriff der Masse eine Rolle, und dieser wertvolle Begriff
0 A. d. E. 271.
«) A. d. E. 37.
*) A. d. E. 271 ; W. L. 363. Vgl. zum Begriff der Materie noch A. d.
E. 199, 270 f., 303: W. L. 355, 427; M. 190.
*) E. d. A. 25. Vgl. F. V. 233 f; W. L. 355.
*) E. d. A. 25.
Digitized by
Google
97
kann, nach geeigneter Umformnng und ElimlDation der über-
flüssigen nnd irrefUhrenden Zutaten, anch von demjenigen bei-
behalten werden, welcher der Yorstellnng der Materie im
gewöhnlichen Sinne keine Bedeutung beilegt. Bekanntlich hat
Newton in der ersten Definition der „Prinzipien'^ die Hasse als
„quantitas materiae^' bezeichnete) Gegen diese .scholastische"^),
„unglückliche'' 3) Definition wendet sich Mach mit aller Ent^
schiedenheit. Für sein Empfinden bedeutet die derart be-
stimmte Masse — wenn er es auch so nicht ausgedrückt hat —
gleichsam die letzte der qualitates oecultae, die Newton in
seinem Kampfe gegen diese vermeintlichen Entitäten noch hat
bestehen lassen. Die Masse ist für die Physik ein „bewegungs-
bestimmendes Merkmal''^) der Körper, ein malsgebender Um-
stand, der bei der Charakteristik der Bewegungen zu beachten
ist: Eine andere Bedeutung als diese sich im Zusammenhang
der Dynamik ergebende kommt dem Massenbegriff nicht zu; zu-
mal hat er mit der Vorstellung einer aufsersinnlichen Materie,
die in die Newtonsche Definition aufgenommen ist,^) durchaus
nichts zu tun. Wir wollen uns die Maehsche Ableitung
des Massenbegriffs in ihren wesentlichen Zügen und in etwas
freierer Darstellung yorfllhren.<^)
') Newton, Philos. natur. princip. mathem., Def.I: ^Quantitas materiae
est meosura ejnsdem orta ex Ulius densitate et magnitudine eonjimctim . . .
Hanc aatem quantitatem sab nomine corporis vel massae in sequentibos
passim inteUigo.**
«) W. L. 426.
») M. 188.
*) ib.
*) Abgesehen davon, dafis in die (in Anm. 1 yollsüindig mitgeteilte)
Newtonsche Definition die metaphysische Vorstellang der Materie einflielst,
enthält sie auch, wie Mach richtig bemerkt, einen Zirkel, da wir ja die
Dichte wieder nor als die Masse der Yolumenehiheit definieren können,
YgL M. 188 u. 239.
") Diese Ableitung hat Mach zuerst 1868 in Carls „Repertorium der
Experimentalphysik*' Bd. 4 veröffentlicht (abgednickt auch in E. d. A. SO ff.).
Die weiteren HaaptaasfÜhnmgen finden sich B. E. 6f. und M. 186 ff., 210 ff.,
241 f. Der Gegenstand ist za beziehungsreich, um in dieser Arbeit er«
schöpfend behandelt und völlig klargestellt werden zn können. Ich werde
darauf demnächst an anderer Stelle ausführlich zorückkommen und dabei
anch die von anderen Autoren erhobenen Bedenken und Einwendungen
berücksichtigen.
PhilosophlBche Abhandlimfiren XXXXY. 7
Digitized by
Google
96
Ein Körper A möge einein Körper & gegenttbertreteD.
Dann lehrt die Erfahrung, dafs eine besehleunigte Bew^iug
von B gegen A hin nnd umgekehrt einsetzt Wir können diese
Bewegangsvorgänge messend verfolgen nnd die Beschleunigungen
q> und — q> von A resp. B — das negative Vorzeichen bei 9^'
steht mit Rücksicht auf die entgegengesetzte Richtung der
beiden Bewegungen — bestimmen. Der Umstand, dals die
zugrunde gelegte Erfahrung sich tatsächlich, wenigstens auf
terrestrischem Wege, nur mit den Mitteln einer höchst-
verfeinerten Experimentierkunst erwerben lälst, ist kein Argument
gegen die Möglichkeit der folgenden Deduktion.^ Die. Tat-
sache nun, dals q> von (p verschieden sein kann, dafs ferner (p
sich ändern kann, wenn wir den Körper B durch einen anderen
C ersetzen, läfst uns nach einem „bewegungsbestimmen-
den",*) genauer „ beschleunigungsbestimmenden "^) Umstand
suchen. Diesen Umstand, der, wie die Erfahrung lehrt, in der
Farbe, Temperatur, chemischen Beschaffenheit usw. der Körper
nicht zu finden ist, bezeichnen wir mit einem zunächst ganz
willkürlichen, aber dem Sprachgebrauch anbequemten Aus-
druck als das „Massenverhältnis^^ der beiden Körper. Wir
definieren^) das Massenverhältnis von A zu B, das wir durch
— r bezeichnen wollen, als den reziproken Wert des Verhältnisses
der bezüglichen Beschleunigungen. Also:
>) Jedenfalls ist der Streintzsche Einwand, dafs diese Erfahrung nur
auf astronomischem Wege zu machen sei , hinfällig (Vgl. H. Steintz , Die
physikalischen Grundlagen der Mechanik, Leipzig 1SS3, S. 117). Man denke
nur an die Versuche zur Bestimmung der Gravitationskonstante, wie sie
z.B. von Reich und Cavendish mit der Drehwage, von König, Bichaiz
und Krigar- Menzel mit der „Doppelwage" angestellt wurden. Mach be-
gegnet dem Streintzschen Einwand mit wie mir schemt weniger nahe-
liegenden Beispielen, die die Erfahrung an die Hand gibt (vgl. M. 212).
Es handelt sich bei dieser ganzen Deduktion mehr um eine klare, alle
überflüssigen Zutaten fernhaltende Formulierung des Massenbegrifls als um
eine Ableitung desselben aus möglichst einfachen und geläufigen Erfahrungen.
Fernkräfte werden dabei nicht vorausgesetzt, wie Boltzmann meint (Po-
puläre Schriften 1905, S. 293).
«) B.E.6; M. 188f.
«) M. 216.
*) Vgl. E. d. A. ÖOflf.; M. 241f.
Digitized by
Google
90
m __ __ 9^'
in' ^ g)
Diese Gleichung läfst sich auch schreiben: mg) + mV' = 0,
und wir erkennen sie in dieser Form als Ausdruck des
Newtonschen Prinzips von actio und reactio. Die Masse be-
deutet ,,nichts als die Erfüllung einer wichtigen Gleichung %
sagt Mach.i) Die Gleichung mgp + mV' = 0 ist die De-
finitionsgleiehung für die Masse, oder richtiger zunächst
für das Massenverhältnis.^) Es folgt ohne weiteres, dafs wir
zwei Körpern, entsprechend dieser Definition, gleiche Massen
zuzuschreiben haben, wenn sie aneinander gegenseitig gleiche
und der Richtung nach entgegengesetzte Beschleunigungen be-
stimmen. Und weiter läfst sich sagen: ein Körper A hat eine n-mal
gröfsere Masse als ein KOrper B, wenn er diesem eine n-mal
gröfsere Beschleunigung erteilt, als er selbst von ihm ertUhrt; die
Massen verhalten sich umgekehrt wie die Gegenbeschleunigungen.
Übrigens war bisher nur von relativen Massen die Bede. Wir
kommen zu absoluten Massenzahlen, indem wir willkürlich (durch
Definition) eine Masseneinheit festlegen (das Kubikzentimeter
0 W. L. 363.
*) Man wird sich fragen, ob diese Definition nicht gerade mit
Rücksicht auf das Gegenwirkangsprinzip getroffen ist, also
dieses voraussetzt. Dann aber dürfte znnSehst dieses Prinzip , wenn die
obige Deduktion möglich sein soll, nicht umgekehrt wieder den Massen-
begriff voraussetzen, sondern müDste ans einer anderen QueUe der Er-
fahrung stammen, da ja sonst ein handgreiflicher Zirkel vorläge. Auch
dann aber wäre dei' Massenbegriff ja nur auf den &aftbegriff, also einen
zunächst jedenfalls nicht minder metaphysischen Begriff, zurückgeführt,
jm Sinne der ganzen Tendenz also gar nichts gewonnen. £s scheint uns
das bei Mach nicht ganz klar zu werden. Wie diese offenbaren Schwierig-
keiten sich erledigen, kann hier nicht ausführlich dargetan werden. Die
Richtung, in der die Lösung zu suchen ist, scheint uns durch folgendes
gegeben: Allerdings ist die Definition der Masse mit Rücksicht auf das
Gegenwirkungsprinzip getroffen. Diesem Prinzip aber und damit dem Eraft-
begriff kommt eine lediglich formalistische Bedeutung zu; sie besitzen
gar keine materielle Grundlage in der Erfahrung, sondern sind blofae
Mittel zur Beschreibung der Tatsachenzusammenhänge, wie sie auch von
Kirchhoff aufgefa&t werden. Damit bleibt der Ableitung ihr ameta-
physischer Charakter erhalten. — Was wir in dem Verhältnis der Massen
tatsächlich denken oder was der Physiker darin zu denken hat, ist
nichts als das umgekehrte Beschleunigungsverhältnis, das uns unmittelbar
gegeben ist.
Digitized by
Google
100
Wasger von gröfster Dichte bezw. der iansendste Teil des
„kilogramme des archives''). Die Massenverhältnisse einer Beihe
von Körpern in bezng anf diesen Normalkörper sind nämlich
deren Massen.
Er bleibt noch der Nachweis zu liefern, dafs die so ge-
wonnene Masse dem betreffenden Körper als ein Merkmal an-
haftet, welches fttr alle seine dynamischen Beziehungen mafs-
gebend ist, dafs sie unabhängig ist von dem Wege ihrer Er-
mittelung, wie das die Mechanik fordern mofs. Es ist dies
keineswegs selbstverständlich. Denn da wir bei dieser Art
der Massenbestimmnng den Körper jedesmal als Glied eines
individuellen Beschleunignngssystems betrachten, so erhalten
wir seine Masse auch immer nur in bezng auf einen bestimmten
Vergleichskörper. Es mufs also erst bewiesen werden, dals
ihm als Element eines anderen Beschleunigungssystems der-
selbe Massenwert zukommen wttrde. Wir wollen uns der Ein-
fachheit halber auf die Erörterung des denkbar speziellsten
Falles beschränken. Wir betrachten drei Körper A, B und C,
von denen sich A und B sowie B und C gegeneinander als
gleiche Massen verhalten sollen. Die Frage ist nun: werden
sich auch A und C als von gleicher Masse erweisen, anders
ausgedrtlckt, ergibt sich das Verhältnis der Massen von A und
C gleich dem Produkt der Massenverhältoisse von A und B
und von B und C? Eine „logische Notwendigkeit"') liegt
hier gewifs nicht vor; die Frage ist vielmehr eine rein „ physi-
kalische "i) und kann daher nur durch die Erfahrung entschieden
werden. Eines besonderen Versuches bedarf es indessen nicht;
wir müssen die Frage bejahen, wollen wir mit der Erfahrung
im Einklang bleiben. Bei der gegenteiligen Annahme würden
wir nämlich mit dem empirisch ausreichend gestützten Prinzip
vom ausgeschlossenen Perpetuum mobile in Konflikt geraten.
Mach beweist dies durch ein ebenso einfaches wie geistvoll
ersonnenes Gedankenexperiment, worauf wir hier einfach ver-
weisen können.2) Damit ist gezeigt, dafs die Masse dem
Körper unabhängig von dem Beschleunigungssystem zukonmit,
als dessen Glied man ihn gerade betrachtet, dafs der Massenwert
>) M. 213.
«) Vgl. M. 214.
Digitized by
Google
101
eines KOrpere ein in allen seinen dynamischen Beziehungen
konstantes Merkmal ist
Von diesem kritisch gereinigten Massenbegriff aus gelangt
man ohne weiteres zu dem physikalischen Begriff der Eraft,^)
der so gleichfalls aller metaphysischen Unklarheiten entkleidet
wird. Ferner läfst sich leicht und in einwandfreier Weise
dartun, dafs auch bei dieser Definition der Masse eine Pro-
portionalität zwischen Masse und Gewicht besteht, also eine
Massenbestimmuog durch das Gewicht möglich ist, kurz, dafs
dieser Massenbegriff nicht weniger leistet als der gewöhnliche,
von dessen bedenklichen Seiten er sich frei hält. Hierauf und
auf weitere Eonsequenzen dürfen wir indessen nicht eingehen.
Die Machsche Definition der Masse ist hervorgegangen
aus dem Bestreben, „die Abhängigkeit der Erscheinungen von-
einander zu ermitteln und alle metaphysische Unklarheit zu
beseitigen".*) Sie enthält keinerlei „Theorie", sondern ist
lediglich „die scharfe Fixierung, Bezeichnung und Benennung
einer Tatsache".^) „Über die Anerkennung dieser Tatsache
kommen wir nicht hinaus, und jedes Hinausgehen über die-
selbe fuhrt nur Unklarheiten herbei".^) In diesen Massenbegriff
geht die Vorstellung von der „Menge der Materie" nicht ein;
es ist nur von den tatsächlich beobachtbaren und meisbaren
Beschleunigungen die Rede. Das Verdienst, das sich Mach mit
dieser Ableitung der Masse fUr eine metaphysikfreie, „phä-
nomenologische" Darstellung der Physik erworben hat, kann
nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber auch für die
Erkenntnistheorie kommt ihr damit zugleich eine eminente
Bedeutung zu. Sie liegt, wollen wir es mit einem Worte
sagen, darin, dafs Mach in ihr, wohl zum ersten Male, eine
rein immanente Bestimmung des Massenbegriffs gegeben hat,
die keinen Transgrefs über das Gebiet möglicher Er-
fahrung nötig macht.
Der blofse Begriff der Materie wird von der realistisch
gerichteten Physik in der Regel ganz unbesehen übernommen;
^) Vgl. aber Anm. 2 auf S. 99, wo das Verhältnia wohl zatreffender
dargestellt wird.
«) M. 212.
») ib.
*) M. 215.
Digitized by
Google
102
er fliefßt ihr aus der gewöhnlichen Weltanschauung des nairen
Bealismus zu. Ihre eigentliche Arbeit beginnt erst mit der
UntersnchuDg des Wesens, der inneren Konstitution dieser
Materie. Seit den Tagen Galileis und Newtons bis in die
jüngste Zeit sehen wir die Physik unablässig bemüht, da^
Wesen der körperlichen Welt „mechanisch'' zu begreifen, sei
es auf Grund der atomistischen Hypothese oder der Annahme
einer kontinuierlichen RaumerfttUung. In dem bekannten
Huygens'schen Worte von der „vraye Philosophie, dans laquelle
on conQoit la cause de tqus les effets natnrels par des raisons
de mechanique^'i) hat diese Tendenz ihren prägnantesten
Ausdruck gefunden. Unter dem Einflafs der Arbeiten Daltons
besonders hat sich die mechanische Naturauffassung, etwa seit
Beginn des 19. Jahrhunderts, die Physik in der speziellen
Form der Atomistik erobert.
Wir wollen in folgendem die Gesamtheit der Vorstellungen,
die die mechanisch -atomistische Physik sich über die Kon-
stitution der Materie gebildet hat und die das „erklärende''
Naturbetrachten überhaupt beherrschen, als die theoretischen
Gegenstände der Naturwissenschaft bezeichnen, im Unter-
schiede von den unmittelbaren oder sinnlichen Gegen-
ständen. Unter diesen BegrifiF fallen also die Moleküle, Atome,
Elektronen usw. Dafs diesen theoretischen Gegenständen —
das Wort Gegenstand wird hier zunächst in dem logischen
Sinne genommen — irgendwie „reale" Gegenstände entsprechen,
dafs ihre Bedeutung sich nicht darin erschöpfe, intellektuelle
Mittel zur Darstellung der Erscheinungen zu sein, sondern
dafs ihnen zugleich eine Beziehung auf ein unabhängiges Reale
zukomme, das sie gewissermafsen abbilden: das ist die Be-
hauptung des naturwissenschaftlichen Realismus. Die entgegen-
gesetzte Überzeugung charakterisiert die Machsche Position.
Eine ausführliche Orientierung über die historische Ent-
wicklung dieser Diskussion zu geben kann hier nicht unsere
Aufgabe sein. Indessen mögen einige kurze Hinweise Platz
finden. Die Überzeugung von der Idealität der theo-
retischen Gegenstände der Naturwissenschaft l&bt aich
in ihren Ansätzen deutlich bis auf Newton zurttekrerfolgen«
^) Haygens, Traitö de la lomiöre. A Leide 1690, p. 2.
Digitized by VjOOQ IC
103
Klar zum BewnfstseiD echeint sie jedoch erst bei Maxwell ge-
kommen zu sein. Wir wollen hier nur einen besonders
charakterifltiBchen Ansspruch Haxwells folgen lassen -J) „For
the advance of the exact scienees depends npon the discovery
and development of appropriate and exact ideas, by means of
whieh we may form a mental representation of the faets,
snfficiently general, on the one hand, to stand for any particnlar
case, and snfficiently exact, on the other, to Warrant the de-
dnctioDS we may draw from them by the application of mathe-
matical reasoning^ Diesen Bildern oder „mechanischen
Modellen^ (mental images, Symbols, diagrams) aber irgendwie
eine Realität anlserhalb des Denkens beizulegen, liegt Maxwell
völlig fern. Er erklärt ausdrttcUich, da£s er selbst nicht an
die Realität der inkompressibeln Flnida glaube, die er znr
Erklärung der elektrischen Erscheinungen heranzieht, sondern
lediglich eine mechanische Analogie zu geben beabsichtige,
die sich wegen ihrer Anschaulichkeit empfiehlt^) Dabei unter-
schätzt er den Wert solcher bildhypothetischen Vorstellungen
keineswegs; im Gegenteil hat er sie, darin ganz den Ideen
Faradays folgend, im weiten Umfange und mit gröfstem Er-
folge verwandt. Mit völliger Klarheit und Konsequenz in-
dessen ist die Ansicht, dals die theoretischen Gegenstände der
Naturwissenschaft rein idealer Natur, blolse Mittel zur ge-
danklichen Erfassung der Erscheinungen seien, erst von Mach
vertreten worden. In letzter Zeit hat sie auch Heinrich Hertz,
der in dieser Hinsicht, wie er selbst anerkennt, wesentlich
unter dem Einflufs der Machschen Gedankengänge steht, in
seiner nachgelassenen Mechanik in sehr wirkungsvoller Weise
verfochten. Hertz präzisiert seine Auffassung folgendermafsen:')
„Wir machen uns innere Scbeinbilder oder Symbole der
äufseren Gegenstäode, und zwar machen wir sie von solcher
Art, dals die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder
die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der ab-
gebildeten Gegenstände^. Wie weit etwa Hertz diese „äufseren"
Gegenstände im Sinne des naturwissenschaftlichen Realismus
0 Mftzwell, Sdentific Papen, vol. II, p. 360.
^ Vgl On FaracUys Udm of force. Scient. Pap., vol I, p. 157.
•) H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik: . . ., hrsg. v. Lenard, S. 1.
Digitized by
Google
104
genommen wissen will, läfst sich nicht wohl feststellen; es ist
aber anzunehmen, dafs er in dieser Beziehung ganz auf d^n
herkömmlichen Standpunkt steht. Wichtig fUr diesen Zu-
sammenhang ist nur, dals er den theoretischen Gebilden
der Physik die Bedeutung von blofsen Denkmitteln oder
Symbolen zuschreibt, und zwar von Symbolen, die veränder-
lich sind und deren Wahl innerhalb gewisser Grenzen will-
kürlich ist. Hertz hat wohl so wenig an die Realität der von
ihm zur Erklärung der mechanischen Phänomene voraus-
gesetzten verborgenen Hassen und Bewegungen geglaubt, wie
Maxwell an die Realität der elektrischen Flüssigkeit oder der
Zellensysteme mit rotierendem Inhalt, auf die er seine Theorie
der elektromagnetischen Vorgänge aufbaut. In letzter Zeit
hat diese Auffassung, diese Wertung der Theorien, sich viel
Terrain erobert, obgleich, fortwährend eine starke realistische
Gegenströmung bestanden hat
„Ich debattierte einmal im Sitzungssaal der Akademie
aufs lebhafteste über den unter den Physikern gerade wieder
akut gewordenen Streit über den Wert der atomistischen
Theorien mit einer Gruppe von Akademikern, unter denen sich
Hofrat Professor Mach befand In jener Gruppe von
Akademikern sagte bei der Debatte über die Atomistik Mach
plötzlich lakonisch: 'Ich glaube nicht, dafs die Atome existieren'".
So lesen wir in dem „Antrittsvortrag zur Naturphilosophie"
von Ludwig Boltzmann.^ Diese kurzen Worte bringen Machs
Verhältnis zur Atomistik, sofern sie ihren Gebilden Realität
auf serhalb des Denkens zuschreibt, und zur mechanischen
Naturauffassung überhaupt — beides hängt für sein Bewulst-
sein und ja auch in der Tat aufs engste zusammen — in
schärfster Weise zum Ausdruck.
Wir haben bereits eingangs hervorgehoben, dals Mach den
eigentlichen Beweis für die Richtigkeit seiner Anschauungen
schuldig bleibt und sich darauf beschränkt, ihre Durchführbar-
keit und damit Zulässigkeit darzutun. Es gilt dies sowohl
von seinen allgemeinen Aufstellungen als insbesondere auch
0 Abgedruckt in den S. 98 sitierten „PopuUbren Schriften *< 8.338.
— Ein solches ,,1 do not believe in atoms** wird aaeh yon Lord Kelvin
berichtet.
Digitized by
Google
105
von seiner Einschätzung der theoretischen Gegenstände der
Naturwissenschaft in bezng anf ihren Kealitätswert. Wir
müssen uns aber fragen, ob denn ein solcher Beweis, wenigstens
Yom Standpunkte der Physik aus, überhaupt zu erbringen
ist, ob es letzten Endes überhaapt möglich ist, zwischen diesen
verschiedenen Orientierungen eine absolut gültige Entscheidung
zu treffen. Jedenfalls steht ja eine überzeugende Begründung
des naturwissenschaftlichen Realismus ebenfalls noch aus. Es
kann gar nicht die Aufgabe der Naturwissenschaft sein, den
Bea]itätscharakter ihrer theoretischen Gegenstände zu dis-
kutieren; ja sie hat als solche an dieser Diskussion nicht
einmal Interesse. Das Wesen und die Bedeutung etwa der
Eekuleschen Benzoltheorie für die organische Chemie wird
nicht im geringsten dadurch getroffen, ob man nun überzeugt
ist, dafs sich in der wasserhellen Flüssigkeit, die wir Benzol
nennen, „wirklich'^ solche Atomringe befinden, oder ob man
diese Theorie nur für ein bequemes und durch seine An-
schaulichkeit fruchtbares Symbol nimmt. Die Tatsachen jeden-
falls geben, wenigstens bis jetzt, kein Mittel zur Entscheidung
an die Hand; auch würde durch solche Entscheidung an sich
die chemische Wissenschaft nicht um eine positive Kenntnis
bereichert sein. Das gilt für die gesamte Atomistik. Ganz
unkontrollierbare Momente des Glaubens fliefsen bei der
Stellungnahme in dieser Bealitäts frage mit ein. Man hat
von einer Theorie überhaupt, und so auch von einer so all-
gemeinen Theorie, wie sie der Bealismns, Idealismus usw. dar-
stellen wollen, zu verlangen, dafs sie sich mit der Erfahrung
in Übereinstimmung halte oder die Tatsachen, die sie zur
Darstellung bringt, völlig decke, und weiter, dafs sie mit innerer
logischer Eonsequenz durchgeführt sei. Neben diesen beiden
in erster Linie in Frage kommenden formalen Anforderungen
mögen noch andere zu berücksichtigen sein, wie die Forderung
der Zweckmäfsigkeit oder Ökonomie, die jedenfalls schon eine
weit prekärere ist. Es ist schwer zu sagen — wenn es über-
haupt möglich ist ^-, ob nicht ein folgerichtig durchgeführter
Positivismns oder Idealismus auf naturwissenschaftlichem Ge-
biete diesen Anforderungen genau so gut entsprechen könne
wie ein konsequenter Realismus, und was dann über Wert
oder Unwert dieser verschiedenen Orientierungen zu entscheiden
Digitized by
Google
106
habe. Eins aber ist klar: die Tatsachen selbst werden von
deren Interpretation in keiner Weise bertthrt. Die Diffe-
renzen betreffen allein die Darstellung. Diese mnfs natürlich,
entsprechend der verschiedenen Bicbtnng des Interesses, ver-
schieden aasfallen. Wer den Atomen nsw. ein vom Denken
nnabhängiges Sein zuschreibt und die sinnlichen Gegebenheiten
auf eine niedrigere Stufe der Realität stellt, der wird in
der Zurückftthrung der Erscheinungen auf Atombewegungen
das eigentliche Ziel wissenschaftlichen Bemtthens erblicken
UDd als vollendete Darstellung des Tatsächlichen diejenige
anerkennen, in der nur von Atomen und deren Beziehnogen
die Bede ist: das atomistisohe Weltbild. Wer dagegen diese
Gebilde als blo£se Hilfsmittel zur intellektuellen Erfassung
und Durchdringung des Wirkliehen betrachtet, die besonderen
einseitigen Absichten aogepafst und, entsprechend dem Fort-
schritt der Wissenschaft, in steter Wandlung begriffen sind,
der wird ihnen eine weit geringere Wertschätzung zuteil
werden lassen. In dem Idealbilde der Wirklichkeit, das ihm
vorschwebt, werden sie keine Bolle spielen dürfen. Der zu-
letzt bezeichneten Auffassung entspricht die Machsche.
Nach diesen allgemeinen Yorerinnerungen können wir die
Einzelheiten der Machschen Anschauungen leicht verstehen.
Die mechanische Naturauf fassnng, sagt Mach, ist bestrebt,
alle physikalischen Erscheinungen auf „Bewegungs- und Gleich-
gewichtsvorgänge der Moleküle" zurückzuführen.*) Dieses
Ideal nun soll sich als ein „chimärisches" erwiesen haben ;^)
die Tage der mechanisch -atomistischen Physik sind gezählt^)
Es wird eine* Zeit kommen, so meint Mach, wo man nicht
verstehen wird, „wie uns Farben und Töne, die uns doch am
nächsten liegen, in unserer physikalischen Welt von Atomen
plötzlich abhanden kommen konnten",^) wie uns „die uns
bestvertraute Sinnenwelt plötzlich als das gröüste Welträtsel"
erseheinen konnte.^)
0 E. d. A. 18. Vgl. E. d. A. 26.
») P. V. 191.
»)P.V. 115. Vgl.P.V.219f.
*) P. V. 244.
•) W. L. 317j P. V. 191.
Digitized by
Google
107
Die Moleküle, Atome usw., kurz die theoretischen Gegen-
stände der Physik sind „proyisorische Hilfsmittel"^) znr £r-
fassang nnd Darstellung der Erscheinungen, „selbstgeschaffene
veränderliche ökonomische MittePV) „Gedankendinge",') nicht
aber „Realitäten hinter den Erscheinungen".'*) Sie sind „öko-
nomische Symbolisiernngen der physikalisch -chemischen Er-
fahrung".^) Diese Symbole oder Begriffe zu realisieren, zu
,;hyposta8ieren",0) d. b. „ihnen Realität aufserhalb des BewuCst-
seins zuzuschreiben",*) wie das gewöhnlich geschieht, liegt
durchaus kein Grund vor. Wer das tut, treibt „mechanische
Mythologie". 7) Oft äufsert sich Mach geradezu belustigt ttber
den „Hexensabbath" von Molekeln, Atomen, Elektronen
usw. 8)
Fragen wir uns, was wir eigentlich tun, indem wir die
Körper aus nicht weiter zerlegbaren Massenteilchen aufgebaut
denken, denen wir räumliche Ausdehnung, Undurchdringlich-
keit usw. zuschreiben. „Wir nehmen damit an, dafs Dinge,
die nie gesehen, nie getastet werden können, die überhaupt
nur in unserer Phantasie und unserem Verstände existieren,
dafs diese nur mit den Eigenschaften und Beziehungen des
Tastbaren behaftet sein können. Wir legen dem Gedachten
die Beschränkungen des Gesehenen und Getasteten auf". Wir
könnten uns die Molekularvorgänge auch „musikalisch", „in
Tonverhältnissen" vorstellen, wenn diese Anschauung unsere
Erkenntnis fördern würde. „Es liegt keine Notwendigkeit
vor, sich das blofs Gedachte räumlich, d. h. mit den Be-
ziehungen des Sichtbaren und Tastbaren zu denken, ebenso-
wenig als es nötig ist, dasselbe in einer bestimmten
Tonhöhe zu denken". Es kann unter Umständen zweckmälsig
erscheinen, sich die Atome zur^Veransehaulichung der Be-
ziehungen in einem mehr -als -dreidimensionalen Räume an-
>) M. 466.
«) P. V. 237. Vgl. P. V. 238; A. d. E 254, 257.
») M. 466 ff.; E. u. J. 418; E. d. A. 59.
*) F. V. 237. Vgl. M. 483.
5) A. d. £. 254.
•) W. L. 61.
') P.V.28t; M.443.
•) E. U. J. 106 t Vgl M. 443; F. V. 238.
Digitized by
Google
108
geordnet zu denken.!) Betrachtet man die atomiBtischen Theorien
lediglich als Bilder oder Modelle, so hat man ihnen gegenüber
gröfsere Freiheit, als gewöhnlich angenommen wird.
Wollen wir die Maehsehe Anschannng, soweit sie bisher
vorgetragen worden ist, kurz präzisieren, so kOnnen wir sagen:
die theoretischen Gegenstände der Naturwissenschaft sind
Vorstellangen der wissenschaftlichen Phantasie, Bilder, die
wir uns von den Tatsachen machen. Diese Entscheidung Aber
den Realitätscharakter dieser Gegenstände schliefst aber nicht
ans, dafs man ihnen in gewissem Sinne eine hohe wissen-
schaftliche Bedentnng beilegt. Das tnt denn Mach auch
durchaus. „Der Gebrauch von Bildern, die mit Bewufstsein
als solche verwendet werden, ist nicht nur nicht aus-
geschlossen, sondern sehr zweckmäfsig''.^) Der Wert solcher
Bilder liegt zunächst in ihrer „Anschaulichkeit^, die es
uns ermöglicht, grofse Gebiete von Tatsachen gleichsam mit
einem Blick zu überschauen ;') sie bringen einen oft kom-
plizierten Sachverhalt in einfacher und übersichtlicher Weise
zur Darstellung. Weiter haben diese bildlichen Vorstellungen,
und darin besteht wohl ihre vorzüglichste Bedeutung, den
Charakter von „physikalischen Arbeitshypothesen'' ,^)
denen ein hoher „heuristischer Wert'* eignet.*) „Man be-
denke nur wie sehr gerade durch das, was eine solche Vor-
stellung der blofsen Tatsache hinzufügt, letztere bereichert
wird, wie dieselbe dadurch in der Phantasie neue Eigenschaften
erhält, welche zu experimentellen Untersuchungen treiben, zu
Fragen, ob die vorausgesetzte Analogie wirklich besteht, wie
weit, und wo sie überall besteht''.^) Die Wärmestofivorstellung,
die Vorstellung elektrischer und magnetischer Flnida, die
*) £. d. A. 27 ff. Wohl der erste Versucli, mehrdimensionale BSnme
in die Stereochemie einzuführen. Diese Gedanken wurden vor Erscheinen
der ßiemanschen Abhandlung vom Jahre 1867 konzipiert und ausgesprochen
(vgl. E. d. A. 55). Später scheinen Mach die mehrdimensionalen Räume
„nicht so wesentlich für die Physik"" (E. d. A. 59).
•) E. u. J. 249 f. Vgl. P. V. 278 u. W. L. 401.
») ib., W. L. S59, 362, 480.
«) E. u. J. 143, 396 Anm.; W. L. 430 Anm.
») W. L. 430, 430 Anm.
«) W. L. 862. Vgl. P. V. 272 u. W. L. 399.
Digitized by
Google
109
kiDetische Gastheorie tiBw. bieten hierfür naheliegende Bei-
spiele. Gerade solche zunächst hypothetischen Elemente
also, Zfige, die die Bilder den ursprünglich konstatierten Tat-
sachen gegenüber yorans haben, gewinnen Bedentnng für den
Fortschritt der Wissenschaft. i) Hat aber eine bild-
hypothetische Vorstellnng, eine „theoretische Idee 'S ^) einmal
geleistet, was sie ans leisten kann, so empfiehlt es sich, die
Darstellung der Tatsachen von allen „unwesentlichen Zutaten ''')
möglichst zu befreien, die „indirekte Beschreibung^ der
Tatsachen überall durch die „direkte*' zu ersetzen. 0
Unter einer „direkten Beschreibung'' versteht Mach eine
solche, die nichts Unwesentliches mehr enthält,^) d. h. lediglich
die in der Erfahrung wirklich gegebenen Charaktere der Tat-
sachen wiedergibt. Eine derartige Beschreibung kann als ein
reiner „begrifflicher Ausdruck''^) des Tatsächlichen gelten, das
wir vermittels ihrer gedanklich erfassen. Die Theorie an sich
. mit ihren hypothetischen Elementen bat immer nur die Be-
deutung eines Durchgangspunktes für die Erkenntnis.
Allein die Eonsequenzen ans ihr, die sich irgendwie sinn-
lich verifizieren lassen, besitzen eigentlichen Erkenntnis-
0 Sie künnen aber auch nachteilig, dem Fortschritt hinderlich werden,
was sich leicht durch historische Beispiele belegen lälst. So wird Hnygens,
indem er eine zu weit gehende Analogie zwischen Licht und Schall ver-
mutet, an dem Verständnis der Polarisation gehindert, das Newton von
seinem Standpunkt ans keinerlei Schwierigkeiten macht. F. V. 272; W. L.
899. Vgl a. F. V. 259; E. d. A. 26. — Auf die weiteren Ausführungen über
die Hypothese und die Analogie bei Mach, die in diesem Zusammenhange
Bedeutung erlangen, können wir hier nicht eingehen, da uns solche Er-
örterungen auf specieU methodologische Fragen führen würden.
») F. V. 271 u. W. L. 898.
') W. L. 368. Vgl. £. u. J. 245 f., wo von „accessorischen Elementen**,
W. L. 430, wo von «kindischen und überflüssigen Nebenvorstellnngen" (in
der Atomistik) die Rede ist. Heinr. Hertz spricht in der „Mechanik"
von „überflüssigen oder leeren Beziehungen**, welche die Bilder zur Dar-
stellung bringen, von „unwesentlichen Zügen** der Bilder, gelegentlich auch
von ,4eergehenden Nebenrädem** (Mechanik S. 2, 13, 14 usw ).
*) F. V. 270 ff.; W. L. 398 ft.; E. u. J. 242, 248.
<^) F. y. 278 u. W. L. 401. Die Emissionstheorie des Lichtes läist von
Liohtteilchen, die Undulationstheorie von Lichtwellen sprechen; die durch
die Theorie darzustellende Tatsache ist allein die räumlich -zeitliche
Feriodizität des Lichtes. Vgl. F. V. 272; W. L. 399; £. u. J. 245, 248.
•) E. u. J. 248; W. L. 188. Vgl. W. L. 359, 430.
Digitized by
Google
110
wert Das Interesse der Physik, an die liier in erster Linie
gedacht wird, ist allein anf den Znsammenhang des Tat*
sächlichen (d. i. des Unmittelbar -Gegebenen) gerichtet i) An
die Stelle der „hypothetisch -fiktiven" Physik,*) die mit er-
fahrnngsfremden Elementen operiert, hat eine rein immanente,
„hypothesenfrei e",^) „phänomenologische'^^) Darstellnng
dieser Wissenschaft zu treten. Gewisse Gebiete der Physik
zeigen sieh einer solchen Behandinngsweise schon jetzt zu-
gänglich. Als Paradigma kann die Fonriersche Theorie der
Wärmeleitong ioN Anspruch genommen werden, die in ihren
Gleichungen ein vollständiges Bild, ein „ttbersichtliches syste-
matisch geordnetes Inventar '^ der Wärmeleitungstatsachen ver-
mittelt, ohne dabei im geringsten eine Hypothese fiber die
stoffliche oder nichtstoffliche Natur der Wärme nötig zu haben. ^)
Die Darstellung physikalischer Tatsachenverläufe durch Diffe-
rentialgleichungen, die immer mehr in Aufnahme begriffen ist,
liegt auf derselben Linie. In der immer weiteren Anwendung
dieser Betrachtungsweise auf unser Wissen von Tatsachen er-
blickt Mach die Aufgabe der Zukunft. Wie die richtig ver-
standene Psychologie nach Friedrich Albert Langes bekanntem
Ausspruch eine „Psychologie ohne Seele" ist, so muls auch die
richtig verstandene Physik, wie wir im Sinne dieser Ans-
ftlhrungen sagen können, eine Physik ohne Materie und
ohne Kräfte sein.
2. Die Überwindung des naturwissenschaftliehen Realismus
bedeutet die Bewährung der phänomenologischen Auf-
fassung der Wissenschaft. Wir wollen uns diese Auf-
fassung, auf den durchlaufenen Weg zurtickbliekcnd, noch
einmal kurz in ihrem Zusammenhange vorfllhren. In der
*) Vgl. oben.
») L. 8, 9.
') W. L. 408. Das nDgeheuerliche Wort von dir „hypothesenfreien
Wissenschaft" gewinnt in diesem Zusammenhange einen veistiüidlichen
und diskntabeln Sinn.
*) Vgl. W. L. 356, 862, 408; P. V. 280. — Der jetzt häufiger verwandte
Ausdruck „phänomenologische Physik" scheint im allgemeinen durehana
der Bedeutung des Wortes „phänomenologisch" su entsprechen, die wir
überall zugrunde gelegt haben.
») VgLW. L. 116, 461 f.
Digitized by
Google
111
pbäDomenologischen AnfgabebestimmuDg der Wissenschaft treffen
alle die Tendenzen der Maehschen Erkenntnislehre zasammen.
Gegenstand der Erkenntnis überhaupt and der wissenschaft-
liehen Erkenntnis insbesondere ist das Unmittelbar - Gegebene,
wie wir es in den Tatsachen der Wahrnehmnng vor uns haben.
Dieses Gegebene zerfällt in eine Mannigfaltigkeit nicht weiter
zerlegbarer, qualitativ unterschiedener Bestandteile, „Elemente''
die ihrer Natur nach näher zu bezeichnen völlig unmöglich ist,
da sie in ihrer Gesamtheit das Wirkliche überhaupt ausmachen
und somit alle Ähnlichkeits- oder Differenzpunkte, die einen
Vergleich möglich machen könnten, schlechterdings fehlen. Die
Elemente stehen untereinander in den verschiedenartigsten und
kompliziertesten Verknttpfungszusammenhängen, die uns ledig-
lich als Beziehungen des Nebeneinander und Nacheinander, nie-
mals aber als dynamische Beziehungen gegeben sind, wie eine
metaphysische Deutung des Seins behaupten läfst. Unter diesen
Zusammenhängen können wir vornehmlich zwei fundamental
voneinander verschiedene Gruppen unterscheiden, die physi-
kalischen und die psychophysiologischen Zusammenhänge. Je
nachdem ein Element als Glied einer physikalischen oder einer
psychophysiologischen Beziehung auftritt, betrachten wir es als
physikalisches Element, als Bestandteil der physischen Welt,
oder aber als psychologisches Element, als Empfindung, als
Bestandteil der psychischen Wirklichkeit. Dasselbe Element
wird also je nach der Art des Zusammenhanges, in dem es
auftritt, oder richtiger gesagt, da schliefslich alles mit allem
zusammenhängt, in dem wir es gerade betrachten, verschieden
charakterisiert. Die Dinge und Iche sind blofse Komplexionen
der Elemente. Was beiden gemeinsam ist und was sie unter-
scheidet, haben wir an seiner Stelle ausführlich bezeichnet.
Das Unmittelbar -Gegebene ist das Material, auf das sich
die Erkenntnistätigkeit erstreckt; es ist damit zugleich, wie
gesagt, das Objekt der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat
das Gegebene (d. i. für diesen Standpunkt das Tatsächliche
überhaupt) zu erforschen und gedanklich abzubilden, zu
beschreiben. Das souveräne Mittel, dessen -sie sich bei der
Beschreibung der Tatsachenznsammenhänge bedient, ist der
Funktionsbegriff. Es werden Systeme von Gleichungen auf-
gestellt, die zwischen den Bestimmungsstücken des Unmittel-
Digitized by
Google
112
bar -Gegebenen stattfinden. Diese zn ennitteln ist das Ziel
aller Spezialforschung. „Alles was wir zn wissen wttnsehen
können, wird darch Lösung einer Aufgabe von mathematischer
Form geboten, durch die Ermittlung der funktionalen Ab-
hängigkeit der sinnlichen Elemente voneinander. Mit dieser
Kenntnis ist die Kenntnis der ^Wirklichkeit' erschöpft.'' ^)
Das Ziel der Wissenschaft ist ein „vollständiges tiber-
sichtliches Inventar" der Tatsachen ;>) ansschlielslich auf die
Feststellung der Tatsachen und ihres Zusammenhanges geht
sie aus. Die Erkenntnis des Tatsächlichen hat allein bleibende
Bedeutung, während unsere Interpretation desselben, die Theorien
oder Hypothesenbildungen, dem Wechsel unterworfen sind.
„Die Theorien sind wie dürre Blätter, welche abfallen, wenn
sie den Organismus der Wissenschaft eine Zeit lang in Atem
gehalten haben".') Solcher H}^othesen aber, solcher schein-
baren Umwege, bedarf es zur Bewältigung der ungeheuren
Aufgabe. Tatsächlich erweisen sie sich, richtig angewandt,
als hervorragend zweckdienliche Mittel zur Erreichung des
verfolgten Endzieles. Indessen liegt es im Interesse gedank-
licher Klarheit, auf jeder Entwicklungsstufe der Wissenschaft
reinlich auseinanderzuhalten, was in ihren Sätzen Tatsache
schlechthin ist und was Theorie. In die vollendete Darstellung
der Wirklichkeit aber, das abgeschlossene wissenschaft-
liche Weltbild, dem die Erkenntnis sich in einem unend-
lichen Frozefs nähert, gehen keinerlei hypothetische, er-
fahrungsfremde Elemente ein; es ist die vollständige
immanente Darstellung des Unmittelbar-Gegebenen in
seinem gesamten Bestände und Zusammenhange.
Das Wesentliche aber dieser methodischen Besinnung auf
die Aufgabe der Wissenschaft ist dies: Das Unmittelbar -Gre-
gebene, wie es sich uns in den Tatsachen möglicher Wahr-
nehmung darstellt, ist als solches Objekt, nicht nur Aus-
gangspunkt der wissenschaftlichen Betrachtung.
0 A. d.E. 300 f.
•) W. L. 461.
») E. d. A. 46.
Druck Ton Ehrhardt Eairas G. m. b. H. in Halle (Saale).
Digitized by
Google
Digitized by
Google
f ^
Verlag von Max Niemeyer in Halle a. 8.
Bergmann, Hugo, Das Unendliche und die Zahl. 1913. 8. VII,
88 S. JK 2,50
— Das philosophische Werk Bemard Bolzanos. Mit Benutzung un-
gedruckter Quellen kritisch untersucht. Nebst einem Anhange:
Bolzanos Beiti-äge zur philosophischen Grundlegung der Mathe-
matik. 1909. 8. XIV, 230 8. Jb 7,-
Eisenmeier, J08ef, Die Psychologie nnd ihre zentrale Stellung in der
Philosophie. Eine Einführung in die wissenschaftliche Philo-
sophie. 1914. 8. VIII, ms. .^3,20
Festschrift für Alois Riehl. Von Freunden und Schttlem zu seinem
70. Geburtstage dargebracht. 1914. 8. VII, 522 S. ^14,—
Gallinger, August, Zur Grundlegung einer Lehre von der Erinnerung.
1914. 8. IV, 149 8. JJ4,—
Goedeclcenieyer, Albert, Die Gliederung der aristotelischen Philosophie.
1912. 8. VI, 144 S. ^ 4,-
Husserly Edmund, Logische Untersuchungen. 2 Bände in 3 Teilen.
2. umgearbeitete und erweiterte Auflage. 1913. 8.
1. Prolegomena zur reinen Logik. 1913. XII, 257 S.
geh. M 6,—; gebd. J^ S,25
2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis.
2 TeUe. L Haltte. 1913. XI, 508 S. geh. Jt 14,-; gebd. Ji 16,5u
Losskij, NIkolaj, Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine pro-
pädeutische Erkenntnistheone. Uebersetzt von Johann Strauch.
1908. 8. IV, 350 S. Ji 8,—
Mlll, John Stuart, Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons.
Deutsch von Hilmar Wilmanns. 1908. gr. 8. XII, 709 S.
geh. Ji 18,— ; gebd. Jt 20,—
Pariser, Ernst, Einführung in die Religionspsychologie. Beiträge zu
einer kritischen Methodenlehre der Religionswissenschaft. 1914.
8. V, 56 S. geh. Ji 1,50; gebd. Jt 2,20
Pfänder, Alexander, Zur Psychologie der Gesinnungen. I. Teil. 1913.
kl. 4. IV, 80 S. Jt 2,50
Reinach, Adolf, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes.
1913. 8. IV, 164 8. JJ5,—
Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik und die matenale Wert-
ethik (mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel
Kants). I. Teil. 1913. kl. 4. IV, 162 S. • Jt 5,—
— Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von
Liebe und Hass. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme
der Existenz des fremden Ich. 1913. 8. VI, 154 S. Jt 3,60
Spranger, Eduard, Lebensformen. Ein Entwurf. 1914. 8. IIOS. ^2,40
Druck von Ehrhordt Karras G.m.b.H. in Halle (Saale).
Digitized by
Google
Digitized by
Google
Digitized by
Google
OÄTf *MO TO •*"« __==
OCT 18J8?L
m
^ , lOAN
GENERAL LIBRARY • U.C BERKELEY
lillillllllilllii