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Full text of "Die literarischen Vorlagen der Kinder und Hausmärchen : und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm"

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PALAr.STkA. 


Untersuchungen  und  'l'exte  aus  der  deutschen 
und  enghschen  Philologie. 

HoratisL^oi,'-('lion 

von 

Alois  ßraiull,  (iiistav  Koetlio  und  Frich  Srlnnitlt. 

XLVIT. 

Die  literarischen  Vorlagen  der  Kinder-  und  Hausmärchen 

und  ihre  Bearbeitung  durch  die  Brüder  Grimm. 

Von  Hermann  Hamann. 


BERLIN. 
MAYER  E.   MÜLLER. 

1906. 


PALAESTRA  XLVII. 


Die  literarischen  Vorlagen  der  Kinder- 

und  Hausmärchen  und  ihre  Bearbeitung 

durch  die  Brüder  Grimm. 


Von 


Dr.  Hermann  Hamann. 


BERLIN. 
MAYER  X-   MÜLLER 

1906. 


GiriÄÄuy 


Vorwort. 


Df'r  erste  Teil  clor  vorliegenden  Arbeit,  die  den 
Grinimpreis  erhalten  hat.  erschien  1905  als  Berliner 
Dissertation.  Angeregt  wurde  sie  von  meinem  Lehrer 
Herrn  Geheimrat  Prof.  Dr.  Erich  Schmidt,  dem  icli  für 
alle  freundliche  Unterstützung,  die  er  mir  bei  der  Ab- 
fassung hat  angedeihen  lassen,  auch  an  dieser  Stelle 
meinen  ergebensten  Dank  ausspreche. 

H.  Hamann. 


Einleitung. 

Die  Kinder-  und  Hausmärchen  der  Brüder  Grimm 
sind  trotz  der  hoben  Stellung,  die  sie  in  der  Geschichte 
der  deutschen  Litteratur  einnehmen,  noch  nicht  zum  Gegen- 
stand einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  gemacht 
worden.  Zwar  hat  die  Forschung  reiche  Nachweise  über 
die  Verbreitung  des  internationalen  Märchenstoffes  geliefert 
und  indirekt  dadurch  auch  die  Grimmsche  Sammlung  in 
eine  hellere  Beleuchtung  gerückt,  aber  es  fehlt  an  einer 
Arbeit  über  das  Zustandekommen  des  Werkes  selbst. 
Auch  Stil  und  Sprache  blieben  bisher  noch  ungeprüft, 
obgleich  sie  doch  eigenartig  genug  vom  Herkömmlichen 
abweichen  und  schon  durch  die  Neuheit  zu  näherer  Be- 
trachtung einladen  müssten.  —  Der  Poesie  der  Erzählungen 
hat  sich  niemand  entziehen  können:  „Die  Märchen  haben 
uns  bei  aller  Welt  bekannt  gemacht",  schreibt  Wilhelm 
Grimm  schon  1815  an  seinen  Bruder  Jakob'),  und  heute 
ist  das  Buch  in  ungezählten  Exemplaren  verbreitet.  Ein 
Abglanz  dichterischen  Ruhmes  fällt  auf  die  Herausgeber. 
Es  war  aber  auch  eine  Art  poetischer  Tätigkeit,  welche 
die  Sammlung  entstehen  liess;  denn  obwohl  die  Geschichten 
meist  getreu  der  Überlieferung  nacherzählt  wurden,  und 
der  Titel  des  Buches  bescheiden  nur  von  der  Arbeit  des 
Sammeins  spricht,  so  besteht  doch  kein  Zweifel,  dass  die 
Brüder  Grimm  in  Stil  und  Ausdruck  vielfach  bessernd  und 
ergänzend  nachgeholfen  haben.  Das  gestehen  sie  auch 
selbst  ein:  „Es  ist  natürlich",  schreibt  Wilhelm  an  Achim 


')  Briefwechsel  zv\'.  J.  u.  W.  Grimm  S.  4:75. 
Palaestra  XLVII. 


von  Arnim'),  ,.(l;iss,  wfjiiii  wir  etwas  sell)st  criipfuiKlcii, 
dioso  Empfindung  auch  sinhtbiir  worden  muss  und  ihren 
besonderen  Ausdruck  lialx'n.  Darum  liab  ich  mir  in  den 
Worten,  der  Anordnung,  in  Gleichnissen  und  dergleichen 
gar  keine  Schwierigkeit  gemacht  und  so  gesprochen,  wie 
icji  in  (h'in  Augenl)lick  lAist  hatte."  Aber  er  wusste  auch, 
wi(!  man  ein  ^lärclien  zu  erzähhin  habe;  wie  rein  hat  er 
z.  B.  in  einigen  seiner  Briefe  an  die  Haxthausensche  Familie 
den  einfaclien  Kinderton  getroffen!-)  Die  Form  der  Er- 
zählungen geht  also  im  wesentlichen  auf  die  Brüder  zurück, 
sei  es,  dass  sie  mündliche  Überlieferung  wiedererzählten 
oder  älteren,  schriftlichen  Bearbeitungen  die  Gestalt  gaben, 
die  sie  für  die  rechte  hielten.  Nur  mit  den  litterariscbeii 
Quellen  will  und  kann  sich  die  nachfolgende  Arbeit  be- 
schäftigen: sie  macht  als  ein  Beitrag  zur  Stilgeschiehte 
des  Grimmschen IMärchens  auf  dieUmbildungen  aufmerksam. 
die  ältere  Vorlagen  unter  der  Hand  der  Brüder  Grimm 
bei  der  Aufnahme  in  die  Sammlung  erfuhren. 

Obwohl  die  Veränderungen  fast  nur  äusserlicher  Natur 
sind,  und  die  Erzählungen  in  den  meisten  Fällen  bloss 
durch  schmückende  Zusätze  bereichert  wurden,  so  lässt 
doch  die  Wiederkehr  derselben  stilistischen  Umformungen 
deutlich  erkennen,  worauf  es  den  Brüdern  bei  ihrer  Dar- 
stellung ankam.  Freilich  wird  das  IMaterial  nicht  erschöpft, 
da  die  Märchen  nach  mündlicher  Überlieferung  für  uns 
wegfallen,  aber  man  kann  schon  aus  der  Betrachtung  des 
kleineren  Teils  der  Sammlung  Rückschlüsse  auf  die  Stili- 
sierung des  Ganzen  machen.  Denn  es  ist  ein  eigentüm- 
licher Vorzug  dieser  Märchen,  dass  trotz  der  Verschieden- 
artigkeit der  einzelnen  Stücke  die  ganze  Sammlung  von 
einem  gleichmässigen  Vortrag  beherrscht  wird. 

Die  Entstehungsgeschichte  der  Grimmschen  ^lärchen 
versetzt  uns  in  eine  treibende,  starke  Zeit  zurück;  die 
schaffensfreudigenTagederjüngeren,Heidelberger  Romantik 


')  Steig,  Achim  v.  Arnim  und  die  ihm  nahe  standen   111,207. 
-   Freundesbriefe  v.  W.  u.  J.  Grimm,  S.  8  f. 


tauchen  vor  uns  auf.  Niclit  mit  Unrecht  werden  f,^erad(' 
„des  Knaben  Wunderhorn"  und  die  „Kinder-  und  Haus- 
niärchen"  als  die  charakteristischen  Denkmi'Uer  dieser 
Periode  in  einem  Atem  irenannt:  die  beiden  Werke  sind 
^deichen  oder  doch  ähnlichen  Vei'hältnissen  entsprungen, 
und  ihre  Verfasser  standen  auch  persönlich  in  innigen 
Beziehungen  zu  einander.  Im  Wunderliorn  liatte  sich  die 
begeisterte  Liebt^  tür  altdcHitsches  Leben  und  Volkspoesie 
ein  schönes  Denkmal  errichtet.  Absterbende  und  zerstreute 
Jjlüten  deutscher  Volkslyi-ik  wartMi  hier,  freilich  manchmal 
künstlich  zuri^chtgestutzt.  in  einem  grossen  Werke  ver- 
einigt. Auch  eine  umfassende  Zusammenstellung  germa- 
nischer Altertümer  wurde  von  Arnim  geplant.  Seine  Er- 
klärung in  Beckers  Reichsanzeiger  vom  17.' Dez.  1805 
spricht  unter  anderm  auch  von  „mündlich  überlieferten 
Sagen  und  Märchen",  die  in  der  Sammlung  Platz  finden 
sollten').  Aber  nicht  alles  kam  zu  stände,  was  er  in 
Aussicht  gestellt  hatte:  vorläufig  galt  es,  das  Wunderhorn 
zum  Abschluss  zu  bringen.  Während  Brentano  und  Arnim 
an  den  weiteren  Bänden  tätig  waren,  rüsteten  die  Brüder 
Grimm  in  Casscl  zu  ihren  späteren  Publikationen.  —  In 
grösserem  Umfange  beginnt  ihr  Sanuueln  und  Aufzeichnen 
seit  etwa  180(5.  Ihre  Schätze  müssen  rasch  an  Ausdehnung 
und  Bedeutung  gewonnen  haben;  Brentano,  der  1807  in 
Cassel  mit  den  Grimms  zusammentraf,  staunt  über  ihren 
Reichtum,  den  er  für  den  2.  Teil  des  AVunderhorns  zu 
benutzen  gedenkt. 

Um  diese  Zeit  ist  zwischen  den  Brüdern  und  den 
Herausgebern  des  Wunderhorns  auch  über  den  Plan  ver- 
handelt worden,  ein  öffentliches  Organ  für  altdeutsche 
Poesie  und  Volkskunde  zu  schaffen-).  Neujahr  1811  taucht 
der  Gedanke  von  neuem  auf.  „Der  altdeutsche  Sammler", 
wie  die  Zeitschrift  heissen  sollte,  war  zur  Aufnahme  aller 
Sagen,    Märchen,   Lieder,    Volksscherze   usw.    namentlich 

ij  Steig-,  Achim  v.  Arnim  I,  150. 

■■^)  Steig,  Zs.  d.  Vereins  f.  Volk.skunde  1902,  129  ff. 

1* 


—     4     — 

iiiüiulliclicr  l 'Ijt'iiiofVruii^'  lif>tiiiiiiit.  Als  Herausgeber 
waren  die  Brikler  (iriiniii  ;_^(Mlael)t.  Das  L'nt<'rnehinen 
scheiterte  ai)er  an  persönlichen  Dift'erenz«;n.  die  sich  bald 
zwischen  .lakob  Griinni  und  Brentano  über  die  Art  der 
Redaktion  herausstellten. 

Während  (liinuu  stien<i:  wissensehaftlieh  alles  in  der 
l*'ürni  zum  Altdi'uck  l)rin<ren  wollte,  die  die  inündiiche 
Überliel'erun<(  geprägt  hatte,  glaubte  Brentano  sich  dem 
Stoff  gegenüber  dieselben  Freiheiten  sichern  zu  müssen, 
von  denen  er  bei  der  Zusammenstellung:  des  Wunderhorns 
Gebrauch  gemacht  hatte,  und  so  unterblieb  das  Werk. 
Auch  standen  äussere  Schwierigkeiten  im  Wege.  Auf 
eigene  Faust  arbeiteten  die  Brüder  Grimm  währenddes.sen 
weiter;  1812,  als  Arnim  einige  Tage  als  Gast  bei  den 
Brüdern  in  Cassel  weilte,  konnte  er  an  Brentano  berichten, 
dass  ihre  Sammlungen  Riesenschritte  gemacht  hätten  und 
bald  in  ein  Dutzend  tüchtiger  Werke  zusanunenwachsen 
würden  ').  Einige  Monate  später  wurde  der  1.  Band  der 
Märchen  herausgegeben. 

Die  ganze  Art  der  Anlage  bewies  von  Tornherein  ein 
ernstes,  wissenschaftliches  Interesse.  Allerdings  war  es 
die  Absicht  der  Bearbeiter,  dass  die  Poesie  der  Märchen 
selbst  wirken  und  erfreuen  sollte,  aber  als  Gelehrte  waren 
sie  nicht  minder  darauf  bedacht,  die  Bedeutung  der  Er- 
zählungen durch  umfassende  Vergleiche  ins  rechte  Licht 
zu  stellen  und  die  Ergebnisse  der  Forschungen  für  eine 
Geschichte  der  altdeutschen  Poesie  und  Mythologie  nutz- 
bar zu  machen'-).  Sie  erblickten  in  den  Märchen  Über- 
reste der  altgermanischen  Mythologie  und  Heldenpoesie. 
So  wie  die  Mundarten  altes  Sprachgut  festhalten,  sollten 
auch  in  den  Volkserzählungen  uralte  Vorstellungen  fort- 
dauern und  sich  weiter  bilden.  Mögen  sie  auch  im  Ein- 
zelnen geirrt  haben,  sie  traten  jedenfalls  mit  ganz  anderen, 
tiefer     gegründeten    Voraussetzungen     an     ihre    Aufgabe 


»)  Steig,  Achim  v.  Arnim  I,  298. 
-)  Steig,  Achim  v.  Arnim  ]II,  4. 


heran  als  die  ineisten  Märcliciiseliivibcr  des  ls.,]alirhiiiidorts. 
denen  das  phantastische  Gewand  dt-r  ErzäliliinjL'en  ein  will- 
kommenes Büttel  war.  persönliche  Al)sieht<'n  verschiedenster 
Art  auf  eine  beiiueme  Weise  einzukleiden.  —  Das  Jahr- 
hundert der  Aufklärunj,^  liatte  im  allgemeinen  lür  die 
schlichte  Poesie  des  deutschen  Volksmärchens  keinen  Sinn: 
vor  allem  fehlte  das  geschichtliche  Verständnis  für  die  Er- 
zählungen. In  Spinn-  und  Kinderstuben  lebten  sie  zwar 
ununterbrochen  fort,  aber  niemand  dachte  daran,  sie  als 
litterarische  Gabe  dem  ganzen  Volke  wiederzuschenken. 
Die  Märchen  waren  vielfach  als  unwahre,  kindische  Er- 
zeugnisse verachtet  und  galten  nur  etwas  durch  künstliche, 
poetisierende  Bearbeitung.  „Ammenmärchen,  im  Ammen- 
ton erzählt,  mögen  sich  durch  mündliche  Überlieferung 
fortpflanzen,  aber  gedruckt  müssen  sie  nicht  werden," 
schreibt  noch  Wieland '),  der  in  seinen  Werken  doch  oft 
Ikarbeitungen  märchenhafter  Stoffe  geliefert  hat.  Aber 
er  sowohl  wie  die  eigentlichen  Märchensammlungen  des 
Jahrhunderts  waren  stark  beeinflusst  von  französischer 
Fabulierkunst.  Viel  später  als  in  Italien,  wo  schon  Giovan 
Francesco  Straparola  mit  den  Tredeci  piacevoli  notti  (1550) 
und  nachher  Giovan  Baptista  Basile  mit  dem  Pentamerono 
den  Höhepunkt  der  heimischen  Märchenlitteratur  erreichten, 
begann  in  Frankreich  die  Märchenpoesie  zu  erblühen.  Ihr 
erster  Vertreter,  Charles  Perrault  (1643 — 1703),  nimmt  als 
Stilist  zugleich  den  höchsten  Rang  ein.  Am  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  (1697)  gab  er  in  seinen  „Contes  de  ma 
möre  TOye"  volkstümliche  Märchen  heraus,  ohne  wesent- 
liche Zusätze,  im  Kinderton  dargestellt.  Hier  linden  wir 
z.  B.  die  bekannten  Erzählungen  vom  Blaubart  (Barbe 
bleue),  Rotkäppchen  (Chaperon  rouge),  vom  kleinen  Däum- 
ling (Petit  Poncet),  vom  Aschenputtel  (Cendrillon),  dem 
Dornröschen  (La  belle  au  bois  dormant).  Seine  Nach- 
ahmerin, die  Grätin  d'Aulnoy  (1650 — 1705),  hält  sich  zwar 


1)  Werke  35, 327.    Vgl.    R.    Kühler,   Aufsätze    ed.    Bolte    und 
i:.  Schmidt  S.  17. 


—    (;    — 


\vi(!  IN'rriiult  an  cclitc  Tradition,  formt  den  Stolf  aber  be- 
reits willkürlicher.  Ihre  leine  und  vornelinie  Darstellung 
unterdriieUtdasderbe, drastische.  biir;.''erIiehcFdenicnt;  es  sind 
Märehen  fiii'  die  vornohine  \\'(dt  im  Zeitalter  J^iidwigs  XI  \'. 
Einig(!  sind  unmittelbar  ans  Stiapai'ola  {geschöpft.  Mit 
der  heimatlichen  Wundej-welt  verlianden  sich  dann  die 
orientalischen  Märeheng-ebilde.  seitdem  Oalland  (170-1 — Q) 
die  arabische  Sammlung  „1001  Nacht"  ins  Französische 
übersetzt  hatte.  Die  zalilreichen  späteren  Bearl)eitungen, 
z.  B.  der  Grätin  Murat,  d'Auneuil,  stehen  auf  tiefe-n-r 
Stufe.  Neben  pädagogischen  Absichten  und  orientalischem 
Zauber  macht  sich  der  Einfluss  modc^rn-schäle'rlieher  Liebes- 
geschichten geltend.  Das  galante  Märchen  tritt  an  die 
Stelle  des  volksmässigen;  das  Phantasiespiel  wurde  leere 
Phantasterei.  Feen  und  Geister  belierrschten  die  Märchen- 
■Nvelt  wie  in  den  Zaubergeschichten  des  Grafen  Caylus. 
Dieses  Kennzeichen  der  französischen  Erzählungen  trug 
ihnen  den  Namen  „Feenmärchen"  ein.  Im  „Cabinet  des 
fees"  (1785  ff.)  sind  eine  grosse  Anzahl  von  ihnen  ge- 
sammelt. Die  Deutschen  lasen  sie  teils  in  der  Ursprache, 
teils  in  Übersetzungen.  Seit  1765  stellte  Heinrich  Raspe 
in  Nürnberg  eine  Auswahl  der  Feenmärchen  zusammen'). 
Den  fremden  Erzeugnissen  schenkte  man  also  grosse  Be- 
achtung, die  heimischen  Schätze  blieben  ungehoben. 
Wieland,  der  zuerst  in  seinem  Don  Sylvio  von  Rosalva 
über  die  Feenmärchen  gespottet  hatte,  griff  später  selljst 
Märchenstoffe  auf.  die  sich  ihm  entweder  in  der  Ritter- 
dichtung des  Mittelalters  oder  der  Märchenpoesie  des 
Morgenlandes  darboten;  einige  erfand  er  auch  selbst. 
Seine  Hauptquellen  waren  die  Auszüge  altfranzösischer 
Rittergedichte,  die  Contesetfabliauxin  Tressans  Bibliotheque 
universelle  des  Romans  (1775  ff.)  und  die  „Mille  et  une 
nuits".  Daraus  schon  geht  hervor,  dass  es  sich  bei  ihm 
um  eigentliche  Volksmärchen  nicht  liandelt.    Auf  die  hohe 


1)  K.H.M.   111,300-312;    O.   Meyer,  Vierteljahrschr.    f.   Litt.- 
fiesch.  V,  374  ff. 


geschichtliche  Becknitun^^  des  deutscheu  Märchens  wies 
zuerst  Herder  (1777)  mit  nachdrücklichen  \Yorten  hin  '). 
Mit  Bedauern  niuss  er  bekennen,  dass  man  bisher  so  gut 
wie  nichts  getan  habe,  das  Dunkel  über  der  Sagen-  und 
Mythengeschichte  dos  deutschen  Volkes  aufzuhellen.  Er 
forderte  bereits  einen  geschichtlichen  Nachweis  für  Ursprung 
und  Entwickelung  der  Volkssagen  und  Märchen,  die  ihm 
ähnlich  wie  später  den  Grimms  als  „Resultate  des  Volks- 
glaubens und  seiner  sinnlichen  Vorstellungskräfte"  er- 
schienen. —  Die  „Volksmärchen  der  Deutschen"  von 
Musäus  (1782  ff.)  entsprachen  nur  wenig  den  Forderungen 
Herders.  Es  waren  trotz  des  Titels  eigentlich  Volks- 
sagen,  denen  der  Verfasser  bisweilen  eine  märchenhafte 
Einkleidung  zu  geben  wusste,  Märchen  im  Sinne  Grimms 
sind  von  seinen  14  Erzählungen  wenige.  Die  „Chronika 
i\i'V  drei  Schwestern"  nahmen  die  Brüder  selbst  in  die 
1.  Auflage  ihrer  Sammlung  auf.  Die  Erzählung  von 
,.Rolands  Knappen"  ist  verwandt  mit  dem  Märchen  vom 
,.Tischlein  deck  dich"  (^6),  „Richilde"  mit  „Schneewitchen" 
(58),  in  der  „Nymphe  des  Brunnens"  sind  Teile  des  Märchens 
vom  Aschenputtel(21),derFrau  Holle  (24)  und  Allerleirauh (65) 
verwebt.  In  reiner,  unveränderter  Gestalt  wird  uns  der 
Stoff  bei  Musäus  eben  niemals  geboten;  ausserdem  sind 
seine  Erzählungen  in  einem  ironisch -witzelnden  Stil  ge- 
halten und  mit  persönlichen  Anspielungen  auf  Zeit  und 
Zeitgenossen  durchsetzt.  Manche  seiner  Andeutungen 
waren  den  Mitlebenden  sogar  nicht  recht  verständlich. 
Das  volkstümliche  Element,  der  schlichte,  einfache  Ton 
der  Darstellung  ist  bei  ihm  mehr  ein  äusserer  Schmuck 
der  künstlichen  und  oft  verwickelten  Novellen  als  ein 
Grundcharakter.  Freilich  sammelte  auch  er  „Ammen- 
märchen" aus  Volksmund  und  benutzte  sie  für  seine  Er- 
zählungen, aber  er  machte  „die  alten  Geschichten  noch 
zehnmal  wunderbarer  als  sie  ursprünglich  waren",  wie  er 


1)  In   seinem    Aufsatz:    Über    die  Ähnlichkeit    der    mittleren 
engl.  u.  deutschen  Dichtkunst.     Suphansche  Ausg.  25,  63  ff. 


—     8     — 

selbst  wolil^^ofiillig  hr-koiiiit. ')  Und  doniiocli  sind  di<' 
iMängcl  (los  liuclics  im  Vorgloich  zu  seinen  Vorzügen  nui- 
gering.  Es  hat  das  Interesse  an  heimisclien  Sagen  er- 
weckt, und  seine  Darstellung,  die  Coniposition  und  der 
abgerundete  Stil  linden  noch  heute  Beifall.  Dass  Musiius  in 
freier,  dichterischer  Weise  die  Überlieferungen  behandelte, 
kann  ihm  (iben  nicht  zum  grossen  Vorwurf  gemacht  werden: 
«'S  wäre  pedantisch.  s<'iii  X'erdienst  herabzusetzen,  nachdesn 
die  Brüder  Grimm  auf  einem  anderen  Wege  mehr  erreicht 
haben,  ausserdem  haben  diese  selljst  der  dichterischen 
Behandlung  des  Märchenstoffes  keine  fircnzen  ;ilisteck('n 
wollen. 

Mit  besonderer  "Vorliebe  wurde  das  Märchen  von  dcu 
Romantikern  gepflegt;  vieles  in  ihren  Dichtungen  ist 
märchenhaft.  Die  lose,  phantastische  Verknüpfung  der 
Begebenheiten,  das  Hineingreifen  des  Zufalls  und  über- 
irdischer Gewalten  entsprach  ganz  ihren  Forderungen 
von  der  Dichtkunst  überhaupt.  „Das  Märchen  ist  gleichsam 
der  Ganon  der  Poesie,  alles  Poetische  muss  märchenhaft 
sein;  der  Dichter  betet  den  Zufall  an",  heisst  es  bei  Novalis-): 
Das  Wunderbare  sollte  nicht  nur  ein  belebender,  reiz- 
voller Schmuck  der  dichterischen  Schöpfung  sein,  sondern 
der  Boden,  aus  dem  alle  Poesie  ihre  Nahrung  sauge.  Die 
Verwirrung,  das  Ghaos  der  Gefühle  und  Ereignisse  galt 
ihnen  als  die  Wurzel  des  Poetischen.  Die  gegenseitige 
Durchdringung  des  Sinnlichen  und  L'bersinnlichen,  der 
Wirklichkeitund  des  Ideals,  die  in  der  Ästhetikder  Romantiker 
so  stark  betont  wird,  konnte  nirgends  bequemer  als  in 
der  Märchendichtung  dargestellt  werden.  Sehr  nahe  lag 
es,  selbst  Märchen  zu  dichten.  Schon  Goethe  hatte  in 
dem  „Märchen",  in  den  Unterhaltungen  deutscher  Aus- 
gewanderten (1795)  ein  bewundertes,  rätselvolles  Muster 
geliefert.  In  dunkeln,  symbolischen  Bildern  und  Gleichnissen. 

')  Andrae,  Studien  z.  d.  Volksmärchen  d.  Musäus.  Marb. 
Diss.  1S97.     S.  12. 

^)  Schriften  III,  165. 


—     9     — 

(leriMi  Bedeutung  dtMii  Eiklärer  SchwicrigkfitcMi  vorursaclit. 
spricht  der  Dichter  zugleich  ewige  Wahrheiten  aus.  si<' 
mit  dem  Zaubfr  reinster  Poesie  verklärend.  Es  ist  durchweg- 
ein  blosses  Kunstprodukt.  „Die  neue  Melusine"  (1S07) 
in  Wiliiflm  .Meisters  Wanderjahi-en  und  ,A\i'v  neue  Paris'' 
(1811)  in  Dichtung  und  Wahrheit  sind  zwar  gleichfalls 
der  Haupt.sache  nach  eigene  Dichtungen  Goethes,  in  denen 
mancherlei  persönliche  Beziehungen  in  rätselhafter  Ver- 
hüllung angedeutet  werden,  geben  alier  bereits  durch  den 
Zusatz  zu  verstehen,  dass  wir  in  ihnen  gewisse  alt- 
überlieferte i\rotive  verwertet  timh-n.  Aber  der  Dichter 
hat  ganz  frei  mit  ihnen  geschaltet.  Im  „neuen  Paris'' 
sind  antike  Elemente  mit  mittelalterlich -romantischen  in 
buntem  Wechsel  verwebt,  in  der  „Melusine"  tritt  neben 
dem  märchenhaften  Gehalt  die  Tendenz  stärker  hervor. 
iVlle  drei  aber  bringen,  wie  es  beim  Kunstmärchen  kaum 
anders  sein  kann,  mehr  oder  weniger  dunkle  Allegorien 
neben  der  Symbolik,  die,  im  Volksmärchen  bereits  abgestreift, 
hier  den  Leser  umfängt  Auch  das  liebliche  Märchen  von 
„Hyacinth  und  RosenI)Iüte",  das  Novalis  in  den  .,Lchrlingen 
zu  Sais"  erzählt,  ist  nicht  ganz  frei  davon.  »Spuren  echter 
Volksmärchen  finden  sich  dagegen  im  Faust,  wo  Margaretens 
Kerkerlied  auf  das  Märchen  vom  Macliandelboom  anspielt, 
und  im  „Werther"  macht  Goethe  eine  kurze  Andeutung 
auf  den  sagenhaften  Magnetberg  und  ein  Märchen  von  der 
Prinzessin,  die  durch  Hände  bedient  wird. 

Unter  den  älteren  Romantikern  beschäftigte  sich  nament- 
lich Ludwig  Tieck  mit  der  Bearbeitung  volkstümlicher 
Stoffe.  In  den  „Volksmärchen  von  Peter  Leberecht"  (1797) 
erschienen  neben  Bearbeitungen  von  älteren  Volksbüchern, 
wie  den  Schildbürgern,  den  4Haymonskindern.  der  Mage- 
lone  u.  a.  auch  Volksmärchen.  Aber  ebensowenig  wie 
Musäus  erstrebte  Tieck  geschichtliche  Treue  in  der  Dai- 
stellung.  In  der  versiflcierten,  dramatischen  Form  muteten 
die  alten  Erzählungen  von  Blaubart  (1796).  dem  gestiefelten 
Kater  (1797).  Piotkäppchen  (1800)  und  dem  Däumchen  (181 1) 
wie  etwas  völlig  Neues  an.    Und  die  Modernisierung  macht 


sicil  iiiidi  ;tiil  Scliiitt  uml  'I'rilt  iKMiicrklnir.  Nicht  nur, 
(liiss  die  l*(M'soiH;n  vid  /ii  individuell  au !),'<; l'asst  waren, 
Ticxk  lloc.lil  iiucii  iHTsöiiliciic  KIciiiciitc  in  die  Darstellung 
ein:  |)()h;s(M)liart"'  Sccncn.SclK.Tz.  j)liilo.so|)liisclM.'i-Tiel'.sinn  und 
liltnarischc  Satiif;  aul  dii-  h'iiliistiirkc  ilTIands  und  Kotze- 
hues  (\vi(!  im  j^eslicl'tdtfn  Kald-  und  dt-n  siclxMi  Weibern 
des  Blaul)ai't)  wechseln  mit  den  märchenhaften  Bestand- 
t(Mlen  der  Erzählung  ab.  Wie  altklug  und  gescheit  spricht 
beispielsweise  das  Tiecksehe  Ixotkäppchenl  Schlichter  und 
volksmässiger  ist  er  in  der  Bearbeitung  der  Volksbücher; 
auch  die  von  ihm  selbst  gedichteten  Märchen,  wie  der 
blonde  Eckbert,  der  Runenl)erg,  die  Elfen,  die  mit  früheren 
Bearbeitungen  1812  im  „Phantasus"  erschienen,  ahmen 
sichtlich  die  einfachere  Natur  des  Volksmärchens  nach, 
unterscheiden  sich  aber  davon  namentlich  durch  die  Her- 
vorhebung der  düsteren,  si)ukhaften  und  dämonischen  Züge. 
Während  das  Volksmärchen  im  allgemeinen  einen  fröh- 
lichen, befriedigenden  Ausgang  liebt,  treten  uns  in  den 
Tiecksclien  Erzählungen  die  Nachtseiten  der  Natur  mit 
allen  Schauern  und  geheimnisvollen  Schrecken  entgegen. 
So  auch  mitunter  in  den  Bearbeitungen.  Wie  weiss 
er  z.  B.  im  Jjlaul)art  das  Entsetzen,  die  herzbeklemmende 
Angst  in  Meclithildcns  Erzählung  zu  steigern!  —  Dagegen 
traf  das  von  Kerner  gedichtete  Märchen  vom  „Goldener" 
in  den  „Heimatlosen"  den  Ton  des  echten  Volksmärchens 
so  natürlich,  dass  es  Friedrich  Gottschalk  aus  dem  Deutschen 
Dichterwald,  wo  es  zuerst  erschienen  war,  in  seine  Märchen- 
sammlung aufnahm  V- 

Aber  nicht  diesen  dichterischen  Bearbeitungen  von 
Märchen  gedachten  die  Brüder  Grimm  durch  ihre  Sanmi- 
king  in  den  Weg  zu  treten,  sondern  den  landläufigen  Märchen- 
büchern, die  vielfach  noch  vom  französischen  Geiste  be- 
eintlusst  waren.  Echte  Überlieferung  fand  sich  zwai'  seit 
]\lusäus''  Vorgang  häufiger,  wie  in  den  Kindermärcheu 
aus  mündlichen  Erzählungen  gesammelt  (Erfurt  17ST).  den 


1)  Saxen  u.  Volksmärchen  dei"  Deut.sohen  (1S14)  1,236. 


—    11    — 

Aiiiiueninürcheii  von  Vulpiiis  ilTOlj.  dem  Mäiieinbucli  lür 
ni(3ine  lieben  Xachbarsleuto  (17<)'Jj  und  den  Fcenniärchen 
(1801),  sie  waren  aber  meist  dürftig  und  scblccht  erzählt, 
das  Typische  der  echten  Märchcnerzählung  sucht  man 
darin  vergebens.  Auch  war  der  Inhalt  im  Vergleich  zur 
Grimmschen  Sammlung  ganz  geringfügig.  Niemand  hatte 
vor  Grimm  über  die  ^lärchenlitteratur  weite  Umschau  ge- 
halten: in  den  meisten  Fällen  hatten  sicli  die  \'ei'fasser 
mit  düi'ftigen  Bruchstücken  begnügt,  die  sie  dann  aus 
eigenen  Mitteln  zu  ergänzen  und  zu  bereichern  suchten. 
Daneben  konnnen  noch  oft  Entlehnungen  aus  fremdlän- 
(h'sclien  (Quellen  vor.  Die  Kindermärchen  von  Eschke 
iIS04)  sind  trockene,  moralische  Fabeln  ohne  jeden  mär- 
chenhaften Gehalt;  auch  über  die  Sammlung  ihres  Namens- 
vetters Albert  Ludwig  Grimm  (Heidelberg  1809)  konnten 
die  Brüder  kein  günstiges  Urteil  abgeben').  Job.  Gustav 
Büschings  Sammlung,  die  in  demselben  Jahr  wie  die 
Grimmsche  erschien,  enthält  grösstenteils  Sagen,  die  aus 
Chroniken  und  Länderbeschreibungen  zusammengetragen 
waren;  bloss  5  Märchen  sind  darin  enthalten,  bei  denen 
freilich  der  Kinderton  der  Darstellung  oft  vermisst  wird. 
Nur  zwei  heben  sich  als  litterarische  Kleinodien  aus  ihrer 
Umgebung  heraus,  die  von  Runge  stammenden  Aufzeich- 
nungen der  Märchen  vom  „Fischer"  und  ,,Machandelboom". 
Runge  hatte  in  diesen  beiden  Erzählungen  zum  ersten  Mal 
Musterstückc  kunstvoller  Darstellung  geliefert.  Ohne  den 
Stoff  mit  subjektiven  Elementen  zu  belasten,  hatte  er  es 
verstanden,  durch  Vertiefung  und  Steigerung  der  .Motive, 
reiche,  detaillierte  Beschreibung,  durch  genaue  Beobachtung 
der  Rhythmik  gesprochener  Prosa  die  Erzählungen  für  alle 
folgenden  Märchenschreil)er  vorbildlich  zu  machen.  Der 
Rungischen  Kunst  ist  die  der  Brüder  Grimm  nahe  ver- 
wandt. Anfangs  noch  zaghaft  in  der  reicheren  Ausge- 
staltung   der    Märchen,    haben    sie    später    von    Auflage 


1)  Hriefw.  zw.  J.  u.  W.  (irimin  S.  128. 


/ii  AiilIüL''»'  «las   kiinstN'risclic    l'iiii/.ij)    iiK-lir-    hervortreten 
lassen. 

Zimi  1.  IJimde  der  Miiroli<'n  wurde  0  .Jaliro  ^'■('sammelt. 
Den  iirrisstcii  Teil  der  Krzäliliiii^'-en  zoicliiieten  dif*  Brüder 
seihst  nach  niiiiidlicher  Iljcilieferiinf?  ihres  Heimatlandes 
auf;  Hessen,  di';  (Iralschart  Hanau,  die  Main-  und  Kinzi«:- 
jj^egenden  lieferten  die  meisten  lieiträge.  Danelien  wurden 
auch  Fassungen  henutzt,  die  von  Freunden  und  Bekanntet) 
heniihrten.  Seit  seinem  Aufenthalt  in  Halle  (1809)  war 
Wilhelm  Orimm  mit  dem  westfälischen  Edelmann  Werner 
von  Haxthausen  hekannt;  ihm  und  seinen  Schwestern 
verdankt  die  Sammlung  eine  Reihe  der  schfinsten  Er- 
zählungen. j\Iit  grosser  Genugtuung  erwähnt  Wilhelm, 
dass  ihm  gerade  die  Beiträge  aus  dem  Westfälischen 
(Paderhorn  und  .^Hinster)  wegen  der  zutraulichen  Mundart 
und  der  inneren  Vollständigkeit  wertvoll  seien:  er  freut 
sich,  dass  sie  gerade  so  aufgefasst  werden,  wie  ihm  am 
liebsten  ist.  nämlich  treu  und  genau  mit  aller  Eigentüm- 
lichkeit seihst  dos  Dialekts  ohne  Zusatz  und  sogenannte 
Verschönerung').  Das  gleiche  Lob  erhält  Werners  Bruder 
August:  ,.An  der  Art,  wie  Sie  aufschreiben,  weiss  ich 
niclits  auszusetzen,  es  ist  treu  und  einfach,  wie  ich  es 
wünsche,  und  wenn  Sie  so  fortfahren,  werden  Sie  keinen 
kleinen  Teil  an  der  Fortsetzung  des  Buches  haben"'). 
Auch  zu  den  späteren  Auflagen  steuerte  die  befreundete 
Familie  reichlich  bei.  Nach  der  3.  Auflage  stammen  die 
Märchen  No.  7.  10.  27.  60.  68.  70.  72.  86.  91.  99.  101.  112. 
113.  121.  123.  126.  129.  131—34.  137—143  (138?)  aus 
Beiträgen  der  Familie  Haxthausen.  Die  Märchen  No.  14. 
16.  24.  45.  48.  52.  64.  65.  71.  97.  110.  133.  135.  136  sind 
z.  Teil  daher  entnommen.  Im  3.  Bande  finden  sich  Vari- 
anten von  ihnen  unter  Xo.  1.  4.  6.  21.  48.  57.  71.  73.  82. 
106.  112.  143.  158.  Ausserdem  sind  die  Kinderlegenden 
Xo.  1 — 7  vollständig  nach  ihren   Aufzeichnungen    erzählt. 


1)  Freundesbriefe  .S.  1. 
'^  Freundesbriefe  S.  5. 


—      18     — 

Der  plattdeutsclio  Dialekt  inaiicher  Märchen  wurde  unver- 
ändert beil)ehalten,  um  die  Frische  und  ürsprünglich- 
keit  des  Tons  zu  wahren.  Von  Bedeutuiif(  für  das  Zu- 
standekommen des  2.  Bandes  war  namentlich  die  zufällige 
Jiekanntschaft  der  Brüder  mit  der  ..Märchenfrau''  Vieh- 
männin  in  Zwelirn  bei  Kassel.  Ihren  Erzählungen  folgen 
No.  6.  22.  29.  34.  61.  03.  71.  TG.  89.  94.  98.  100.  102.  106. 
108.  111.  115.  118.  125.  127.  128.  Ergänzungen  lieferte 
sie  zu  No.  9.  21.  31.  58.  59.  120.  Varianten  behiulen  sich 
unter  Xo.  4.  27.  90.  92.  122. 

Die  Brüder  Grimm  hatten  mit  der  Veröffentlichung 
gezögert,  um  die  Sammlung  in  möglichster  Vollständigkeit 
darbieten  zu  können.  Arnim  nötigte  sie  zu  rascherem 
Vorgehen.  Noch  nach  25  Jahren  haben  die  Brüder  in 
dankbarer  Anerkennung  seiner  fördernden  Teilnahme  ge- 
dacht').  Er  vermittelte  auch  die  Verbindung  mit  dem 
Verleger  Reimer  in  Berlin.  Obwohl  dieser  erst  nach  Ab- 
setzung einer  bestimmten  Anzahl  von  Exemplaren  Honorar 
bewilligen  wollte,  \varen  die  Brüder  doch  mit  den  Bedin- 
gungen einverstanden;  es  kam  ihnen  nun  darauf  an,  zu 
ähnlichen  Unternehmungen  Lust  zu  machen-).  Am  Schluss 
des  Jahres  1812  erschien  der  1.  Band  im  Handel. 

Der  Stil  der  Erzählungen,  der  schlicht  und  natürlich 
sich  in  den  einfachsten  Formen  bewegte,  wurde  zunächst 
nüchtern  gefunden.  Die  roln;  Gestalt  mancher  Märchen, 
die  eine  ältere  Quelle  nicht  verleugneten,  stiess  ab:  einige 
dürftige  Fragmente,  die  mit  gewissenhafter  Treue  ohne 
Ergänzungen  abgedruckt  waren,  hätte  man  lieber  ganz 
weggew^ünscht.  Sehr  ungehalten  spricht  sich  Brentano 
über  die  Sammlung  aus,  auf  die  ihn  Arnim  aufmerksam  ge- 
macht hatte-').  Die  treue  Nacherzählung  findet  er  äusserst 
., liederlich  und  versudelt".  Trotz  ihrer  Kürze  seien  die 
meisten   Märchen    langweilig;    wolle  man  ein  Kinderkleid 


1)  In  clor  Zuschrift  der  3.  Auflage  an  Bettina. 

2)  Steig,  Achim  v.  Arnim  III,  195. 

3)  Steig,  Achim  v.  Arnim  I,  ciU9. 


—     14       - 

liorRuslioloii.  so  k<)rmo  man  os  mit  aller  'rrfin*  tun.  ..olino 
eines  vorzuzeij/cn.  an  dom  all«'  Knöpfr  iKTuntorf^erisscn 
soicii".  Anrji  (li(!  «rclclutcn  Noten  im  A  nlian^  stiiron  ihn. 
Er  vortritt  «Jen  Standpunkt,  den  m- später  hei  seinen  eigenen 
Märolien  festige  halten  hat.  Als  ;,'eleliri<(er  Schiller  Hasiles 
konnte  er  freilieh  nur  sehwer  an  der  „Milehspeise"  der 
Grimmsehen  MärclKMi  (leschmack  linden,  hier  fehlte  der 
sprudelnde  Witz  und  die  capriziöse,  kecke  Darstellunor, 
die  den  Pentamerone  auszeichnet.  Die  Brüder  Grimm 
gingen  iiiren  eiü-enen  Weg:  was  sie  für  die  Kunstform  des 
Märchens  hielten,  stand  der  Auffassung  Brentanos  scharf 
entgegen.  Man  vergleiche  mit  Brentanos  Urteil  das  Wider- 
spiel bei  W.  Grimm:  „In  Brentanos  Buch  hahe  icli  ge- 
blättert —  es  ist  mehr  Stil  in  den  Märchen  wie  in  den 
unserigen,  lesen  sich  dagegen  zu  wiederholten  Malen 
schlechter,  weil  man  dann  den  Witz  weg  hat  oder  aus- 
wendig weiss,  daher  eine  solche  Art  nur  aufkommen  d.  h. 
absichtlich  gewählt  werden  kann,  wenn  man,  wie  jetzt, 
etwas  nur  einmal  liest"  ').  Ruhiger  als  Brentano  äussert 
sich  Arnim;  er  sucht  zwischen  beiden  Parteien  zu  ver- 
mitteln, verschliesst  sich  niclit  herb  gegen  das  Neue  und 
Schöne  in  Brentanos  Märchen  und  macht  anderseits  die 
Freunde  auf  manche  Übelstände  ihrer  eigenen  Sammlung 
aufmerksam.  Für  seine  Beurteilung  der  Grimmschen  Mär- 
chen ist  seine  prinzipielle  Stellung  zur  Volks-  und  Kunst- 
poesie wichtig.  Über  das  Verhältnis  dieser  beiden  grossen 
Hauptgattungen  zu  einander  hatte  sich  zwischen  ihm 
und  den  Brüdern  eine  lebhafte  Auseinandersetzung  ent- 
wickelt-). Während  Arnim  die  Weiterbildung  und  Ver- 
tiefung des  überlieferten  Stoffes  als  das  gute  Recht  des 
modernen  Dichters  verteidigte,  überhaupt  die  Grenzen 
zwischen  Volks-  und  Kunstpoesie  nicht  so  scharf  bestimmen 
wollte,  betrachtete  Jakob  jede  der  beiden  Hauptformen  als 
ein  besonderes  Gebiet  und  erkannte  nur  in  der  Volksdichtung 


1)  ßriefw.  zw.  J.  u.  W.  Grimm  S.  381. 
-)  Steig,  Achim  v.  Arnim  111,115—145. 


den  c\Yitjon  Bestand  diclitcrisrlicr  Kraft  an.  Xiclit  nur  hr- 
grii'flich  und  inlialtlicli.  auch  in  der  Zeit  seien  beide  von 
einander  getrennt,  hatte  er  schon  in  einem  Aufsatz  der 
Einsiedh-Tzeitung  iNo.  19/20)  i)ehauptet.  Und  die  willkür- 
liclie  Verniengung beider  Gattungen  erschien  ihm  „geradezu 
sündhaft".  Diese  Gegensätze  mussten  sich  natiirlicli  auch 
bei  der  Beurteilung  der  Märchen  zeigen.  Arnim  lässt  in 
seinen  Äusserungen  über  (bis  Buch  mehr  praktische  Rück- 
sichten gelten.  Er  tadelt  mit  Recht  den  wörtlielieii  Ab- 
druck von  Vorlagen  aus  dem  1().  Jahriiundert.  deren 
Sprache  für  Kinder  ebenso  unverständlich  sei,  wie  für  Er- 
wachsene, die  kein  Studium  daraus  gemacht  hätten,  das 
Nibelungenlied.  Die  Roheit  einiger  l\Iärchen.  z.  1k  das 
Schlachtspicl,  schien  ihm  für  ein  Kinderbuch  bedenklich; 
schon  der  „Machandelboonr'  hatte  ihm  einst  wegen  einer 
darin  wohnenden  Grausamkeit  widerstrebt.  Er  berührte 
sich  in  seinem  Urteil  mit  Friedrich  Schlegel,  der  zwar  im 
allgemeinen  eine  günstige  Kritik  über  das  Buch  aussprach 
und  den  Stil  lo])te,  aber  eine  Reduktion  der  Märchen  von 
i\(:'n  vorhandtMien  80  Xunnnern  auf  GO  für  eine  Verbesserung 
der  Sammlung  hielt').  Den  Arnimschen  Ausführungen 
gegenüber  nahmen  die  Brii(l(M'  die  ]\lärchen  eifrig  in  Schutz. 
Den  Einwurf,  dass  manche  es  ihren  Kindern  nicht  rück- 
haltlos in  die  Hände  geben  könnten,  hätten  sie  voraus- 
gesehen, der  Wahrheit  der  Überlieferung  zu  liebe  aber 
müssten  auch  Dinge  berührt  werden,  die  manche  viel- 
leicht anstössig  däuchten  und  schwächere  Gemüter  ver- 
letzten. Auch  tragische  Fälle,  wie  die  Geschichten  vom 
Schlachten,  wären  schon  durch  die  tatsächliche  Existenz 
entschuldigt  und  stellten  ausserdem  eine  wichtige  Seite  der 
Volkspoesie  dar.  In  allen  Mitteilungen  der  Brüder  ver- 
nehmen wir  den  einen  Grundton:  treues  Festhalten  an  der 
Überlieferung.  ..Hätten  wir  verändert,  zugesetzt,  so  wären 
wir  verantwortlich",  schreibt  Wiliielm  an  Arnim-).  Die  Streit- 
frage dreht  sich  hier  einfach  um  ein  mehr  oder  minder.    Die 

1)  Briefw.  zw.  J.  u.  W.  Grimm  S.  35G. 

2)  Steig,  Achim  v.  Arnim  III,  2G7. 


—    1«    — 

l'.riidi'i'  (jriiiitn  Iru^^Mioti-n  durcliau-s  nicbt,  tlass  der  .Stoff 
daduicli,  (lass  sie  ilin  (irzähltcn,  <,'(;\vi88e  Unil)ildiin;,'eu  er- 
ralir(;ii  iiiiissc.  doch  sei  davon  das  absichtliche  Zusainincn- 
srt/cii  Mild  L'niiiiodt'ln  weit  verschieden,  und  nur  dieses 
wollten  sie  bekänipl'eii.  Xidit  auf  pünktliche  Treue  kam 
es  ihnen  an,  sondern  was  neben  der  Achtunj^  vor  dem 
geschichtlicli  Gewordenen  ..dennoch  wie  von  einer  nicht  zu 
bezwini^^Miden  Ci(;walt  neu  herausgetrieben  würde'',  das 
mache  den  eij^entlichen  Fortschritt  aus  ').  Was  dii;  Form 
mancher  Eizählunge'n  ijetrelTe,  so  könne  man  die  unver- 
ständlichen, wie  die  plattdeutschen  oder  die  Abdrücke 
älterer  Vorla^^eii,  iil>erschlagen,  ..und  sich  soj/ar  freuen, 
darum  noch  etwas  für  die  Zukunft  zu  l)ehalten" -j.  Wir 
sehen:  die  erste  Auflage  hebt  den  Zweck  der  Sammlung 
als  ein  Kinderbuch  noch  weniger  hervor.  Der  wissen- 
schaftliche und  geschichtliche  Wert  der  Erzählungen  gilt 
den  Brüdern  noch  ebensoviel  wie  die  künstlerische  Form, 
sie  sind  sogar  geneigt,  diese  der  Treue  in  der  Ü'berlieferung 
aufzuopfern.  Jakob  spricht  es  unverhohlen  aus.  wie  er 
die  Sammlung  beurteilt  wissen  wolle:  ..Das  Märchenbuch 
ist  mir  garnicht  für  Kinder  geschrieben,  aber  es  kommt 
ihnen  recht  erwünscht  und  das  freut  mich  sehr,  sondern 
ich  hätte  nicht  mit  Lust  daran  gearbeitet,  wenn  ich  nicht 
(Jlaubens  wäre,  dass  es  den  ernstesten  und  ältesten  Leuten 
so  gut  wie  mir  für  Poesie,  Mythologie  und  Geschichte 
wichtig  werden  und  erscheinen  könnte"  'j.  Trotz  der  ab- 
lehnenden Haltung,  die  hier  Jakob  gegenüber  Arnims 
bessernden  Vorschlägen  zeigt,  sind  dessen  Ausstellungen 
an  dem  Märchenbande  für  die  2.  Ausgabe  fast  sämtlich 
l)erücksichtigt  worden.  AVilhelm.  der  die  Redaktion  der 
folgenden  Auflagen  übernahm,  war  geneigter,  das  Urteil 
der  Freunde  zu  beachten.  Uneingeschränktes  Lob  aber 
spendete  der  Sammlung  Joseph  Görres  in  Heidelberg.  Ihn, 
der   mit  Enthusiasmus   die  Poesie    der   ..teutsclien  Volks- 


')  Steig,  Acliini  v.  Arnim  III,  2()7. 
2)  Steig,  Achim  v.  Arnim  111,271. 
S)  Steig,  Achim  v.  Arnim  111,271. 


—     17     — 

bücher"  verkündiget  hatte, mussten  die  schlichteuErzählungen 
aus  dein  Vulke  besonders  angonehni  überrascben.  Schon 
in  der  Ankündigung  der  Sammlung  hatten  die  Brüder  ver- 
sprochen, dass  die  Märchen  ..ohne  Schnüre  und  Goldborten 
als  ein  ordentliches  Volksbuch"  schlecht  und  recht  ge- 
druckt werden  sollten.  „Meine  Hoffnung  ist",  schreibt 
Wilhelm  an  Görres'),  „dass  das  Buch,  wo  man  es  nur 
versucht,  gleich  seine  Kraft  bewähren  wird."  "Wie  be- 
geistert es  sogleich  von  der  Kinderwelt  aufgenommen 
wurde.  dai'ül)er  gibt  die  lobende  Anerkennung  von  Görres-) 
und  der  Dankbriel'  Bettinens '')  an  die  Brüder  reiche  Aus- 
kunft. Seltsam  kontrastiert  damit  Brentanos  Mitteilung, 
dass  es  in  Österreich  verboten  Mar,  die  Märchen  nach- 
zudrucken, da  sie  wegen  ihres  „abergläubischen"  Inhalts 
eine  Gefahr  für  die  Volksbildung  bedeuten  sollten"*).  Auch 
von  Büsching  kam  eine  missgünstige  Rezension,  die  den 
Grimms  den  Vorwurf  machte,  die  Märchenwelt  verdüstert 
zu  haben"*).  Das  schärfste  Verdammungsurteil  sprach 
Heinrich  Voss  aus.  Er  stand  wie  sein  Vater  der  ganzen 
Romantik  feindlich  gegenüber;  darum  kann  seine  böse 
Kritik  nicht  schwer  ins  Gewicht  fallen.  „Einige  Märchen 
sind  schön",  schreibt  er  an  seinen  Freund  Truchsess,  ,,voll 
tiefen  Sinnes  und  einfach  und  gut  erzählt,  die  meisten  aber 
sind  wahrer  Schund,  oder  wenn  auch  im  Keim  gesund,  doch 
in  der  Form  durchaus  verwahrlost.  Ich  fordere  auch  hier 
das  Ideal  eines  Erzählers,  und  findet  sich  der  in  Wirklichkeit 
nicht,  so  muss  der  Schriftsteller  seinen  Platz  vertreten"**). 
Wie  vor  dem  Schwulst  der  Lohensteinschen  Periode  wird 
vor  der  „affektierten  Kindlichkeit"  der  Romantiker  gewarnt. 
Die  Brüder  Grimm  w-aren  sich  des  Wertes  ihrer 
Sammlung  w^ohl  bewusst.  Dass  die  Form  zuerst  auffallen 
würde,    verhehlten  sie  sich  nicht:     „Man    wird    es    leicht 


•)  am  31.  Dez.  1812. 
■-)  Brief  an  Grimm  vom  27.  I.  1813. 
3)  Steig,  Achim  v.  Arnim  III,  265. 
*)  Steig,  Achim  v.  Arnim  111,302. 
^)  Steig,  Achim  v.  Arnim  III,  297. 

6)  Briefe    v.  Heinrich  Voss    an  Christian    v.  Truchsess    S.  87. 
Palaestra  XLVII.  2 


—      IK      — 

licincrkon",  schrcihi  \Villi(?liii  an  (iörros'),  „dass  os  keine 
Hiirid«!  f^earbcitet  haben,  die  sich  in  poetischen,  zierlichen 
Darstellungen  geübt,  dergleichen  in  unserer  Zeit  nicht 
selten  sind:  es  ist  im  Oegenteil  lieber  jeder  zarte,  süsse 
und  holde  Ausdruck  vermieden,  der  verweichlicht  und 
verallgemeinert,  und  der  Gedanke  so  viel  als  möglich  an 
der  Wurzel  gefasst  worden".  Obwohl  noch  eine  „ge- 
wisse Ungeschicktheit  in  ]»oetischen  Arbeiten"  -)  darin 
walte,  ist  er  überzeugt,  dass  wegen  des  reichen  Inhalts 
kaum  ein  anderes  Buch  damit  verglichen  werden  könne  — 
Die  Hoft'nungen,  die  sie  auf  die  Ausgabe  dt;r  Märchen 
gesetzt  hatten,  erfüllten  sich  in  reichstem  Masse.  Der 
1.  Band  hatte  trotz  mancher  .Mängel  als  ein  gutes  Muster 
einer  Kindermärchensammlung  Xacheiferung  erweckt.  Sie 
empfingen  von  anderer  Seite  reiche  Beiträge,  mehr  als 
sie  erwartet  hatten,  so  dass  der  2.  Band  bereits  1814 
(mit  der  Jahreszahl  1815)  erscheinen  konnte.  Die  Arbeit 
daran  lag  wesentlich  in  Wilhelms  Händen,  da  Jakob  sich 
als  Gesandtschaftssecretär  in  Prankreich  befand.  Neben 
ernsterer  wissenschaftlicher  Tätigkeit  war  dem  Heraus- 
geber das  Zusammenstellen  der  Märchen  eine  Erheiterung 
in  den  verschiedenen  Stimmungen  des  Jahres^).  Jakob 
begleitete  die  Fortschritte  des  Werkes  mit  Teilnahme  und 
Freude"*).  An  Einlieitlichkeit  der  Stilisierung  zeigt  dieser 
Band  vor  dem  ersten  bereits  einen  bemerkenswerten 
Vorzug.  Die  schlichte,  treu  nacherzählende  Art  wurde 
beibehalten.  Arnim  übersah  nicht  die  grössere  Sicherheit 
in  der  Kunst  der  Erzählung:  nur  wünschte  er  noch  ein 
stärkeres  Hervortreten  des  Schriftstellers,  damit  manches 
Märchen  einen  befriedigenderen  Abschluss  finde •'^). 

In  beiden  Bänden  war  eine  Reihe  von  Erzählungen 
schriftlichen  Vorlagen  entnommen:  wir  wenden  uns  im 
folgenden  ihrer  Betrachtung  zu. 


M  am  31.  Dez.  1812.    vgl.  auch  Steig,  A.  v.  Arnim  111,252. 

-)  Steig,  A.  V.  Arnim  III,  2G7. 

'^)  Brief  an  Görres  v.  30.  I.  1815. 

^)  BrietV.  zw.  J.  \i.  W.  (Irimm  S.  2G6. 

')  Steig,  A.  V.  Arnim  111,819. 


Die  Vorlagen  und  ihre  Bearbeitung. 

1.6.     Von  der  Xaclitigall  und   der  Blindschleiche*). 

Es  ist  ein  französisches  Tiermärchen,  das  erzählt,  wie 
Nachtigall  und  Blindschleiche  ursprünglich  nur  je  ein  Auge 
hatten  und  zusammen  lebten,  l)is  die  Nachtigall  von  ihrer 
Freundin  für  eine  Hochzeit  das  eine  entlieh,  es  ihr  aber 
nacldier  nicht  wieder  zurückgab,  und  wie  nun  ewige  Feind- 
schaft zwischen  ihnen  besteht.  —  Die  Brüder  Grimm  ent- 
nahmen das  ]\Iärchen  dem  2.  Bande  der  Memoires  de 
TAcademie  celtique  (Paris  1808),  wo  es  sich  in  der  Ab- 
handlung: Traditions  et  usages  de  la  Sologne-)  par  M.  Legier 
nahezu  vollständig  vorfindet').  Es  schliesst  hier:  „L'opinion 
des  Solognots  est  que  non  loin  du  nid  d'un  rossignol, 
souvent  sous  Tarbuste  oü  il  est,  on  peut  chercher,  on  y 
trouvera  certainement  un  anvot;  j"ai  cherche  et  n'ai  rien 
trouv6".  Im  Deutschen  steht  anstatt  dieser  kritischen 
Bemerkung,  die  als  solche  den  Ton  der  einfachen  Märchen- 
erzählung verlässt,  ein  anderer  Schluss,  der  die  Geschichte 
besser  abrundet,  indem  er  die  stete  Feindschaft  der  beiden 
ehemaligen  Freunde  zum  Ausdruck  bringt:  „und  sie  trachtet 
immer  hinaufzukriechen,  Löcher  in  die  Eier  ihrer  Feindin 
zu  bohren  oder  sie  auszusaufen."  Dies  ist  die  wörtliche 
Übersetzung  einer  Anmerkung  im  4.  Bande  der  Memoires. 
Dort  heisst  es  in  einem  Aufsatz  über  den  Volksglauben 
in  der  Sologne  und  inBerri:  „La  fable  druidique  relative 
a  l'anvot  et  au  rossignol  y  (i.  e.  en  Berri)  est  accredit^e 

1)  vgl.  R.  Kühler,  Zs.  d.  Ver.  f.  Volkskunde  T,  53  If. 

2)  In  Mittelfrankreich,  Departement  Loire-Cher. 

3)  S.  204  f. 

2* 


—     20     — 

commo  ä  Solo<<n*^  ot  cit<'<'  nir-iiie  comme  provprbo.  sans 
douto  parc(!  (iiTelle  tioiit  ä  la  fois  aux  allej^oriüs  du  drui- 
(lisnio  et  ;i  lu  inoralf^.  Par  ce  doulilo  rapjjort,  nous  avons 
cni.  M.  Joliaiincau  et  nioi  (Lr^nor),  (juVIlf'  lUf'-ritait  dT-tre 
V(Msili6e  vX  nous  Tavoiis  mis  en  vers."  Der  Schluss  der 
nun  lol^ajiiden,  ^'•oreimteii  Fassung  (S.  100—102)  lautet; 

„Avcuyic  i't  iiialliourcux  p.ir  trop  «Ic  (M^niiilaisance, 
l)(>l»uis  ce  Icmps  I'anvot  räche  son  existence 
Sous  ]('  nid  de  rinfri"it;  attend  daiis  le  silenco 
L'instanl  de  se  venjjrer  de  Td-il  qu'il  a  jjerdii, 
En  niani;'eaiit  Td-uf  que  le  traitre  a  pDiulu.'' 

Eine  Note  zu  ,, ringrat"  crkiäi't:  ..On  dit  (|u'il  so  trouve 
toujours  un  anvut  sous  le  nid  du  rossignol  et  (|u"il  m 
perce  et  niange  les  d'ufs." 

Die  Übersetzung  schliesst  sich  eng  an  den  Iranzrisisclien 
Text  an.  Einige  Eigentümlichkeiten  des  Stils  fallen  jedoch 
sofort  ins  Auge:  Grimm  legt  Wert  auf  die  Beseelung  der 
Tierwelt.  Wie  in  der  Volkspoesie  überhaupt  —  am  aus- 
gedehntesten im  Tierepos  —  werden  menschliche  Ver-. 
hältnisse  auf  die  Tiere  übertragen,  und  diese  dadurch  in 
die  Menschenähnlichkeit  erhoben.  Die  knappen  An- 
deutungen der  Vorlage  sucht  die  Bearbeitung  möglichst 
zu  bereichern  und  dadurch  das  Ganze  poetischer  zu  ge- 
stalten. Aus  diesem  Grunde  erklären  sich  Ausdrücke  wie: 
da  „wohnf  eine  Blindschleiche  (on  trouvera  un  anvot)  — 
Wie  die  Nachtigall  nach  Haus  gekommen  war  (le  rossignol 
de  retour)  —  die  Blindschleiche  tat  es  ..aus  Gefälligkeif' 
(I'anvot  le  lui  preta). 

Der  volkstümlichen  Ausdrucksweise  entspricht  der 
synonyme  Parallelismus  in  den  Wendungen:  Sie  lebten 
"Xusammen  in  einem  Haus  ..in  Frieden  und  Einigkeit"  (ils 
vivaient  dans  une  bonne  intelligence)  —  sie  wollte  sich 
„an  ihren  Kindern  und  Kindeskindern"  rächen  (veuger 
sur  sa  prog6niture).  Und  ähnlich  wird  im  folgenden  durch 
die  Wiederholung  eine  behagliche  Breite  zu  Gunsten  des 
volkstümlichen  Stils  vorgezogen:  „Es  gefiel  ihr  so  wohl, 
4.lass  sie  zwei  Augen  im  Kopf  trug  und  zu  beiden  Seiten 


.  -  -^1  - 

sehen  konnte,  dass  sie  der  annoii  Blindschleiche  ihr  ge- 
liehenes Aiig'  nicht  wieder  zurückgeben  wollte''  (le  rossignol 
refusa  de  rendrc  IVril,  quMl  lui  avait  pret6).  —  „Seit  der 
Zeit  haben  alle  Nachtigallen  zwei  Augen  und  alle  Blind- 
schleichen keine  Augen''  (et  voila  pourquoi  l'anvot  ne  voit 
pas  clair).  —  Die  Stelle:  „II  pria  Tanvot  de  lui  prrter  son 
(eil"  lautet  bei  Grimm  erweitert  und  der  Umgangssprache 
angeähnelt:  ..ich  bin  da  auf  eine  Hochzeit  gebeten  und 
möchte  nicht  gern  so  mit  einem  Aug  hingehen,  sei  doch 
so  gut  und  leih  mir  deins  dazu,  ich  bring  dir's  morgen 
wieder.'' 

Die  Lautmalerei  freilich  in  dem  A'ers  der  singenden 
Nachtigall: 

„.)o  ferai  mon  nid  .si  haut!  si  baut!  si  liaut!  si  ba.s! 
Que  tu  ne  le  trouveras  pas," 

die  an  das:  ..ziküth"  in  dem  Märchen  von  Jorinde  und 
Joringel  (1. 69)  anklingt,  konnte  im  Deutschen  nicht  so 
glücklich  nachgeahmt  werden: 

„Ich  bau  mein  Nest  auf  jene  Linden, 
So  hoch,  so  hoch,  so  hoch,  so  hoch; 
da  nias'st  du's  nimmei-mehr  finden." 

Dafür  aber  ist  der  Hinweis  auf  die  Linde  als  den 
Baum  der  Volkspoesie  als  glücklicher  Zusatz  zu  bezeichnen; 
der  Eeim  auf  „finden"  macht  allerdings  die  Beifügung  sehr 
leicht  erklärlich. 

Einige  dialektische  Fassungen  des  Märchens')  sind, 
wie  R.  Köhler  zuerst  ausgesprochen  hat,-)  nicht  boden- 
ständig, sondern  gehen  unmittelbar  auf  die  Grimmsche 
Übersetzung  aus  dem  Französischen  zurück.  In  Frank- 
reich lebt  die  Erzählung  noch  jetzt  vielfach  im  Volks- 
munde fort.-') 


')  vpl.   Fii-menich,   Germaniens  Vülkerstimmen  I,  283.     H.  F 
W.  Raabe,  Allgem.  plattdeutsches  Volksbuch  1854,  pag.  234. 
2,^  a.  a.  O.  S.  58. 
^^  ibid.  S.  55  f. 


1,8.  ])']('  Ilainl  mit  iloiii  Messer. 
Das  Märchen  <(elit  ursprünglich  aiil  ein  schottisclics 
Kinder-  oder  Volksh'ed  zurück,  dessen  Jnhalt  die  Schrift- 
stellerin Mrs.  Anne  (irant  ol"  Jjaggan  (1755 — IH'.iH)  in  ihren 
Essays")  niittf^ilt.  Sie  kannte  das  Lied  aus  mündlicher 
Überlieferung:  ..One  of  tliese  (stories)".  sfhreiht  sie.  ..which 
I  hav(!  iieard  chiidren  at  a  very  early  age  sing,  and  whicii 
is  just  to  them  the  Babcs  in  tlie  Wood,  I  can  never  forget. 
The  affecting  sinijjlicity  of  the  tune,  the  stränge  wild 
imagcry  and  the  marks  of  reniote  antiquity  in  the  littlc 
narrative  gave  it  the  greatest  interest  to  me.  who  delight 
in  tracing  back  poetry  to  its  infancy.''  Die  nun  folgende 
Inhaltsangabe  bildete  die  Vorlage  für  das  Grimmsche 
Märchen.  Bei  der  Seltenheit  des  englischen  Werkes  mag 
es  erlaubt  sein,  die  betreffende  Stelle  hier  einzurücken; 
sie  wurde  mir  gütigst  durch  die  Verwaltung  der  Bibliothek 
des  British  Museum  übermittelt: 

„A  little  girl  had  been  innocently  beloved  by  a  fairy,  ^vho 
dwelt  in  a  tomhan  near  her  mother's  habitation.  She  had 
three  brothers  who  were  the  favourites  of  her  mother.  She 
herseif  was  treated  harshly  and  tasked  beyond  her  strencrth: 
Her  employment  was  to  go  every  mornin"-  and  cxit  a  cerlain 
qnanlity  of  turf  froni  drj'  heathy  ground  for  immediate  fuel 
and  this  with  some  imcouth  and  primitive  implement.  —  As 
she  past  the  hilloclc,  which  contained  her  lover,  he  regularly 
put  out  his  band  with  a  A'ery  sharp  knife  of  such  power,  that 
it  quickjy  and  readily  cut  through  all  impediments.  She  re- 
lurned  chearfuUy  and  early  with  her  load  of  turf;  and  as  she 
])ast  by  the  hillock,  she  Struck  on  it  twice  and  the  fairy  stret- 
ched  out  his  band  through  the  surface  and  received  the  knife. 
The  mother,  however,  told  the  brothers,  that  her  daughter 
must  certainly  have  had  some  aid  to  perform  the  allotted  task. 
They  watcbed  her,  saw  her  receive  the  enchanted  knife  and 
forced  it  from  her.  The^'  returned,  Struck  the  hillock,  as  she 
was  wont  to  do,  and  when  the  fairj'  put  out  his  band,  they 
cut  it  off  with  his  own  knife.  He  drew  in  the  bleeding  arm  in 
despair  and  supposing  this  cruelty  was  the  result  of  treachery 
on  the  part  of  his  beloved,  never  saw  her  more." 


1)  Essays  on  the  superstitions  of  the  highlanders  of  Scotland. 
London  1811.    I,  285—8(3. 


—     23     — 

Die  Bearbeitung  folgt  fast  wörtlich  der  Vorlage:  nur 
hin  und  wieder  wurde  ein  Ausdruck  in  einer  etwas  volks- 
tümlicheren Färbung  wiedergegeben,  z.  B.:  .,Sie  niusste 
,tagtägliclr  morgens  früh  ausgehen"  (her  employment  was 
to  go  every  morning).  Der  Znsatz :  „ein  altes  und  stumpfes 
Gerät,  womit  es  die  , sauere  Arbeit'  verrichten  sollte", 
scheint  nicht  ohne  Absicht  beigefügt  zu  sein;  Grimm  liebt 
die  volkstümliche  Redensart:  „es  sich  sauer  w^erden  lassen" 
und  hat  sie  verschiedentlich  variiert  häufiger  in  den 
I\lärchon  angewandt.  OI)wohI  nur  die  oben  mitgeteilte 
liilialtsangabe  des  Liedes  von  Grimm  benutzt  w^urde,  seien 
auch  einige  Strophen  der  Originalfassung  hier  angegeben, 
damit  das  Verhältnis  der  Prosaauflösung  zum  ursprüng- 
lichen Liede  deutlich  wird.  Anne  Grants  Versuch  der 
Übertragung  des  Textes  ins  Englische  enthält  die  Worte 
des  jungen  Mädchens: 

„Ibeholdyonder  the  tonihan  covered  with  rowan')and  hoUy. 

Dear  to  me  is  the  treasure  which  it  contains. 

Sweet  and  deep  was  niv  sluiaber 

On  the  bvink  of  the  lake  of  niany  salmon. 

I  awoke.  and  lialf  of  jny  bed  reniained  not. 

I  see  yonder  the  tonihan.  etc. 

I  .see  my  brothers  afai'  yonder 

Moiinted  on  sleek  swift  grey  steeds: 

They  ride,  but  my  heart  goes  not  with  theni. 

I  see  yonder  the  tomhan,  etc. 

I  see  the  house  of  niy  mother  afar  o(T; 
Not  as  it  were  a  honse,  but  a  place  deserted. 
While  .sweet  slumber  falls  on  others, 
Green  flames  shall  encompass  her  feet. 
I  see  3'onder  the  tomhan,  etc." 

Schon  diese  Strophen  lassen  erkennen,  dass  das  Ge- 
dicht viel  breiter  angelegt  war,  als  die  Grimmsche  Vor- 
lage, die  sehr  straff  zusammenfasst  und  nur  die  Hauptpunkte 
der  Erzählung  berührt.     Vollständig  ist  das  Lied  auch  in 


*j  Rowan,  tlie  mountain  Ash. 


—     24     — 

(Ici-  englischen  Fassunj.'^  nicht  eriiahf-n.  —  Das  Märfiifii 
wurde  als  iindeutsch  in  'Iff  2.  Aiiria;.'«'  iiljerhaupt  aus- 
g<,'Hehif'(Jt;ii. 

1.  2<-).     \'oii  ei  Fl  ••III  tiiidcin  Sclini'ider. 

Das  weitverbreitete 'j  Milrchen  vom  tapferen  Schneider- 
lein steht  in  der  1.  Aullage  in  2  Fassungen  unverl)unden 
nebeneinander.  Die  erste  stammt  aus  Martin  Montanus 
(Wegkürzer,  cap.  ö)  und  wurde  wörtlich  daraus  abgedruckt. 
Auch  der  Druckl'ehler  in  der  Vorlage:  „das  ihm  so  sehr 
grossen  Schaden  an  Fisch  (=  Vieh)  und  Leut  thef.  ging 
unverbessert  in  die  Bearbeitung  iilter. 

Die  zweite  Rezension,  ein  Fragment,  erzählt  nach  einer 
mündlichen  Überlieferung  aus  Hessen.  Diese  hat  einen 
anschaulicheren  Eingang,  berichtet  ausführlich,  wie  der 
Schneider  sich  von  der  Bauerfrau  das  ]\lus  erhandelt  und 
29  Fliegen  auf  einen  Streich  erlegt.  Er  näht  sich  dann 
den  Gürtel  mit  der  prahlerischen  Aufschrift,  zieht  in  die 
Welt  und  erlebt  die  Abenteuer  mit  dem  Riesen.  Mit  der 
Kraftprobe  an  dem  Kirschbaum,  an  dem  der  Riese  und 
der  Schneider  ihre  Stärke  messen,  endigt  die  Geschichte. 
Bei  Montanus,  der  wahrscheinlich  aus  mündlicher  Über- 
lieferung schöpfte-),  ist  dieser  Teil  viel  kürzer.  In  einer 
Stadt  Romandia,  erzählt  er,  habe  ein  Schneider  7  Fliegen 
auf  einem  Apfel  erschlagen  und  sei.  nachdem  er  die  Helden- 
tat auf  den  Harnisch  geschrieben,  an  des  Königs  Hof  ge- 
zogen. Im  folgenden  wird  nun  das  Leben  des  Schneiders 
in  königlichen  Diensten  mit  grosser  Ausführlichkeit  ge- 
schildert. 

Erst  in  der  2.  Auflage  wurde  das  Märchen  umge- 
schrieben und  ergänzt  (s.  u.),  ohne  jedoch  den  ursprüng- 
lichen Charakter  und  die  Geschlossenheit  der  Darstellung 
zu  verlieren.  Wie  willkürlich  war  dem  gegenüber  Brentanos 
Verfahren!    Sein  Märchen  vom  Schneider  Siebentot  ist  in 


>)  vgl.    ausser    Grimm  III.^  29    R.  Kühler,  Kleinere    Schriften 
I,  563  f. 

2)  Vgl.  Montanus,  Schwankbücher  ed.  Bolte  S.  XVI. 


liuntcr  Oi'diiuiii:-  mit  der  Erzählung'  vom  Däumcliori  ver- 
knüpft. Lächerliche  Bezeichnungen,  scherzhafte  Lied<'r 
und  Aii«:riffe  auf  Juden  und  Schneider  machen  das  Ganze 
zu  einem  hiunigen  Gemisch  halb  märchenhafter,  halb 
satirischer  Dichtung. 

I.  22.    Wie  Kinder  Schi  achtens  mit  einander  gespielt 

haben. 

Die  uralte  Sage  „von  einem  Kinde,  das  kindlicher 
Weise  ein  anderes  Kind  umbringt"  entnahmen  die  Brüder 
H.  von  Kleists  Berliner  Abendblättern,  wo  es  in  Nr.  38 
vom  1:3.  November  1810  abgedruckt  war.  Der  anonyme 
Einsender  war  Achim  von  Arnim '),  der  die  Erzählung 
„aus  einem  alten  Buche",  nämlich  aus  Georg  Wickrams 
Rolhvagenbüchlein-)  mit  ganz  geringen  sprachlichen  Mo- 
dernisierungen zum  Abdruck  brachte.  Die  Veranlassung 
dazu  gab  offenbar  Zacharias  Werners  1809  gedichtetes 
Trauerspiel:  Der  24.  Februar.  Arnim  verweist  in  seiner 
Zuschrift,  die  eine  Aufführung  des  Dramas  in  Berlin  an- 
regen wollte,  auf  das  ähnliche  Motiv,  das  in  Werners 
Spiel  zu  Grunde  liege:  ein  wichtiger  Teil  der  Vorgeschichte 
des  Stücks  ist  mit  Anlehnung  an  eine  ähnliche  Mord- 
geschichte gedichtet  worden.'')  Der  kleine  Kurt  Kurutli 
hat  in  kindlicher  Xaivetät  seine  Schwester  im  Spiel  ge- 
schlachtet, nachdem  er  die  Mutter  hatte  ein  Huhn  ab- 
stechen sehen.  Wahrscheinlich  schwebte  Werner  hierbei 
eine  mündliche  Überheferung  der  weitverbreiteten  Sage 
vor.  —  Einen  ergiebigen  Gebrauch  davon  machte  später 
Arnim  im  2.  Teil  der  Kronenwächter.'*)  Er  gestaltete  die 
Erzählung  romanhaft  aus  und  spitzte  sie  ähnlich  wie 
Werner  zu  einem  Geschwistermorde  zu.  Oswald,  das 
nachgebliebene  Söhnchen  Bertholds,  wird  von  dem  Sohne 
Antons,    seinem    Stiefbruder,    unter   gleichen    Umständen, 


•)  R.  Steig,  H.  V.  Kleists  Berliner  Käm[)fe  S.  202. 

2)  Georg-  Wickrani,  Werke  III,  S.  97  f. 

^)  vgl.  E.  Schmidt,  Vierteljahrschr.  f.  Litterat. -Gesch.     I,  .')0;{. 

■»)  Steig,  H.  V.  Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  203. 


—     26     — 

wie  die  S;i;4f  ci/iililt.  im  Spii-l  liiii<((iiiior(l<'t :  (lt;i-  .Müidt-r 
trinkt  i\ns  lilul  sciiK^s  Ojjlcrs.  HirH'iii<<olIo(;htC'ii  über  wird 
von  Arnim  ein  mystischer  Zu<(.  als  ol>  eine  f(olir;inini.ssvollc 
Macht  drs  Jjhiles  dUt  i.'-ruusi;,^)  Tat  veranlasst  habe.  Ji(-rt- 
hohls  ../.weites  Jycheir".  (IcmOswahl  entstammte,  war  erst 
(hurh  eine  künstliche,  von  \)v.  l-'anst  vor^'enonim<ne  lihit- 
iil)eitraj;nii;,'  mö^^h"eh  «geworden;  es  war  Antons  Blut,  das 
in  (hMi)  Kinih'  floss.  Der  Mörder  tat  iiaeli  .\rnims  Dar- 
stelhHiLC  •""■  <hMi  Wilh'n  des  Schicksals,  wenn  er  das  lihit. 
das  ihm  ei^iviitlich  gehörte,  zurückforderte.  Beim  Mord«.' 
kam  dasselbe  Messer  zur  Verw(!ndun<(.  das  l)eim  Aderlass 
des  Vaters  einst  y-ebrauclit  worden  war.  —  Ähnlich  ist 
die  Durch t'ührunir  einiger  Gedanken  bei  Werner.  .Auch 
hier  s])ielt  das  .Mordmesser  eine  grosse  Rolle,  so  dass  man 
l)eliauptcn  kann,  dass  nicht  nur  der  .\bdruck  in  den  Aljcnd- 
blättern,  sondern  auch  die  poetische  Umgestaltung  der 
Sage  in  den  Kronenwächtern  von  dem  virtuosen  Schicksals- 
drama angeregt  und  beeinflusst  worden  ist,  um  so  mehr, 
als  es  sich  auch  hier  um  einen  Gcschwistermord  handelt, 
der  in  der  von  Arnim  benutzten  Fabel  ursprünglich  nicht 
vorhanden  war.  —  Die  Grimmsche  Bearbeitung  hat  nicht 
vorsuclit,  eine  andere  Stilisierung  des  ]\Iärchens  vorzu- 
nehmen. 

Yci-wandt  mit  der  eben  I)ehandelten  Erzählung  ist  eine 
andere  Fassung  (22^^).  die  nur  noch  das  Grausige  der  Er- 
eignisse häuft:  Ein  Kind  er-sticht  seinen  Bruder,  ertrinkt 
selbst  im  Badezuber,  die  Mutter  erhängt  sich  aus  Ver- 
zweiflung, und  der  Mann,  der  bei  der  Rückkehr  vom  Felde 
das  Unglück  wahrnimmt,  stirbt  vor  Gram.  Der  Grimmsche 
Text  ist,  abgesehen  von  geringfügigen  Wortveränderungen, 
ein  getreuer  Abdruck  der  Vorlage:  Martin  Zeillers 
Miscellanea  (Nürnberg  1G61.  S.  388).  Zeiller  übersetzte 
aus  J.  Wolfs  Lectiones  memorabiles  (1600).  Schon  in 
der  Zimmerischen  Chronik  wird    die  Geschichte   erzählt'). 


1)  vgl.    Bolle,    Anmerkung    zu    Wickrani    III.  385:     Goedeke, 
Schwanke  S.  40. 


—     27     — 

Die  Voiiage  bringt  noch  einen  sagenhaften  Bericht  iibt'r 
(las  Zustanclekonimcn  des  Distichons: 

„Slis,  pueri  bini,  ])Uor  unus,  mipta,  niarilus 
cultellü,  lyniplia,  l'une,  dolore  failuiit" 

das  in  wenigen  Worten  den  Jnhalt  der  entsetzlichen  Tra- 
gödie wiedergibt.  Mit  Recht  fand  Arnim  die  beiden  Er- 
zählungen wegen  der  rohen  Grausamkeit,  die  darin  zum 
x\.usdruck  kommt,  als  Kindermärchen  unpassend');  in  der 
2.  Aiillage  blieben  sie  weg. 

1.28.     Flauschen,  Vögelchen  und  Bratwurst. 

Das  Märchen  ist  ein  nahezu  wörthcher  Abdruck  der 
Vorlage:  ]\Ioscherosch.  Gesichte  Philanders  von  Sittewaldt, 
11.  Teil,  Schluss  des  7.  Gesichts.  Infolgedessen  blieb  auch 
der  altertümliche  Stil  bestehen  und  wurde  auch  in  den 
späteren  Auflagen  nur  wenig  verändert.  Der  Inhalt  ist 
kurz  dieser:  Eine  Maus,  eine  Bratwurst  und  ein  Vogel 
leben  eine  Zeitlang  in  glücklicher  Gemeinschaft;  jedes 
übt  seine  besondere  Tätigkeit  in  der  Wirtschaft  aus.  Der 
Vogel  aber  wird  seiner  Arbeit  bald  überdrüssig,  und  die 
Wurst  muss  sein  Amt  übernehmen,  nämlich  Holz  im  Walde 
zusammen  zu  suchen.  Eines  Tags  aber  wird  sie  von  einem 
Hund  angetroffen  und  als  freie  Beute  verzehrt.  Er  habe 
falsche  Briefe  bei  ihr  gefunden,  erwidert  er  dem  Vogel  auf 
dessen  Beschwerde.  Die  Maus  übernimmt  nun  die  Rolle 
der  Bratwurst  und  schlingt  sich  durch  das  Gemüse,  um 
es  zu  schmälzen,  kommt  aber  dabei  um;  bei  dem  Versuch, 
eine  entstandene  Feuersbrunst  zu  löschen,  muss  auch  der 
Vogel  sein  Leben  lassen. 

Die  Vorlage  unterscheidet  sich  von  der  Bearbeitung 
w'esentlich  nur  durch  die  Tendenz.  Moscherosch  überträgt 
die  im  Märchen  geschilderten  Verhältnisse  auf  die  politischen 
Zustände  seiner  Zeit;  die  Figuren  der  Erzählung  vertreten 
ihm  die  drei  Stände.  Aus  dem  \'erlauf  ergibt  sich  für  ihn 
wie  aus  einer  Fabel  die  Lehre,  dass  der  Staat  nur  solange 


')  Steig,  Achim  von  Arnim  II I.  203. 


—     28     — 

ix'Stc'lien  köiiMO,  wio  die  Ständf  sicli  fn^iwilli;,'  oinandor 
nntfrordimton,  „du  es  jo.  und  allcwcf^e  ein  Zeichen  Unter- 
^'aii<,'cs  ^o;NV('st,  wann  sich  einer  in  seinem  Stande  nicht 
iiielir  l)(Miii<(en  hissen".  Bei  fJriniin  ist  von  Beziehungen 
auf  dir  Zeitgesciiichte  keine  Spur  mehr  vorhanden.  Der 
tcndt'nzirts«!  Charakter  ist  vollständig  ahgestreift.  und  wir 
lialx-n  das  blosse  Tierniiirclien  vor  uns.  Die  dem  Märchen- 
stil eignenden  Koseformen:  „Mäuschen",  „Vögelchen", 
,.(Brat-)\Viirstlein"  stehen  in  der  Vorlage  ohne  Ver- 
kh'iiK'iuiigssilben.  Die  Verwendung  der  Deminutiva  ver- 
leiht dem  Vortrag  eine  gewisse  Zierlichkeit. 

1.27.     Der  Tod   und  i\('V  Gänshirt. 

Der  wörtliche  Al)druck  einer  Erzählung  aus  Ph.  Hars- 
dörfers  Schauplatz  jämmerlicher  Mordgeschichten.')  — 
Ein  armer,  lebensmüder  Hirt  bittet  den  Tod,  ihn  über  ein 
grosses  Gewässer  ins  Jenseits  mit  hinüberzunehmen.  Nach- 
dem dieser  einen  Geizhals  abgeholt  und  ertränkt  hat.  führt 
er  den  Hirten  mit  seiner  Gänseherde  wohlbehalten  in  den 
Himmel.  Hier  verwandeln  sich  die  Gänse  in  Schafe,  und 
die  drei  Erzväter  geleiten  den  Hirten  in  ein  schönes  Schloss 
und  krönen  ihn.  —  Harsdörfer  erzählt  die  Geschichte  als 
ein  allegorisches  Lehrgedicht,  das  ..der  Gottlosen  und 
Frommen  jetzigen  und  künftigen  Zustand  bedeute." 

Wegen  seines  dürftigen  Inhalts  fiel  das  Märchen  in 
der  2.  Auflage  fort;  an  seine  Stelle  trat  das  schon  bei 
Rollenhagen  im  Eröscbmäuseler-)  bearbeitete  Märchen  von 
den  Bremer  Stadtmusikanten  nach  mündlicher  Tradition 
aus  dem  Paderbörnischen. 

1,35.     Der  Sperling  und  seine  vier  Kinder. 

Die  vier  Jungen  eines  Sperlings  werden  durch  einen 
Sturm  aus  dem  Nest  geschleudert,  kommen  aber  alle  mit 


1)  Ausg.  V.  1003,  s.  051  f. 

2)  ed.   Goedeke,  III.  9. 


—     29     — 

dem  Lelx'ii  davon.  Nach  oinem  Jahr  treffen  sie  mit  ihrem 
Vater  wieder  zusammen  und  berichten  ül)er  ihre  Erlebnisse?. 
Jeder  hat  während  der  Zeit  so  viel  gelernt,  dass  er  der 
Hülfe  des  Alten  nicht  mehr  bedarf.  —  Das  Märchen  ist 
dem  ,.FabuIhans"'  Joh.  Balthasar  Schupps  entnommen,') 
einem  Tractat,  der  mit  grossem  Eifer  die  Verwendung 
volkstiuiilicher  Erzählung'en  auf  der  Kanzel  verteidijit. 
Schupps  Quelle  waren  die  Predigten  des  Lutherbiographen 
Johannes  Mathesius.  —  Die  Grimmsche  Bearbeitung  be- 
hält die  ursprüngliche  Fassung  nahezu  unverändert  bei. 
Einige  Ausdrücke  wurden  modernisiert:  warnen  vor  (für), 
die  hohl  sind  (sein),  sehet  euch  vor  (für).  Manche  Ab- 
weichungen sind  wenigstens  für  die  1.  Auflage  als  unfrei- 
willig zu  bezeichnen,  da  das  Märchen  sonst  durchgehends 
die  archaischen  Formen  festhält;  auch  die  späteren  Auf- 
lagen überlieferten  den  Text  in  der  Sprachform  des 
17.  Jahrhunderts  und  haben  nur  hier  und  da  einen  alter- 
tümlichen Ausdruck  ersetzt. 

Arnim  erzählt  das  ]\lärchen  unter  der  Überschrift: 
..Die  Schule  der  Erfahrung"  in  der  Gräfin  Dolores. -j  Der 
Text  ist  hier  genauer,  als  in  der  von  ihm  1817  zum  An- 
denken an  die  Eeformation  herausgegebenen  Auswahl  der 
Predigten  des  Mathesius.  Die  Fassung  in  der  Sprich- 
wörtersammlung des  Chytreus  (1571),  mit  der  bei  Mathesius 
übereinstimmend,  bildete  die  Vorlage  für  die  Darstellung 
in  Rollenhagens  Froschmäuseler^),  wo  das  Märchen  viel- 
fache Erweiterungen  im  einzelnen  erfahren  hat.  Betitelt 
ist  es:  Doktor  Sperlings  Hat.  Sowohl  Rollenhagen  wie 
Arnim  machen  schon  durch  die  Überschrift  auf  den 
lehrhaften  Grundgedanken  aufmerksam;  bei  Grimm  fällt 
wiederum  die  Vermenschlichung  der  Tierwelt  ins  Auge; 
hier  ist  das  Märchen  „Der  Sperling  und  seine  vier  Kinder" 
überschrieben. 


')  Aus«,".  V.  1700,  S.  780. 

2)  Werke  8,  190  iL 

3)  Buch,  2,2,  VII. 


—    :j()    — 

Droi  Märolicn  wurdm  aus  Hcirir.  .Iiiri:/-Stilliiit(s  Lohoiis- 
•(eschiclitc  (I777j  cntlcliiit :  .Iftrindf  uud  .\()iiu^a\  (1,09). 
der  (irossvator  iiml  tl'i'  Ktikcl  (I.T^i  ihhI  die  alto 
Ii<'tt('l  IViiii  (II.  (ID.  l>i(^  in  i'iiifaclK.T  SpraclH-  {^elialtorif 
liio^rrapliif  des  IVommrii  Mannes  ci-inneil  ziiufilcii  sclltst 
dui'cli  ilir  wniidrrhai-«'  iMitwickclnuK  ,|,.i-  \',i-iri-\)i-\\\u>\U']i  an 
oinc  niäcclienliaitc  Krzähliin;;.  \\>n  .Jii^'fnd  auf  mit  dein 
Leben  des  Volkes  vertraut,  iiatte  JStilliii;^  für  N'olkspoesie 
lebhaftes  Interesse:  mit  ^'rossem  Geschick  wei.ss  er  die 
Märchen  in  den  X'erlauf  der  Lebeiisbeschreibnn<r  einzu- 
schalten. „Jorinde  und  Jorinj^cl"  ')  wurde  wfirtlich  von 
Grimm  abgedruckt  und  isUtt  zu  stilistischen  Bemerkungen 
keinen  Anlass.  Die  Verwandlung  der  Hexe  in  einen  Hasen, 
die  bei  Grimm  fehlt,  ist  wolil  nur  durch  Flüchtigkeit  zu 
erklären,  da  der  Text  sonst  die  Vorlage  genau  wiedergibt. 
Eine  mündliche  Erzählung  aus  der  Schwalmgegend  in 
Hessen,  die  die  Brüder  anmerkungsweise  zitieren,  weicht 
von  der  Stillingschen  Fassung  nur  in  Xel)enzügen  ab  und 
ist  für  die  Grimmsche  Ijeai'I)citung  nicht  weiter  von  Be- 
deutung gewesen. 

2.  Das  bekannte  Märchen  vom  Grossvater  und  Enkel  -) 
hat  Stilling  in  die  Lebensgeschichte  eingeflochten  und  es 
infolgedessen  mit  einigen  Zusätzen  belastet.  Er  versetzt 
es  in  die  unmittelbare  Gegenwart  und  legt  es  einem 
Knaben  in  den  Mund,  der  es  als  neuestes  Erlebnis  seinen 
Kameraden  beim  Spiel  erzählt.  Aus  dieser  Voraussetzung 
erklären  sich  Hinweise  wie:  „Neben  uns  wohnt  der  alte 
Frühling,  ihr  wisst  wie  er  dahergeht"  oder:  „ich  habe  ihn 
wohl  sehen  essen"  —  „nun  hat  er  ehegestern  sein  irdenes 
Schüsselchen  zerbrochen"  —  „da  musste  er  gestern  Mittag 
aus  essen".  Diese  Zusätze,  wie  auch  den  willkürlich  ge- 
wählten Eigennamen,  Hess  die  Bearbeitung  fort,  hielt  sich 
aber  sonst  eng  an  die  Vorlage.  Nur  ein  paar  Ausdrücke 
sind  bei  Grimm  anschaulicher:    „Wenn  er    nun    bei  Tisch 


1)  Jung  Stilling,  Recl.  S.  63  f. 
•-')  a.  a.  O.  S.  78. 


—     31      — 

sass  uikI  (Ion  Löffel  kaum  lialtcn  konnte,  scliiittete  er  Suppe 
auf  das  Tischtucli".  (Wenn  er  dann  so  am  Tisch  sass  und 
zitterte,  so  verschüttete  er  immer  vieles.)  Das  altertümliche 
Wort:  ,.Schnur"  (Schwiegertochter)  ist  bei  Grimm  moderni- 
siert: „Sein  Sohn  und  dessen  Frau". 

13.  Die  alte  ßettelfrau  '). 

Es  ist  ein  Fragment:  Eine  alte  Frau  tritt  ins  Haus, 
um  sich  zu  wärmen;  aus  Versehen  kommt  sie  dem  Feuer 
zu  nahe,  und  ihre  Kleider  langen  an  zu  brennen,  ohne 
dass  sie's  gewahr  ^vird.  Ein  Knabe  steht  dabei,  bemüht 
sich  aber  nicht  zu  retten:  „Wenn  er  kein  Wasser  gehabt 
hätte,  dann  hätte  er  alles  Wasser  in  seinem  Leibe  zu  den 
Augen  herausweinen  sollen,  das  hätte  so  zwei  hübsche 
Bächlcin  gegeben  zu  löschen."  Damit  bricht  die  Erzählung 
ab.  Stilling  fügt  das  ]\lärchen  an  einer  wichtigen  Stelle 
seiner  Lebensgeschichte  ein.  Zwei  junge  ]\Iädchen  sind  in 
ihn  verhebt.  In  einem  seltsam  verzückten  Zustand 
scliwärmerischer  Leidenschaft  gesteht  die  eine  ihm  durch 
bedeutungsvolle  Verse  aus  einem  Volksliede  und  durch 
das  Märchen  ihre  Neigung.  Sie  selbst  ist  die  Lettelfrau, 
der  „freundliche  Schelm  von  Jungen"  ist  Stilling.  Ihr  Herz 
hat  von  ihm  Feuer  gefangen  und  nun  wolle  er"s  nicht 
löschen,  da  er  sich  von  ihr  zurückziehe.  Der  Schluss  fehlt. 
Hierzu  macht  Grimm  die  .Anmerkung:  „Vermutlich  rächt 
sich  das  Bettelweib  durch  eine  Verwünschung,  wie  man 
mehr  Sagen  von  eintretenden  pilgernden  Bettlerinnen  hat, 
die  man  nicht  ungestraft  beleidigt".  Vielleicht  kannte 
Stilling  das  Märchen  selbst  nicht  vollständig,  wahr- 
scheinlich aber  unterdrückte  er  den  Schluss  absichthch. 
Dadurch,  dass  Stilling  und  seine  Geliebte  die  Personen 
des  Märchens  darstellten,  war  es  unmöglich,  dass  das 
Mädchen  in  der  Rolle  der  Bettlerin  einen  Fluch  über  ihn 
aussprechen  konnte.  Sie  ist  mehr  traurig  als  erzürnt  über 
den  kalten  Liebhaber.  Und  durch  die  Zwischenfrage 
Stillings:    „Aber  wenn    er  nun    kein  Wasser   hatte,    nicht 

1)  a.  a.  O.  S.  118. 


—     32     — 

irisrhnn  konnte?"  wotliircli  er  sninc  Ziiriickliultuni^  'ni- 
scliiildij^rii  und  voit(;i(li<f<Mi  will,  wii'd  in  dem  It'idensclial't- 
liclicn  MädclK'ii  da-;  l)ittiic  ( irtiihl  viTSclmiähtor  Liebe  auf 
den  Ilüiiepiinkt  L'-elrielx'ii.  iiiid  sie  lirieht  in  Tränen  aus. 
rnnii>;(licli  koiintt'  jetzt  ••in«-  \'<;i'\viin.scliun^''  naelifolgen. 
Wie  Ix'ieclitigt  alx'i'  die  liiiidi  r  (iiiiuiii  zu  ilii«'i- Hypothese 
waren,  wii-d  durch  dm  Zusatz  dei-  2.  Authige  hestätigt: 
hier  verweisen  sie  auf  lleimieh  von  Kleists  Hettt.dwcib  von 
Locarno,  nvo  das  Märchen  in  alh-n  Teilen  vertieft  und  ins 
(Jespensterliaft- furchtbare  veigrössert  worden  ist.  Viel- 
h'icht  geht  Kleists  Novelle  el>enfalls  auf  Stilling  zurück'), 
doch  kann  es  sich  hierbei  nur  um  eine  Anregung  handeln. 
Die  Grimmsche  Bemerkung,  dass  die  vortragende  Amme 
oder  Mutter  den  zuhörenden  Kindern  vielleicht  auch  den 
Gang  der  krummen,  gebückten  Alten  mit  dem  Stock  in  der 
wackelnden  Hand  vormacht,  stützt  sich  auf  die  Darstellung 
in  ihrer  Vorlage.  —  An  dem  eigentlichen  Märchen  haben 
die  Brüder  nichts  geändert;  nur  die  verschiedenen  Zwischen- 
bemerkungen und  Fragen,  die  bei  Stilling  durch  die  Eiu- 
llechtung  des  Märchens  in  den  Zusammenhang  des  Romans 
nötig  geworden  wareii,  Helen  fort. 

1.32.   Der  gescheite  Hans. 

An  die  aus  mündlicher  Überlieferung  (Maingegenden) 
geschöpfte  Erzählung  vom  gescheiten  Hans  reiht  die 
1.  Auflage  eine  Parallele  aus  J.  Freys  Gartengesellschaft, 
Kap.  T,  an.  Bebeis  Schwank:  De  fatuo  rustico  (Opus- 
cula  1514)  bildet  den  Ausgangspunkt.  Freys  Übersetzung 
schliesst  sich  eng  der  lateinischen  Vorlage  an,  die  Grimmsche 
Bearbeitung  ist  der  wörtliche  Abdruck  aus  der  Garten- 
gesellschaft. —  Die  Streiche  des  dummen  Hans  sind  hier 
in  reicher  Vollständigkeit  beisammen.  Er  besudelt  die 
von  der  Braut  geschenkten  Handschuhe,  erwürgt  den 
Habicht,  trägt  die  Egge  auf  den  Händen  und  lässt  den 
Speck  vom  Pferde  heimschleifen,  will  dann  zu  Hause  den 


')  Steig,  Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  524. 


—     33     — 

verschütteten  Wein  mit  Mflil  auftrocknen,  tötet  die 
schreiende  Gans,  die  ihn  seiner  Meinung  nach  veiraten 
■will,  setzt  sich  nun  mit  Honit,^  beschmiert  auf  ihre  Eier, 
um  sie  auszubrüten,  und  wirft  dann  nach  Eulenspiegels 
Art  seiner  Hraut  ausgestochene  Schafaugen  ins  Gesicht. 
Jede  seiner  Albernheiten  hat  in  dernn'ttelalterlichenSchwank- 
litteratur  die  mannigfaltigsten  Variationen. ')  In  Grinnns 
Sammlung  steht  es  nur  in  der  1.  Auflage;  es  wurde  nach- 
her wegen  der  altertümlichen  Sprache  in  die  Anmerkungen 
aufgenommen.  —  Dass  der  Grimmsche  Ausdruck:  „Loffel- 
bitz"  auf  einem  Lesefehler  beruht:  „und  trug  sie  wie  ein 
anderer  Löffel  bis  heim",  ist  bereits  von  Bolte  bemerkt 
worden'). 

1,82.    Die  drei  Schwestern. 

Zu  Grunde  liegt  die  Chronika  der  drei  Schwestern 
von  ]\Iusäus.  Der  Inhalt  des  Märchens  ist  kurz  folgender: 
Ein  Graf  verprasst  sein  Gut  und  verkauft,  um  sein  Leben 
zu  erhalten,  seine  drei  Töchter  Wulfhild.  Adelheid  und 
Bertlia  an  einen  Bären,  einen  Aar  und  einen  Delphin,  drei 
verzauberte  Prinzen.  Diese  sind  gut  und  schön  in  Menschen- 
gestalt, die  jeder  nach  einer  bestimmten  Frist  (7  Tagen  — 
7  Wochen  —  7  Monaten)  einmal  annehmen  kann;  wenn 
sie  aber  wieder  Tiere  geworden  sind,  darf  ihnen  kein  Mensch 
ungestraft  nahen.  Ein  spätgeborener  Sohn  des  Grafen, 
ßeinald,  macht  sich  auf,  um  die  Schwestern  zu  suchen 
und  zu  erlösen.  Jeder  Schwager  ist  eine  Gefahr  für  ihn; 
verw^andelt  aber  nehmen  sie  ihn  gastfreundlich  auf,  und 
jeder  schenkt  ihm  beim  Abschied  ein  Mittel,  womit  Reinald 
die  Entfernten  zu  Hilfe  rufen  könne,  wenn  er  sich  in  Not 
betinde;  der  Bär  drei  Haare,  der  Adler  drei  Federn  und 
der  Delphin  drei  Schuppen.  Er  macht  von  diesen  Geschenken 
in  Lebensgefahr  Gebrauch;  es  gelingt  ilnn,  den  Zauberer 
Zornebock,  einen  Sorbenfürsten,  zu  erschlagen,  und  damit 
wird  nicht  nur  den  verwandelten  Pi'inzen  ihre  rechte  Ge- 


1)  Aumerkung  zu  Frey,  Gartenges.  Kap.  I. 
Palaestra  XLVII. 


—     34     — 

stillt  wifdergegebeii,  sondern  noch  dazu  eine  schöne  Prin- 
zessin, Jlihlcgard,  die  Tochter  Radhods  von  Pommern,  aus 
der  Gefangenschaft  des  Zaub(Ters  erlöst  und  von  Reinald 
heinig(;fiihrt.  Die  J)arstellung  bei  Musäus  weist  die  Vorzüge 
und  Mängel  seiner  sonstigen  Schreibweise  auf.  Dc.-n  knappen 
Inhalt  hat  er  sehr  reich  ausgestattet  und  mit  (l(;ii  Arabesken 
seines  Witzes  umrankt.  Freilicii  hat  dadurch  die  Erzäiilung 
den  märchenhaften  Charakter  beinahe  verloren,  und  nur 
selten  hört  man  die  sclilichte  Volkssprache.  Die  Schilderung 
ist  im  einzelnen  sehr  ausfühilicii  und  die  ßcschreibung  der 
Situationen  breit  angelegt.  Vor  allem  drängt  sich  das 
komische  Element  hervor.  Nicht  ohne  ein  wenig  Frivo- 
lität wird  erzählt,  dass  bei  der  alternden  Grätin  der  Segen 
des  frommen  Eremiten  in  der  Klause  so  wirksam  war,  dass 
die  Geburt  Iveinalds  bald  erfolgte,  und  als  dieser  später 
vor  der  schlafenden  Jungfrau  im  Banne  ihrer  Schön- 
heit ohne  sich  zu  regen  dasteht,  bemerkt  der  Erzähler 
ironisch,  dass  das  erleuchtete,  über  die  Xaivetät  der 
Märchenwelt  weit  erhabene  18.  Jahrhundert  dergleichen 
Situationen  ganz  anders  benutzt  hätte.  Treuherzige,  ein- 
fache Darstellung  wechselt  mit  satirischen  Auslassungen 
über  menschliche  Zustände  und  Sitten:  der  verzauberte 
Prinz  steht  auch  als  Bär  „unter  dem  Pantoö'el  seiner  Dame'% 
verallgemeinernd  wird  bisweilen  der  leichtfertige  Charakter 
der  Frauen  angegriffen.  Ehrwürdige  Gestalten  macht  er 
gern  durch  Zusätze  lächerlich:  Graf  und  Grätin  sind  bei 
ihm  „Papa"  und  „Mama",  der  verzauberte  Prinz  „Signor 
Albert".  Es  fehlt  nicht  an  spöttischen  Anspielungen  auf 
die  Zeitgeschichte:  „Zephyre"  wehen  „bei  einer  empfind- 
samen Abendpromenade".  Wenn  vom  Delphin  gesagt  wird, 
er  habe  so  viel  „physiognomisches  Gefühl"  besessen,  Unheil 
zu  wittern,  so  deutet  der  Verfasser  der  „Physiognomischen 
Eeisen"  auf  Lavaters  Bemühungen  hin.  „Die  Morgenröthe 
philanthropistischer  Methode"  spielt  auf  Basedow  an,  und 
wenn  Bertha  „glänzt  wie  der  Silbermond  den  empfindsamen 
Wanderern  in  der  Sommernacht",  hören  wir  deutlich  die 
bekannte  Klopstocksche  Ode    anklingen.     ..Freund  Hain" 


—     35     — 

darf  natürlich  in  dieser  Umgebung  nicht  rchh'ii.  Ferner 
liegen  die  Hinweise  auf  die  Siel)enschläi"er  und  einige  un- 
bekannte Namen.  Störend  wirkt  die  Menge  der  Fremd- 
w()rter,  die  bisweilen  gleichfalls  zu  komischen  Effekten  be- 
nutzt werden:  „veramort",  „ein  unbefangenes  Air  zu 
affektieren".  Vor  allem  aber  treten  sie  bei  der  Schilderung 
des  gesellschaftlichen  Lebens  stark  hervor.  Hier  ist  der 
ganze  Zuschnitt  modern-französisch;  Worte  wie:  Livree, 
Juwelen,  Dublonen,  Toilette,  Carosse,  Cavalcade,  Agraffe, 
credenzen.  Bai  par6,  Plafond,  Bankett,  Feten  usw.  um- 
schwirren das  Ohr.  Wie  wenig  er  die  Vorstellung  des 
Märchenzeitalters  erwecken  will,  ergibt  sich  auch  daraus, 
dass  Bertha  „im  reizenden  Morgennegiigee  ihre  Chocolade'" 
trinkt,  wie  das  vornehme  Fräulein  des  18.  Jahrhunderts. 
Modern  berührt  schon  die  willkürliche  Benennung  der 
Personen:  Adelheid  hat  ihren  Namen  mit  bewusster  An- 
lehnung an  ihren  Gemahl,  den  Adler,  erhalten.  Zum 
Schluss  lässt  er  die  drei  verzauberten  Prinzen  Gründer 
von  Keichen  und  Städten  werden:  Albrecht  der  Bär  gründet 
Bernburg  in  der  Herrschaft  Askanien,  Edgar  der  Aar  die 
Stadt  Aarburg  in  der  Schweiz,  Ufo  der  Delphin  bemächtigt 
sich  im  Burgunderreich  des  nach  ihm  benannten  Delphinats. 
Das  Symbol  ihrer  Wappen  erinnert  an  ihren  früheren,  ver- 
zauberten Zustand. 

In  der  Grimmschen  Bearbeitung  ist  nur  der  Gedanken- 
gang der  Musäusschen  Erzählung  beibehalten;  alle  Aus- 
führungen im  einzelnen  fehlen,  die  Brüder  begnügen  sich 
mit  einem  Auszug.  Die  Schlussepisode  vom  Zauberer 
Zornebock  wurde  von  ihnen  mit  Unrecht  für  eine  Erfindung 
des  Musäus  gehalten  und  fortgelassen;  sie  gehört  indessen 
notwendig  zur  Entwickelung  des  Ganzen  und  bringt  die 
Geschichte  Reinaids  zu  gefälligem  Abschluss.  Auch  in 
den  drei  Tierbrüdern  (Li  tre  Rri  Anemale),  einem  Märchen 
vonBasile,  Pentam.  IV,  B  löst  der  Bruder  der  Prinzessinnen, 
Tittone,  den  Zauber  dadurch,  dass  er  eine  Königstochter 
von  einem  Drachen  befreit;  beide  Märchen  stinunen  auch 
im  übrigen  zusammen.    Die  verzauberten  Fürsten  sind  hiei' 

8* 


—    :?«;    — 

i'iii  Hirsch,  ein  Kalke  und  ein  Df'l|)liin,  luid  rauhen  ihre 
Bräute  duich  Nc^iheeruii«^  des  Landes.  Es  ist  aher  l'raglicb, 
ol)  Musäus  (h'ii  Pentaiiierone  henutzt  hat:  wahrscheinlich 
stützte  er  sicli  auf  ältere  volkstündiciie  Üljcrlieferungen. 
Von  den  Namen  bliei)  in  der  I3earheitun«<  nur  Reinald, 
der  den  Griiilins  am  meisten  volkstündich  erschien;  aus 
glciclieni  U runde  einige  ronneihalte  Wendungeji  wie:  „So 
gings  über  Stock  und  Stein,  Berg  auf,  Berg  ah.  durch 
Wüsten  und  Wälder,  Horst  und  Hecke,  ohne  liuh  und 
Rast".  Hinzugefügt  wurden  die  Keinnvorte:  ,.da  lag  ein 
Centner  Gold  darin  und  gjinuneite  und  llimmerte"  —  „da 
lebte  er  in  Saus  und  Braus".  Edgars  Ruf  an  die  Jiraut: 
„Ich  sehe  dich,  ich  suche  dich,  fein  Liebchen,  ach.  verbirg 
dich  nicht.  Rasch  schwing  dich  hinter  mich  aufs  Ross, 
du  schöne  Adlerbraut I"  zeigt  auch  bei  Musäus  rhythmische 
Gliederung  gemäss  der  „Lenore";  bei  Grimm  lautet  er 
einfacher  und  gereimt:  „Schwing  dich  auf,  schwing  dich  auf, 
du  Fräulein  traut,  komm  mit,  du  schöne  Adlerbraut". 
Ebenso  reimt  Grimm:  Ade,  du  Fräulein  traut,  Fahr  hin 
du  Bärenbraut!  (Ade  mein  Töchterlein,  fahr  hin,  du  Bären- 
braut), fügt  auch  des  Parallehsmus  wegen  beim  Raub  der 
dritten  Tochter  den  Vers  ein: 

,,A(le,  du  Fräulein  traut, 
Faln-  hin.  du  AValfisclibraut!" 

der  bei  Musäus  nicht  angedeutet  war. 

An  den  Schluss  setzt  Grimm  einen  lustigen  Kinder- 
reim: „Da  war  Freude  und  Lust  in  allen  Ecken,  und  die 
Katz  läuft  nach  Haus,  mein  Märchen  ist  aus".  Er  er- 
innert an  den  Ausgang  des  Märchens  von  Hansel  und 
Gretel  (15):  „Mein  Märchen  ist  aus,  dort  läuft  eine  Maus, 
und  wer  sie  fängt,  darf  sich  eine  grosse,  grosse  Pelzkappe 
daraus  machen'". 

Die  wenigen  schmückenden  Zusätze,  die  Grimm  dem 
Auszug  l)eifügt,  haben  der  Darstellung  die  lebendige  Frische 
und  Anschaulichkeit,  die  uns  in  der  Vorlage  trotz  mancher 
unUebsamen  Eigentümlichkeiten  ihres  Stils  anmutig  berührt, 
nicht  verleihen   können.     Aber   es  ist   nach  Ausscheidung 


—     37     — 

aller  satirisclicii  und  witzi^'on  Anspiolungen  einfach  und 
«chliclit.  und  als  Kinderniärclien  der  Musäusschon  Fassunj? 
vorzuziehen;  das  Interesse  beschränkt  sich  allein  auf  die 
Cieschichte  des  Grafen  und  seiner  drei  Töchter.  Die  aus- 
führliche Darstellung-  ist  auf  ein  Fünftel  zusanunengezogen. 
und  der  kunstvolle  Periodenl)au  der  Vorlage  in  kurze  Sätze 
aufgelöst.  Wenn  man  auch  nicht  soweit  gehen  wird  wie 
Heinrich  Voss,  der  die  Grimmsche  Bearbeitung  im  Ver- 
hältnis zu  Musäus  mit  einem  Skelet  gegenüber  dem 
Danneckerschen  Schiller  verglich  '),  so  hat  doch  unzweifel- 
haft die  Erzählung  trotz  der  Mannigfaltigkeit  des  Inhalts 
etwas  Eintöniges  und  Nüchternes.  Jakob  selbst  bezeichnete 
es  als  das  schlechteste  Märchen  der  ganzen  Sammlung,  da 
ihm  der  frische  Klang  der  mündlichen  Erzählung  mangle -j. 

11.24.  Der  Jud"  im  Dorn. 
Das  Grimmsche  Märchen  ist  in  der  Hauptsache  eine 
Bearbeitung  des  dramatischen  Spiels,  betitelt:  „Historia  von 
einem  Bawrenknecht  und  Mönchen,  welcher  in  der  Dorn- 
hecke hat  müssen  tanzen",  von  Albrecht  Dietrich  1618. 
Die  Erzählung  liegt  jedoch  schon  in  einigen  früheren  Auf- 
zeichnungen vor.  Den  Ausgangspunkt  für  die  verschiedenen 
Darstellungen  bietet  1.  ein  englisches,  anon3'mes  Gedicht: 
„The  Friar  and  the  Boy"  nach  einer  Cambridger  Hand- 
schrift des  15.  Jahrhunderts  (gedruckt  vor  1535),  und  2. 
eine  deutsche  Erzählung  in  dramatischer  Form  von  Dietrich 
Albrecht:  „Eine  kurzweilige  Historia,  welche  sich  zuge- 
tragen mit  einem  Bawrenknecht  und  einem  Mönche  etc." 
Anno  1599^).  Über  das  Abhängigkeitsverhältnis  der  beiden 
Gedichte  lässt  sich  nichts  Bestimmtes  ausmachen,  doch 
spricht  die  Wahrschein hchkeit  dafür,  dass  die  deutsche 
Fassang  an  das  enghsche  Original  oder  an  dessen  152S 
gedruckte  niederländische  Übersetzung  angelehnt  ist.    Die 


»)  Briefe  an  Truchsess  S.  42. 

~)  Steig,  A.  V.  Arnim  111,255.  —  W.  Grimm,  s.  u.  l^eilagen. 
3)  Bolte,    Festschrift    zur    Begrüssung    d.    5.  Neuphilol.-Tag<- 
1892  S.  1  ff.,  wo  sich  auch  der  Abdruck  befindet. 


—    :is    — 

(itii|)|)('.  die  (las  enj^lischo  GoiJicIit  eröffnot,  erzählt  von 
(If'iii  kiriiicn  Jack,  dci'  von  seiner  StiolmuttfT  scbleclit  lie- 
liaiidelt  wird.  Mit  Hilfe  eines  alten  Mannes,  der  ihm  drei 
Wiinscjie  «gewählt,  weiss  er  sieh  aber  an  ihr  zu  rächen. 
Wi(!  die  erzürnte  Alte  ihm  d<'n  .Miinch  Tobias  nachsendet, 
um  ihn  zu  bestrafen,  muss  sieh  dieser  von  den  Dornen 
zerkratzen  lassen.  Ein  Nachspiel  vor  Gericht  endigt  zu 
Uunsten  des  Angeklagten.  —  Die  deutschen  Bearbeitungen 
weichen  nur  in  Nebendingen  ab.  Das  ältere  jjeimspiel  von 
1599  hat  mit  Albrecht  Dietrichs  dramatischer  Fassung 
(1618)  ungefähr  gleichen  Inhalt,  auch  formal  stinniien  beide 
überein,  nur  ist  letztere,  die  Grimmsche  Vorlage,  etwas 
roher  und  polternder  im  Ton.  Der  töl])elhafte  Knecht 
Dulla  wird  von  dem  Nachbar  seines  IJrotherrn.  namens 
„Säumagen",  aufgestachelt,  seinen  Dienst  zu  verlassen.  p]r 
gibt  dessen  Reden  schliesslich  Gehör,  fordert  seinen  Lohn, 
.und  der  geizige  Bauer  zahlt  ihm  für  drei  Jahre  Dienst 
drei  Pfennige.  Aus  Freude  darüber  singt  Dulla  ein  Dank- 
lied. Er  begegnet  einem  Geist,  dem  er  auf  dessen  Bitte 
seine  Barschaft  übergibt;  als  Gegengeschenk  erhält  er 
drei  Wünsche  gewährt.  Das  Folgende  entspricht  der 
Grimmschen  Bearbeitung,  nur  tritt  hier  statt  des  Mönchs 
ein  Jude  auf. 

Jakob  Ayrers  Fastnachtspiel  von  Fritz  Dölla  mit  der 
gewünschten  Geigen')  hat  manches  mit  Dietrichs  Reim- 
spiel gemeinsam.  Wahrscheinlich  kannte  Ayrer.  der  bereits 
1605  starb,  eine  ältere  Fassung  des  Stücks,  da  er  doch 
wieder  von  Albrechts  Spiel  1599  in  Einzelheiten  stärker 
abweicht.  Für  das  Grimmsche  i\lärchen  kommt  seine  Dar- 
stellung nicht  in  Betracht,  dagegen  wurde  die  Verwandlung 
des  Mönchs  in  einen  Juden  nach  einer  mündlichen  pader- 
Ijörnischen  tiberlieferung  vorgenommen.  Auf  diese  wird 
auch  die  einfachere  Entwickelung  am  Anfang  zurückgehen. 
Der  Nachbar,  der  den  Knecht  zum  Verlassen  des  Dienstes 
antreibt,  fehlt;  der  Geist  wurde  in  ein  kleines  Männchen 
verwandelt,    das    auch    sonst   in    den   ]\lärchen    als    Ver- 

i)  Opus  theatricum  Bl.  97  ff.    Keller  S.  2829  H'. 


—     39     — 

kiirperun«'  eines  liültVeichen  Wesens  erscheint.  —  Die 
beiden  ersten  Auflagen  bringen  das  Märchen  nahezu  in 
derselben  Gestalt.  Die  Darstellung  zeigt  nur  wenige  be- 
sonders charakteristische  Züge.  Vereinzelt  finden  sich 
in  den  schlichten  Sätzen  formelhafte  Verbindungen  wie: 
,.er  wanderte  fröhlich  über  Berg  und  Tal;"  „wie  er  auf  ein 
Feld  kam.  singend  und  springend."  Volkstümlich  ist  auch 
die  Wiederholung  in  dem  Satze:  ,,ol)endrauf  sass  eine 
kleine  Lerche  und  sang  und  sang",  ebenso  die  Art,  be- 
liebte Personen  durch  das  anteilnehmende  Pronomen 
possessivum  auszuzeichnen:  ]\rein  Knecht  aber  dünkte  sich 
noch  zehnmal  froher  —  Wie  mein  Knecht  das  viele  Geld 
sah  —  der  Pichter  verurteilte  meinen  Knecht  zum  Tode 
am  Galgen.  Der  Monolog  steht  einmal  mit  dem  volks- 
tü milchen  Personenwechsel'):  der  Knecht  dachte,  was 
willst  du  dir"s  Jänger  sauer  werden  lassen,  du  kannst  dich 
nun  pÜegen.  .  .  .  Erst  die  dritte  Auflage  änderte  das 
]\lärchen  wesentlich  um.  Es  wurde  namentlich  durch  volks- 
tümliche Ausdrücke  und  sprichwörtliche  Redensarten  be- 
reichert, z.  B.:  der  Knecht  ist  stets  willig,  wenn  es  „eine 
sauere  Arbeit"  gibt;  sein  Herr  meint,  er  würde  ,.hübsch" 
im  Dienst  bleil)en.  aber  er  will  fort.  ,.um  sich  weiter  in 
der  Welt  umzusehen".  Er  glaubt  mit  drei  Pfennigen 
..vollauf  in  der  Tasche  zu  haben"  und  gibt  auf  die  Frage 
des  Männleins,  wieviel  er  besitze,  die  stolze  Antwort: 
„Drei  bare  Heller,  richtig  gezählt!"  (1.  Aufl.:  Drei  ganzer 
Pfennig).  Deutlich  treten  die  folgenden  aus  dem  Zusammen- 
hang heraus:  „Du  bist  einer,  der  blau  pfeifen  kann:  wer 
ihm  doch  iSalz  auf  den  Schwanz  streuen  könnte;  ich  will 
dich  jagen,  dass  du  die  Schuhsohlen  verlieren  sollst;  du 
Lump  steck  einen  Groschen  ins  Maul,  dass  du  sechs  Heller 
wert  bist;  ein  Stein  auf  dem  Erdboden  möchte  sich  er- 
barmen; Gott  bewahre,  er  greift  die  Lügen  wie  Fliegen 
an  der  Wand.  Das  muss  ich  dir  sagen,  du  machst 
deinen  Tanz  noch  mit,  dass  es  eine  Art  hat."     Statt:  „er 


')    vgl.    hierüber    J.    Grimms    Aufsatz:    Über    den    Personen- 
wechsel in  der  Rede  (Kl.  Schriften  III). 


—     40     — 

fragte  ihn  scimT  J7iisli;.'k*'it  \v<'j,'f'ri"  (1.  u.  2.  Aiitl.i.  lu-isst 
ü«  jetzt  mit  nczii'liiiii;^"  auf  das  lH-kaiiiit<;  .Märchen  »81): 
„Wo  hinaus,  Üiiider  Lusti^^?"  Mit  h(,*ss(;rer  Allitteration,  zu- 
gleich archaisicirnd.  zeigt  sich  der  Auhdi'uck:  „ting  alh'S 
an  zu  wabern  und  zu  wanken"  ((hi  wankte  alles  und  be- 
wegte sich).  Auch  die  Verbindung:  „du  bist  jung  und 
kannst  dir  dein  Brot  leicht  verdienen",  hat  wegen  des 
prägnanten  Gebrauchs  der  Redensart:  „sich  sein  Brot 
verdienen''  volkstinnlichen  Klang.  Der  naiven  Kinder- 
sprache gehört  an,  wenn  Grimm  schreibt:  „Das  Männleiii 
griff  in  den  Busch  und  denk  einer!  da  lag  schon  Fidel 
und  Vogelrohr  in  Bereitschaft,  als  wenn  sie  bestellt  wären.'' 
Die  ältere  Bearbeitung  verzichtet  darauf,  die  Überraschung 
vorzubereiten  (das  ]\Iännchen  stellte  ihm  Fidel  und  Vogel- 
rohr zu).  Der  Jude  bricht  in  die  Aposiopese  aus:  „Mein! 
lasst  den  Bub  weg!  —  Mein!  was  soll  mir  das  Geigen!'' 
Überhaupt  tritt  dieser  durch  seine  Sprache  deutlich  aus 
Seiner  Umgebung  heraus.  Nicht  nur  die  mehrmahgen 
Ausrufe:  „Au  weih  geschrieen!''  sondern  auch  die  dem 
Jüdisch-Deutschen  eigentümliche  Inversion  der  Rede:  „Au 
weih  geschrieen!  geh  ich  doch  dem  Herrn,  was  er  ver- 
langt, wenn  er  nur  das  Geigen  lässt,  einen  ganzen  Beutel 
mit  Gold",  charakterisieren  ihn  als  Israehten  vortrefflich. 
Und  ebenso  der  Ausruf:  .jGottes  Wunder!  So  ein  kleines 
Tier  hat  eine  so  .grausam  mächtige'  Stimme".  Trotz  seines 
Übeln  Geschicks  spielt  er  eine  komische  Rolle.  Auf  die 
Mahnung  des  Knechts:  „Geh  Spitzbub  und  hol  dir  den 
Vogel  heraus",  macht  er  sogleich  den  Wortwitz:  ..Mein! 
lasst  den  Bub  weg,  so  kommt  der  Hund  (Spitz)  gelaufen." 
Berechnet  ist  der  Zug,  dass  dem  Juden  ein  Woit  in  den 
Mund  gelegt  wird,  das  ihn  als  geizigen  Geldmenschen 
hinstellt:  „Du  Lump,  steck  dir  einen  Groschen  ins  Maul, 
dass  du  sechs  Heller  wert  bist!"  Überhaupt  wird  nach- 
drücklich der  Wert  des  Geldes  für  den  Juden  hervor- 
gehoben: „der  Leib  zerstochen  und  zerkratzt.  Das  Gold 
mit  dem  Beutel  genommen  (wofür  die  G.  Autl.  die  noch 
treffendere,  volkstümliche  Ironie  setzt:  mein  Bisschen  Ar- 


—     41     — 

iiiiit  mir  g-enoininen),  lauter  Dukaten,  ein  Stück  schönei- 
als  (las  andere,  um  (iottes  Willen,  lasst  den  Menschen 
ins  Gefäno;nis  setzen."  Seine  Wutausbrüclie  sind  volks- 
tünilicli-derb:  ..Du  Uiertiedlorl  Du  ]>ärenliäuter!  Du 
iJundeniusikant !" 

In  der  Form,  wie  die  :5.  Autlage  uns  das  Märchen 
bietet,  hat  das  Ganze  einen  übermüti<:-eren,  scherzhafteren 
Ton.  Statt  der  Wendun^i':  „Die;  Leute  hast  du  genuäj;  ge- 
schunden, so  geschieht  dir  kein  Unrecht",  lieisst  es  jetzt 
witziger:  Du  hast  die  Leute  genug  geschunden,  nun  soll 
dir"s  die  Dornhecke  nicht  besser  machen*',  wo  das  Wort 
„schinden"  einmal  im  übertragenen,  dann  im  eigentlichen 
Sinne  gebraucht  ist.  Auch  der  Ausdruck:  „Die  Dornen 
„känmiten"  ihm  den  Ziegenbart"  wirkt  durch  die  Ver- 
bindung der  Gegensätze  humoristisch,  l'nd  als  der  Knecht 
behauptet,  der  Jude  habe  ihm  das  Geld  freiwillig  gegeben, 
findet  er  keinen  Glauben:  sogar  der  Richter  ist  anderer 
Ansicht  und  meint  ironisch:  „Das  ist  eine  schlechte  Ent- 
schuldigung! das  tut  kein  Jude". 

Durch  Einflechtung  der  erw^ähnten  Zusätze  hatte  das 
Märchen  schon  sehr  gewonnen.  Was  sonst  noch  angebracht 
wurde,  um  die  Anschaulichkeit  zu  heben,  ist  geringfügig. 
Im  Eingang  wird  deutlicher  gezeigt,  wie  sich  der  einfältige 
Knecht  von  Jahr  zu  Jahr  hinhalten  lässt,  im  Dienst  zu 
bleiben.  Bestimmter  wird  der  Jude  auch  in  seinem  Äussern 
umschriehen:  ein  Jude  „mit  einem  langen  Ziegenbart",  „mit 
einem  schäbigen  Rock"  bekleidet.  Die  Schilderung  des 
Tanzes  auf  dem  Richtplatz  geht  mehr  ins  Einzelne  und 
führt  vor  allem  den  kindlichen  Zug  an,  dass  sogar  „die 
Hunde  sich  auf  die  Hinterfüsse  setzen''  und  am  Tanze 
teilnehmen. 

Der  abstrus-gelehrte  Johann  Praetorius,  der  durch 
seine  Schriften  auch  für  die  deutschen  Sagen  der  Brüder 
Grimm  eine  wichtige  Fundgrube  bildete,  erzählt  in  einem 
recht  trockenen  und  hölzernen  Stil  das  Märchen  von  den 
Kindern  in  Hungersnot  (II,  57) ').    Bei  ihm  ist  die  sagen- 

')  Abenteuerlicher  Glückstopf  S.  191 1'. 


—     42     — 

liafto  (jesfliiclitf.  di«'  ri  miiiKlIicIicr  Llx-rii'li'riiiiL'  verdankt, 
an  don  Ort  Ciriilclitz  hei  K;r''i'  anf/fknüplt.  Der  Inhalt  ist 
kurz  loli^ciidcr:  Kinc  Mnttci'  kann  sich  mit  ihrfii  ht'ich^n 
Töchtern  nicht  nicjir  voi-  (h'in  IIun;_'cM(>d»'  retten,  zwei 
Versuche  der  hei(h'n  Mädchen,  sich  hei  iiiihltäti;rcn  J^cuten 
etwas  J'jiot  zu  verschallen,  können  nicht  die  Not  dc-r  Zu- 
kunft ahwchren,  sie  lallen  mit  ihrer  .Mutter  in  einen  tiefen 
Schlaf,  und  die  Alte,  die  in  der  Verzweiflun;.^  schon  Hand 
an  ihre  Töchter  legen  wollte,  verschwindet  auf  Ninuner- 
wicdcrsehen.  Oh  dies  eine  ..Geschichte  oder  ein  Gedichte 
sei",  sagt  Praetorius  unsicher,  „lasse  ich  dahingestellt". 

Unter  den  geringen  stilistischen  Änderungen,  die  die 
Brüder  vornalimeii.  um  die  KrziihhiiiL''  liesser  abzurunden, 
ist  der  Parallelismus  in  den  Antwoiten  der  Töchter  be- 
merkenswert. Beide  entgegnen  auf  das  grausige  Ansinnen 
der  Mutter  regelmässig:  „Ach,  liebe  Mutter,  schont 
meiner,  ich  will  ausgehen''  usw.  p]i)enso  wiederholt 
Grimm  im  Gegensatz  zur  Vorlage  au  geeigneter  Stelle: 
„da  assen  sie  mit  einander,  es  war  aber  zu  wenig,  um  den 
Hunger  zu  stillen".  Ein  Vorzug  ist  auch  der  Gebrauch 
der  Figura  ctjmologica:  „Da  legten  sie  sicli  hin  und 
schliefen  einen  tiefen  Schlaf".  Die  dürftige  Erzählung  wurde 
in  der  2.  Ausgabe  gestrichen  '). 


')  Als  Beispiel  der  oft  i)e(lantischen  und  verschrubenen  Art, 
wie  Praetorius  volkstümliche  Überlieferungen  wiedererzählt,  sei 
hier  seine  Fassung  des  Märchens  von  den  „drei  Spinnerinnen" 
(KHM.  14)  angeführt  (Abent.  Glückstopf  S.  403  f.). 

Höret  wunder!  Vor  Zeilen  soll  eine  Frau  oder  Mutter  ge- 
wesen seyn,  dessen  Tocliter  sich  durchauss  zum  Spinnen  nicht 
verstehen  wollen,  i'orsan  quia  Lilia  non  nent,  secunduni  P2van- 
gelium  Symboliim  Reipubl.  Anglianao:  Da  sie  auch  dergleichen 
Susannae  immer  oder  gerne  sein  wollen.  Druem  hatte  sie  von 
ihrer  Mutter  viel  Schläge  bekommen;  welches  einsmals  ein  Cavallier 
verwunderns  halben  doch  ohngefähr  mit  angesehen  und  gefraget, 
was  das  bedeuten  solle,  dass  sie  ihre  schöne  Tochter  so  marterte 
(Xemlich  weil  sie  von  der  Frauen  vielgeliebten  marlyris,  das  ist 
dem  Flachse,  Vide  ex  Biccij  herbario  in  fine  centur.  3.  Acerr. 
Kfilol.  Laurenberg:    nicht  viel  gehalten:   per  quod  quis  peccat  etc. 


—     43     -- 

Aus  „Schimpf  und  Ernst",  dor  i\nek(lotcnsaiiHnluiii(  dos 
elsässisc-hen  Franziskaners  Joh.  Pauli  (1522)  entstaninion 
die  beiden  Märchen:   Der  undankbare  Sohn  (11,59)  und: 


R.  contrariuni:  Sie  koute  das  unmässiK"e  Tliirr  nicht  vom  Spinnun 
bring'oii,  so  verpiehtet  wehre  es  (Iraiilt  und  sj)ünno  molir  Flachs 
auff,  als  sie  erlanji'en  könle.  (Sehet  solch  niendaciuni  officiosum 
hat  notwendig'  die  jTulo  Mutter  machen  müssen,  damit  sie  ihre 
eigene  Schande  nicht  entdeckclon;  welche  da  alle  am  grossesten 
gewesen  solchem  Menschen,  dci'  nicht  gesponnen  lial.)  \Vas  ge- 
schieht? Dor  Cavaliicr  saget,  das  ist  ja  gut;  Gehet  sie  mir  nur 
zum  Weibe  ich  will  gar  wohl  mit  ihrem  unverdrossenen  und  un- 
aufhiirlichen  Fleisse  zufrieden  und  vergnüget  seyn,  ob  sie  sonslen 
gleich  nichts  zu  mir  bringet.  Nun  die  Mutter  kan  dem  Menschen 
seine  eingelegte  Bitte  nicht  abschlagen  oder  die  begehrte  Tochter 
versagen:  Gibt  ihm  derentwegen  das  faule  Muster.  Drauff  sie 
der  Bräutigam  mit  ihm  und  zum  Versuche  ein  zimlith  pensum 
oder  knocken  Flach.s  zu  verspinnen  auffgiebt.  Drüber  sie  zwar 
innerlich  erschrickt,  doch  hat  sie  es  angenommen  und  für  die 
lange  "Weile  in  ihr  Zimmer  getragen  und  in  Verzweiffhing  nieder- 
geworfien.  Drüber  waren  aber  (etwan  tres  furiae  seu  larvae  in- 
fernales) drei  Weiber  vors  Fenster  gekommen;  eine  mit  einem 
grossen  breiten  Arse,  damit  sie  kaum  zur  Stuben  Thüre  hernach 
herein  zu  kommen  vermögt;  die  andere  mit  einem  gro.ssen  Damp/f- 
horne,  einem  Rhinoceroti  nicht  unehnlich,  die  dritte  mit  einem 
grossen,  breiten  Daume;  solche  bieten  ihre  Dienste  dar;  sagende 
dass  sie  alle  Tage  iinvermerkt  kommen  weiten,  und  das  auffge- 
gebene  Werk  auff.spinnen,  sofern  sie  (die  faule  Braut)  an  ihrem 
künftigen  Hochzeitstage  sagen  wolte,  dass  sie  ihre  Basen  oder 
Muhmen  wehren,  und  sich  nicht  scliärnen  würden,  sie  an  ihre 
Tafel  zu  setzen  etc.  Sie  vers])richt  solches:  Jene  halten  auch  ihr 
Wort  und  stellen  sich  alle  Tage  fleissig  ein  zur  Arbeit,  damit  die 
Braut  auch  wacker  bestehet  und  zur  Belohnung  von  ihrem  Bräu- 
tigam erhält,  dass  er  sie  mit  ehestem  ehelichte.  Wie  also  die 
Hochzeit  angegangen,  stellen  sich  die  abschculige  Monstra  alle 
ein,  und  werden  auch  von  der  I5raut  wohl  respectiert  und  für 
Wesen  tituliert,  dass  dem  Bräutigamb  missgefallen.  Darumb  er 
von  seiner  Liebsten  erfraget,  wie  .sie  zu  solcher  garstigen  Freund- 
schaft gekommen  währe?  R.  Sie  sind  also  ungeheuer  von  vielen 
geworden:  Eine  als  die  Dick-  und  Breit-Arsigte  hat  sich  an  nn- 
mässigem  Sitzen  also  verwahrloset,  die  andere  hat  ihren  Daum 
nicht  minder  verschorn,  in  deme  sie  so  häufflg  den  Faden  mit 
gedrehet,  die  dritte  hat  ihr  Maul  gar  weggelecket,  drüber  die  Nase 
so  hervorraget.     Hierauff   soll    der    Bräutigam    betrübt    geworden 


—    -il    — 

hie  (liri  |'';iiil()i  (()ö)').  Der  uiHliinkburf  Sohn  hält  vor 
(li'iii  \'atcr  (his  Ksson  verstockt,  da  er's  ihm  miss^önnt 
II  11(1  iiiiiss  (liil'ür  ciiii'  Kröff!  im  üosicht  mit  soinom  nif^enon 
Mcisch  liittPi-ii.  In  der  iifiirhcitun;;  folilt  am  Schhiss  die 
Moral:  ..da  Jörnen  andon;  Kind!"  und  der  Zug,  dass  die 
Stral'o  des  Sohnes  später  durch  dio  l-'iirhitte  eines  frommen 
.Maiinos  f^a^.siihnt  wird.  Volkstümlich  ist  die  Tautologie  in 
(lom  Satze:  ..die  sass  da  iiinl  ging  nicht  wieder  weg"  (die 
mocht  ihm  niomaiid  hinweg  tuon).  Die  Wendung:  ..Die 
ICnito  sah  ihn  gütig  an"',  ist  schon  durch  den  entspreclienden 
Ausdruck  der  Vorlage:  „die  sah  ihn  knimli  an'",  genügend 
vorbereitet.  — 

Die  schwankhafte  Erzählung  von  den  drei  Faulen  ist 
mit  mannigfachen  Abänderungen,  die  sich  teils  auf  die 
Trägheitsproben  selbst,  teils  auf  ihre  Reihenfolge  beziehen, 
sehr  häutig  erzählt  worden-).  Giimni  folgt  fast  wörtlich 
der  Vorlage,  lässt  aber  den  Schluss  fallen,  der  gleichnis- 
weise die  körperliche  Faulheit  auf  geistiges  Gebiet  über- 
trägt und  eine  lange  Moralpredigt  gegen  unbussfertige 
vSündor  anschliesst.  Die  Sprache  wurde  modernisiert:  am 
Anfang  fügt  Grimm  noch  die  Bemerkung  hinzu,  dass  der 
König  in  Verlegenheit  ist,  welchem  seiner  drei  faulen 
Söhne  er  die  Krone  geben  solle,  „da  er  sie  alle  gleich  lieb 
hatte",  eine  Begründung,  die  sich  öfter  in  den  Märchen 
vorfindet,  z.  B.  in  Xr.  124,  179  usw.  (vgl.  auch  die  Ring- 
parabel  in  Lessings  Nathan.) 


seyn  und  gesaget  haben:  ..Nun  so  sollet  ihr  euer  Lebetag-e  keinen 
P'aden  mehr  spinnen,  damit  ihr  nicht  solches  Ungetüm  werdet. 
Ihr  habet  doch  vorher  schon  genug  ge.sponnen."  —  Das  wäre  ein 
Wort  für  hiesige  Jungfern  und  gut  Wasser  auf  ihre  Mühlen,  ja 
ich  halte  auch  dafür,  dass  sie  solcher  Rede  und  Aussganges  sich 
anmassen  und  befahren.  .  .  . 

1)  Pauli  ed.  Oesterley  Cap.  437  und  201. 

2)  vgl.  Gesla  Romanorum  ed.  Oesterley  S.  720.  wo  30  Varianten 
citiert  werden. 


—     45     — 

11,58.  Das  Esolein. 
Eine  Königin  gebiert  ein  junges  Eselein.  Dieses  ent- 
wickelt sich  zu  einem  ausgezeichneten  .Musikanten  und 
wird  schliesslich  trotz  seiner  Missgestalt  Gemahl  einer 
schönen  Prinzessin.  Es  ist  aber  in  Wahrheit  ein  Mensch 
und  trägt  die  Eselshaut  nur  infolge  eines  Zaubers.  In 
der  Hochzeitsnacht  wirft  er  sie  von  sich,  wird  aber  dabei 
belauscht,  und  der  König,  sein  Schwiegervater,  lässt  sie 
verbrennen.  Dadurch  ist  der  Zauber  gelöst,  und  der  Prinz 
bleibt  von  jetzt  ab  in  jMenschengestalt.  —  Vorlage  war 
das  lateinische  Gedicht:  „Asinarius."  Es  ist  in  Distichen 
abgefasst  und  zählt  404  Verse.  Die  Originalhandschrift, 
ein  Strassburger  Manuscript  (MSS.  Johann.  C.  105).  das 
nach  Grimms  Angabe  aus  der  2.  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts stammte,  ist  beim  Brande  der  dortigen  Bibliothek 
1870  zu  Grunde  gegangen;  wir  sind  infolgedessen  auf  eine 
andere  Fassung  angewiesen.  Das  Gedicht  ist  noch  in 
einer  Salmansweiler  Handschrift  überliefert'),  die  im  fol- 
genden zu  Grunde  gelegt  wird,  da  der  Unterschied  des 
Originals  von  dieser  Fassung  nach  den  bei  Grimm  mit- 
geteilten Proben-)  nur  unbedeutend  gewesen  sein  kann. 
Jedenfalls  konunt  er  für  eine  Beurteilung  der  Grinnuschen 
Stilisierung  gar  nicht  in  Betracht.  Trotz  seiner  Länge 
unterscheidet  sich  das  Gedicht  inhaltlich  doch  nur  wenig 
von  dem  Grimmschen  Märchen.  Zwar  ist  es  breiter  und 
ausführlicher  im  Einzelnen  als  die  Bearbeitung,  wiederholt 
redselig  manches  ohne  Grund  nacheinander,  aber  es  ist 
frei  von  grösseren  Interpolationen.  Wegen  der  fremden 
Sprache  und  der  Technik  des  Verses  musste  die  Erzählung 
auch  ohne  beabsichtigte  Veränderungen  eine  vom  Deutschen 
abweichende  Stilisierung  erhalten.  Mit  der  lateinischen 
Sprache  war  der  antike  Hintergrund  gegeben;  Hinweise 
auf  die  alten  Götternamen  sind  nicht  verwunderlich.    Der 


1)  abg-ed ruckt   bei    Fr.    Mone,    Anzeiger  f.  Kunde  d.  tcutsch. 
Vorzeit  1839  S.  551  ff. 

^)  KIIM  III,:i  8.  -i-iTf. 


—     4(i     — 

köiii^liclic  \;itcr  scliwr.rt  hei  .Jiiiijiitcr  und  den  oI^toii 
Ocittorri  (pono  .Jovoin  testeiii  2:'>9;  te.stor  ego  siiperos  ft 
ceteni  numiiui  juris  2;')]);  dio  K/Jnijfin  wendet  sich  in 
tägliciicii  (icliotcji  an  die  ntirnina,  ihr  (;inen  Erheri  zu  hc- 
schereii  (21).  alter  .J.nciiiii"  ist  ungünstig  (7).  Aiifh  im 
(ihrigen  hech'cnt  sich  das  (Jedicht  nietttiiymisch  (h-r  Ix-kannten 
(lütternainen:  Thoehus  uhi  fessos  in  niare  niergit  e(|uos; 
(124)  —  (iiiinfiiic  i('(h't  pulsis  nitihins  Aurora  tenehris, 
(325)  etc.  AulTaihMid  g(Miug  ist  (his  Bestrehen  (h'S  unl)e- 
kannten  Verfassers  (hirch  rhetorische  Pracht  zu  glänzen, 
die  aHcrdings  meist  in  Ausserliclikeiten  erstarrt,  wie  viel- 
facli  in  hiteinischcn  Dichtungen  (his  Mittelalters.  Allitera- 
tionen erstrecken  sich  üher  ganze  Zeilen: 

Innc  polis  oriialur  tanto  nilescit  honore 
iit  placeat  plane  plus  jjoli.s  ipsa  polo  (293);  — 
ac  regina  ridens  ridente  niarito  (105)  ...  — 
atqiie  regit  regum  rex  duo  regna  duum  (404). 

Beliebt  sind  Wortspiele  und  Antithesen:  lionio  pene- 
trat  penetralia  regis,  prodere,  quae  vidit,  prodigiosa  volens 
(151)  —  ut  doctore  suo  doctior  ipse  foret  (84)  —  o  res 
miranda,  plus  miseranda  tarnen  (26)  —  discunibendo  placet 
plus  concunibendo  placebit  (223)  etc.  Die  Erzählung  ist 
also  in  der  Form  durchaus  nicht  ungeschickt  und  eintönig, 
aber  von  der  einfachen  Märchensprache  von  Grund  aus 
unterschieden.  Nur  selten  hören  wir  einen  volkstümlichen 
Klang;  bei  der  Beschreibung  der  schönen  Königstochter 
gebraucht  der  Dichter  ein  in  aller  Volkspoesie  häutig  vor- 
kommendes Bild: 

Candida  delectat  facies  permixta  rubore 
ac  si  conlemplor  lilia  mixta  rosis  (199).  — 

Von  einem  bestimmten  Einfluss  stilistischer  Art  auf  die 
Grimmsche  Bearbeitung  ist  nichts  zu  verspüren;  das  deutsche 
Märchen  ist  eine  kürzere  Inhaltsangabe  der  lateinischen 
Vorlage,  deren  breite  Ausführungen  schon  deswegen  sehr 
zusammengedrängt  wurden,  weil  man  die  rhetorischen 
Mittel  der  Darstellung  nicht  gebrauchen  konnte.   Bisweilen 


—     47     — 

wurden  auch  gnissere  Partion  unterdrückt.  Dif  laii^r  Kla<,'e 
des  Esels  über  seine  Missgestalt  (94  — lOG)  und  die  aus- 
führliche, nicht  uninteressante  Verlobungsszene  des  jtingen 
Paares  (275—325)  sind  bei  Grinmi  in  die  kurzen  An- 
deutungen gcfasst:  „darüber  ward  es  so  betrübt"  und: 
„Also  ward  eine  grosse  und  prächtige  Hochzeit  gehalten". 
Jeder  Hinweis  auf  das  antik(;  Element  niusste  schwinden, 
ebenso  auch  einige  lüsterne  Stellen;  anstatt  der  üppigen 
Beschreibung  der  Hochzcn'tsnacht  der  jungen  Eheleute 
(317—24)  hören  wir  bei  (jrinuu  nur:  „da  ward  die  Braut 
Iroli,  küsste  ihn  und  hatte  ihn  von  Herzen  liel)".  Die 
junge  Prinzessin  ist  l)ei  Grimm,  wie  fast  alle  Königstöchter 
des  .Märchens,  ..w^underschön",  die  Vorlage  macht  uns  ein- 
gehender mit  ihren  kcirperlichen  Eeizen  bekannt  (184  ff.). 
Die  Bearbeitung  aber  wollte  nicht  bloss  einen  in 
schlichter  Sprache  gehaltenen  Auszug  liefern,  sondern  fügte 
ihrerseits  dem  Text  schmückende  Zusätze  bei.  in  denen 
sich  namentlich  die  volkstümliche  Ausdrucksweise  bemerk- 
lich macht,  z.  B.  Eselein.  was  ist  dir?  Du  schaust  ja  sauer 
wie  (M'n  Essigkrug?  (Die  tili,  (luid  obest?  cur  tristis  et 
unde  doloris  Stimulus  iste  cadat?  243.)  Von  volkstümlichen 
Zwillingsformeln  begegnen:  „Darüber  klagte  sie  Tag  und 
Nacht"  (dem  Lat.  nachgebildet:  nocte  dieque  rogat  22),  ..es 
Avar  auf  einmal  ganz  lustig  und  guter  Dinge",  „es  war 
voll  Trauer  und  Angst"  (multo  stimulante  dolore),  wie  die 
Mutter  das  erblickte,  ting  ihr  Januner  und  Geschrei  erst 
recht  an  (hoc  foetu  viso  matcr  iam  peperisse  dolet  28) 
und  das  charakteristische:  „Es  half  aber  alles  nichts,  das 
Eselein  ,wollt  und  musste'  die  Laute  schlagen",  wo  die 
Tautologie  echt  volkstümlich  die  Unabänderlichkeit  des 
Entschlusses  ausdrückt.  Auch  der  ^Monolog,  in  dem  der 
Sprechende  sich  selbst  in  der  2.  Person  anredet,  im  eigent- 
lichen Sinne  also  ein  Zwiegespräch  mit  sich  selber  führt, 
ist  eine  schon  von  Jakob  Grimm  gewürdigte  Eigentihn- 
lichkeit  der  einfachen  Volkssprache.  Hierfür  ein  Beispiel: 
er  dachte,  was  hilft  das  alles,  du  musst  wieder  heim 
(cogitat    ad  patrios   velle  redire    lares  230).    —    Von  dem 


—     48     — 

l*]s('lt'iii.  iils  <l('i'  Jji('bliii;^fsli;^nir'  <I<.'S  Marcli<Mi.s,  wii'd  iiiinier 
mit  cinrr  ^'rwisscii  Zi(M'liclikf*it  j^'osproclien;  so  orschoint 
CS  stets  in  «li-r  Doniiiiutivfonii,  iMiiij^o  Mal  im  üoj^onstitz 
ziii'  Voila^'c:  „ich  bin  kein  «((iinoinos  StallesehMii'".  wo  man 
so^^ai'  (las  Lateiiiisclie  Ix'greifliclior  linclot:  nun  sum  vul- 
«raris  asiniis,  nt.'C  sum  stabularis  (181).  —  ..Also  ward 
(las  Esolein  aul'f^ezogen.  nahm  zu  und  die  (Jlircii  wuchsen 
ilini  auch  ..fein''  hoch  und  grad  Jiinauf  (aures  attollit  in 
altum  41).  —  Das  ..edle  Tieilein'"  weiss  sich  ..gar  fein 
und  säulierlich"  zu  licnehmcMi  (inter  coenandum  bene  servit 
ascllus  cidcni  215),  und  der  Kfjnig  will  wissen,  ob  es  sich 
als  EluMnann  auch  ..lein  artig  und  manierlich"'  betrage 
(ut  vidcat  ([uid  ;»gant  hie  ascdlus  et  haec  doinicella  :307}.  — 
(ianz  dem  Märchenstil  entsprechend  ist  die  freimütige  Art, 
wie  der  Diener  vor  seinem  König  auftritt  und  ihn  an- 
redet: ,, Wacht  selber  die  folgende  Nacht,  ihr  werdet's 
mit  eigenen  Augen  sehen,  und  wisst  ihr  was,  Herr  König 
nehmt  ihm  die  Haut  weg.'' 

11,60.  Die  Riil)(\ 
Für  das  Märchen  wurde  das  lateinische  Gedicht 
„Raparius"  benutzt,  das  dem  el)en  behandelten  in  Bezug 
anf  äussere  Form  ganz  ähnlich  ist.  so  dass  man  für  beide 
denselben  Verfasser  annehmen  darf.  Das  von  den  Brüdern 
benutzte  Originalmanuscript,  eine  Strassburger  Handschrift 
des  15.  Jahrhunderts  (MSS.  Johann.  C.  102)  hat  das  gleiche 
Schicksal  wie  der  „Asinarius"  gehabt,  aber  auch  hier 
bietet  eine  Salmansweiler  Handschrift  genügenden  Ersatz. 
Eine  andere,  Wiener  Handschrift  weicht  nur  in  Neben- 
dingen ab  und  geht  vielleicht  in  das  13. — 14,  Jahrhundert 
zurück').  Der  Inhalt  ist  kurz  folgender:  Von  zwei  Brüdern 
ist  der  eine  reich,  der  andere  arm.  Der  Arme  wird  Bauer, 
und  auf  seinem  Acker  wächst  eine  grosse  Rübe,  die  er 
dem  Könige  zum  Geschenk  macht,  da  er  nichts  mit  ihr 
anzufangen  weiss.     Dafür  wird  er  reich  mit  Schätzen  be- 


i)  Fr.  Mone,  Anzeiger  1839  S.  562  ff. 


—     49     — 

lohnt.  Aus  Xeid  über  das  Cilück  seines  Bruders  brin^zt 
der  Andere  dem  König  kostbare  und  edle  Pferde  in  der 
Hoffnung,  noch  weit  grössere  Gnade  vor  ihm  zu  finden, 
er  erhält  aber  als  Dank  die  grosse  Rübe  seines  Bruders 
zurück.  Tödlich  beleidigt  trachtet  er  diesem  nach  dem 
Leben;  sein  Mordanschlag  jedoch  misslingt.  Die  bestochenen 
J^anditen  vernehmen  in  der  Ferne  Hufschlag,  stecken  den 
Gefangenen  eiligst  in  einen  Sack  und  ziehen  ihn  am  Baum 
empor.  Es  kommt  ein  fahrenden-  Schüler  vorbei,  dem  der 
Gefangene  mitteilt,  er  sitze  im  Sack  der  "Weisheit.  Da 
der  Schüler  sehr  begierig  danach  ist,  so  tauschen  sie  beide 
die  Plätze,  und  {\('v  wisseiisdurstige  Student  hat  Zeit,  über 
alle  weltumfassende  Gelehrsamkeit  dort  oben  nachzu- 
denken. —  Die  Vorlage  ist  in  der  Beschreibung  der  Si- 
tuationen sehr  ausführlich.  Eine  längere  Episode  (133—156), 
in  der  der  Verfasser  gegen  die  Habsucht  zu  Fekh;  zieht, 
beweist  auch,  dass  dem  Gedicht  didaktische  Zwecke  nahe 
lagen.  Metrum  und  Stil  sind  dieselben  wie  im  „Asinarius"; 
Allitterationen  sind  nicht  selten.  Mythologische  Namen 
tauchen  vereinzelt  auf:  um  den  Vortrag  zu  beleben,  fügt 
der  Verfasser  Bilder  und  Vergleiche  ein,  die  aber  kein 
volkstümliches  Gepräge  tragen.  Den  heimtückischen  Bruder 
vergleicht  er  mit  einem  Vogelsteller  (277,  293),  als  Bild 
des  übermässigen  Reichtums  kommt  der  ..amnis  pluvialibus 
guttis  abundans"  (193)  zur  Verwendung. 

Auch  hier  hat  Grimms  Bearbeitung  einen  kürzeren 
Auszug  geliefert  und  mit  einfachen  Worten  erzählt.  Es 
fehlt  der  Excurs  über  die  Habsucht,  der  sich  deutlich  als 
Zusatz  erwies,  und  ebenso  alle  Rhetorik  der  Vorlage.  Die 
Beifügungen  haben  denselben  Charakter  wie  im  „Eselein"; 
sie  gehören  der  volkstümlichen  Sprache  an,  z.  B.:  „er  zog 
den  Soldatenrock  aus  und  ward  ein  Bauer  (ergo  valefaciens 
Marti  non  militat  ultra  9),  —  es  wuchs  da  eine  Rübe 
gross  und  stark,  dass  sie  eine  Fürstin  aller  Rüben  heisseii 
konnte  (rapula  crevit,  quae  pleno  dici  nomine  rapa  po- 
test  16),  hing  den  Soldatenrock  an  den  Nagel  und  baute 
das  Land  (nunc  enim  aratro   rura   sero,   nunc  scindo   li- 

Palaestia  XLVII.  4 


—     50     — 

{,'0110  \)'^),  (liiss  ilinori  dor  Sclircrkon  in  dfii  Iji-W)  liilu'  iiml 
sie  Hals  iilx'i-  Kopf  ilii-eii  (Tofaii<,'oiieri  in  den  Sack  steckt<*ii 
(nee  iiioin  raptivus  in  saocuni  j)raecii)itatur  30')),  — 
ich  IuiIh'  i,a-()ss('  I)in<^'o  i.O'lcrnt,  (hif^'fgon  sind  alle  .Sfiinlcii 
oin  Wind  (liic  tantuni  vci'as  novoris  essf  sdiolas  —  scpteiii 
\)in'  partes  cognovi  quaslilx't  ai-ti-s.  si  Idirt  hie  Cato  cederet 
at(|u«'  Plato  (330)  (das  letzte  ein  dfutliclics  Ijcisjiiel  für 
(li(.'  Icoiiinisclien  Rciinspicle  in  den  Distichen).  —  Kr  machte 
ihn  steinreich  (pretiosi  niassa  metalli  viro  rege  iubente 
datnr  109)  —  sitze  also  fein  ruhig  (iani  sedeas  383)  — 
ich  wollt  dich  wohl  hinein  lassen  für  Lohn  und  gute  Worte." 
—  An  die  altertümliclie  (Bibel-)Sprache  erinnern  Ausdrücke 
wie:  „Wer  ruft  mir?"  —  ,,Um  ein  weniges,  so  werde  ich 
ausgelernt  haben"  —  „Erhebe  deine  Augen".  Im  Gegen- 
satz zur  lat.  Vorlage  ist  der  Monolog  in  der  2.  Person 
ausgedrückt:  endlich  dachte  er:  verkaufst  du  sie.  was 
wirst  du  grosses  dafür  bekommen,  und  willst  du  sie  selber 
essen,  so  tun  die  kleinen  Rüben  denselben  Dienst;  du 
willst  sie  dem  König  bringen  und  verehren  (vilis  erit  pretii 
si  venditur  rapula  ista  .  .  .  banc  regi  dabo  43).  —  Um 
der  kindlichen  Phantasie  das  Wachstum  der  Ungeheuern 
Rübe  recht  anschaulich  zu  machen,  häuft  Grimm  synonyme 
Begriffe:  Der  Same  ging  auf.  und  es  wuchs  da  eine  Rübe, 
die  ward  gross  und  stark  und  zusehends  dicker  und  wollte 
gar  nicht  aufhören  zu  wachsen,  so  dass  sie  eine  Fürstin 
aller  Rüben  heissen  konnte  (rapula  crevit  et  reliquis 
enormior  una  15). 

Es  ist  möglich,  dass  das  Gedicht  im  Elsass  heimisch 
gewesen  ist  und  aus  mündlicher  Volkssage  schöpfte. 
Fischart  gedenkt  der  Rüben  zu  Strassburg')  in  der  Redens- 
art: Rüben  nach  Strassburg  tragen  (=  Eulen  nach  Athen). 
Ob  die  von  Grimm  aus  der  nordischen  Mythologie  an- 
geführte Parallele  zur  Hängescene  in  notwendiger  Be- 
ziehung zu  dem  Märchen  steht,  dürfte  schwer  zu  entscheiden 
sein;  dagegen  entsprechen  zwei  von  Grimm  nicht  erwähnte 


J)  Einleitung  zum  Ehezuchtbüchlein  (ed.  Hauffen)  S.  123. 


—     51     — 

Erzählungen  in  Kirchhofs  Wendunmnth  (11,39  u.  40)  zu- 
sammen unserer  Geschichte.  Sie  w(M-den  an  König  Lud- 
wig XI.  von  Frankreicli  angeknüpft  und  berichten  bis  zur 
Demütigung  des  Ehrgeizigen  ähnlich  wie  das  Grimmsche 
Märchen.  Der  Mordanschlag  auf  den  Bruder  und  die 
Episode  vom  fahrenden  Schüler  fehlt.  — 

Von  den  Schwänken  des  Hans  Sachs  kommen  zwei 
als  Vorlagen  in  Betracht:  Ursprung  der  Affen*)  —  11,61. 
Das  junggeglühte  Männlein  und:  Der  dewffel  hat  die 
gais  erschaffen,  hat  in  dewffel  äugen  eingeseczt-)  -  II,  62. 
Des  Herrn  und  des  Teufels  Getier.  —  Hans  Sachs 
erzählt  die  erste  Geschichte,  um  die  Frage  nach  dem 
Ursprung  der  Affen  zu  beantworten;  das  schwankhafte 
Element  der  Erzählung  liegt  ihm  näher  als  die  märclien- 
hafte  \'erjüngung  des  alten  Mannes.  —  Der  Herr  hat 
einen  alten  Bettler  im  Feuer  zu  einem  jungen  Menschen 
umgeschmiedet.  Der  Schmied  versucht  dasselbe  Experiment 
an  seiner  alten  Schwiegermutter,  es  gerät  aber  höchst 
übel.  Völlig  ungestaltet  kommt  die  Alte  aus  dem  Löschtrog 
lieraus.  Die  beiden  schwangeren  Frauen  im  Hause  sind 
über  ihren  Anblick  so  entsetzt,  dass  sie  noch  in  derselben 
Nacht  zwei  Kinder  in  Affengestalt  gebären:  die  Ureltern 
des  Affengeschlechts.  Der  Schluss  warnt  Schwangere 
vor  schreckhaften  Überraschungen.  —  Bei  Grimm  fehlt  Ein- 
gang und  Schluss,  alles  übrige  ist  beibehalten.  Eine  ganze 
Reihe  von  Archaismen  wurde  von  den  Brüdern  bei  ihrer 
Vorliebe  für  altertümliche  Sprache  in  die  Bearbeitung 
herübergenommen.  —  Vor  Hans  Sachs  ist  der  Schwank 
bereits  von  Hans  Folz  in  rohen  Knittelversen  behandelt 
worden');  die  Moral,  die  ähnliche  Gedanken  wie  bei  Hans 
Sachs  enthält,  ist  noch  weit  ausführlicher. 

Das  Märchen  „Des  Herrn  und  des  Teufels  Getier" 
handelt  von  dem  Streit  zwischen  Gott  und  dem  Teufel. 
Dieser  hatte  die  Ziegen  erschaffen;  da  sie  aber  den  zarten 

>)  Schwanke  und  Fabeln  d.  H.  Sachs  ed.  Goetze  11,290. 

2)  Schwanke  und  Fabeln  d.  H.  Sachs  ed.  Goetze  1, 172. 

3)  Haupts  Zs.  Vin,  537  ff. 


Pllarizeii  <:ioss(>ri  Schaden  zufü^^t«Ti,  so  wurden  sie  von  den 
Wrill'en  des  Herrn  zerrissen.  Darüber  erjrriniint  verlangte 
der  Teufel  Ersatz,  her  Herr  verspricht  ihm  CJeld  zu 
zahlen,  wenn  das  Kichenlaul»  ahfällt.  Wie  die  Zeit  kam. 
und  er  seinen  Lohn  forderte,  wurde  er  helehit,  da.ss  noch 
in  Constantinoprl  eine  belaubte  Eriche  stehe.  Ein  halbes 
.Jahr  irrt  der  Jiöse  umher,  aber  wo  er  sich  auch  befindet, 
sind  die  Bäume  belaubt.  Aus  Zorn  darüber  sticht  er  den 
Ziegen  die  Augen  aus  und  setzt  ihnen  seine  eigenen  ein. 
—  Die  Bearbeitung  bringt  inhaltlich  dassell)e  wie  die  Vor- 
lage, verzichtet  aber  auf  den  Schluss,  der  l)ei  H,  ^iaclis 
vor  den  Verlockungen  des  Teufels  warnt:  er  verwandle 
sich  nicht  nur  in  Ziegen,  sondern  erscheine  auch  oft  in 
ßocksgestalt,  um  ehrbare  Männer  zu  verführen.  Die  Worte 
bei  Grimm:  „In  der  Kirche  zu  Constantinopel  steht  eine 
hohe  Eiche,  die  hat  noch  alles  ihr  Lauh"  beruhen  auf 
einem  Lesefehler;  die  Vorlage  hat:  Zu  Constantinopel  in 
Kriechen  (Griechenland).  Damit  stimmt  auch  das  Folgende 
gut  zusammen,  dass  der  Teufel  so  lange  umherirrt,  ehe  er 
die  Eiche  findet;  überhaupt  galt  Griechenland  im  ^littel- 
alter  als  eine  wilde,  unwirtliche  Gegend.  Auch  die  Stelle: 
„er  hetzte  aus  Güte  und  Gnaden  seine  Wölfe  dran"  ist 
durch  eine  falsche  Verbindung  der  Sätze  in  der  Vorlage 
entstanden.     H.  Sachs  schreibt: 

Und  sach  darzu  wie  die  gaispoeck  .  .  . 
Detten  den  pllanzen  grosen  .schaden. 
Das  jamert  in  aiis  ffüet  und  gnaden 
Und  iietscbet  seine  wült"  an  sie  usw. 

Hieraus  ergibt  sich,  dass  sich  das  Mitleid  Gottes  auf 
die  durch  die  Ziegenböcke  beschädigten  Ptlanzen  bezieht. 
Das  hat  auch  allein  einen  Sinn.  —  Der  Wortlaut  ist 
vielfach  durch  die  Vorlage  beeinflusst  und  zeigt  alter- 
tümliche Formen. 

11,63.    Der  Hahnenbalken. 
Bearbeitet    nach    Friedrich    Kinds    Gedicht    gleichen 
Namens  in  Beckers  Taschenbuch  1812.     Die  Vorlage  er- 


—     53     — 

zählt  (las  Mürchon  in  15  nicht  eben  poesievollen,  aber 
glatt  und  leicht  (hihinfliessenden  Versen  als  scliwankhafte 
Anekdote.  Der  niiin-hcnhaftc  Kern  der  Erzählung,  die 
Wirkung  des  glückbringenden,  vierblättrigen  Kleeblatts, 
\vird  nebenbei  behandelt;  der  Schluss,  wo  berichtet  ist, 
(hiss  das  Mädchen  in  ihrer  Verblendung  ein  blühendes 
Flachsfeld  für  Wasser  hält  und  durchwaten  will,  —  eine 
uralte  Vorstellung,  die  sich  unter  anderm  auch  in  der  Sage 
von  Eodulf  und  Runietrud  findet')  —  leicht  ins  Schwank- 
hafte hinübergespielt.  Dem  ist  auch  der  sprachliche  Aus- 
druck angepasst,  der  absichtlich  groteske  und  lächerliche 
Vergleiche  bevorzugt: 

„Er  winkt;  der  Hahn  flie,<rt  von  der  Wand 

Der  Bühne  auf  des  Meisters  Hand, 

Hebt  hoch  die  Krause  und  begrüsst 

Das  "Volk,  läuft  dann  zum  Baugerüst, 

Und  scheint  gar  scharf  hei  muntrem  Krähen 

Den  stärksten  Baumstamm  zu  erspähen. 

Geübter  als  ein  Altgesell 

Hebt  er  die  stärkste  Eiche  schnell. 

Schwingt  dann  die  Bürde  säuberlich 

Mit  einer  Pfotfe  über  sieh: 

Sie  ragt  hoch  wie  der  Turm  zu  Babel 

Und  kerzengrad  auf  seinem  Schnabel." 

„Hans  Hagel"  sieht  mit  grosser  Verwund(!rung  zu.  Das 
Mädchen,  das  vom  Zauber  frei  geblieben  ist,  klärt  die 
Menge  über  ihre  Verblendung  auf;  die  Kache  des  Hexen- 
meisters lässt  nicht  auf  sich  warten.  Bei  einem  Festzuge, 
den  der  Dichter  ausführlich  schildert,  und  der  in  seiner 
Art  sehr  gut  die  derbe  Lustigkeit  des  Kleinstädters  zutu 
Ausdruck  bringt,  wird  das  Mädchen  durch  die  List  des 
Zauberers  „vorm  Schützencorps  und  Magistrat"  im  eigent- 
lichen Sinne  des  Worts  biossgestellt.  Den  Schluss  bildet 
eine  Lehre,  die  er  humoristisch  mit  Beziehung  auf  die 
ebenerwähnte  Strafe  des  Mädchens  folgendermassen  for- 
muliert: 


1)  Grimm,  Sagen  II,  ;:595. 


—     54     — 

„Lass  du  (IcDi   liaiiklpr  sf-iiit-n  Salm, 
iJem  Volk  (l(;ii   Halk*-ii  für  den  Halm, 
Niclit  stets  wii-d  Klarlii-it  dicli  unihellen, 
1)01-  (laiikler  wt'iss  ditdi  blusszii.stftllen." 

Dir  F>cajl)('itiiiig-l)escliränkt  sich  uiifdio  Krwälimnif,' der 
Jlaupt[)uiiklo,  diu  sie  schlicht  aneirmridor  reiht.  Der  spass- 
hafto  Ton,  der  die  Vorlage  beherrscht,  ist  völlig  ver- 
scliwundeii,  wie  denn  Grimm  bezeichnenderweise  den 
drastischen  Vorfall  sich  auf  dem  Hochzeitsgange  der 
Braut  abspielen  lilsst.  Der  Schauplatz  (in  der  Vorlage 
Schwaben)  wird  nicht  erwähnt.  — 

Volkstümlich  ist  die  sprichwörtliche  Redensart:  und 
jagten  den  Hexenmeister  mit  Schimpf  und  Schande  fort 
(Hans  Hagel  griff  zu  Stein  und  Kot  Und  wählt  des  Gauklers 
Kopf  zum  Ziele:  doch  der  entkam  im  Volksgewühle.)  Auch 
der  Paralh'li.smus  in  der  Wendung:  „Da  gingen  ihr  die 
Augen  auf  und  sie  sah,  dass  sie  mitten  in  einem  blau- 
blühenden Flachsfeld  stand"  ist  nicht  etwa  eine  leere 
Wiederholung,  sondern  eine  Eigentümlichkeit  volksmässig- 
archaisierenden  Sprachgebrauchs').  (Vorl.:  erblickt  sie 
nur  ein  Feld  mit  Flachs);  —  ,.den  Balken  balancieren" 
heisst  bei  Grimm  anschaulicher  und  mit  Umgehung  des 
Fremdworts:  „und  trug  ihn,  als  war  er  federleicht".  — 

Eine  Erzählung  aus  dem  Paderbörnischen  und  in 
Fr.  Mones  Anzeiger  1835  (p.  408)  stimmen  in  der  Haupt- 
sache mit  unserem  Märchen  zusammen;  in  ersterer  fehlt 
die  Rache  des  Zauberers-). 

11,67.     Das  Märchen  vom  Schlauraffenland. 
Zu  Grunde  liegt  das  mhd.  Gedicht  unter  dem  Titel: 
So  ist  diz   von   lügenen'').     Die  Anklänge    an    das   weit- 

1)  W.  C4rimm  erklärt  es  für  einfacher  iind  kindlicher  zu  sagen: 
„meine  Ohren  hüren"  statt:  ich  höre.  Erstere  Wendung  könne 
nur  Unverständigen  ein  Pleonasmus  sein  (Sendschreiben  an 
Gräter  S.  29). 

2)  KHM.  lir^  S.  149. 

3)  C.  H.  3Iüllers  Samml.  deutsch.  Ged.  a.  d.  12.— 14.  Jhrd. 
in,  14.    vgl.  Haupt  und  Hoffmann,  Altd.  Bl.  1,103. 


verbreitete ')Märcheii  vom  glücklichen  Lande  der  Schlaraffen 
treten  aber  fast  ganz  zurück;  bloss  die  Linde  mit  lieissen 
Fladen  und  der  Honigfluss  kfinnten  darauf  hinweisen.  Da 
al)er  die  Erzählung  sonst  sich  in  dan  Formen  des  Lügen- 
märchens bewegt,  und  auch  die  Überschrift  auf  die  folgende 
Anhäufung  von  unerhörten  und  unmöglichen  Dingen  auf- 
merksam macht,  so  ergibt  sich  daraus,  dass  das  Märchen 
mit  Unrecht  als  eine  Beschreibung  des  Schlaraffenlandes 
angesehen  wird-).  A'on  Schlaraffen  als  faulen  Schlemmern 
oder  Phantasten  ist  nirgends  die  Rede.  Das  Gedicht  be- 
ginnt: ..Ich  sach  eins  males  in  der  äffen  zit"  usw.,  w^ofür 
Grinun  ohne  weiteres  „In  der  Schlauraffenzeit"  einsetzt. 
Die  Angabe  „in  der  äffen  zit",  die  im  15.  Jahrhundert 
öfter  ohne  jeden  Gedanken  an  die  „slüraffen"  vorkommt, 
ist  zu  vergleichen  mit  solchen  in  andern  Lügenmärchen, 
wie  z.  B.  zu  Weihnachten  im  Sommer,  zu  Pfingsten  auf 
dem  Eise  usw. 

Die  Vorlage  ist  ein  kunstloses  Produkt  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert mit  vielen  unreinen  Reimen.  Die  Darstellung 
bemüht  sich  nicht,  abzuwechseln,  sondern  reiht  die  einzelnen 
Sätze  meist  mit  den  einleitenden  Worten:  Dö  sach  ich  .. . 
an  einander.  Der  Mangel  stilistischer  Ausdrucksmittel  ist 
auch  auf  die  Bearbeitung  von  übelm  Einfluss  gewesen,  ob- 
gleich sich  diese  hütet,  der  Vorlage  mechanisch  zu  folgen. 
Einzelnes  wurde  mehr  hervorgehoben:  da  kam  eine  Schnecke 
gerennt  (dO  sach  ich  einen  snecken)  eine  alte  Schindmähre 
(ein  beesez  pfert),  ein  bitterscharfes  Schwert  (vil  boesez 
swert),  von  einem  tiefen  Tal  auf  einen  hohen  Berg  (von 
eime  tal  üf  einen  berc).  Für  „ern"  setzt  die  Bearbeitung 
dasmundartliche  „zackern",  statt  des  allgemeinen  Ausdrucks: 

dö  sach  ich  ein  rote  kuo 
daz  bröt  in  den  oven  tuon 

die  W^endung  aus  der  Handwerkssprache  „eine  rote  Kuh 
schoss  dasBrot  in  den  Ofen"'').    Die  unsaubere  Schlusspointe: 


1)  vgl.  E.  Schmidt,  Charakteristiken  11,  51  ff. 

2)  Beiträge  von  Paul  u.  Braune  V,  41ü. 

3)  (Irimm,  Deutsch.  W.-B.  9,40. 


—     ÖG     — 

du  si)rach  ein  huoii : 

est  ftz  geseit, 

ein  unjrofiioc  scl)ei/.  uf  dif  biuoili, 

r-st  fiz  H'est'it 

heisst  bei  Grinini  zierlich:  ..Da  krähte  ein  Huhn:  Kickeriki! 
Das  Märchen  ist  ausverzälilt.     Kick«'riki!'" 

Di(?  ]karl)eitunt,'  ist  nicht  oiine  Irrtümer.  Der  Text 
(h3r  Vürlaf(e: 

do  sac-h  ich  zwei  rindor 
zwo  geize  bringen 

wurde  infolge  eines  Versehens  (Gr.  las  .Kinder  statt  .Rinder") 
unifj^e formt:  „Zwei  Kinder,  die  würfen  zwei  Zicklein"'.  Ein 
gleicher  Fehler  steckt  in  der  Wendung:  ..Und  im  Hof 
standen  vier  Rosse,  die  droschen  Korn  aus  allen  Kräften'', 
wofür  die  Vorlage  bietet: 

du  sach  ich  vier  rösser 
üz  howe  körn,  dreschen. 

(=  aus  Heu  Korn  dreschen).  Erst  hierdurch  wird  der 
Gegensatz  der  mit  einander  verbundenen  Begriffe  herge- 
stellt, wie  er  für  das  Lügenmärchen  notwendig  ist.  —  Be- 
deutung und  Zusammenhang  erfordern  für  den  Ausdruck: 

dö  sach  ich  ein  vil  b(esez  swert 
houwen  eine  slegebrueke  enzwei 

das  Gegenteil  der  Grimmschen  Übersetzung,  also  nicht 
ein  „bitterscharfes"  Schwert,  sondern  ein  sehr  stumpfes, 
denn  es  soll  ja  gerade  das  Unmögliche  mit  der  Redensart 
ausgedrückt  w^erden.  — 

Die  beiden  folgenden  Märchen  unterscheiden  sich  wenig 
von  ihrer  Vorlage.  Das  dithmarsische  Lügenmärchen 
(11,68)  ist  die  Prosaumschrift  eines  Tanzliedes').  Der  im 
Zusammenhang  etwas  unklare  Satz:  ,.de  Wahrheit  kommt 
by  groten  hupen  und  blief  doch  nicht  verschwegen",  worin 
man  keinen  Widerspruch  entdecken  kann,  blieb  in  der 
Bearbeitung   weg.     Die   Worte:    .,se    segelten    bv    iJ:roten 


1)  Anton  Vieths  dithmars.  Chronik  1733, 111  =  Uhland,  Volks- 
lieder, 24Ü. 


—     57     — 

hupen''  sind  irrtümlicli  als  ..über  gTOsse  Hufen"  verstanden 
und  demgeniäss  übersetzt  worden:  „und  schifften  über 
grosse  Äckrr  hin";  .,by  groten  hupen"  iieisst  aber  ..haufen- 
weise". —  Aliitterierend  lieisst  es  einmal:  fein  langsam 
und  leise  (de  schwammen  also  lise).  Die  6.  Auflage  fügte 
den  hübschen  !>chluss  hinzu:  Macht  das  Fenster  auf, 
damit  die  Lügen  hinausfliegen.  — 

Das  Rätsel märchen  (II.  6i))  ist  aus  einem  Volksbuch 
aus  dem  Anfang  des  U).  Jahrhunderts  abgedruckt ').  Das 
Märchenhafte  der  Erzählung  liegt  in  der  Verwandlung  der 
Frau  in  eine  Blume;  ähnliche  Verzauberungen  kommen 
häutiger  vor  z.  B.  im  Liebsten  Roland  (56)  und  im  Funde- 
vogcl  (51).    Die  Sprache  zeigt  geringe  Modernisierung. 

IL  ()6.  Die  heilige  Frau  Kummcrniss. 
Die  Legende  erzählt  von  dem  Märtyrertod  einer  portu- 
giesischen Königstochter  Wilgefortis,  die  als  Christin  sich 
nicht  mit  einem  heidnischen  Prinzen  vermählen  wollte  und 
deshalb  Gott  anflehte,  ihre  »Schönheit  zu  zerstören  und  ihr 
einen  Männerl)art  wachsen  zu  lassen.  Das  Wunder  geschah, 
und  sie  wurde  von  ihrem  grausamen  Vater,  der  sie  zu  der 
verhassten  Heirat  hatte  zwingen  wollen,  zum  Kreuzestode 
verurteilt.  —  Vor  ihrem  Heiligenbilde  kniete  einst  ein 
Geiger  und  spielte  ein  schönes  Lied.  Zum  Dank  dafür 
Hess  das  Bild  einen  goldenen  Pantoffel  niederfallen.  Das 
Fehlen  des  Schuhes  wurde  bald  bemerkt,  es  geschah  Um- 
frage, und  der  Spielmann,  bei  dem  er  gefunden  wurde,  sollte 
wegen  Kirchenraubes  gehängt  werden.  Auf  seinem  letzten 
Gange  bat  er  sich  die  Gnade  aus,  noch  einmal  vor  der 
Heiligen  spielen  zu  dürfen;  es  wird  ihm  erlaubt,  und  wie 
er  einen  Bogenstrich  tut.  lässt  das  Bild  auch  den  zweiten 
Schuh  fallen,  und  der  Geiger  wird  freigelassen.  — Die  Bear- 
beitung folgt  fast  wörtlich  der  Fassung  im  Andreas  Strobls: 
Ovum  paschale  (Salzburg  1700)  p.  ^IGf.  Der  Bericht  des 
Wunders  wurde  etwas  abgeschwächt,  im  übrigen  aber  lässt 


1)  vgl.  Haupts  Zs.  HI,  34. 


—     58     — 

siel)  ciiM'  al)\v('i<'liMi(l('  Stilisif'iiiii;f  iiiclit  iTk'.'iirifMi.  Zwar' 
ist  dir  Sj)racli('  flwas  modciiiisifrt.  doch  blickt  der  alter- 
liiinliclii'  (iiiHid  noch  iil)crall  liervor.  Der  latcinischfi  Xamo 
(h'r  .Jiiii;4'lriui  Wil^^olorlis  wurde  unterdrückt,  chonso  die 
Wen<lung:  das  Valetc  nehmen  mit:  „zu  guter  Letzt  Abschied 
nehmen"  übersetzt.  j)ie  fJewäliiung  tler  letzten  Bitte 
erinnert  an  di(!  Episode  des  Märchens  vom  .Juden  im  Dorn. 
Im  „Geiger  zu  Gmünd"  hat  Justinus  Kerner  die  Legende 
l)0(!tisch  l)earbeitet ').  Mit  gutem  l^echt  ist  hier  statt  der 
Wilgel'ortis  die  Schutzpatronin  der  Musik,  die  „sanges- 
riiiche  Cäcilie"  als  Heilige  eingeführt  worden. 

Der  Ursprung  der  Legende  ist  dunkel.  Man  bringt 
sie  in  Zusammenhang  mit  den  bekleideten  Christusstatuen 
des  .Mittelalters-),  andere  knüpfen  sie  an  germanisches 
Heidentum  an').  Der  Kultus  der  Heiligen  blühte  haupt- 
säelilich  im  Westen  Deutschlands,  von  wo  er  sich  \v(»itei- 
ausbreitete.  Die  Namen  werden  vielfach  variiert;  Stroi»! 
nennt  sie  noch:  Liberata.  Daneben  bestehen  Bezeich- 
nungen wie:  St.  Gehülfe,  St.  Hilfe,  das  vlämische  Ontcom- 
mena  (-  Liberata),  aus  dem  sich  vielleicht  durch  Volks- 
etymologie die  Benennung:  „heilige  Frau  Kümmernis"  ent- 
wickelt hat.  Bisweilen  wird  auch  ein  männlicher  Heiliger 
darunter  verstanden:  St.  Kummerus.  — 

Eigenartig  ist  die  Entwickelungsgeschichte  der  beiden 
schönen  Märchen:  Von  den  Fischer  und  sine  Fru  (1,19) 
und  Von  den  Machandelboom  (1,47).  Sie  stammen 
aus  der  Feder  des  Malers  Philipp  Otto  Runge,  der  sie 
im  Januar  1806  in  vorpommerscher  ^Mundart  niederschrieb. 
Noch  am  7.  Januar  teilt  er  seinem  Bruder  Gustav  in 
Wolgast,  woher  er  selbst  stammte,  mit,  dass  er  ihm 
gelegentlich  zwei  „Löögschen"  (=  Kindermärchen)  zusenden 
wolle,  die  ausserordentlich  schön  und  vollständig  seien, 
wenn  er  nur  Zeit  zum  Aufschreiben  fände"*).  Am  24.  Januar 


1)  Gedichte,  182G,  S.  147. 

2)  Weinhold,  Zs.  d.  Ver.  f.  Volkskunde  9,322  ff. 

3)  Germania  32,461  ff. 

■*)  Runges  Hinterlassene  Schriften  I,  62. 


—     59     — 

180(5  schickte  er  sie  an  seinen  Freund  Joli.  Oeorji;  Zinimcr. 
den  Verleger  dtT  Romantiker  in  Heidelberg,  als  Dank  für 
den  1.  Hand  des  Wundeiliorns.  das  Zimmer  als  erstes  Weik 
in  Heidelberg  herausgab.  Ki-  schreibt  über  seine  Märchen 
folgendes:  ..Ich  sende  Ihnen  hierbei  zwei  plattdeutsche 
Dülinehen,  Avie  sie  die  Kinderfrauen  wohl  erzählen,  man 
tindet  sie  selten  so  vollständig  und  ich  habe  mich  bemüht, 
sie  so  aufzuschreiben,  wie  sie  sich  anhören  ....  Ich 
glaube,  ^venn  es  jemand  übernähme,  dergleichen  recht  zu 
sammeln,  und  hätte  das  Zeug  um  das  Eigentliche  zupacken, 
dass  es  schon  der  Mühe  verlohnen  würde;  vorzüglich  wäre 
nie  zu  vergessen,  dass  die  Sachen  nicht  gelesen,  sondern 
erzählt  werden  sollten  ')".  Hieraus  geht  deutlich  hervoi'. 
dass  er  selber  mit  bewusster  Technik  der  Darstellung  an 
den  Märchen  gearbeitet  hat.  Mit  feinem  Empfinden  betont 
er  das  musikalisch -rhythmische  Moment  der  Märchen- 
sprache, die  sich  der  mündlichen  Ausdrucksweise  anzu- 
passen habe.  Von  Zimmer  erhielt  Arnim  (1808)  das 
Rungische  Manuscript  ausgehändigt:  eine  Anfrage  Arnims 
beim  Verfasser,  ob  er  mit  dem  Abdruck  der  Erzählungen 
in  der  Zeitung  für  Einsiedler  einverstanden  sei,  hatte  d(Mi 
gewünschten  Erfolg.  In  allzugrosser  Bescheidenheit  spricht 
sich  Runge  nur  ein  geringes  Verdienst  an  der  Wieder- 
gabe der  Märchen  zu,  da  es  hioss  Zufall  sei,  dass  er  sie 
so  vollständig  zu  hören  bekommen  habe-).  Er  stellt  noch 
ein  drittes  ^lärchen  vom  starken  Hans  (dem  plattdeutschen 
Herkules)  in  Aussicht,  über  den  wir  aber  nichts  Bestimmtes 
erfahren.  Am  9.  u.  12.  Juli  1808  kam  der  „Machandel- 
boom" zum  Abdruck;  der  ,. Fischer"  wurde  nicht  mehr 
aufgenommen,  da  Arnim  die  Erzählung  nicht  für  ein  eigent- 
liches Kindernlärchen  hielt.  ..Die  Fabel  vom  Fischer 
schien  mir  damals,  als  ich  den  Machandelboom  abdrucken 
liess",  schreibt  er  an  die  Brüder  Grimm''),  ,.kein  eigent- 
liches Kindermärchen,   und  darum  nahm  ich  es  nicht  auf, 

1)  Runges  Schriften  I,  64. 

2)  Runges  Schriften  1,185. 

3)  Steig,  A.  V.  Arnim  Ill,2()2. 


—    (■)()    — 

weil  ich  in  drill  Kivi.-,c  der  IciM  zu  schliessenden  Zeitung 
nur-  rrclit  clKu-iiklfjri.siisclif  Siii^cii  wünschte.  Selbst  der 
MacliandclbDoiii  war  mir  wcicm  einer  <rewissen.  darin 
wulmenden  (iniusjinikeit  niclit  iranz  recht,  ;il>cr  die  licriih- 
rung  mit  Ooethf;  auf  (h-r  fiim-n.  mit  dir-  noidischen  Romanze, 
die  ich  (himtils  von  Wilhehii  übersetzt  erliiclt  und  mit  dem 
(.'id  in  Hinsicht  des  Aufriciitens  toter  Leiber  (auf  der 
anderen  Seite)  bestimmte  den  Abdruck"'. 

In  einer  Anmerkung'  seiner  Zeitung  maciite  der,. Ein- 
siedler" Arnim  darauf  aufmerksam,  dass  die  Verse,  die 
der  schöne  Vogel  singt: 

Mein   Müller,  der  mich  schlact't 
Mein   Vater,  di-r  mirh  ass  .  .  . 

in  G retchens  irrem  Liede  in  der  Iverkerscene  des  Faust 
wiederklingen.  (Arnim  schreibt  statt  Gretchen  irrtümlich 
Klärchen).  Das  Folgende  deutet  auf  die  von  W.  Grinmi  aus 
dem  Dänischen  übersetzte  Romanze:  „Des  Riesen  Lang- 
bein und  Wittich  Wielands  Sohn  Kampf,  wo  die  Auf- 
stellung eines  toten  Leichnams  eine  ähnliche  Rolle  spielt 
wMe  im  Cid*).  —  Die  beiden  i\lanuscripte  lUinges  nahm 
Arnim  mit  nach  Kassel  und  üi)erlicss  sie  1809  den  Grimms 
zur  Abschrift.  Später  empfing  sie  auch  Friedr.  Heinr. 
von  der  Hagen,  von  dem  sie  dann  dessen  Freund  Büsching 
für  seine  1812  erschienene  Sagensammlung  entlehnte.  Ein 
Vergleich  der  beiden  Abdrücke  bei  Grimm  und  Büsching 
lässt  deutlich  orthographische  und  ganz  geringfügige 
stilistische  Abweichungen  erkennen.  Die  Varianten  des 
Grimmschen  Textes  kommen  auf  Rechnung  des  Verlegers 
Georg  Andreas  Reimer  in  Berlin-).  Dieser,  eingeborener 
Greifswalder,  hatte  ohne  Erlaubnis  Grimms  den  Wortlaut 
der  plattdeutschen  Märchen  nach  eigenem  Sprachgebrauch 
und  nach  Job.  Carl  Dähnerts  plattdeutschem  Wörterl)uch 
(1781)  umgeändert,  da  er  ihm  der  pommerschen  Mundart 


1)  Ztg.  f.  Einsiedler  Xo.  30.   Altdän.  Heldenlieder  S.  17. 

2)  Nachgewiesen   von    Steig.    Arohiv    f.    d.   Stud.   d.   neueren 
Spr^ichen  u.  Litt.  107,  277  ff. 


—   ül    — 

nicht  ^eiKui  zu  eiitspreclion  schien.  Stärkere  EingrilTe 
zeigt  der  Text  des  ,. Fischers",  aber  auch  das  Märchen 
vom  Machandelhooni  erlitt  X'eränderungen,  obgleich  sie 
weniger  zahlreich  und  unbedeutender  waren,  „da  die 
Abschrift  viel  correkter  und  den  Regeln  des  Plattdeutschen 
zusagender  war  als  beim  Fischer".  Da  aber  die  Anmer- 
kungen am  Schluss  besagten,  dass  es  wörtlich  nach  Runges 
Mitteilungen  abgedruckt  sei,  so  geriet  Reimer,  der  bei  der 
Drucklegung  des  Märchentextes  noch  nichts  davon  gewusst 
hatte,  in  Verlegenheit.  Er  schrieb  deshalb  am  1.  Dezember 
1812,  um  sein  Verfahren  zu  entschuldigen,  dass  schon  die 
Ungleichheit  der  Schreibart  einen  ganz  wörtlichen  Abdruck 
nicht  gestattet  hätte,  und  führt  als  f]ntlastungsgruiid  für 
sich  an.  dass  ihm  Tieck  zu  seiner  Beruhigung  mitgeteilt 
habe,  .,die  Erzählung  sei  gar  nicht  so  abgefasst,  wie  er 
sie  selbst  häufig  aus  Runges  eigenem  Munde  gehört  habe, 
selbst  in  einigen  Wendungen  und  ^Momenten  der  Entwick- 
lung verschieden ')",  Reimer  wusste  selbst,  dass  die  Mit- 
teilung Tiecks  seine  Eingriffe  in  die  Gestalt  der  Märchen 
nicht  entschuldigte  und  war  deshalb  zu  einem  nachträg- 
lichen wortgetreuen  Abdruck  bereit.  Da  aber  die  Aus- 
gabe des  Buches  nicht  verzögert  werden  sollte,  so  unter- 
blieb die  w^eitere  Änderung,  und  auf  Reimers  Veranlassung 
lautete  die  Anmerkung  zum  Machandelboom:  „Dieses 
wunderschöne  Märchen  ist  uns  von  Runge  mitgeteilt 
worden".  Über  das  Verhältnis  des  Abdrucks  zum  ursprüng- 
lichen Text  wird  nichts  gesagt. 

Steig  vermutet  mit  Unrecht,  dass  Reimer  auch  die 
Fassung  des  „Fischers"  bei  Büsching  als  fehlerhaften 
Abdruck  des  Rungischen  Märchens  bezeichnet  habe'-). 
SchwerHch  hatte  er  trotz  seiner  Änderungen  an  dem 
Grimmschen  Text  ein  derartiges  persönliches  Interesse 
an  dem  Wortlaut  bei  Büsching,  dass  er  ihn  sogar  zu  einer 
genauen    Vergleichung    herangezogen    hätte;     denn    ohne 


1)  Archiv  a.  a.  O.  S.  293. 

2)  Archiv  Bd.  107,  296. 


—     ()2     — 

dieses  N'crfaliren  würde  er  den  l.'nterscliied  gar  nicht 
l)em(!rkt  liahcn:  auch  bezeichnete  er  ihn  niclit  deshalb 
als  ((dilerhalt,  weil  er  (hjn  Grimnisehcn  Text  für  unvoll- 
kommen hit'lt  und  Verbesserungen  anliiaehte.  Vor  allem 
aber  spricht  dagegen,  dass  schon  in  einem  lirief  der 
Brüder  an  Arnim  vom  20.  St'j)t.  1812  Hüsching  der 
\'or\vurf  gemacht  wird.  (;r  habe  das  .Märchen  vom  Fischer 
ungenau  wiedergegeben").  Mit  diesem  Briefe  aber  ging  erst 
das  Drucknuinuscript  der  Märchen  nach  Berlin  ab-):  es  kann 
sich  also  i)ei  dem  Tadel,  den  sich  Büsching  von  den  Grimms 
gefallen  lassen  muss,  nur  um  die  (wohl  durch  Druckfehler  ent- 
standenen) Abweichungen  gehandelt  liaben.  die  seine  Fassung 
von  ihrer  —  wie  man  sicher  annehmen  darf  —  ganz  wortge- 
treuen Abschrift  des  Kungischen  ]\Ianuscripts  unterschieden. 
Da  diese  nun  aber  durch  Reimers  Schuld  entstellt  ist,  so 
sind  wir  nicht  im  Stande,  solange  nicht  jede  Änderung 
Reimers  als  solche  nachgewiesen  ist.  anzugeben,  wieweit 
Grimms  Vorwurf  Büsching  gegenüber  berechtigt  war. 

Der  von  Reimer  veränderte  Text  blieb  auch  in  der 
2.  Auflage  bestehen.  Die  Note  zu  No.  19  im  3.  Bande 
zeigt  jedoch,  dass  den  Brüdern  die  P>innerung  an  Reimers 
Verfahren  noch  nicht  verloren  gegangen  war.  Da  der 
Text  in  ihrer  eigenen  Sammlung  nun  noch  viel  weniger 
als  der  Büschingsche  der  ursprünglichen  Handschrift 
Runges  entsprach,  so  fehlt  hier  der  ganze  Passus  über 
von  der  Hagen  und  Büsching.  Der  Machandelboom  trägt 
den  Vermerk:  „Von  Runge  nach  der  Volkserzählung  auf- 
geschrieben," weiter  nichts.  —  Von  ganz  geringen  Ände- 
rungen abgesehen'')  überlieferten  auch  die  folgenden  Auf- 
lagen den  Text  in  der  alten  Form  bis  zur  5.  Auflage  der 
kleinen  Ausgabe  der  Märchen,  die  man  seit  1825  einge- 
richtet hatte'*).   Dann  aber  erscheinen  die  Märchen  plötzlich 


')  Steig-,  Achim  v.  Arnim  Ilf.  ilß. 

2)  Steig,  Achim  v.  Arnim  111,213. 

3)  Archiv,  S.  297. 

*)  Steig,  Achim  v.  Arnim^  III,  548. 


—     (>3     — 

in  ganz  neuer  Gestalt.  Inzwischen  (1840 — 41)  waren 
nänilicli  die  liinterlassenen  Schriften  Otto  Runges  er- 
schienen, in  denen  die  Texte  von  Daniel  Runge,  dem 
Herausgeber,  in  Hamburgischen  Dialekt  umgeschrieben 
waren.  1812  schrieb  er  bereits  an  Arnim  und  erbat  sich 
von  ihm  das  Manuscript  der  beiden  Märchen.  Das  befanti 
sich  aber  in  Clemens  Brentanos  Händen.  Ob  dieser  es 
zurücksandte,  bleibt  bei  dem  Mangel  an  Nachrichten  darüber 
unsicher.  Die  Umschrift  der  Märchen  zeigt  aber  eine  so 
weitgehende  Übereinstimmung  mit  der  ursprünglichen 
Fassung,  dass  man  notwendig  eine  ältere  Vorlage  an- 
nehmen muss ').  Es  ist  möglich,  dass  Daniel  Runge  die 
Abdrücke  in  Grimms  oder  Büschings  Sammlung  ])enutzte, 
aber  da  er  mit  keinem  AVorte  die  Zugrundelegung  einer 
fremden  Fassung  erwähnt,  so  scheint  er  das  Original- 
manuscript  der  Märchen  samt  den  Briefen  seines  Bruders 
von  Brentano  zurückerhalten  zu  haben. 

Wenig  verändert  wurde  das  Märchen  vom  Machandel- 
boom; hier  handelt  es  sich  bei  den  Abweichungen  fast 
nur  um  Sprachformen.  Beim  Fischer  dagegen  zeigen  sich 
i)edeutendere  Eingriffe.  Der  Einschub  neuer  Sätze  ver- 
ändert auch  die  alten;  am  auffälligsten  tritt  das  Bestreben 
hervor,  Detailschilderungen  zu  geben  und  den  äusseren 
Glanz  der  Situationen  mehr  hervorzuheben.  Aber  trotz 
aller  Änderungen  ist  auch  hier  die  Übereinstimmung  mit 
dem  Früheren  ganz  evident. 

Die  neue  Form  der  Märchen  wurde  von  der  5.  Auf- 
lage (1847)  ab  von  W.  Grimm  trotz  einiger  Bedenken 
angenommen.  Damit  stimmt  nun  aber  nicht  die  An- 
merkung des  3.  Bandes  (1856);  dort  steht  noch  wie  früher 
bei  No.  19,  dass  das  Märchen  in  pommerscher  Mundart 
aufgeschrieben  sei;  Grimm  vergass.  dass  er  inzwischen 
die  Alärchen  nach  Daniel  Runges  Vorgang  in  Ham- 
burgischem Dialekt  aufgenommen  hatte.    In  dieser  letzten 


•)  Anders  Stoig,  Archiv  a.  a.  O.  298. 


—     «4     — 

Form  stehen  die  Mürclien  noch  heute'  in  iinsom  Aus- 
gaben. 

Der  Erzähhin;^  vom  Fisehe-i'.  die  den  schwindelnden 
Aiifsliei;-  lind  jähen  Sturz  eines  ehr<reizi^'en  Menschen  in 
mäichenhatter  Kinkh'iching  zur  I);irste|lung  hrin;,'t.  konnte 
mit  ieicliter  litterarischer  Naclihilfe  eine  auf  den  Geist 
der  Zeit  ^^erichtetr;  Wendung  *,'e(.fel)en  werden.  Schon 
Reimer  bemeikte  1808,  dass  das  Märchen  Personen 
und  Ereignisse  der  Zeit  vortrefflich  ciiarakterisicrc'). 
Am  nächsten  hig  der  Gedanke  an  das  Parvenu-Schick- 
sal  Napoleons,  Am  29.  April  1814  schreibt  Savigny 
an  W.  Grimm,  dass  ein  Sonderdruck  des  „Fälschers"  aus 
der  Grimmschen  Sammlung  als  Biographie  des  französischen 
Kaisers  stark  gekauft  und  gelesen  werde-).  Wichtiger 
aber  ist,  dass  Arnim  in  freier,  dichterischer  Weise  das 
Märchen  vom  Fischer,  das  er  zuerst  als  Kindermärchen 
befehdet  hatte,  in  seiner  ..Päpstin  Johanna"  in  gereimter 
und  prosaischer  Fassung  bearbeitet  und  es  symbolisch 
mit  den  Schicksalen  des  weiblichen  Papstes  verllochten 
liat'').  Brentano  gedachte  die  IxMMen  Kungischen  Er- 
zählungen für  seine  Märchensammlung  zu  benutzen ""J: 
die  viel  später  von  Guido  Görres  besorgte  Ausgabe  der 
Märchen  enthält  sie  aber  nicht.  Sieber  hätte  auch 
Brentano  die  Fassung  Runges  geändert. 

Für  die  beiden  Märchen  haben  wir  endlich  ein  merk- 
würdiges Zeugnis  zu  berücksichtigen,  das  die  Frage  nach 
der  Form  des  ursprünglichen  ^lanuscripts  Runges  noch 
einmal  berührt.  Es  ist  anzunehmen,  dass  der  am  24.  Jan. 
1806  an  Zimmer  abgesandte  Text  zum  Abdruck  gelangt 
ist.  Bedenken  erregt  nur  eine  Nachricht  Brentanos^). 
Dieser    hatte    die    Rungischen    Märchen    in    der    Hand- 


1)  Zinmipr  nncl  d.  Romantiker  S.  271 

2j  bteig,  Archiv  Bd.  110,9. 

3)  Steig,  Archiv  Bd.  110,13  ff. 

•1)  Brentano,  Ges.  Schriften  VIII,  161. 

5)  Steig,  Achim  v.  Arnim  1, 151. 


—     05     — 

sclirift  «iclescM  uiul  erkaiiiitc  zwar  ilii<'  ausfrozcicliiietc 
DarstolhuiiJ:  an,  wuiulertc  sich  aljcr  darüber,  dass  das 
Märchen  vom  Machaiidelliooni  von  der  Fassung',  die  er 
aus  mündlichei'  L'beriiererung  wusste,  in  ciniii'en  Punicten 
ah\veieh(^:  ,.üer  Unterschied  ist,"'  schreibt  er.  ,.(hiss  in 
incineni  Exeniph^r  eine  g'oldene  Kette  an  einen  Vater  und 
ein  paar  rote  Schuhe  an  die  Tocliter.  in  seinem  al)er  ein 
paar  Hosen  und  ein  Weck  verschenkt  wercU'ii.""  In  dein 
Märchen,  wie  es  uns  vorUegt,  ist  aber  von  einem  solchen 
Geschenk  gar  nii-ht  die  IJede.  viehnehr  werden  el)enso 
eine  ..goldene  Kette"  und  ein  ..paar  rote  Schuhe"  ver- 
teilt, wie  Brentano  es  in  der  von  ihm  gehörten  Rezension 
gefunden  hat.  Man  kann  das  Breiitanosche  Zeugnis  nicht 
anders  verstehen,  als  wenn  man  annimmt,  dass  der  ur- 
sprüngliche Text  Thinges  von  dem  uns  erhaltenen 
mindestens  in  den  von  Brentano  angeführten  Punkten 
abgewichen  sei;  denn  dessen  Mitteilung  siidit  durch  die 
bestimmte  Gegenüberstellung  der  fraglichen  Varianten 
einem  Citat  sehr  ähnlich.  Innerhalb  {\vv  zwei  .Jahre  — 
vom  Januar  1806  bis  Januar  ISOS  —  müsste  dann  liunge 
eine  veränderte  Fassung  eingesandt  habeji:  vielleicht  hat 
ihn  Brentano  selber  auf  die  Abweichungen  aufmerksam 
genmcht.  Vermutlich  hatte  Keimer.  der  die  beitlen  .Alärchen 
im  Januar  1808  in  der  Handschrift  las'),  schon  die  end- 
gültige Fassung  vor  sich,  wie  sie  bald  darauf  in  der 
Zeitung  für  Flinsiedler  erschien,  sonst  hätte  er  bei  seiner 
späteren  Verteidigung  den  (jrimms  gegenüber  sicher  auf 
diese  Punkte  aufmerksam  gemacht,  denn  er  hätte  ja  dann 
einen  augenscheinlichen  Beweis  für  (Wo  Meinung  Tiecks 
ins  Feld  führen  können,  dass  der  Text  von  IJunge  selbst 
mit  Varianten  erzählt  wurde. 

Die  Stufenfolge  der  Entwickeluiig  ({('><  Textes  in  beiden 
Krzählungen  ist  also  di(^se: 

1.  Das  ursprüngliche  Manuscript  Jfunges  enthielt  die 
von  Brentano  gerügten  Abweichungen. 

')  Zimmei-,  Z.  ii.  d.  Ronianlikcr  S.  277. 
ralae^tra  XI.VII.  ü 


—    »;<;    — 

2.  \)vv  Abdiiick  lies  ,.,Macli;iiiilt'lhooiM.s"  in  der  Zi'ituiii: 
IUI'  J']iiisic(ll*'i'  iiml  des  ..Fiscliei.s'"  ln-i  ßüscliin;.' 
stehen  dem  (veränderten)  Uuntrisolion  Text  am 
nächsten. 

;>.  Bedeutendere  lOiiiiiiill'e  von  tremder  Hand  yj\'jL\ 
der  Ahdruck  dei-  heidcn  Märchen  hei  (irimm  isij. 

In  einem  andern  Diah^kt  erscheinen  sie 

4.  in    Run<((!S    Hinterhissenen    Schriften,     dene-n    sich 

5.  Wilhehii  Grimm  nachher  anschloss. 

Das  Originahnaniiscript  ist   nicht  wieder  aufgetaucht. 


Die  zweite  Auflage  der  ]Märclien  (1S19)  l)rachte 
nicht  nur  eine  Reihe  neuer  Erzählungen,  sondern  änderte 
auch  Tielfach  an  der  ersten  Fassung.  Auf  manche  Mängel 
der  Sammlung  war  von  den  Freunden  hingewiesen  worden, 
namentlich  hatte  Arnims  verständnisvolles  Urteil,  worauf 
die  Brüder  besonderes  Gewicht  legten,  bestimmte  Nach- 
teile gerügt.  Obwohl  die  Herausgeber  bei  ihrer  eigen- 
artigen Auffassung  des  deutschen  Volksmärchens  nicht 
alle  Einwürfe  berücksichtigen  wollten  und  konnten,  so 
zeigt  doch  die  neue  Bearbeitung  deutlich,  dass  sie  einzelnen 
Besserungsvorschlägen  Gehör  gegeben  hatten.  Auch  ihnen 
selbst  genügte  der  frühere  Zustand  des  Buches  nicht  mehr. 
Zwar  hatte  Jakob  zuerst  Arnim  gegenüber  jedes  Märchen 
in  Schutz  genonnnen.  aher  schliesslich  fand  auch  er  den 
1.  Band  unvollkommen:  „Ich  denke  nicht",  schreibt  er  an 
Wilhelm  '),  „dass  er  ebenso  darf  wieder  gedruckt  werden, 
sondern  vieles  ist  zu  bessern  und  zu  vermehren."  In  der 
neuen  Ausgabe,  die  für  die  folgenden  im  grossen  und 
ganzen  textlich  massgebend  gewesen  ist.  trat  der  Charakter 
einer  blossen  Sammlung  mehr  zurück,  und  die  Form  ge- 
wann an  durchgehildeter  Feinheit.  Die  grössten  Änderungen 
erfuhr  aber  nur  der  erste  Band.  Fragmente,  lückenhafte 
Erzählungen  und  einige  Märchen  in  altertümlicher  Sprache 
wurden  teils  durch  vollständigere  Überlieferungen  ersetzt. 

1)  Am  11.  M.ii   islö. 


—     67     — 

t(,'ils  erjiiiiizt.  luul  sn  niiiflt  das  liuch  ein  j^ariz  audei'os 
Aussclien.  Auch  im  Klciuci;  ist  die  bessernde  Hand  der 
Brüder  oft  zu  spüren.  Es  seien  die  äusseren  Veränderungen 
durch  Zahlenangaben  deuthch  gemacht.  Ausgeschieden 
wurden  Xo.  G,  8,  22.  27.  :?:5.  54.  (52.  71,  72.  77.  82,  85.  Eine 
ganze  Reihe  braclitc  man  im  ;J.  iJanih'  unter,  der  1822 
selljständig  mit  den  Vaiianten  und  Anmerkungen  erschien, 
die  man  in  der  1.  Aufhige  ..wegen  ihrer  angenehmen  und 
eigentümlichen  .-\l)\vcichuiigcn"  noch  in  den  Text  aul'- 
genommen  hatte.  In  der  folgenden  Aufzählung  der  aus- 
geschalteten ]\[ärchen  bezeichnet  die  eingeklammerte  Zahl 
den  Platz,  wo  sie  im  8.  JJande  erwähnt  werden:  es  sind 
No.  16  (62).  a2  (82),  64  I  (57),  :54  (34j,  59,  66  (127),  60.  61 
(60.  61).  68  (88).  70  (56).  78  (46),  74  (60),  75  (29),  81  (82), 
84  (Fragm.  5).  Im  2.  Bande  wurden  gestrichen  No.  83, 
43,  44.  die  Jakob  als  das  schhichteste  Stück  der  Abteilung 
bezeichnete').  57,  66.  Xo.  18  findet  sich  als  Variante  zu  1. 
86  zu  122.  Xo.  85  erhielt  einen  besseren  Platz  unter  den 
Ivinderlegenden  (9).  Im  übrigen  handelt  es  sich  hier  um 
kleinere  Formverbesserungen.  Es  kamen  ausser  den  Va- 
rianten neu  hinzu  Xo.  6—8,  16,  22,  27,  88,  85.  87,  59,  66,  68, 
7(»— 75,  77,  82-84,  95.  119.  121.  129,  130,  143,  152,  155. 
156.     Einige  sind  Kedaktionen  älterer  Aufzeichnungen. 

Die  Vorzüge  der  neuen  Ausgabe  waren  unverkennbar, 
Jvühn)end  hebtüörres  ..die  ansprechende  Harmonie  zwischen 
Inhalt  und  Form"  der  Märchen  hervor;  er  bewundert  den 
sicheren  Takt,  womit  die  Brüder  den  Ton  der  Darstellung 
getroffen  hätten,  und  versichert,  das  Ganze  sei  so,  dass 
keine  Literatur  etwas  in  dieser  Vollkommenheit  dagegen  zu 
stellen  habe-j. 

35.    Der  Schneider  im  Himmel''). 
Schon  der    schwäbische  Humanist  Heinrich  Bebel  er- 
zählt  den    bekannten  Schwank    in    seinen  Facetien   unter 

1)  Briefwechsel  zwisclien  Jakob  u.  Willieliu  (hiiiini  S.  440. 

-)  lirief  an  Grimm  vom  1(3.  Dez.  1822. 

■■}  Viii.  H,  Kollier,  Aufsätze   ed.  Bolte  u.  E.  Selmiiclt  S.  48  ff. 


—     OS     — 

der  ljl)(M-sclirirt:  ..iJc  sarciiiatoi'c  liilnilu'" ').  Aus  iliui 
scliüjirtcii  l-'rcy  ((iJirtrMijrcsf'llsclialt.  (  ai».  lo'J)  uml  Kirchliof 
( \\'cii(liiniiiiitli  l.2.''>()).  .If'dcr  von  iliin'n  lii^^tc  KlciriitrkcitrMi 
hinzu.  l''i-('_vs  Darstclluii«.'-  7A'\>^t  im  (ioj^eiisatz  zu  seiner 
\'()ilai;i'  einen  deilien  Humor,  ist  anseliaulich  und  di'amatisch 
belebt  uinl  bringt  /ueist  (b'ii  ticl'fliclion  Sebluss.  wonach 
(b'T  aus  (b'Ui  llininnd  vertriebene  Schnoider  das  Dorf  Wart- 
eiiiweil  aulsueht.  um  dort  mit  den  Landsknecliteu  zu  zeehen. 
Kirchhof  bo^qnnt  si)öttisch:  .,Ach  leider,  was  lial)e  ieli  ver- 
gessiMi?  Der  Schneider  sollte  ich  ol)en  bei  dei-  Fürsten 
und  des  Adels  Historien  Meldung;  getan  lial)eii.  sintemal 
wann  dieselbigen  all  gestorben,  sie  die  ei-sten  sein,  die 
Edelleute  werden  mögen'*,  und  fähit  dann  nach  Art  des 
Lügenmärchens  fort:  ..Ein  Stumm  hat  mir  gesagt.  da.ss 
eine  blinde  Frau  auch  gesehen,  es  hab  ein  hinckender 
Schneider  vor  Zeiten  auf  seinem  Handwerk  umher- 
gewanderf  usw.  Das  Folgende  schliesst  sich  enger  als 
bei  Frey  an  die  Vorlage  an.  Der  Schluss  lautet  echt 
märchenhaft:  ..Wer  so  fürwitzig  ist  und  gern  wissen  wollte, 
wie  es  dem  Schneider  fürder  gangen,  mag  vorm  Himmel 
danach  fragen.''  Die  Moral  bedient  .sich  des  Ovidischeii 
Distichons  nach  Bebel: 

.,Si  (jiiolios  ])ec'cant  honiines  siia  fulmina  mittat 
.Jup])iter  exiguo  tempoie  inermis  erit.'" 

Kirchhofs  Übersetzung  gibt  denselben  Gedanken  in  christ- 
hchem  Sinne  wieder. 

Die  Brüder  Grimm  benutzten  im  wesentlichen  die  Dar- 
stellung bei  Frey,  milderten  aber  einige  austössige  Stellen. 
Am  Anfang  fügten  sie  das  Zwiegespräch  zwischen  Petrus 
und  dem  bittenden  Schneider  ein,  wobei  uns  die  volksmässige 
Ausdrucksweise  interessiert:  „Petrus  fragte:  Wer  klopft? 
Ein  armer,  ehrlicher  Schneider  bittet  um  Einlassl  —  Ja, 
ehrlich  wie  der  Dieb  am  Galgen,  du  hast  lange  Finger 
gemacht  und  den  Leuten  das  Tuch  abgezwickt".  Die  Vor- 
lage   berichtet   einfach:    ,.Der  Schneider    war  gern    hinein 

1)  Opusciil.i    l.')!4.     .\n<i^al)('  vnii   l.wO,  S.  <!. 


—    ()<)    — 

licwesoii.  Peti'us  aber  wollt  ihn  iiiclit  liiiK.'iiilasscii,  (luruiii 
(lass  er  sn  niiliilliii-  in  sciiicin  LcIxmi  den  Leuten  das  ''i'ufli 
;Li"('Stolilen  liätt."  \\"\v  auch  sonst  wird  der  ^Schneider  als 
cia  kleines,  sijindiddürres  MännclKMi  vor<,fostellt.  Die 
späteren  Auflaufen  heben  seine  Winzi<:?keit  noeli  mehr  her- 
vor: er  Itittet  .jnit  einer  feinen  Stimme"  um  Eiidass  und 
spriiifi't  ..mit  seinem  dürren  Leil)e"  behende  durch  die  offene 
Himmelstür.  Von  der  4.  Auflage  ab  folgten  die  Brüder 
mit  geringen  Abweichungen  der  Wiedergabe  in  Jörg 
Wiekrams  liollwagenbüchlein  (Cap.  110'.  .Ausführlicher 
ist  hier  die  Beschreibung  des  Wundcrstuhls  Gottes;  der 
."^chluss  warnt  den  Sünder  vor  I.'bei'hebung.  In  der  Be- 
ai-beitung  blieb  am  Anfang  die  I'iiterredung  zwischen 
.l\»trus  und  dem  Schneider  und  der  launige  Abschluss  nach 
Frey.  Einmal  ist  absichtlich  ein  volkstümlicher  Ausdruck 
gewählt:  ..er  tat.  als  ob  er  kein  Wasser  getrübt  hätte" 
(..er  tat,  als  ob  er  immer  dagewesen  wäre"). 

44.  Der  Gevatter  Tod. 
Die  erste  Auflage  brachte  das  Märchen  nach  einer 
mündlichen  Erzählung  aus  Hessen.  Es  schloss  damit,  dass 
der  Tod  seinem  vorwitzigen  Paten,  der  ihn  um  die  Kranken 
l)etrog.  in  einer  unterirdischen  Höhle  die  Lebenslichter  der 
■Menschen  zeigte  und  ihn  mit  einer  Warnung  entliess.  Für 
die  zweite  Ausgabe  w'unh?  der  Schluss  nach  einer  Erzählung 
in  Friedrich  Gust.  Schillings  ..Neuen  Abendgenossen" ') 
umgearbeitet:  der  listige  Tod  stellt  sich,  als  wolle  er  seinem 
Paten  durch  Untei'setzen  eines  neuen  Lichtes  lange  Jahre 
schenken,  er  versieht's  aber  absichtlich.  dasLichtstümpfchen 
fällt  um,  und  der  .Arzt  bricht  leblos  vor  dem  gestrengen 
(ievatter  zusanunen.  Schilling  benutzte;  das  Märchen,  das 
er  wohl  aus  mündlicher  Überlieferung  kannte,  als  Grund- 
lage für  einen  weit  ausgesponnenen  Unterhaltungsroman- 
l-'iir  das  Grimmsche  Märchen  kommt  nur  der  letzte  Teil 
in  Betracht,  auch  dieser  stark  gekürzt  und  auf  die  Hau[it- 

")   Friedrich   Clust.  Scliiliinn-,  Sämtl.  Sc-iirifien  (JO.O  H". 


__     70     — 

])iinkt('  ziisiiiiiiiirii^M-diiiiiirt.  A1i;:''scIi<mi  vom  Sdiluss  wind«; 
iiiidi  dir  cfstc  FcissiinL^  stilistiscli  vrräiMlfft.  Der  iir- 
spiiiii^dirlK-  Trxt  licrir-lit/'tc  \\u:  sich  di-in  ariiioii  Mann 
iiiirdi  df'iu  liclx'ii  (lott  uiimittidhar  doi  Tod  als  Pate  aii- 
;:('I)ol('ii  liabo:  dii;  2.  Aiilla^c  sr-lialtct  dir  Hi-^c^niui'^  mit 
dem  'rf'ulV'l  ijiii.  llifM-liii-  waicii  ältcro  Jicarl)f'itiinjroii  des 
Miirf'licMS  mass,::('ltond.  In  .Jakob  Ayrors  Fastnaclilspiel: 
..Der  I5aur  mit  scim  (jovattcr  Tod"')  trotcn  Jesus,  der 
Tciilcl  1111(1  der  Tod  als  (Jcvattern  auf.  Der  N'atcr  erhält 
das  ^iückbriiiueiidf!  Patoni^oschenk  und  wird  dadurch  <*in 
hcriihmtei' Wniiderarzt.  Aufh  Praetorius  hat  die  Dn-izahl 
<\v\-  Palcii:  Tculcl.  (Jott  und  Tod-).  Nacdi  dt-r  1.  Fassunjr 
sollte  die  Kunst  dos  Arztes  veri^eblich  sein,  wenn  der  Tod 
zu  Füssen  des  Kranken  stände,  daiiCgen  krmne  man,  wenn 
er  sieh  ihm  zu  Käupten  aufgestellt  habe,  auf  (jenesung 
hoffen.  Die  zweite  Auflage  dndite  den  Fall  um:  später 
(3.  Autl.)  kam  aber  die  erste  Auffassung  doch  wieder  zur 
Geltung.  Die  verschiedenen  Bearbeitungen  des  Märchens 
^vecllseln  in  diesem  Punkt.  So  wie  Schilling  erzählen  es 
z.  B.  Praetorius  und  Hans  Sachs  in  dem  Schwank  .,Der 
Bauer  mit  dem  Tod"-').  Dagegen  stimmt  Ayrer  mit  der 
endgültigen  CJrimmschen  Fassung  überein.  Hier  bekommt 
dem  natürlichen  Zusammenhang  entsprechend  der  Sohn 
das  Geschenk,  wie  es  auch  Prätorius  erzählt,  aus  dem  das 
„Kraut"  als  Heilmittel  entnommen  ist.  Die  1.  Auflage 
hatte  weniger  poetisch  die  ..Wunderflasche".  .Auch  sonst 
ist  die  neue  Bearbeitung  wegen  ihrer  anschaulichen  und 
populären  Si)i;u-he  der  früheren  vorzuziehen :  es  seien 
die  wesentlichsten  VerbesserungtMi  angeführt.  Der  Arme 
läuft  „auf  die  grosse  Landstrassr".  um  dort  wenigstens 
einen  Paten  für  sein  Kind  zu  tinden.  Der  ..dürrbeinige'* 
Tod  packt  den  Paten  „hait  mit  der  eiskalten  Hand"  (1.  Aufl.: 


')  Ojius  thealricum  Nu.  6. 

-)  Abenteuerlicher  (üückslopf  S.  147:  vüI.  Z>.  d.  Vereiii-  i. 
Yolkskimde  4,47. 

■')  Schwanke  ed.  Goetze  No.  94.  Vo-].  auch  H.  Saclis"  Meister- 
lied grleichen  Inlialts.  Zs.  d.  Vereins  f.  Volkskunde  4..37  f. 


—  Ti- 
er packt  iliy\  An  dein  I)ial(^;^-  zwischen  di'ni  Vatci-  iiml 
den  ihm  bei;ojiiienden  Personen  ist  die  Wiederkehr  der- 
selben Worte  bemerkenswert.  Die  Fraise  des  Mannes:  .,Wer 
bist  du?"  wird  reii-olmässig'  di'ei  Mal  ucstellt.  Die  schroffe 
Antwort  des  Armen  auf  das  fi'eniidliche  Ancrl)ieten  (lOttes: 
..Du  ii'iebst  dem  Reichen  und  lässt  ilie  Armen  hunü'orn" 
wird  entschuldigt:  ,.So  sprach  der  ^lann.  weil  er  nicht 
wusste.  wie  weislich  (Jott  Keichtum  und  Armut  verteilt." 
Einiii'f^  Ausdrücke  machen  die  lOrzählung'  volksmässigcr. 
z.  B.  die  Euphemismen:  ..und  da  war  für  ihn  kein  Kraut 
mehr  gewachsen":  ..unterstehst  du  dich,  mich  noch  einmal 
zu  betrügen,  so  geht  dir's  selbst  an  den  Hals"  iG.  Aull. 
.,an  den  Kragen"),  ..es  ist  aus  mit  dir.  die  licihe  kommt 
an  dich",  ausserdem  die  folgenden  Wendungen:  ..das  war 
der  liebe  iioti.  der  wusste  schon,  was  er  auf  dem  Herzen 
hatte".  ..er  würde  es  so  übel  nicht  nehmen,  wenn  er  ihn 
einmal  hinters  Licht  führte":  .'.so  drückt  er  wohl  ein  Auge 
zu":  ..dass  er  alle  Gedanken  in  den  Wind  schlug",  und  die 
Heimworte:  ..weit  und  breit  kamen  die  Leute";  ..ich  will 
ihm  Gold  die  Hülle  und  J^'ülle  geben".  Der  Zusatz:  „Der 
alte  König  weinte  Tag  und  Nacht,  dass  ihm  die  Augen 
erblindeten"  entspricht  gleichfalls  einer  in  der  Volkspoesie 
liäutig  Yorkonunenden  Hj^Dcrbel.  Der  Kinderspracho  ge- 
hört die  Wiederholung  eines  Wortes  an,  z.  B.  ..viel  tausend 
und  tausend  Lichter'.  Der  Monolog  steht  einmal  mit 
Personenwechsel:  ,.Der  Arzt  dachte,  vielleicht  kannst  du 
den  Tod  überlisten,  weifs  dein  Herr  Pate  ist.  wird  er's 
so  übel  nicht  nehmen".  Die  Fremdwörter  wurden  ver- 
deutscht: ..Arzt"  (Doktor),  .,vom  Tod  erretten"  (kurieren), 
..das  Kraut  gebrauchen"  leine  Kur  anfangen). 

Das  "Märchen  ist  über  ganz  Europa  verbreitet.')  Jn 
allen  Darstellungen  sind  die  Motive  wesentlich  dies(dben: 
wunderbare  Krankenlieilungen  durch  ausserordentliche 
Mittel,    die    man    einem    h(ihereii    Wesen    verdankt.      D'w 


')  Chistav  Meyer,    lussays    1,152  IT.    n.    Hohe.    Z>.   d.  Vereins 
Volkskunde  4.34  IT. 


riii'ilistuiiL''  des  Todos  k:iiiii  wie  in  (liiiiinis  Miii'<-lii-n  (liinli 
l  iiKlrclicii  des  I'cltrs  Ix'wiikt  \\<"i'(k'ii:  (laiM'lx'ii  timlft 
sich  iiiifli  die  Koi'in.  d;iss  dci-  Kcurikc  nocli  iiiii  (lie  Frist 
bittet,  ein  \';it(  riiiiMT  /ii  sjjrcclKMi:  er  ItcLn'iint  (Uuiii  daiiiit, 
nlinc  fs  zu  Kiidc  /.ii  iMtcii.  (,  cwöliiilicli  ahcr  iil)crlist«'t 
dci'  Tod  den  Ki'ankcii.  i)icscr  '/avi  liiidct  sifli  schon  in 
•  •iiiri'  isiäiidischi'ii  iM'zähliui.ir:  .. I)<r  Köiii^'ssoiiii  und  d(.T 
'l'od"  aus  dein  Beginn  des  14. -Jahrhunderts.')  Das  älteste 
Zeu<^'nis  in  deutscher  Spi-achc  bietet  Huiro  von  TriniberL^ 
im  Renner  (V.  2:3()(S(j  {[^. 

77.  Das  kluge  (J  retcl. 
Das  kluge  (iretel  ist  eine  naschhafte  Ivfichin.  die  dif 
beiden  Hühner,  die  ihr  Herr  für  rinen  Gast  bestimmt  hat. 
selber  verzehit  und  sich  durch  eine  geschickte  Ausrede 
vor  d(T  Strafe  zu  schützen  weiss.  Wie  der  Fremde  er- 
scheint, macht  sie  ihn  darauf  aufmerksam,  dass  der  Haus- 
herr, der  gerade  das  .Messer  wetzt,  ihm  beide  Ohren  ab- 
schneiden wolle,  worauf  der  Gast  schleunigst  das  Weite 
sucht.  Dem  Wirt  aber  erzählt  das  ]\Iädchen.  dass  der 
Besuch  die  Hühner  mitgenonunen  habe.  Um  doch  etwas 
zu  retten,  ruft  der  Plerr  dem  Gaste  nach:  Nur  eins!  Dieser 
aber  versteht,  er  solle  nur  ein  Olir  missen,  und  rennt 
weg,  ohne  sich  umzusehen.  —  Dass  das  Märchen  ur- 
sprünglich frivolen  Inhalts  war.  beweist  die  mittelhoch- 
deutsche Fassung:  ..Der  entlaufene  Hasenbraten".-)  Hier 
teilt  die  Hausfrau  dem  eingeladenen  Pfarrer  mit,  dass  ihr 
Mann,  der  das  Bratemuesser  schärft,  es  auf  ihn  abgesehen 
habe,  da  er  bei  ihm  in  einem  bösen  Verdacht  stehe.  Um 
der  Entmannung  zu  entgehen,  läuft  der  Pfaffe  davon.  Die 
boshaften  Anspielungen  sind  in  dem  kurzen  und  trockenen 
Bericht  bei  Pauli  (Cap.  364)  vollständig  getilgt.  Hans 
Sachs,  der  diesen  als  Vorlage  für  seine  beiden  Bearbeitungen 
des  Schwanks  benutzte.'')    erzählt  trotz  mancher  Erweite- 


')  Gchring.  Isländische  I>eg-endcn,  Novellen  u.  Mäivlien  II.Ho. 

2)  Ilag-en,  GesanUabenteuer  XXX. 

3)  Sohwänke  ed.  Goetze  III,t)l  u.  Werke  ed.  Keller  9,46?. 


—     78     — 

rungoii  (las  (ianzf  in  cinciu  iiüchtci-iifii  Ton  iiml  ln-ht  in 
der  ]\lofal  eiiulriiii^lirli  die  W'aiiimi;^'  vor  schleelileii  Haiis- 
inägden  hervor.  Die  Briidci'  (ii'iimii  l'olgteii  der  Dai'- 
stelliiiig  in  Andreas  Strol)ls:  Ovnni  |)aschale  (Salzburg 
1700  S.  2:5  IT.),  wo  die  Geschichte  zu  einem  lauing  crzälilten 
„Osterniärlein"  ausgestaltet  worden  ist.  Ihvv,  Zusätze 
beschränken  sieh  auf  einige  si)richwörtlielie  Redensarten: 
..die  Kö(diin  niuss  wissen,  wie  das  Ivssen  schmeckt":  ..wo 
das  eine  ist.  muss  das  andere  auch  sein,  die  zwei  gehören 
zusammen":  ..was  (h'm  einen  recht  ist.  das  ist  dem  andern 
billig"'.  Volkstündich  sind  auch  die  Ausdrücke:  ,.er  lieC, 
als  wenn  das  Feuer  unter  ihm  Ijrennte"  (lief,  was  er 
kunnte):  ,,sie  tat  einen  ehrbaren  Truidv"  (tet  ein  Trünklein 
(hiiMuli  und  die  'l'aulologie:  „ist  abcjr  Januner  und  Schade": 
„ist  ja  Sund  und  Schand".  I)<'r  Monolog  zeigt  einmal 
Personenweclisel:  „sie  dachte,  du  bist  doch  ein  schönes 
Mädel"  (in  der  N'orlage:  „bin  ja  ein  rundes  Diendl").  l)ie 
Kremdwi'irter  „tranciueren"  und  ,,\"es|ierzeit"  sind  bei 
(irimm  verdeutscht. 

Dem  bekannten  .Märchen  von  ..Hans  im  Glück"  {S'.)) 
liegt  die  Fassung  zu  (Ji'unde,  die'  A.  Wernicke  in  der 
Zeitschritt  „Wünsclndrute"  (1818:  No.  ;};>)  nach  mündlicher 
Überlieferung  veröffentlicht  hatte.  —  Tu  der  IJeai'beitung 
fehlen  die  scherzhaften  (Ortsnamen  „Gernefrass"  und  „Suse- 
wedel", und  die  Ausrufe  Hansens:  „Bei  allen  Heiligen", 
„ich  l)itte  euch  um  dei'  sieben  AVunden  Christi  willen", 
die  auf  tunen  katholischen  Verfasser  hindeuten.  Hin  und 
wieder  wurden  einige  Worte  hinzug(dügt.  So  ist  z.  B.  die 
komis(die  Situation  des  Kulimelkens  deutlicher  als  in  der 
N'orlage  beschriel)en:  Hans  hat  die  Kuh  an  einen  „dürren" 
JJaum  gebunden  und  lässt  die  Milch  in  seine  „Ijedermütze" 
rinnen,  bis  er  von  dem  ungeduldigen  Tier  einen  S(dilag 
bekonunt,  dass  er  „zu  Boden  taumelte  und  sich  eine  Zeit- 
lang gar  nicht  besinnen  konnte,  wo  er  war".  Den  Vers 
des  Scherenschleifers: 


„f»osclililT(«n   MMiss  ln'iil   all<'>  sein 
l'nd  j^lütr/.i'ii   \vi(>  i-iii    l<;ii  riiiikclslciii" 

crsrtztc  iiiMii  (liircli  das  all;^<'iiM'iii<'  S))ricli\V(>rt:  .. Ilamlwcrk 
hat  fiiicii  •:;()l(l('ii(Mi  lifxlcii".  lOiii  paai-  Sätzi'  sind  in  volks- 
tiiiiiliclicr  S|)i'acli('  <4'('Iialtcii:  ,.\Vi(!  er  so  dahin  ;rinjr  und 
iinnici'  ein  Ijcinvoi-  das  iindfi-c  sotztc":  ..Hans  suflito 
sfinc  (ilif'dcr  zusainmcn  und  luaclito  sich  auf  den  \Vp<;": 
..dein  Diui;'  ist  /u  hcUcii.  dachte  Hans'':  ..Herz,  was 
voi'iani!,st  du  inchi"  und  alliterierend:  ,.oin  h'eitei-.  dei- 
IViseli  un(\  fr'ihlieh  voriilicrtrabte".  ..als  ei-  frank  und  frei 
daliiiiritf.  Auch  der  iir;ii,Miantr  (!el)raueh  des  Possessiv- 
Prononieiis  gehrut  hierher:  ...Ja.  die  hat  ihr  Gewicht'* 
(—  ihr  izutes  (iewieht)  und  die  Euplienn'siueii:  ..mit  eurem 
Schwein  ii!a;4"s  nicht  ;:anz  lichtig  sein".  ,,es  ist  ein  scldecjitei- 
Spass.  das  Jiciten". 

84.    Haus   heiratet. 

'  Vorlage  war  eine  Erziililung  in  Praetorius"  ..Wüu.schel- 
rute"  (S.  148  f.).  Die  Abweichungen  der  Bearbeitung  sind 
unbedeutend.  Hier  erst  trägt  der  Held  den  populären 
Namen  ,.Hans'".  Volkstiimiicli  ist  die  Tautologie  in  dem 
Satze:  „und  bleu)  da  sitzen  und  geh  mir  nicht  von  der 
Stelle".  Ein  Gebot  in  negativer  Form  zu  Aviederholen, 
ist  eine  in  der  Umgang\ssprache  häufig  zu  beobachtende 
Erscheinung.  Die  Vorlage  hatte  indirekt  und  weniger 
eindringlich:  „er  sollt  in  solcher  Positur  i)leiben".  In 
komischem  C-Jegensatz  zu  (\ci  armseligen  Wirklichkeit  in 
Hansens  Haushalt  stehen  die  wichtigen  N'orbereitungen 
zur  Hochzeit,  die  in  der  Ijcarbeitung  noch  deutlicher 
hervortreten:  iler  Vetter  Hess  „gut"  einheizen,  gab  ihm 
„eine  gute  .Menge  Weissbrot"  und  einen  ..neugemünzten, 
glänzenden  Heller"  in  (Ii(>  Hand.  Statt  der  Moral  in  der 
Vorlage,  die  vor  leichtsinniger  Heirat  warnt,  haben  wir 
bei  Grimm  einen  lustigen  Kinderreim:  „Bist  du  auch  aut 
der  Hochzeit  gewesen?  .Jawohl  bin  ich  darauf  gewesen. 
]\rein  Kopfputz  war  von  J^utter  C?.  Aufl.  von  Schnee),  da 
kam  die  Sonne,  und  er  ist  mir  al)geschmolzen:  mein  Kleid 


WAV  \oii  SiiiiiiK'WcI).  da  kam  ich  diii'cli  Dornen,  dii-  i'isscii 
es  mir  ab:  meine  PantoCioln  waren  von  (ilas.  da  stiess 
ich  an  eincMi  h^t(?in,  da  sajiten  sie  klink  und  sprangen 
entzwei."'  Dieser  echt  märchenhafre  Ahsciiluss  stammt, 
ans  mündlicher  Üherli(d'erünü':  er  stand  zuerst  in  So.  10 
(l..\nll.).  Canz  ähnlich  endet  Xo.  9J  ,.Dat  Erdmänneken'': 
au(di  in  No.  (56  hat  Grimm  durch  einen  Zusatz  gleicher 
Art  das  Mäi'clien  erweitert. 

1  H).    Die  sieben  Schwaben. 

Die  älteste  Ix'kaiinte  L'berliefei'ung,  die  auf  das  Vor- 
handensein des  Sehwanks  von  don  sieben  Schwaben 
S(ddiessen  lässt,  ist  ein  Dialog-  in  lateinischer  Sprache  aus 
dem  Ende  des  15.  Jahrhundei'ts.  I)etit(dt:  (Jomedia  d(^  le- 
pore  (;t  novem  Suevis').  Drei  Schwaben  sind  iil)er  das 
Aussehen  eines  schlafenden  Hasen  entsetzt  und  hissen  sich 
nur  mit  Mühe  beruhigen.  In  veränderter  Form  taucht 
das  Hasenabeiiteuer  in  dem  von  II.  Sachs  verfassten 
Schwank:  ..Die  neun  Schwaben"  auf-),  wo  erzählt  wird, 
dass  umherwandernde  Schwaben  einen  schlafenden  Hasen 
antreffen,  dem  sie  mit  einem  langen  Spiess  zu  L(Mbe  gehen. 
Nach  überstandenem  Kampf  kommen  sie  an  ein  Wasser, 
verstehen  das  (Quaken  eines  Erosches  falsch  und  ertrinken 
einer  nach  dem  andern.  Das  Gedicht  bildete  die  Vorlage 
zu  einer  Erzählung  bei  Montanus  (Gartengesellschaft  IT.  18) 
und  bei  Kirchhof  (Wendunmuth  I.  27B).  Dieser  fügte  noch 
einen  dritten  Schwank  hinzu.  (b'U  er  ebenfalls  einem  Meisttu'- 
lied  des  Hans  Sachs  entnahm:  ..Der  Schwab  mit  dem 
Rechen"-').  Ein  bcw'affneter  Schwabe  hört  auf  dem  Felde 
das  Gebrunnn  einei-  Hornisse,  hält  es  für  eintMi  feindlichen 
Kriegsruf  und  flieht.  In  der  Hast  tritt  er  auf  einen  Kechen. 
empfängt  einen  Schlag  in  den  Rücken,  glaubt  sich  von  den 
Feinden  ergriffen  und    gibt  sich  angstvoll  gefangen.     Seit 


1)  Bolte,  Sclnvankbüclier  des  Monlaiius  S.  507  ff. 

2)  Bolte,  Zs.  (1.  Vereins  f.  Volkskunde  4,432. 
■^]  Schwanke  od.  Cootzo  111.345. 


•  Irin  17.  .I;iliiliiiii(irrt  ist  die  SiclKMizalil  dor  Sdiwuhoii  ;^('- 
liiulii;.  Das  ( Jiiiiinisclic.  Müriln-n  ist  {znisstoiitcils  Kircli- 
lioCs  \\'fii(liiiiiimtli  iiarlicrziililt.  Die  ^.Totcsko  HeschrcibutiL' 
(it'S  ll;i>rii:  ..(l;i  sass  i'iii  Hase  in  der  Soriiw;  niid  srhlicf. 
streckte  dii-  Oliicn  in  die  Urdic  und  hattt-  dir  «.'rossen. 
Ldäscrncn  Auficn  staiT  aulstiduüi;  d;i  ciscliiakon  sie  boini 
Anblick  dos  ;[:Tansann'ii  und  wilden  Tieres  insL'-e-amt  und 
liifltcn  IJ.it"  (iilsjtrielit  den  Vcrsm  in  [I.  Sachsens  Schwank 
von  den  neun  Sdiwiihcn: 

„Sio  fundcii   |)all  Sic;  liielUüi   rat 

lioii-en  oincn  liascsn  in  dorn  gras,  '    sie  woUlfn  sj»af 
(ior  da  entsclilarfen  was  r-ine  küne  dal 

luil  offen  aiig'cn  harl  all  nenn  peweisen  .schiere 

sani  H'lesren  und  ersinnt.  an  diesem  i;i;uisanii'n  und  wilden 

Sein  oren  del  er  strecken.  fdiere." 

l'jn  llic<.,^en(l(\s  Jilatt '),  gedruckt  bei  Ki'.  Caniiie  in  Xündjurji. 
lieferte  die  Unterreduniz'  in  Ueinien  und  die  Xamen.  Ver- 
sv'^hentlich  i.st  bei  (irimni  ,.Marli"  für  ..Marti"  (Martin)  irt;- 
schrieben.  Nach  der  Versclunelzung  der  drei  \'orlafren 
liaben  di(]  Bearbeiter  nur  nocii  einige  volkstün)liche  Aus- 
drücke angebracht:  ,.es  war  zu  besorgen,  das  Ungelieuer 
verschlang  sie  mit  Haut  und  Haar'";  ..frisch  gewagt  ist 
halb  gewonnen":  „es  fuhr  ihm  der  Stiel  ins  Gesicht  und 
gab  ihm  einen  ungewaschenen  Schlag"  (dass  ihm  der  Stiel 
auf  die  Nasen  schlug).  Auch  die  flektierten  Zahlwcirter 
haben  für  uns  etwas  volksmässiges:  „sie  hatten  alle  siebene 
sich  vorgenommen".  ..also  dass  ein  Frosch  ihrer  sechse  ums 
Leben  brachte.'*  Die  Wendungen:  ..dass  ihm  der  Angst- 
schweiss  am  ganzen  Leibe  ausbrach"  und:  ..dem  ich  weiss 
nicht  was  für  ein  Geruch  in  die  Nase  kam"'  sind  anständige 
rmSJchreibungcn  der  nackten  Derbheiten  des  16.  Jahr- 
hunderts. Kirchhof  verlegt  das  Abenteuer  auf  eine  Wall- 
fahrt nach  Trier  und  Aachen:  die  genaue  Angabe  des 
Orts  ist  indes  weniger  märchenhaft.  Der  Schlussvers  im 
Wendunnmth  bringt,  wie  fast  iuuuer.  eine  morahsche  Nutz- 
anwendung: hier  lautet  sie  beschwichtigend: 

1)  V.<xl.  Zs.  d.  Vereins  f.  Volkskunde  4,435. 


..Ks  sein   (rSchwalicii  liicrdiiroh   iiit  ^osclinii-ht, 
In  Frühlichkeil  es  so  iiiii^clil : 
Ein  YPcifV  fi'efaill   ihm   selber  bass. 
Ändert'  wissen  von  ihm  aui-ii  was/ 

l.")»».    l-'J  iiäuiilciii.  Zwciäuii'lci  II   und  iJreiä  iiiiiein. 

Dif  iiltesto  l)ekaniite  Fassung  des  Märclioiis  steht 
bei  Moiitaiiiis  ((iarteii*:esellscliaft.  C'ap.  5)  als  Erzähluiii:' 
vom  ..Ki'dkühleiii".  Die  liiiider  (jrimiu  folfjlen  einer  zeit- 
geiiüssisclicn  Aut'/i'irliiiiini^'  ans  dem  jjjiusitzisclieii  von 
Theodor  Peseheek').  Fortj^elanen  ist  in  ihrei'  Heai'beitnni:' 
th'e  ti'elehite  IJenn'niseenz  aus  (hM-  antiken  ^^lythohjüie.  das 
Bihl  (h'S  Tantahis.  this  die  \'or]a,t;'e  hei  (M'ner  entspreeheii- 
den  Stelle  des  JMärchcns  gehraucht.  In  Einzelheiten  wurde 
mehrfach  gebessert,  l^ie  Brüder  verweilen  absichtlieh  in 
der  Beschreibung  des  Wniidertisehes  Zweiäugleins:  ..Kaum 
hatten  sie  die  Worte  ausges}3roelien.  so  staml  da  ein  Tiseh- 
lein,  mit  einem  weissen  TüchhMn  gedeckt,  dai'anl' ein  Teller 
mit  Messei'  und  (iaixd  und  silbernem  Löffel,  die  schönsten 
Speisen  standen  rund  herum,  rauchten  und  waren  noch 
warm,  als  wären  sie  eben  aus  dei'  Küche  gekommen." 
Die  Vorlage  ist  knapper:  ..so  stand  da  das  sauber  ge- 
deckteste Tischlein  zu  ihi'cn  l''üssen  und  duftete  ihr  nu't 
den  eiidadendsten  Siteisen  uiul  (ietränken  gar  lieblich  und 
gewürzig  entgegen."  Die  strr)menden  Tränen  Zweiäugleins 
vergleicht  Grimm  ..mit  zwei  [iächlein.  die  aus  den  Augen 
lierabllossen".  In  der  Vorlage  fehlt  das  Bild.  Bevor  das 
arme  Mädchen  die  köstlichen  Speisen  des  Wundertisches 
anrühit.  sagt  es  tVonun  .,das  kürzeste  Gebet  her.  das  es 
wusste:  Herr  Gott,  sei  unser  Gast  zu  aller  Zeit.  Amen", 
während  die  Vorlage  es  ungeniert  ..nun  weiter  auf  kein 
N'iitigen  harren,  sondern  sogleich  frisch  und  wohlgemut 
zulangen'*  lässt,  wonach  es  verlangte,  ('iiai'nkteristiseh 
durch  das  Spiel  mit  Zahlbegriffen  ist  die  Ait,  wie  Grimm 
die  allmählich  sich  steigernde  Verwunderung  dei-  Schwestern 
beschreil)t.     als    Zweiäuglein     von    ilen     iiljrig    gebliebenen 

M   HüschiuLis   Wüchontliciie   Xachficlit'Mi    II.    17— "jn. 


—     TS     — 

r>io(kcii     nichts    iihIii'    iic|iiiicii     will:    ..ilas   fü'Stc   Mal   iiml 
(las  zwcilr   Mal  iicliti'tcn    es  die  ScIiwcstiMii  iii<-lit.    wie  es 
aber  jcdrsiiial  ^n-scliali,    iiirrklfii  sio  auf  iiiid  spi'acJH'ii:  es 
ist   iiiclil  licht i^'  mit  dem  Zw('iäii;rl('iir'.    Am  aiitTallendsteii 
iiiilcrsclicidi't,    sicli  di(.'  Umscdnilt    vrjii    dei-  \'oi'lage    diircli 
die    Wicdcrlioluiig    i^ewisser    Zii^^e.     Jicdm    X'ersufli   Dn-i- 
iiiij;leiiis.  ihi(!  Scliwester  zu   überlisten,  liöicii  wir  dirsidhcii 
Worte  wie  IVülier:   ..Al»<  r  Zwciiiii^lciii   iiicikle,    was  I)r<'i- 
äuu'Ieiii  im  Siime  liatte  und  trieb  die  Zie^e  hinaus  ins  höh«- 
litas    und    spradi:    Wir    wulien    uns    dahin  setzen,    iJrei- 
;uii:iciii.    ich  will    dii'  was    vorsingen".     Die  Vorlage   ver- 
weist kurz  aufdcii  früheren  Fall;  ..Aber  auch  diese  suchte 
Zweiäuglcin  auf  die  nämliche  Art,  wie  sie  bereits  gestern 
getan,  einzuschläfern".    Überhaupt  werden  alle  Vorgänge, 
die  sich  beim  Besuch  Dreiäugleins  auf  dem  Felde  abspielen, 
mit    ähnlichen  Wendungen    wie    beim   Einäuglein    wieder- 
gegeben.    So    heisst  es  zweimal:    „Ich  will   mitgehen  und 
techen,    dass  die  Ziege  auch  recht  gehütet   und  ins  Futter 
getrieben  wird".     Drciäuglein  wird   mit  denselben  Worten 
wie  Einäuglein  aufgefordert,    nach  Hause    zurückzugehen. 
Auf  die  l^Yage  der  Fee  antwortet  Zweiäuglein  regelmässig: 
..Süll  ich  nicht  weinen?"  .  .  .  und  das  Folgende:  ..weil  ich 
zwei  Augen  habe,   wie  andere  Menschen,  so  können  mich 
meine  Schwestern  und  meine  Mutter  nicht  leiden,    stossen 
mich  herum  [später  noch  volkstiindicher:  stossen  mich  aus 
(Muer  l^iCke  in  die  andere  .  .  .J,    werfen  mir  alte,    schlechte 
Kleider    hin  und    geben  mir   nur  zu  essen,    was  sie  übrig 
lassen",    entspricht    genau    einer    Parallele    kurz    vorher. 
Wenn  die  Vorlage  berichtet,  dass  Dreiäuglein  alle  Erlebnisse 
auf   dem  Felde    „haarklein"    der  Mutter  erzählt  habe,    so 
gibt  Grimm  statt  dessen  eine  ausführliche  Schilderung,  den 
Zauberspruch    der  weisen  Frau  zum    fünften  Mal  wieder- 
holend.    Die  Sprache  ist  einfach  und  schlicht.    Künstliche 
Tropen  mied  man  und  nannte  die  Dinge  mit  ihrem  rechten 
Namen:  ..Zweiäuglein  merkte  gar  bald,  dass  der  ßaum  aus 
den  Kingeweiden  der  Ziege  aufgeprosst  war".    Die  Vorlage 
umschreibt:  ..Zweiäugiein  gewahrte,  wie  der  wunderschöne 


—     79     — 

I');iuiii  i'lirii  da  aus  dvv  1m'(1c  li('iv(»ri;e.s))ri;sseii  war.  wn 
sie  den  wiinderljanMi  Samen  der  Erde  anvertraut  liatte". 
Der  alleiiorisclie  Ausdruck:  ,,dass  sie  trauernd  lieruin<iin<i-, 
und  di(!  Kinsamkeit  ilire  einzige  Freundin  war"  felilt.  Leise 
ist  die  Nei<^iiiig  v.w  Nci'spiiicn,  Al)stra('ta  zu  ersetzen: 
..Zwciäuglein  aber  daclite.  ich  nuiss  i;'leicli  einmal  versuclien. 
<il)  es  wahr  ist,  was  sie  ji;csag1  hat;'  („Alshahl  versuchte 
Zweiäuglein  die  Wahrheit  jener  Veriieissung"),  ,,Kinäuglein 
konnte  der  Mutter  nicht  sagen,  warum  es  nicht  essen 
wollte"  (,.Einäuglein  wusste  der  Mutter  den  Grund  keines- 
wegs anzugeben").  Einzelnes  ist  in  volkstümlicher  .Sprache 
hinzugel'iigt:  Zweiäuglein  weinte  ..seine  bitteren  Tränen": 
..es  ist  nicht  richtig  mit  dem  Zweiäuglein,  das  muss  anden; 
Wege  g(M"un(ltMi  haben".  Die  Bearbeitung  nennt  die  s[)äi'- 
liche  Kost,  die  man  Zweiäuglein  zu  Hause  zukonuuen  lässt, 
in  volksmässiger  Kürze:  ..die  paai'  Brocken".  Die  6.  Auf- 
lage fügte  die  sprir]iw(irtliche  Redensart  hinzu:  ..Wer 
^veiss,  wo  uns(u-  Weizen  noch  l)Iühf.  „Essen  und  Trinken'' 
ist  eine  populäre  Umschreibung  für  Mahlzeit  überhaupt. 
Verwandt  ist  diese  Ausdrucksweise,  die  auf  sinnliche  Deut- 
lichkeit der  einzelneu  Glieder  Wert  legt  und  blasse  Kollektiv- 
begriffe  meidet,  mit  den  volkstümlichen  Tautologien,  von 
denen  uns  hier  eine  Anzahl  begegnet:  :,Ach,  ich  leide 
Hunger  und  Durst.  Kummei'  und  Not.  vom  Morgen  bis 
zum  Abend".  Um  jeden  Anklang  an  die  Feenmärchen  zu 
beseitigtui,  wurde  die  ..Fee"  der  N'orlage  in  eine  ..weise 
Lrau"  verwandelt. 

Als  Vorlage  zu  dem  Märchen  „Die  Brautschau" 
(155)  diente  die  kurze  Notiz,  die  dei- schweizerische  A'olks- 
uiid  .lugendschriftsteller  Joh.  lludolf  Wyss  zu  seiner  im 
Stil  der  \'ossischen  „Luise"  gehaltenen  kleinen  Idylle: 
„Die  Apfelprobe"  macht.')  Die  L'mschrift  zeigt  nur  gering- 
fügige Ändeiungen;    ein  einleitendes  Wort  war  leicht  aus 

1)  Juli.  K.  Wyss,  Idyllen.  Volkssaii'on.  Le"'ciulen  8.  321. 


—      KO     ~ 

il<iii  Ziis;iiiiiiii'iili;iiii!    zu    i'i  uiiii'/fii.     Stiitt:    \ii-l  .,(i('iii<'ss- 

IlMTCS"'    licisst    ('S    Itci    <ltillllll     |in|Mllii|r|-:     viel     ..(  i  II  t  f'S"  '  |. 

I)ii'  l'.ciilicitmi^cii  (In-  Lü'dnicUtcii  \'nrl;iL;*Mi.  ilii-  aus 
dci' erstell  Aiillau!!'  in  di»'  /weitr  lieriilier^iciioiiiiiieii  winden. 
I)liel)eii  im  alliifuii'iiieii  iiiiv<Täii(lcit.  An  den  kurzen  (ie- 
scliiclitrii  war  weni;;-  zu  lirssf-in.  Hine  Ausnahme  macht 
das  .Mäichen  vom  taid'ern  ScIi  neideilei  n  rjo).  iJie 
beiden  Eiziilduiiiren  i\vv  1.  Aulla;L,^e  wurden  durch  eine 
dritte,  Iiessischc  Üheilieferun^^  ergänzt,  ilie  das  Ahenteuei- 
<los  Schneiders  in  dei-  llr.lilc  (h.'S  Uiesen  enthielt.  Ausser- 
dem ul)er  schi'iel)  man.  hau|»tsiichlich  wohl  auf  Arnims 
N'eranhissung.  (\rv  Stil  tind  Ausdruck  für  ein  Kinih'i-huch 
ungeeignet  fand.-)  das  ganze  Märclien  um  und  hob  es 
künsth^risch  durch  Zusätze  mannigfaclier  Art.  Am  meisten 
treten  die  volkstümlichen  Ivedensarten  hervor,  z.  H.:  „Da 
lief  dem  Schneiderlein  die  Laus  über  die  Leber"  (mein 
Schneiderlein  ward  bös);  „die  ganze  Welt  soHs  erfahren, 
und  sein  Herz  wackelte  dabei  wie  ein  Lämmerschwänzchen": 
..nun  nahm's  den  Weg  zwischen  die  Leine  und  stieg  auf 
eintni  hohen  Jierg  hinauf"  (das  Schneiderlein  stieg  auf 
einen  hohen  Lerg):  und  liess  seine  Äugelein  nach  ihm 
hin  und  hergehen"  (und  lugte  von  weitem):  „da  hast  du"s 
schriftlich"  (da  kannst  du  sehen):  ..die  Fliegen  aber  ver- 
standen kein  Deutsch";  „dem  Ding  will  ich  wohl  steuern" 
(er  wüsste  dieser  Sachen  wohl  zu  tuu):  ..da  merkte  sie. 
in  welcher  Gasse  ihr  junger  Herr  Clemahl  geboren  war": 
..da  lagen  sieben  vor  ihm  tot  und  streckten  die  Beine": 
„nun  ging  das  Schneiderlein  innner  seinem  spitzigen 
Naschen  nach'":  ..der  liess  sich  das  nicht  gefallen  und  gab 
ihm  gleiche  ]\lünze  zurück".  Der  Schneider  ist  mit  sprich- 
wörtlichen Ivedensarten  i)ei  der  Hand:  ..Gewoimen  Spiel I 
sprach  das  Schneiderlein/'  ..Habt  Ihr  gar  keine  W'unde? 
Das  hat  gute  Wege,  erwiderte  er.  kein  Haar  haben  sie  mir 
gekrümmt!"     Die  :^.  Auflage    brachte    noch  einige  weitere 

')  ^■!i•l.  Nu.   II.     ..Dem  wirfl  sie   ilocli  maiu-hiiKil  (Jiitt's  zu." 
■■^)  S1.M,-:',  A.  V.  Arnim  Iir,2(in. 


—     81      — 

Vorbossoriiiiizen:  sie  seien  hier  i:l<'icli  crwüliiit.  Statt  (lr> 
Ausdrucks:  ..Der  Schneider  i)Hrt'  allrrlrj  iJcdcrcheu"'  liest 
man  jetzt  bestimmter:  ..Er  pliff  das  l.iedehim:  Es  ritten 
drei  Scliiieider  zum  Tore  hinaus."  Der  Umgangssprache 
anoehörig  sind  \\'rnduiii:cn  wie:  ,,üas  ist  ein  Kinderspiel" 
und:  ..dem  Ding  will  ich  einen  h'iegel  vorschieben". 
Einzelnes  wird  deullichci'  besehrieixMi.  Man  erfährt  z.  B., 
dass  d«'r  Schneider  drei  Ti'ciipcn  hoch  wohnt:  sehr  vor- 
sichtig zeigt  er  sich  beim  Einkauf:  „er  besah  alle  Töpfe, 
hob  sie  in  die  Höhe,  hielt  die  Xase  dran  und  sagte  end- 
lich" .  .  .  Seine  Behendigkeit  wii'd  noch  nielii'  als  früher 
lietont:  er  heisst  ..der  flüchtige  Held".  ..der  kleine  Iverl". 
und  vergleicht  sich  selbst  mit  einem  Eichhörnchen.  Pralile- 
lisch  erwähnt  er  bei  jeder  Gelegenheit,  sieben  auf  einen 
Streich  erschlasfcn  zu  haben. 


Jede  neue  Auflage  der  Märchen  stellte  eine  höhere 
Stufe  auf  dem  Wege  der  Entwicklung  dar.  Allerdings  w\ar 
in  der  zweiten  Ausgabe  nach  bedeutenderen  Umformungen 
ein  Grundstock  geschaffen,  der  inhaltlich  nahezu  unver- 
ändert bestehen  blieb:  uui'  vereinzelt  griffen  die  Brüder 
nocli  ein  Stück  heraus,  das  ihnen  nicht  recht  gefiel,  um 
es  tlurch  eine  andere  Überlieferung  zu  ersetzen.  Aber  in 
der  Eorm  zeigen  die  späteren  Ausgaben  noch  mancherlei 
Verbesserungen.  Ihr  Wert  besteht  jedoch  vor  allem  in 
der  grösseren  Reichhaltigkeit.  Die  dritte  Auflage  (18B7) 
brachte  allerdings  verhältnismässig  wenig  Neues.  Am 
Schluss  wurden  Xo.  161 — 167  hinzugefügt.  Xo.  43  der 
2.  Auflage  fiel  fort,  und  an  ihre  Stelle  trat  eine  voll- 
ständigere Erzählung  nach  gedruckter  \'orlage.  Auch 
von  den  andern  neu  aufgenommenen  Stücken  gehen  einige 
auf  ältere  Fassungen  zurück. 

162.    Der   kluge    Knecht. 
Das  Märchen    erzählt    Luther    neben    anderen  A'olks- 
schnurren  in   der  Ausleüum:"  des  101.  Psalms 'j.     Die  Be- 


')  Vgl.  Goedeke,  Dichtungen  M.  Liilliers  S.  124. 
Palaet^tia  XLVII. 


—     82     — 

iirlH'ituiii:-  i'iiikIcI  nur'  die  S;it/<-  hier  iiml  da  «-twas  al». 
I  >'i'  I']iii<.MiiL;'.  iliT  liltri-  mit  i'iiicf  sriit('i)'/-i<is  ^efärljtcii 
\\  liidiiiii:-  Ix'iiiiiiil.  ist  auch  hier  vci-allucniciiKTiid  in  den 
vXusiuf  i;(dJ('id('l :  ..Wie  ^iiirklidi  ist  dfi'  Herr,  und  wie 
woli!  stellt  ('S  mit  sciiirin  üaiisf.  wenn  cf  riiM'ii  klu^n'ii 
Kiicciit  liat.  der  auf  seine  Worte  zwar  iK'irt.  aber  niflit 
daiiarli  tut.  und  lichei'  seincf  ci^^nMicn  Weisiieit  l'ol^'t." 
l'iii  drii  Helden  selidii  äusserlich  als  einen  beschränkten 
(lescllen  zu  cliarakterisiert'ii,  le^;!  ihm  Grinun  den  volks- 
tündielien  N'oriiaiuon  „Hans"  bei.  Ii(,'achtens\vert  ist.  dass 
<'r  in  (kf  Ijeai'lieituiiiT  das  iif.'iwort  „klug"  regelmässig 
dann  erhält,  wenn  ef  einen  augenfälligen  Beweis  seiner 
JJuinnilieit  gegeben  liat.  wie  auch  die  Überschrift  „Der 
kluge  Knecht"  in  ironischem  Sinne  gesetzt  ist  (vgl.  Xo.  32 
J)er  gescheite   Hans.  \o.  34  Die  kluge  Else). 

\(V.].    Der  gläserne   Sarg. 

Das  Märchen  entstammt  einem  abenteuerlichen  Studenten- 
roman:  Das  verwöhnte  Mutter-Söhnchen  oder  Polidors  ganz 
besonderer  und  ül)craus  lustiger  Lebenslauf  (  Freiberg  1728). 
Es  wird  hier  als  selbständige  Einlage  erzählt,  unterscheidet 
sich  auch  in  Stil  und  Spi'ache  von  seiner  Umgebung, 
inhaltlich  ändert  die  I5earl)eitung  so  gut  wie  nichts.  Der 
Anfang:  „Sage  niemand,  ihiss  ein  armer  Schneider  es  nicht 
weit  bringen  und  nicht  zu  hohen  Ehren  gelangen  kfinne; 
es  ist  weiter  gar  nichts  nötig,  als  dass  er  an  die  rechte 
Schmiede  kommt  und.  was  die  Hauptsache  ist.  dass  es 
ihm  glückt",  macht  sieh  in  harmloser  Weise  über  den 
Schneider  lustig,  der  ja  in  der  volkstiniilichen  Literatur  oft 
als  humoristische  Figur  aufgefasst  wird.  Grimm  macht 
mehrfach  absichtlich  Anspielungen  auf  seinen  fragwürdigen 
Mut,  der  so  selten  eine  ernsthafte  Probe  besteht;  geht  er 
wirklich  entschlossen  vor,  so  wird  es  im  Gegensatz  zur 
Vorlage  betont:  „er  kIoi)fte  mutig  an":  „der  Schneider, 
den  ein  unerwarteter  Mut  überkam,  sprang  auf";  ..sein 
]\lut  war  schon  so  weit  gewachsen,  dass  er  dem  Befehle 
Folge  leistete".     Das  „arme"  Schneiderbürschchen   ist  bei 


—     88     — 

<jriiiiiii  ein  „ai'tiiies  und  belicndos".  Einzelne  Schiklcruntien 
sind  in  der  Boaihcitung  feiner  iuis<i('fülirt:  die  sciilafonde 
Sch(ine  wird  uns  in  lulii^eni  Scliluninier  <;ezei<i,'t:  „dir 
Au^(Mi  wari'ii  lest  gesclilossen,  doch  die  Icddialte  Gesichts- 
farbe und  ein  fiand,  das  der  Atem  Inn  und  her  bewegte, 
Jiessen  keinen  Zweifel  an  ihrem  Jjcbfii".  Das  lange 
hlondc  llaai'  unihiiüt  sie  wie  ein  kf)stbarer  Mantel.  Die 
X'orlage  ist  rülirr  im  Tiiii:  ..in  welchem  er  eine  üixü'  alle 
j\lassen  schiine  und  wohl  uehildete.  ganz  nackende  und 
<\e.v  Länge  nach  ausgestreckte  Weibesperson  liegen  sähe". 
h^ehr  gekürzt  wnnle  der  ausführliche,  der  Situation  wenig 
entsprechende  l]ericlit  des  verzauberten  ]\lädchens  l)eim 
Erwachen.  \'on  formelhaften  Wendungen  blieben  aus  der 
\'orlage:  ..ohne  Zittern  und  Zagen".  ..über  Stock  und 
Stein,  Berg  niid  'J'al.  Wiese  und  Wald"  („über  Stock  und 
Stein,  durch  Tal  und  Wald"):  die  Alliteration:  „Herz 
und   Hand  anbieten"  fügte  man  hinzu. 

Der  Zustand  des  ]\Iädcheus,  den  es  nut  den  ^Yorten 
beschreibt:  „ich  befand  aber,  dass  eine  unbekannte  Gewalt 
mir  die  Sprache  hemmete".  ist  bei  (Jiimm  dem  Volks- 
giaub(Mi  entsprechend  ein  Alpdrücken.  Die  gespreizte 
Ausdrucksweisc.  die  sich  manchmal  übel  bemerkbar  macht, 
ersetzte  man  dureii  einen  scldichten  Erzälihmgston.  Die 
meisten  Abweichungen  erklären  sich  aber  aus  der  .Aloderni- 
sierung  der  Sprache.  Dass  hierbei  eine  Änderung  die 
andere  nach  sich  zieht,  versteht  sich  von  selbst.  Die 
Erenidwörtei-  wurden  regelmässig  übersetzt:  Lärm  (Tumult), 
geschliffen  (poliert).  Zeichen  (Charakter),  Diener  (Page), 
ein  Lager  suchen  (campieren).  Am  Schluss  fügt  die  Be- 
arbeitung die  zur  Vollständigkeit  notwendige  Entzauberung 
des  Bruders  der  Jungfrau  hinzu. 

164.    Der   faule   Heinz. 

Das  Märchen  beruht  auf  einer  Erzählung  in  Eucbarius 
Eyerings  Proverbiorum  copia  L70  — 72.  Die  dürre  Keim- 
crzählung  bot  aber  nur  das  Notdürftigste  dar.  Die  Aus- 
führlichkeit des  Märchens,  namentlich  am  Anfang,  ist  freie 


—     84     — 

llitiiiduiii:'  (Iriiiiiiis.  |)cr  nioi-alisiorciHl»'  ( 'liaiaktcr  der 
\'()il;»;i('  li;it  linrm  IniiiHtristisclicii  I'luudcrtori  Platz  gt*- 
iiiaclit.  Al>sic|itlicli  ist  (\i'V  koiiiiscln'  Kontrast  zwischen 
ilcii  Klaiii'ii  llriir/ciis  und  der  Wiiklirlikcjt.  die  dazu  gar 
kriiii'h  Anlass  j^iht,  in  dcv  IJcaiitcitnnjjf  vorstäikt  wordofi. 
|j'  will  seine  Scjmltei'ii  von  der  l'jiirdn  der  Arlieit  frei 
maidn-n,  ueln  lan;^^e  nut  si(di  zu  h'iit  und  liiidi-t  sclilicss- 
licli  den  besten  Auswe«,^  in  d<T  Heirat  nnt  dei'  dicken 
Tiine.  „Kl-  setzt  seine  müden  (ilieder  in  Hi^wegung". 
geht  (|uer  über  die  Strasse  —  „denn  weiter  war  der  Weg 
nicht",  riii:t  die  Iieaibeitung  launig  hinzu  —  und  wirbt  um 
die  „arbeitsame  und  tugendreiche  Toclitei"  seines  Nach- 
bars. In  Wahrheit  abei-  gibt  ihm  diese  in  der  Trägheit 
nichts  nach.  So  haben  nun  bciiie  „gute  Tage"  und  brauchen 
sich  ..von  keiner  andern  Arl)eit  zu  erholen  als  von  ihrer 
eigenen  Faulheit''.  Auch  nach  der  Bestrafung  bleiben  sie 
ihi'en  Cirundsätzen  geti-cu  und  lassen  sich  inclit  aus  ihrer 
IJuho  bringen.  Der  humoristische  .Schluss:  ..Weisst  du. 
die  Schnecke  war  einmal  zur  Hochzeit  geladen,  machte 
sich  auf  den  Weg,  kam  aber  zur  Kindtaufe  an.  Vor  dem 
Hause  stürzte  sie  noch  über  (.len  Zaun  und  sagte:  eilen 
tut  nicht  gut"  rundet  das  ]\lärchen  vortrefflich  ab.  Er 
wurde  in  der  6.  Auflage  hinzugefügt  und  stammt  aus  den 
l^jriefen  der  Elisabeth  Charlotte  von  Orleans').  Einer  Reihe 
volkstümlicher  Ausdrücke  begegnet  man  auch  in  diesem 
Märchen:  „Plötzlich  lieFs  ihm  wie  Schuppen  von  den  Augen": 
..da  muss  man  die  Augen  auf  haben"':  ..als  er  am  hellen 
Tag  in  den  Federn  lag";  ..ich  will  ihm  mit  ungezählten 
Schlägen  die  Haut  gerben".  Parallelismus  der  Glieder 
zeigt  sich  in  folgenden  Wendungen:  ,.so  eine  Ziege  jahr- 
aus jahrein  ins  Feld  zu  treiben".  ..die  Bienen  flogen  vom 
frühen  Morgen  bis  zum  späten  Abend  aus  und  ein",  und 
gereimt:  „er  ging  nur  ilanu  und  wann  mit  ins  Feld  hin- 
aus".   Seine  Trägheit  entschuldigt  Heinz  mit  dem   Sprich- 


1)  15iii'f(>    der    H]is;ibelh   riiarlolt.".    Bibl.    d.  l.it.  Vereins  1843, 
VI,  2G8. 


—     So     — 

uort:  ..W'ci-  früh  aufstellt,  sein  Gut  verzelirt",  und  die 
l-'Jtcni  der  I5raiit  lialtcii  nichts  geii'en  die  Heirat  ciu- 
/iiNvt'iidfii.  (h'iiii:  ..(ih'ich  und  gleich  gesellt  sich  gern" 
(Zusatz  der  4.  Aull.l  iJcr  volkstümliche  Name  Heinz 
l)liel)  aus  drv  \'orlage,  di(^  vornehmere  Benennung  ..Adel- 
hcif  wuidc  den  Umständen  entsprechend  von  den  I^rüdern 
in  das  vulgäre  ..dick(^  Trine"  verwandelt.  In  den  Worten: 
..gerade  wie  jener  Knecht,  der  die  Kuh  suchen  sollte  und 
di-ei  Amseln  nachjagte"  haben  wir  einen  Hinweis  auf  das 
.Mäi'chen   Xo.   J(i2.  das  auch  in   Xo.   174  zilieit   wird. 

4:>.  Frau  Trude. 
Für  (his  Märchen:  ..Die  wunderliche  Gasterei",  das 
aus  mündlicher  l'lierliel'erung  stammt,  wurde  die  Bearbeitung 
eines  Gedichtes  von  Meier  Teddy,  betitelt:  „Klein  Bäscheu 
und  Frau  Trude"  '}  aufgenommen,  das  die  grausenerregende 
Wirtschaft  im  Hause  der  Hexe  vollständiger  als  die  erste 
J'>rzählung  schilderte.  Der  Eingang  beginnt  bei  Gnnun 
warnend:  ,.Es  war  eimnal  ein  kleines  Mädchen,  das  war 
eigensinnig  und  vorwitzig,  und  wenn  ihm  seine  Eltern 
<'twas  sagten,  so  gehorchte  es  nicht,  wie  konnte  es  dem 
gut  gehen?"  Im  folgenden  ist  der  Text  der  \'orlage  häutig 
mit  Beibehaltung  des  Wortlauts  in  die  l>earbeitung  über- 
gegangen, nur  ist  diese  knaijper  und  eilt  i'ascher  dem 
Ende  zu. 


Die  4.  Auflage  steht  textlich  der  dritten  sehr  nahe; 
um  Schluss  wurden  Xo.  1G8— 177  hinzugefügt. 

16S.  Die  hagere  Liese. 
\'orlage  war  Kirchhofs  Wendunmuth  1.371:  ..Ein  weil) 
wird  nuithwillig  geschlagen".  Die  Bearbeitung  hat  im 
wesentlichen  nur  Ausdrücke  der  populären  Sprache  hinzu- 
gefügt, z.  B.:  ..sie  äscherte  sich  ab  von  Morgen  bis  Abend". 
..als  sit]    im  Bett    lag  und  vor  Müdigkeit    kaum  ein  Glied 

M  Franonlasehonhiicli   182:5.  S.  3<)0. 


—      S()      — 

liiliiN'ii  koiiiitf".  ..lind  wi'iiii  du  difdi  iiuf  d<-ii  Kopf  st(-'llst. 
du  kiiciist  kriiicii  'l'ropt'fu  Mil(dr'.  (tlicuso  die  litdliu  der 
Scli(dt Worte:  ., I)ii  laiiir<'i'  Lenz,  du  Xinuucrsatt.  du  Strick, 
du  fauler  üeiir/,".  Au(di  die  r,ezei(diuun<.M'M:  .,Li(!SO*'  und 
..laiiij,'er  \j'\\Y/'  liii'  den  lOlieiuanu  (Vorlaj^e:  (Jlausj  und  d(;r 
]*arail(disnius  in  <lei  Wendunir:  ..Ks  lialf  al>or  alles  niclit.s, 
sie  liatl(.'ii  ni(dds  und  kamen  zu  nielits"  sind  volkstiiinlicli. 
lu  der  Aiisuiaiiiii;:'  <lei'  riii<i(dszejn;  zwischen  den  (iatten  ist 
die  Uniseln'il'f  weni-cr  mli  und  seliliesst  Iiuiuoristiscli:  „0I> 
sie  am  andein  .Moriien  loittuln'  zu  zanken,  oder  ol)  sie 
ausginii'.  den  (liildeii  zu  suelien.  {l(;n  sie  finden  wollte,  das 
Avoiss  ich  nielit"-.  während  die  N'orlao'e  moralisiert: 

..Sicli   /.linken   niii  das  man  nicht   hat. 
Setzt  g'cwis.se  schmerzen  an  (iie  statt." 

J70.  Li(;l»  und  I.eid  teilen. 
Eine  Bearbeitung  des  Wickramsclien  Schwankes: 
..Einer  leidt  mit  seiner  frawen  lieb  und  leidt"  ').  Die  Be- 
arbeitung bringt  nur  formale  Änderungen.  Wie  in  andern 
Märchen,  wird  dei'  zänkische  Schneider  auch  hier  mit 
Humor  und  Laune  gezeichnet:  er  läuft  seiner  Frau  ,.mit 
der  Elle  und  der  Schere"  nach  und  verteidigt  sein  rohes 
Benehmen  ihr  gegenüber  mit  den  scherzhaften  Worten: 
..ich  habe  ihr  nur.  weil  sie  so  wunderhch  aussah,  die  Haare 
mit  der  Hand  kämmen  wollen  (.,ich  habe  sie  nur  ein  wenig 
bei  dem  Haar  wcHUmi  ziehen'')  und  hal)e,  damit  sie  zu 
ihrer  Pflicht  zurückkehre,  als  eine  gutgemeinte  Erinnerung 
nachgeworfen,  was  mir  eben  zur  Hand  war"  (..do  bin 
ich  ihr  nachgeeilt,  nach  iiir  mit  benglen  und  was  ich  er- 
witscht hal).  geworfen").  Beabsichtigter  Parallelismus  ist 
deutlich  zu  erkeimen  in  Wendungen  wie:  ,.packen  und 
raufen"  (erwitsclu'u),  ..mit  der  Elle  und  mit  der  Schere" 
(erwitscht  er  die  Scher).  ..war  mürrisch  und  zänkisch" 
(dass  er  mit  ihr  zankt).  ..so  tobte  und  wetterte  er"  tso  flucht 
er)  „er  brummte,  schalt,  raufte  und  schlug  sie''  (er  schlug 


1)  Mdltes  Ausii'abe  des  Kolhvat;'enbiichleius  No.  17. 


—     87     — 

uiul  rauft  sie  stets).  Echt  v^jlkstüiiilicli  beisst  es  bei 
(ininiii:  ..er  sass  eine  Zeitlang"  bei  Wasser  und  Brot"  (man 
legt  ihn  i'in  /.•■ithiiii^'  in  gel'cnii-nus). 

171.    I  )('!•  Zau  n  ktiiiig'. 

Das  Märchen,  das  von  der  Königswahl  der  Vfigel  er- 
zählt, ist.  wie  die  beiden  folgenden,  nach  Aufzeichnungen 
des  Pastors  .Mussäus  bearbeitet  und  staninit  aus  niecklen- 
liurgischer.  mündlicher  Überliefei-ung  'j.  Eine  zweite,  hand- 
schriftliche Vorlage,  die  K.  Goedekc  in  Lachendorf  im 
Hannoverschen  aufgenommen  und  (iriinni  überlassen  hat. 
kann  nur  formale  Unterschiede  oderinhaltliclie  Al)\veichungcn 
von  geringer  Bedeutung  gehabt  hatjen. 

Mussäus  hat  die  Erzählung  schlechter  komponiert  und 
liringt  die  Worte  der  Tiere  z.  T.  ohne  inneren  Zusammen- 
hang und  ohne  Beziehung  auf  di<^  i)evorstehende  Kr)nigs- 
wahl:  bei  (irimm  dagegen  steht  der  Zaunkönig  von  Anfang 
an  im  Mittelpunkt.  Die  Sprache  des  Bäderwerks  der 
Mühle  ist,  wenn  man  hier  nicht  einen  Einfluss  der 
Goedekeschen  Fassung  annehmen  will,  ein  Zusatz  Grimms: 
von  Jakob  gibt  es  ja  darüber  eine  Abhandlung-).  Den 
Tieren  werden  menschliche  Eigenschaften  beigelegt.  Die 
Bearbeitung  fügt  den  J^eispielen  der  Vorlage  noch  einige 
charakteristische  Züge  bei:  ..Als  es  .Abend  geworden  war. 
und  die  Vögel  von  der  Anstrengung  beim  Fliegen  grosse 
J\Iüdigkeit  empfanden,  so  gingen  sie  mit  Weib  und  Kind 
zu  Bett".  Die  grosse  Höhe  des  Fluges  wird  mit  anschau- 
lichen Bildern  umschrieben:  ..Der  Adlei-  stieg  so  hoch, 
dass  er  der  Sonne  hätte  die  Augen  aushacken  können", 
der  Zaunkönig  noch  höher,  ,,dass  er  Gott  auf  seinem  Stuhle 
konnte  sitzen  sehen",  wofür  die  Vorlage  ein  mattes:  ..und 
über  alle  klafterweit  sich  erhebend"  bietet.  Durch  ein 
beabsichtigtes  Spiel  mit  den  Ausdrücken  zeichnet  sich  die 
Szene  aus,  wo  der  Zaunkönig  in  seinem  Versteck  von  der 
Eule  bewacht  wird:  ..Der  klein(>  Kerl  iiuekte  mit  dem  Kopf 

')  Schriften  des  ineeklenljiaxi.solien  Vereins  V'.74  11'. 
-)  Zs.  f.  (loutsohps  Altertum  V,  511. 


Iicnuis.  alxT  die  l-liilc  trat  irlcidi  davoi-.  und  cv  zolt  den 
Kopf  \vi('d<'r  ztiriifk.  I)aiiii  tat  dir  I'jilc  das  t-inc  Aujre 
wieder  auf  iiiid  das  aiidei-e  zii  und  wfdite  so  die  {;anze 
Nacht  ab\V('C'li.s(dii,  alxM'  als  sie  das  eine  Aul'"«;  wieder  zu 
niaclite.  vei'gass  sie  das  andere  autzuliin.  und  so  bald  die 
hoiden  Auf^on  zu  waicn.  schlief  sie  ein".  Die  Vorlajrc 
verzichtet  auf  die  Wiederlnduni^:  ..Stundenlang^  sass  sie 
vor  dem  TjOcIic,  als  aber  zur  ^Mittagszeit  die  lielle  Sonne 
ihi'  in  die  orossen  Augen  schii-n,  schloss  sie  eins  nach 
dem  andern  und  schlief  ein'".  \)r\-  grösseren  Anschau- 
lichkeit wegen  vergleicht  (Jrinim  die  Menge  der  Vögel  mit 
..(Mner  schwarzen,  dahinziehenden  Wolke"'  nnd  führt  eine 
Reihe  von  ihnen  mit  Xanicn  an:  ..Sie  kamen  alle  zusanunen, 
Adler  und  Buchlinke.  Eule  und  Krähe.  J^erche  und  Sper- 
ling, was  soll  ich  sie.»  alle  nennen,  selbst  der  Kuckuck  kam 
nnd  der  AViedehopf.  sein  Küster,  der  so  heisst.  weil  er 
sich  innucr  ein  paar  Tage  früher  iK'iren  lässf.  In  Mono- 
logen findet  sich  Personenwechsel:  ..Er  dachte,  was  willst 
du  nocli  höher  fliegen,  du  bist  doch  der  K(inig":  ..sie  dachte, 
ein  Auge  kannst  du  wohl  zutun,  du  wachst  ja  noch  mit 
dem  andern".  Erwähnt  seien  noch  der  volkstümliche  Eu- 
phemismus: „Der  kleine  Vogel  fürchtet,  es  ginge  ihm  an 
(\on  Kragen"  und  die  ßeimverbindungen:  ..ein  gewaltiges 
Sausen  und  Brausen",  ..aus  Wäldern  und  Feldern". 

Das  Märchen  von  der  Scholle  (IT-Ji  handelt  von  der 
Königswahl  unter  den  Fischen.  Nur  die  ausführlichere 
Schilderung  der  Anarchie  im  Wasserreiche  ist  ein  Ver- 
dienst der  Bearheitung.  Auch  hier  die  Beseelung  der 
Tierwelt;  wie  vernunftbegabte  Geschöpfe  stellen  sich  die 
Fische  am  Ufer  „in  Reihe  und  Glied"  auf.  —  Das  jMärchen 
.Rohrdommel  und  Wiedehopf"  (173)  gibt  eine  Erklärung 
des  Rufs  der  beiden  Vögel.  Unbedeutende  Zusätze  suchen 
der  diüi'tigen  Erzählung  etwas  aufzuhelfen. 

174.    Die  Eule. 
Das    Grimmsche   ]\lärchen    gibt   im    wesentlichen    die 
Darstellung   in  Kirchhofs  Wendunmulh  1,167:    ..Von    der 


—     80     — 

oulfMi  ZU  J^ein"  wiodor,  lässt  aber  die  Ortsangabe  fort. 
Ein  paar  Zusätze  heben  die  Anscliauliebkeit:  ..er  ersclu'ak 
beim  Aiil)lirk  (b'r  Knie.  (li(!  da  in  einer  Ecke  sass''  f.. er 
wird  dieses  \'og'els  ji'ewahr'');  ..eine  von  den  «grossen  Eulen 
\var  aus  dem  benachl)arten  Walde  bei  näelitlicber  Weib- 
in  die  Scheuei'  (unes  Bürg'crs  geraten  und  wagte  sieb,  als 
(b'r  Tag  anl)raili.  aus  b'urebt  vor  (b'ii  anib-ren  \'(»ii(dn.  die, 
wenn  sie  sieb  sdieii  lässt.  ein  l'ni(diti)ares  l_jies(dü'ei  (;r- 
lu^ben.  nicbt  wieibu-  aus  (kun  Sebbii)l'\vinkel  heraus"  („es 
■war  eine  !']ule  koninieii  und  (b)rrt  sieb  vor  l'^irebt  (b'r 
ancb'rn  Vögid  niclit  wieder  iiei'aus  tun").  ^lit  Iviicksiebt 
auf  die  Bestinuuung  des  Buches  wunbiii  einige  Derbheiten 
(b'r  \'orlage  gemibiert  o(b'r  überhaupt  verscb\vieg(Ui.  Sonst 
aber  war  der  T(^xt  ausschlaggebend;  (;r  ist  auch  niciit  ohne 
Vorzüge.  So  lindet  man  hier  bereits  die  echt  märchen- 
hafte Wendung  am  Anfang:  .. \'oi'  alten  Jalii'en.  als  die 
Leute  luelit  wie  jetzuiu!  verschmitzt  waren"  .  .  ..  bu'uer  die 
si)riehw()rtliche  Iledensart:  ..Keiner  will  den  Fuchs  beissen". 
Die  P>earl)eitung  fügte  noch  (?tli(die  volkstümliche  Ausdrücke 
hinzu:  ..S(jllen  wir  auch  unser  Leben  in  die  Schanze 
schlagen":  ,,alsü  ward  die  Scheuer  an  vier  Ecken  an- 
gezündet": ..ein  Ungeheuei".  wie  er  Zeit  seines  Lebens 
keins  erblickt  hätte,  sässe  in  der  Scheuer  und  drehte  die 
Augen  im  Koi)f  bei'uni".  Der  formcdhafte  Schlusssatz: 
.AVer's  nicht  glauben  will,  iler  gehe  bin  und  frage  selbst 
nach",  beruht   auf  dem    \"ers  dei'  X'orlaii'e: 

„Ist  einer  ki'ck,  zicli   it  ui'ii    l'i'iii 
l'iid  a'eli   daselbst   /.um   Ijier  iiiul    wrin, 
Fra<i'  sie,  was  ilm   die  eul  i;etan. 
Warum   sie  die   \  (M'bfennet   hau"  usw. 

175.    Das  Unglück. 

Das  Märcluui  steht  nur  in  der  4.  Auflage.  Vorlage 
war  Wendnnnuith  J.  J7S:  später  ward  es  durch  das  Märchen 
vom  Mond  ersetzt.  Den  Inhalt  drückl  der  allgemeine,  von 
Grimm  an  den  Anfang  gestellte  Satz  aus:  ,.Wen  das  Un- 
glück aufsucht,  der  mag  sich  aus  einer  Ecke  in  die  andere 


—    yo    — 

\('iki  icflicii.  oder'  ins  weite  l''"l(l  llitiKMi,  es  weiss  iliii 
ilciiiioi'li  /ii  tiiidcii-'.  |)rr  l»t'iiii'ikciiswcit.este  L'ntcrscliieil 
/wisclu'ii  der  \uil;i^c  uimI  der  15cnrh<'i(uii^'  li<';jt  in  dci- 
'rf'iidcii/.  Kiicldiof  l)('t(jiit  die  nioi'alisrlH!  Seite  stäi'kei': 
iii(dit  diiirli  ein  unaliwendhares  Sdiieksal.  wie  bei  Oriinin. 
sondern  inl'()l<;('  seinei-  ciiicnen  liale-uelil  wird  der  ai'iiic 
Ta^elrdinoi-  uiiL^Iii('kli(di. 

Das  Märchen  von  den  lioten  des  Todes  (ITTi  liiidt.-t 
sieh  schon  in  I  Iiilios  von  Trind)e!'i(  IvCiinor  ( v.  2i5()()() — 722) 
mil  ihm  „(ievatter  Tod"  (44)  vei  hinuhMi.  i'anli  eizäidt 
in  kurzen  Wortüii,  wie  ein  ."\lenscli  mit  dem  Tode  einen 
A'crtra^^  geschlossen  liabe,  ihn  m'tdit  zu  liolen,  bevor  er  ihm 
seine  Boten  g"esan(h.  ( i  riinnis  \'urhii;e  (  W'enihinmutli  II.  124) 
beginnt  wie  Pauli,  ist  alter  im  einzeliu'ii  aust'ührlichej". 
Die  Piearbeitung  fügte  die  Sfdiilderung  des  Kampfes  zwischen 
Tod  und  Uieseii  neu  iiinzu.  Gelegentlich  finden  sich  ge- 
nauere Detailbeschreibungen,  z.  15.:  ..Da  kloi)t'te  ihm  eines 
Tages  jemand  auf  die  Schulter,  uml  als  er  sieh  umblickte, 
stand  der  Tod  hinter  ihm"  (..bald  kam  der  Tod";):  ..er  ging 
mitleidig  heran,  richtete  ihn  auf.  Ihlsste  ihm  aus  seiner 
Flasche  einen  stärkenden  Trunk  ein,  und  wartete,  bis  er 
wieder  zu  Kräften  kanv  (.,er  hat  aus  Erl>armnuss  ihn  ge- 
labet'"):  ..kam  nicht  das  Fieber,  stiess  dich  an,  rüttelte  dich 
nnd  warf  dich  nieder"  (..vor  etlichen  Jahren  plagte  dich 
ein  hartes  Fieber"):  ..indem  kam  ein  junger  Mensch  des 
Wegs,  frisch  und  gesund,  sang  ein  Lied  und  warf  seine 
Aug{Mi  hin  nnd  her"  (..als  ihn  ein  .Jüngling  ersähe").  Auch 
die  direkte  Rede  hndet  sich  häutiger  als  in  der  Vorlage. 
Einige  Ausdrücke  gehören  der  Umgangssprache  an:  ..Weisst 
du  auch,  wer  icli  bin,  und  wem  du  wieder  auf  die  Beine 
geholfen  hast?"  ..Der  Jüngling  war  lustig  und  guter  Dinge 
und  lel)te  in  den  Tag  hinein.'"  Kirchhof  gelnaucht  dafiu" 
derbere  Wendungen:  ..Solcher  Zusag  halber  ward  das  Ge- 
müt des  Jünglings  in  Sicherheit  stolz  erhaben,  frass.  soff 
und  schlemmt  (Mii  und  alle  Tage,  dass  ihn  jetzt  dieser, 
dann  jener  (iebrechen  i)lagte".  Die  gereimte  Schluss- 
moral, die  ein  Memento  mori  bringt,  fehlt  bei  Grimm. 


—     91     — 

Die  5.  Auflage  (lS47j  t'ii<iti'  die  Xuiiiiiicrii  I7S  — li):; 
neu  hinzu,  dif  meisten  naeli   oedfncktcn   XorhiLirii. 

1711.     I  )i  I'  ( !  ;i  II  >r\\  i  II  i  11   am    H  rii  ii  ih'Ii. 

Nach  eiiKM' Erzäliluii^'  in  Kietkcs  Alumiiach  ileutselier 
Volk.smärclicii  (IS4(».  Xo.  2).  Kletke  verdankte  das  Märelieii 
seinem  Freunde  Andreas  .Seiiulimaclier  in  Wien  uml  hat 
nur  das  Verdienst,  es  aus  dem  Diah'kt  ins  liochdeutsehe 
umg"eschrict)('!i  zu  liahrn.  Merkwürdig  ist  die  Überein- 
stimnning  der  Vorgescliichle  des  .Märchens  mit  der  bc- 
rülimten  Exposition  des  „Lvünig  J^ear".  Die  (jiänselnrtin  ist 
eine  verstossene  Prinzessin.  Ibr  X'atcr  wollte  bei  der 
Teilung"  des  Reiches  derjenigen  von  seinen  drei  Tüchtcrn 
das  Beste  vermaclien,  die  ihn  am  meisten  liebte.  Die 
älteste  hat  ihn  lieb  wie  /.ucker.  die  zwfntc  wie  ihi'  schüiistes 
Kleid,  die  jüngste  so  lieb  wie  Salz.  Der  ergrinnnle  \'ater 
lässt  ihr  einen  Sack  mit  Salz  auf  den  liücken  binden  und 
enterbt  sie.  Bei  Shakespeare  ist  der  Vorgang'  ganz  ähnlich. 
Die  selbständige  Haltung  Cordeliens.  die  ihren  X'ater  liebt. 
..wie's  ihrer  Pflicht  geziemt,  nicht  mehr.  Jiieht  minder", 
reizt  den  alten  Lear  zu  masslosem  Zorn  und  er  sagt  sich 
von  ihr  los.  Di(>  Erzählung  lässt  sich  bis  zu  dem 
fabulosen  Geoffrey  of  Monmouth  zurückverfolgen,  der  um 
IHjö  aus  mancherlei  Üb(!rlieferungen  eine  Urgeschichte 
der  Briten  zusammeiisetzt(\ 

Die  \'or]ago  ist  auf  weite  Strecken  hin  fast  wörtlich 
benutzt  worden;  gelegentlich  wurde  gesti'ichen.  wo  sich 
die  Darstellung  etwas  redsfdig  in  die  Breite  zog.  Pro- 
vinziahsmen  wie:  „Ans(;hichf,  „gross-hoch-langmächtig", 
..feinwinzig",  „stockmüde",  „Müttcrle",  .,P>üi'scliel".  „Ue- 
spass",  „springgiftig"  u.  a.,  die  sich  auch  noch  in  Kletkes 
Umschi'ift  vorfinden,  wurden  beseitigt;  ebenso  trat  ITir  das 
oberdeutsche  Perfektum  regelmässig  das  erzählende  Im- 
perfektum ein.  p]iuige  volkstümliche  Wendungen  fügte 
man  neu  hinzu:  „Wenns  Ernst  wird,  so  wollen  sie  sich 
aus  dem  Staube  machen";  „ich  hab  dir's  sauer  genug 
gemacht";  „ihr  werdet  ja  so  rot  wie  ein  Zinshahn".    Tauto- 


logisch  iK.'isst  es:  ..Was  hilft  iiiii'  (ihm/,  uml  l-^hic.  jr'dfii 
Moili'fii  ('i-\v;u'h('  ich  mit  Sor^^cii  und  Kiiiiiiiht".  Die 
M'h<iiic  Ki'iiii^rstochtcr  h(;.s('hi'('il)t  (irimiii  nui'  mit  typischen 
\V('ii(liiiiiirii :  „Sit!  wai"  so  weiss  wie  dor  Schnee,  so  rot 
als  Aprclhlütc  uml  ilii'  llaai'  so  jrläiizend  als  Sofinmi- 
sti'ahh'ii".  Die  \()iia-v  liiliit  vci'wcjchliclK'nd  fort:  „und 
wenn  sie  diii'fli  den  Wald  oder  iilici'  die  Wiese  j/egangen 
ist.  sü  haljen  sich  die  Ijäiime  und  die  liliimlein  gehuckt 
lind  ucsti'ockt.  dass  sie  an  ihre  Händchen  anstreifen,  und 
ihre  l^'üsschen  küssen  nifichteii.  Die  Vögelein  sind  neu- 
gierig zu  ihr  herahgellogen  und  hahen  gepfiffen,  was  sie 
ans  dem  Mals  gebracht  haben,  nur  dass  sie  sie  anschauen 
und  tVeuiidlich  anlaclien  sollte''.  Der  Schluss,  woran  das 
persönli<'lie  Hervortreten  des  Erzählers  beachtenswert  ist. 
wurde  erst  von  Grimm  hinzugefügt:  ..Die  Geschichte  geht 
noch  weiter,  aber  meiner  Grossmutter,  die  si<?  mir  erzählt 
hat,  war  das  Gedächtnis  schwacii  geworden:  sie  hatte 
das  iJbrige  vergessen,  ich  glaube  imiuei',  die  sch(ine 
Königstochter  ist  mit  dem  Grafen  vermählt  worden,  und 
sie  sind  zusammen  in  dem  Schloss  geblieben,  so  lange 
Gott  wollte."  Mit  scherzhaften  Worten  fährt  er  fort:  ..Ob 
die  schneeweisen  Gänse  lauter  Mädchen  waren  (es  braucht's 
niemand  ül)el  zu  nehmen),  das  weiss  ich  nicht  genau,  aber 
ich  vei'mut(^  es  doch"  usw. 

180.    Die  ungleichen  Kinder  Evas. 

Zu  Grunde  liegt  der  bekannte  Hans  Sachsische  Schwank 
von  der  Einsetzung  der  menschlichen  Stände.  Bereits  in 
einem  eddischcn  Gedicht,  dem  Liede  von  Kig.  wird  der 
Unterschied  der  Berufsarten  in  mythologischer  Weise  dar- 
gestellt. Die  alte  Sage  trug  sich  später  auf  Adam  und 
JCva  über:  im  Mittelalter  bildete  sie  sich  zu  der  uns  ge- 
läufigen Form  aus:  Gott-Vater  bestimmt  bei  einem  Besuch 
in  der  Hütte  Adams  die  verschiedenen  Söhne  Evas  für 
einen  besonderen  Stand,  den  ihre  Nachkommen  noch  jetzt 
beibehalten  müssen.  Die  Gründe  sind  in  den  einzelnen 
I'oarbeitunü'cn    verschieden.      Die    älteste    bekannte    Auf- 


—    o:5    — 

/('iiliiiiiiii;-  des  Märcliciis  Itirtct  der  ilaliciiisclM-  I  liiiiiaiiist 
I>a|)tista  Maiituaiius ')  (1448— 151G)  in  ciini-  mu  1470  uo- 
dielitctoii  Kklo^e-).  In  Dcutsflilaiid  ist  walii'sclicinlicli 
schon  ein  iicistliches  Schauspiid,  von  Hans  Kudolf  lölt; 
in  Freibei'g'  insceniert,  auf  ManUianiis'  Einllnss  ziiriick- 
zulühron.  Sicher  i,nlt  (h\s  von  der  Bearhoituiiu-.  die  Agricohi 
unter  der  Überschrift:  „Do  Athini  reutte  und  llcva  si)anii. 
wer  was  da  ein  Eddehnann"  in  seiner  Spricdiwrirtrisannidun;^' 
1528  bietet  (No. -it.^').  .Mchinehthon,  ih'r  die  Kabel  15:V.> 
seinem  offenen  Brief  an  den  (Jrafen  .bdiaun  i\'.  Non  Wied 
eingefügt  hat-'i,  änderte  sie  wesentlich  um.  .Mantuann-< 
erzählt,  dass  Eva  einen  Teil  ihrer  Kinder  versteckte,  da 
sie  sich  schämte,  eine  so  grosse  Anzahl  geboren  zu  haben. 
Bei  ]\Ielanchlhon  werden  die  Kinder  verborgen  gehalten, 
weil  sie  hässlich  und  schmutzig  sind.  \'or  allem  aber 
macht  er  die  Verschiedenheir  der  Stände  abhängig  von 
eintMu  Katechismns-Exameu.  das  der  ileri-  mit  Evas  Kindern 
anstellt,  und  h-gt  nachdrücklich  so  seine  pädagogische 
Tendenz  an  den  Tag.  Der  fromme  Abel,  der  sich  sein- 
beschlagen  in  protestantischer  Dogmatik  zeigt,  wird  reich 
gesegnet:  Kain  dagegen  ist  störrisch  und  widerspenstig 
um!  nmss  sich  mit  dem  Bauernstande  begnügen.  Die  von 
Melanchthon  geschaffene  protestantische  Legende  be- 
arbeitete man  im  !(!.  und  17.  dahrhnndert  ungemein  häutig, 
und  zwar  in  den  verschiedensten  literariscluMi  l'^ormen. 
Unter  den  zahlreichen  Bearbeitern  des  10.  .Jahi'hunderts 
steht  in  der  ersten  Keilie  Hans  Sachs,  der  die  Legende 
von  Melanchthon  entlehnte  und  viermal  in  J\eime  gebracht 
hat-'i,  als  -Meistergesang,  Eastnaclitspiel.  Komödie  und 
1Ö58  als  Schwank'^).  Nur  dieser  kommt  als  Grimms  Vor- 
lage für  uns  in  Betracht.  Er  ist  unter  den  Bearbeitungen 
des  Nürnberger  Poeten  als  die  gelungenste  zu  bezeichnen. 


1)  Nachweis  Boltes,  Schumaans  NachlbüclihMii  S.  4n;>. 

2)  Z.  T.  abgedruckt  bei  Bolle  S.  372  f. 
•')  Corpus  refoi  nialoi'iim  3.053. 

•*)  Vgl.  Michel,  Heinrich  Knausl   S.  30. 
■'•)  Schwanke  eil.  Cioolze  I,  li)4. 


-     94     — 

Aul  die  Irin  Iwittr  K;itiM|iisiiiiis|iriiriiii;.'^  wiirl  vi-rzirlitot.  und 
so  tiii^^t  (las  (Jaiiz«'  <'inf'n  (•iiilicitliclM'ii  ( 'iiarakter.  \'<»r 
ailfMii  alxT  kommt  dci-  |tt;i<litiLr(;  llumoi-  (Ilt  lOrzäliliin;.'' 
Iiiir  am  vollkoiiiiiHiistcii  vaw  <irltiiii^. —  Die  BearlKMtunjr 
tol<4(  der  \'orln<i(;  ^i'^t  l>i-'^  aul'sWort:  riiii'  an  zwei  Stadion 
wiifdcii  kiiizc  Sätze  iiitcjpolicrt.  Die  \Vf'iiduii;r  am  Anfang': 
„Adam  hackte;  da«  l''<dd  uml  l']va  spann  ^^'oll(''•  ist  dor 
DarstfdlniiL;  in  .\;;ricoIas  Spricdiwörtcrn  ontlolint.  und  das 
ansclianliclic  Hild.  dnss  der  IIcit.  um  Kva  zu  ültfrrasclion. 
an  die  Tür  klo|)lt.  woj'aul'  A<lam  ihinli  die  Sjialte  lufrt. 
lim  zu  seilen,  wer  komme.  eiit>tammt  dei-  JiL>arbeitun<r 
von  (Jeor^MJud.  Widmami 'j;  ,.da  ihn  nun  unser  Herr  auf 
ein  Zeit  visitieret,  war  des  .Aehiins  Hütte  und  BeJiau.sun.L' 
liesehlossen.  {\r\'  Herr  klopfet  aii.  als  aber  Adam  und  sein 
Weib  Heva  duic.h  ein  JjOcIi  (hm  Herrn  ersahen,  erschraken 
sie  selir".  liloss  an  einer  Stelle  wurde  die  Vorhii^e  ge- 
kürzt. r>ei  der  Beschreibung-  der  schmutzi^'-en  Kindersebar 
schwelgt  Hans  Sacli.s  in  der  \'erwenduni,^  von  charakte- 
ristischen Adjektiven;  V.  104ff. : 

„lOin   unflelig  gestrobelte  rott, 
(irinliji'  und  lausig,  zottet  und   kue.sig, 
Zerliadort,  ge.schmützig  und  ruesig 
Grob,  ungeschickt,  dolpet  und  dötschet. 
Schlüclilig.  on  zuecht  ])ä\vriscli  und  lüt.-^ciiet." 

(Irimm  mildert  etwas:  „die  ganze  grobe,  schmutzige. 
giindige  und  russige  Schar".  Die  Angabe  des  Verstecks 
der  Kinder  ist  aber  in  der  Umschrift  absichtlich  in  die  Länge 
gezogen:  für  jedes  der  zwölf  Kinder  weiss  er  einen  Platz 
zum  Unterschlüpfen  zu  nennen.  Die  lange  Schlussmoral 
der  Vorlage  (V.  195 — 22i2\  die  sich  des  ^veitoren  über 
(lOttes  segensreiches  Regiment  auf  Erden  ausspricht  und 
vor  t'berhebung  und  Unzufriedenheit  warnt,  bliel»  weg. 

181.    Die  Nixe  im  Teich. 
Xach  einer  Erzählung  von  ^NForitz  Haupt  aus  der  Ober- 
lausitz-).    Die  Grimmschen  Änderungen  beschränken  sich 

1)  Vgl.  Zeilschrift  f.  deutsches  Altertum  11^63. 

2)  Ebenda  1,202  IT. 


—     95     — 

auf  L:('ringfii<2:iL;"0  Zusätze.  Die  Bescliirihmit:  der  Landscliaft 
jidit  mclir  \n<  ncsoiidcre:  di(3  Wassi-fiiixe  w'wd  hestiiiiiiitcr 
jiozeicliiirt :  ..rr  crldickto  ein  sclifincs  Weil),  das  sich  lau^- 
saiu  aus  dein  Wasser  ciliol):  ihre  langen  Haare,  die  sie 
über  den  ."^eliiiltern  mit  ihren  zarten  ]län(h'n  gefasst  hatte. 
Ilosseu  an  beiden  Seiten  herab  und  be(U?clvt(Mi  ihren  weissen 
i.eib"  (..da  stieg  eine  weisse  Frau  daraus  hervor").  Ein- 
mal Nvii-d  auf  einen  alten  Volksaberglaubcn  angespielt: 
..Den  Knaben  selbst  Hess  ei-  nicht  in  die  Nähe  des  Wassers. 
Hüte  dich,  sagte  er  zu  ihm.  wenn  du  das  Wasser  berührst, 
so  konnnt  eine  lland  heraus,  liaseht  dicli  und  zieht  dich 
hinab".  Die  N'olkstümliehkeit  des  Ausdrucks  ist  z.  T.  ver- 
stärkt (lureli  den  Paralleiismus  einzelner  Redensarten:  ..Sie 
ti'ieben  iliif  Herden  durch  Feld  und  Wald",  odei'  allite- 
lierend:  ..es  war.  als  ob  Kisten  uiul  Kasten  von  selbst 
sich  füllten". 

Das  Märchen  vom  lliesen  u  nd  Sehn  eider  (183)  ent- 
hält den  Druckfehler:  ..sich  in  dem  Wald  umzuschauen" 
(..si  in  da  Wiild  [Wclt|  umma  zu  schauen")  und  den  un- 
verständlichen Satz:  ..Warum  nicht  lieber  gleich  tausend 
auf  einen  Schuss.  uiul  die  alle  hierher?"  (Vorlage:  .....  und 
<li  dazu?  =  und  (licji  dazu).  Im  übi'igiMi  ist  es  eine  wflrt- 
liche  Übertragung  der  \'orlage  \). 

Die  folgenden  4.Märch(Mi  sind  nach  Ludwig  Aurbachers 
..Hüchlein    für    die  .Jugend"  (1S:}4)   mit  geringfügigen  Ab- 

weichungi'u   ei'zälilt. 

Den  lidmit  des  Märchens  vom  Nagel  (184j  bringt 
kurz  ein  altdeutscher  Spruch: 

,.l-;in   iiagol  t)olKill   ein   i>cn.  (mii   iscn   ein  vos.  ein   rus  ein   man, 
ein   man  ein   burcli.  ein  l)ui'rii   ein  lanf-i. 

Der  Eingang:  ..Wer  im  Kleinen  nicht  Sorge  trägt,  muss 
im  Grossen  Schaden    leiden.     Das    erfuhr  auch  ein  Kauf- 


')   l-"ranz   Ziska,  ( )steiTeieliise]ie  Volicsnjärelieii    1822,  S.  9  IT. 
-)  MüilenlKiir-Selicrer  Deiikm.    I.  Xu.  40.0. 


—      \H\      — 

\\rw.     (Irr    Ulli    eines     selileelitei)    .\;i;.'-els     willell    «'ill    SCll<"nies 

ivoss  \ cilor".  IVlilt  liei  (ii'iiiiiii.  Hill  ilii'  SiciiiiiiiiiL''  nicht 
L''l<'icli  ;uii   Anriiiii:    aury.iilicbcii.     Statt    der  Trope:    ..wolil- 

liepiiekt  mit  (ii|(|  lind  ( ie|(ls()r;^M'!i''  selii'eiht  die  I>eail)eitiiii;r 
\  i»lksliiiiili(  lief:  ..ei'  hatte  ^eine  (iiddkat/.e  mit  (inld  und 
Silher    L;-espi(d<f  '). 

hie  [''assiinii'  des  ■\läi(dii'ns  Xu.  js,')  Der  afim*  .]  un^n' 
im  (jral)-)  iiiilr'rs(dif'idi't  siidi  von  der  \orla;i<'  inii'  dui-cji 
einij4"('  \Voil\  (•liiiideriiii^cn.  l'i'o\in'/ialisiiieii  wie:  ..l-'icii- 
liof".  ..Ilafeir'.  ..riphiUiiicIicn"  weiden  mit:  ..Kirohiior", 
..Topf".  ..Kiiclilciii"  w  iederi!i\ii'elH.'ii,  ('lu;nso  di*'  Worte: 
..Schnaps".  ..I5i'aniil\veiii  odei'  Kirscliwasser"  in  ..W'ciif 
lind  ..riii:;i!\veiir-  vei-\vandelt.  \'olkstiimliclicr  i.st  Grimm 
in  Wendungen  wie:  ..als  er  wieder  auf  den  Beinen  war" 
(..als  er  wieder  i^'esund  geworden  war''),  ..ich  schhign  dich 
so  lange,  l)is  du  kein  Glied  mcjir  regen  kaniisf  (,,cr  drohte 
ihm  mit  'rotschiagen'').  Der  Ausdruck:  ..(h'in  waren  seine 
KItein  gestoiben''  lautet  bei  (iriinm  kindlicher:  ..Dem  war 
\'atcr  und  Mutter  gestorben'"  (vgl.  \o.  7S:  ich  mach  ein 
Tn'iglein.  daraus  sollen   Vater  und  Mutter  essen"). 

188.    Spindel.  Weberschiffchen  und  Nadel'') 

Die  Bearbeitung  legt  Wert  auf  feinere  Ausführung 
der  Bilder:  so  sticht  z.  Pi.  die  Bes.direibung  des  Wunder- 
teppichs merklich  von  der  Vorlage  ab:  .,Auf  der  Tür- 
schwelle fing  es  an  einen  Teppich  zu  weben,  schöner  als 
man  je  einen  gesehen  hat.  Auf  beiden  Seiten  blühten 
Jvoseii  und  Lilien,  und  in  der  Mitte  auf  goldenem  Grund 
stieg(Mi  grüne  Ivankeii  auf.  darin  si)rangen  Hasen  und 
Kaninchen.  Hirsche  und  Rehe  steckten  die  Köpfe  da- 
zwischen, ol)en  in  den  Zweigen  sassen  bunte  Vögel,  es 
fehlte     nur.     dass    sie    gesuna'en    hätten"'.      Die    Vorlage 


')  Vii-l  Büchlein   f.  d.  .Jiin'end   S.  71  f. 
•■^)   i^heiula  S.  1(17  f. 
•:)   labend;!    S.  1()0  IT. 


—     07       - 

vciluvitft  siili  iiidit  iihcr  Kiir/cllifitfii.  son(l(>rn  liegnügt 
sich  mit  ilcr  alli;uni('im'ii  An^'alx':  ..das  Olewfibo  war  so 
srlMiii  iiiul  icicli  an  Silhcf  iiiid  (lold.  dass  nichts  Kost- 
harci'cs  ^•(d'undcii  werden  inai;-  in  allen  Köni<i"Si)alastcn". 
Ixiiliineiisweit  ist  liei  (iiiinin  die  V('i'\vendnn<jj  zahlreicher 
iiihler  aus  der  'Fier-  und  Pthmzcnwelt.  auf  die  als  auf 
etwas  uanz  Bekanntes  und  der  kindlichen  Vorstellunii' 
Oeläutio-es  mit  gutem  IJecht  hingewiesen  wird.  Das  schöne 
Mädchen  wird  mit  giosser  Feinheit  gezeicimet:  wie  es 
den  Königssülin  erblickte.  ..ward  es  über  und  über  rot, 
schlug  die  Augen  nii'dei'  und  spann  W(uter":  und  um  die 
rnruhe  der  \'(n-liel)ten  zu  schildern,  fügt  die  Bearbeitung 
treffend  hinzu:  ..ol)  der  Paden  diesmal  ganz  gleich  ge- 
worden ist,  weiss  ich  ni<-lit.  aber  es  spann  so  lange,  bis 
der  Königssohn  wieder  weggeritten  war.  Dann  trat  es 
ans  Fenster,  öffnete  es  uiul  saii'te:  es  ist  so  lieiss  in  der 
Stube:  al)er  es  blickte  ihm  nach,  so  lange  es  noch  die 
weissen  Federn  an  seinem  Hut  erkennen  konnte".  Die 
drei   Verse  bei  (irimm: 

.,Spiii(lcl.  SpiiideJ,  H'eli  du  uns, 
liriiiii'  ili'M    l-"reier  in  mein   H.-iiis"     usw. 

weichen  von  denen  der  Vorlage  etwas  ab,  um  den  alter- 
tiunlichcn   Heim: 

.,Si)in(lel  fein,  Spindel  schon, 
I5egrüs.sc  mir  den   Köniussolm" 

ZU  vermeiden.  Statt:  ,,sich  ernähren"'  heisst  es  volks- 
tiuulicher:  ..sich  sein  Brot  verdienen":  auch  kommt  die 
alliterierende  Redensart:  „vor  Wind  und  Wetter  gescliützt 
sein"  eimual  vor. 

189.    Der  Bauer  und  der  'PcMifel')- 

Die  Teilung  der  Ernte  zwischen  einem  dummen  Teufel 

um!    einem    klugen  Bauern,    wol)ei    die  Hölle  zweinml  um 

das  erhoffte  Gut  betrogen  wird,    ist    auch  durch   Rückerts 

tledicht  ..Der  betrogene  Teufel"-)    allgemein    bekannt  ge- 

1)  Büchlein   f.  d.  Juiiend  S.  24:9:    IJoUr.   Zs.  d.  \ereins  f.  Volks- 
i<unde  s,2l. 

■^j  Hü.-l<ert.  WiTke  ed.  lOUin.i^vr  I.'2!t8. 
Palatstra  XLVII.  7 


wiifdcii.     Iiih;illli''|i    hat     sich    dir    lirarlicitmiL'    ••ii;i  an   <li<' 
Vorla^^n    anf^cschlosscii.    stellt  alxT  die  hfidcn   I'nnktc  der 
Wotte  um.  I)or  Baucf  sät  aiifan^''s  I\iil)saiii<'ii.  dann  Weizen. 
Ks  ist  natiiriiehei',    wenn    sieh  der  Tenfel  znerst  den  Teil 
dei'  lOrnte    ausl)odin<rt.    *\>-y    >i'li    ül"'!     dri'  |-'rde  iM-lindet. 
Der  Schhiss  der   Vorla^i-,  wonaeli   liauer  nnd   Teiil'.'!  ver- 
suchen, wer  am  meisten  Hitze  ertraj^en  könne,   wurde  als 
., schlecht    erdacliL'^    fortgelassen.      Beide    setzen    sieh    in 
ein    stark    geheiztes  Zinnner.    der  Bauer    weiss    sich  aher 
durch  eine  geheime  (jffimng  Kiihhintr  zu  verschallen.  Einen 
andern   Schluss    bietet  MüUenhoff  j.     Die  Bauerfrau  zeigt 
dem  Teufel,  als  er  zu  ihr  kommt,  einen  Riss  im  Tisch  mit 
den  Worten:    „Da   hat  mein  Mann  mit  dem  Nagel  seines 
kleinen  Fingers  diesen  grossen  Riss  (luer  in  meinen  schönen, 
eichenen  Tisch    gemacht".     Und    als  er  weiter  hört,    da.ss 
sich    der  Bauer    beim  Schmied    die  Nägel    schärfen  lasse, 
macht  er  sich  eilig  davon.  —  (Jber  den  Stil  ist  wenig  zu 
sagen.     Ähnlich    wie    die   Vorlage,    nur    etwas    zierlicher, 
beginnt   auch  Grimm:    „Es   war    einmal    ein    kluges    und 
verschmitztes  Bäuerlein,  von  dessen  Streichen  viel  zu  er- 
zählen wäre:    die  schönste  Geschichte  ist  aber  doch,    wie 
er  den  Teufel  einmal  dran  gekriegt  und  zum  Xarren  gehabt 
hat".     („Den    Teufel    hat    einmal    ein    Bauer   schön    dran 
gekriegt  und  zum  Narren  gehabt:  wenn  ihr  die  Geschichte 
hören    wollt,    so    will    ich    sie    euch    erzählen").     Mit  der 
sprichwörtlichen  Redensart    des  Bauern:    „So    muss    man 
die   Füchse   prellen'"    schliesst   das  Märchen    bei   Grimm 
bündig  ab. 

186.  „Die  wahre  Braut"  ist  ein  lausitzisches 
Kindermärchen  nach  Haupts  Zeitschrift  11.481 — 86.  Die 
Grimmsche  Bearbeitung  erzählt  bisweilen  ausführlicher  und 
bestimmter.  So  wird  z.  B.  das  Wunderschloss,  das  die 
Fee  errichtet,  sehr  eingehend  beschrieben.  Wertvoll  an 
der  Schilderung    ist   die    poetische  Belebung  der  Sprache 


M  Sagen,  Märclien  und  l.inliM- aiisSclileswig-Holsleiu  elf.  S."27n. 


—     99      ~ 

uimI  <li"'  Klciimialfrt'i.  z.  I^:  ..<li<'  l-'i-lscn  rückten  zusammon. 
und  standen  da.  als  hätten  KMesen  dio  Mauer  gebaut: 
darauf  erlioli  sieh  (his  Cielj;iu(h!.  und  es  war,  als  oh  un- 
zählige liändr  unsiehthar  arl>eitelen  und  Stein  auf  Stein 
legten.  Dei'  lindm  (hrdinte.  grosse  Säulen  stiegen  von 
selbst  in  die  Hrdie  und  stellten  sich  neben  einander  in 
Ordnung,  auf  dem  Dach  legten  sich  die  Ziegel  zur.eclit"  usw. 
(Trimm  weiss  genau  mit  der  Einrichtung  der  Küche 
Bescheid:  ,.Aber  das  Feuer  brannte  auf  dem  Herd,  in 
den  Töpfen  kochten  die  Speisen,  Kluft  und  Schippe  waren 
angelehnt,  und  an  den  Wänden  das  blanke  Geschirr  von 
Messing  aufgestellt.  Nichts  fehlte,  selbst  nicht  der  Kohlen- 
kasten und  die  Wassereimer'.  Die  Pracht  des  Schlosses 
wild  auch  ferneiliiii  noch  stark  hervorgehoben,  z.B.:  ,.Ks 
wusste  sich  in  der  ersten  Zeit  gar  nicht  in  seinem  (llück 
zu  finden,  schöne  Kleider  hingen  in  den  Schränken,  die 
TiMiheii  waren  mit  (Johl  und  Silber  oder  mit  Perlen  und 
Edelsteinen  angefüllt,  und  es  hatte  keinen  Wunsch,  den 
es  nicht  (M-füllen  konnte:  überall  war  eine  Pracht,  als 
wenn  ein  l\()nig  einziehen  sollte:  als  sie  in  das  Schloss 
eintrat,  musste  sie  die  Hand  vor  die  Augen  halten,  so 
blendete  sie  der  dlanz."  Die  Eigennamen  „Lassmann'" 
imd  „Helene"  wui'den  als  M()(leiiiisi(M'ung  gestrichen.  Die 
.,Fee"  ist  (wie  in  NO.  i:}(i)  in  eine  alte  Frau  verwandelt. 
Der  Schluss  der  Vorlage  erwähnte  kurz  die  Verbindung 
des  jungen  Paares.  Bei  Grimm  ninmit  auch  die  Natur 
an  dem  Glück  der  Neuvermählten  teil:  .,Als  wäre  der  Wind 
vorgespannt",  heisst  es,  ..so  eilten  die  Pferde  zu  dem 
Wunderschloss.  xAls  sie  an  der  Linde  vorbeifuhren, 
schwärmten  unzählige  Glühwürmer  darin,  sie  schüttelte 
ihre  Äste  und  sendete  ihre  Düfte  herab.  Auf  der  Treppe 
blühten  die  Blumen,  und  aus  dem  Zimmer  schallte  der 
Gesang  der  fremden  Vögel." 

190.  Die  Brosamen  auf  dem  Tisch  ist  eine  wort- 
getreue AViedergabe  der  Vorlage  (Haupts  Zeitschrift  für 
deutsches  Altertum  Ill.:^,6). 


Mm 


r.»l.  I)"'i  l.'iinItiT  iiml  seine  Sühne. 
Das  Mjtrclien  wiinle  mir  in  <li<'  "».  innl  »l.  .\ull;i;:e 
niil'^^enominen:  spiilrr  steht  st;itt  (h-ssrn  die  aus  iiiiin«!- 
h'ehef  (?)  'ri'iulition  Lfesehiipfte  Kr/iihhiiiL;  vom  ..Meci-- 
hiischen"  an  seiner  Stelii-.  (Ji'imni  hcnut/t''  (h'n  Ahdiin-k 
einiT  Handschrift  dos  15.  .)ahrhun(h'its  in  Haupts  und 
Hoflnianns  Altdoutsehen  Klättein  (I.l  I!)  127).  Das  Mänlien 
stimmt  tfrösstentoils  mit  Odyssous"  Abonteuei'  in  iU'V  H<»li|e 
Polyphems  iiheroin  ')  und  wiinh)  so  wiedeforzühlt.  wie 
die  Vorlage  es  braehle.  Aueh  der  Stil  zeigt  trotz  der 
Umschrift  ins  Hochdeutsche  keine  bemerkenswerten  Untor- 
scliicde.  Nur  am  Anfang  zog  man  die  etwas  l)rcitc  Dar- 
stellung (mger  zusannnen  und  fügte  dit^  Sprichwörter  hinzu: 
..Der  Apfel  fällt  nicht  weit  vom  Stamm":  ..ehrlich  währt 
am  längsten'";  ,.der  Krug  geht  so  lange  zu  Wasser,  bis 
er  bricht'".     Der  moralisierende  Schlussvers  Mel  fort. 

19-2.  Der  Meisterdieb. 
( irimm  folgte  einer  von  Georg  Fr.  Stertzing  in  'riiiiringen 
aufgefassten  Überlieferung-)  und  besserte  nur  in  einigen 
Ausdrücken.  Namentlich  treten  die  volkstümlichen  Euphe- 
mismen hervor:  „es  geht  dir  an  den  Hals'"  („du  musst 
unfehlbar  sterben");  „du  musst  mit  des  Seilers  Tochter 
Hochzeit  machen  und  das  Gekrächze  der  Raben  soll  deine 
Musik  sein":  ..du  kannst  auf  deine  Erhöhung  am  Galgen 
rechnen"":  ..für  diesmal  konunst  du  mit  heiler  Haut  davon"' 
(..ich  schenke  dir  das  Leben,  das  du  eigentlich  verwirkt 
hattest").  Ferner:  „Was  zog  der  Graf  für  ein  langes 
Gesicht."  ..Was  hast  du  in  dem  Eässchen,  du  alte 
Schachtel?"  ..Für  Geld  und  gute  Worte  geh  ich  euch 
gerne  ein  Glas."  Das  Atmen  des  Knechts  vergleicht 
Grimm  sehr  drastisch  mit  dem  ..Blasen  eines  Schmiede- 
balgs'" und  legt  dem  Meisterdieb,  als  dieser  den  Pfarrer 
und   den  Küster   in    den  Taubenschlag  gebracht  hat,   die 


«)  W.  Grimm.  Kl.  Srhriltfii  IV.  -t'is  IT. 
•■2)  Z.S.  f.  deutsches  Altertum  II[,2il2  ll". 


—      101      — 

sclierzliaftcii  Worte  in  den  Mninl:  ..Wüvt  ihr.  wie  dio  Eiigol 
sich  freuoii  und  mit  dfii  i'^ittichcn  schhigen?"  Die  i)eiden 
i^laubten  nämlich  im  Himmel  zu  sein. 

Die  \'t»ila;^'e  fiii- das  Mäidien  ..Der  ^lond''  (175)  gab 
lleinr.  Pröhie,  Märchen  ITir  die  .lugend  .\'o.  :5!).  Die  Be- 
arl)eitung  streicht  den  Ortsnamen  ..Selinorrwitz"  und  licht 
nneh  mehr  als  die  Vorlage  die  humoiistische  Seite  der 
llrzähiung  hervoi':  Die  Gesellen  denken  l»eim  K*auh  des 
Mondes  an  nichts  Arges  und  sprechen  harndos:  ..Wir 
wollen  den  jMond  weglühren,  sie  können  sich  hier  einen 
andiTu  kaufen.'"  Sie  halten  den  Mond  für  ..eine  leuchtende 
Kugel"  oder  ,.(;ine  Lampe"  und  l)eschneiden  ihn  in  dei' 
Heinnit  ..mit  einer  Heckenschere".  Wie  dunkel  es  nach 
seiner  Wegt'ühi'ung  in  dem  wundersamen  Lande  war.  zeigt 
uns  (liimm  an  einem  anschaulichen  Beispiel:  ..Wenn  die 
Leute  altends  ohnti  Laterne  ausgingen,  stiessen  sie  mit 
den  K()[)t'en  zusanuuen"  und  führt  den  hübschen  Zug  an. 
dass  in  der  hellen  Moiulnacht  ..die  Zwerge  aus  den  b'elseii- 
höhlen  hervorkonnnen.  und  die  kleinen  Wichtelmänner  in 
ihi'eii  roten  Röckchen  auf  den  Wiesen  den  Ivingeltaiiz 
tanzen." 

Die  6.  Auflage  (1S50)  ergänzte  die  Sammlung  bis 
auf  '2V0  Nummern.     Für   die   ..l']rl)senpr()l»e"    bi'iiigt    sie 

IH'2.  Die  Geschenke  des  kleinen  Volks. 
Die  Vorlage')  bietet  am  Anfang  die  etwas  sentimentale 
Stelle:  ,,B^ld  ^^'^i'  es,  wenn  sie  aufhorchten,  als  rauschte 
nur  der  Wind  so  sanft  in  den  Linden  am  Wege,  bald  als 
klängen  die  Glockenblumen  auf  der  Wiese,  wenn  sie  im 
Winde  sich  neigten.  Und  der  Schneider  dachte  an  seine 
liebe  Bi'aut.  die  er  daheim  gelassen  hatte  und  seufzte,  dass 
er  so  arm  sei.  und  die  Spielleute  wohl  noch  lange  nicht 
zu    ihrem  Hochzeitstanze    aufspielen  würden."     Dies  fehlt 


,')   K.  SdiinuiT,  Sag't'ii,  Märeht'ii   und  ( K'bräiK'lic  aus  Tliüiingcii 
S.  82  f. 


102      — 

lit'i  (Iiiiiiiii.  (Ici-  (Im  SdiiH-idfi'  wie  auch  sutist  mit  mcAw 
Laiiiif  1111(1  Lciclitsiiiii  aiisstaltct.  I*'ür  diMi  Ausdruck  (lt*i- 
virlirlitcn  Scliiisiiclit  liiidrii  wii-  liici-  eine  sclicrzlialt«; 
VVriiduii^^:  .,.Ict/l  werde  ii'li  Meister,  heirate  meineii  an- 
;,'oiiehiucii  (je<,M'iistaiid  (wie  er  seine  Lieliste  nannte)  und 
hin  ein  glückliciior  Mann",  (int  ist  die  ( iiiuinische  Ah- 
weiehiiii<:'.  dass  di'r  (Joldschmied  sii  li  in  i\ri  \'orz\veifluri^' 
iiher  den  N'erlust  stMnes  Keiclituuis  \(»r  «len  Kopf  sclilä<;t 
und  da(hireli  sein  neues  Missnesehiek.  den  Maii^^d  des  ßarts 
und  der  Ilaare.  kennen  hiiit.  In  der  X'orlage  wird  es  ihm 
diireli  seinen  Kameraden  mit^reteilt.  .Man  sieht,  dass  Orimni 
sieh  die  Situationen  yec^eiistiindlieher  <.'einaelit  liat  als  die 
Voi'lage. 

194.  Die  Kornähre. 
Die  \'orlage^)  erzählt  nach  mündlicher  l 'Ijerlieferung. 
Im  Kingang  gebraucht  ürimni  das  formelhafte:  ..Vor  Zeiten, 
als  Gott  noch  selbst  auf  Erden  wandelte"  (früher  vor  langen, 
langen  .Jahren).  Einige  unbedeutende  Zusätze  heben  die 
Anschaulichkeit:  ..Ihr  kleines  Kind,  das  neben  ihr  sprang, 
tiel  in  eine  Pfütze  und  beschmutzte  sein  Kleidchen"  (einst 
hatte  sich  ein  Kind  verunreinigt);  die  Mutter  reisst  .,eine 
Handvoll''  Ähren  aus  (die  reichen,  schönen  Ähren). 

In  d(Mii  Märchen  vom  Grabhügel  (195)-)  hat  Grimm 
den  Anfang  sehr  erweitert  und  ausführlich  den  Reichtum 
des  geizigen  Hauern  geschildert.  Im  folgenden  schliesst  er 
sich  enger  an,  fügt  aber  volkstümliche  Kedensarten  bei. 
So  geh(")ren  der  Soldatensprache  an:  „Herr  mit  der  roten 
Feder,  ihr  seid  mein  Hauptmann  nicht":  „wir  wollen  euch 
das  Feld  räumen  und  a])ziehen".  Der  Soldat  macht  eine 
Anspielung  auf  das  bekannte  Märchen  vom  „Gruseln 
lernen"  (No.  4):  „Das  Fürchten  liab  ich  noch  nicht  gelernt; 
ich  bin  wie  der  Junge,  der  ausging  das  Gruseln  zu  lernen 


1)  Zs.  d.   Vereins  für  lies.si.sfhr  Geschiehte  IV.   1847,  S.  114. 
-)  Ebenda  S.  115. 


—    lorj    — 

und  sich  vergchlioli  l)eiiiiilite.  der  aber  bekam  die  Königs- 
tochter zur  Frau  und  mit  ilu-  grosse  I^^iclitümer'\  Andere 
populäre  Redensarten  sind:  ..ich  st  dir  da  wie  einer,  dem 
das  Wasser  bis  an  (hMi  \io[)\  geht";  „wo  ihi'  nicht  weg- 
geht, dreh  icii  eucli  die  Hälsi^  um":  „der  Teufel  zog  ge- 
lindere .Saiten  auf:  ..th'in  K()hlenl)renner  wollen  wir  schon 
eine  Nase  drehen".  Auch  konnnt  im  (jegensatz  zur  Vor- 
lage der  Monolog  mit  Personenwechsel  vor:  .,Der  Teufel 
dachte.  mitCiold  fängst  du  (iif  zwei  Haderlumpen  am  l^esten". 
Anschaulich  wird  der  Handel  zwischen  dem  Teufel  und 
dem  Soldaten  beschrieben:  „Xui"  eingefüllt,  rief  der  Soldat, 
aber  ich  zweifle,  dass  der  Stiefel  voll  wird.  Das  Geld 
klingelte,  als  es  herabfiel,  und  der  Stiefel  blieb  leer.  Üer 
Teufel  blickte  mit  seinen  glühenden  Augen  S(dbst  hinein 
und  überzeugte  sich  von  der  Wahrheit.  Ihr  habt  unver- 
schämt dicke  Waden!  i'ief  er  und  verzog  den  Mund.  Meint 
ihr.  ich  hätte  einen  Pferdefuss  wie  ihr?  erwiderte  der 
Soldaf.  Auch  dass  der  Teufel  das  Geld  von  einem 
Wechsler,  „seinem  treuen  Freunde",  holt,  ist  von  Grimm 
absichtlich  hinzugefügt  worden,  da  nach  altem  Volksglauben 
der  Reiche  am  ehesten  den  Lockungen  des  Teufels  ver- 
fällt. Metaphorische  Ausdrucksweise,  die  sonst  nach  Mög- 
lichkeit vermieden  wird,  findet  sich  an  zwei  Stellen:  „Es 
klopfte.  ai)er  nicht  an  die  Tür  seiner  Stube,  sondern  an 
die  Tür  seines  Herzens".  „Da  begann  der  erste  Sonnen- 
strahl der  Milde  einen  Tropfen  von  dem  Eis  der  Habsucht 
abzuschmelzen."  Statt  des  populären  Fremdwortes:  „Halb 
Part!"  im  ^lunde  des  alten  Soldaten  bringt  die  Bearbeitung 
die  immerhin  steife  Umschreibung:  „Das  wollen  wir  gemein- 
schaftlich tragen"'. 

Das  Märchen  von  011  Rinkrank  (196)  ist  ein  wört- 
licher Abdruck   der  Vorlage  (Friesisches  Archiv  I,  162  ff). 

197.    Die  Kristallkugel. 
Es  ist  die  Bearbeitung  eines  Märchens  bei  Friednmnd 
von  Arnim').     Durch    eine  Ivcihe    voü  Zusätzen    wird  die 

')  Hundert  Märchen  S.  92  ff. 


Atiscliiiiiliclikt'it  \  t'isliirkt.  /..  !>.:  ..da  verwandelte  sit-  den 
ältesten  in  eiin-n  Adlei',  dei-  ninssle  aiil' einem  l*'eIs(Migf*l)ir^»' 
hangen,  und  niati  sali  ilin  inamlinial  am  llimmtd  in  «grossen 
Kreison  auf  nnd  nie(|<!r  scliuehen  '  (..den  «Tsten  hatte  sie 
zu  einem  Adli'ikrmii:  verwiinsclif):  ..den  zweiton  vei-- 
wandelie  sie  in  einen  Walliseli.  Ai'V  leide  im  tiid'en  Meer, 
und  man  sali  nui-,  wie  er  zuweilen  einen  mäeliti;,'en  Was.ser- 
strahl  in  die  Höhe  warf"  (..den  zweiten  hatte  sie  zu  eiueiii 
Kisehküni«,^  verwünscdd"):  ..aher  wie  «'rsehrak  er.  als  er  sie 
anhlickte,  sit;  hatte  ein  aschj^raues  (jesieht  voll  Runzidn. 
trübe  Au^en  und  rote  Haare"  (..ei-  scdiaute  die  Piinzessin, 
die  sah  aher  s(dir  schlecht  ans").  \'t>n  ähnlifdier  .\i-t  sind 
noch  einige  andere  l^]rweiteriintjen.  Der  Satz:  ..dass  liir 
den  vieiundzwanzii:st(.'n  noch  ein  Kehl  iihri^'  sei"  wiid 
volksmässi^'cr  tautologiscli  aus<redrückt :  .,nnd  wäre  nui' 
noch  (dner  iibrii:'.  dann  dürfte  keiner  mehr  kommen".  Die 
Andt;runii'.  dass  der  .Jüngling  ..duich  alle  Zimmer  des 
Schlosses  hindurchging:  und  erst  in  dem  letzton  die  Königs- 
tochter fand"  erinnert  an  die  in  Märchen  beliebte  Art.  die 
Spannung  durch  Aufschiebung  der  Pointe  zu  erregen.  Die 
X'orlage  leitet  das  ]\lärchen  in  die  Erzählung  vom  Schloss 
der  goldenen  Sonne  (92)  über:  es  entspricht  dem  Schluss 
von  Musäus'  Chronika   der  drei  Schwestern. 

In  dem  Märchen  Xo.  li)9  Der  Stiefel  von  Büffel- 
leder') besteht  die  wesentlichste  Verbes.serung  Grimms 
im  Gebrauch  der  Soldatonsprache.  z.  B.:  ..Wir  suchen  ein 
Xacht(iuartier  und  etwas  Unterfutter  für  den  Magen,  denn 
der  meinige  ist  so  leer  wie  der  G(ddbeut(d  (wie  ein  alter 
Tornister".  7.  Aufl.):  ..der  Soldat  fing  an,  tapfer  in  den 
Braten  einzuhauen":  ..nun  ist  es  Zeit,  dass  wir  das  Zelt 
abbrechen":  ..oho.  Bruderherz,  das  wäre  zu  früh  ab- 
marschiert, wir  haben  den  Feind  glücklich  überrumpelt, 
jetzt  wollen  wir  als  Xachzügler  in  aller  Ruhe  hinterher- 
marschieren".    Auch  sonst  tritt   die  volkstümliche  Sprache 


')  Friednuind  von  Arnim,  Huiuterl  Märc-lien  S.  22ff. 


kfätti^-  liervoi":  ..die  Stiefel  .  .  .  ^clicii  durch  dick  niid 
ilüiiii.'"  (\ri  S(ddat  tut  einen  ..liei'zliaften  Ziifi"  (er  tiank 
einen  Schluck).  ..,i:i»'h  Acht.  Briidei'.  du  sollst  dein  hhiues 
W'iiiuh'r  sehen,"  ..ii'h'ich  und  ijjeiidi  gesollt  sicii  <,'ern."" 
..oiine  auf  Weg  und  Steg  zu  achten".  ..Wartet,  ilir  sollt 
an  einem  düi-ren  Ast  das  Fliegen  lei'iien".  uml  ein  ähnlichef 
iMipheniisiuus  in:  ..Koiniii  I5ruderhefz.  es  wird  nicht  gleich 
an  den  Kragen  gehen".  ..leh  hal)e  draussen  im  Wald  ein 
Xest  voll  Oalgenvögel  gel'unden.  krunnit  mit.  wir  wellen 
es  ausheben."  Das  Mäiclien  beginnt,  wie  einige  andere, 
mit  einer  allgemeinen  Wendung:  ..Fiii  Soldat,  der  sich 
voi-  iiiehts  fürchtet,  kümmert  sich  auch  tun  nichts".  Der 
Soldat  wild  als  ein  treulierzi::-deil)er  und  entschlossener 
Charakter  gezeichnet:  ..Er  reichte  ihm  die  Hand.  Hess  sich 
neben  ihm  auf  das  (Jras  ni('der  und  streckte  seine  Beine 
aus";  er  ..zieht  den  Pfropfen  aus  der  Flasche,  dass  es 
knallt"  und  ..tut  einen  herzhaften  Zug;  als  ihm  der  Geruch 
von  der  Speise  in  die  Nase  gestiegen  war",  (ing  er  an.  ..in 
den  Braten  einzuhauen"  und  stand  nicht  eher  vom  Tisch 
auf,  ..als  bis  er  wieder  für  drei  Tage  gegessen  und  ge- 
trunken hatte".  Die  Vorlage  ist  im  Ausdruck  matter  und 
weniger  drastisch. 

11)8.    Jungfrau  Maleen. 

Vorlage  war  die  Fassung  bei  MüUenhoff (Sagen. Märchen 
und  Lieder  aus  Schleswig-Holstein  etc.  S.  891  f.),  nach  münd- 
licher Tradition.  In  der  (irrimmschen  Bearbeitung  treten 
die  volkstümlichen  I)oi)pelformeln  deutlich  aus  ihrer  Um- 
gebung heraus:  „Sie  ward  eingemauert  und  also  von 
Himmel  und  Erde  geschieden":  ..sie  wussten  nicht,  wann 
Tag  oder  Xacht  ani)rach"  (..ohne  dass  sie  wussten.  wie 
weit  es  an  der  Zeit  sei");  ,. Speise  und  Trank"  (..Speise- 
vorrat"): ..ieli  bin  die  Jungfrau  Maleen,  die  Hunger  und 
Durst  gelitten  und  solange  in  Not  und  Armut  gelebt  hat." 
,.Ich  kann  und  will  keinen  andern  zum  Gemahl  nehmen." 
Statt:  ..es  soll  dich  dein  Leben  kosten"  steht  der  sinnliche 
Ausdruck:  ,,dann  wird  dir  der  Kopf  vor  die  Eüsse  gelegt". 


Sclir  iinsoliMiilicli  sdiildrii  (Jiiiinii  dii;  licfi-ciung  der  Köiiijrs- 
toclitc?':  ..N:icli  laiii^'cr  Ailn'it  L'^daiii:'  i-s  iliiicri.  ciiicri  Stt-iii 
ln'i-;iiis  zu  m'liiin'ii.  (hinii  "'iiiru  /weiten  und  drittt-n.  und 
ii;irli  di'i  Taiirii  lir|  dci'  eiste  Liditst nilil  in  ihre  lJunk(d- 
lieil.  Mild  endlich  WM  die  ( )l'fiiuiiLr  so  irross.  das  sie  lioraus- 
seliaiieii  kdiinteii"'.  I  )er  Wir^^anji'  wjj-d  l)is  ins  kleinst«;  zci'- 
L^liederi  und  gewinnt  iincli  im  I  )eiiilieiikeit  (liir(di  zalilcn- 
uiässi^n;  (iiiippicrun^  dei-  einzelnen  llandliinirt'n.  Die  X'or- 
la^^e  sa<;t  kürzer:  ..Dr-ei  Tai:»'  lau::'  liDJirleii  sie  iinahiässi;:. 
da  draii^:  diT  ei'ste  Lielilsli  nhl  in  ilnc  l<'instei-niss"'.  Statt 
„Tiiiiu'  -ct/t   (niinni  das  areliaisclie  ..Turir". 

Die  7.  Auflaiff  Id'aelite  als  \'ai'iante  (151  bi  zu  dem 
Märchen  von  den  drei  l-'nulen  die  l^earheituni;:  eines  Fast- 
nachtsplels  aus  dem  1').  .lahiliundert :  ..Ein  spil  von  den 
zwelf  pfaffenknechten" ').  Xui-  \venij;e  lOrweiterungf^i  sind 
zu  bemerken:  die  Brüder  liehen  die  Faulheit  der  Knechte 
noch  stärker  hervor,  z.  \).:  ..Ruft  der  Herr,  so  tue  ich.  als 
hätte  ich  es  nicht  gehört,  und  ruft  er  zum  zweiten  i\lal. 
so  warte  ich  noch  eine  Zeit  lang,  bis  ich  mich  erhebe  und 
gehe  auch  dann  recht  langsam,  so  lässt  sich  das  Leben 
ertragen'".  Jm  Spiel  lieisst  es  kurz:  „Ich  kumni  nit  pald 
und  lauf  nit  sehr".  .Manches  klingt  volkstündicher:  ..ich 
Hess  es  in  Gottes  Namen  fortregnen,  dass  ich  ein  Loch  in 
den  Schädel  bekam"  (,. dass  ich  ein  Loch  am  Kopf  empfing"); 
.,soll  ich  eine  Arbeit  angreifen,  so  dämmere  ich  erst  eine 
Stunde  herum"'  (,,so  geh  ich  vor  ein  stund  darumb"):  ..ich 
sehe,  dass  ich  allein  ein  munterer  Kerl  bin"  (..dass  ich 
gar  resch  bin  allein'');  „ich  schlief  richtig  ein'".  Die  Fle- 
geleien des  achten  Knechts  wurden  sehr  gemildert. 

Von  den  Kinderlegcnden  ist  die  letzte  (No.  10)  eine 
wörtliche  Übertragung  aus  dem  Vorarlbergischen-). 

Die  gedruckten  Vorlagen  für  die  j\Iärchen  Xo.  161 
(Karoline  Stahl,  Fabeln,  Märchen  und  Erzählungen  für 
Kinder.    Nürnberg   1S18)    und  No.  178    (Neueste    Kinder- 


')  KolliM',   F;istii;iclitspi('l('  aus  ileiii   15.  .lalniiuiuleit   Bd.  2. 502. 
-J  \'nnbun,  Sassen  aus  VorarJboig-  S.  7. 


—     1 07     — 

itililiotliek,  Hil(ll)ui'i:li:uis('ii  ls-J7i  lialx'  ich  Icidfc  nicht  ;iut- 
treihcii  krmnt'ii  '). 

In  bunter  Mannii^tMltinkcit  i--t  eine  h'eilie  der  verschiedon- 
artifi'Sten  \'(ifhii!'en  an  uns  \  (»liilx'rgczogen,  heiniisclie  uinl 
aiisländisclie.  alldeni>(lie  und  z(Mt<i'(Mi(issische,  Prosa  und 
Verso.  iMchrore  verfictoii  deutlich  kunstiiiässige  Darstellunji' 
und  ühei'li(^forton  i1(mi  StolT  in  reinei'  l'^orni.  in  andern  war 
der  niärehenhatU;  (i(dialt  vieilach  durch  willkürliche  Zu- 
taten entstellt  odei'  verhüllt:  einii:e  dehnten  sich  \V(Mt- 
schweilij^'  in  die  Läni^c.  und  mitunter  stiessen  wir  auf 
dürltig'e.  tVagmentarische  K'este.  wo  nur  noch  das  Gerippe 
der  echten  Überli(Meruni:'  erhalten  war.  Geht  man  die 
Grinnnsche  Sanmilung  durch,  so  ist  die  Gleichniässigk(iit 
des  Tons  und  Stils  erstaunlich,  die  alle  Stücke  beherrscjit. 
Es  ist  kaum  noch  zu  spüren,  welches  Stück  mündlicher, 
welches  schriftlicher  Überlieferung  verdankt  wurde.  Wenn 
auch  einige  Züge  die  Entlehnung  aus  fremdem  Gebiet 
erkennen  lassen,  so  sind  sie  doch  derartig  gedämpft  und 
zurückgehalten,  dass  sie  nicht  mehr  stfirend  auffall(;n. 

Die  Brüder  haben  die  Einheitlichkeit  der  Form  ihrer 
Märchen  durch  Anw-enduiig  ganz  bestimmter  stilistischer 
Mittel  erreicht.  Sie  brachten  einen  neuen  Märchenstil  auf, 
indem  sie  den  mündlichen  Erzählungen,  wie  sie  im  Volk 
umliefen,  die  charakteristischen  uiul  liebenswürdigsten  Züge 
ablauschten  und  sie  den  vorgefundenen  Stoffen  je  nach 
P)edürfnis  verliehen.  Denn  bald  Hessen  die  Vorlagen  dieses, 
bald  jenes  Moment  ausser  Acht.  ^Vas  man  als  die  Kunst- 
form  der  Märchen  anzusehen  habe,  darüber  herrschten  zur 
Zeit,  als  die  Brüder  ihre  Samndung  veranstalteten,  ver- 
worrene 31einungen.  „Wir  finden  das  Märchen  vor;  jeder 
bearbeitet  es  auf  eigne  Weise  und  denkt  sich  etwas  anderes 
dabei",  sagt  Tieck-).  Vielen  galt  IMusäus  mit  seiner  witzig- 
ironischen    Schreil)art    als    unerreichtes    Vorbild,    und    die 


1)  Zu  No.  178  v,a-l.  Holte,  Zs.  f.  (Icutsche   rliiloloo-ic  -JO,  325. 
^)  l'liautasus  I,  S.  131  (18-44;. 


—       JOS       — 

roiiiaiitisclicti   Miu'cliriMliflitcr  Hiciitmio    iiml  Tifck   liatt«Mi 
jeder-    seinen    liesundecen    Miiiclienslil.     Alle   hielten   es  liii- 
l)esser.    die    seldieliteii    l-]rz;ildnnii('n    v.w  modernisieren,  als 
(lass  man.   um  sie  ;.mii/.  /ii   \  eisiejieri.  in  einen  kiinstliclieii 
Zustand   der   Kindlicidveit    /.uiiiekkclnr.     lud   diKdi   hat   die 
{li'immsejie   AulTassum;   in    W  aliilieii    K'eejit    liehalteii.      liei 
den     andern     wiiil     das    .Mäirhcii     aus    seiner    natiir-lichen 
Sj)liiii-e  lierausyelinlien.   es  wird  seinem  miitteili(dien  Xähr- 
hoden    entzun-eii    uml    ein   K  unsipr'ndukt.  das  den   Kindern 
für  das.  was  es  ihnen   entriss.  keinen    lOrsal/  brachte,  und 
dui'fh  das  man.  wie  etwa  hei  (joethes  Märcdien.  ..an  nichts 
und    an    alles    erinneil    wurde".     Dass    es    in   hestimmten 
[•"allen     duiili     einen     iicinalen     hichtei'    ein    Lilänzendores 
.\ussere    und    sinnsehwei'eren  (lehalt    enii>liiig.    soll    nicht 
i;(deu^nel     werden,    ahoi-    nur    ticuc  I'herlieh'i-une;   konnte 
den  l*>rzähhin^('n  ^esehiehtlicheii  Wei-t  verleihen,   nml  einen 
lieitra<;"  zur  deutschen  Mythologie  und  Literatur^^es(diichte 
wollten  die  Brüder  ja  in  erster  Linie  liefern.    Bewunderns- 
wert aber  ist,  wie  sie  die  Forderung;  erlullt  haben,  grösste 
Treue    mit   kunstvoller    Darstelluni:"    zu    vereinii;en.     Wie 
Herder  für  die  Kunst  des  Volksliedes,  so  waren  die  Brüder 
Grimm  für  die  des  Märchens  mit  feinstem  Gefühl  begabt. 
Auf   Grund    reicher   Beobachtungen    an    mündlichen    Er- 
zählungen und  eines  umfassenden  Studiums  anderer  Märchen- 
literaturen   schufen    sie    die  dem  deutschen  Volksmärchen 
gemässe  Kunstform.     Sie   hielten    an   der  Originalität  und 
Schönheit    der    lehendigen  Volkss[)rache  fest:    sie    wollten 
nicht    selbst    poetisieren.    sondern    Volksdichtung    wieder- 
erzählen und  nicht  üi)er  das  Volk,  sondern  mit  dem  Volk 
lachen  und  scherzen.    Deshall)  suchen  wir  in  den  .Märchen 
vergebens    nach    persönlichen   Motiven    der  Verfasser:    es 
wäre  verlorene  Mühe,  daraus  Rückschlüsse  auf  die  Denk- 
weise und    Anschauungen  der   Brüder  zu  ziehen  —  wenn 
man  sich  nicht  mit  einem  ganz  allgemeinen  Resultat  ihrer 
reinen  Andacht  begnügen  will  — .  während  es  ein  Leichtes 
ist,  wichtiges  Material  für  die  Beurteilung  der  Pei^sönlich- 
keit  eines  Musäus,  eines  Tieck,  eines  Brentano  aus  deren 


—      100     — 

Aljiivlini  zu  sclitipfcri,  I  );i;:o^<'ii  z<'i^"i'ii  uns  die  Kimlor- 
imdllaiisniärclioii  iiniivscliiiiiiikt  (lrii(  'li;ii';iktor  (IcsdoiitsclH'ii 
\'(dkos  älinlicli  wie  die  Volkslifdcr.  Zwar  ist  die  Lyi'ik 
iiiiinittclliarcf  und  :;t'\välirt  dw  trciKTi-s  lÜld  als  Prosa- 
('rzäldiiiiui-ii.  aber  auch  dcifn  (Icstalti-n  sind  iiidit  will- 
kiii'li(di  licwählt.  soiulci'ii  Si)ie;4elltil(l('i'  der  \atii)n.  und  in 
di'ii  pliaiitastisclien  I'''iii'ur(Mi  ist  ein  iiut  Stin-k  wirklicher 
N'olksanscliauiuiti-  nicdergole^t.  Dadurch  sind  si(3  als  QucHcn 
liir  die  JJeurteiluni;-  des  Xationalchaiakters  wichtig".  Hierauf 
hatte  schon  Herder  hingewiesen;  in  seinem  Sinne  hal)en 
die  Brüder  (Trimm  gearbeitet.  Auch  sie  wissen  den  scharf 
zu  tadehi.  der  mvtionale  Dichtung  mit  eigenen  Ideen  ver- 
mische und  dadurch  seinem  'Volke  etwas  entzieiie  '). 

Alle  stilistischen  Beobachtungen,  die  sich  aus  der 
Verglciehung  der  Vorlagen  mit  den  Bearbeitungen  ergeben. 
lassen  sich  in  reichem  Masse  auch  bei  den  mündlicher 
Tradition  entnommenen  Stücken  anstellen,  woi'aus  um- 
gekehrt erhellt,  dass  diese  für  die  Stilisierung  der  schrift- 
lichen Vorlagen  massgebend  gewesen  sind. 

Im  folgenden  soll  durch  eine  Übersicht  die  .Methode 
der(  lrimmschenBearbeitun;.i-  in  allgemeineren  Bestimmungen 
klar  gelegt  werden,  als  es  bei  der  Einzelbetrachtung  der 
Vorlagen  möglich  war.  ,,Hat  auch  das  .Märchen  seine 
Hegel?"'  fragt  Herth'r'-).  und  er  gibt  die  Antwort:  .. l'lxd. 
wenn  es  solche  nicht  hätte,  da  bei  seiner  tiefen  Einwirkung 
auf  die  Seele  des  Menschen,  bei  seinem  noch  tiefern 
Grunde  in  unsrer  Natur  es  ein  ungeheures  Mittel  zu 
Bildung  oder  Missbildung  menschlicher  Gemüter  sein  kann." 

Tn  den  meisten  Fällen  beziehen  sich  die  Änderungen 
der  Brüder  bloss  auf  die  äussere  Form:  sie  bildeten  ge- 
gebene Eigentümlichkeiten  nur  noch  weiter  aus.  Sehr 
selten  haben  sie  ein  ^lärchen  neu  geschaffen  oder  so  tief- 
greifend   umgestaltet,    dass   seine  Verwandtschaft  mit  der 

1)  steig-,  A.V.Arnim  111,268. 

-)  Früchte  aius  den  sog.  g'oldencn  Zeiten  des  aehtzeliiiten 
.Jahrluindei't.-^,  Xo.  G.     Suplian  23,  273. 


1!0      — 

\'oii;i)^^'  Ulli'  scliwci'  nrUfriiiliar  wiirr.  Niiiiii'htlicli  ;.qlt  das 
von  (Icfi  StiickfMi.  die  für  die  I.  Aiilla^i-  Ijcnut/i  wiinh-n: 
'liri'  lialx'ii  sie  so<rar  maiiclmial  di»'  kiiiistlfTiscli»'  I''<»fm 
d(i'  ti'ciifii  I 'l»rrlict<Tuii<i-  y.iilirlic  pii'isfrejrebon.  Erst  mit 
dci'  2.  Awsi^mI)»'  Ix'irirint  oiiic  stärkei'c  riiiarlti'itunjr.  I)i<; 
AI)\veichuii<4(Mi  in  späteren  Aufla^T-n  sind  meist  nur  goring- 
fUgig,  da  die  Vorlagen  direkt  oder-  indirekt  von  den  Grimm.s 
herinfliisst  und  also  schon  auf  eine  kunstmässige  Dar- 
stellung gerichtet  waren. 

Die  Brüder  kürzten  oder  erweiteiteii  je  nach  Bedürfnis, 
sie  vervollständigten  auch  die  Erzählung,  indem  sie  mehrere 
verwandte  Überlieferungen  mit  einander  verschmolzen.  In 
einigen  Fällen  besteht  die  Änc^ei'ung  nur  in  der  Weglassung 
gewisser  Zusätze,  die  ungeeignet  oder  störend  erschienen. 
Dazu  geh(iren  vor  allem  die  moralischen  Nutz- 
anwendungen in  Vers  und  Prosa,  an  denen  besonders 
die  älteren  deutschen  Aufzeichnungen  leiden,  die  den 
launigen  Geschichten  recht  oft  eine  lange  Sehlep])e 
nüchterner  Lehren  anhängen.  Das  Märchen  wird  hier 
noch  als  Fabel  aufgefasst  und  nur  der  praktischen  An- 
wendung wegen  erzählt:  als  selbständig(;s  Literaturprodukt 
erkennt  man  es  noch  nicht  an.  Mit  dieser  beschränkten, 
prosaischen  Vorstellung  räumten  die  Brüder  endgültig  auf. 
Bei  ihnen  ist  das  Märchen  nicht  Einkleidung  eines  Er- 
fahrungssatzes; sie  erkannten  richtig,  dass  seine  Phantastik 
im  Grunde  keinen  sittlichen  Zweck  verfolge,  daher  den 
Menschen  nicht  auf  sich  zurück,  sondern  aus  sich  heraus 
ins  unbedingte  Freie  führe.  Zwar  ..alle  Poesie  soll  be- 
lehrend sein",  heisst  es  bei  Goethe'),  „aber  unmerklich: 
sie  soll  den  Menschen  aufmerksam  machen,  wovon  sich 
zu  belehren  wert  wäre,  er  muss  die  Lehre  selbst  daraus 
ziehen,  wie  aus  dem  Leben".  Zu  einer  ähnlichen  Auf- 
fassung bekannten  sich  die  Brüder:  ein  Buch  mit  rohen, 
moralischen  Kinderexempeln  fand  .Jakob  nicht  nur  lang- 
weilig, sondern  auch  schädlich-):  die  Moral  sollte  aus  den 

'j  In  dein  Aufsalz:  ULer  ilas  Lclirirediclit. 
-)  Stei;^,  A.  v.  Arnim  111.270. 


—    111      - 

]\läii'lirii  licrvori^elirii  ..wie  ciiio  ^-uto  Frucht  aus  oirior 
gesuiuleii  iiliitc  olinc  Zutun  der  Menschen"'!.  Nur  ^anz 
vereinzelt  hissen  sir  die  lichre  hei'vortreten.  alicr  dadurch, 
(hiss  sie  verallgemeinert  in  Foini  einer  sprichwörtlichen 
Redensart  (z.B.  ist:  1S9)  auftritt  (.der  humoristi.sch  (187) 
^■cwandt  ist,  wird  ihr  die  aufdi'iniiliche  Häi'te  iz'enonuncn. 
.\ueh  für  diese  AulTassuni;-  hätten  sie  sieh  auf  Herder 
herufen  können,  der  es  sehr  hedauert.  dass  wir  zwar 
„Reiiuii'ehetlein  und  Lehrverse  üenuL''"  hätten,  aber  kein 
Werk,  um  eine  ..ü'anze.  ju;i;eiidliehe.  kindliehe  Seele  damit 
zu  füllen,  Gesänge  in  sie  zu  legen,  die  leljenslang  in  ihnen 
bleiben"  2). 

Alle  fremden  Elemente,  die  die  organische  Fnt- 
wieklung  der  p]rzählungen  unterbraelKMi  und  das  Interesse 
davon  ablenkten,  wurden  gestrichen,  z.  B.  alle  tendenziösen 
Zusätze,  Anspielungen  auf  Zeit  und  Personen,  satirische 
Beimischungen,  gelehrte  Vergleiche.  Im  einzelnen  sind 
solche  Auslassungen  oben  erwähnt  worden.  Um  den  Märchen 
abgeschlossene  Selbständigkeit  zu  geben,  nuissten  manche 
Zusätze  der  Vorlagen,  die  sich  aus  der  Verbindung  mit  der 
Tnigebung  erklären,  gleichfalls  wegbleiben. 

Bestinmite  Orts-  und  Zeitangaben  fehlen.  Die 
wenigen  Fälle,  wo  geographische  Namen  auftauchen: 
Rom  (33).  Göckerliberg  in  Welschland  (95).  Bremen  (27). 
Keuterberg  (96).  Mosel  (119)  und  einige  andere  lassen  das 
Prinzip,  das  Märchen  nicht  an  einer  bestinnnten  Stolle  zu 
lokalisieren,  unangetastet'').  Auch  scherzhaft  gemeinte, 
poetische  Ortsnamen  werden  nicht  geduldet,  denn  ..alle 
Märchen  sind  Träume  von  jener  heimatlichen  AVeit,  die 
überall  und    nirgend   ist""*):    sie    sind    etwas  dem    ganzen 

1)  K_HM.  I,  S.  XVI. 

-)  i'ber  ü.s.sian.  Suphan  5,201. 

•'j  V<i'l.  No.  119.  wo  man  die  Namen  Tiier  und  Aaclien  be- 
seitigte und  die  „Mosel"  wohl  nur  deslialb  aus  dt'v  Voilage  bei- 
behielt, um  sie  nacli  Volkset.\  niolou-ie  fiii-  ein  „moslires",  stille.''  und 
tiefes  Wasser  zu  erklären. 

i)  Novalis,  Schriften  1I,2.S1. 


\';ilt'il;iii(lc  ( it'mciiis;iiiics  iiiul  stirilfn  ihniiiii  alles  liidi- 
viiliirllc  nach  M(lL:lir|ikril  al».  hadiin-li  iiiitcrsclicidfiii  si<' 
sich  von  Sa;4<'ii.  die  sich  iii-ni  an  hrstiiiinitc  iiiid  histoi'isch 
iiafdiwrishiirt'  Ereiiiiiiss«  odci'  INmsoim'H  ankiiiipren,  während 
das  IMärchcii  seine  Pers(Mien  ^^owöhiilieli  niii-  als  Tvix'ii 
(>infiihi't.  Wenn  Tiefk  im  ..(iostiolellcn  Katei"  den  Köniir 
stets  mit  Ki(tne  und  S/cptei'  aiil'li'elen  lässt.  so  hat  er 
damit  die  Alt.  wie  das  Märcdn'ii  cliarakli-risieit.  jriit  ^^e- 
tiolt'en.  In  eciit  poetisclifi'  Weise  woi'den  nur  wenige  l)e- 
zeichnende  ZüLie  lieraus^-eli<)l)en.  sonst  erzählt  mau  so  all- 
gemein wie  mTiglich.  (Ifirres  hatte  ganz  recht,  wenn  ei- 
die  Stelle:  ,.l^]s  war  einmal  ein  gewisser  Kfinig"  (1,571 
iinmärehenhal't  fand  'L  da  das  Mäielien  dieses  hestimmende 
lieiwort  ni(!nials  liraiK-he. 

Die  weihliehe  Schönheit  wird,  wie  im  X'olksliede. 
mit  sparsamen,  typischen  Woiten  beschrieben.  ( )t"t  genügt 
die  Bezeielinnng  „wunderschön":  daneben  ersciieinen  cha- 
rakteristische Hyperbeln,  wie:  „die  Tochter  war  so  scliön. 
wie  ihr  auf  der  Welt  eine  tinden  könnt",  „schöner  als  noch 
jemand  auf  Erden  gewesen  war".  .,dass  kein  Maler  sie 
hätte  schöner  malen  können"  oder  formelhafte  Wendung<'n 
wie:  „es  stralilte  in  seiner  Schönheit  wie  der  helle  Tag"". 
..das  schönste  Kind  unter  der  Sonne'"  usw.  Von  anschau- 
licher, poetischer  Kraft  sind  in  der  Beschreibung  die  Bilder 
aus  der  Natur.  .Mehrfach  sind  die  ausführlichen  Schilde- 
rungen der  \'orlagen  beschnitten,  dafür  abei'  mit  wirkungs- 
volleren Farben  ausgestattet  worden. 

Anstössige  und  frivole  Stelleii  wurden  ausgemerzt. 
Ohne  Prüderie  aber  nannte  man  natürliche  menschliche 
Verhältnisse  und  Zustände  bei  dem  rechten  Namen.  Denn 
das  Kind  kennt  in  seiner  Xaivetät  keine  andere  Ausdrucks- 
weise; seine  natürliche  Aufrichtigkeit,  die  jeden  Schein 
von  Falschheit  verachtet,  setzt  sich  über  alle  künstlichen 
Bedenken  hinweg.  Auch  hierfür  haben  die  Brüder  erst 
durch    ihre  Sammlung  Verständnis    erwecken    müssen   bei 

')  (iJlrrt's.   l-'rcunilcsl)ri<'|i"   Ill.iid. 


—     113     — 

niaiichfii,  dir  aus  üIxTfi^rosser  X'orsiclit  ümsclireibungen 
und  doecntc  \'<'iliiilluiigen  lieber  gesehen  hätten. 

Die  Spraciic  des  iMiirchciis  ist  wie  die  des  Volks- 
liedes siuulicli.  klai'.  anschaulich,  lebendig".  Alle  blassen, 
abstrakten  JMlder  und  Gleichnisse  wurden  in  der  Dar- 
stellung gemieden;  lih-  das  sehende  Auge,  das  lauschende 
Ohr  erzählte  man,  nicht  für  den  abstrahierenden  Verstand. 
Allegorische,  mit  Metaphern  ausgeschmückte  Prosa  ist 
in  echten  Kindernlärchen  undenkbar.  Xur  höchst  selten 
hat  Cirimm  von  Tropen  Gebrauch  gemacht  und  wählt  auch 
dann  einfache, dem  Fassungsvermögen  derKindcr  angepasstc 
Bilder.  Wie  im  VolksHede  dienen  konkrete  Dinge  zur 
Umschreibung  von  Abstraktionen,  denn  die  Sprache  des 
Kindes  ist  wie  die  des  Volks  arm  an  al)gezogenen  Allgemein- 
begriffen. Die  Fremdwörter  wurden  als  unverständlich 
gestriclien  oder  verdeutscht,  ausser  wo  sie  formelhaft  auf- 
treten, wie  etwa  im  „Doktor  Allwissend"  (98),  Auch  die 
Soldatensprache  ist  mit  Recht  durch  Beibehaltung  des 
Fremdwortes  gekennzeichnet.  Wie  peinlich  man  auf  Ver- 
deutschung drang,  ergibt  sich  auch  daraus,  dass  z.  B. 
fast  jeder  Prinz  und  jede  Prinzessin  der  ersten  Auflage 
in  der  zweiten  als  „Königssohn"  und  ,. Königstochter"  auf- 
treten '). 

Gegenüber  den  Streichungen  treten  die  von  Grimm 
genuichten  Zusätze  sehr  viel  stärker  hervor.  Kaum  ein 
"Märchen,  das  nicht  durch  eine  geringe  Erweiterung  an 
künstlerischer  Porm  gewonnen  hätte.  Begreiflicherweise 
überwiegen  ganz  bedeutend  die  Beifügungen  in  populärer 
Sprache.  Dazu  gehören  allgemeine  Redensarten  des 
Volks.  Die  Vorlagen  versäumen  vielfach  das  derbe, 
bürgerliche  Element  der  Märchensprache.  Unter  den  Rede- 
wendungen sind  besonders  auffallend  die  zaiilreichen 
Euphemismen.  Üble  Dinge  mit  unschuldigeren  Ausdrücken 
zu  umschreiben,  ist  ein  alter  z.  T.  abergläubischer  Volks- 
brauch. 


')  Daneben  auch  andere  Umschreibung'en  wie  Liebster,  Bräuti- 
gam, Sohn  —  Jungfrau,  Liebste  usw. 

Palaestra  XLVII.  8 


—      114      — 

ort  weiden  Spiicli  \v»)rt  er  in  die  h'erl«^  einKcflochten. 
(Icriti  der  Liicoiii-iiuis  des  ^omeiiien  Manru;s  führt  ^frn 
DrviiteiwfMslieit  im  Miuide.  F^jirie  |»asseridf!  Sciitonz  ist 
wie  ein  Maclitspiueli,  der  jede  Iani(e!  I}e\veisriiliriiii;_'  iiber- 
lliissig  macht.  Zumeist  drücken  sich  aiieli  hei  (iriniin  nur 
Personen  niederen  Standes  in  sprieliwruthcdii'n  Wendnnjren 
aus.  Schlagende,  prägnante  Kürze  ist  also  in  Volks- 
märchen ebenso  am  Platze,  wie  die  weicheren  Linien 
liebevoller  Ausmalung. 

Ein  echt  volkstümliches  Gepräge  erhält  der  \'ortrag 
durch  die  Verwendung  von  Tautologieen.  Diese  sind 
teils  gereimt,  teils  alliterierend,  liaben  also  sprichwörtlichen 
Charakter  und  eine  feste,  altüberlieferte  Form.  Die 
Märchonsprache  liebt  musikalische  Klangfiguren,  wie  ja 
der  mündliche  Vortrag  gern  formelhafte  Ausdrücke  ge- 
braucht, schon  um  das  Gedächtnis  zu  unterstützen.  Ab- 
gesehen von  Keimzcilen.  wie  sie  nicht  selten  auch  in  den 
aus  mündlicher  Tradition  entlehnten  Stücken  auftreten, 
sind  es  die  schallnachahmenden  Worte,  die  der  Sprache 
die  natürliche  Frische  verleihen.  Der  Ton  wird  teils 
durch  Worte  umschrieben  wie:  „trippeln  und  trappeln"  (87). 
„was  rumpelt  und  pumpelt  in  meinem  Bauch  herum"  (5), 
teils  hören  wir  ihn  in  Form  einer  lautmalerischen  Inter- 
jektion: die  Katze  schreit:  miau!  miau!  die  Gänse  schnattern 
ihr  ga!  ga!  die  Frösche  ihr  ak!  ak!  oder  (luak!  usw.  Die 
Kinder  lieben  es  ja,  die  Stimmen  der  Tiere  nachzuahmen. 

Die  Einflechtung  zweiteiliger  Redefiguren  gibt  dem 
Vortrag  poetische  Färbung  und  rliythmische  Gliederung 
und  dem  ganzen  Satzgefüge  dadurch,  dass  die  zweite 
Reihe  meist  einen  gleichen  oder  ähnlichen  Gedanken 
ausspricht  wie  die  erste,  einen  gewissen  Nachdruck.  Nicht 
selten  steigert  sich  die  schlichte  Erzählung  zum  Halbgesang 
einer  Deklamation  mit  Wiederholungen  und  Reimsprüchen, 
wie  z.  B.  in  No.  30,  32,  38.  Poesie  und  Prosa  sind  in 
glücklicher  Mischung  vereinigt.  Durch  häufigen  Gebrauch 
s3'nonymer  Gedankenverbindungen  erhält  die  Darstellung  die 
ruhige  Breite.     Herder   vergleicht   die  Synonyma  treffend 


—     115     — 

mit  den  guUlriirn  Apk-lii  dt'i'  Atalantf;  es  sind  kiinstleriscii 
wirksame  Ruliepunkte  der  Erzählung.  Während  das  Volks- 
lied sprunghaft  von  einem  Motiv  zum  andern,  von  einer 
Situation  zur  andern  eilt,  was  nicht  hloss  auf  unvollkommene 
und  zersungene  Überlieferung  zurückzuführen  ist,  haftet 
das  Märchen  gern  am  Ort  und  geht  in  der  Darstellung 
nur  schrittweise  vor,  auch  das  Wunderbarste  behaglich 
vermittelnd.  Seiion  der  Anfang  so  vieler  Märchen  kann 
als  Beispiel  für  ilirt;  l)e(|ueme  Erzählungsweise  gelten: 
„Es  war  einmal  ein  X.,  der"  .  .  .  Statt  den  Gedanken  in 
einem  Haui)tsatz  auszudrücken,  wird  er  auf  Haupt-  \ind 
Relativsatz  verteilt,  dessen  Pronomen  i\(n\  bereits  erwähnten 
Begriff  noch  einmal  aufnimmt. 

Anspielungen  auf  volk.stümliches  Cic meingut  (andere 
Märchen,  Aberglauben  u.dergl.)sin(l  verhältnismässig  selten. 
Zu  billigen  ist,  wenn  z.  B.  ein  Soldat  das  Märchen  vom 
„(Iruseln  lernen"  citiert,  odei'  wenn  auf  den  „grossen 
Butzenmann"  als  Schreckgespenst  verwiesen  wird  (90): 
anstössiger  wohl,  wenn  zwei  unbekanntere  Erzählungen 
ganz  äusserlich  auf  einander  bezogen  werden,  wie  No.  168 
auf  das  Märchen  vom  faulen  Heinz  (I()4).  Unmöglich 
kann  das  Märchen  in  dieser  Form  wirklich  „erzählt" 
werden.  Der  Zusatz  in  Xo.  168  erklärt  sich  zwar  leicht 
aus  der  Nachbarschaft  der  beiden  Stücke,  schädigt  aber 
die  Selbständigkeit  des  Märchens.     Es  ist  Literatur. 

Dramatischer  belebt  wird  die  Erzählung  durch  häutige 
Anwendung  der  direkten  Rede.  Die  Vorlagen  geben 
oft  nur  eine  zusannuenfassende  Inhaltsangabe,  wo  hier  in 
anschaulicher  Wcchselrede  die  Personen  vor  uns  auftreten. 
Man  meidet,  wie  die  einfache  Volkssprache,  die  indirekte 
Verschränkung  der  Sätze  und  führt  schon  aus  Bequeniüch- 
keitsgründen  lieber  die  Worte  in  ursprünglicher  Gestalt 
an.  Ebenso  erhöhen  zahlreiche  Interjektionen  die  Kraft 
des  sprachlichen  Ausdrucks;  auch  werden  Anreden 
gern  mit  einem  Vokativ  eingeleitet.  Bisweilen  wird  durch 
Einführung  des  Besonderen  die  Wirkung  gesteigert:  so 
bedient   sich    der  Soldat   der  Sprache  seines  Standes,  der 


—     1 1  r, 

Schneider  ;;r\vissri-  l-'ui  iiiflii  (|(t  I  laiidweiksspraclie.  und 
der  Isr'fudit   spiiilit   sein  Jiidendeiiiscli. 

Xunion  sind  in  Miindien  s('lten,  eino  individuelle 
X;un(!nj^obun<^  lelilt  iil»eiliaii|)t.  Xui'  Vornatnen,  \vi(;  sie  in 
lündlichen  Krcison  iihli(di  sind.  /..  IJ.  Il'jn/..  Ihms.  Trine, 
(Jrete.  Ti'iide  usw.  diildeto  man  odei'  Ki^ite  sie  hinzu,  wo 
sie  fehlten.  Moderne  oder  willkürliehe  Xannui  wie  „Kriih- 
ling",  „Hans  Wohlgemut",  „Lassmann".  ..Helene"  wurden 
gesti'iehen,  der  Name  eines  Prinzen  „Henjamin"  aus- 
drücklich auf  die  Bibel  bezogen  (9».  Dem  V'olksbrauch 
entspricht  die  Beifügung  eines  stehenden  Adjektivs,  z.  B, 
der  faule  Heinz,  der  lange  Lenz,  die  dicke  Trine,  Fenmand 
getrü,  das  kluge  Gretel.  Zur  Unterscheidung  von  andern 
Personen  gleichen  Vornamens  dient  ein  charakterisierendes 
Beiwort,  nicht  etwa  der  volle  Geschlechtsname.  Überhaupt 
sind  ja  Bezeichnungen,  die  vom  Ausseren,  der  Beschäftigung, 
dem  Temperament  der  Personen  hergeleitet  sind,  sehr  be- 
liebt (Drosselbart,  Däumling,  Rotkäppchen.  Bruder  Lustig, 
Spielhansl,  Meister  Pfriem  usw.).  Dazu  gelifiren  aucii  Be- 
nennungen wie  Rotfuchs,  Quakfrosch,  Pudelhund,  Göckelhahn, 
Rotkopf,  Piephuhn  oder  scherzhaft  umschreibende  Namen: 
Hautab,  Halbaus,  Ganzaus  (2).  Tannendreher,  Felsen- 
klipperer,  Duckmäuser,  Kratzbürste  (166).  Bemerkenswert 
sind  ironische  Benennungen:  der  gescheite  Hans  (32),  die 
kluge  Else  (34). 

Die  der  Technik  der  Volkspoesie  eigentümliche  Art, 
Züge  und  Wendungen  zu  wiederholen,  ist  sehr  oft 
zu  finden  (vgl.  namentlich  No.  32  u.  34).  Ähnliche  Vor- 
gänge werden  mit  denselben  Worten  erzählt,  z.  T.  schon 
aus  dem  Grunde,  weil  der  einfache  Mann  oft  nur  über 
einen  Ausdruck  verfügt.  Auch  haftet  der  Gedanke  noch 
an  dem  bereits  Erzählten,  die  Worte  klingen  im  inneren 
Ohr  nach.  Die  Wiederholungen  erweisen  deutlich,  dass 
die  Geschichten  nicht  bloss  für  das  Auge  des  Lesers  ge- 
schrieben sind,  sondern  für  das  Gehör  den  Rhytiimus  und 
den  natürlichen  Tonfall  des  gesprochenen  Worts  beobachten, 
während    die  Verfasser   der  Vorlagen    recht    oft   sich  gar 


—     117     — 

nicht  in  dif  Kolle  eines  wiikliclicii  Märchenerzählers  hinein- 
versetzen und  nur  ein  Lesestück  liefern.  Der  kindliche 
Sinn  aljer  verhin<^t,  diiss  ein  wiederholter  Vorji'ang  ebenso 
erzählt  werde  wie  das  erste  Mal,  wie  er  sich  auch  ent- 
täuscht fühlt,  wenn  dasselbe  Märchen,  wiedererzählt,  in 
einzelnen  Punkten  abweicht.  Es  sei  hier  auf  eine  charakte- 
ristische Stelle  in  Goethes  Werther  verwiesen,  wo  auf 
diesen  Punkt  aurinerksani  gemacht  wird:  „Die  Kleinen 
verf()li;teii  mich  um  ein  j\lärehcn,  ich  erzählte  ihnen  das 
Hauptsti'u'kchen  von  der  Prinzessin,  die  von  Händen  be- 
dient wird,  Irli  lerne  viel  dabei,  und  ich  bin  erstaunt, 
was  es  auf  sie  für  Eindrücke  macht.  Weil  ich  manchmal 
einen  Incidenzpunkt  erlinden  muss,  den  ich  beim  zweiten 
Mal  vergesse,  sagen  sie  gleich,  das  vorige  Mal  war  es 
anders  gewiesen,  so  dass  ich  mich  jetzt  übe,  sie  unver- 
änderlich in  einem  singenden  Silbenfall  an  einem  Schnürchen 
weg  zu  rezitieren."  Schon  bei  der  Übersetzung  der  Alt- 
dänischen  Heldenlieder  (Vorrede  S.  XVI)  machte  Wilhelm 
Grimm  auf  diese  stilistische  Eigentümlichkeit  aufmerksam, 
und  im  Vorwort  zu  den  Märchen  heisst  es:  „Wieder- 
holungen einzelner  Sätze,  Züge  und  Einleitungen  sind  wie 
epische  Zeilen  zu  betrachten,  die,  sobald  der  Ton  sich 
rührt,  der  sie  anschlägt,  immer  wiederkehren  und  eigent- 
lich in  einem  andern  Sinne  nicht  zu  verstehen'"  (S.  X). 
Ebenso  wie  Prosasätze  werden  auch  Reimworte  wieder- 
holt. Es  sind  „geilügelte  Worte",  die,  einmal  ausgesi)rochen, 
leicht  und  bequem  über  die  Lippen  eilen  und  auch  so  auf- 
genommen werden. 

Schon  die  Wiederholung  darf  als  Beleg  für  das  be- 
stimmte Symmetriegefühl  des  Märchens  gelten,  in  dessen 
Aufbau  die  primitivsten,  darum  aber  auch  wirksamsten 
ästhetischen  Gesetze  zu  finden  sind.  Besonders  tritt  das 
Spiel  mit  Zahlen  hervor.  In  der  Volkspoesie  sind  diese 
ül)erhaupt  von  gewissem  symbolischem  Wert.  Heilig  ist 
die  Drei-,  Sieben-  und  Zwölfzahl,  die  vielleicht  schon  aus 
religiösen  Motiven  festgehalten  wurden.  Aber  auch  rein 
äusserlich     macht    sich    die    Vorliebe    für    zahlenmässige 


UM    — 

( Jiii|»|(i('riiii;4'  L'''lt<'iMl  1111(1  li;it  auch  auf  dii-  ('(unpositioii 
(Irr  Mürclicii  Miiitliiss  aiis^rciilit.  Sehr  liäiili^'  trottMi  drei 
IN'CsoiH'ii  im  Mäi'clH'ii  auf.  tiiitci'  (Iciim  iiiiiiici-  dit;  dritte 
den  \'<»naiij^^  voi'  di-ii  amlci'ii  :ii'\viiiiit:  dt-r  jüngste;  Jiruder 
ist  (Irr  kliijiste  und  uiiisiclitiL'"st('.  di<;  jüngste  Scliwestci' 
die  lirhcnswiirdigstc  und  schönste  Aller  guten  Dinge  sind 
drei:  etwas  Grosses  wird  zweinuil  V(!rgeljens  versucht, 
das  (li'itte  M;d  gelingt  <!S.  Drei  Wünsche  werden  erlauhf: 
Sclineewitclien  wohnt  iilx'i-  den  sieben  Hergen  hei  den 
sieben  Zwergen;  sieben  Jahre  soll  die  Königin  gefangen 
sitzen,  nacb  ihrer  Befreiung  lebt  sie  noch  drei  Tage  (7G). 
Im  Märchen  vom  Dornrösclien  können  nur  zwrdf  Feen 
eingeladen  werden,  die  dreizehnte  (l'nglückszahl)  bringt 
das  Unheil.  Wie  wichtig  das  Prinzip,  zahlenmässig  zu 
gliedern,  für  die  Technik  des  ]\Iärchenstils  ist.  erkennt  man 
auch  daraus,  dass  z.  B.  ausdrücklich  der  Akt  des  Zähiens 
angegeben  wird.  z.  B.:  „am  rechten  Ufer,  da  stehen  grosse 
Ruten,  die  zähle,  und  die  elfte  schneide  ab"  (88),  denn  es  ist 
nötig,  dass  die  rechte  Zahl  getroffen  werde.  Besonders 
beliebt  sind  Gruppenaufzählungen  (vgl.  No.  80).  Jede 
neue  Reihe  hat  ein  Glied  mehr  als  die  vorige:  der  Er- 
zähler begnügt  sich  aber  nicht  mit  der  einmaligen  Erwähnung 
des  neuen  Gliedes,  sondern  wiederholt,  jedesmal  von  vorn 
beginnend,  das  schon  Genannte.  Nur  in  der  Verknüpfung 
mit  dem  Vorhergehenden  hat  das  Neue  Bestand.  Er- 
zähler und  Hörer  werden  nicht  müde,  selbst  eine  Reihe 
von  zwölf  Ereignissen  zahlenmässig  an  sich  vorüberziehen 
zu  sehen.  Ganz  ähnliche  Figuren  finden  sich  in  Abzähl- 
versen, in  Volks-  und  Kinderliedern '). 

Auch  die  blosse  Wiederholung  eines  Begriffs  durch 
eine  einfache  Cumulatio  ist  als  Zeichen  der  Kindersprache 
anzusehen:  die  üoppelsetzung  des  Positivs  ist  gleich  dem 
Superlativ  („lange,  lange  Zeit",  „grosse,  grosse  Nuss", 
„sie  hatten  aber  so  gut,    nein  so  gut  geschmeckt''.    ..sass 


1)  Vgl.   Uhlaiul,    Volkslieder    No.  2. 4.     Wuuderhoru    (Reclani) 
S.  827  ff. 


—      110     — 

da  eine  bildschöne  Jungfrau,  nein  so  schön,  dass  es  nicht 
zu  sagen  ist'"  u.  a.). 

Die  Verwendung  ih-r  K  oscroinicn.  in  der  iiearbeitung 
häutiger  als  in  den  Vürlagen,  vciiciht  dein  X'ortrag  ein- 
schmeichelnde Zieiiichkeit  und  Anmut;  iiamenth'ch  werilen 
Lielilingslignren  des  Märchens  gern  mit  Deminutiven  be- 
dacht. Manehmal  ist  diese  Art  der  Bezeichnung  durch- 
gehends  angewandt,  z.  B.  in  No.  30. 

Dei-  Anfang  des  Märchens  ist,  abgeselien  von  der 
bekannten  Kingangsformel:  „Es  wai-  einmal"  .  .  .,  womit 
z.  B.  auch  Apulejus  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  sein  Märchen 
von  Amor  und  Psyche  einleitet,  bisw^eilen  verallgemeinert 
uml  nacii  Art  eines  Sprichworts  abgefasst  oder  bewegt 
sich  in  formelhaften  Ausdrücken  wie:  „Zur  Zeit,  da  das 
Wünschen  noch  geholfen  hat",  „als  Gott  noch  selbst  auf 
Erden  wandelte";  „et  is  wh)11  dusent  und  nieer  Jahre  her", 
was  zugleich  das  Folgende  als  Märchen  charakterisiert. 
Damit  sind  die  Zeitangaben  so  ziendich  erschöpft.  Nui' 
ob  es  Abend  oder  Morgen,  ob  es  ein  Winter-  oder  Sommer- 
tag war.  wird  etwa  noch  verraten:  .,Zur  Winterszeit,  als 
einmal  ein  tiefer  Schnee  lag";  „da  es  gerade  Frühlingszeit 
war,  und  das  Kind  seine  Freude  an  den  bunten  Blumen 
hatte"  (169);  „et  wöör  an  enen  Sünndagmorgen  tor  Harvest- 
tied,  jüst  as  de  Bookweeten  bloihde"  (187).  Auch  hiei' 
herrscht  der  sinnige  Zug,  die  nackte  Zeitangabe  durch  ein 
Bild  aus  der  Natur  zu  umschreiben. 

Besondere  Bedeutung  hat  der  Märchenschluss. 
Gewöhnlich  genügt  wie  in  den  Vorlagen  ein  schlichter 
Abschluss  der  Erzählung  ohne  rhetorischen  Schmuck.  Nicht 
selten  aber  wird  eine  formelhafte  Wendung,  die  gereimt 
sein  kann,  dem  Märchen  angehängt,  wie:  „Die  Katze  läuft 
nach  Haus,  mein  Märchen  ist  aus."  Meist  ist  sie  neckischer 
Natur:  indem  der  Vortragende  über  den  gläubigen  Kinder- 
ernst lacht,  deutet  er  zugleich  die  ünwahrscheinlichkeit 
der  Geschichte  an.  In  sicherem  Vertrauen  aber  auf  ihre 
Wirkung  darf  er  den  lustigen  Abschluss  wagen.  Zweifelnde 
Gemüter  warnt  der  Erzähler  launig:  „Wer's  nicht  glaubt, 


bozalilt  cinon  Thal<*r",  und  iiidit  alle  Kindo?- wonlon  schon 
so  <,'o.scli('it  sein  wie  das  klr-inc  Mädclicii,  von  (1«mii  Wilhelm 
(ii-itnin  im  An.schhiss  an  dinsen  Schluss  die  bekannte 
liilhsclic  (Jeschicliff  cf/ählt ').  Oft  si-hliosscn  die  Märehen 
mit  dci'  IJdclr/cit  ;ils  dem  (Jipfcl  des  ii'dischen  (ilücks. 
Dif'sc!  wild  l)is\vcilrii  mit  lifililiclicf  Laune  ges(diil(lert  und 
der  Zuhörer  j^cfragt:  ..l>ist  du  auch  auf  der  Hochzeit  ge- 
wesen?'' usw.  (84).  oder  dcf  lOrzählef  wünselit.  ..er  war 
auch  dal)(!i  j^ewesen'"  (134),  dcmn  .,wer  daltei  L-'ewesen.  der 
ist  nicht  hungrig  nach  Haus  gegangen"  (11,43).  Mit  frohem 
Ausblick  in  die  Zukunft  heisst  es  dann  wohl:  ..Nun  leisten 
sie  vergnügt,  und  es  ging  ihnen  wohl  bis  an  ihr  lOnde"  (85), 
oder  frommer:  ,.nuii  lebten  sie  froh  so  lange  es  Gott  gefier*; 
„und  ob  sie  noch  leben,  das  steht  bei  Gott".  Humoristisch 
klingt:  ,,L'nd  wenn  sie  nicht  gestorben  sind,  leben  sie  heute 
noch".  Nach  der  Anschauung  des  Märchens  gehört  nun 
(Mnmal  langes  Leben  undReichtum  zum  glücklichen,  irdischen 
Dasein.  Selten  fasst  der  Inhalt  sich  in  einer  (sprich- 
wörtlich gehaltenen)  Moral  zusammen,  z.  B. :  ,.Eile  mit 
Weile"  (184),  „so  geht's  aber  den  Hochmütigen"  (97);  „du 
wirfst  das  Beil  so  weit,  dass  du's  nicht  wieder  holen 
kannst"  (72). 

Beliebter  ist  der  persönliche  Märchenschluss.  in  dem 
der  Erzähler  sich  unmittelbar  an  seine  Zuhörer  wendet. 
Auch  hierfür  bietet  unsere  Samndung  einige  Beispiele. 
Besonders  bemerkenswert  ist  die  Art.  sich  auf  Gewährs- 
männer (Grosseltern)  zu  berufen,  denen  man  die  Geschichte 
verdankt  i^z.  B.  No.  179).  Auch  der  Anfang  leitet  ähnlich 
ein,  z.  B.:  ,.Disse  Geschieht  is  lögenhaft  to  verteilen, 
Jungens,  aver  wahr  is  se  doch,  denn  mien  Grotvader,  von 
den  ick  se  hew,  plegg  ümmer  to  seggen"  ....  Ganz  all- 
gemein heisst  es:  ,,Un  we  dat  lest  verteilt  het.  den  is  de  Mund 
noch  wärm"  (113)  oder:  ..wer  s  wüsste,  könnte  viel  davon 
erzählen".  Bisweilen  gesteht  der  Vortragende  am  Schluss, 
selbst  nicht  mehr  zu  wissen:  „und  ob  sie  noch  da  schweben, 


<)  Freundesbriefe   S.  lS9f. 


—     121     — 

das  weiss  ich  nicht"  (90),  oder  er  gibt  rückblickend  ül)er 
gewisse  unanfgeklärte  Punkte  des  Märchens  Bescheid. 
bYage  des  Kindes  und  Antwort  des  Erzälilers  sind  hübsch 
beisammen  in  folgendem:  ,, Führt  er  wohl  noch?  Was  denn? 
Es  wird  ihm  niemand  die  Stange  abgenommen  haben.'"  — 
.,Wo  ist  aber  die  Ziege  hingei^ommcn.  die  schuld  war. 
dass  der  Scliiit'ith'r  seine  drei  Söhne  fortjagte?  —  Das 
will  ich  dir  sagen''  .  .  .  {'M])  —  ., Warum  hat  aber  der 
Fuchs  die  armen  l*iei)hühner  zu  fressen  kriegt?  —  Ei,  du 
Narr,  deinem  Vater  wird  ja  wohl  sein  Kind  lieber  sein 
als  die  Hühner  auf  dem  Hof"'  (45). 

Gewöhnlich  duldet  nur  der  Schluss  ein  direktes  Hervor- 
treten des  Erzählers:  im  Verlauf  des  Märchens  selbst  wird 
die  objektive  Darstellung  festgehalten.  Einzelne  abweichende 
Fälle  sind  nur  als  Ausnahmen  zu  betrachten,  z.  B.:  „da 
lebte  Allerleirauh  lange  Zeit  recht  armselig;  ach,  du  schöne 
Königstochter,  wie  solFs  mit  dir  noch  werden".  „Nun 
weiss  ich  nicht,  ob  sie  sich  so  dick  gegessen  oder  ob  sie 
so  ül)ermütig  geworden  waren'"  (10),  oder  man  stellt  mit- 
unter eine  rhetorische  Frage:  „Das  Mädchen  kehrte  den 
Schnee  weg,  und  was  glaubt  ihr  wohl,  was  es  gefunden 
hat?"  (13)  „Aber  was  meineder,  wer  isch  das  gsi?  D" 
Tochter  selber  isch  es  gsi!"'  Allgemein  heisst  es:  „Es 
kann  sich  jeder  denken,  wie  ihm  zu  Mut  war.'"  Stimmung 
zu  erzeugen,  wird  der  Geschichte  selbst  überlassen,  das 
persönliche  Empfinden  des  Vortragenden  schwebt  unaus- 
gesprochen über  dem  Ganzen. 

Die  Anschaulichkeit  der  Sprache  wird  vielfach 
gehohen  durch  Kleinmalerei:  die  geringfügigsten  und  un- 
scheinbarsten Züge  sind  den  Brüdern  oft  die  wichtigsten, 
und  auch  das  Unbedeutende  bekommt  durch  die  gefällige 
Anmut,  mit  der  sie  es  erzählen,  einen  anziehenden  Reiz. 
Der  sprachliche  Ausdruck  ist  zart  bei  der  Darstellung 
kindlicher  Dinge,  derb  in  der  Schilderung  gröberer  Ver- 
hältnisse. Er  legt  Wert  auf  Sachen,  die  dem  Kinde  am 
meisten  ins  Auge  fallen  und  seine  Verwunderung  erregen. 
So  gleichgültig  das  Märchen  sonst  gegen  Ortstnigaben  ist. 


—      122     — 

S(»  ^'(Miaii  ist  (loch  olt  die  licsclii'cihtiiij^  ^'(iwissLM' Sitiiatiuiicn : 
Zaul)('rl)aiit('ii,  l.aiidscliarit'ii,  Sdiliisser,  liäusliclie  Hiii- 
riclitiiiij^frii  w(!t(lrii  bis  ins  <'iii/('lii('  mit  plastisclior  Dcutlicli- 
kt'it  ^M'scliildcit.  (It'iin  das  Kind  hat  ciiu;  FF'«;U(h'  am  liiiiitni 
und  SchiiiimcnidiMi.  Mit  Voiliidx-  vciwciidct  man  auch  liildcr 
aus  dem  Xatuihdx'n:  (he  Tier-  iiiid  l'lhiiizen weit  wird  gern, 
iiiclit  bloss  in  wirklichen  'riermärchcn,  in  den  Anschauun^'s- 
kreis  hineingezogen,  wodurch  dieKrzählungen  einen  Irischen, 
kräftig(^n  Naturton  und  das  (Jepräge  des  Echten  und  Un- 
gekünst(dten  erhalten.  Aber  in  den  Märchen  liegt  nicht 
eine  scnitiinentale  Sehnsucht  nach  der  Natur,  diese  ist  für 
den  einfachen  Mann  des  Volkes  noch  nicht  etwas  Fremdes, 
sie  ist  noch  der  Urboden  aller  gesunden  Verhältnisse.  Der 
grüne  Wald,  das  blühende  Feld,  geheimnisvolle  Brunnen 
und  (Quellen  sind  die  Plätze,  wo  sich  das  Märchen  gern 
ansiedelt.  Wenn  die  Fabel  im  allgemeinen  nur  dir  Tiere 
zu  Trägern  von  Ideen  macht,  geht  das  Märchen  schranken- 
los noch  tiefer  in  das  Naturreich  hinab,  auch  die  un- 
organische Welt  naiven  Sinnes  zu  beseelen  und  mit  Vernunft 
zu  begaben.  Denn  das  Kind  glaubt,  dass  die  Dinge, 
die  es  umgeben,  gewissermassen  seines  gleichen  sind,  die 
begehren  und  handeln  wie  es  selbst. 

Das  Wunderbare  und  Unwahrscheinliche  ist  im 
Märchen  das  Natürliche.  Wirkliches  und  Unmögliches 
webt  das  Spiel  der  Phantasie  launig  durcheinander.  Damit 
steht  in  Verbindung,  dass  die  Brüder  zwar  keine  neuen 
Wunder  hinzugedichtet,  aber  durch  poetische  Belebung  der 
Sprache  das  Märchenhafte  der  Erzählung  bedeutend  erhöht 
haben.  Die  tote  Natur  ist  vielfach  zum  redenden  und 
handelnden  Genossen  des  Menschen  geworden;  aber  man 
mied  eine  sinnlose  Anhäufung  von  Wundern,  wie  sie  sich 
etwa  in  den  Feenmärchen  findet.  Auch  behandelten  die 
Brüder  das  Gespensterhafte  und  Grausige,  das  Wunder- 
bare und  Phantastische  nicht  parodistisch  wie  einige  ihrer 
Vorgänger,  sondern  mit  der  Andacht  eines  kindlichen 
Gemüts.  Anerkennend  erwähnt  Goethe  das  Grimmsche 
Märchen    vom    „Gruseln    lernen",    das    „einen    Tod-    und 


—     123     — 

Teufelsspuk  als  etwas  ganz  Gemeines  behandele".  Der 
Ge<i:ensatz  von  .,Einbildunij^skraft  und  Derbheit,  von  un- 
verNvüstlieiieni.  j^psun(h'iu  Sinn  und  gespenstischem  Trug 
könne  nicht  besser  dargestellt  werden"  (Werke  33, 199). 
Das  ist  ja  überhaupt  eine  Eigenschaft  des  Volksmärchens, 
dass  es  an  seine  Wunder  glaubt,  während  das  Kunst- 
märchen die  Allegorie  nicht  vciineideii  kann  iiiid  auf  geist- 
reiche Verknü|)fuiig  der  Ereignisse  angewiesen  ist. 

Das  koniiselie  Element  in  den  Märchen  ist  ein 
launiger,  gutmütiger  Humor,  der  sich  mit  den  sonderbarsten 
und  dümmsten  Personen  aljzutinden  weiss,  ja  gerade  bei 
der  Behandlung  dieser  Leute  und  ihrer  Albernheiten  am 
wirksamsten  zur  Geltung  kommt.  Und  doch  wird  dadurch 
niemals  die  Stimmung  des  Ganzen  zerstört;  es  ist  ein 
Spott,  der  alle  trifft  und  darum  keinen,  der  in  einem  er- 
träumten Lande  mit  allerlei  wunderlichen  Lebens- 
verhältnissen spielt  und  deshalb  von  der  Ironie  eines 
Musäus  oder  Tieck  von  Grund  aus  verschieden  ist.  Auch 
bei  der  ironischen  Behandlung  mancher  Märchentiguren, 
z.  B.  des  faulen  Heinz,  der  klugen  Else,  des  dummen 
Hans,  des  tapferen  Schneiders  hat  mau  immer  das  Gefühl, 
als  sei  die  Erzählung  ernst  gemeint.  Die  Brüder  verstehen  es, 
unser  Interesse  auch  für  wenig  liebenswürdige  Personen 
i-ege  zu  halten.  Man  lacht  ül)er  die  Einfalt,  die  es  noch 
nicht  versteht,  sich  zu  verstellen,  oder  ist  gerührt  durch 
die  Offenheit  der  naiven,  treuherzigen  Gesinnung,  die  alle 
Ivünstlichkeit  beschämt.  Im  allgemeinen  hat  die  Bearbeitung 
die  \'orlagen  nach  dieser  Seite  hin  unverändert  gelassen; 
nur  einige  Gestalten,  wie  der  Schneider,  der  Jude  im 
Dorn  sind  mit  mehr  Humor  gezeichnet. 

Das  Märchen  ninmit,  wie  die  Volkspoesie  überhaupt, 
gern  starke  Contraste  auf:  gut  und  böse,  wunderschön 
und  hässlich  wie  die  Nacht  stehen  unvermittelt  einander 
gegenüber;  feinere  Abstufungen  werden  nicht  gemacht. 
Das  bestimmt  Umrissene  ist  dem  Märchen  lieber  als  der 
schillernde  Charakter,  zu  dessen  Darstellung  auch  eine 
feinere  Kunst  gehört  als  der  Märchenerzähler  besitzt,  der 


—     1  lM     — 

sich  mit  cituT  psycliolo^risclifri  lic^^MiiiKlim;:  iiiid  \  tMlirliin^ 
.seiner  ( "liaraktcn'  iiiclit  hclMsst.  Audi  würde  auf  Sfitcn 
des  lliiicrs  dir  l"]inplaii^liclikf'it  daliir  tVddeii.  I)as  iiii- 
vei'l)il(l('lc  (ier(;cliti;:keitsf((d'iild  des  Mäi'cheiis  vcrldHt  dem 
Guten  zum  Siej^e  über  das  Jjöse.  Die  l)i'i(l<*n  inneren 
Gegensätze,  die  so  oft  begef<n<ui,  sind  zugleieh  (Jinndlageii 
für  äuss(!n!  Untei-scldede,  beide  laufen  parallel.  Mit  Seelen- 
reinlieit  vermählt  sieh  die  tiliieklicbe  körperliehc  liesehaffeii- 
heit,  und  unif^ekehrl  kann  man  aus  einer  äusserlich  häss- 
licheii  Märchcnligur  schon  auf  eincMi  schlechten  (.'harakter 
schliess(!n.  Der  Lohn  der  Tugend  besteht  in  grüsstem 
irdischem  (ilück,  die  Strafe  des  Bösen  in  schrecklichst<'r 
(^ual. 

Wie  im  V'olksliede  sind  die  syntaktischen  \'er- 
hältnisse  der  Sätze  höchst  (M'nfach.  Coordinatioii  wii-d  der 
Subordination  vorgezogen;  ein  Gedanke  reiht  sich  schlicht 
an  den  andern.  Feinere  Beziehungen  durch  Partikeln  und 
Conjunktionen  anzudeuten  wird  ebensowenig  versucht  wie  ein 
kunstvoller  Periodenbau.  Es  ist  natürliche  Prosa  des  Mundes. 
Das  altertümliche  Deutsch  mit  der  einfachen  Struktur  der 
Sätze  kam  in  seiner  Schlichtheit  der  modernen  Märchen- 
sprache sehr  nahe;  schon  desw^egen,  abgesehen  von  Grimms 
Vorliebe  für  archaische  Ausdrucksweise,  wurden  die  Vor- 
lagen fast  unverändert  übernommen.  Sie  bewahrten  dem 
Märchen  den  ..angeerbten,  wenn  auch  nach  und  nach 
modificierten  Charakter  zugleich  mit  dem  einfachen,  den 
ältesten  Zeiten  gemässen  Vortrag'',  wie  ihn  Goethe  für  das 
Volkslied  verlangte  ').  Auch  dialektische  Ausdrücke  wurden 
Kunstmittel.  Ausser  den  Märchen,  die  durchgehends  in 
einer  bestimmten  Mundart  abgefasst  sind,  um  ihnen  den 
frischen  Erdgeruch  zu  wahren,  begegnen  Idiotismen  aller- 
dinos  nur  selten,  z.  B.:  Haulemännerchen.  Frau  Gothel 
Ellermutter  u.  a.,  denn  ein  Sprachgemenge  wurde  nicht 
geduldet.  Auch  hielten  die  ersten  beiden  Auflagen  noch 
vielfach  die  apokopierten   und   elidierten  Wortformen  fest, 


1)  In  dem  Aufsatz:  Über  Vulkspoesie. 


—     125     — 

die  teils  diMn  iniiiKlIJchrii  X'ortra}^-  entsprachen,  teils  aus 
ältcfcii  \'()ilai:('ii  ühoriioiniiicü  wurden.  Erst  mit  d(!r  dritten 
Auria<;e  nuu'lit  sich  ein  Streljen  henierkhar.  die  Kornien 
dem  schriftfi'emässen  Deutsch  aii/iiiilimdu.  Tiefere  Ein- 
fi'ril't'e  zeiiit  die  Hearheitunj;'  neueren  Vorlagen  gegenüber; 
lange  rerioden  wurden  aufgelöst,  Nebensätze  in  Hauptsätze 
verwandelt.  Nicht  selten  wird  die  einleitende  Partikel  im 
Satze  fortgelassen  und  eine  wirksame  Inversion  eingeführt, 
z.  B.:  „fragte  die  weise  Frau"  —  „sprach  der  Bauer"  usw., 
eine  Eigenart  des  archaisierenden  Stils,  welche  die  eindring- 
liche Kraft  der  Rede  steigert  wie  in  Luthers  Bibel.  Die 
Darstellung  wird  hierdurch  dramatischer.  Frage  und  Ant- 
wort schliessen  sich  eng  an  einander,  und  der  Zwischensatz 
ohne  einleitende  Partikel  ist  gleichsam  wie  eine  Parenthese 
anzusehen,  die  flüchtig  den  Strom  der  Worte  unterbricht. 
In  einem  Brief  der  Haxthausenschen  Correspondenz  hat 
W.  Grimm  sich  durchweg  dieser  Form  bedient').  Im  Stil 
des  Volksliedes  entspricht  ihr  die  Erscheinung,  dass  das 
Hauptwort  am  Anfang  der  Zeile  häutig  ohne  Artikel  steht 
(vgl.  Heidcnröslein:  „Knabe  sprach:  Ich  breche  dich"  .  .  .), 
wodurch  es  „weitmehr  poetische  Substantialität  und  Per- 
scJnlichkeit"  erhält,  wie  Herder  betont  2). 

Vielfach  ist  der  Monolog  mit  Personenwechsel  an- 
ge\vandt,  eine  anschauliche,  echt  volksmässige  Ausdrucks- 
weise. Da  „denken''  sprechen  mit  sich  selber  ist,  so  kann 
der  Denkende  sowohl  erste  wie  zweite  Person  sein.  Die 
Vertauschung  der  Glieder  erhöht  die  Beweglichkeit  und 
eindrucksvolle  Kraft  des  Vortrags.  Es  ist  gegenständlicher 
und  gemütlicher,  sich  selbst  mit  „du"  anzureden.  Jakob 
Grimm  charakterisiert  den  Unterschied  in  seiner  Ab- 
handlung über  den  Personenwechsel  in  der  Sprache'^)  mit 
(\{in  Worten:  „Mit  dem  .Ich"  redet  der  Verstand,  mit  dem 
•  Du"  reden  Herz  und  Empfindung". 


i)  Iu-eundesT)i-iefe  S.  8  f. 

2)  Suphan  V,  194. 

3)  Kl.  Schriften  III,  299. 


—     126     — 

hiircli  iiiassvftllr  und  ;:('sc|iicktf  AiiwftKliiri^j  der 
stilisti.sclicii  l"'cinli<'itrti  Imlicii  du-  Hriidfr  (Iriiiiiii  —  das 
H:ui|)tvcrdicii.sl  pdiört  Willifliii  den  \'(»rla;ff'n  neu«'  und 
rciclic  Sc|i<iidi('ilfii  voilichcii.  Ihr  \'<'i  lalircn  ;iliii<dt  doin 
des  Kiirist(liclit<'is,  (Icv  das  dunkln  Kiildou  und  die  halb 
unhcwussÜMi,  iiistiiiktivon  Andoutuii^rcri  der  Volksdichtung 
benutzt  und  ihnen  den  vollen  und  reinen  Ausdruck  gibt. 
Sic  wiederholten  nicht  etwa  walillos  typische  Wendungen 
und  flickten  sie  künstlich  dein  iMärchen  an:  ihre  Sicherheit 
l)ewahrte  sie  auch  vor  Übertreibung.  Sie  stellten  jedes 
Märchen  in  sein(T  P^igenart  als  Fertiges  vor  und  fugten 
aus  dor  Stininiuiig  des  Ganzen  |)assen(h'  Zusätze  bei.  es 
dadurch  erst  zu  einem  Kunstwei'k  umgestaltend.  Die  Kluft 
zwischen  Kunst-  und  Naturprodukt  wurde  ül)erl)riiekt.  oder 
vieluK^ir  erst  die  Kunst  der  J'rüdei'  verlieh  den  .Märchen 
durch  die  einfachsten  Mittel  den  frischen  Üuft  und  die 
sinnliche  Kraft  und  Schönheit,  woran  der  Wildling  zu 
erkennen  ist.  Ihre  Methode  lässt  sich  bereits  aus  der 
Betrachtung  des  kleineren  Teils  der  Sammlung  im  Umriss 
bestimmen.  Eine  erschöpfende  Darstellung  hat  aber  mit 
Notwendigkeit  die  mündlicher  Überlieferung  nacherzählten 
Älärchen  zu  berücksichtigen;  auch  würden  dadurch  erst 
Eiuzelbeobachtungen,  die  uns  jetzt  unscheinbar  dünken,  in 
das  rechte  Licht  treten.  Wir  müssen  auf  neue  Schätze 
des  „Grimmschrankes"  warten. 


Beilagen. 


Vorlage. 

I     Hans    Sachs,    Sfliwänkf    I.  17"J. 

hi'f    (lewffel    hat    dio    ß-ais    or- 

sc'h äffen,  hat   in  dewl'fel  äugen 

e  i  n  g  e  s  e  c  z  t. 

l)i)ctor  Dolpianus  der  hat 
I'^iii  jmech  j)e.srhvieben,  darin  slat: 
Nach  dem  dei'  Her  all  creatür 
Auf  erd  peschueff  gar  rein  und  |>iir 
Die  wolff  er  im  erwelen  künd 
Und  het  sie  pey  im  für  jagliiind, 
Das  er  sicher  in  den  refleren 
Wer  vor  den  andren  wilden  tliieren. 
Nun  sagen  vns  die  gierten  ])faffen 
"Wie  das  er  het  kain  gais  erschaffen. 
Da  richtet  sich  der  dewffel  on 
Vnd  wolt  auch  sein  ein  schöpfer  fron 
Und  macht  vil  gais  in  seinengrenczen, 
Zirt  sie  all  mit  langen  füchsschwenc- 
Und  wen  sie  gingen  an  der  waid  [zen, 
DelteTis  dem  dewffel  vil  zv  laid, 
Wo  sie  in  doren  hecken  gingen 
Mit  den  schwenczen  sie  drin  pehingen. 
Den  schlofl"  er  nein  und  macht  sie  los. 
Die  müe  den  dewlTel  hart  vertros, 
Det  in  allen  die  schwencz  abeissen, 
\Yie  noch  diestüempffdergaisi)ewey- 
Schlueg  sie  allein  hin  auf  die  waid.  [sen, 
Der  herr  kam  hindurch  ein  wegschaid, 
Sach,  wie  dio  gais  in  weitem  raüni 
Penagten  die  fruchtbaren  paiim. 
Und  sach  darzw,  wie  die  gaispück 
Verderbten  die  edlen  weinstöck, 


Grimm. 

Des   Herrn    und   des   Teufels 
Getier.     (11,02.) 


Gott  der  Herr  hatte  alle  Tiere  er- 
schaffen und  sich  die  Wölfe  zu  seinen 
Hunden  auserwählet;  blos  den  Geis 
hatte  er  verges.sen. 


Da  richtete  sich  der  Teufel  an,  wollte 
auch  schaffen,  und  machte  die  Geise 
mit  feinen,  langen  Schwänzen.  Wenn 
sie  nun  zur  Weide  gingen,  blieben 
sie  gewöhnlich  mit  ihren  Schwänzen 
in  den  Dornhocken  hängen,  da  mussto 
der  Teufel  hineingehen  imd  sie  mit 
vieler  Mühe  lo.sknüpfen;  verdro.ss 
ihn  zuletzt,  war  her  und  biss  jeder 
Geis  den  Schwanz  ab,  wie  noch  heut' 
des  Tags  an  den  Stümpfen  zu  sehen 
ist. 

Nun  liess  er  sie  zwar  allein  weiden, 
aber  es  geschah,  dass  Gott  der  Herr 
zusali,  wie  sie  bald  einen  fruchtbaren 
Baum  benagten,  bald  die  edlen  Reben 
schädiglen,  bald  andere  zarte  Pflanzen 
verderbten.    Dess  jammerte  ihn,    so 


—     12S     — 


I)('ttcii  firri   pllanzcii  {rff'-'^fn  s<'lia(li-ii. 
h.-is  jaiiiiM'l   in   :ui.s  ^nittl  \  iid   ;,''iiutii.-n 
Vricl   lictsclul  seine  woIlT  an  sie, 
Die  solbiji'en  zorios.son  dio. 
So  |)al<l  der  dnwITol  das  veiiiom 
Wie   haid   er  /v   dcMii    licrreii    kom 
l'iid  s|ira<di :  Herr,  das  ^^'-escliüplte  dein 
I  )as  hal  zvrissen  mir  das  nitMiiI" 
Der  lierr  spradi:  Drin  ^--ais  niiicst  ich 

stralfen, 
\\'(mI  diis/v  seliaden  iiasi  orsehcalTen." 
Der  düwIToI  s|)raeh:(;loioii  \vi(' idi  |)in 
lOiii  si-liöpder  boshaft i<ror  sin, 
So  pesciiuetr  ich  auch   eieatüi' 
Mir^-ieich,  die  ieh  durch  dich  verliir. 
|)\v  innst  sie  niii'  wol  zalen  dewer." 
1  )(•!•  Iierr  spracIi:.Ja,ich  zaldirshewer. 
So  pald  das  aichon  laiib  abfeit, 
So  küinbl   das  gelt  ist  schon  gezelt." 
l)rr  (JL'wn'el  fuer  daliin  sein  stras. 
Ais  das  aichlaub  abfallen  was,    fpel. 
Der  (lowtTel  fordert  sein  scliueld  dop- 
Der  herr  sprach:  Zv  Constantinoppol 
In  Kriechen  stet  ain  aichen  hoch 
Die  selb  ir  laiib  hat  alles  noch." 
Der  dewffel   fuer  dahin  mit  Uuechen 
Sechs  raonat  die  aichen  zu  suechen, 
Vnd  erst  im  Mayen  wider  kom. 
Da  er  die  aichen  all  vernoni 
Wider  gruen  vnd  vol  pleter  worn. 
Aluest  der  schneid  ghraten,  vnd  vor 
Da  stach  er  all  dengaysen  sein  [zorn 
Dio  aügen  aus  und  seczt  in  ein 
Sein  dewffels  äugen.  Drum  an  laugen 
Haben  all  gais  noch  dowffels   äugen 
Vnd  darzw  auch  abissen   sehwencz. 
Der  dewffel  auch  durch  sein  gespencz 
Sich  oft  in  schwarze  gais  verwandelt 
Wen  er  mit  der  zaubrerin  liandelt. 
Auch  holen  sie  oft  auf  eim  pock 
lOin  man  hin  über  slain  und  stock 
Auf  die  puelschaft.  Vil  vngemachs 
Rieht  er  dardurch   an,   si)richl  Hans 

Sachs. 


da>s  er  aus  (Jiile  und  (inaflen  seine 
Wölfe  diari  hetzte,  die  denn  die 
(Jeisc!,  HO  da  gingen,  bald  zerrissen. 
Wie  der  Teufel  das  vernalini,  trat 
er  l)aUl  vor  den  Herrn  und  sjirach: 
„Dein  Ge.schöpf  hat  mir  das  nie-ine 
zerrissen."  Der  Herr  antwortete; 
„Was  halt(!st  du  es  zu  Schaden  er- 
schaffen :■"' 


Der  TcMifel  sagte:  „l<h  mussle  da>; 
gleichwie  selbst  mein  Sinn  auf  Scha- 
den gehl,  konnte,  was  ich  erschalTen, 
keine  ariden;  Xatur  haben,  und  niusst 
mirs  leuer  zahlen."  ..Ich  zahl  dii's. 
sobald  das  lOichenlaub  abfällt,  dann 
komm,  dein  (Jeld  ist  schon  gezählt." 


Als  das  Eichenlaub  abgefallen  war, 
kam  der  Teufel  und  forderte  seine 
Schuld.  Der  Herr  aber  si)raeh:  „In 
der  Kirclie  zu  Constantinopel  steht 
eine  hohe  Eiche,  die  hat  noch  alles 
ihr  Laub."  Mit  Toben  und  Fluchen 
entwich  der  Teufel  und  wollte  die 
Eiche  suchen,  irrte  sechs  Monate  in 
der  Wüstenei,  eh'  er  sie  befand,  und 
als  er  wiederkam,  waren  derweil 
wieder  alle  andere  Eichen  voll 
grüner  Blätter.  Da  mu.sste  er  seine 
Schuld  fahren  lassen,  stach  im  Zorn 
allen  übrigen  Geisen  die  Augen  aus 
und  setzte  ihnen  seine  eigenen  ein. 
Darum  haben  alle  Geise  Teufelsaugen 
und  abgebissne  Schwänz,  und  er 
nimmt  gern  ihre  Gestalt  an. 


129     — 


Kirchliof,  Wenduiimuth  11,124. 
Von  tlt'ss  todls  botlen. 

Man  sagt,  ilass  aulf  ein  zeit  ein 
o-rosser,  starker  ries  den  lod  hab  im 
kämpft"  bestanden,  darnider  goschla- 
pen,  «jantz  onniiielitis"  '"id  kraPftlos 
lijJI'en  lassen,  welelu'n,  als  ihn  lin 
jünfrliiig,  der  dasei list  fürpenu:,  sähe, 
hat  er  auss  erbarninuss  in  trelabt, 
also  dass  er  seine  vorige  sterck  nnd 
gesundheit  widerunib  bekäme.  Der- 
halben  zn  einer  widergeltung  diser 
gutthat,  verspraeh  der  tod  dem 
Jüngling,  sintemal  es  vt)n  gott  und 
der  natur  also  vorsehen,  dass  alle 
menschen  sterben  müssten,  nnd  er 
seiner  derwegen  nicht  verschonen 
köndte,  wollte  er  ihm  docli  sein  end 
zeitlich  gnug  zuvor  durch  bottschat'l 
verkündigen  las.sen.  Solcher  zusag 
halber  ward  das  geniüt  dess  Jüng- 
lings in  sielierheil  stoltz  erhaben, 
t'rass,  sott'  und  scldemmet  ein  und 
alle  tag,  dass  in  jetzt  diser,  denn 
jener  gebrechen  plagte.  Bald  do  er 
nach  vielen  siechtagen  wider  in 
freuden  lebte,  kam  der  lod,  sagende, 
wie  die  stund  seines  absclieids  von 
diser  erden  nun  vorhanden.  Jener 
war  solcher  Sachen  nicht  zufrieden, 
den  tod  dess  betrugs,  hinderlist  und 
unwahrhaftiges  verspi-echens  he- 
schtüdigende,  sintemal  er  keinen  an- 
zeiger  von  ilun  v(MTioninien.  Ih», 
schweig  still !  aniWDi'tel  di-r  tod.  sein 
das  nicht  hotten  genug?  Vor  etlichen 
jaren  i)lagte  dich  ein  hartes  lieber, 
bald  darnach  ein  schwereres,  letzt 
hastu  am  kopIT  mit  schwindeln,  an 
der  brüst  mit  hiisten  und  keichen, 
im  magen  nnd  gederm  grossen 
schmertzen  erlitten,  deine  kreffte  an 
armen  und  beiiien  haben  abgenom- 
men, die  haut  ist  dürr  und  runtzelichl 
Palaestra  XI. VII. 


Die  Boten  des  Todes  (177 j. 

Vor  alten  Zeiten  wanderte  einmal 
ein  Riese  auf  der  grossen  Landstrasse, 
da  s|)rang  ihm  plötzlich  ein  un- 
bekannter Mann  entgegen  nnd  i'ief: 
„Halt!  keinen  Schritt  weiter!''  ,.Was'', 
sprach  der  Kiese,  „du  Wiclit,  den 
ich  zwischen  den  Fingern  zeidrücken 
kann,  <lii  willst  mir  den  Weg  ver- 
treten? Wer  bist  du.  dass  du  so 
keck  reden  darfst?"  „Ich  bin  i\vv 
Tod",  erwiderte  der  andere,  „mir 
widersteht  niemand,  utid  auch  du 
musst  meinen  Befehlen  gehorchen," 
Der  Riese  aber  weigerte  sich  und 
fing  an  mit  dem  Tode  zu  ringen. 
Es  war  ein  langei'.  heftiger  Kamjjf, 
zuletzt  aber  behielt  der  Riese  die 
Überliand  und  schlug  den  Tod  mit 
seiner  Faust  nieder,  dass  er  neben 
einem  Stein  zusammensank.  Der 
Riese  ging  seiner  Wege,  und  der 
Tod  lag  da  besiegt  und  war  so  kraft- 
los, dass  er  sich  nicht  wieder  er- 
heben konnte.  „AVas  soll  daraus 
werden",  sprach  er,  „wenn  ich  da 
in  der  Ecke  liegen  bleibe?  es  stirbt 
niemand  mehr  auf  Frden,  und  sie 
wird  so  mit  Menschen  angefüllt 
werden,  tlass  sie  nicht  mehr  Platz 
haben,  neben  einander  zu  stehen." 
Indem  kam  ein  junger  Mensch  des 
Wegs,  frisch  und  gesund,  sang  ein 
Lied  und  warf  seine  Augen  hin  und 
her.  Als  er  den  Halbohnmächtigen 
erblickte,  ging  er  mitleidig  heran, 
riclitete  ihn  auf,  fliisste  ihm  aus 
seiner  Flasche  einen  stärkenden 
Trank  ein  und  wartete,  bis  er  wie<ler 
zu  Kräften  kam,  „Weisst  du  auch", 
sagte  der  Fremde,  indem  er  sich 
aufrichtete,  „wer  ich  bin,  und  wem 
du   wieder   auf   die  Beine   geholfen 

9 


worden,  rhcr  das  allos  soll«  diih 
eriiiiDTl  li.'iht'ii  ini'iii  l<<il)liclifr  liiii- 
dc.r",  d(M'  scldalT,  in  wcldics  liandoii 
du  ctliclM'  /.i'il  niilit  ainlrisl  als  f,'e- 
stoi  hm  liast  ;.n'lc;,'-cii.  l)erlialbeti 
s(Mii  (loiiio  eiilscliuldi^'iiii^r  niclitif,' 
und    wil   ich  dich  mit   mir  iicmmeii. 

Diso  fabol  ^'ibt  zu  vorstehen, 
J)ass  uns  der  tod  konipl  unversehcn, 
Daruml)  ein  chrisl  siili  daraiilTschicIv, 
Als  Sülls  p'sclichn   all  aii;:eiihlicl<. 


laii<^o  wt'nijrstcns  siclici 


dii 


130     — 

liast?"  „Nein",  antwortete  der  Jüng- 
lint^  „ich  kc'iine  dir-li  nicht.**  „Ich 
hin  der  Tod",  sprach  or,  „ich  ver- 
sclionc  niemand  und  knr)n  auch  mit 
dir  keine  Ausnahme  maclien.  Damit 
du  aher  siehst,  dass  ich  dankhar 
bin,  so  v(>rsj)reche  ich  dir.  dass  ich 
dich  nicht  unversehens  überfallen, 
sondern  dir  erst  meine  Holen  senden 
will,  bevor  ieh  komme  und  dich  ab- 
hole."  „Wohlan",  si)rach  der  .Jünp- 
liiifj,  „immer  ein  tJewinn,  (la.ss  icli 
weiss,  wann  du  kommst,  un«I  so 
Dann  zoj?  er  weiter,  war  lustig  und 


guter  Dingo  und  lebte  in  den  Tag-  hinein.  .Allein  Jugend  uiul  (Je.sundheil 
hiellon  nicht  lange  aus,  bald  kamen  Krankheiten  und  Scbmerzen,  die  ihn 
bei  Tag  plagten  und  ihm  nachts  dio  Ruhe  wegnahmen.  „Sterben  werde 
ich  nicht",  sprach  er  zu  sich  selbst,  „denn  der  Tod  .sendet  er.st  .seine  Boten, 
ich  wollte  nur,  die  bö.sen  Tage  der  Krankheit  wären  er.st  vorüber."  SobabI 
er  sich  gesund  fühlte,  fing  er  wieder  an.  in  Freuden  zu  leben.  Da  kloj>fte 
ihm  eines  Tages  jemand  auf  die  Schulter:  er  blickte  sich  um,  und  der 
Tod  stand  hinter  ihm  und  sprach:  „Folge  mir.  die  Stunde  deines  Abschieds 
von  der  Welt  ist  gekommen."  „Wie",  antwortete  der  Mensch,  „willst  du 
dein  Wort  brechen?  hast  du  mir  nicht  versprochen,  dass  du  mir,  bevor 
du  selbst  kämest,  deine  Boten  senden  wolltest?  ich  habe  keinen  gesehen." 
„Schweig",  erwiderte  der  Tod,  „habe  ich  dir  nicht  einen  Boten  über 
den  andern  geschickt?  kam  nicht  das  Fieber,  stiess  dich  an,  rüttelte  dich 
und  warf  dich  nieder?  hat  der  Schwindel  dir  nicht  den  Kopf  betäubt? 
zwickte  dich  nicht  die  Gicht  in  allen  Gliedern?  brauste  dir's  nicht  in  den 
Ohren?  nagte  nicht  der  Zahnschmerz  in  deinen  Backen?  ward  dir's  nicht 
dunkel  vor  den  Augen?  Über  das  alles,  hat  nicht  mein  leiblicher  Bruder,  der 
Schlaf,  dich  jeden  Abend  an  mich  erinnert?  lagst  du  nicht  in  der  Nacht. 
als  wärst  du  schon  gestorben?"  Der  Mensch  wusste  nichts  zu  erwidern, 
ergab  sich  in  sein  Geschick  und  ging  mit  dem  Tode  fort. 


Die  Geschichte  vom  Einäuglein, 
Zweiäuglein  und  Dreiäuglein.') 

Eine  Edelfrau  hatte  drei  Töchter, 
die  hiessen:  Einäuglein,  Zweiäuglein 
und  Dreiäuglein:    denn    die    .Uteste 


1)  Büschings  Wöchentl.  Nachricht. 
1816,  S.  17  ff. 


p]  i  n  ä  u  g  1  e  i  n .    Z  w  e  i  ä  u  g  1  c  i  n    und 
D  roiä  uglei  n. 

Es  war  eine  Frau,  die  hatte  drei 
Töchter,  davon  hiess  die  älteste  Ein- 
äuglein. weil  sie  nur  ein  einziges 
Auge  mitten  auf  der  Stirne  hatte, 
und  die  mittelste  Zweiäuglein,  weil 
sie    zwei    Augen   hatte    wie    andere 


—     131     — 


hatte  (hei  Aii|;i'n.  die  Andere  zwei 
Augen  unil  die  Jüngste  nur  ein 
Auore.  Pas  eine  bei  der  Jiingston 
und  das  dritte  bei  der  Ältesten  stand 
aber  mitten  auf  der  Stirne. 

D.iiuni  nun,  dass  dir  Milli'lslr 
nur  /.wci  Augen  hatte  und  nicht  um 
ein  llaai'  anders  gestaltet  war,  als 
andere  Menschen,  ward  sie  gebasst 
VOM  Mutter  und  Schwestern  und 
sowohl  in  Kleidunj:',  als  p'ssen  und 
Trinken  zuriiekgesetzt.  also,  dass  sie 
sehr  oft  traurig  niul  trauei'ud  herum- 
ging, nnd  die  Einsamkeit  ihre  einzige 
Freundin  war. 

So  sass  sie  auch  einst  verlassen 
auf  deni  Feldraine  und  iiütete  die 
Ziege,  die  ihr  von  der  Mutter  an- 
vertraut war,  konnte  aber  nicht  auf- 
hören zu  weinen,  weil  sie  bei  der 
Mahlzeit  abermals  fast  leer  ausge- 
gangen war.  Siehe,  da  tial  eine  Fee 
zu  ihr  und  fragte  sie  liebreich,  was 
sie  so  weine? 

Drob  war  Zweiäuglein  froli,  dass 
sieh  doch  Jemand  ihrer  annehme  in 
ihrer  Not  nnd  Trübsal,  und  sie  er- 
zählte der  Fee  nun,  wie  sie  zu  Hause 
nur  täglicb  geplagt  werde  von  iiirer 
Mutter  und  von  den  beiden  Schwes- 
tern und  hei  Tische  mehr  vom  Zu- 
sehen sali  wei'den  müsse,  denn  vom 
Zulangen. 

Da  gab  ihr  die  Fee  einen  guten 
Rat,  wie  sie  durch  Hülfe  ihrer  Ziege 
Speise  und  Trank  gewinnen  könne, 
so  wie  sie  nur  wünsche:  denn  so 
oft  sie  zu  ihrei'  Ziege  sag(>n  wei'de: 
Zicklein  meck! 
Tischlein  deck! 
werde  das  sauber  gedeckteste  und 
mit  den  schmackhaftesten  Si)eisen 
und  Getränken  aufs  beste  versehene 
Tischlein     vor    ilir    und     zu     ihrem 


Menschen,  unrl  die  jüngste  Drei- 
äuglein, weil  sie  drei  Augen  hatte, 
und  das  diitte  stand  bei  ihr  gleich- 
falls mitten  auf  der  Stirne.  Daium 
aber,  dass  Zweiäuglein  nicht  ainiers 
aussah  als  andere  Menschenkinder, 
kouuti'ii  (!s  die  Schwestern  und  die 
.Mutter  nicht  h^iihMi  und  sie  siirachen 
zu  ihm:  „Du  mit  deinen  zwei  Augen 
bist  nicht  hesser  als  das  gemeine 
Volk,  du  gehörst  nicht  zu  uns"  und 
stiessen  o.s  herum  und  wartVai  ihm 
schlechte,  alte  Kleider  hin  und  gaben 
ilun  nicht  nndir  zu  essen  als  was 
sie  übrig  Hessen,  und  taten  ihm 
Herzeleid  an,  wo  sie  nur  konnten. 

Fs  trug  sich  zu,  dass  Zweiäugloin 
ins  Feld  gehen  und  die  Ziege  hüten 
musste  und  noch  ganz  hungrig  war, 
weil  ihm  seine  Schwestern  so  wenig 
zu  essen  gegeben  hatten.  Da  setzte 
es  sich  auf  einen  Hain  uiul  ting  an 
zu  weinen  und  so  zu  weinen,  dass 
zwei  Hächlein  aus  seinen  Augen 
herabflossen.  Und  wie  es  einmal 
aufsah,  stand  eine  Frau  neben  ihm, 
die  fragte:  „Zweiäuglein,  was  weinst 
du?"  Zweiäuglein  antwortete:  „Soll 
icli  nicl'.t  weinen?  weil  ich  zwei 
.\ugen  habe  wie  andre  Menschen, 
Sil  können  mich  meine  Schwestern 
und  meine  Mutter  nicht  leiden, 
stossen  mich  herum,  werfen  mir 
alte,  schlechte  Kleider  hin  und  geben 
mir  nur  zu  essen,  was  sie  übrig 
lassen.  Heute  haben  sie  mir  fast 
garnichts  gegeben,  dass  ich  noch 
ganz  hungrig  bin."  Sprach  die  weise 
Frau:  „Zweiäuglein,  ti'ockne  dir  dein 
Angesicht,  ich  will  dir  etwas  sagen, 
dass  du  nicht  melir  hungtu'n  sollst. 
Sj)rich  nizr  zu  deiner  Ziege 
„Zicklein,  meck, 
Tischlein,  deck", 

9* 


132     — 


Diftisti'  slflirti  lliilli-  sirinin  ilinini 
Hiiii^''()r  »liiii' ( inii>/<' ;rolli.iii  iitiil  wollr 
(l(!S  'l'isclilciiis  wii'dor  i'iitilliri^'-fl 
sein,  S(i  (liii'IV.  sie,  mir  sn^'»'!!'. 

Zicklein  iiici-k! 
Tisciilüiii  \v(!p-! 
und    alles    würde    vor   ihren  Aii<r<Mi 
wieder  vorsrliwiiiidcii   sein. 

I'"iir  snlclicii  ;rntcn  l?;illi  dankte, 
Zwoiänirloiii  der  Fee  aufs  hesd-,  ilie 
aber  versehwand  wieder  vov  ihren 
Augen. 

Alsbald  nun  \  eisuchlt!  Zwi-iäiiirlein 
ilio  Wahrheit  Jener  Verheissung  und 
siehe  da,  kaum  halte  sie  zu  ihrer 
Zicg'e  die  Worte  gesagt: 
Zicklein  meck! 
Tischlein  deck! 
so  stand  das  sauber  gedeckteste 
Tischlein  zu  ihren  Füssen  und  duftete 
ihr  mit  den  einladendsten  Speisen 
und  Getränken  gar  lieblich  und  ge- 
-würzig  entgegen.  Zweiäuglein  aber 
harrete  nun  weiter  auf  kein  Nötigen, 
sondern  langete  frisch  und  wuhl- 
gemuth  zu,  was  ihr  eben  beliebte, 
imd  war  lustig  und  guter  Dinge. 
Als  sie  aber  ihrer  Esslust  ein  Gnüge 
gethan,  sprach  sie  die  ihr  gelehrten 
Worte: 

Zicklein  meck! 
Tischlein  weg! 
^  und  alsbald  war  das  Tischlcin  samt 
alle  dem,  was  noch  daraufwar,  luid 
wovon  noch  gar  wohl  ein  recht 
Hungriger  sich  hätte  sättigen  können, 
wieder  verschwunden. 

Dess  war  nun  Zweiäuglein  nicht 
wenig  froh,  dass  ihr  nun  ein  Mittel 
an  die  Hand  gegeben  war,  wie  sie 
trotz  der  neidischen  Missgunst,  mit 
der  sowohl  Mutter  als  Schwestern 
ihr  begegneten,  sich  täglich  Speise 
und  Trank   hinlänglich    verschaffen 


-'O  wild  «'in   -.au hl' r  gedecktes  Ti.sch- 
lein  vor  dir  stehen,  un<l  das  schönste 
l'^ssiMi  daiauf.   dass  du  essen   kannst 
-o   vi(d   du  Lii-t    hast,    fiid   wenn  tiu 
sali     l»i>l     und     das    Tischlein     nicht 
mehr   hraiichst,  so  sprich   nur 
„Zicklein,  meck, 
Tischlein,  wog", 
so  wird's  vor  deinen  Augen  wieder 
verschwinden."  Darauf  ging  die  woi.se 
I''rau  loit.    Zweiäuglein  aber  daclile, 
„ich  muss  gleich   einmal    versucluMi. 
tjb    es    wahr   isl,  was  sie  gesagt  hat, 
ilenn    mich    hungt-rt    gai-    zu    sehr", 
uiul  s]iiach 

„Zicklein,  meck, 
Tischlcin,  deck", 
und  kaum  hatte  es  die  Worte  aus- 
gesprochen, so  stand  da  ein  TLsch- 
lein  mit  einem  wei.ssen  Tiichlein  ge- 
dei  kt,  darauf  ein  Teller  mit  Messer 
uiul  CJabel  und  Lö/Tel,  die  schönsten 
Speisen  standen  rund  herum  und 
waren  noch  warm,  als  wären  sie 
eben  aus  der  Küche  gekommen.  Da 
sagte  Zweiäuglein  das  kürzeste  Ge- 
bet her,  das  es  wusste,  „Herr  Gott, 
sei  unser  Gast  zu  aller  Zeit,  Amen", 
und  langte  zu  und  liess  sich"s  wohl- 
schmecken. Und  als  es  satt  war, 
sprach  es,  wie  die  weise  Frau  es 
geheissen  hatte, 

„Zicklein,  meck, 
Tischlein,  weg". 
Alsbald  war  das  Tischchen  und  alles 
darauf  wieder  verschwunden.  „Das 
ist  ein  schöner  Haushalt",  dachte 
Zweiäuglein  und  war  ganz  vergnügt 
und  guter  Dinge. 

Abends  trieb  es  *;eine  Ziege  heim 
und  rührte  das  irdene  Schüsselchen 
mit  Essen,  das  ihm  die  Schwestern 
hingestellt  hatten,  gar  nicht  an,  und 
am    andern  Tag    zog    es  wieder  mit 


—     133 


lind  nuniiR'hr  oliin'  Smui'H  daruiH 
l('l)Pli  köiini'.  Sil-  iiKichtf  sich  (lahfi- 
mit  iliM-  spärlii'luMi  und  ^oiiii;^-!'!! 
Kust,  (lif  iiKiii  il:r  7.U  Haust?  nach 
o-ewöludic-licr  Art  /.uiconinien  Hess, 
wenig'  zu  schalTcii  und  Hess  sen)i.ü'»> 
nicht  sehen  gtiu/.  und  gar  stehen, 
wnrüher  die.  Ihrigen,  die  tloch  nieht 
wxissteii,  von  was  sie  sich  sonst  er- 
nähre, sicii  nichl  wenig  verwun- 
dertiMi.  dar  haid  aher  kamen  diese 
auf  die  N'ernuUliuiig,  liass  Zwei- 
äughMn,  die  doch  snnsl  aucji  (Ho 
schhn-hte  Kost  luchl  verschmäht 
halte,  ein  Mittel  ausflu(Hg  gemacht 
haben  müsse,  wodurcii  sie  sich,  wenn 
sie  vom  Hause  entfernt  und  mit  der 
Ziege  auf  der  Wei(h'  sei,  iiireii  l'nter- 
lialt  erwerbe. 

l'm  nun  Inerbei  hinter  die  Wahr- 
lieit  zu  kommen,  musst(>  das  näcliste 
Mal,  als  Zweiäuglein  wiedei"  nüt  der 
Ziege  auf  die  Weide  ging,  F]inäuglein 
mitgehen,  um  dem  Mittel,  dessen 
sich  Zweiäuglein  zu  ihrer  Sättigung 
bediene,  auf  die  Spur  zu  kommen. 
Zweiäuglein  aber  merkte  gar  ])ahl, 
was  num  gegen  sie  im  Schilde  führe, 
iiiu!  nahm  sich  vor,  ihre  Nachsteller, 
der  angewandten  Vorsicht  unge- 
achtet, zu  täuschen.  Sie  wusste  es 
durch  allerhand  Liebkosungen  so 
weit  zu  bringen,  dass  Einäughdn 
sich  auf  den  Feldrain  in  das  weiche 
Gras  zu  ihr  setzte;  nun  aber  suchte 
sie  sie  einzuschläfern,  indem  sie  ihr 
allerlei  langweilige  Märlein  erzäldte 
und  ilir,  da  .sie  nun  bald  einschlafen 
wollte,  immer  vorsang: 

l'^inäuglein  wachst  Du? 

p]inäiiglein  schläfst  Du? 

Und  hiermit  gelang  es  ihr,   Einäug- 

lein  in  einen   festen  Schlummer   zn 

singen,  was  sie  von  Herzen  freuete, 


seiner  Ziege  hinaus  und  lie.ss  auch 
die  paar  Brocken,  die  ihm  gereicht 
wuiden,  liegen.  Das  er.ste  Mal  und 
das  zweite  Mal  achteten  es  die 
Schwestern  nicht,  wie  es  aber  jedes- 
mal geschah,  merkten  sie  auf  und 
sprachen,  „es  ist  niclit  richtig  mit 
dem  Zweiäuglein,  das  lässt  jedesmal 
das  Essen  stehen,  und  hat  doch  sonst 
alles  aufgezelirt,  was  ihm  gereicht 
wurde:  das  muss  andere  Wege  ge- 
funden hahen."  Dauul  sie  aber 
hinter  die  Wahrheit  kämen,  sollte 
ICinäuglein  mitgolicn,  wenn  Zwei- 
ängleiu  die  Ziege  auf  die  Weide 
trieb,  und  sollte  Aclit  haben,  was  es 
da  vorhätte,  und  ob  ihm  jemand  etwa 
ivss(Mi   und  Trinken  brächte. 

Als  nun  Zweiäuglein  die  Ziege 
wieder  hinaustrieb,  trat  Einäuglein 
zu  ihm  und  sprach:  „ich  will  nüt 
ins  Feld  und  sehen,  dass  die  Ziege 
auch  recht  geliütet  und  ins  Futter 
getrieben  wird."  Aber  Zweiäuglein 
merkte,  was  P]inäuglein  im  Sinne 
liatte,  und  tiieb  die  Ziege  hinaus  in 
liohes  Gras  und  sprach:  „komm  Ein- 
äuglein, wir  wollen  uns  hinsetzen, 
ich  will  dir  was  vorsingen."  Ein- 
äuglein setzte  sich  hin  und  war  von 
dem  ungewohnten  Weg  und  von  der 
Sonnenhitze  müd,  und  Zweiäuglein 
sang  immer 

„Einäuglein,  wachst  du? 
Einäuglein,  schläfst  du?" 
Da  tat  Einäuglein  das  eine  Auge  zu 
und  schlief  ein.     Und   als  Zweiäug- 
sah,  dass  Einäuglein  fest  schlief  und 
nichts  verraten  konnte,  sprach  es 
„Zicklein,  meck, 
Tischlein,  deck", 
und    .setzte    sich    an    sein    Tischlein 
und  ass  und  trank  bis   es   satt  war, 
dann  rief  es  wieder 


—    i:i4    — 


(li-nii     uM/r'-srlii'UcI     spiacli    sie    iiiiii 
(las  ffoldfMU!  Spriichloiii: 

Zickl(Mn  inock! 

Tisi-hloin  deck! 
ass  und  trank  und  war  ffiitfi  I  tiii^-i-: 
und     als     sio     (U'ssnn    K''""«"    l'iiUc, 
spi'acli  sie   wiodci': 

Zicklein  ni<'ck! 

Tisch  lein  wej!  I 
und  Tist-liloin  und  Speisen  war  in 
alsbald  wieder  verschwunden,  also 
dass  KinUufjleiii,  die  unterdessen 
ruhi^?  f()it<ieschlafen,  nicht  das  <re- 
rinfjfste  davon  innen  worden  \vai-. 
Nun  mein-  aber,  da  es  Essenszeit  und 
Zeil  /nni  Nachhausegehen  war, 
weckte  Zweiäuglein  ihre  Schwester 
lOinäuylein  und  ermahnte  sie  zur 
Heimkehr. 

üb  nun  wohl  aueii  heule  die 
Mahlzeit  von  Zweiäuglein  fast  mit 
dem  Kücken  angesehen  wurde,  so 
wusste  Einäuglein  dennoch  der 
Mutter  den  Grund  davon  keines- 
wegs anzugeben. 

Nachdem  nun  die  Mutter  solcher- 
gestalt immer  noch  nicht  dahinter 
gekommen  war,  wie  wohl  Zwei- 
äuglein auf  andei'e  Weise  sich  zu 
(>rnähren  wissen  möge,  so  gab  sie 
Zweiäuglein  am  andern  Tage  ihn' 
älteste  Schwester  Dreiäuglein  mit 
auf  die  Weide,  vermeinend,  da.ss 
diese,  was  Einäuglein  mit  ihrem 
einen  Auge  nicht  zu  gewahren  im 
Stande  gewesen  sein  möchte,  mit 
ihren  drei  Augen  doch  wohl  in 
Obacht  nehmen  würde.  Aber  auch 
diese  suchte  Zweiäuglein  auf  die 
nämliche  Art,  wie  sie  bereits  gestern 
bei  Kinäugleingethan, einzuschläfern. 
Allein  da  sie  anstatt 

Dreiäuglein  wachst  Du? 
Dreiäutflein  schläfst  Du? 


„Zicklein,  ineck, 
Tischleiii,  weg** 
und  es  verschwatii!  alles  und  Zwei- 
iiuglein  w<-ckt<-  nun  «las  Kinüuglein 
und  s|)rach:  „lOi,  lOinäuglein,  du 
willst  liiilen  und  .schläfst  dabei  ein, 
derweil  hätte  die  Ziege  in  alle  Well 
laufen  könnoii:  komm,  wir  wollen 
nach  Maus  gehen."  Da  gingen  sie 
nach  Haus  und  Zweiäuglein  liess 
wieilei-  sein  Schii.s.seloh<*n  unange- 
rührt stehen  und  Hinäuglein  konnte 
der  Mutter  ni<ht  sagen,  warum  es 
nicht  essen  wollte  und  sprach  „icli 
war  drau.ssen  eingeschlafen". 

.Am  andern  Tag  sjirach  die  Midier 
zu  Dreiäuglein,  diesmal  .sollst  du 
mitgehen  und  acht  haben,  ob  Zwei- 
äuglein draussen  i.'^st,  und  ob  ihm 
jemand  Pls.sen  und  Trinken  bringt, 
denn  essen  und  trinken  nuiss  es 
doch.  Da  trat  Dreiäuglein  zu  Zwei- 
äuglein und  sprach:  „ich  will  mit- 
gehen und  sehen,  ob  auch  die  Ziege 
recht  gehütet  und  ins  Futter  ge- 
trieben wird."  Aber  Zweiäuglein 
merkte,  was  Di'eiäuglein  im  Sinne 
hatte  und  trieb  die  Ziege  hinaus  ins 
hohe  Gras  und  sprach,  „wir  wollen 
uns  dahin  setzen,  Dreiäuglein,  ich 
will  dir  was  vorsingen.'-  Dreiäug- 
lein setzte  sich  und  war  müde  von 
dem  Weg  und  der  Sonnenhitze,  und 
Zweiäuglein  hub  wieder  das  vorige 
Liedlein  an  und  sang 

„Dreiäuglein,  wachst  du?" 
Aber  statt  dass  es  nun  singen  musste 

„Dreiäuglein,  sclüäfst  du?" 
sang  es  aus  Unbedachtsamkeit 

„Zweiäuglein,  schläfst  du?" 
und  sang  immer 

„Dreiäuglein,  wachst  du? 
Zweiäuglein,  schläfst  du?" 
Da    fielen     dem    Dreiäuglein     seine 


135     — 


ihr     vin/.iisin>i'en,     ans     Unhedaclil- 
sauikeit 

Dicüiufrlein  wachst  Ihi? 
Z\veiänf;leiii  srliläfst  Du? 
san<4':  so  war  das  diiUe  Aiifi-e  Droi- 
;iug:lt'iiis,  (iliiie  dass  Zweiäiiglein  es 
l)i'nif'rklo,  immerfort  waclieiid  ge- 
hliebt'ii,  ob  sio  os  «ileicli  wio  st-lda- 
Icnd  immor  ziigoblinzt  liatto. 

Di-eiänglein  hatte  also  mit  ihrom 
drittem  Auge  gar  wolil  in  Obacht 
genommen,  was  Zweiäuglein  mittler- 
weilen mit  der  Ziege  vorgenommen, 
und  iiattc  es  gar  wohl  mit  angehört, 
wie  sie  durch  das  Sprüclilein 

Zicklein  meck! 

Tischlein  deck! 
sich    ein    gar    herrliches    Malil     Ix;- 
reitet  und  wieder  durcli  das  Sprüch- 
lein 

Zicklein  meck! 

Tischlein  Aveg! 
solches  vor  aller  Augen  verborgen 
hatte:  und  froh  wegen  solcher  Ent- 
deckung, berichtete  nun  Dreiäuglein 
bei  ihrer  Nachhausekunft  solches 
alles  haarklein  der  Mutter.  Diese 
aber  war  hierüber  so  zornig,  dass 
sie  sogleich  den  Untergang  jener 
Ziege  beschloss  und  sie  auch  wirk- 
lich alsbald  schlachtete.  Hierdurch 
nun  ward  das  gute  Zweiäiiglein  in 
die  äusserste  Betrübnis  versetzt, 
weil  sie  nun  des  Mittels  wieder  be- 
raubt war,  sich  für  allen  Mangel 
und  Kummer  schadlos  zu  halten. 
Trauernd  setzte  sie  sich  einsam  auf 
den  gewohnten  Feldrain  und  weinte 
bitterlich.  Siehe,  da  stand  plötzlich 
jene  Fee  w^ieder  vor  ihr,  die  ihr 
schon  einmal  aus  der  Not  geholfen 
und  fragte  .sie  mit  leutseliger  Stimme, 
was  ihr  immer  noch  fehle.  Da  klagte 
ihr  Zweiänglein  ilir  neues  Herzeleid 


zwei  Augen  zu  und  schliefen,  aber 
das  dritte,  das  von  dem  Sprüchlein 
niclit  angeredet  war,  schlief  nicht 
ein,  doch  Dreiäuglein  tat  es  zu,  aber 
aus  List  gleich  als  schlief  es  auch 
damit:  doch  blinzelte  es  und  konnte 
alles  gar  wohl  sehen.  Und  als  Zwei- 
äuglein meinte,  Dreiäuglein  schlafe 
fest,  sagte  es  sein  Sprüchlein 

„Zicklein,  meck 
Tischlein,  deck", 
ass  und  trank  nach  Herzenslust  und 
hie.ss     (lanii     das     Tischlein    wieiler 
fortgehen, 

„Zicklein,  meck 
Tisclilein,  weg", 
und  Dreiäuglein  hatte  alles  mit  an- 
gesehen. Da  kam  Zweiäuglein  zu 
ihm,  weckte  es  und  .sprach,  „ei  Drei- 
äuglein, bist  du  eingeschlafen?  du 
kannst  gut  hüten!  komm  wir  wollen 
heim  gehen."  Und  als  sie  nach  Haus 
kam,  ass  Zweiäuglein  wieder  nicht, 
und  Dreiäuglein  sprach  zur  Mutter 
„ich  weiss  nun,  wariini  das  hoch- 
mütige Ding  nicht  isst:  wenn  sie 
draussen  zur  Ziege  spricht: 

„Zicklein,  meck, 
Tischlein,  deck", 
so  steht   ein  Tischlein  vor   ihr,    das 
ist    mit    dem    besten    Essen    besetzt, 
viel    besser,    als    wir's    hier    haben; 
und  wenn  sie  satt  ist,  so  spricht  sie 

„Zicklein,  meck 
Tischlein,  weg", 
und  alles  ist  wieder  verschwunden; 
ich  hab  es  genau  mit  angesehen. 
Zwei  Augen  hatte  sie  mir  mit  einem 
Si)rüchlein  eingeschläfert,  aber  das 
eine  auf  der  Stirne,  das  war  zum 
Glück  wach  geblieben:"  Da  rief  die 
Mutter  zornig"  „willst  du's  besser 
haben  als  wir?  die  Lust  soll  dir 
vergehen!"    Sie   holte    ein   Schlacht- 


—     1 30     — 


1111(1  liaj^ti'  sie  (i'(MilnT/.i^'-:  oh  ilic 
tiiiii  noch  was  für  ihr  Wohl  /,ii  thiin 
iihrif^  soi  ?  Die  l"'co  ahcr  hattf  ainh 
(lifsnial  füllten  iJatli  für  sie  uikI  .sa;rlc: 
sif  solh^  sich  nur-  dir  lOiinri-woiih' 
voll  (icr  fj:('sciila(hlft('ii  /icjr«'  «•<'l>«'i> 
lassen,  dioso  a])or  an  dfi-  llaiisthiiif 
vorprahon,  daraus  würth;  iinlclilhar 
ihr  kiiiil'ti^i'cs  (Jliick  ciwachsi'n. 

()h  nun  wolil  (liest!  ^nsaji'e  lit'in 
;;ultii  Z\voiäu;,''h'in  sehi'  wuudersani 
vorkommon  mussto,  so  besrhloss  sio 
(hirli  (h'iii  I\a1hp  joner  Fee,  zu  dor 
sie  cinnial  riii  uiihcyrcnzlcs  Zu- 
trauen <i'cfasst  halte,  zu  fidg-en,  vim-- 
nioinond,  (ha.ss  os  doch  aUcs  «i-ewiss- 
lich  zu  ihrem  Besten  diencni  werth-. 
Sie  begab  sich  daher  alsbahl  nach 
Hause  und  bat  die  Mutter  flehentlich, 
dass,  wenn  man  ihr  auch  sonst  an 
der  g-eschlachleten  Ziege  keinen  An- 
teil zu  lassen  gemeinet  sei,  man  ihr 
dorii  wenigstens  das  Eingeweide  zu- 
kommen lassen  solle;  und  wii-klicli 
fand  auch  die  Mutter,  nichts  Arges 
dabei  vermeinend,  kein  Bedenken, 
sondern  erfüllte  ihr  Begehren. 

Zweiäuglein  nun  vergrub  bei 
Sonnenuntergang  in  aller  Stille  das 
vielverheissende  Geschenk,  hoffend 
und  barrend,  wann?  wie?  und  was 
für  Glück  ihr  daraus  erwachsen 
könne.  Und  siehe  da!  kaum  war 
am  nächsten  Morgen  die  Mutter 
nebst  ihren  drei  Töchtern  vom  Schlaf 
erwacht,  so  erblickten  sie  vor  den 
Fenstern  einen  wunderschönen  Baum 
mit  silbernen  Blättern  und  goldenen 
Früchten  hoch  am  Hause  empor  ge- 
wachsen imd  Zweiäuglein  gewahrte 
zu  ihrer  nicht  geringen  Freude,  wie 
der  wunderschöne  Baum  eben  da 
aus  der  Erde  emporgesjirossen  war, 
wo    sie    gestern    den    wunderbaren 


nii'Hser  und   stiess    es    der  Zifj.»-»'    ins 
Herz,  dass  .sie  tot  hinfiel. 

Als  Zweiäiiglein  das  .sah,  ging  es 
\oll  Trauer  hinaus,  setzte  sieh  auf 
den  i-'eldiain  uml  weinte  Heine 
bitleren  Tränen.  Da  stand  auf  ein- 
mal die  weise  Frau  wieder  neben 
ilini  und  sprach  „Zweiäuglein,  was 
weinst  du?"  —  „Soll  ich  ni<'ht 
weinen!-*  aiitwoitete  es,  „die  Ziege, 
die  mir  jeden  Tag.  wenn  ich  Euer 
Sj)rü<lilein  hersagte,  den  Tisch  so 
schön  deckte,  ist  von  meiner  Mutter 
tot  gestochen,  nuri  muss  ich  wieder 
Hunger  und  Kummci'  leiden."  Die 
weise  I-'ran  sprach  „Zweiäuglein,  ich 
will  dii'  einen  guten  Rat  erteilen, 
bitt  deine  Schwestern,  da.ss  .sie  dir 
das  Eingeweide  von  der  gescldach- 
teten  Ziege  geben  uiul  vergrab  es 
vor  der  Haustür  in  die  Erde,  so 
wird's  dein  Glück  sein."  Da  ver- 
schwand sie  und  Zweiäuglein  ging 
lieim  und  .sprach  zu  den  Schwestern: 
„liebe  Schwestern,  gebt  mir  doch 
etwas  von  meiner  Ziege,  ich  ver- 
lange nichts  Gutes,  gebt  mir  nur 
das  Eingeweide."  Da  lachten  sie 
und  sj^rachen:  „das  können  wir  dir 
woid  geben,  wenn  du  weiter  nichts 
willst."  Und  Zweiäuglein  nahm  das 
Eingeweide  und  vergrub's  abends 
in  aller  Stille  nach  dem  Rate  der 
weisen  Fraii  vor  die  Haustiire.  Am 
andern  Morgen,  als  sie  insgesamt 
erwachten  und  vor  die  Haustüre 
traten,  so  stand  da  ein  wunderbai'er 
prächtiger  Baum,  der  hatte  Blätter 
von  Silber  x;nd  Früchte  von  Gold 
hingen  dazwischen,  dass  wohl  nichts 
schöneres  und  köstlicheres  aiu'  der 
weiten  Welt  war.  Sie  wussten  aber 
nicht,  wie  der  Baum  in  der  Nacht 
gewachsen     war,    nur-    Zweiäuglein 


—    nn    — 


Samon  der  Erde  anvoi-tiaut  lialte. 
Xuii  ahoi-  stieg  <jar  l)al(l  das  Ver- 
lan^i'en  in  einer  jedoii  von  ihnen  auf, 
sicli  der  schünon  Friiclilc  und  Ulältcr 
jenes  IJauuies  teilhaftig-  zu  machen. 
Alhnn  nur  very-ehens  f^-ahen  sicli 
sowohl  die  MiitltT  als  Einäufj'lcin 
iiiul  Dreiäuyiein  Mühe,  den  Wunder- 
l)auin  zu  ersteigen,  oder  etwas  davon 
sieh  abznpfliieken:  denn  ob  sie  <>leicli 
mit  leieliler  Mülie  bald  iiinauf  waren, 
so  entwich  i^'leiehwie  es  dem  Tan- 
talus  in  jener  heidnischen  Kabel  er- 
ffieng,  doch  allemal  jede  Frucht  und 
jeder  Zweig  ihren  Händen,  wenn  sie 
darnach  fassen  w^ollten :  und  rück- 
lings fielen  sie  dann  nur  noch 
schneller  hinunter  als  sie  liinauf- 
gestiegen  waren. 

Einzig  und  allein  Zweiäugicin.  d(>r 
jener  Baum  zum  Eigentum  angehörte, 
war  so  glücklich,  sich  davon  ab- 
pflücken zu  können,  soviel  sie  nur 
wollte,  denn  niir  ihr  war  es  ver- 
gönnt, ungefährdet  hinauf  und  hin- 
unter steigen  zu  können.  Darum 
ward  sie  denn  auch  von  ihren 
Schwestern  niclil  wenig  beneidet 
und  verfolgt,  und  dalier  kam  es  denn 
auch,  (lass,  da  eben,  als  sie  Alle  um 
jenen  Baum  versammelt  standen, 
ein  fremder,  junger  schöner  Hei-r 
lierangeritten  kam,  Zweiäuglein  samt 
iliren  goldenen  Früchten  unter  ein 
grosses,  leeres  Fass  versteckt  wurde, 
denn  die  übrigen  glaubten,  dass  der 
schöne  fremde  Bitter  sie  selbst  ganz 
aus  der  Acht  lassen  möchte,  wenn 
Zweiäuglein,  die  obendrein  schöner 
als  sie  war,  ihnen  mit  den  Wunder- 
früchten zur  Seite  stände,  woran  sie 
denn  auch  wohl  niclit  unreclit  haben 
mochten. 

Kaum  war  nun  der  schöne  fremde 


merkte  es,  dass  er  aus  den  Einge- 
weiden der  Ziege  aufgesprosst  war, 
denn  er  stand  gerade  da,  wo  sie  es 
hinhegrahen  hatte.  Da  s|)rach  die 
.Mutter  zu  l^inäughdn:  „steig  hinauf, 
mein  Kind,  und  brich  uns  dieFriu-hle 
von  dem  Haumc  al)."  Einäuglein 
stieg  hinauf,  aber  wie  es  einen  von 
den  goldenen  Äpfeln  greifen  wollte, 
<!a  fuhr  ihm  der  Zweig  aus  den 
Händen;  und  das  geschah  jedesuuil, 
so  dass  es  keinen  einzigen  Apfel 
brechen  konnte,  es  mochte  sich  an- 
stellen, wie  es  wollte.  Da  sprach 
die  Mutter:  „Dreiäuglein,  steig  du 
hinauf,  du  kannst  mit  deinen  drei 
Augen  besser  um  dich  schauen  als 
iMiiäuglein."  Einäuglein  rutschte 
herunter  und  Dreiäuglein  stieghinauf. 
Aber  Dreiäuglein  war  nicht  ge- 
schickter und  mochte  schauen  wie 
es  wollte,  die  goldenen  Äpfel  wichen 
imnun-  zurück.  Endlich  ward  die 
Mutter  ungeduldig  und  stieg  selbst 
iiinauf,  konnte  aber  so  wenig  wie 
lOinäuglein  und  Droiäuglein  die 
Frucht  fa.ssen  und  grilf  immer  in 
die  leere  Luft.  Da  sprach  Zweiäug- 
lein: „ich  will  mich  einmal  hinauf- 
machen, vielleicht  gelingt  mir'selier." 
Die  Schwestern  riefen  zwar,  „du  mit 
deinen  zwei  Augen,  was  willst  du 
wohl!"  Aber  Zweiäuglein  stieg  hinauf, 
und  die  goldenen  Äpfel  zogen  sich 
nicht  vor  ihm  zurück,  sondern  Hessen 
sich  von  selbst  in  seine  Hand  herab, 
also  dass  es  einen  nach  dem  andern 
abpflücken  konnte  iind  ein  ganzes 
Schürzchen  voll  mit  herunter  brachte. 
Die  Mutter  nahm  sie  ihm  ab,  und 
statt  dass  sie,  Einäuglein  und  Drei- 
äuglein, dafür  das  arme  Zweiäuglein 
hätten  besser  behandeln  sollen,  so 
wurden    sie    nur    neidisch,    dass    es 


—     138 


Hilter  iiühcr  p-komnnMi  so  li.iUi!  »r 
;uicli  schon  (loti  \viiii(It'irt'icln'ii  H.uiiii 
ins  Auge  gcfasst  und  begelir<'li-  von 
(li-n  Miit,''dl('ins,  dass  sio  iliui  ducli 
liinii  Zweig  gtdxMi  niiicIiliMi  \i>ii  dt-m 
so  glänzondcn  und  scliönon  IJaiiinc 
So|(di(!s  nun  war  don  hoidcMi  Mägd- 
lein sehr  erwünschl  und  sie  sUenglcn 
nun  eine  nacli  der  andern  notdmials 
ihre  Kräfte  auf  das  schärfslf  an,  iiiu 
dem  scdiünen  HauuH'  ein«;  l'nirhl 
abzugewinnen,  die  sie  dem  l''icni(lrn 
vereiiren  könntiMi ;  keineraher  mocidf 
es,  ehensoweiug  wie  bisiier,  gi'lingt'ii ; 
und  ebenso  erging  es  ch-r  Mutter, 
die  so  gern  ihren  lieben  Töchtern 
auf  diesem  Baume  zu  einem  Manne 
vcrliolfen   hätte. 

Da  verwunderte  sich  der  schöne 
fremde  Herr  nicht  wenig,  wie  Jemand 
il(Mr  des  Baumes,  nicht  aber  auch 
zugleich  Herr  von  dessen  Früchten 
und  Blättern  sein  könne  und  meinte, 
es  müsse  doch  notwendig  wohl  noch 
sonst  jemand  im  Hause  sein,  dem 
dieser  Baum  gehöre  und  der  Macht 
über  denselben  habe;  und  er  fragte 
aucb  zum  öftern,  ob  sich  dieses  nicht 
also  verhalte?  Doch  sowohl  Mutter 
als  Kinder  leugneten  es  standhaft 
und  beharrten  darauf,  dass  ausser 
ihnen  niemand  hier  sei  und  der 
Baum  niemand  Anderm  angehöre, 
als  ihnen. 

LTjer  solche  Reden  aber  ärgerte 
sich  Zweiäuglein,  die  das  alles  unter 
dem  Fasse  ruhig  hatte  mit  anhören 
müssen,  niclit  wenig  und  um  den 
Fremden  von  der  Unwahrheit  der- 
selben zu  überzeugen,  schob  sie 
einige  der  glänzenden,  goldenen 
Früchte  unter  dem  Fasse  hervor  zu 
seinen  Füssen.  Kaum  hatte  der 
Fremde  dies  zu  seiner  nicht  geringen 


allein  die  Früchte  holen  konnte  und 
jringcn  noch  härter  mit  ihm  um. 

I-N  liiig  sich  zu,  als  sie  einmal 
heisammen  an  dr-m  Baum  standen, 
dass  ein  junger  Bitter  daher  kam. 
..(iesehwind,  Zweiäuglein",  riefen 
ilie  zwei  S«'hwestern,  „kriech  unter, 
dass  wir  uns  deiner  nielit  .schämen 
müssen",  und  stürzten  über  das 
.irnie  Zweiäuglein  in  aller  F<'ile  ein 
lei-res  l'ass,  das  gerade  nelien  dem 
Baume  slaiul,  und  schol)en  die  gol- 
denen .\])fel,  die  es  abgebrochen 
halte,  auch  darunter.  Als  nun  der 
Bitter  näher  kam,  war  es  ein  .scliöner 
Herr,  der  hielt  still,  bewunderte  den 
piächtigen  Baum  von  fJoId  und 
Silber  und  sprach  zu  den  beiden 
Schwestern,  „wem  gehört  dieser 
schöne  Baum?  wer  mir  einen  Zweig 
davon  gäbe,  könnte  dafür  verlangen, 
was  er  wollte."  Da  antworteten  Ein- 
äuglein  und  Dreiäuglein,  der  Baum 
gehörte  ihnen  zu,  und  sie  wollten 
ihm  einen  Zweig  wohl  abbrechen. 
Sie  gaben  sich  auch  beide  gros.se 
Mühe,  aber  sie  waren  es  nicht  im- 
stande, denn  die  Zweige  und  Früchte 
wichen  jedesmal  vor  ihnen  zurück. 
Da  .sprach  der  Ritter,  „das  ist  ja 
wunderlich,  dass  der  Baum  euch 
zugehört  und  ihr  doch  nicht  Macht 
habt,  etwas  davon  abzubrechen."  Sie 
blieben  dabei,  der  Baum  wäre  ihr 
Eigentum.  Indem  sie  aber  so  sprachen, 
rollte  Zweiäuglein  unter  dem  Fasse 
ein  paar  goldene  Äpfel  heraus,  so 
da.ss  sie  zu  den  Füssen  des  Ritters 
liefen,  denn  es  war  bö.s,  dass  Ein- 
äuglein  und  Dreiäuglein  nicht  die 
Wahrheit  .sprachen.  Wie  der  Ritler 
die  Äpfel  sah,  erstaunte  er  und 
fragte,  wo  sie  herkämen.  Einäuglein 
und     Dreiäuglein     antworteten,     sie 


139 


Verwunderuno-  g-ewahrt,  so  drang 
er  mm  aiu-h  darauf,  das  diejenige, 
welche  hier  notwendig  unter  jenem 
]''asse  verl)orgen  sein  müsse,  iind 
lue  duich  den  Besitz  der  schönen 
githlenen  I"'riielde  dargethan  lial)e, 
dass  sie  Maclit  über  jenen  Baum 
hahe,  liervorgelassen  werden  möge. 
Nun  aber  konnten  Mntter  und 
(lesohwister  nicht  länger  abwehren, 
Zweiäuglein  kam  getrost  unter  dem 
Kasse  hervor,  verhoffend,  dass  der 
Fremde  sie  gegen  alle  und  jede 
Feindseligkeit  der  Ihrigen  beschützen 
würde.  Sie  sagte  es  demnach  frei 
lieraus,  dass  der  wundei-reiche  Baum 
mit  den  schönen  Früchten  Niemand 
andern  angehöre,  denn  ihr  allein, 
stieg  zum  Beweis  dessen  behend 
und  imgehindert  hinauf,  brach  den 
allei'schönsten  Zweig  mit  den  glän- 
zendsten Früchten  davon  ab  und 
verehrte  solchen  gar  bescheidentlich 
dem  schönen  fremden  Herrn. 

Dieser  nun,  nicht  wenig  erfreut 
darüber,  seines  Wunsches  teilhaftig 
geworden  zu  sein,  fragte  Zweiäuglein 
freundlich.st,  wie  er  sie  wohl  für 
solche  Gefälligkeit  belohnen  könne-' 
Sie  aber  bat  ihn  flehentlich,  dass  er 
sich  ihrer  möge  annehmen,  und  sie 
erlösen  aus  dem  mütterlichen  Hause, 
wo  man  ihr  so  lieblos  begegne.  Dies 
versprach  der  Fremde,  —  die  Mutter 
und  Schwestern  aber  mochten  es 
gar  gerne  und  gar  ungerne  mit  an- 
sehen, wie  der  schöne,  junge  Ritter 
Zweiäuglein  sich  auf  sein  Rösslein 
nahm  und  munter  mit  ihr  davon 
trabte.  Denn  so  sehr  es  sie  auch 
ergötzte,  des  ihnen  verhassten  Zwei- 
äugleins niinmehr  entübriget  zu  sein, 
eben  so  sehr  beneideten  sie  dasselbe 
dennoch  um  die  guten  Tage,  die  ihm 


hätten  noch  eine  Schwester,  die  dürfe 
sich  aber  nicht  sehen  lassen,  weil 
sie  nur  zwei  Augen  hätte,  wie  andere 
gemeine  Menschen.  Der  Ritter  aber 
voilangte  sie  zu  sehen  und  rief 
„Zweiäuglein,  komm  hervor".  Da 
kam  Zweiäuglein  ganz  getrost  unter 
dem  Fass  hervor,  und  der  Ritter 
wai'  verwundert  übei-  seine  gro.sse 
Schönheit  und  sprach:  „Du,  Zwei- 
äugltdn,  kannst  mir  gewiss  einen 
Zweig  von  dem  Baum  abbrechen." 
—  „'l;!'",  antwortete  Zweiäuglein,  „das 
will  ich  wohl  können,  denn  der  Baum 
gehört  mir."  Und  stieg  hinauf  und 
brach  mit  leichter  Mühe  einen  Zweig 
mit  feinen  silbernen  Blättern  und 
goldenen  Früchten  ab,  und  reichte 
ihn  dem  Ritter  hin.  Da  sprach  der 
Ritter:  „Zweiäuglein,  was  soll  ich 
dir  dafür  geben?"  „Ach",  antwortete 
Zweiäuglein,  „ich  leide  Hunger  iind 
Durst,  Kummer  und  Not  vom  frühen 
Morgen  bis  zum  sj)äten  Abend:  wenn 
Ihr  mich  mitnehmen  und  erlösen 
wollt,    so    wäre    ich    glücklich." 


Da  hob  der  Ritter  ilas  Zweiäuglein  auf 
sein  Pferd  und  brachte  es  heim  auf 
sein  väterliches  Schloss:  dort  gab 
er  ihm  schöne  Kleider,  Essen  und 
Trinken  nach  Herzen.slust,  und  weil 
er  es  so  lieb  iiatte,  Hess  er  sich  mit 
ihm  einsegnen,  und  ward  die  Hoch- 
zeit in  grosser  Freude  gehalten. 


—     140 


null  lit'i  dein  s(*li<iii(Mi  l'itiiiMleii  lli-i  in. 
mit  (It'in  finc  jt-dc  von  iliiicn  tr.ir 
^ern  his  ans  llndi-  dn-  Will  jrmillcn 
wiii'c,  zu  Th<'il    werden    würden. 

Zu    iluein   'l'lnsle    War  illliell  jednch 

der  wnnderreielio  U.iuni  niit  .seinen 
.scliüncni  Friieliteii  jreMiidten.  dor 
ilinon,  wenn  aiicli  nicht  soiiie  l-'riiclite, 
diieli  aher  yinsson  Kiiliin  e-ewähren 
kümile.  Wie  .".elir  aher  Irauerteii 
.sio,  al.s  der  seliöne  liaiiiii  samt  .seinen 
Friieliten  am  näcdisteti  Moifren  vor 
iliron  Auju-en  versihwunden  war; 
doch,  wio  .sülir  freueto  sich  Zwei- 
äw<ilein  iti  iiireni  .schönau.strezierlen, 
iiociiadlicheii  Kämnu'rh>in,  al.s  eben 
Jener  Baum  .samt  .seinen  schöaen 
Kriichlfu  am  näclisten  Morg^en  vor 
ihrem  Fenster  |)ranfite:  denn  ihr. 
der  er  einzit;'  und  allein  anjifehürte. 
war  er  naehgefolfrl. 

Ob  solcher  schönen  Mitgift  .schätzte 
nun  der  junge  Ritter  Zweiäuglein 
noch  einmal  so  hoch,  verhielt  sie 
überaus  gut  im  Essen  und  Trinkon, 
gab  ihr  die  allerschönsten  Kleider 
und  Hess  sie  unterweisen  in  allen 
Künsten  ihres  Geschlechts  und  reiclite 
ihr  endlich  aus  übergrosser  Liebe 
am  Traualtare  seine  Hand. 

Als  Gemahlin  dieses  schönen 
Ritters  lebte  Zweiäuglein  nur  noch 
glücklicher,  und  es  machte  ihr  nichts 
grössere  Freude  als  von  dem,  was 
ihr  so  reichlich  zugeteilt  war,  mit- 
teilen, zu  können  denen,  die  nichts 
hatten. 

Schon  lange  Jahre  waren  ihr  so 
vergangen,  als  auch  einstmals  zwei 
Frauen  ihre  bekannte  Güte  und 
Leutseligkeit  ansprachen,  weil  sie 
vor  Armut  verderben  zu  müssen  er- 
achteten. Zweiäuglein,  die  nunmehr 
reiche  Edelfrau,  erkannte  alsbald  in 


Wie  nun  Zweiäuglein  sr)  von  dem 
schönen  |{itt<'rsinann  fortgeführt 
wurde,  da  waren  die  zwei  Hchwe.slern 
leehl  neidisch  über  sein  Glück. 
„Nun,  der  wunderbare  Hauni  bleibt 
uns",  dachten  .sie,  „können  wir  auch 
keine  l-'rüchto  davon  brechen,  .so 
wird  doch  jedeimann  <lavor  stehen 
bleiben,  zu  uns  komiiieii  iintl  ihn 
rüliiiien:  wer  weiss,  was  uns  noch 
für  ein  Glück  blüht."  Aber  am 
;indi  I  II  .Morgen  war  ihr  Uaum  ver- 
sehwunden und  ihre  HolTiiiing  dahin. 
Und  wio  Zweiäuglein  zu  seinem 
Kämmerlein  hinaussah,  so  stand  er 
zu  seiner  grossen  Freude  davor  und 
war  ihm  .ilso  nai-ligegangen. 


Zweiäuglein  lebte  lange  Zeit  ver- 
gnügt: da  kamen  einmal  zwei  arme 
Frauen  zu  ihm  auf  das  Schloss  und 
baten  um  ein  Almo.sen. 
Da  sah  ihnen  Zweiäuglein  ins  Gesicht 
und  erkannte  ihre  Schwestez-n  Ein- 


—      141     — 


ihnen  iliro  beiden  Schwestern,  be- 
scliluss  aber  bei  sich,  Höses  niil 
(iiilem  zu  vcrgrelteii,  und  iil)erhäul'te 
dalier  die  I)eiilen  Frauen,  die  es 
nicht  aiinileten,  wit  iiinen  sohlics 
zu  Liebe  Ihäl,  inil  Wuhllhalm  und 
(ieschenken  und  behielt  und  vcr- 
pflefrto  sie  bei  sich  auf  /.eilh'bens. 
Jene  ahei',  als  sie  eiuUich  dahinter 
kamen,  und  das  o-uto  Herz  sich  ihnen 
olfenbarle,  bereueten  es  sehr,  sie  in 
ihrer  Juprend,  da  sie  noch  bei  uiul 
unter  ihnen  war,  so  "•edrückl  zu 
liaben,  und  baten  es  ihr  alles  ab, 
was  sie  ihr  ohne  Schuld  und  Ursache 
ehedem  an^zethan  hatten. 

f !  r  i  m  m  .  1.  Auflatro. 
Der  Jud"  im  Dorn. 
Kin  Bauer  hatte  einen  gar  <ietreuen 
und  fleissigen  Knecht,  der  diente 
ihm  .schon  drei  Jahre,  ohne  dass  er 
ihm  seinen  Lohn  bezahlt  hatte.  Da 
fiel  es  ihm  endlich  bei,  dass  er  doch 
nicht  ganz  umsonst  aibeiten  wollte, 
ging  vor  seinen  Herrn  luad  sprach: 
„ich  habe  euch  unverdrossen  und 
redlich  gedient  die  lange  Zeit,  darum 
so  vertraue  ich  zu  euch,  dass  ihr 
mir  nun  geben  wollt,  was  mir  von 
Gottes  Recht  gebührt."  Der  Bauer 
aber  war  ein  Filz  und  wu.sste,  dass 
der  Knecht  ein  einfältiges  Gemüt 
hatte,  nahm  drei  Pfennige  und  gab 
sie  ihm,  für  jedes  Jahr  einen  Pfennig, 
damit  wäre  er  bezahlt.  L^nd  der 
Knecht  meinte  ein  grosses  Gut  in 
Händen  zu  haben,  dachte:  „was 
willst  du  dir"s  länger  saner  werden 
lassen,  du  kannst  dich  nun  pflegen 
und  in  der  Welt  frei  lustig  maclien." 
Steckte  sein  grosses  Geld  in  den 
Sack  und  wanderte  fröhlich  über 
Berg  und  Thal. 


äuj;lein  und  Dreiäuglein,  die  so  in 
Armut  geiaten  waren. dass  sie  umher- 
ziehen und  vor  den  Türen  ihr  Brot 
suchen  mussten.  Zweiäuglein  aber 
hiess  sie  willkommen  und  tat  ihnen 
(Jutes  und  pflegte  sie,  also  dass  tli(! 
beiden  von  Herzen  bereuten,  was 
sie  ihrer  Schwestei-  in  der  Jugend 
Böses  angehm   hatlen. 


•'?.  Auflage. 
Der  .1 11  de  i  m  Do  rn. 
Es  war  einmal  ein  reicher  Mann, 
der  hatte  einen  Knecht,  der  diente 
ihm  fleissig  und  redlich,  war  alle 
Morgen  der  erste  aus  dem  Bett  und 
Abends  der  letzte  hinein,  und  wenns 
eine  saure  Arbeit  gab,  wo  keiner 
anpacken  wollte,  so  stellte  er  sich 
immer  zuerst  daran.  Dabei  klagte 
er  nicht,  sondern  war  mit  allem  zu- 
frieden und  immer  guter  Dinge. 
Als  sein  Jahr  herum  war,  gab  ihm 
der  Herr  keinen  Lohn  und  dachte: 
„das  ist  das  gescheitste,  so  spare  ich 
etwas  und  er  geht  nicht  weg,  son- 
dern bleibt  hübsch  im  Dienst."  Der 
Knecht  schwieg  auch  still,  that  das 
zweite  Jahr  wie  das  erste  seine  Ar- 
beit, und  als  er  am  Ende  desselben 
abermals  keinen  Lohn  bekam,  Hess 
er  sichs  gefallen  und  blieb  noch 
länger.  Als  endlich  das  dritte  Jahr 
herum  war,  bedachte  sich  der  Herr, 
griff  in  die  Tasche,  holte  aber  nichts 
heraus.  Da  fing  der  Knecht  endlich 
an  und  sprach:  „Herr,  ich  habe  Euch 


—     142     — 


AVif.  er  ;iiir  i'iti  FiM  Uaiii  siii^n-nd 
1111(1  sjniiip-iid .  frscliicii  iliiii  <'iii 
kli'iiics  Miiiinli'iii.  ilas  fiajrtf  ilm 
Sfiiicr  I,ii>(ijrl<,.ii  wc;,'-«!!!  ?  ..VA,  was 
sdlir  iili  liaurcn,  ^csuihI  hin  ich, 
iirid  (Jchl(\s  liah'  ich  ^riaiisaiii  viel, 
hiaiirhc  iiichls  zu  sor^'d!;  was  icli 
in  (lii'i  Jahren  hoi  iiioiiifin  l|i  rin 
vcr(li(Mil,  das  hah  icli  jjcsparl  iiml 
ist  all"  nioiii."  ,.\Vio  viel  isl  denn 
doincis  (iiits-""  sprach  das  Männh^iii. 
..Die!  pan/.er  IMoniiif,''",  sajrt«^  «h-r 
KiH'chl.  „SciicnU'  inii'  dciiu'  drei 
rfennigo,  ich  bin  ein  armci-  Mann." 
Der  Knoch(  war  ahor  '^tilmiiliK',  cr- 
l)arnile  sich  und  gah  sie  hin.  Sprach 
der  Mann:  .,\voii  du  reines  Heizens 
bist,  Siillcn  dir  drei  Wünsche  er- 
laubt seyii,  für  jeden  IM'ennig  einer, 
so  hast  du  was  dein  Sinn  begehrt." 
Das  war  der  Knecht  wohl  zufrieden, 
(lachte,  Sachen  sind  mir  liel)er  als 
Geld  und  sprach:  „erstens  wünsche 
ich  mir  ein  "Vogelrohr,  das  alles 
trifft,  was  icli  ziele,  zweitens  eine 
Fiedel,  wenn  ich  die  .streiche,  muss 
alles  tanzen,  was  sie  hört;  drittens, 
worum  ich  die  Leute  bitte,  dass  sie 
es  mir  nicht  abschlagen  dürfen.'' 
Dass  Männchen  sagte:  „alles  sey  dir 
gewährt'-,  und  stellte  ihm  Fiedel  und 
Vogelrolir  zu:  darauf  ging  es  .seiner 
Wege. 

Mein  Knecht  aber,  war  er  vorher 
froh  gewesen,  dünkte  er  sich  jetzt 
noch  zehnmal  froher  und  ging  nicht 
lange  zu,  so  begegnete  ihm  ein  alter 
Jude.  Da  stand  ein  Baum  und  oben- 
drauf auf  dem  höchsten  Zweig  sass 
eine  kleine  Lerche  und  sang  uiul 
sang.  ,,(Totts  Wunder,  was  so  ein 
Thierlein  kann,  hätt'  ich's,  gab'  viel 
darum."'  Wenn  es  weiter  nichts  ist, 
die   soll   bald   herunter"',    sagte    der 


drei  .lahre  ehrlich  gedient,  seid  so 
gut  und  geht  mir.  w;is  mir  von 
|{e(hts  wegen  zukommt;  idi  wollte 
fort  und  mich  gerne  weiter  in  der 
Well  iimsehon."  Da  .-intworlele  der 
(ieizlials:  ,ja,  mein  lieber  Knecht, 
(In  hast  mir  unverdrossen  gedient, 
dafür  sollst  dn  iiiildiglich  belohnt 
werden'",  grilTabermals  in  die  Tasche 
lind  zählte  dem  Knecht  drei  lleller 
einzeln  auf.  ..da  hast  du  für  jedes 
.Jahr  einen  Heller,  das  ist  ein  grosser 
lind  reichlicher  Lohn,  wie  du  ihn 
ixi  wenigen  Herrn  empfangen  hättest. 
Der  gute  Knecht,  der  vom  (Jeld 
wenig  verstand,  strich  sein  Ka|iital 
ein  und  dachte:  ,.niin  hast  du  vullauf 
in  der  Tasche,  was  willst  du  sorgen 
und  dich  niil  sdiwerer  Aibeji  länger 
]}lagen." 

Da  zog  er  fort,  hergauf,  bergab, 
sang  und  sprang  nach  Herzenslust. 
Nim  trug  es  sich  zu,  als  er  an  ein 
Buschwerk  vorüberkam,  da.ss  ein 
kleines  Männchen  hervortrat  und 
ihn  anrief  :„Wohinaus,BruderLust ig? 
ich  sehe  du  trägst  nicht  schwer  an 
deinen  Sorgen."  „Was  soll  ich 
traurig  sein",  antwortete  der  Knecht, 
ich  habe  vollauf,  der  Lohn  von  drei 
Jahren  klingelt  in    meiner  Tasche." 

„Wieviel  ist  denn'deines Schatzes?" 
fragte  ihn  das  Männchen.  „Wieviel? 
drei  bare  Heller  richtig  gezählt." 
„Höre",  sagte  der  Zwerg,  „ich  bin 
ein  armer  bedürftiger  Mann,  schenke 
mir  deine  drei  Heller;  ich  kann 
nichts  arbeiten,  du  aber  bist  jung 
und  kannst  dir  dein  Brot  leicht  ver- 
dienen." Und  weil  der  Knecht  ein 
gutes  Herz  hatte  und  Mitleid  mit 
dem  Männchen  fühlte,  so  reichte  er 
ihm  seine  di"ei  Heller  und  sprach: 
„in  Gottes  Namen,  es  wird  mir  doch 


—  -143 


KiH'rht,  setzte  sein  l\i»lir  an  und 
sflinss  die  Leiclie  auf  das  Haar, 
dass  sie  den  Hauin  lietalifiel,  „gehet 
liin  und  leset  sie  auf",  sie  war  aber 
pau'/.  tief  in  die  Dürner  unten  am 
liauni  liineinfiffallfii.  Da  krtnh  diT 
.luil"  in  den  Huscli.  und  wir  er  inillni 
diin  Stack,  y.n'j:  mein  Ivnci-lil  seine 
Fiedel  und  ^eiiilc,  lin.«:-  der  .Ju<r  an 
zu  tanzen  und  hatte  keine  i\uli, 
sondern  spranj;'  immer  stärker  und 
höher:  der  Dorn  al)(M-  zerstaeii  seine 
Kleich'r,  dass  die  l-'etzen  herum 
hingen  und  ritzte  und  wundetc  iliii. 
dass  er  am  ganzen  Leii)e  blutete. 
„CJotts  willen,  schrie  der  .lud".  lass 
der  Herr  sein  Geigen  seyn.  was  hab' 
ich  A-erbroclien?"  Die  Leute  hast 
du  genug  geschunden,  dachte  der 
lustige  Knecht,  .so  geschieht  dii'  kein 
Unrecht,  und  spielte  einen  neuen 
Hüpfauf.  Da  legte  sich  der  .lud' 
auf  Bitten  und  Versjjiechen  und 
wollte  ihm  Geld  geben,  wenn  ei- 
aufhörte,  allein  das  (Jeld  war  dem 
Knecht  erst  lange  nicht  genug  und 
trieb  ihn  immer  weiter  bis  der  Jud' 
ihm  hundei't  harte  Gulden  verhiess. 
die  er  im  Beutel  führte  und  eben 
einem  Christen  abgej^rellt  hatte.  Wie 
mein  Knecht  das  viele  Geld  sali, 
sprach  er:  „unter  dieser  Bedingung 
ja",  nahm  den  Beutel  und  stellte 
sein  Fiedeln  ein:  dai-auf  ging  er 
ruhig  und  vergnügt  weiter  die 
Stras.se. 

Der  Jud"  riss  sich  halb  nackicht 
und  armselig  aus  dem  Dornstrauch, 
Überschi ug,wie  er  .sich  rächen  möchte 
und  fluchte  dem  Gesellen  alles  Böse 
nach.  Lief  endlich  zum  Richter, 
klagte,  dass  er  von  einem  Bösewicht 
unverschuldeterweise  seines  Geldes 
beraubt  und  noch  dazu  zerschlagen 


nicht  leiden.'"  Da  sjirach  «las  Männ- 
chen: „weil  ich  dein  gutes  Herz  .sehe, 
so  gewähre  ich  dir  drei  Wünsche, 
für  jeden  Heller  einen,  die  sollen 
dir  in  Kifüllung  gehen,  .,.\ha'', 
spiaiji  der  Kiiechl,  .,du  bist  einer, 
der  blau  ])feifen  kann.  Wohlan, 
wenns  doch  sein  soll,  so  wünsche 
ich  mir  erstlich  ein  Vogclrohr,  das 
alles  trifft,  wonach  ich  ziele;  zweitens 
eine  Fidel,  wenn  ich  darauf  strei<-he, 
so  muss  alles  tanzen,  was  dan  Klang 
hihi,  und  drittens,  wenn  ich  an 
jemand  eine  Hitte  thuc,  so  darf  er 
sie  nicht  abschlagen"  ,.Das  sollst 
du  alles  haben",  s])i'ach  das  Männ- 
clu'^n,  griff  in  den  Busch,  und,  denk 
einer,  da  lag  schon  Fidel  und  Vogel- 
rolii'  in  Bereitschaft,  als  wenn  sie 
bestellt  wären.  Fi-  gab  sie  dem 
Knecht  und  sprach:  „Was  du  dir 
immer  erbitten  wirst,  kein  Mensch 
auf  der  Welt  soll  dir's  abschlagen.'" 

„Herz,  was  begehrst  du  nun?" 
sprach  der  Knecht  zu  sich  selber 
und  zog  lustig  weiter.  Bald  darauf 
begegnete  er  einem  Juden  mit  einem 
langen  Ziegenbart,  der  stand  und 
horchte  auf  den  (Je-sang  eines  Vogels, 
der  hoch  oben  in  der  »Spitze  eines 
Baumes  sass.  „Gottes  Wunder!" 
rief  er  aus.  „so  ein  klein<?s  Tier  hat 
so  eine  grausam  mächtige  Stimme! 
wenn's  doch  mein  wäre!  wer  ihm 
doch  Salz  auf  den  Schwanz  streuen 
könnte!"  „M^enn's  weiter  nichts  ist", 
.sprach  der  Knecht,  „der  Vogel  soll 
bald  herunter  sein",  legte  an  und 
traf  aufs  Haar  und  der  Vogel  fiel 
herab  in  die  Dornhecken. 

„Geh",  Si)itzbub",  sagte  er  zum  Ju- 
den, „und  hol  dir  den  Vogel  heraus." 
„Mein",  si)rach  der  Jiule,  „lass  der 
Herr    den  Bub    weg,    so  kommt  ein 


—      144     — 


wiiii'.  (la>.>  t>  fibai  mte,  tiiul  dur 
Ki'il.  (lor  es  ^olhaii  liiillc,  tiiiji-c  citj 
Kolir  aiit'  il)Mii  Mui-ki-l  iitiil  <'iii)>  (ici<.<-i> 
liiii;:!'  an  seinem  Hals.  Da  samlle 
<ler  Hiclitcc  üoliMi  1111(1  Häscher  ans, 
die  si)ll(cn  (li-n  Krn-rlil  falieii.  \v<i  si«; 
ihn  küiinlrn  si-hi'ii,  i\<\-  uiiidi'  halil 
i'i'lapiil  lind  \  n|-  ( Icrichl  ;jc--1i'lli,  |  )a 
klai^lr  der"  .lud',  (hass  er  ihm  ilas 
(iehl  ;,''ci-anhl  hällr,  ihr  Kticdd  satrle: 
„nein,  pegidjen  hast  du  mir's,  weil 
ich  dir  .T,urfresi)ielt  habe".  .Aber  dri 
Iticbler  niacdde  das  Dinf,'  kur/,  nnd 
verurüieilto  meinen  Knecdil  zum  Tod 
am  Ualgen.  iSchon  stand  ei-  auf  (h-r 
[..eitersprossc,  den  Strick  am  Hals. 
da  sprach  er:  „Herr  Kiiditer,  gewidut 
nur  eine  letzte  Hitle!"'  „Wofern  du 
nicht  dein  Leben  bittest,  soll  sie  ge- 
währt seyn."  „Nein,  um  mein  Leben 
ist's  nicht,  lasst  mich  noch  eins  auf 
meiner  Geige  geigen  zu  guter  Letzt." 
Da  schrie  der  Jud':  „Bewahre  (iott! 
erlaubt's  ihm  nicht!  erlaubt's  ihm 
nicht!"  Allein  das  Gericht  sagte: 
einmal  ist  es  ihm  zugestanden,  nnd 
dabei  solls  bewenden,  auch  durften 
sie's  ihm  nicht  weigern,  weil  er  die 
Gabe  hatte,  dass  ihm  keiner  die  Bitte 
abschlug.  Da  schrie  der  Jud':  „Bindet 
mich  fest,  um  Gotteswillen!"  Mein 
Knecht  aber  fasste  seine  Fiedel  und 
lliat  einen  Stricli,  da  wankte  alles 
und  bewegte  sieh,  Richter,  Schreiber 
und  Schergen,  und  den  Jud'  konnte 
keinerbinden,undeithat  den  zweiten 
Strich,  da  liess  ihn  der  Henker  lus 
und  tanzte  selber  und  wie  er  nun 
ordentlich  ins  Geigen  kam,  tanzte 
alles  zusammen.  Gericht  xind  der 
Jude  vornen  und  alle  Leute  auf  dem 
Markt,  die  da  wollten  zuschauen. 
Und  anfangs  ging's  lustig,  weil  aber 
das  Geigen    und  Tanzen    kein  Ende 


Hund  gelaufen:  i<h  will  mir  den 
Vogel  auflesen,  wi-il  Ilii  ihn  doch 
«•irimal  gi'trofr<Mi  habt",  b-gte  sieb 
auf  die  h'rdf,  und  fing  an  sieb  in 
(b'ii  Muscb  hinein  zu  arbidleti.  Wie 
I  r  nun  millfii  in  df-m  Dorn  sleekle, 
piML'l''  dir  Mulwille  den  guten 
Kiirihl,  dass  ei-  si-ine  Fidel  abnalim 
und  anfing  zu  geigen,  fileieb  fing 
auch  der  Jude  :iu  die  Hi-ine  zu  beben 
und  in  die  Höbe  zu  s|)ringen:  und 
je  mehr  der  Knecht  strich,  desto 
besst.'r  ging  der  Tanz.  Aber  die 
Dörner  zcrris.sen  ihm  den  schäbigen 
Rock,  kämmten  ihm  den  Ziegenbart 
und  stachen  und  zwickten  ihn  am 
ganzen  Leib.  „Mein",  rief  der  Jude, 
„was  soll  mir  das  fJeigrn!  lass  der 
Hell  das  Geigen,  ich  begelire  nicht 
zu  tanzen."  Aber  der  Knecht  hörte 
nicht  darauf  und  dachte,  „du  hast 
die  Leute  genug  geschunden,  nun 
soll  dir's  die  Dornhecke  nicht  bes.ser 
machen",  und  fing  von  neuem  an, 
zu  geigen,  dass  der  Jude  immer 
höher  aufspringen  musste  und  die 
Fetzen  von  seinem  Rock  an  den 
Stacheln  hängen  blieben.  „Au  weih 
geschrien!"  rief  der  Jude,  „geb  ich 
doch  dem  Herrn,  was  er  verlangt, 
wenn  er  nur  das  Geigen  lässt.  einen 
ganzen  Beutel  mit  Gold.  „Wenn  du 
so  spendabel  liisl".  sprach  der 
Knecht,  „so  will  ich  wohl  mit  meiner 
Musik  aufhören,  aber  das  muss  ich 
dir  nachrühmen,  du  machst  deinen 
Tanz  mit,  dass  es  eine  Art  hat": 
nahm  darauf  den  Beutel  und  ging 
seiner  Wege. 

Der  Jude  blieb  stehen  und  sah 
ihm  nach  und  war  still,  bis  der 
Knecht  weit  weg  und  ihm  ganz  aus 
den  Augen  war,  dann  schrie  er  aus 
Leibeskräften,  „du  miserabler  Musi- 


—     145     — 

naiini,  sn  sdirien  sie  jäiiiinri  liili  und  kant,  du  liierfiedlor:  wart,  sveun  iili 
baten  ilm  ahzidasseu,  al>cr  rr  lliat's  dich  allein  erwische!  icli  will  dicli 
nicht  eher,  bis  ilmi  dei  Richter  das  jagen,  dass  du  die  Schuhsohlen  ver- 
Leben  nicht  nur  silienkte,  sDudern  Heren  sollst!  du  Lump,  steck  einen 
auch  verspracli,  die  hundert  (iulden  (Jruschen  ins  Maul,  dass  du  sechs 
zu  lassen.  Und  erst  nocii  rief  er  Heller  wert  bist"',  und  schimpfte 
dem  Juden  zu:  ,,S|)it7.hub'  gesteh',  weiter,  was  er  nur  losbringen  konnte, 
wo  du  (las  (Ich!  Iier  liast,  sonst  hör  Und  als  er  sich  damit  etwas  zu 
ich  dir  nicht  auf  zu  sjjielen."  ,,Ich  Ciute  g-ethan  und  Luft  gemacht  hatte, 
hab's  gestohlen,  ich  hab's  gestohlen.  lief  er  in  die  Stadt  zum  Richter, 
und  du  hattest  es  ehrlich  verdient",  ,.IIerr  Richter,  au  weih  geschrien, 
schrie  der  Jude,  da.ss  es  alle  hörten.  icli  hin  auf  offener  Landstrasse  be- 
Da  Hess  mein  Knecht  die  Ceige  raid)t  und  übel  zugerichtet  worden 
ruhen  und  der  Schutt  wurde  für  von  einem  gottlosen  Mensclien:  ein 
ihn  am  (Jaigeii  geiiäiigt.  Stein  aiif  dem  Erdboden  niöclde  sich 

erbarmen:  die  Kleider  zerfetzt,  der 
Leib  zerstochen  xmd  zerkratzt,  das 
(leid  samt  den  Beutel  genommen! 
hinter  Dukaten,  ein  Stück  scliöner  als  das  andere:  um  Gotteswillen,  lasst 
i\cn  Menschen  ins  (iefängnis  werfen."  Sprach  der  Richter:  „War's  ein 
Soldat,  der  dich  mit  seinem  Säbel  so  zugerichtet  hat?"  —  „Gott  bewahr!" 
sagte  dei"  Jude,  „einen  nackten  Degen  hat  er  nicht  gehabt,  aber  ein  Rohr 
hat  er  gehabt  auf  dem  Buckel  liängen  und  eine  Geige  am  Hals,  daran  i.st 
er  leicht  zu  erkennen."  Der  Richter  schickte  seine  Leute  nacii  ihm  aus, 
die  fanden  den  guten  Knecht,  der  ganz  langsam  weiter  gezogen  war,  und 
fanden  auch  den  Beiitel  mit  Gold  bei  ihm.  Als  er  vor  Gcriclit  gestellt 
wurde,  sagte  er:  ,,Ich  liabe  den  Juden  nicht  angerührt  und  ilim  das  Geld 
nicht  genommen,  er  hat  mir's  aus  freien  Stücken  angeboten,  damit  ich  nur 
aufhörte  zu  geigen,  weil  er  meine  Musik  nicht  vertragen  konnte."  „Gott 
bewahr!"  schrie  der  Jude,  „der  greift  die  Lügen  wie  Fliegen  an  der  Wand." 
Aber  der  Richter  glaubte  es  auch  niciit  und  sprach:  „Das  ist  eine  schlechte 
Entschuldigung,  das  thut  kein  .hule".  und  verurteilte  den  guten  Knecht, 
weil  er  auf  offener  Sti'asse  einen  Raub  begangen  hätte,  zum  Galgen.  Als 
er  aber  abgeführt  ward,  schrie  ihm  noch  der  Jude  zu:  „Du  Bärenhäuter, 
du  Hundemusikant,  jetzt  kriegst  du  deinen  wohlverdienten  Lohn."  Der 
Knecht  stieg  ganz  ruhig  mit  dem  Henker  die  Leiter  hinauf,  auf  der  letzten 
Sprosse  aber  drehte  er  sich  um  und  sprach  zum  Richter:  „(iewährt  mir 
noch  eine  Bitte,  ehe  ich  sterbe."  „Ja",  sprach  der  Richter,  „wenn  du  nicht 
um  dein  Leben  bittest?"  ,, Nicht  ums  Leben",  antwortete  der  Knecht,  „ich 
bitte,  lasst  mich  zu  guter  Letzt  noch  einmal  auf  meiner  Geige  spielen." 
Der  Jude  erhob  ein  Zetergeschrei:  ,.Um  Gotteswillen,  erlaubt's  nicht,  er- 
laubt's nicht."  Allein  der  Richter  spracli:  „^Yarunl  soll  ich  ihm  die  kurze 
Freude  nicht  gönnen,  es  ist  ihm  zugestanden,  und  dabei  soll  es  sein  Be- 
wenden haben."  Auch  konnte  er  es  ihm  nicht  abschlagen,  wegen  der 
Palaestra  XLVil.  10 


—     14(1     — 

(Jal)«,  die  tifiii  Kin-clil  vcrliflicri  war.  1)<t  .Jiidf  ahiT  rief:  .,Aii  weih!  au 
woili!  hiridi't  iiiicli  an,  Mmlfl  iiiicli  fesl  I"'  Da  nahm  der  jfiiti*  Knecht  seine 
(icigf  vom  Hals.  lojrt»^  sie  ziirecht  und  wio  v.v  den  ciHtcn  Stric-h  that,  flnjiT 
alles  an  zu  wahcrn  und  zu  \vank<'n,  der  Uichlcr,  die  Schreiber  und  die 
(icrlclitsdienci-,  iind  diiii,  welcher  den  Juden  festbinden  wollte,  fiel  der 
Strick  aus  der  Hand:  hejni  zweiten  Strich  hoben  alle  die  Beine,  und  der 
Henker  liess  den  jrniin  Kneclit  los  und  machte  sich  zum  Tanze  fertig: 
bei  dem  dritli-ti  Slricli  spran;,'  alles  in  die  Höhe  und  fing  an  zu  tanzen, 
lind  der  Ricliler  uml  der  Jude  waren  vorn  und  spiangen  am  besten.  Uald 
tanzte  alles  mit,  was  auf  den  Markt  aus  Neugierde  herbeigekommen  war. 
alte  und  junge,  dicke  und  magere  Leute  untereinander:  sogai-  ilie  Hunde, 
die  niilgelaulen  waren,  setzten  sich  auf  die  Hinlerfü.sse  und  hüpften  mit. 
Und  je  länger  er  spielte,  desto  höher  spiangen  die  TUnzer,  da.ss  sie  sich 
einander  an  die  Köpfe  stie.ssen  und  anlingen  jiimmeilich  zu  schreien. 
ländlich  rief  der  Richter  ganz  ausser  Atem:  „Ich  schenke  dir  dein  Leben, 
höre  nur  aiif  zu  geigen."  Der  gute  Knecht  Hess  sich  bewegen,  setzte  die 
(ieigo  ab,  hing  sie  wieder  um  den  Hals  und  stieg  die  Leiter  herab.  Da 
trat  er  zu  dem  Juden,  der  auf  der  Erde  lag  und  nach  Atem  schnappte, 
und  sagte:  „Spitzbube,  jetzt  gestehe,  wo  du  das  Geld  her  ha.«?t,  oder  ich 
nehme  meine  Geige  vom  Hals  und  fange  wieder  an  zu  spielen."  „Ich  hah's 
geslolilen,  ich  liah's  ge.stohlen",  schrie  er,  „du  aber  hast's  redlich  verdient." 
Da  liess  der  Riciitor  den  .Juden  zum  Galgen  führen  und  als  einen  Dieb 
.uilhängen. 


Zu  S.  37.  Endlich  seien  noch  W.  Grimms  auch  Musäus  gegenüber 
bedout.same  Worte  aus  der  Vorrede  zu  den  „Altdänischen  Heldenliedern", 
1811  S.  XXVT  angeführt: 

,.In  den  ^lärclien  ist  eine  Zauberwelt  aufgetan,  die  auch  hei  uns 
stellt,  in  heimlichen  Wählern,  im  tiefen  Meere,  und  den  Kindern  noch  ge- 
zeigt wird.  HHufig  kommt  es  vor,  dass  eine  Mutter  unwissend  oder  aus 
Not  ihr  Kind  verkauft  hat  a,n  ein  Ungeheuer,  wie  hier  die  Königin  an 
einen  wilden  Nachtraben,  das  es  wegtrügt,  oder  de.ssen  Zauher  dadurch 
gelöst  wird  oder  auch,  dass  der  Hruder  die  verlorene  Schwester  aufsucht 
und  in  Meere.sgrund  findet,  wo  sie  ein  wilder  Zauberer  in  einem  Wasser- 
schloss  hält,  der  das  Menschenflt-isch  wittert,  und  vor  des.sen  Wut  ihn  die 
Schwester  schützt,  bis  sie  endlich  erlöst  werden.  Hier  muss  man  zuletzt 
mit  dem  armen  Rosmer  [No.  49J,  der  seine  Frau  seihst  auf  dem  Rücken 
unwissend  aus   dem  Meer  trägt,  imd  wie  er  sie   unten    nicht    mehr    findet, 


—     147     — 

vor  Leid  fin  Stein  wiid,  Mitli'id  h.ibfii.*)  Diese  Märchen  verdienen  eine 
bessere  Aufnierksami<eii,  al^  man  ilmen  bisher  geselienkt,  nieht  nur  ihrer 
Uichtuno'  wefjeii,  die  eine  cij^ene  Liel)liehkeit  hat,  und  die  einem  jeden, 
der  sie  in  der  Kindiieit  anj^^eiiürt.  eine  «iohleiu!  Lehre  und  eine  heitere 
Erinneiuug'  daran  durehs  ^an/.e  Lel)en  mit  auf  (h'ii  Wetj;"  gibt;  sondern 
aucli,  weil  sie  zu  unsrer  Natiunalpoosie  fjehüren,  indem  sich  nacliweisen 
lässt,  dass  sie  sehnn   iiirlntTf  Jahiliiiiideite  durcli   uiitiT  dem  Vulk   fielebt." 


*)  ..Audi  Musäus  hat  dieses  Märciien  bearbeitet,  aber  in  seiner  Manier, 
nicht  einfaeh  unil  ^-erad,  wie  wir  es  noeh  lie])er  hiiren:  Kinder,  nicht 
anders." 


Druck  von  Carl  Salewski  in  Berlin  N. 


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