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Full text of "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten"

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■i    A.  HARNACK 


Mission  ond  Ausbreitung 
des  Christentums  in  den 

ersten  drei  Jahrhunderten 
Erster  Band 


XCHinrIchs'sche  Buchhandlung  in  Leipzig 


Grundlegende  Werke 
ZUR  GESCHICHTE  DES  URCHRISTENTUMS 

aus  dem  Verlage  der  J.  C.  HiNRicHs'schen  Buchhandlung  in  Leipzig. 
AusführUdie  Prospekte  über  die  Serienwerke  stehen  zu  Diensten. 

Adolf  Harnack,  Die  altchristl.  Literatur  bis  Eusebius. 

I.  Die  Überlieferung  und  der  Bestand.    1893.         Jh  35—;  geb.  Ji  38  — 

II.  Die  Chronologie.    2  Bände.     1897  u.  1904.        M  39.40;  geb.  Jt  45.40 

Texte  und  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  alt- 
christlichen  Literatur.  Herausgegeben  von  Oscar  von 
Gebhardt  und  Adolf  Harnack. 

I.Reihe:  15  Bde.  1882—1897.  M.380-;  in  17  Halbfranzbände  geb. y^ 422.50 
//.  Reihe,  auch  unter  dem  Titel : 

Archiv  für  die  Ausgabe  der  alt.  christl.  Schriftsteller. 

Band  1-14.    1897    1906.  ./^359  — ;  in  15  Halbfranzbände  geb.  ./<$  396.50 

Die  griechischen  christlichen  Schriftsteller  der  ersten 
drei  Jahrhunderte.  Herausgegeben  von  der  Kirchenväter- 
Kommission  der  Königl.  Preuß.  Akademie  der  Wissensciiaften. 

[Mitglieder  die  Herren:    Proff.  DD.  Harnack,  Vorsitzender,    Diels,   von 

Gebhardt,  Hirschfeld,  Jülicher,   Loofs,   f  Mommsen,   von  Wila- 

movvitz-Möllendorff.]     Seit  1897  erschienen:  13  Bände  Jl  183  —  ; 

in  11  Halbfranzbdn.  u.  2  Interimsbdn.  Jb  211.50 
Hoebeii  ersdielnl: 

Eusebius,  Gegen  Marcell.  —  Über  die  kirchliche  Theologie.  —  Die  Frag- 
mente Marcells.  Herausgegeben  von  Erich  Klostermann.  [Eusebius, 
Band  IV]  V^  9  — ;   in  Halbfranz  geb.  J6  11.50 

Im  Lcmfe  des  .Tahre.i  erscheinen: 

Acta  Archelai,  bearbeitet  von  C.  H.  Beeson. 

Eusebius,  Historia  ecclesiastica  nebst  Rufin's  Übersetzung  bearbeitet  von 

jTh.  Mommsen.    Herausgegeben  von  E.  Sc  hwartz.   Zweite  Hälfte 

mit  Prolegomena  und  Registern. 

—   Der  Umfang  dieser  Sammlung  ist  auf  etwa  50  Bände  berechnet.  — 


Patrum  apostolicorum  opera.  Textum  ad  fidem  codicum 
et  graecorum  et  latinorum  adhibitis  praestantissimis  editio- 
nibus  recensuerunt,  commentario  exegetico  et  historico  illu- 
straverunt,  apparatu  critico,  versione  latina  passim  correcta, 
prolegomeniS;  indicibus  instruxerunt  O.  d  e  Gebhardt, 
A.  Harnack,  Th.  Zahn.     Editio  post  Dresselianam   alteram 

tertia.      3  Fascc.  in  4  Teilen,    gr.  8".     1876-1878.    ./^<  (24.50)  jetzt  16 — 
—  Editio  quinta  minor.     8".    1906.  J6 1 .60;  geh.  j(  2  — 

Das  Neue  Testament,  Griechisch. 

C.  V.  Tischendorf:  Ad  antiquissimos  testes  denuo  recensuit, 
apparatum  criticum  omni  studio  perfectum  apposuit,  com- 
mentationem  isagogicam  praetexuit,  Prolegomena  scripsit 
C.  R.  Gregory,  additis  curis  E.  Abbot.    Editio  octava  critica. 

3  Bände,     gr.  8".    1872-1894.    y^  70  - ;  geb.  in  Halbfrz.  ./t<  77.50 
Ausgabe  auf  Schreibpapier  mit  breiten  Rändern  ./#  90  — 

Prolegomena  allein  .//32— ;  geb.  ,Ä  34.50 

B.Weiß:  Berichtigter  Text  mit  kurzer  Erläuterung  zum  Hand- 
gebrauch bei  der  Schriftlektüre.    Zweite  Auflage. 

3  Bände.    8".     1902—1905.  ^^24  —  ;  geb.  in  Halbfrz.  J6  30  — 


Adolf  Harnack 

DIE  MISSION  UND  AUSBREITUNG  DES  CHRISTENTUMS 
IN  DEN  ERSTEN  DREI  JAHRHUNDERTEN 

ZWEITE  NEU  DURCHGEARBEITETE  AUFLAGE 

I.  BAND 


s* 


DIE 

Mission  und  Ausbreitung 
DES  Christentums 

IN  DEN 

ERSTEN  DREI  JAHRHUNDERTEN 


VON 


Adolf  Harnack 


ZWEITE  NEU  DURCHGEARBEITETE  AUFLAGE 
MIT  ELF  KARTEN 

I.  Band 

Die  Mission  in  Wort  und  Tat 


1^ ' 


Leipzig 

J.  C.  HiNRicHS'scHE  Buchhandlung 

1906 


HOF-BUCH  DBUOKEREI. 


Vorrede  zur  ersten  Auflage. 


Die  Mission  und  Ausbreitung  der  christlichen  Religion  in  den 
ersten  drei  Jahrhunderten  ist  monographisch  bisher  nicht  be- 
schrieben worden.  AVir  besitzen  für  die  älteste  Epoche  der 
Kirchengeschichte  Darstellungen  der  dogmengeschichtlichen  Ent- 
wicklung imd  des  Yerhältnisses  von  Kirche  und  Staat  —  unter 
den  letzteren  die  vortreffliche  von  Neumann  — ,  aber  die  Missions- 
geschichte  ist  vernachlässigt  geblieben.  Die  Schwierigkeit  der 
Erhebung  und  der  Abgrenzung  des  Stoffs  und  die  noch  größeren 
Schwierigkeiten,  das  geographisch-statistische  Material  zu  sammeln 
und  zu  sichten,  mögen  abgeschreckt  haben.  Der  auf  den  folgen- 
den  Blättern  dargebotene  erste  Versuch  bittet  um  freundliche 
Beurteilung.  Die  Nachfolger  —  an  solchen  wird,  es  nicht  fehlen 
—  werden  es  besser  machen  können.  Zur  Erläuterung  habe  ich 
einige  Bemerkungen  vorauszuschicken: 

Die  älteste  Missionsgeschichte  der  Kirche  ist  unter  Legenden 
begraben  oder  vielmehr  durch  eine  tendenziöse  Geschichte  ersetzt 
worden,  die  sich  in  w^enigen  Jahrzehnten  in  allen  Ländern  des 
Erdkreises  abgespielt  haben  soll.  An  dieser  Geschichte  ist  mehr 
als  tausend  Jahre  hindurch  gearbeitet  worden  —  denn  die 
Legendenbildung  in  bezug  auf  die  apostolische  Mission  beginnt 
schon  im  ersten  Jahrhundert  und  hat  noch  im  Mittelalter,  ja  bis 
in  die  Neuzeit  hinein  geblüht:  ihre  Wertlosigkeit  ist  jetzt  allge- 
mein anerkannt.  Ich  habe  diese  Geschichte  in  meiner  Darstellung 
kaum  gestreift:  denn  die  kritische  Untersuchung  der  Quellen  ist 
durchweg  als  vollzogen  vorausgesetzt.  Alles  das,  was  hier  aus 
den  apokrj'phen  Apostelgeschichten,  den  provinzialen  und  lokalen 
Kirchenlegenden,    aus    den  Bischofslisten   und   den  Märtyrerakten 


VI  Vorrede  zur  ersten  Auflage. 

nicht  aufgenommen  bez.  nicht  erwähnt  ist,  ist  als  unbrauchbar 
weggelassen:  aber  in  bezug  auf  das  zuverlässige  Material  ist  Voll- 
ständigkeit angestrebt.  Wirkliche  Schwierigkeiten  boten  nur  die 
Märt}Ter- Akten  und  -Überlieferungen.  Eine  oder  die  andere 
Stadt  ist  aus  ihnen  meinen  Listen  vielleicht  noch  hinzuzufügen; 
aber  ihre  Zahl  ist  sicher  eine  sehr  geringe.  Leider  versagen  die 
Inschriften  fast  ganz;  denn  datierte  christliche  Inschriften  aus  der 
vorconstantinischen  Zeit  sind  selten,  bei  den  nicht -datierten  aber 
ist  Sicherheit,  daß  eine  Inschrift  dem  dritten  Jahrhundert  angehört 
und  nicht  dem  vierten,  nui'  in  wenigen  Gruppen  von  Fällen  zu 
erreichen.  Für  eine  umfangreiche  Klasse  ferner  kann  der  christ- 
liche LTrsprung  nur  vermutet,  aber  zurzeit  noch  nicht  bewiesen 
werden. 

Da  das  apostolische  Zeitalter  der  Kirche  in  seinem  ganzen 
Umfange  unter  den  Gesichtspunkt  der  Missionsgeschichte  fällt,  so 
könnte  man  eine  ausführliche  Darstellung  desselben  hier  erwarten. 
Eine  solche  ist  nicht  gegeben;  man  findet  sie  in  vielen  Werken, 
vor  allem  bei  Weizsäcker;  ich  habe  nach  ihm  Paulus  als 
Missionar  nicht  noch  einmal  schildern  wollen,  sondern  mich  auf 
Grundzüge  beschränkt.  Was  geboten  ist,  muß  sich  selbst  recht- 
fertigen. Der  Versuch,  in  einer  Folge  von  Längsschnitten  den 
Problemen  gerecht  zu  werden,  schien  mir  hier  am  Platze,  nicht 
nur  um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  sondern  vor  allem  um  die 
Ifauptlinien  und  die  Hauptkräfte  der  christlichen  Religion  ein- 
heitlich und  scharf  hervortreten  zu  lassen.  Die  einzelnen  Kapitel 
sind  so  gefaßt,  daß  sie  für  sich  gelesen  werden  können ;  aber  die 
Einheitlichkeit  dos  Ganzen  hat  dadurch,  hoffe  ich,   nicht  gelitten. 

Die  füi-  diese  Darstellung  der  alten  christlichen  Missions- 
geschichte gewählt(>  liasis  ist  mir  so  breit,  als  meine  allgemeinen 
Geschichts-  und  Rcdigionskenntnisse  reichen,  also  recht  schmal. 
Man  suche  daher  in  d(;m  JJuche  nicht  Aufschlüsse  über  die  grie- 
cliische  und  römische  Ileligionsgeschichte,  über  uralte  Mythen 
und  ül)er  neue  Kulte,  über  Rechtsverhältnisse  und  Administrationen: 
darüber  wissen  andere  besser  Bescheid.  Ich  habe  mich  seit  Jahr- 
zehnten lediglich  bemüht,  die  Zäune,  die  uns  trennen,  zu  ent- 
fernen und  von  den  Nachbarn  soviel    zu  lernen  als  nötis:    ist,   um 


Vorrede  zur  ersteu  Auflage.  VII 

das  richtige  Maß  der  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Kirchen- 
geschichte nicht  zu  verfehlen  und  Abgeleitetes  nicht  für  Originales 
auszugeben. 

Was  die  antike  Geographie  und  Statistik  betrifft,  so  habe 
ich  von  den  einschlagenden  Untersuchungen  eingehender  Kenntnis 
genommen,  als  das  Buch  es  verrät.  Leider  ergeben  die  Arbeiten 
zur  Bevölkerungsstatistik  des  Altertums  so  widersprechende  und 
daher  unbrauchbare  Resultate,  daß  ich  zuletzt,  verzweifelnd, 
nahezu  alles  beiseite  gelassen  habe.  Nur  ein  kleiner  Rest  absolu- 
ter Statistik  ist  im  ersten  Kapitel  des  ersten  Buchs  und  in  den 
Schlußausführungen  stehen  geblieben.  Nach  den  Karten  im  Corpus 
Inscriptionum  Latinarum,  den  Kärtchen  im  5.  Bande  der  „Römi- 
schen Geschichte"  Mommsens,  nach  Kieperts  „Formae  orbis 
antiqui",  soweit  dieselben  erschienen  sind,  und  einigen  anderen 
Hilfsmitteln  habe  ich  die  Städte  und  Plätze  identifiziert  und 
keine  Ortschaft,  die  ich  dort  nicht  gefunden  habe  —  von  ein 
paar  vorstädtischen  Dörfern  abgesehen  — ,  ohne  Bemerkung  auf- 
genommen. Ursprünglich  hatte  ich  die  Absicht,  dem  Buche 
Karten  beizugeben,  und  habe  nur  ungern  darauf  verzichtet.  Aber 
ich  mußte  mich  davon  überzeugen,  daß  sie,  wie  man  es  auch 
anfinge,  ein  falsches  Bild  bieten  müssen;  demi  unser  Material  ist 
bis  zum  Jahre  325  für  die  verschiedenen  Provinzen  zu  ungleich, 
mit  der  Einti-agung  lediglich  der  Städte,  in  denen  Christen  vor 
Constantin  nachweisbar  sind,  ist  wenig  gewonnen,  und  die  Dichtig- 
keit der  Christen  in  den  verschiedenen  Provinzen  durch  Farben 
anzugeben,  habe  ich  nicht  gewagt.  Erst  für  das  4.  Jahrhundert 
lassen  sich  Karten  zeichnen,  und  dabei  kann  auf  die  frühere  Ge- 
schichte Rücksicht  genommen  werden.  —  Auf  die  Einteilung  der 
Provinzen  und  den  Wechsel  der  Einteilungen  hatte  ich  kaum 
irgendwo  Anlaß,  einzugehen.  Eine  Darstellung  der  Yerfassungs- 
geschichte  der  Kirche  darf  sie  nicht  beiseite  lassen,  aber  ich 
habe  Fragen  der  Verfassung  nur  herbeigezogen,  wo  es  unver- 
meidlich war.  Überhaupt  war  mein  Absehen  darauf  gerichtet, 
mich  so  kurz  wie  möglich  zu  fassen,  die  Grenzen  der  Aufgabe 
scharf  zu  ziehen  und  längst  Erledigtes  nicht  um  der  Vollständig- 
keit oder  um  der  Bequemlichkeit  des  Lesers  willen  noch   einmal 


VIII  Vorrede  zur  ersten  Auflage. 

ZU  erörtern.  Die  Ausbreitungsgeschichte  des  Christentums  in  den 
einzelnen  Provinzen  ist  nur  in  Umrissen  gegeben.  Wer  hier  tiefer 
eindringen  will,  muß  mit  Ramsay  in  Phrygien  oder  mit  den 
französischen  Gelehrten  in  Africa  graben  oder  sich  mitDuchesne 
in  die  alten  Bischofslisten  versenken,  freilich  —  für  die  ersten 
drei  Jahrhunderte  wird  die  Ausbeute  über  das  hier  Gebotene 
hinaus  gering  sein. 

Die  literarischen  Quellen,  welche  uns  für  die  älteste  Missions- 
geschichte des  Christentums  zu  Gebote  stehen,  sind  lückenhaft, 
aber  wie  umfangreich  sind  sie,  wenn  man  sie  mit  dem  vergleicht, 
was  für  die  Geschichte  der  anderen  Religionen  im  römischen 
Reiche  vorhanden  ist!  Sie  ermöglichen  den  Versuch  einer  zu- 
sammenhängenden und  in  allen  Hauptpunkten  geschlossenen  Dar- 
stellung der  Mission  und  Ausbreitung  der  christlichen  Religion, 
und  sie  gestatten  ein  begründetes  Urteil  darüber,  warum  diese 
Religion  im  Reiche  zum  Siege  gekommen  ist  und  wie  dieser  Sieg 
beschaffen  war.  Eine  Reihe  von  Fragen  freilich  bleibt  ungelöst; 
zu  ihnen  gehören  auch  solche,  an  die  jeder  zuerst  denkt,  wenn 
er  der  Missionsgeschichte  näher  tritt. 

Einige  früher  von  mir  verfaßte  Abhandlungen  zur  Missions- 
geschichte sind  in  erweiterter  und  verbesserter  Gestalt  in  dieses 
Buch  aufgenommen  worden.  Ich  habe  sie  an  ihrem  Orte  kennt- 
lich gemacht. 

Meinem  verehrten  Freunde,  Professor  Imelmann,  spreche 
ich  herzlichen  Dank  aus  für  den  wirksamen  Anteil,  den  er  während 
der  Drucklegung  an  diesen  Blättern  genommen  hat. 

Jierlin,  den  4.  September   1902. 

A.  H. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Die  zweite  Auflage  ist  um  mehr  als  zehn  Bogen  gegenüber 
der  ersten  gewachsen;  davon  fallen  sechs  auf  das  vierte  Buch  („Die 
Verbreitung  der  christlichen  Religion").  Die  Zahl  neuer  Orte,  in 
denen  ich  das  Christentum  vor  Constantin  nachweisen  konnte,  ist 
verschwindend  gering  —  meine  Kritiker  haben  die  Liste  nicht  zu 
vermehren  vermocht  — ;  aber  ich  habe  versucht,  der  Schilderung 
der  Ausbreitung  der  Religion  in  den  einzelnen  Provinzen  mehr 
Farbe  zu  geben  und  manche  versteckte  Stelle  herbeigezogen. 
Einige  neue  Abschnitte  sind  eingefügt  worden;  den  Exkurs  aber 
zum  ersten  Buch  („Das  angebliche  Apostelkonzil  zu  Antiochien") 
habe  ich,  ohne  an  ihm  irre  geworden  zu  sein,  gestrichen,  weil  er 
nicht  notwendig  war.  Überraschen  wird  es,  daß  trotz  dem  in  der 
ersten  Auflage  ausgesprochenen  Verzicht  dem  Buche  nun  doch 
Karten  beigegeben  sind.  Bestimmend  waren  von  vielen  Seiten 
an  mich  gerichtete  Bitten,  die  stets  mit  dem  Hinweise  begründet 
wurden,  daß  die  Mehrzahl  der  Leser  sich  ohne  Karten  kein  Bild 
von  der  Verbreitung  zu  machen  vermöge,  die  vorhandenen  Karten 
des  orbis  antiquus  aber  nur  nach  eingehenden  Studien  für  den 
besonderen  Zweck  nutzbar  gemacht  werden  können.  So  habe 
ich  meine  Bedenken  besiegt  und  selbst  die  elf  Blätter  entworfen, 
die  dem  Werke  beigegeben  sind.  Am  meisten  Wert  lege  ich  auf 
den  Versuch,  der  auf  dem  zweiten  Blatte  gemacht  ist.  Er  ist 
ein  Wagnis,  aber  ohne  diese  Karte,  welche  den  ganzen  Ertrag 
der  Arbeit  zusammenfaßt,  sind  die  Karten  III — XI  irreführend, 
weil  sie  von  zufälliger  Kunde  mehr  oder  weniger  abhängig  sind.  — 
Die  beigegebenen  Register  sind  von  mir  neu  ausgearbeitet  worden. 

Berlin,  den    l.  Dezember   1905. 

A.  H. 


Inhaltsübersicht. 


Erstes   Buch: 

Einleitung  und  Grundlegung.  ^^H^ 

I.  Bandes 

Erstes  Kapitel:  Das  Judentum,  seine  Verbreitung  und  Entschränkung  1 

Zweites  Kapitel:  Äußere  Bedingungen  für  die  universale  Ausbreitung 

der  christlichen  Religion 17 

Drittes  Kapitel:  Innere  Bedingungen  für  die  universale  Ausbreitung 

der  christlichen  Religion  (der  religiöse  Synkretismus) 21 

Viertes  Kapitel:  Jesus  Christus  und  die  Weltmissiou 31 

Fünftes  Kapitel:  Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenniission  .  37 

Sechstes   Kapitel:    Die  Ergebnisse   der  Mission   des  Paulus   und    der 

ersten  Missionare 63 


Zweites   Buch: 
Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Einleitung 73 

Erstes  Kapitel:   Religiöse  Grundzüge  der  Missionspredigt 74 

Zweites  Kapitel:  Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung      87 
Drittes  Kapitel.     Fortsetzung:  Der  Kampf  gegen  die  Dämonen     .     .     108 
Viertes  Kapitel:  Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung  .     .     .     127 
Grundlegendes.  —  Einleitung  S.  127.  —  (1)  Das  Almosen  überhaupt 
und   seine  Verbindung   mit   dem  Kultus  S.  183.  —  (2)  Die  Unter- 
stützung der  Lehrer  S.  136.  —  (3)  Die  Unterstützung  der  Witwen 
und    Waisen    S.   137.    —    (4)    Die    Unterstützung    der    Kranken, 
Schwachen,  Armen  und  Arbeitsunfähigen  S.  139.  —  (5)  Die  Sorge 
für  die  Gefangenen  und  in  den  Bergwerken  Schmachtenden  S.  140. 
—  (6)  Die  Sorge  für  die  zu  begrabenden  Armen  und  die  Verstorbe- 
nen überhaupt  S.  143.  —  (7)  Die  Sorge  für  die  Sklaven  S.  145.  — 


XII  Inhalt. 

Seite 

des 

I.  Bandes 

(8)  Die  Sorge  bei  großen  Kalamitäten  S.  148.  —  (9)  Arbeitsnach- 
weis und  Recht  auf  Arbeit  in  den  Gemeinden  S.  150.  —  (10)  Die 
Sorge  für  zugereiste  Brüder  (Gastfreundschaft)  und  für  arme  oder 
gefährdete  Gemeinden  S.  152. 

Fünftes  Kapitel:   Die  Religion  des  Geistes   und   der  Kraft,  des  sitt- 
lichen Ernstes  und  der  Heiligkeit 172 

Sechstes  Kapitel:   Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der 

Mysterien  und  der  transzendentalen  Erkenntnisse 188 

Siebentes  Kapitel:    Die  Botschaft    von    dem    neuen  Volk  und   dem 
dritten  Geschlecht  (das  geschichtliche  und  politische  Bewußtsein 

der  Christenheit) 206 

Exkurs:  Die  Beurteilung  der  Christen  als  drittes  Geschlecht 

seitens  ihrer  Gegner 227 

Achtes  Kapitel:  Die  Religion  des  Buchs  und  der  erfüllten  Geschichte    234 

Neuntes  Kapitel:    Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzen- 
dienst      242 

(1)  Der  grobe  Götzendienst  S.  242.  —  (2)  Die  mit  dem  Götzen- 
dienst verflochtene  Philosophie  S.  246.  —  (3)  Die  Menschenver- 
götterung und  der  Kaiserkultus,  Heroen  und  Engel  S.  247.  — 
(4)  Theater,  Spiele  und  Feste  S.  251.  —  (5)  Luxus  S.  253.  — 
(6)  Das  mit  dem  Heidentum  verflochtene  Berufsleben  (Handwerker, 
Astrologen,  Magier  und  Lehrer  der  Wissenschaften,  Handel, 
Beamte,  Militär;  heidnische  Redensarten  und  Schwüre)  S.  253. 

Schluß  b  et  räch  tung:    Die  volle  Ausgestaltung  des  Christentums  als 

svnkretistische  Religion 261 


Drittes  Buch: 

Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen 
der  Mission. 

Erstes  Kapitel:    Die   christlichen   Missionare   (Apostel,  Evangelisten, 

Propheten,  bez.  Lehrer;  nicht  berufsmäßige  Missionare)  ....     267 

(1)  Der  Begrift'  „Apostel"  nach   den  ältesten  Schriften  S.  267.  — 

(2)  Apostel,    Propheten    und    Lehrer   bei    den    Juden   S.  274.  — 

(3)  Apostel,  Propheten  und  Lehrer  als  Einheit  S.  280.  —  (4)  Apo- 
stel S.  291.  —  (5)  Propheten  S.  296.  —  (6)  Lehrer  (charismatische 
und  nicht  chari.smatische)  S.  298.  —  (7)  Nicht  -  berufsmäßige 
Missionare  S.  308. 

Exkurs:  Reisen;  brieflicher  und  literarischer  Austausch  .     310 

Zweites  Kapitel:  Missionsmethoden;  Katechese  und  Taufe;  Eingriffe 

in  das  häusliche  Leben :U9 


Inhalt.  XIII 

Seite 

des 
I.  Bandes 

Drittes  Kapitel:    Die  Namen  der  Christgläubigen 334 

Exkurs    I:    Oi  <Pi}.oi 352 

Exkurs  11:    Die  Rufnamen  der  Christen 354 

Viertes  Kapitel:    Die  Gemeindebildung  in  ihrer  Bedeutung  für  die 

Mission 362 

Exkurs  I:  Gemein debildung  und  Bistum  (Provinzial-,  Stadt- 

und  Dorfbistum)  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin  .  373 
Exkurs  II:  Die  katholische  Konföderation  und  die  Mission  398 
Exkurs  III:   Der  Primat  Roms  und  die  Mission    ....     398 

Fünftes  Kapitel:    Gegenwirkungen 399 

(1)  Die  Verfolgungen  S.  399.  —  (2)  Urteile  der  Gegner;  literarische 
Angriffe  S.  408. 

Schlußbetrachtung:    Motive    und   Gegenmotive   für   die   Annahme 

der  christlichen  Religion 418 


Viertes   Buch: 
Die  Verbreitung  der  ciiristliclien  Religion.         seite 

II.  Bandes 
Erstes   Kapitel:    Zeugnisse    allgemeiner  Art    über  den    Umfang    und 
die  Stärke  der  Verbreitung  des  Christentums.     Die  Hauptstadien 
der  Missionsgeschichte 5 

Zweites  Kapitel:  Zur  intensiven  Verbreitung 25 

(1)  Die  gebildeten  Stände  (Vornehme  und  Beamte)  S.  25.  —  (2)  Der 
Kaiserhof  S.  32.  —  (3)  Das  Militär  S.  41.  —  (4)  Die  Frauen 
S.  51.  —  Zusatz:  Über  den  Kirchenbau  S.  67. 

Drittes  Kapitel:  Die  Verbreitung  des  Christentums  bis  z.  J.  .325    .     .  70 
(I)  Orte,    in    denen  christliche  Gemeinden  bez.  Christen   bereits   im 

1.  Jahrh.  (vor  Trajan)  nachweisbar  sind 72 

(II)  Orte,  in  denen  christliche  Gemeinden  vor  d.  J.  180  (Tod  des  Marc 

Aurel)  nachweisbar  sind 75 

(III)  Orte,  in  denen  christliche  Gemeinden  vor  d.  J.  325  (Konzil  von 
Nicäa)  nachweisbar  sind,  nebst  einer  kurzen  Geschichte  der  Aus- 
breitung der  christlichen  Religion  in  den  einzelnen  Provinzen     .  77 

(1)  Palästina 77 

(2)  Phönizien 98 

(3)  Cölesjrieu 102 

(4)  Cypera 116 

(5)  Edessa  (Osroene)  und    die  östlichen  Gebiete   (Mesopotamien, 
Persien,  Parthien,  Indien) 117 

(6)  Arabien    .     .     .     .     , 127 


XIV  Inhalt. 

Seite 

des 

II.  Bandes 

(7)  Ägypten  und  die  Thebais,  Libyen  und  die  Peutapolis  .     .     .     132 

(8)  Cilicien 151 

(9)  Kleinasien 153 

Allgemeines  S.  153.  —  (A)  Cappadocien  S.  162.  —  (B)  Arme- 
nien, Diospontns,  Paphlagonien,  Pontus  Polemoniacus  S.  166. 
—  (C)  Bithynien  S.  178.  —  (D)  Galatien,  Phrygien  und  Pisi- 
dien  mit  Lycaouien  S.  179.  —  (E)  Asien,  Lydien,  Mysieu, 
Hellespont  und  Carieu  S.  188.  —  (F)  Lycien,  Paraphylien 
und  Isaurien  S.  192. 

(10)  Greta  und  die  Inseln 195 

(11)  Thracien,  Macedonien,  Dardanien,  Epirus,  Thessalien,  Achaia     196 

(12)  Mösien  und  Pannonien,  Noricum  und  Dalmatien 201 

(13)  Nord-  und  Nordwestküste  des  Schwarzen  Meeres       ....     203 

(14)  Rom,  Mittel-  und  Unteritalien,  Sizilien  und  Sardinien       .     .     204 

(15)  Oberitalien  und  die  Romagna 220 

(16)  Gallien,  Belgien,  Germanien  und  Rätien 222 

(17)  Britannien 283 

(18)  Africa,  Numidien,  Mauretanien,  Tripolitana 234 

(19)  Spanien 255 

Anhang  I:  Die  Verbreitung  christlicher  häretischer  Ge- 
meinschaften und  schismatischer  Kirchen 262 

Anhang  II:  Die  Ausprägung  provinzialkirchlicher  Ver- 
schiedenheiten innerhalb  der  katholischen  Kirche     .     .     266 

Anhang  III:  Die  Verbreitung  des  Christentums  und  die 
Verbreitung  anderer  Religionen  im  römischen  Reiche, 
besonders  des  Mithrasdienstes 270 

Viertes  Kapitel:  Ergebnisse 276 


Sachregister 288 

Geographisches  Kegister 297 

Nachh'äge  und  Verbesserungen 311 

Karten nach  312 

I.  Die  Verltreitung  des  Christentums  bis  z.  J.  180. 
II.    Die  Verbreitung  des  Christentums  um  d.  .1.  325. 
in — XI.    Spozialkarten  dazu: 

III.  Palästina,  Phöniee,  Arabia.  —  IV.  Syria  und  Mesopota- 
niia.  —  V.  Aegyptus,  Heptanomis,  Thebais.  —  VI.  Asia, 
Phrygia,  Cappadocia  etc.,  Armenia.  —  VII.  Thracia,  Mace- 
donia.  Achaia,  Moesia,  Dalmatia,  Pannonia.  —  VIII.  Italia. — 
IX.  Britannia,  Gallia,  Germania,  Italia  Superior.  —  X.  His- 
pania,  Africa,  Cyrenaica.  —  XI.  Numidia.  Africa  Proconsulai-is, 
Zeu"itana. 


Erstes  Buch. 
Einleitung  und  Grundlegung. 

Erstes  Kapitel. 
Das  Judentum,  seine  Verbreitung  und  Entschränkung. 

, ,  Die  Synagogen  in  der  Diaspora  sind  nicht  nur.  wie  Tertullian 
bezeugt,  die  „fontes  persecutionum"  für  die  jugendliche  Christen- 
heit ffewesen,  sondern  zuffleich  auch  die  wichtigsten  Voraus- 
Setzungen  für  die  Entstehung  und  das  Wachstum  christlicher 
Gemeinden  im  Reiche.  Das  Netzwerk  der  Synagogen  stellt  die 
Mittelpunkte  imd  Linien  der  christlichen  Propaganda  im  voraus 
dar.  Die  Mission  der  neuen  Religion,  im  jSTamen  des  Gottes  , .  ,-  . 
Abrahams  und  Moses'  imternommen,  fand  bereits  ein  füi-  sie  be-  '" 
Stentes  Feld/'^  ''  ,     i 

Eine  Übersicht  über  die  Verbreitung  des  Judentimis  in  den 
Anfängen  unserer  Zeitrechnung  ist  öfters  gegeben  worden,  zuletzt 
mit  besondejt'er  Sorgfalt  von  Schür  er  ^.  Uns  interessieren  hier 
folgende  Punkte: 

(1)  Juden  gab  es  in  den  meisten,  jedenfalls  in  allen  am 
Mittelmeer  und  in  dessen  Umgebimgen  gelegenen  Provinzen  des 
römischen  Reichs  sowie  am  schw'arzen  Meere,  östlich  über  Syrien 
hirikus  in  kompakten  Massen  in  Mesopotamien,  Babylonien  und 
Medien  2. 


1)  Geschichte  des  jüdischen  Volks,  Bd.  III  ^,  S.  1—38. 

-)  Die  Bekehrung  des  Königshauses  von  Adiabene  (am  Tigris,  an  der 
römisch -parthischen  Grenze)  zum  Judentum  in  der  Zeit  des  Kaisers  Claudius 
ist  eine  besonders  merkwürdige  Tatsache  in  der  Geschichte  der  Expansion 
des  Judentums  und  wird  auch  von  Josephus  gebührend  hervorgehoben.  Der 
Übertritt  des  edessenischen  Königshauses  zum  Christentum  150  Jahre  später 
ist  eine  auffallende  Parallele  dazu.  Renan  (Die  Apostel,  Deutsche  Ausgabe 
S.  27-5  f.)  hat  nicht  mirecht,  wenn  er  in  seiner  Weise  sagt:  „Die  königliche 
Familie  von  Adiabene  gehört  der  Geschichte  des  Christentums  an.''  Er  meint 
das  nicht  im  Sinne  des  Orosius  (VIT,  6)  und  Moses  von  Chorene  (II,  35) ,  die 
Harnack,  Mission.    2- Aufl.  1 


2  Kinleitung  und  Grundlegung. 

(2)  Am  zahlreichsten  waren  sie  in  Syrien  \  sodann  in  Ägypten 
(in  allen  Nomen  bis  nach  Ober-Ägypten  hinauf)'^,  in  Rom  imd 
den  kleinasiatischen  Provinzen^.  Wie  stark  sie  in  alle  lokalen 
Verhältnisse  eirt^edrungen  wa^-en,  zeigen  besonders  die  auf  das 
letztgenannte  Gebiet  sich  bezielienden  Zeugnisse.  Hier  sowie  am 
/,>,^  Nordufer  des  schwarzen  Meeres  haben  sie  auch   an  den  Religions- 

das  Königshaus  wirklich  christlich  werden  lassen,  sondern  „indem  sie  den 
Judaismus  annahmen,  gehorchten  sie  dem  Gefühl,  welches  die  ganze  heid- 
nische Welt  dem  Christentum  zufühi-en  sollte".  Übrigens  bietet  auch  die 
Wirksamkeit  der  Helena,  der  Mutter  Constantins ,  in  Jerusalem  eine  auf- 
fallende Parallele  zur  Wirksamkeit  der  adiabenischeu  Königin  gleichen 
Namens  daselbst  (s.  Josephus,  Antiq.  XX,  2  ff.,  Bell.  Jud.  V,  2  — 4;  Y,  6,  1; 
YI,  6,  3).  Vielleicht  hat  sich  die  christliche  Kaiserin  die  jüdische  Königin 
geradezu  zum  Muster  genommen;  denn  die  Wirksamkeit  dieser  war  in  Jeru- 
salem und  bei  den  Juden  unvergessen  (s.  Euseb.,  h.  e.  11,  12  und  die  talmu- 
dische Überlieferung).  —  Zusammenfassende  Zeugnisse  über  die  Verbreitung 
des  Judentums  im  Reich  stehen  bei  Philo  (Legat.  36  und  Place.  7),  in  der 
Apostelgeschichte  (2,  9  tf.)  und  bei  Josephus  (Bell.  II,  16,  4;  VII,  3,  3;  Apiou 
ü,  39).  Die  Behauptung  des  Josephus:  ovx  mnr  LtI  t/]?  oi.y.oviihi]g  dijfiog  6 
firj  /.loToav  i'j/iszsijar  ?yiov,  ist  schon  mehr  als  200  Jahre  früher  von  einem 
jüdischen  Sibyllen -Orakel  ausgesprochen  worden  (Orac.  111,271:  jtäoa  dk  yala 
os§Ev  nh)oj]g  xal  sräoa  dä).aana).  Ein  bereits  im  J.  139/138  vor  Chr.  abgefaßtes 
Rundschreiben  des  römischen  Senates  zum  Schutz  der  Juden  ist  an  die  Könige 
von  Ägypten,  Syrien,  Pergamum,  Cappadocien  und  Parthien,  ferner  nach 
Sampsame  (Amisusy),  Sparta,  Sicyon  (im  Peloponnes),  Delos,  Saraos,  der 
Stadt  Gortyna,  Carlen  mit  Myndus,  Halicarnass  und  Cnidus,  nach  Cos  und 
Rhodus,  der  Landschaft  Lycien  mit  Phaseiis,  Pamphylien  mit  Side,  der 
phönicischen  Stadt  Aradus  und  nach  Cyrene  und  Cypern  gerichtet.  Bereits 
z.  Z.  des  Sulla  hat  Strabo  geschrieben  (bei  Josephus,  Antiq.  XIV,  7,  2):  slg 
näoav  nöliv  rjdtj  jTaQuhjh'i&ei ,  y.al  tottov  ovx  e'ari  QahUog  svQsTr  rijg  olyov/ievt]'; 
og  ov  7iaoa^£()F.HTai  tovto  z6  q>v).ov  /(>/()'  sjTtyijuisTrai  vji''  avrov.  Für  die  intensive 
Verbreitung  des  Judentums  ist  das  Zeugnis  Senecas  besonders  lehrreich  (bei 
Augu.st.,  de  civit.  dei  YI,  11):  „cum  Interim  usque  eo  sceleratissimae  gentis 
consuetudo  convaluit,  ut  per  omnes  iam  terras  recepta  sit;  victi  victoribus 
leges  dederunt."  Justin  behauptet  (Dial.  117):  yan  tu  sdrrj  er  oig  ovÖetico 
ovddg  v/niöv  rnv  yhoi>Q  [seil,  der  Juden]  o')?<ijO£r,  aber  die  gleich  folgende  Be- 
hauptung, daß  es  Christen  in  jedem  Volke  gel)e,  läßt  jene  Konstatierung 
als  tendenziös  erscheinen. 

^)  Besonders  die  große  Anzahl  dei-  Juden  in  Antioc hien  wird  hervor- 
gehoben. 

*)  Für  die  Verbreitung  der  Juden  im  südlichen  Arabien  ist  Philostor- 
gius  (h.  e.  111,4)  wichtig.  Er  sagt,  daß  der  dortigen  Bevölkerung  ovy  oUyor 
jilfjüog  'lovtSaion'  avajrl(fvfnai. 

')  Philo,  Legat.  33:  'lovöaToi  y.ad'  kxaon]v  ttÖXiv  nr,i  :mi(jihidng  'Anlag  te 
xal  ^vf)iug.  Das  ^Ey.äoTijv'^  empfängt  seine  Bestätigung  durch  zahlreiche 
partikulare  Zeugnisse,  für  Cilicien  z.  B.  durch  Kpiphanius  (haer.  30, 11).  Hier 
heißt  es  von  dem  „.'^.po.stel",  der  vom  jüdischen  Patriarchen  gesandt  war, 
um  in  Cilicien  l)ei  den  Juden  die  Abgaben  zu  sammeln:  o?  drs?.{^6jv  sysTas 
ajio  f:y.aoT.i]g  7i6?.E(»g  Tfjg  Kü.txlag  la  LTifif:yaTa  xt)..  EtatJTQUTTer.  —  Über  die 
Verbreitung  des  Judentums  in  Phrygien  und  den  Nachbarprovinzen  (auch 
in  dem   iniiersten  Gebiete)  s.  die  beiden  großen  Werke  von  Ramsay,  „The 


Das  Judentum,  seine  Verbreitung  und  Entschränkung.  3 

luischung-en  Teil  gonomineii  (Kult  „des  höchsten  (xottes"  und 
des  Gottes  „Sabbatistes"),  und  für  Syrien  ergil^t  ^  äichi  dasselbe, 
wenn  auch  nicht  so  deutlich  aus  direkten  Zeugnissen,  so  doch 
indirekt  aus  der  Vorgeschichte  des  christlichen  (inosticismus  ^.  In 
Africa  von  der  Proconsularis  bis  nach  Mauretanien  waren  sie  an 
der  Küste  nicht  spärlich'^.  In  Lyon  scheint  es  zur  Zeit  des 
Trenäus  nicht  viele  Juden  gegeben  zu  haben  ^.  Doch  können  sie 
im  südlichen  Gallien,  wie  spätere  Quellen  beweisen,  nicht  spär- 
lich gewesen  seii^,  und  in  Spanien  waren  sie  zahlreich  und  mächtig, 
wie  aus  den  Beschlüssen  der  Synode  von  Elvira  um  das  J.  300 
hervorgeht.  Endlich  werden  wir  annehmen  dürfen,  daß  sie  in 
der  älteren  Kaiserzeit  in  Italien  —  abgesehen  von  Rom  und 
Süditalien,  wo  sie  sehr  verbreitet  waren  —  nicht  eben  zahlreich 
ge\vesen  sind  (wenn  auch  einzelne  Synagogen  selbst  in  Oberitalien 
damals  nicht  fehlten).  Es  folgt  das  aus  der  Kulturgeschichte 
Italiens  und  wird  durch  die  Tatsache  bestätigt,  daß  alte  jüdische 
Inschriften  außerhalb  Roms  und  Süditaliens  selten  bez.  unsicher 
sind.  „Die  Juden  gaben  das  erste  Beispiel  jener  Art  von  Pa- 
triotismus, welche  später  die  Parsen,  die  Armenier  und  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  neuern  Griechen  kundgeben  sollten, 
eines  außerordentlich  energischen,  aber  nicht  an  einem  bestimmten 
^  Boden  haftenden  Patriotismus,  eines  Patriotismus  von  überall  ver- 
breiteten und  überall  sich  als  Brüder  erkennenden  Kailfleuten, 
eines  Patriotismus,   der  sich  nicht  die  Bildung  großer  kompakter 

cities  and  bishoprics  of  Phrygia"  und  „Historical  Geography  of  Asia  Minor", 
sowie  desselben  Aufsatz  im  „Expositor"  1902  Jan.:  „The  Jews  in  the  Graeco- 
Asiatic  cities".  Wo  in  jenen  Gegenden  Inschriften  in  größerer  Zahl  gefunden 
worden  sind,  sind  stets  jüdische  unter  ihnen.  Welche  Rolle  das  jüdische 
Element  in  dem  pisidiseben  Antiochieu  gespielt  bat.  zeigt  Act.  LS,  s.  beson- 
ders V.  44  und  V.  50  (oi  'lovöaToi  jiaQo'nQvrav  rag  oeßofth-ac:  yvvaTy.a?  rag  svayj)- 
lioi'ag  xal  rov?  jigcörovg  Trjg  jiöXecoc:).  Aus  dem  Martyrium  des  Polycarp  und 
des  Pionius  gebt  die  Bedeutung  des  jüdischen  Elements  in  Sniyrna  hervor: 
das  Straßenbild  der  Stadt  war  an  jüdischen  Feiertagen  ein  verändertes. 
„Von  der  Ausdehnung  und  der  Bedeutung  der  Juden  Kleinasiens  zeugt  u.  a. 
der  Versuch,  den  unter  Augustus  die  joniscben  Griecbenstädte.  es  scheint 
nach  gemeinschaftlicher  Verabredung,  machten,  ihre  jüdischen  Gemeinde- 
genossen entweder  zum  Rücktritt  von  ihrem  Glauben  oder  zur  vollen  Über- 
nahme der  bürgerlichen  Lasten  zu  nötigen"  (Mommsen,  Rom. Gesch.  V  S. 489 f.). 

^)  Man  vgl.  auch,  was  Epipbanius  (baer.  80,  1)  von  einem  Kult  des 
..UarToxfjäTcofj"'   erzählt. 

2)  S.  Monceaux,  Les  colouies  juives  dans  l'Afrique  romaine  (Rev.  des 
Etudes  juives,  1902).  Leclerq,  L'Afrique  chretienne,  1904,  1  p.  36  f.  Jüdische 
Gemeinschaften  sind  nachgewiesen  für  Cartbago,  Naro,  Hadrumetum,  Utica, 
Hippo,  Simittu,  Volubilis,  Cirta,  Auzia,  Sitifis,  Caesarea,  Tipasa,  auch  in 
Oea,  usw. 

^)  Daher  kennt  er  auch  allem  Anschein  nach  keine  Judenebristen  aus 
eigener  Anschauung. 

1* 


4  Einleitung  und  C-irundlegung. 

Staaten,   sondern  kleiner  autonomer  Gemeinwesen  im  Schöße  an- 
derer Staaten  zum 'Ziel  setzte" 

(3)  Ziffermäßij?  läßt  sich  die  Menge  der  Juden  in  der  Dia- 
spora nur  schlecht  bestimmen.  Was  wir  an  Zahlangaben  be- 
sitzen, ist  folgendes:  Von  den  Juden  in  Babylonien  sagt  Josephus, 
es  seien  ,.nicht  wenige  Myriaden",  bez.  „unzählige  Myriaden"  da- 
selbst-. Derselbe  erzählt^,  in  Damascus  seien  zur  Zeit  des 
o-roßen  Krieges  1  (10(10  Juden  niedergemetzelt  worden;  an  einer 
anderen  Stelle  (in  demselben  Buch)  schreibt  er  „ISOOO"*.  Yon 
den  fünf  Stadtteilen  Alexandriens  hießen  nach  Philo  ^  zwei  „die 
jüdischen",  weil  sie  größtenteils  von  Juden  bewohnt  waren;  doch 
fanden  sich  Juden  auch  in  anderen  Stadtteilen.  Philo  schätzt 
ihre  Gesamtzahl  in  Ägypten  („bis  an  die  Grenzen  Äthiopiens")  auf 
nicht  weniger  als  100  Myriaden  =  eine  Million^  Bereits  in  der 
Zeit  Sullas  bildeten  die  Juden  der  Cyrenaica  nach  Strabo''  eine 
der  vier  Klassen  der  Bevölkerung  (neben  Bürgern,  Bauern  und 
Metöken).  In  dem  großen  Aufstand  unter  Trajan  sollen  sie 
220000  Ungläubige  daselbst  hingeschlachtet  habend  zur  Rache 
^\^lrden  von  Marcus  Turbo  „viele  Myriaden"  von  ihnen  getötet". 
Die  Juden -Revolution  erstreckte  sich  auch  auf  Cypern;  dort 
sollen  240  000  Nicht-Juden  von  ihnen  gemordet  worden  sein -'^. 
In  Bezug  auf  die  Anzahl  der  Juden  in  Rom  finden  wir  die  An- 
gaben,  daß  im  J.  4  vor  Chr.  SOOO  römische  Juden  eine  aus 
Palästina  kommende  Judendeputation  verstärkt  haben  ^\  ferner 
daß,  als  Tiberius  die  ganze  Judenschaft  aus  Rom  verwies  (J.  19 
nach  Chr.),  4000  waffenfähige  Juden  nach  Sardinien  deportiert 
worden  seien.  Die  letztere  Notiz  ist  deshalb  besonders  be- 
achtenswert, weil  sie  sowohl  von  Tacitus  als  auch  von  Josephus 
überliefert    wird^-.     Tiberius    hat    den  Befehl    nach    dem    Sturze 


1)  Renan,  .,Die  Apo.stel^  Deutsche  Ausgabe  S.  299. 

2|  Antiq.  XV,  3,  1  bez.  XI,  5,  2.  Nach  Antiq.  XII,  ■),  i  hat  Antiochus 
der  Große  2000  Familien  aus  der  Zahl  dieser  Juden  in  Phrygien  und  Lydien 
angesiedelt. 

^)  Ben.  .Tud.  II,  20,  2.  —  ')  A.  a.  0.  VII,  8,  7.  —  '')  In  Flacc.  8. 

")  In  Flacc.  G.  —  ')  Bei  Josephus,  Antiq.  XIV,  7,  2. 

»)  Dio  Cassius  LXVIII,  32.  —  «)  Euseb.,  h.  e.  IV,  2. 

'")  Dio  Cassius  l!  c.  Ebenderselbe  erzählt  (LXIX,  14),  in  dem  Barkochba- 
Auistand  seien  580000  Juden  in  Palästina  gefallen. 

")  .Josephus,  Antiq.  XVII,  11,1;  Bell.  II,  6,  1. 

1-)  Eine  Differenz  ist  aber  insofern  vorhanden,  als  Josephus  (Antiq. 
XVIII,  3,  .5)  nur  von  Juden  spricht.  Tacitus  (Annal.  II,  85)  aber  schreibt: 
„Actum  et  de  sacris  Aegyptiis  Judaicisque  pellendis  factumque  patrum  con- 
sultum,  ut  quattuor  milia  libertini  geueris  ea  superstitione  infecta,  quis 
idonea  aetas,  in  insulam  Sardiuiam  veherentur,  coercendis  illic  latrociniis  et, 
si  ob  gravitatem  caeli  interissent,  vile  damnum;  ceteri  eederent  Italia,  nisi 
certam  ante  diem  profanos  ritns  exuissent."    Die  Ausweisung  wird  auch  von 


Das  Judentum,  seine  Verlireitung  und  PJutscliräukung.  5 

Sojiins  wieder  zurückgeitommeii  ^  und  die  Juden  wurden  sofurt 
wieder  zahlreich  in  Rom'-:  aber  unter  Chiudius  im  d.  49  wurde 
die  Ausweisung-  erneuert,  der  Befehl  jedoch  bald  zurückgezogen, 
da  seine  Durchführung-  bedenklich  erschien,  und  auf  ein  Yi^bot 
der  religiösen  Versammlungen  beschränkt  "\  In  Rom  wohnten 
die  Juden  besonders  in  Trastevere,  aber  auch  in  anderen  Stadt- 
teilen waren  sie  zu  finden,  wie  denn  auch  jüdische  Kirchhöfe  an 
sehr  verschiedenen  Stellen  in  der  Stadt  aufgedeckt  worden  sind. 
Überblickt  man  diese  Zahlangaben*,  so  sind  nur  zwei  von 
Bedeutung,  nämlich  erstlich  die  Philos.  daß  die  ägyptischen 
Juden  nicht  weniger  als  eine  Million  stark  gewesen  sind.  Philos 
verhältnismäßig  genaue  Ausdrucksweise  (ovx  änoömvoi  juvQuiöan' 
exarov  ol  nji'  ' A?,e^dvdQ€tav  y.al  t)jv  id)Qnv  'lovdaToi  yMToixovvrsg 
äjiö  Tov  ngog  Äißihp'  y.aTaßaßfiov  fie^Qi  tcTjv  öquin'  Aißiojiiag), 
zusammengehalten  mit  der  Tatsache  der  pünktlich  geführten 
Steuerlisten  in  Ägypten,  macht  es  wahrscheinlich,  daß  wir  es  hier 
mit  keiner  phantastischen  Zahl  zu  tun  haben.  Auch  erscheint  die 
Zahl  selbst  nicht  zu  hoch,  Avenn  man  bedenkt,  daß  die  ganze 
Judenschaft  Alexandriens  mit  eingeschlossen  ist.  Da  die  Be- 
völkerung Ägyptens  (z.  Z.  des  Vespasian)  7 — S  Millionen  Seelen 
betragen  hat,  so  wird  die  Judenschaft  ein  Siebentel  oder  ein 
Achtel  (etwa  13 '^/o)  ausgemacht  haben  ^.     Nur  für  Syrien  werden 


Suetou  (Tiber.  06)  berichtet:  „Exteruas  caeremonias,  Aegyptios  Judaicosque 
ritus  compescuit,  coactis  qui  .superstitione  ea  tenebantur  religiosas  vestes 
cum  instrumento  omni  comburere.  Judaeorum  juventutem  per  speciem  sacra- 
menti  in  provincias  gravioris  caeli  distribuit,  reliquos  gentis  ejusdem  vel 
similia  sectantes  nrbe  summovit,  sub  poena  perpetuae  servitutis  nisi  obtem- 
perassent." 

*)  Philo.  Legat.  24.  —   -)  Die  Casi.  LX.  6:  JT/.eoräaavTS^  arOi^. 

*)  Die  Quellen  widersprechen  sich  hier:  Die  Apostelgeschichte  (18,  2), 
Sueton  (Claud.  25)  und  Orosius  (VII.  6,  15)  —  der  letztere  unter  irrtümlicher 
Berufung  auf  Josephus,  der  über  den  Vorgang  schweigt  —  sprechen  von 
einem  förmlichen  (und  durchgeführten)  Ausweisungsbefehl,  Dio  Cassius  aber 
(LX,  6)  schreibt:  TOi<g  ts  'lovÖaiovg  JiXsordoavTag  avdi.g,  ojots  yakejrwg  av  ävev 
Taoa/fjg  vjio  tov  oylov  o<pöJv  rPjg  nöXecog  siQ/dfjvai ,  ovy.  iSt'j^.aoe  /ier,  to)  Se  81) 
jiaxQcco  ßUo  xQO}f(svovg  exeIevoe  /iilj  ovi'adijoiCsodai.  Zwei  so  treuliche  Zeugen 
wie  Lucas  und  Sueton  durch  Cassius  zu  beseitigen,  geht  m.  E.  nicht  an. 
Auch  Schürers  Ausweg  (III  S.  32),  eine  bloß  beabsichtigte  Ausweisung  an- 
zunehmen, befriedigt  noch  nicht.  Der  Befehl  muß  wirklich  ergangen,  sehr 
bald  aber,  nachdem  die  Juden  Garantien  gegeben  hatten ,  durch  das  Ver- 
sammlungsverbot ersetzt  worden  sein. 

*)  Eine  Reihe  von  Zahlen,  die  Josephus  sonst  noch  angibt,  habe  ich 
beiseite  gelassen,  da  sie  ganz  unbrauchbar  sind. 

^)  Vgl.  Mommsen,  Rom.  Gesch.  V  S.  578.  Pietschmann  in  Pauly- 
Wissowas  Eucyklop.  I  C'ol.  990  f.  Bei  och.  Die  Bevölkerung  der  griechisch- 
römischen Welt  S.  258  f,  bezweifelt  die  Angabe  des  Josephus  (Bell.  I!,  16,4), 
die   ägyptische  Bevölkerung  sei   zur  Zeit   Neros  T^/s  Millionen  Seelen   stark 


6  Einleitung  und  Grundlegung. 

wir  einen  noch  höheren  Prozentsatz  jüdischer  Bevölkerung  an- 
nehmen müssen^;  in  allen  anderen  Provinzen  des  römischen  Reichs 
wird  ihre  Zahl  geriiiger  gewesen  sein. 

Die  zweite  Stelle  von  Belang  ist  die  Angabe,  daß  Tiberius 
4()<M)  waffenfähige  Juden  nach  Sardinien  deportiert  hat  —  Juden, 
nicht  Juden  imd  Ägypter,  wie  Tacitus  sagt;  denn  das  bestimmte 
Zeugnis  des  Josephus  W'ird  hier  durch  Sueton  unterstützt  (s.  o.), 
der  zuerst  auch  von  Juden  und  Ägyptern  spricht,  dann  aber 
spezialisierend  hinzufügt:  „ludaeonmi  iuventutem  per  speciem 
sacramenti  in  provincias  gravioris  caeli  distribuit."  Viertausend 
waffenfähige  Männer  entspricht  einer  Gesamtzahl  von  mindestens 
10 (KM)  Menschen^.  So  groß  etwa  war  damals  die  Judenschaft 
in  Rom.  Diese  Berechnung  stimmt  freilich  schlecht  zu  der  an- 
deren Nachricht,  23  Jahre  früher  hätten  8(WM)  römische  Juden 
eine  palästinensische  Deputation  verstärkt.  Josephus  hat  entweder 
die  jüdische  Kopfzahl  hier  eingesetzt,  oder  er  hat  sehr  stark  über- 
ti-ieben.  In  Bezug  auf  die  Bevölkerung  der  Stadt  Rom  zur  Zeit 
des  Augustus  (5  vor  Chr.)  ist  die  Zahl  von  320  ()()()  Plebejern 
männlichen  Geschlechts  über  zehn  Jahre  die  zuverlässigste  Angabe. 
Diese  Zahl  führt  bei  der  notorischen  Minorität  der  Frauen  in  Rom 
auf  etwa  600000  Einwohner  (ohne  die  Sklaven)^.  Die  etwa 
10000   Juden*    repräsentierten    also    ihnen    gegenüber    etwa    den 


gewesen,  und  will  nur  etwa  5  Millionen  gelten  lassen.  Einen  durchschlagenden 
Grund  gegen  .Josephus  hat  er  nicht  angeführt.  Da  er  aber  auch  Philos 
Nachricht,  die  ägyptische  Judenschaft  sei  eine  Million  Seelen  stark  gewesen, 
für  übertrieben  hält,  so  wird  auch  er  gegen  die  Annahme,  die  Judenschaft 
Ägyptens  habe  etwa  13%  der  Gesamtbevölkerung  betragen,  nichts  ein- 
wenden. Die  Größe  der  Stadt  Alexandrien  schätzt  Beloch  (einschließlich 
der  Sklaven)  auf  etwa  eine  halbe  Million.  Unter  ihnen  werden  gegen 
200000  Juden  gewesen  sein,  da  die  Judenschaft  Alexandriens  etwa  zwei 
Fünftel  der  Bevölkerung  betrug. 

^)  Josephus,  Bell.  VII,  3,  3:  Td  'lovöauov  ysvog  noli)  (.liv  xazh  Tiäauv  ti)v 
olxov(i£Vt]v  nagfOTTaiorai  toiq  sjiixroQioig,  Jikeiarov  de  zfj  2vQin.  Beloc  h  (S.  242 fl., 
507)  schätzt  die  Bevölkerung  Syriens  z.  Z.  des  Augustus  auf  etwa  6  Millionen, 
z.  Z.  des  Nero  auf  etwa  7  Millionen,  die  Antiochiens  auf  nahe  300000  freie 
Einwohner  (z.  Z.  des  Augustus).  Da  der  Prozentsatz  der  Juden  in  Syrien  (und 
speziell  in  Antiochien)  größer  war  als  der  in  Ägypten  (etwa  13  "/o),  so  ist  für 
Syrien  z.  Z.  Neros  sicher  mehr  als  eine  Million  Juden  anzunehmen. 

-)  Ich  setze  dabei  voraus,  daß,  wie  liei  jeder  eingewanderten  Be- 
völkerung, die  Zahl  der  Männer  sehr  viel  größer  gewesen  ist  als  die  der 
Frauen,  rechne  zu  den  4000  waffenfähigen  Männern  noch  2000  Knaben  und 
Greise  männlichen  Geschlechts  und  nehme  ca.  4000  Personen  weiblichen 
Geschlechts  an. 

^)  Vgl.  Beloch  S.  292  ff.  Seine  Zahl  500  000  scheint  mir  zu  niedrig 
gegriffen. 

••)  Renan  („Antichrist",  Deutsche  .\usgabe  S.  6)  ist  geneigt,  die  Zahl 
der  römischen  Juden  mit  Frauen  und  Kindern  auf  20  —  30000  zu  veranschlagen. 


Das  Judentum,  seine  Verbreitung  und  Entschräukung.  7 

()().  Teil  der  Bevölkerung^.  Tibcriiis  hat  die  CJewaltinaßregel,  sie 
auszuweisen,  noch  gewagt;  (.laudius  hat,  dreißig  Jahre  später, 
(his  Experiment  zu  wiederholen  versucht,  aber  nicht  durchzuführen 
verinocht. 

Daß  die  Judenschaft  in  Rom  nach  der  Zeit  der  großen  Auf- 
stände und  Kriege  unter  Yespasian,  Titus,  Trajan  und  Hadrian 
noch  erheblicli  gewachsen  ist,  ist  schwerlich  anzuuehmeu;  demi 
in  vieleu  Provinzen  des  Reichs  waren  die  Juden  dezimiert,  und 
das  mußte  einen  Rückschlag  auf  die  Judenschaft  in  Rom  ausüben. 
Bestimmtes  ist  jedoch  nicht  bekannt. 

Betrug  die  Judenschaft  in  Ägypten  etwa  eine  Million,  in 
Syrien  noch  etwas  mehr;  rechnet  man  auf  Palästina  etwa  700000 
Juden  —  heute  leben  dort  etwa  600[()5O]O0O  Menschen;  s.  Ba- 
de ck  er  s  Palästina,  1900  S.  LYJT  — ,  so  wird  man  jedenfalls 
nicht  zu  hoch  greifen,  wenn  man  die  Juden  in  allen  übrigen 
Gebieten  (die  kleinasiatischen,  griechischen,  die  in  der  Cyrenaica, 
ferner  in  Rom.  Italien,  Africa,  Gallien  und  Spanien  etc.)  zusammen 
auf  etwa  anderthalb  Millionen  anschlägt.  Es  ergiebt  sich  also 
eine  Gesamtsumme  von  etwa  4 — 4^/2  Millionen  Juden.  Eine  sehr 
auffallende  und  auf  den  ersten  Blick  alle  Bevölkerungsberech- 
nungen in  Frage  stellende  Beobachtung  ist  es  nun  aber,  daß  -^ 
nach  Bei  och  —  die  Bevölkerung  im  ganzen  römischen  Reich 
zur  Zeit  des  Todes  des  Augustus  etwa  54  Millionen  betragen 
haben  soll,  und  daß  doch  die  Juden  im  Reich  um  diese  Zeit  nicht 
unter  4— 4\'2  Millionen  geschätzt  werden  können.  Selbst  wenn 
man  die  Belochsche  Ziffer  auf  60  Millionen  erhöht,  wie  können 
die  Juden  T^'/o  der  ganzen  Bevölkerung  betragen  haben?  Ent- 
weder ist  unsere  Berechmmg  falsch  —  Irrtümer  sind  auf  diesem 
Gebiete  fast  unvermeidlich  —  oder  die  Propaganda  des  Juden- 
tums ist  in  den  Provinzen  eine  sehr  starke  gewesen;  deiui  aus 
der  Fruchtbarkeit  der  Juden  allein  erklärt  sich  die  hohe  Zahl 
der  Diaspora-Juden  schlechterdings  nicht.  Man  wird  wohl  an- 
zunehmen haben,  daß  sehr  zahlreiche  „Heiden",  besonders  stamm- 
verwandte Semiten  niederen  Standes  scharenweise  zur  Religion 
Jahvehs  übergegangen  sind^.  Die  Juden  der  Diaspora  waren 
nur  teilweise  wirkliche  Juden.  War  aber  das  Judentum  im  Reich 
wirklich  so  stark,  daß  es  etwa  7  "jo  der  Bevölkerung  zur  Zeit  des 


')  Mit  den  Peregrinen  und  Sklaven  wird  die  Gesamtzahl  auf  etwa 
8  —  900  000  zu  veranschlagen  sein  (nach  Beloch  höchstens  800  000). 

^)  Seit  dem  Edikt  des  Pius,  welches  die  Beschneidung  von  NichtJuden 
aufs  strengste  verboten  hatte  (vgl.  auch  schon  das  Edikt  Hadrians) ,  müssen 
die  förmlichen  Übertritte  aufgehört  haben  oder  ganz  selten  geworden  sein; 
ef.  Orig.  c.  Gels.  II,  13. 


3  Einleitung  und  Grundlegung. 

Augustus  umfaßte  \  so  begreift  man  erst  seinen  großen  Einfluß 
und  seine  soziale  Bedeutung.  Auch  für  das  Verständnis  der  Pro- 
paganda und  Ausl)reitung  des  Christentums  ist  es  wichtig  zu 
wissen,  daß  die  Religion,  unter  deren  „umbraculum"  es  in  die 
Welt  liinaustrat,  nicht  nur  intensiv  sehr  bedeutend  war,  sondern 
auch  extensiv  einen  beträchtlichen  Bruchteil  der  Bevölkerung 
ausmachte. 

Unsere  llbersicht  wäre  unvollständig,  wenn  wir  nicht,  sei  es 
auch  nur  in  aller  Kürze,  auf  die  Art  der  Propaganda  des  Juden- 
timis  im  Reich  einen  Blick  würfen^;  denn  das  Christentum  hat 
seinen  Missionseifer  mindestens  zum  Teil  von  dem  Judentum  ge- 
erbt. Bei  der  J'ropaganda  des  Christentums  werde  ich  überall, 
wo  die  Mittel,  welche  gebraucht  wurden,  von  den  Juden  über- 
nommen sind,  auf  die  jüdische  Mission  zurückkommen.  Ich  l)e- 
schränke  mich  hier  daher  auf  einige  allgemeine  Bemerkimgen. 

Daß  eine  Religion,  welche  eine  so  starke  Scheidewand 
zwischen  sicli  und  allen  anderen  Religionen  aufrichtete  und  in 
ihrer  praktischen  Darstellung  und  in  ihren  Verheißungen  so  innig 
mit  dem  Volkstum  verbunden  war,  in  der  Diaspora,  einen  so  leb- 
haften Missionstrieb  besessen^  und  so  große  Erfolge  erzielt  hat, 
ist  erstaunlich.  Jjetztlich  ist  dies  doch  nicht  aus  Herrschsucht 
und  Ehrgeiz  zu  erklären,  sondern  ist  ein  Beweis,  daß  das 
Judentum  als  Religion  durch  äußere  Einflüsse  und 
innere  Umbildung  bereits  entschränkt*,  daß  es  ein  Mittel- 
ding zwischen  einer  Volksreligion  und  einer  Weltreligion  (Kon- 
fession und  Kirche)  geworden  war.  Der  Jude  fühlte  stolz,  daß 
er  der  Welt  etwas  zu  sagen  habe  und  etwas  bringen  müsse,  was 
die  ganze  Menschheit  angehe  —  den  eiueii  geistigen  Gott, 
Schöpfer  Himmels  und  der  Erde,  und  sein  heiliges 
Sittengesetz  — ,  und  aus  diesem  Bewußtsein  heraus  (Rom.  2, 
U*f.)  em|)fand  er  die  Missionsverpflichtung.  Die  jüdische  Pro- 
paganda   im    Reich    war   ])rimär    die   Verkündigung    des 

^)  Im  deutschen  Reich  beträgt  die  Anzahl  der  Juden  zurzeit  etwas  mehr 
als  1%  der  Bevölkerung,  in  (3steiTeich- Ungarn  aber  4^/:{''/o. 

i*)  Mau  vgl.  hier  die  Darstellung  «chürers,  a.  a.  0.  IlT'  S.  10211'. 

^)  Die  Verpflichtung  zur  Mission  und  die  Hoffnung  auf  .sie  ist  bereits 
in  den  ältesten  jüdischen  Sibyllinen  ausgesprochen,  und  fast  die  gesamte 
alexandrinisch  -jüdische  Literatur  hat  apologetisch  -propagandistische  Tendenz. 

*)  Vgl.  Bousset,  Die  Religion  des  Judentums  im  neutestameutlichen 
Zeitalter,  1903.  S.  besonders  die  Abschnitte  (,S.  1:39— 1X4):  „Die  Theologen, 
Die  Kirche  und  die  Laien.  Die  Frauen,  Bekenntnis  (Dogma,  Glaube),  Die 
Synagoge  als  Heilsanstalt",  ferner  den  großen  .Abschnitt:  „Der  individuelle 
Glaube  und  die  Theologie".  Wird  eine  Volksreligion  zur  Konfession  und 
Kirche,  so  tritt  auch  der  individuelle  Glaube  und  seine  Spannung  mit  der 
Kirche  auf.     Über  die  Propiiganda  in  der  Heidenwelt  s.  S.  77  ff. 


Das  Judentum,  seiue  Verbreitung  und  Entschränlcung.  9 

einen  Gottes,  seines  Sittengesetzes  und  seines  Gerichts; 
alles  übrige  trat  ihr  gegenüber  zurück.  Mochte  es  auch  in  vielen 
Fällen  auf  bloßen  Seelenfang  abgesehen  sein  (^Fatth.  23.  15):  es 
war  dem  Judentum  doch  Ernst  damit,  die  stummen  Götzen  zu 
stürzen  und  die  Heiden  zur  Anerkennung  des  Schöpfers  und 
Richters  zu  bewegen:  die  Ehre  des  Gottes  Israels  war  dabei 
beteiligt. 

Von  hier  aus  ist  eine  Erscheinung  zu  beurteilen,  welche 
mißdeutet  wird,  wenn  man  sie  aus  scheinbaren  Analogien  er- 
klärt —  die  verschiedenen  Stufen  und  Formen  des  jüdischen 
Proselytismus.  In  anderen  Religionen  stammen  diese  Differen- 
zierungen in  der  Regel  aus  dem  Bestreben,  den  Proselyten  die 
sittlichen  Ansprüche,  welche  die  Religion  stellt,  zu  erleichtern. 
Dieser  Grund  ist  hier  nicht,  jedenfalls  nicht  allein,  maßgebend 
gewesen,  vielmehr  blieb  die  sittliche  Forderung  unverändert. 
Entscheidend  war.  daß  man  die  kultischen  und  zeremoniellen 
Forderungen  herabzusetzen  vermochte,  weil  man  die  Aner- 
kennung Gottes  und  seines  Buchs  für  die  Hauptsache 
hielt.  Die  verschiedenen  Arten  des  jüdischen  Proselytismus 
ergaben  sich  fast  ausschließlich  aus  dem  verschiedenen  Maße  der 
Observation  der  gesetzlich-zeremoniellen  Vorschriften.  Erleichtert 
wurde  freilich  diese  schöne  Weitherzigkeit  durch  die  Tatsache, 
daß  Jude  wurde,  wer  dieser  Religion  auch  nur  den  kleinen  Finger 
gab  ^.  Aber  auch  das  kommt  andererseits  in  Betracht,  daß  selbst 
der  geborene  Jude,  sobald  er  den  Boden  Palästinas  verlassen 
hatte,  eigentlich  nur  ein  Proselyt  war:  deim  nicht  nm-  der  Opfer- 
kultus fiel  für  ihn  fort,  sondern  auch  viele  andere  Gebote  keimten 
in  der  Fremde  nicht  oder  doch  nur  sehr  ungenügend  beobachtet 
werden^.  Mit  der  inneren  Neutralisierung.  der  der  Opferkultus 
im  Judentimi  bereits  seit  Menschenaltern  allmählich  —  auch  bei 
den  Pharisäern  —  verfiel,  traf  die  historische  Situation  zusammen, 
daß  die  bei  weitem  größere  Hälfte  der  Anhänger  dieser  Religion 
unter  Bedingungen  lebte,  die  sie  dem  Opferkultus  längst  entfremdet 
hatten.  Dies  machte  sie  dann  in  der  ganzen  Peripherie  ihres 
geistigen  Daseins  für  fremde  Kultweisheit  und  Philosophien  zu- 
gänglich, und  so  entstanden  die  griechisch-jüdischen  und  die 
persischen  Mischformen,  die  freilich  in  einigen  Erscheinungen 
auch  den  Monotheismus  in  Frage  stellten.  Die  Zerstörung  des 
Tempels  durch  die  Römer  zerstörte  in  AVahrheit  nichts;  sie  kami 


1)  Und  wurde  er  es  nicht  selbst,  so  wurde  es  der  Sohn. 

*j  Eine  böse  Scheidewand  blieb  fi-eilieh  immer  die  Beschueidung.  Die 
geboreneu  Juden  legten  auf  diese  doch  noch  in  der  Regel  das  höchste  Ge- 
wicht, und  die  Heiden  bequemten  sich  sehr  ungern  zu  die.ser  Operation. 


10  Einleituug  nntl  Grundlegung. 

wie  ein  organisches  Ereignis  in  der  Geschichte  dieser  lieligion 
aufgefaßt  werden.  Die  Frommen  tauschten  sich,  w^enn  sie  die 
Wege  Gottes  an  diesem  Punkte  für  unbegreiflich  hielten. 

im  Reiche  wußte  man  es  längst  nicht  anders:  die  Juden 
haben  eine  bildlose  Gottesverehrung,  und  sie  haben  keine  Tempel. 
Mochte  beides  (als  Atheismus)  der  rohen  Masse  noch  anstößiger 
und  verächtlicher  sein  als  die  Beschneidung,  das  Sabbathgebot, 
das  Verbot  des  Schweinefleisches  u.  s.  w.  —  auf  weite  Kreise 
von  Gebildeten  machte  es  einen  tiefen  Eindruckt  Die  jüdische 
Religion  schien  durch  diese  Züge,  zusammen  mit  dem  Monotheis- 
mus —  für  ihn  begann  die  Zeit  reif  zu  w^erden-  — ,  auf  die  Stufe 
der  Philosophie  erhoben,  und  da  sie  doch  Religion  zugleich 
war,  stellte  sie  einen  Typus  geistig-geistlichen  Lebens  dar,  der 
allen  verwandten  Erscheinungen  ül)erlegen  war''.  Es  war  im 
Grunde  nicht  künstliche  Mache,  wenn  ein  Philo  und  Josephus 
das  Judentum  als  die  philosophische  Religion  darstellten  — 
diese  Art  Apologetik  entsprach  der  Sache,  wie  sie  em])funden 
werden  mußte*  — ,  und  als  die  geoflPenbarte  und  zugleicli  philo- 
sophische Religion,  ausgestattet  mit  „dem  ältesten  Buch  der 
Welt",    hat    das    Judentum    seine    große    Propaganda    entfaltet"'. 


^)  Die  starre  Exklusivität  freilich  iu  der  Religion  schreckte  die  Mehr- 
zahl ab  und  rief  die  ehrlichste  Entrüstung  hervor;  denn  solche  Exklusivität 
v/ar  etwas  ganz  Paradoxes  und  mußte  als  hartnäckige  Inhumanität  und 
Frechheit  empfunden  werden.  Der  Antisemitismus  tritt  im  römischen  Reich 
schon  seit  ca.  100  vor  Christus  deutlich  hervor,  wächst  stetig  im  ersten  Jahr- 
hundert nach  Christus  und  entladet  sich  in  schrecklichen  Verfolgungen. 

-)  Reif  wurde  sie  auch  für  den  Gedanken  einer  individuellen  Vergeltung 
im  Jenseits  als  Exponent  einer  gesteigerten  Wertung  der  individuellen  Sitt- 
lichkeit und  der  Beurteilung  des  Individuums  nach  dieser. 

^)  Die  verwandten  p]rscheinuugen  sind  vor  allem  die  Schulen  der  idea- 
listischen Popularphilosophie,  s.  Weudland,  Philo  und  die  stoisch-kynische 
Diatribe,  1895. 

*)  Vgl.  Friedländer,  (resch.  der  jüdischen  Apologetik  als  Vorgeschichte 
des  Christentums,  190o.  In  der  Apologetik  auf  ihren  Höhepunkten  stellte 
sich  die  jüdische  Religion  als  die  idealistische  Philosophie  dar,  ruhend  auf 
Offenbarung  (dem  heiligen  Buche),  also  als  materialer  ideologischer  Rationalis- 
Tous  und  formaler  Suprarationalismus  —  die  „befriedigendste"  Religionsfonii, 
zumal  der  Gottesbegriff  eine  Lebendigkeit,  Präzision  und  Sicherheit  behielt, 
wie  er  sie  in  den  verwandten  Erscheinungen  nicht  besaß,  und  die  uralten 
„Weissagungen'^  in  ihrer  überwältigenden  Zahl  und  Bestimmtheit  jeden  Zweifel 
niederschlugen. 

'■)  „Als  philosophische  Religion  zog  das  Judentum  wohl  einzelne  Ge- 
bildete an,  aber  als  religiöse  und  soziale  Gemeinschaft  mit  eigentümlichem 
Leben  die  Volksmasse",  wendet  Axenfeld  in  der  unten  S.  15  zu  nennenden 
Abhandlung  ein  (S.  '44).  Allein  als  religiöse  Gemeinschaft  mit  eigentümlichem 
Leben  machte  sie  eben  einen  philosophischen  Eindruck  —  auch  auf  die  Un- 
gebildeten.   Übrigens  stimme  ich  Axenfeld  bei,  daß  die  Propaganda  nicht 


Das  Judentum,  seine  Verbreitung  und  Entschränkujig.  1 1 

Was  Joseplms^  von  den  ZnKtändcn  in  Antiochicn  erzählt:  „Die 
Juden  zogen  dort  fortwährend  eine  große  Menge  Griechen  zu 
ihren  Gottesdiensten  heran  und  machten  sie  in  gewissem  Sinn  zu 
einem  Bestandteil  ihrer  selbst"  —  gilt  von  der  gesamten  Mission 
des  Judentums  2.  Die  Zugehörigkeit  zum  Judentum  seitens  der 
Griechen  und  Römer  durchlief  alle  möglichen  Grade  der  Stärke, 
von  der  abergläubischen  Aufnahme  einiger  Riten  an  bis  zur  vollen 
[dentität.  „Gottesfürchtige"  Heiden  wurde  die  Mehrzahl.  Pro- 
selysten,  d.  h.  beschnittene  Juden  mit  der  Verpflichtung,  das 
ganze  Gesetz  zu  halten,  gewiß  verhältnismäßig  nur  wenige  ^. 
Unerläßlicher  als  selbst  die  Beschneidung  war  für  die  Aufnahme 
das  Taufbad*. 

Alles  dies  ist  für  die  der  jüdischen  Mission  nachfolgende 
christliche  von  höchstem  Relang  gewesen,  aber  mindestens  ebenso 
belangreich  für  sie  war  die  empfindliche  Lücke,  welche  die 
jüdische  Missionspredigt  ließ:  ein  wahrer  Sohn  Abrahams  kann 
doch  der  Nicht -Jude  mindestens  in  der  ersten  Generation  nicht 
werden,  sein  Rang  vor  Gott  bleibt  ein  untergeordneter,  und 
darum  bleibt  es  auch  zweifelhaft,  in  welchem  Maße  der  Proselyt 
—  von  den  „Gottesfürchtigen"  nicht  zu  reden  —  an  den  herr- 
lichen Zukunftsverheißungen  teilhaben  wird.  Die  Religion,  welche 
diese  Lücke  ausfüllen  wird,  wird  die  jüdische  Mission  aus  dem 
Felde  schlagen'.     Und  wenn  sie  vollends  verkündigt,  die  Letzten 


der  literarischen  Tätigkeit  eiuzehier  jüdischer  Hellenisten,  sondern  der  Assimi- 
lationskraft ihrer  religiös  lebendigen,  ihre  Überzeugung  mit  der  Strenge  des 
Lebens  vertretenden,  in  der  Gewinnung  von  Proselyten  die  Ehre  Jahves,  den 
eigenen  Vorteil  und  eine  Befriedigung  nationalen  Stolze»  erkennenden  Ge- 
meinden ihre  Erfolge  verdankt. 

1)  Bell.  VII,  3,  y. 

'-)  Die  Intensität  der  jüdischen  Propaganda  im  Reiche  im  1.  Jahrhundert  — 
„die  Zeit,  in  welcher  die  christliche  Predigt  ihren  Lauf  begann,  ist  zugleich 
die  Zeit,  in  welcher  die  jüdische  Propaganda  den  Höhepunkt  ihres  P]rfolgs 
erreicht  hatte"  —  zeigt  sich  auch  am  Eindringen  der  jüdischen  Woche  und 
des  Sabbaths  in  das  Reich,  8.  Schür  er,  Die  siebentägige  Woche  im  Gebrauch 
der  christlichen  Kirche  der  ersten  Jahrhunderte ,  in  der  Ztschr.  für  NTliche 
Wissensch.  1905  S.  40  ft".  Viele  Heiden  feierten  den  Sabbath,  wie  jetzt  Juden 
den  Sonntag  feiern. 

*)  Wie  sehr  die  Proselyten  mit  den  geborenen  Juden  verschmolzen, 
darüber  s.  Euseb.,  h.  e.  I,  7. 

*)  Nicht  zu  vergessen  ist,  daß  es  auch  in  der  Diaspora  an  Exklusivität 
und  Fanatismus  nicht  gefehlt  hat.  Die  erste  Verfolgung  der  Christen  ist 
von  Synagogen  der  Diaspora-Juden  in  Jerusalem  in  Szene  gesetzt  worden,  und 
der  fanatische  Saulus  war  Diaspora-Jude  und  Pharisäer. 

^)  Über  die  Abnahme  und  das  Zurücktreten  der  jüdischen  Mission  im 
Reiche  nach  der  zweiten  Zerstörung  des  Tempels  sind  m.  W.  zuverlässige 
Untersuchungen  noch  nicht  angestellt  worden.  Daiä  auch  das  Judentum  der 
Diaspora  spätestens  seit  dieser  Zeit  seine  Verbindung  mit  dem  Griechentum 


j2  Einleitung  und  Grundlegung. 

werden  die  Ersten  werden,  wenn  sie  die  Freiheit  vom  „Gesetz" 
für  das  Normale  und  Höhere  erkHirt,  die  Beobachtung  des 
Zeremonialgesetzes  aber  —  im  günstigsten  Fall  —  für  das  eben 
noch  zu  Duldende,  wird  sie  Tausende  gewiimon,  wo  die  frühere 
Missionspredigt  nur  Hunderte  gewannt  Der  Propaganda  der 
jüdischen  Religion  kam  aber  nicht  nur  ihr  höherer  innerer  Wert 
zu  gut,  sondern  auch  die  großen  sozialen  und  politischen  Vorteile, 
welche  das  Bekenntnis  zu  derselben  brachte.  Man  vorgleiche, 
was  Schürer  (a.  a,  O.  IIP  S.  56 — 90)  über  die  innere  Organi- 
sation der  jüdischen  Gemeinden  in  der  Diaspora,  ferner  über  ihre 
staatsrechtliche  Stellung  und  bürgerliche  „Gleichberechtigung"  aus- 
geführt hat  2,  imd  man  wird  finden,  wie  vorteilhaft  es  im  römischen 


lockert,  um  sie  dann  ganz  aufzugeben  —  man  vergleiche  nur  die  Kette  der 
der  LXX  folgenden  griechischen  Bibelübersetzungen  und  ihr  Ende  —  daß 
die  jüdisch-griechische  Literatur  plötzlich  spärlich  wird,  um  bald  ganz  auf- 
zuhören, scheint  mir  eine  sichere  Tatsache.  Aber  ob  hier  nur  die  äußere 
Zertrümmerung  und  innere  Versteifung  des  Judentums  in  Betracht  kommt  — 
warum  aber  versteifen  sie  sich  in  ihrem  Gesetz?  — ,  oder  ob  auch  andere 
Gründe,  z.  B.  die  wachsende  Rivalität  des  Christentums,  darüber  wage  ich 
kein  Urteil.  Über  die  Alilehnung  des  Gi-iechentums  seitens  des  palästinen- 
sischen Judentums  schon  vor  der  ersten  Zersörung  des  Tempels  s.  unten  S.  15. 

1)  Eine  bemerkenswerte  weltgeschichtliche  Parallele  zu  der  Predigt 
des  Paulus  im  Verhältnis  zur  Judenpredigt  ist  die  Verkündigung  Luthers  (im 
Verhältnis  zur  katholischen  Predigt),  daß  nicht  der  Mönch  der  wahrhaft 
Vollkommene  sei,  sondern  der  im  tätigen  Beruf  lebende  Christ.  Auch  Luther 
erklärte,  daß  die  Letzten  (die  im  Berufe  Tätigen)  die  Ersten  seien.  —  Die 
im  Texte  gegebene  Ausführung  ist  von  Friedländer  (Dr.  Bloch's  Oesterr. 
Wochenschrift,  Zentralorgan  f.  d.  ges.  Interessen  des  Judentums,  1902, 
Nr.  49  f.)  bestritten  worden:  die  Proselyten  seien  den  Vollblut- Juden  ganz 
gleichwertig  zur  Seite  getreten.  Allein  Friedländer  selbst  schränkt  in  der 
Ausführung  diese  liberale  Stellung  der  Juden  auf  das  Judentum  der  griechischen 
Diaspora  ein,  führt  sie  auf  den  Hellenismus  zurück  und  belegt  sie  lediglich 
durch  Philo  (bez.  noch  durch  Johannes  der  Täufer).  Li  dieser  Einschränkung 
—  man  beachte  übrigens  dabei,  daß  Philo  in  der  Regel  sagt,  der  jüdische 
Geburtsadel  nütze  nichts,  wenn  man  ein  schlechter  Mensch  sei;  der  geborene 
Heide  sei  dem  gegenüber  viel  besser  —  ist  nichts  gegen  die  These  einzu- 
wenden. Ich  selbst  bin  ja  noch  weiter  gegangen:  unzweifelhaft  hat  die  im 
Judentum  der  Diasjjora  längst  vor  der  Entstehung  des  Christentums  geübte 
AUegorisierung  des  Oeremonialgesetzes  die  gesetzesfreie  Kirche  aus  den 
Heiden  direkt  vorbereitet.  Allein  darum  handelt  es  sich,  (1)  ob  das  strenge 
palästinensische  Judentum  in  seinem  Geburtsdünkel  durch  diese  Erweichungen 
wesentlich  lietroft'en  worden  ist.  (2)  ob  es  nicht  auch  auf  das  Judentum  in 
der  Diaspora  fort  und  fort  starken  Einfluß  geübt  hat,  (3;  ob  das  Judentum 
in  der  Diasjjora  wirklich  auf  alle  Prärogativen  der  Geburt  verzichtet  hat. 
Die  l)eiden  letzten  Fragen  nml.")  ich  verneinen  (auch  in  Bezug  auf  Philo), 
die  ei'ste  aber  l>eiahen. 

*)  Auch  in  der  Diaspora  stellten  sich  die  jüdischen  Gemeinwesen  als 
kleine  Staaten  im  Staate,  bez.  in  der  Stadt  dar;  mau  denke  nur  an  die 
Civilgerichtsbarkeit.  die  sie  ausübten,  ja  selbst  in  die  Kriminalgerichtsbarkeit 


Das  Jiuleutiini,  seine  Verbreitung  und  Entsehrilnkung.  ] ;} 

Reiche  war,  zu  einer  jüdischen  Gemeinde  zu  gehören.  Spott  und 
Geringschätzung  hatte  man  als  Jude  unter  Umständen  allerdings 
zu  ertragen,  aber  diese  Unbill  wnirde  wett  gemacht  durch  die 
reichen  Privilegien,  die  man  als  Anhänger  dieser  religio  licita 
genoß.  Besaß  man  dazu  noch  ein  städtisches  Bürgerrecht  —  es 
war  nicht  schwer  zu  erlangen  —  oder  gar  das  römische,  so  war 
man  gesicherter  und  besser  situiert,  als  die  meisten  anderen 
Reichsangehörigen.  Kein  Wunder  daher,  daß  in  Zeiten  der  Ver- 
folgung Christen  zum  Judentum  abziifallen  drohten  ^,  und  daß  die 
Loslösung  von  den  Synagogen  auch  wirtschaftlich  tief  in  die 
Verhältnisse  der  geborenen  Juden,  die  Christen  wurden,  eingrifft 
Schließlich  noch  eine  Beobachtimg:  alle  auf  den  Wegen  des 
Verkehrs  und  Handels  importierten  Religionen  sind  zimächst 
Städtereligionen  und  bleiben  es  eine  geraume  Zeit.  Daß  das 
Judentum  in  der  Diaspora  durchweg  Städtereligion  war,  läßt  sich 
nicht  behaupten  und  ist  auch  für  einige  große  Provinzen  wider- 
legt, in  der  Hauptsache  aber  ist  es  Städtereligion  geblieben:  von 
Juden  auf  dem  Lande  wissen  wir  w^enig. 

Solange  der  Tempel  stand,  bildete  er  und  die  Abgaben,  die 
man  an  ihn  entrichtete,  ein  Band,  welches  die  Juden  der  Diaspora 
mit  Palästina  verband''.  Später  trat  eine  rabbinische  Behörde  an 
die  Stelle  des  jerusalemischen  Priesterkollegiums,  und  sie  verstand 
es,  die  Abgaben  weiter  zu  erheben  und  zu  nützen.  An  der  Spitze 
jener   Behörde    stand    der   Patriarch;    eingesammelt    wurden    die 


griffen  sie  über.  Für  Palästina  besitzen  wir  noch  aus  dem  3.  Jahrhundert 
den  Berieht  des  Origenes  (ep.  ad  Afrie.  14)  über  die  Macht  des  f]thnarchen 
(=  Patriarchen),  die  eine  so  große  sei,  „daß  er  sich  in  nichts  von  dem  Könige 
unterscheide";  „es  finden  auch  heimlich  Gerichtsverhandlungen  statt  nach 
dem  Gesetz,  und  manche  werden  zum  Tode  verurteilt,  nicht  mit  Ermächti- 
gung, aber  auch  nicht  so,  daß  es  dem  Herrscher  verborgen  wäre."  Ähnliches 
wird  auch  sonst  in  der  Diaspora  geschehen  sein.  Die  Zeit  des  Hadrian  und 
Pius  brachte  zwar  einen  furchtbaren  Rückschlag;  aber  später  ist  das  früher 
Gewonnene  teilweise  wieder  zurückerobert  worden. 

')  Doch  sind  die  Zeugnisse  dafür  nicht  zahlreich. 

-)  Durch  ihre  religiöse  und  nationale  Eigenart  sowie  durch  die  recht- 
liche Anerkennung,  welche  dieselbe  im  Reiche  genoß,  hoben  sich  die  Juden 
aufs  kräftigste  von  allen  Völkern,  welche  der  römische  Staat  umschloß,  ab. 
Dies  tritt  am  schlagendsten  darin  hervor,  daß  sie  sogar  als  „das  zweite  Ge- 
schlecht" bezeichnet  worden  sind.  Wir  werden  unten  nachweisen,  daß  die 
Christen  deshalb  das  dritte  Geschlecht  genannt  worden  sind,  weil  die  Juden 
als  das  zweite  galten. 

')  Dazu  kamen  Boten  und  Briefe,  die  den  Zusammenhang  der  jüdischen 
„Heidenkirche"  mit  Jerusalem  aufrecht  erhielten;  ein  gutes  Beispiel  findet 
sich  am  Schluß  der  Apostelgeschichte. 


)4  Einleitung  und  Grundlegung. 

Gelder  durch  „Apoistel''.  welche  er  aussandte '^.  Diese  „Apostel" 
scheinen  aber  auch  noch  andere  Pflichten  gehabt  zu  haben  (s.  dar- 
über später). 

Die  christliche  Mission  verdankt  der  ilir  vorangegangenen 
jüdischen  erstens  ein  im  ganzen  Reiche  bestelltes  Feld,  ferner 
überall  in  den  Städten  schon  formierte  religiöse  Gemeinden,  weiter 
ein  vorbereitetes  „Gehülfenmaterial"  (Axenfeld),  die  alttestament- 
lichen  Vorkenntnisse,  dazu  ein  katechetisches  und  liturgisches 
Material,  welches  mit  wenigen  Veränderungen  benutzt  werden 
konnte,  ferner  die  Gewöhnung  an  regelmäßige  Gottesdienste  vmd 
an  eine  Kontrolle  des  privaten  Lebens,  weiter  eine  eindrucksvolle 
Apologetik  für  den  Monotheismus,  die  historische  Teleologie  und 
die  Ethik,  endlich  das  Gefühl  der  Verpflichtung  zur  „Selbst- 
ausbreitung". Das  ist  soviel,  daß  man  wohl  sagen  darf,  die  christ- 
liche Mission  ist  eine  Fortsetzung  der  jüdischen  Propaganda.  „Eine 
Generation  von  Fanatikern  hat  das  Judentum  seines  Lohnes  be- 
raubt und  es  verhindert,  die  Ernte,  die  es  bereitet  hatte,  ein- 
zusammeln" (Renan). 

Inwiefern  andrerseits  dtis  Judentum  für  das  Evangelium  vor- 
bereitet war,  mag  man  an  dem  Synkretismus  ermessen,  zu  dem 
es  sich  nicht  nur  auf  Nebenlinien  entwickelt  hatte.  Die  Um- 
wandlung einer  Volksreligion  zu  einer  Weltreligion  kann  auf 
dop})elte  Weise  geschehen:  durch  Reduktion  auf  große  Haui)t- 
punkte  oder  durch  Aufnahme  einer  Fülle  neuer  Elemente  aus 
anderen  Religionen.  Beides  ist  im  Judentum  gleichzeitig  ein- 
getreten -.  Aber  die  wichtigste  Vorbereitung  ist  die  Reduktion, 
und  sie  ist  vor  allem  jener  großen  Szene  zu  entnehmen,  die  uns 
Marcus  (12,  28  —  IM)  aufbewahrt  hat  —  das  in  seiner  Einfachheit 
größte  religionsgeschichtliche  Denkmal,  welches  wir  aus  der  Zeit 
der  Religionswende  besitzen'^: 

„Ein  Schriftgolehrter  fragte  Jesum:  Welches  ist  das  erste 
von  allen  Geboten?  Jesus  antwortete:  Das  erste  ist:   „Höre  Israel, 

1)  Über  den  „Patriarchen"  a.  Schürer  111^  >S.  77f.  Daß  der  , Patriarch" 
sich  auch  persönlicli  in  die  Diaspora  begeben  hat,  ist  für  Ägypten  durch 
Vojnsc.  Saturn.  8  l)ezengt.  —  Ülior  die  „Apostel"  s.  Buch  III  Kapitel  1  sub 
Abschnitt  2. 

'^)  Über  den  ,.Synkretismus"  s.  vor  allem  das  letzte  Kapitel  iuBoussets 
Werk  S.  448  —  493.  Der  Synkretismus  hat  in  der  jüdischen  Religion  jeden 
ihrer  illteren  Bestandteile  erweicht  und  eine  Fülle  ganz  neuer  Elemente  ein- 
geführt. Aber  der  Aiispruch,  die  allein  wahre  Religion  zu  sein,  und  die 
Überzeugung,  in  „Moses"  alles  zu  besitzen,  ist  nicht  erweicht  woi-den. 

■^)  Man  vergleiche  dazu  als  nächste  Stufe  die  dem  Paulus  beigelegte 
Missionsrede  auf  dem  Areopag. 


Das  Judentiun.  seine  Ver1)reitung  und  Entschränkuno-.  |  5 

der  lloiT  unser  Oott  ist  ein  einiger  Gott,  und  du  sollst  lieben  den 
Herrn  deinen  Gott  von  ganzem  Herzen  und  von  ganzer  Seele  und 
von  ganzem  Gemüt  und  mit  aller  deiner  Kraft":  das  zweite  ist: 
,,Du  sollst  deinen  Nächsten  lieben  wie  dich  selbst":  ein  größeres 
Gebot  als  dieses  gibt  es  nicht.  Und  es  sprach  zu  ihm  der  Schritt- 
gelehrte: So  isfs,  o  Lehrer:  richtig  hast  du  gesagt,  daß  Er  ein 
einiger  ist  und  kein  anderer  außer  ihm,  und  das  ihn  Lieben  von 
ganzem  Herzen  und  mit  ganzem  Sinn  und  mit  ganzer  Kraft  und 
das  Lieben  des  Nächsten  wie  sich  selber  ist  viel  mehr  wert  als 
alle  Ganz-  und  Schlachtopfer.  Und  Jesus,  da  er  sähe,  daß  er 
verständig  geantwortet  hatte,  sprach  zu  ihm:  Du  bist  nicht  weit 
vom  Reiche  Gottes." 

Zusatz:  Was  die  Stellung  des  palästinensischen  dudcn- 
tums  zum  Missionsgedanken  (Universalismus  und  Pflicht  syste- 
matischer Propaganda)  betrifft,  so  liegen  die  Dinge  im  Zeitalter 
Christi  und  der  Apostel  so,  daß  man  Pro  und  Contra  zu  plädieren 
vermag  (s.  Bertholet,  die  Stellung  der  Israeliten  und  Juden  zu 
den  Fremden,  lSi)():  Schürer,  a.a.O.  IH  S.  125  ff.;  Bousset, 
a.a.O.  S.  S2flF.:  Axenfeld,  die  jüdische  Propaganda  als  Vor- 
läuferin der  urchristlichen  Mission  in  den  „Missionswiss.  Studien", 
Festschrift  f.  War  neck,  19(14.  S.  I  80).  Vor  jener  Epoche 
lagen  nämlich  zwei  in  ihren  Tendenzen  grundverschiedene  Zeit- 
alter. Das  ältere,  auf  Deutero- Jesaias  fußende  brachte  den 
Universalismns  der  jüdischen  Religion  und  eine  fast  bis  zur  Huma- 
nität gesteigerte  religiöse  Ethik  auch  in  Palästina  stark  zum  Aus- 
druck. Es  spiegelt  sich  in  zahlreichen  Psalmen,  im  Jonasbuch 
und  in  der  Spruchweisheit.  Die  Frommen  sind  sich  bewußt,  daß 
Jahveh  über  die  Völker  und  über  alle  Menschenkinder  herrscht, 
daß  er  der  Gott  jedes  Einzelnen  ist  und  daß  er  nichts  anderes 
als  Gottesfurcht  verlangt.  Eben  deshalb  hoffen  sie  auf  die  end- 
gültige Bekehrung  aller  Heiden,  fordern  Völker  und  Könige  auf, 
sich  vor  Jahveh  niederzuwerfen  und  ihn  zu  loben,  und  verlangen, 
daß  Jahvehs  Name  überall  in  der  fEeidenwelt  verkündigt  und  seine 
Herrschaft  (im  Sinne  der  Bekehrung  zu  ihm)  ausgebreitet  werde. 
Aber  mit  der  Zeit  der  Maccabäer  setzt  die  Tendenz  auf  Absperrung 
ein.  Die  Apokalyptik  richtet  ihr  Auge  stärker  auf  die  Unter- 
werfung der  Heidenvölker  als  auf  ihre  Bekehrung;  die  exklusiven 
Tendenzen  beginnen  wieder  deutlicher  (zum  Schutze  der  Eigenart 
des  Volkes)  hervorzutreten.  „Es  ist  eine  der  wichtigsten  Folgen 
der  Gewalttat  des  Antiochus,  daß  seitdem  eine  bedingungslose 
Entschränkung  des  Judentums  für  alle  Zeit  diskreditiert  und  ein 
Philhellenentum  im  Sinne  des  Jason  und  Alcimus  für  Heimat 
wie  Diaspora  unmöglich  ist  oder  wenigstens,  falls  es  sich  zeigen 
will,  scharfe  Korrektur  erfährt"  (Axenfeld,  S.  28).     Nun  wogen 


Iß  Einleitung  und  Grundlegung. 

im  Zeitalter  Christi  und  der  Apostel  die  vorwärtstreibenden  Kräfte 
und  die  nationalen,  retardierenden  durcheinander.  Selbst  der 
Pharisäismus  erscheint  gespalten.  In  einigen  Psalmen  und  Lehr- 
büchern sowie  in  der  13.  Beracha  des  Schmone  Esre  tritt  der 
Universalismus  noch  bestimmt  hervor,  und  „der  berühmteste  Träger 
der  jüdischen  Schriftgelehrsamkeit,  Hillel,  und  seine  Schüler  haben 
die  Propaganda  ganz  besonders  gepflegt.  „Liebe  die  Geschöpfe 
und  leite  sie  zum  Gesetz",  ist  einer  der  von  ihm  überlieferten 
Kernsprüche  (Pirke  Aboth  I,  12)."  Auch  Gamaliel,  der  Lehrer 
des  Paulus,  ist  auf  die  Seite  der  Propagandisten  zu  stellen.  Es 
war  übrigens  nicht  unmöglich,  exklusiv  und  propagandistisch  zu- 
gleich zu  sein:  man  verschärfte  die  Bedingungen  der  Mission  bis 
zur  Zumutung,  das  ganze  Gesetz  zu  halten.  Irre  ich  nicht,  so 
stand  Jesus  vornehmlich  dieser  Art  Pharisäismus  in  Jerusalem 
gegenüber.  Je  mehr  sich  nun  in  Palästina  der  Gegensatz  zu  der 
Fremdherrschaft  zuspitzte  und  die  große  Katastrophe  näher  kam, 
desto  mehr  wuchs  die  Abneigung  gegen  Alles,  was  fremd  war, 
und  die  Vorstellung,  daß  alles  Nicht- Jüdische  im  Gericht  unter- 
gehen Averde.  Wahrscheinlich  kurz  vor  der  Zerstörung  des  Tempels 
endete  die  Kontroverse  zwischen  den  Schulen  Hillels  und  Schammais 
auf  einem  vollen  Siege  des  letzteren,  der  zwar  kein  prinzipieller 
Gegner  der  Mission  war.  sie  aber  unter  die  härtesten  Bedingungen 
stellte.  Die  18  Maßregeln,  die  angenommen  wurden,  enthielten 
u.  a.  die  Verbote,  das  Griechische  zu  erlernen  und  Gaben  für  den 
Tempel  von  Heiden  anzunehmen.  Der  Verkehr  mit  den  Heiden 
wurde  unter  die  schärfsten  Gesetze  gestellt  und  sollte  überhaupt 
aufhören.  Damit  ist  das  Judentum  der  Mischna  und  des  Talmud 
vorbereitet.  Das  Judentum  der  Diaspora  folgte  dieser  Entwicklung, 
wenn  auch  nicht  sofort. 


•)  Sehr  richtig  bemerkt  Axeufeld  (a.a.O.  S.  8f.):  .,Aus  der  stetigen 
Spannung  zAvischen  dem  Anspruch  auf  Anschluß  der  Heiden  und  der  Angst 
vor  ihm  erklärt  sich  die  Geschichte  der  jüdischen  Propaganda.  Es  gleicht 
das  propagandatreiheude  Judentum  einer  Eroberungsarmee,  deren  Ofteusive 
durch  die  Rücksicht  auf  die  Verbindung  mit  der  Operationsbasis  beständig 
gehemmt  wird."  Aber  eine  künstliche,  theologische  Reflexion  scheint  es  mir 
zu  sein,  wenn  derselbe  Gelehrte  den  höchsten  Wert  darauf  legt,  daß  die 
jüdische  Propaganda  kein  „Sendungsbewußtsein"  gehabt  habe,  sondern  — 
im  Unterschied  von  der  christlichen  —  lediglich  in  dem  Bewußtsein  eigener 
religiösen  Überlegenheit,  ohne  Demut  imd  ohne  Gehorsam,  im  Eifer  ihren 
Gott  verkündigt  habe.  Vergeblich  habe  ich  mich  bemüht,  dieser  These,  die 
letztlich  der  Verteidigung  der  Historizität  von  Matth.  28, 19  dient,  auch  nur 
eine  particula  veri  abzugewinnen.  Daß  dem  christlichen  Missionseifer  später 
der  Glaube  an  einen  direkten  Befehl  Jesu  besonderen  Nachdruck  geben 
mußte,  ist  natürlich  nicht  zweifelhaft. 


Äußere  Bedingungeu  f.  d.  univ.  Ausbreitung  d.  ebristl.  Religion.         17 

Zweites  Kapitel. 

Äußere  Bedingungen  für  die  universale  Ausbreitung 
der  christlichen  Religion. 

Nur  gleichsam  in  Überschriften  möchte  ich  angeben,  welche 
äußere  Bedingungen  die  schnelle  und  weite  Ausbreitung  der  christ- 
lichen Religion  in  der  Kaiserzeit  ermöglicht  oder  befördert  haben. 
Eine  der  wichtigsten  ist  im  vorigen  Abschnitt  bereits  genannt, 
die  Ausbreitung  des  Judentums,  welche  der  des  Christentums 
vorangegangen  ist  und  ihr  den  Weg  bereitet  hat.  Neben  ihr 
kommen  vor  allem  folgende  Momente  in  Betracht^: 

(l)  Die  seit  den  Tagen  Alexanders  des  Großen  erfolgte  und 
sich  immer  noch  fortsetzende  Hellenisierung  des  Orients  und 
z.  T.  auch  des  Occidents,  bezw.  die  relative  Einheitlichkeit 
in  Bezug  auf  Sprsiche  und  Anschauungen,  welche  durch  sie 
geschaffen  w^irde.  Diese  fortschreitende  Hellenisierung  scheint  sich 
erst  gegen  Ende  des  2.  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  er- 
schöpft zu  haben ^,  erlebte  aber  im  4.  Jahrhundert  durch  die  Ver- 
legung der  Residenz  des  Reichs  in  den  Osten  auf  wichtigen  Linien 
noch  eine  nachträgliche  Verstärkung.  Da  sich  das  Christentum 
sehr  schnell  mit  der  Sprache  und  dem  Geist  des  Hellenismus, 
wenn  auch  nicht  vollständig,  zusammenschloß,  so  konnte  es  einen 
nicht  geringen  Teil  der  Erfolge  desselben  für  sich  benutzen.     Als 


'■)  Die  Zahl  der  Werke,  aus  denen  man  hier  Belehrung  schöpfen  kann, 
ist  Legion.  Eines  der  neuesten  ist  Gruppe,  Kulturgeschichte  der  römischen 
Kaiserzeit,  2  Bde,  1908.  1904. 

-)  Untersuchungen  darüber,  wann  in  Rom  und  im  Westen  die  Fort- 
schritte des  Hellenismus,  vor  allem  der  griechischen  Sprache,  abnehmen  und 
aufhören,  sind  mir  nicht  bekannt.  Nach  meiner  beschränkten  Kenntnis  der 
Dinge  würde  ich  das  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  als  Grenze  setzen.  Noch 
Marc  Aurel  hat  seine  Bekenntnisse  griechisch  geschrieben.  Ahnlich  Sym- 
ptomatisches wird  man  später  nicht  mehr  finden.  Die  sinkende  Bildung,  aber 
wohl  auch  die  Natur  der  Dinge  —  die  sich  verbreitende  Flutwelle  wird 
immer  seichter  — ,  hat  dem  Griechischen  im  Abendland  ein  Ziel  gesetzt. 
Im  dritten  Jahrhundert  fängt  Rom  an,  das  Griechische  auszuscheiden;  im 
Laufe  des  vierten  Jahrhunderts  wird  es  wieder  eine  rein  lateinische  Stadt. 
Was  von  Rom  gilt,  gilt  auch  von  den  Provinzen  des  Westens,  sofern  sie  das 
griechische  Element  aufgenommen  hatten,  selbst  von  Süditalien  und  Gallien, 
obgleich  hier  der  Prozeß  länger  dauerte.  Im  zweiten  Jahrhundert  hat  man 
sich  wahrscheinlich  noch  in  jeder  größeren  Stadt  des  Westens  mit  Hülfe  des 
Griechischen  verständlich  machen  können;  im  dritten  Jahrhundert  wird  der 
Fremdling,  der  nicht  Latein  verstand,  dort  bereits  manchmal,  wenn  auch 
selten,  auf  Schwierigkeiten  gestoßen  sein,  im  vierten  konnte  der  im  Westen 
Reisende  des  Lateins  gewiß  nicht  mehr  entraten:  nur  in  Südgallien  und  Unter- 
italien genügte  sein  Griechisch. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  2 


jg  Einleitung  und  Grundlegung. 

Dank  dafür  hat  es  an  seinem  Teile  die  Fortschritte  des  Hellenis- 
mns  befördert  nnd  seinen  Rückzug  aufgehalten. 

(2)  Die  römische  "Weltmonarchie  und  die  in  ihr  voll- 
zou-ene  politische  Einheit  der  Völker  an  den  Küsten  des  Mittel- 
meeres; die  in  dem  Weltstaat  vollzogene  relative  Einheitlichkeit 
der  äußeren  Lebens-Ordnungen  und  -Bedingungen,  und  die  relative 
Sicherheit  des  gemeinschaftlichen  Lebens.  In  vielen  Provinzen 
des  Orients  (>nipfand  man  nach  entsetzlichen  Stürmen  und  Kriegen 
den  Kaiser  wirklich  als  den  Frieden  und  begrüßte  sein  Gresetz 
als  Schutz  und  Schirmt  Die  Tatsache  der  irdischen  Welt- 
monarchie mit  ihrem  Kaiser-Gott  beförderte  aber  auch  die  Vor- 
stellung von  der  urbildlichen  himmlischen  Monarchie  und 
schuf  zugleich  die  Bedingung  für  die  Entstehung  einer  katho- 
lischen d.  h.  universalen  Kirche. 

(3)  Der  außerordentlich  erleichterte,  gesteigerte  und  gesicherte 
Weltverkehr^,  die  vorzüglichen  Straßen,  die  Bevölkerungs- 
mischung^,  der  Austausch  der  Güter  und  Ideen,  der  persönliche 
Austausch,  der  allgegenwärtige  Kaufmanii  und  der  allgegenwärtige 
Soldat,  man  darf  hinzufügen  der  allgegenwärtige  Professor,  der 
in  Antiochia  wie  in  Cadix,  in  Alexandria  wie  in  BordeaiLx  zu 
finden  war.     Die  Kirche  fand  also  die  Wege  für  die  Verbreitung 


*)  Origenes  (c.  Celss.  II,  30)  hat  nach  dem  Vorgang  des  Melito  die  Be- 
deutung dieses  Tatbestandes  für  die  Mission  richtig  beurteilt;  „In  Jesu 
Tagen  ging  die  Gerechtigkeit  auf  und  die  Fülle  des  Friedens ;  sie  begann 
mit  seiner  Geburt.  Gott  bereitete  die  Völker  auf  seine  Lehre  vor  und 
machte,  daß  der  römische  Kaiser  die  ganze  Welt  beherrschte ;  es  sollte  nicht 
mehrere  Reiche  geben ,  sonst  wären  ja  die  Völker  einander  fremd  geblieben 
und  der  Vollzug  des  Auftrags  Jesu:  „Gehet  hin  und  lehret  alle  Völker",  den 
er  den  Aposteln  gab,  schwieriger  gewesen.  Es  ist  bekannt ,  das  die  Geburt 
Jesu  unter  der  Regierung  des  Augustus  erfolgte,  der  die  meisten  Völker  zu 
einem  einzigen  Reich  zusammengebracht  und  vereinigt  hatte.  Das  Vorhanden- 
sein mehrerer  Reiche  wäre  für  die  Verbreitung  der  Lehre  Jesu  über  die 
ganze  Erde  hinderlich  gewesen,  nicht  bloß  wegen  der  bereits  genannten  Ur- 
sachen ,  sondern  auch  deshalb ,  weil  die  Völker  dann  gezwungen  gewesen 
wären,  Krieg  zu  führen  und  das  Vaterland  zu  verteidigen. .  .  .  Wie  hätte  da 
diese  friedliche  Lehre,  die  nicht  einmal  gestattet,  an  seinen  Feinden  Ver- 
geltung zu  üben,  durchdringen  und  Annahme  finden  können,  wenn  nicht  bei 
der  Ankunft  Jesu  die  weltlichen  Verhältnisse  allerorts  eine  ruhigere  Gestaltung 
erhalten  hätten  V" 

^)  Vgl.  Stephan  in  Raumers  Histor.  Taschenbuch  1868  S.  1  tf.  Zahn, 
Weltverkehr  und  Kirche  während  der  drei  ersten  Jahrhunderte  (1877).  Die 
Tatsache,  das  nach  einer  Grabinschrift  ein  phrygischer  Kaufmann  die  Reise 
nach  Rom  zweiundsicbzigmal  gemacht  hat,  verdient  immer  wieder  genannt 
zu  werden. 

')  Wo  nur  immer  Inschriften  die  Namen  einer  größeren  Menge  l)ieten 
und  dabei  die  Herkunft  verzeichnen  —  Soldaten,  Pagen,  Märtyrer  usw.  — , 
erregt  die  Vülkermischung  Erstaunen. 


Äußere  Bedingungen  f.  d.  uuiv.  Ausbreitung  d.  christl.  Religion.         |  9 

geebnet,   die   Mittel    parat   und   die    Bevölkerung   in    den    großen 
Städten  so  bunt  und  gesehichtlos,  wie  sie  sie  brauchte. 

(4)  Die  durch  die  Tatsaciie  des  orbis  Romanus  einerseits, 
durch  die  philosophische  Entwickelung  andererseits  erzeugte  oder 
doch  verstärkte  praktische  und  theoretische  Überzeugung  von 
der  wesentlichen  Einheit  des  Menschengeschlechts,  de» 
Menschenrechten  und  Menschenpflichten,  welche  durch  die  wahr- 
haft erleuchtete  römische  Gesetzgebung  —  besonders  in  der  Zeit 
von  Nerva  bis  Alexander  Severus  —  befestigt  wurde.  Die  größte 
und  dauerhafteste  Hervorbringung  des  Kaiserreichs,  das  römische 
Recht,  brauchte  in  wesentlichen  Punkten  von  der  Kirche  nicht 
negiert  zu  werden,  sondern  wurde  vielmehr  von  ihr  bejahte 

(5)  Die  Dekomposition  und  Demokratisierung  der 
alten  Gesellschaft,  der  allmähliche  Ausgleich  zwischen  den 
cives  Romani  und  den  Provinzialen,  den  Griechen  und  den  Bar- 
baren, der  relative  Ausgleich  der  Stände,  die  Hebung  des  Sklaven- 
standes —  also  ein  durch  Zersetzung  für  Neubildungen  bereiteter 
Boden. 

(6)  Die  römische  R  eligionspoli  tik,  welche  durch  ihre 
Toleranz  den  Austausch  der  Religionen  beförderte  und  ihrer 
natürlichen  Geschichte  —  Wachstum,  Umbildung  oder  Absterben  — 
Schwierigkeiten  kaum  bereitete,  wenn  sie  auch  die  tatsächliche 
Verachtung  der  Zeremonien  des  Staatskultus  nicht  duldete.  Das 
schwere  Hemmnis,  welches  die  Aufrechterhaltung  des  Staatskultus 
der  Ausbreitung  der  christlichen  Religion  in  den  Weg  legte,  wurde 
durch  die  Freiheit,  welche  die  Religionspolitik  sonst  gewährte, 
reichlich  aufgewogen. 

(7)  Das  Vereinswesen,  sowie  auch  die  kommunalen  und 
provinzialen  Organisationen.  Jenes  hat  in  mancher  Hinsicht 
den  Boden   für   die  Aufnahme   des  Christentums  bereiten    helfen 


1)  Hier  (zu  Punkt  1—4)  möge  die  berühmte  Zusammenfassung  Renans 
stehen  („Die  Apostel",  Deutsche  Ausgabe  S.  296f.):  „Die  Einheit  des  Reichs 
war  notwendige  Vorbedingung  jedes  umfassenden  Proselytismus,  welcher  sich 
über  die  Schranken  der  Nationalität  erheben  wollte.  Im  4.  Jahrhundert  ward 
das  Reich  sich  dessen  bewußt;  es  wurde  christlich;  es  erkannte  im  Christen- 
tum die  Religion,  die  es  wider  seinen  Willen  großgezogen,  die  Religion,  deren 
Grenzen  durch  die  seinigen  bestimmt  wurden,  die  Eins  mit  ihm  war  und 
fähig,  ihm  ein  zweites  Leben  zu  verschaffen.  Die  Kirche  ihrerseits  gestaltete 
sich  zu  einer  durchaus  römischen  und  ist  bis  auf  unsere  Tage  gleichsam  ein 
Überrest  des  alten  Römerreichs  geblieben.  Hätte  man  zu  Paulus  gesagt, 
Claudius  sei  sein  wirksamster  Mitarbeiter,  und  hätte  man  zu  Claudius  gesagt, 
dieser  von  Antiochia  aufbrechende  Jude  schicke  sich  an,  den  Grund  zu  dem 
dauerhaftesten  Teil  des  kaiserlichen  Gebäudes  zu  legen,  der  eine  wie  der 
andere  würde  im  höchsten  Grad  erstaunt  gewesen  sein.  Und  doch  hätte 
man  damit  die  Wahrheit  gesagt.'" 

2* 


20  Einleitung  und  Gnmdlegung. 

und  hat  in  einigen  Fällen  vielleicht  als  Schutz  für  dasselbe  ge- 
dient; diese  sind  für  die  wichtigsten  kirchlichen  Organisationen 
geradezu  vorbildlich  geworden  und  haben  den  Gemeinden  die 
schwere  Arbeit,  sich  Organisationen  erst  erdenken  und  sie  emp- 
fehlen zu  müssen,  erspart. 

(8)  Das  Eindringen  der  syrischen  und  persischen 
Religionen  in  das  Reich,  namentlich  von  der  Zeit  des  Pius  an, 
Religionen,  die  gewisse  Züge  mit  dem  Christentum  gemeinsam 
hatten.  Was  sie  der  Kirche  an  Zuwachs  zunächst  entzogen,  er- 
setzten sie  reichlich  durch  die  neuen  religiösen  Bedürfnisse,  die 
sie  in  den  Gemütern  erzeugten,  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung 
letzlich   der  Rezeption    des  Christentums   zugute   kommen    mußte. 

(9)  Der  durch  die  Demokratisierung  der  Gesellschaft  und 
die  gleichzeitige  Popularisierung  der  Wissenschaft  sowie  durch 
unbekannte  Gründe  eingetretene  Verfall  der  exakten  AVis- 
senschaften  und  das  steigende  Ansehen  einer  nach  Offen- 
barungen suchenden  und  Wunder  begehrenden,  mysti- 
schen R  e  I  i  g  i  o  n  s  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e . 

Alle  diese  äußeren  Bedingungen  zusammen  —  die  letzteren 
beiden  können  bereits  zu  den  inneren  gerechnet  werden  —  haben 
einen  großen  Umschwung  in  dem  ganzen  Dasein  der  Menschen 
in  der  Kaiserzeit  herbeigeführt,  einen  Umschwung,  der  der  Aus- 
breitung der  christlichen  Religion  sehr  förderlich  sein  mußte.  Die 
enge  Welt  war  weit,  die  gespaltene  einheitlich,  die  barbarische 
griechisch  und  römisch  geworden.  Ein  Imperium,  eine  Welt- 
sprache, eine  Kultur,  eine  gemeinsame  Entwickelung  zum  Mono- 
theismus  uiul    eine   gemeinsame  Sehnsucht   nach  Heilanden^! 


')  Sehr  richtig  sagt  Uhlhorn,  Die  christliche  Liebestätigkeit  in  der 
alten  Kirche  (1882)  S.  37:  „Seit  der  Kaiserzeit  machte  sich  eine  andere 
Strömung  bemerkbar.  Man  versteht  die  ersten  Jahrhunderte  der  christlichen 
Kirche  nicht,  man  versteht  namentlich  ihre  schnelle  Ausbreitung  nicht,  und 
daß  sie  verhältnismäßig  schnell  zum  Siege  kam.  wenn  mau  diese  Strömung 
nicht  beachtet.  .  .  .  Wäre  die  von  Christo  ausgehende  neue  Lebensströmung 
mit  dem  noch  ganz  ungebrochenen  antiken  Leben  zusammengetroffen,  so 
würde  sie  an  diesem  Felsen  wirkungslos  zurückgeprallt  sein.  Nun  ist  aber 
das  antike  Leben  schon  in  der  Zerbröckelung  begi'iffen,  die  starren  Grund- 
sätze desselben  fangen  schon  an,  sich  zu  erweichen,  ja  es  kommt  der  christ- 
lichen Strömung  .schon  eine  ihr  verwandte  im  Judentum  entgegen.  Im  römi- 
schen Reiche  hat  sich  ein  der  antiken  Welt  unbekannter  Universalisnnis 
angebahnt,  die  Nationalitäten  sind  aufgerieben,  das  allgemeine  Menschentum 
ringt  sich  aus  der  Hülle  der  Nationalität  los;  den  Stoikern  ist  der  (iedanke 
aufgegangen,  daß  alle  Menschen  gleich  sind,  sie  reden  von  Brüderlichkeit 
und  den  Pflichten  des  Menschen  gegen  andere  Menschen.  Die  bis  dahin 
ganz  verachteten  niederen  Stände  gewinnen  Raum.  Die  Behandlung  der 
Sklaven  wird  milder.  Hat  sie  Cato  zu  den  Ochsen  auf  die  Streu  verwiesen, 
so  sieht  Plinius  in  ihnen  seine  .dienenden  Freunde".     Der  Handwerkerstand 


Innere  Bedingungen  f.  d.  univ.  Ausbreitung  d.  christl.  Religion.         21 


Drittes  Kapitel. 

Innere  Bedingungen  für  die  universale  Ausbreitung  der 
christlichen  Religion  (der  religiöse  Synkretismus). 

Eine  Reihe  wichtiger  innerer  ]>ediny'ungen  für  die  universale 
Ausbreitung  der  christlichen  Religion  wird  in  späteren  Abschnitten 
zur  Sprache  kommen:  daß  das  Christentum  Predigt  für  die  Armen, 
für  die  Beladenen,  für  die  Ausgestoßenen  war,  daß  es  Liebe 
predigte  und  Liebe  übte,  das  verwandelte  felsiges  und  dürres 
Erdreich  in  fruchtbares  Ackerfeld  für  die  Kirche.  Wo  keine 
andere  Religion  säen  und  ernten  konnte,  da  vermochte  diese 
Religion  ihren  Samen  zu  streuen  und  Frucht  zu  schaffen. 

Die  entscheidendste  Vorbedingung  aber  für  die  Propaganda 
der  Religion  lag  in  den  religiösen  Gesamtzuständen  der  Kaiser- 
zeit, Es  ist  unmöglich,  hier  den  Versuch  zu  machen,  Bilder  von 
diesen  Zuständen  zu  entwerfen.  Man  kann  auch  nicht  auf  ein 
klassisches  Werk  verweisen,  welches  der  ungeheueren  Aufgabe 
wirklich  gerecht  geworden  ist,  so  ausgezeichnete  Untersuchungen 
und  Schilderungen  wir  besitzen.  Ich  erinnere  an  die  Werke  von 
Tzchirner,  Friedländer,  Boissier,  Reville  und  WissowaK 
Unter  solchen  Umständen  müssen  wir  uns  begnügen,  einige  An- 
deutungen in  Bezug  auf  zwei  Hauptlinien  zu  geben. 

(1)  Trotz  der  inneren  Entwickelung  des  Polytheismus  zum 
Monotheismus  bezeichnet  der  Gregensatz  zwischen  beiden  das  Ver- 
hältnis von  Christentum  und  Heidentum,  und  zwar  kommt  der 
Polytheismus  in  erster  Linie  als  politische  Religion  (Kaiserkultus) 
in  Betracht.  Von  hier  aus  sind  Christentum  und  Heidentum 
einfach  Antipoden:  jenes  verbrennt,  was  dieses  anbetet,  und  dieses 
verbrennt  die  Christen  als  Hochverräter.  Die  christlichen  Apolo- 
geten und  Märtyrer  haben  ganz  recht,  wenn  sie  häufig  in  ihren 
Reden  alles  auf  diesen  einfachen  Gegensatz  zurückführen  und  von 
anderem  schweigen. 


hebt  sich,  die  Freigelassenen  arbeiten  sich  empor.  Die  Kollegien  bieten 
ihnen  nicht  bloß  eine  Stätte  geselligen  Lebens,  sondern  auch  eine  Förderung 
ihrer  sozialen  Stellung.  Die  Frauen,  bisher  rechtlos,  bekommen  in  wach- 
sendem Maße  Rechte.  Man  nimmt  sich  der  Kinder  an.  Die  anfangs  rein 
politische  Institution  der  Getreidespendeu  wird  zu  einer  Art  Armenpflege. 
Immer  häufiger  liegegnen  uns  Akte  der  Liberalität,  Schenkungen,  Stiftungen, 
die  schon  mehr  humanen  Charakter  tragen"  usw. 

')  Vgl.  auch   den  Abriß  der  Geschichte   der  griechischen  Religion  von 
Wilamowitz-Moellendorff  (Jahrb.  des  Freien  deutschen  Hochstifts,  1904). 


22  Einleitung  und  C4rundlegung. 

Das  Judentum  teilte  mit  dem  Christentum  diese  Stellung  zum 
Polytheismus,  aber  (1)  es  war  eine  nationale  Religion,  und 
daher  wurde  sein  Monotheismus  in  weiten  Ki'eisen  gar  nicht  ver- 
standen und  somit  geduldet,  (2)  es  vermied  in  der  Regel  den 
Konflikt  mit  der  Staatsgewalt  und  verpflichtete  nicht  zum  Mar- 
tj'rium.  Die  Bedingung,  man  müsse  Jude  werden,  um  Monotheist 
zu  sein,  war  Ja  auch  unverständig;  sie  setzte  den  Schöpfer  Himmels 
und  der  Erde  zu  einem  Nationalgott  herab.  War  er  aber  ein 
Nationalgott,  so  war  er  nicht  der  einzige.  Man  munkelte  wohl 
auch  im  Reiche  vom  jüdischen  Atheismus,  weil  die  Bilder  fehlten; 
aber  rechten  Ernst  hat  man  mit  diesem  Vorwurf  hier  nicht 
gemacht  oder  vielmehr,  man  schwankte  in  der  Beurteilung  hin 
und  her,  und  die  politische  Konsequenz  dieses  Schwankens  war: 
in  dubio  pro  reo. 

Anders  stand  es  mit  dem  Christentum;  die  Göttergläubigen 
konnten  hier  nicht  zweifelhaft  sein:  verlassen  von  der  Unterlage 
einer  Nation  und  eines  Staates,  ohne  Bilder  und  ohne  Tempel, 
war  es  Atheismus.  Der  Gegensatz  zwischen  Polytheismus  und 
Monotheismus  war  hier  reinlich  imd  schroff.  Der  Kampf  zwischen 
den  beiden  Religionsformen  ist  seit  dem  zweiten  Jahrhundert 
vom  Christentum  und  nicht  vom  Judentum  geführt  worden.  Jenes 
war  aggressiv;  dieses  hat  im  Grunde  überhaupt  nicht  mehr  ge- 
kämpft, sondern  es  hat  Proselyten  gefangen. 

Aber  der  Kampf  war  von  Anfang  an  kein  aussichtsloser. 
Zwar  war  der  Polytheismus  des  Staatskultus  längst  noch  nicht 
entwurzelt,  als  das  Christentum  auf  den  Plan  trat^;  aber  es 
waren  Mächte  genug  vorhanden,  die  bereits  an  seinem  Sturze 
arbeiteten.  Die  kritische  Epoche,  da  sich  die  Republik  in  die 
Dyarehie  und  Monarchie  verwandelte,  hat  er  noch  überstanden, 
aber  die  Fülle  der  neu  auf  ihn  eindringenden  und  ihn  zersetzenden 
Religionen  hat  er  mit  dem  Zauberstab  des  Kaiserkults  nicht  un- 
schädlich machen,  mit  dem  Strahle  des  alles  durchdringenden, 
proteusartigen  Sonnenkults  nicht  zerteilen  können.  Doch  —  es 
wäre  ihm  wohl  noch  ein  langes  Leben  beschieden  gewesen,  wären 
die  Welterkenntnis,  die  Philosophie,  die  Ethik  nicht  seine  offenen 
oder  geheimen  Gegner  geworden,  und  wäre  er  nicht  mit  Mytho- 
logien von  lächerlicher  und  empörender  Rückständigkeit  belastet 
gewesen.  Staatsmänner,  Dichter  und  Philosophen  konnten  sich 
darüber  hinwegsetzen  —  jede  dieser  Gruppen  fand  einen  Weg, 
auf  dem  sie  den  Kontakt  mit  der  Vergangenheit  zu  wahren  ver- 
mochte — ,  aber  das  „Volk",    einmal  aufmerksam  geworden  oder 


')  Selbst   erfolgreiche  Restaurationen  haben   nicht   gefehlt;    s.  die  An- 
deutungen sub  2)  in  diesem  Abschnitt. 


Innere  Bedingungen  f.  d.  univ,  Ausbreitung  d.  christl.  Religion.         23 

aufmerksam  gemaclit,  ziclit  in  solchen  Fällen  die  rücksichtslose 
Konsequenz.  Für  weite  Kreise  ist  der  Kampf  gegen  die  befiederten 
und  beschn])pton,  die  ehebrechorischen  und  mit  Lastern  behafteten 
Gottheiten  mid  wiederum  gegen  die  Götzen  von  Holz  und  Stein 
der  eindrucksvollste  und  wirksamste  Bestandteil  in  der  christlichen 
Predigt  gewesen.  Weite  Kreise  bis  in  die  unteren  Volks- 
schichten hinein  —  ja  hier  sind  sie  hauptsächlich  zu  suchen  — 
waren  (hu'ch  innere  und  äußere  Erfahrungen  eben  jetzt  so  weit, 
daß  die  Hammenden  Worte  gegen  den  Greul  des  Götzendienstes 
sie  packen  und  zum  Monotheismus  führen  mußten.  Die  Lage,  in 
der  sich  der  Polytheismus  als  Staatsi-eligion  befand,  war  der 
Propaganda  des  Christentums  günstig.  Religion  stand  gegen 
Religion,  aber  die  eine  war  neu  und  lebendig,  die  andere  war 
—  abgesehen  von  dem  Kaiserknlt,  in  welchem  sie  noch  einmal 
ihre  ganze  Stärke  zusammenfaßte  —  alt,  und  niemand  vermochte 
zu  sagen,  was  eigentlich  aus  ilir  geworden  war.  War  sie  nichts 
als  politische  Legalität,  oder  war  sie  die  vielfach  verschlungene, 
unübersehbare  Menge  der  religiones  licitae  im  Reiche? 

(2)  Doch  hiermit  ist  nur  die  eine  Seite  der  Sache  berührt. 
Die  religiösen  Zustände,  Strebungen  und  Bildungen  waren  in  der 
Kaiserzeit  kompliziert.  So  wichtig  die  einfachen  Gegensätze 
„Monotheismus  gegen  Polytheismus",  „strenge  Sittlichkeit  gegen 
Laxheit  und  Laster"  waren,  so  unmöglich  ist  es  doch,  die  innere 
Lage  mit  diesen  Gegensätzen  zu  umspannen.  Weder  ist  der  Zustand 
im  Reiche  durch  das  Wort  „Polytheismus"  genügend  bezeichnet, 
noch  ist  das  Christentum,  wie  es  verkündigt  wurde,  Monotheismus 
schlechthin,  noch  standen  sich  Tugend  und  Laster  einfach  gegen- 
über.    Wir  müssen  hier  etwas  ausholen. 

AVer  den  Prinzipat  des  Innenlebens  über  der  äußeren  Empirie 
und  über  dem  Staatlichen  für  Illusion  und  Verderbnis  hält,  muß  die 
Zersetzung  der  Antike  bereits  von  Sokrates  und  Plpto  ab  datieren.  /  ^ 
Hier  scheiden  sich  die  Geister!  Wer  aber  die  Entwickelung  jenes 
Prinzipats  für  den  höchsten  Fortschritt  hält,  ist  doch  nicht  ge- 
nötigt, mit  dieser  Entwickelung  his  zum  ÜS^euplatonismus  vorzu- 
schreiten. Zwar  wird  er  nicht  verkeiuien,  daß  es  bis  zuletzt, 
d.  h.  bis  zu  Augustin,  an  wahrhaften  Fortschritten  nicht  gefehlt 
hat;  aber  er  wird  einräumen,  daß  sie  teuer,  zu  teuer  erkauft 
worden  sind.  Die  Fehlentwickelmig  begann,  als  die  Innenschau 
ihr  Correlat,  die  exakte  Naturwissenschaft,  zu  mißachten  anfing 
und  verkümmern  ließ,  und  als  sie  sich  der  Mystik,  Theurgie,  Astro- 
logie oder  Magie  zuwandte.  Schon  mehr  als  hundert  Jahre  vor 
der  christlichen  Zeitrechnung  hat  dieser  Prozeß  seinen  Anfang  ge- 
nommen; mit  einem  Januskopf  steht  Posidonius  an  der  Schwelle 
des  Überganges  zweier  Weltanschammgen.     Er   huldigt  einerseits 


24  Einleitung  und  Grundlegung. 

noch  einem  rationalen  Tdealismus,  aber  er  verbindet  ihn  bereits 
mit  alogischen  und  mystischen  Elementen.  Das  Tragische  ist, 
daß  diese  Elemcmte  gesucht  und  aufgenommen  werden  müssen, 
um  neue  Gefühlswerte  auszudrücken,  deren  Sicherstellung  dem 
rationalen  Idealismus  mit  seinen  Mitteln  nicht  gelingen  kann, 
weil  er  hülflos  im  Intellektualismus  festgebannt  ist  und  sogar  die 
Sprache  versagt,  wenn  es  gilt.  Werte  zu  fixieren,  die  nicht  in- 
tellektueller Natur  sind.  So  tritt  das  'Y7TEgvot]TÖv  auf.  und  dieser 
Begriff  zieht  in  steigendem  Maße  den  Mythus  und  das  Absurde 
heran  und  läßt  es  kritiklos  passieren.  Der  Mythus  ist  nun  nicht 
mehr  bloß  Symbol,  sondern  er  wird  zum  Stoff,  in  welcliem  sich 
höhere  Bedürfnisse  des  Gemütes  und  der  Religion  ausdrücken, 
weil  ihre  wirkliche  Natur  und  Art  den  Denkern  verschlossen  bleibt. 
Die  nächste  Stufe  nach  Posidonius  ist  Philo. 

Ein  Rückfall  in  überwundene  Stufen  mußte  die  Folge  sein ; 
aber  zugleich  trägt  dieser  Rückfall,  wie  immer,  kräftige  Züge  einer 
traurigen  Neuerung.  Die  alte  Mythologie  war  naiv  oder  politiscli 
und  lebte  in  der  Ceremonie;  die  neue  wird  eine  Konfession, 
wird  philosophisch,  pseudophilosophisch  und  gewinnt  nun  erst 
Macht  über  den  Geist.  Sie  verblödet  ihn  allmählich  und  —  ihr 
höchster  Triumph !  —  bringt  ihn  um  den  Sinn  für  das  Wirkliche 
und  lähmt  die  Funktionen  aller  Simie.  Die  Augen  werden  dunkel, 
und  die  Ohren  hören  nicht  mehr.  Mit  diesen  Begleiterscheinungen 
setzt  eine  Neubelebung  und  Restauration  des  religiösen  Sinns  — 
als  Folge  der  philosophischen  Entwickelung  —  etwa  beim  Aus- 
gang des  I .  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  ein.  Sie  erfaßt 
allmählich  alle  Schichten  der  Gesellschaft  und  hat  sich  seit  der 
Mitte  des  2.  Jahrhunderts  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  gesteigert. 
In  doppelter  Weise  —  in  solch  dualer  Entwicklung  stellen  sich 
religiöse  Erhebungen  stets  dar  —  hat  sie  sich  bemerkbar  gemacht : 
erstlich  in  den  nicht  erfolglosen  Yer.suchen,  die  alten  Religionen 
zu  beleben  und  einzuschärfen,  die  überlieferten  Gebräuche  pünkt- 
licher einzulialten  und  die  Orakelstätten  und  Kultusorte  zu  restau- 
rieren. Indessen  kamen  die  neuen  religiösen  Bedürfnisse  der  Zeit 
in  diesen  Yersuchen,  die  zum  Teil  von  oben  und  künstlich  gemacht 
wurden,  weder  kräftig  noch  ungetrübt  zum  Ausdruck.  Auch  hat 
das  Christentum  zu  dieser  Restauration  der  Religion  schlechter- 
dings kein  Verhältnis  besessen  —  zwei  verschiedene  prößen,  die 
sich  gegenseitig  nicht  verstanden,  stießen  hier  aufeinander:  die 
eine  mußte  versuchen,  die  andere  auszurotten  (s.  oben).  Aber  die 
Belebung  der  Religion  hat  sich  zweitens  in  einer  viel  energischeren 
Weise  vollzogen: 

Seit  den  Tagen  Alexanders  und  seiner  Nachfolger  und  sodann 
seit  den  Tagen  des  Auürustus  standen  die   Völker,  auf  deren  Eut- 


Innere  Bedingungen  f.  d.  univ.  Ausbreitung  d.  cliristl.  Religion.  25 

wickeluni^  der  Fortschritt  der  Monschhoit  beruhte,  unter  einem 
neuen  Zeichen.  Der  große  Umschwung  in  den  äußeren  Be- 
dingungen ilires  Daseins  ist  oben  hervorgehoben  worden;  ihm 
entspracli,  zum  Teil  als  Folge,  ein  innerer,  religiöser  Umschwung, 
der  nicht  zum  mindestens  auf  der  Religionsmischung,  vor  allem 
aber  auf  der  fortschreitenden  Kultur  und  innerer  und  äußerer 
Erfahrung  beruhte.  Zwar  für  die  Völker  vom  Euphrat-  und  Tigris- 
land, ja  von  Fersien'^  bis  nach  Ägypten  läßt  sich  der  Zeitpunkt 
nicht  angeben,  an  welchem  die  Religionsmischung  begonnen  hat: 
soweit  wir  die  Geschichte  rückwärts  zu  verfolgen  imstande  sind, 
haben  diese  Völker  und  deshalb  auch  ihre  Religionen  in  einem 
Austausch  gestanden  und  sich  gegenseitig  mit  ihrer  Religiona- 
weisheit  beschenkt.  Nun  aber  war  das  Griechentum  mit  dem 
ganzen  Kapitale  seiner  in  heißer  und  freudiger  Arbeit  erworbenen 
Kenntnisse  und  Ideen  hinzugetreten,  aufgeschlossen  für  jedes  Ele- 
ment, welches  der  Orient  ihm  bot,  und  wiederum  jedes  Element 
seiner  eigenen  Wissenschaft  und  Spekulation  unterwerfend. 

Was  durch  den  Austausch  der  orientalischen  Religionen, 
die  israelitische  eingeschlossen,  schon  vorher  erreicht  worden  war, 
hat  die  Wissenschaft  vor  hundert  Jahren  „Orientalische  Religions- 
philosophie" genannt,  mit  diesem  Ausdruck  einen  weiten  Komplex 
von  kultischen  Riten,  Kultusweisheit,  religiösen  Ideen  und  wissen- 
schaftlichen Spekulationen  (astronomischen  und  anderen  ins  Reli- 
giöse erhobenen  Erkenntnissen)  bezeichnend,  der  so  unbestimmt 
war,  wie  der  Name ,  der  ihn  umspannen  sollte.  Sehr  viel  weiter 
sind  wir  auch  heute  noch  nicht  gekommen  - ;  aber  etwas  be- 
stimmter können  wir  doch  jenen  Komplex  fassen.  Die  beste  Hilfe 
leistet  ims  dabei  —  das  erscheint  paradox  —  der  christliche 
Gnosticismus ;  denn  nirgendwo  anders  werden  uns  so  deutliche  und 
zusammenhängende  Ausführungen  geboten  wie  hier. 

Ich  werde  es  im  folgenden  versuchen,  die  wichtigsten  Stücke 
des  „Orientalismus"  hervorzuheben,  der  natürlich  in  sich  nicht 
geschlossen  war,  sondern  an  jedem  IIaupt])unkte  verschieden- 
artige Stoffe  und  Gedanken  bot.  Charakteristisch  ist  überall,  daß 
der  Glaube  an  die  überlieferten  mythologischen  Stücke  in  rea- 
listischer Form  noch  keineswegs  erloschen  war  bez.  sich  wieder 
erhob,  daß  aber  Ideen  an  sie  geheftet  wurden.  Wo  und  in 
welchem  Maße  die  Ideen  überwogen  und  das  Realistische  auf  die 
Stufe    des   Symbols   herabdrückten,    das   ist    im    einzelnen  Fall    in 


^)  Ob  und  inwieweit  auch  Indien  beteiligt  ist,  ist  eine  Kontroverse,  die 
noch  nicht  erledigt  ist;  doch  ist  eine  Beteiligung  wahrscheinlich. 

-)  Namentlich  die  Herkunft  der  einzelnen  Elemente  ist  in  vielen  Fällen 
dunkel  —  ob  indisch,  persisch,  babylonisch,  voi'derasiatisch,  ägyptisch  etc., 
ob  aus  spontaner  Entwickelung  erzeugt. 


26  Einleitung  und  Grundlegung. 

der  Regel    nicht    zu    ermitteln,    nnd    dieser   Umstand    läßt    unser 
Wissen    um    den    „Orientalismus"    als    ein    sehr   unvollkommenes 
erseheinen:    denn   was  hilft  es.   ein  Mythologumenon  für  eine  be- 
stimmte Zeit   und  einen  bestimmten  Kreis  zu   konstatieren,   wenn 
wir  nicht  feststellen  können,    welche  Geltung    es    gehabt    hat? 
Wurde  es  festgehalten,  wie  es  lautet,  oder  war  es  in  eine  Idee  um- 
gesetzt, oder  war  es  ein  Bild,  oder  ein  Gegenstand  unverstandener 
Pietät,  oder  war  es  gar  nur  noch  eine  Arabeske  ?    Hatte  es  eine 
theologische  Bedeutung  oder  eine  kosmologische.  oder  eine  ethische 
oder   eine   historische?     Berichtete    es    von   etwas,    was    einst   in 
grauer   Vorzeit  geschehen    war,    oder  was  jetzt  noch   fortdauert, 
oder    was    sich    erst   in    der    Zukunft    verwirklichen   wird?      Oder 
wogten    diese    Deutungen    und    Wertungen    alle    durcheinander? 
Wurde    das    Mythologumenon    als    eine    heilige,    aber    gleichsam 
unbestimmte  Größe  empfunden,  fähig,   sich  mit  jedem  denkbaren 
Koeffizienten  zu  vereinigen  und  dem  Exponenten  jeder  beliebigen 
Deutung  als  Basis  zu  dienen?     Ich  denke,    die  letztere  Frage  ist 
zu  bejahen  und  zugleich  nicht  außer   acht  zu  lassen,    daß   gleich- 
zeitig   und    in    einem   und   demselben   Kreise    die   verschiedensten 
Koeffizienten    an   das  Mythologumenon  herangerückt  worden   sind. 
Nicht  zu  übersehen  ist  auch  die  Mannigfaltigkeit  der  Ursprünge 
der  Mythologumena.     Die  ältesten  stammten  aus   der  primitivsten 
Naturanschauung,    in   der  die  Wolken  das  Licht  bekämpften   und 
die  Nacht  die  Sonne  fraß,  oder  aus  dem  Wunder  der  Zeugung  und 
dem  Schrecken  des  Todes.   Oder  sie  stammten  aus  dem  Traumleben 
der  Seele,   der  aus  ihm  abgeleiteten  Spaltung   der  Seele  und  des 
Körpers,    und    dem   Seelenkulte.      Die   nächste   Schicht  mag   aus 
alten   geschichtlichen  Erinnerungen    entstanden    sein,    phantastisch 
vergrößert   und   ins  Übernatürliche  gesteigert.      Dann   folgt,    was 
aus    den    ersten    „wissenschaftlichen"  Versuchen    übrig    geblieben 
und   nicht  weiter    fortgebildet  war.    Himmels-  und  Natiu-beobach- 
tungen,  die  zur  Erkenntnis  von  Regelmäßigkeiten  geführt  hatten, 
verbunden  mit  religiösen  Anschauungen,  alles  noch  seelisch  belebt 
und  mit  Kräften  des  Bewußtseins  ausgestattet.     Auf  dieser  Schicht 
erheben   sich    nun   die   großen  Religionen  des  Orients,    wie  sie  in 
historischer  Zeit   bestanden   haben,    mit   ihren  besonderen  Mytho- 
logien   und    ihrer   Kultweisheit.     Dann    folgt    die  Schicht   der    be- 
grifflich    (mtwickelten    und    mit    der    erstarkten    philosophischen 
Wissenschaft   in  Verbindung  gesetzten  Religion,    halb  Apologetik 
und   halb   Kritik ;    auch   in  ihr   sind  noch  Mythologumena  gebildet 
worden.     Endlich   entsteht  die   letzte  Schicht  —  die  Verglctsche- 
rung   der   alten  Phantasien  und  Religionen   durch  ein  neues,   aus 
äußerer   und    innerer    Erfahrung    erzeugtes  Weltbild.      Es   mischt 
durch  den  Druck  alles,  was  vorher  gewesen,  durch  einander,  preßt 


Innere  Bedingungen  f.  d.  univ.  Ausbreitung  d.  christl.  Religion.         27 

Fernliegendos  zusammon,  zerbricht  alle  Strukturen,  schiebt  eine 
breite  Moräne  von  'rrüninierstncken  vor  sich  her,  in  der  sich  die 
Elemente  aller  früheren  Schichten  tinden,  und  bedeckt  seine  eigene 
Oberfläche  mit  denselben.  Das  ist  der  „Synkretismus".  Von 
ferne  gesehen,  bietet  auch  er  ein  einheitliches,  wenn  aiich  buntes 
Bild;  aber  was  man  zu  sehcm  bekommt,  sind  nicht  die  Kräfte, 
die  ihn  gestaltet  haben.  Was  erscheint,  ist  das  Alte;  die  neuen 
Elemente  liegen  in  der  Tiefe  unterhalb  der  Erscheinungen. 

Diese  neuen  Elemente  sind  die  politisch-sozialen  Erfahrungen 
und  die  innere  Beobachtung.  Es  scheint,  daß  noch  vor  Berührung 
mit  dem  griechischen  Geiste  der  „Orientalismus"  diese  Stufe  ge- 
wonnen hat;  indessen  gehört  es  zu  den  empfindlichsten  Lücken 
unserer  religionsgeschichtlichen  Kenntnisse,  daß  wir  nicht  zu  ent- 
scheiden verm()gen,  wie  viel  wir  der  selbständigen,  vom  griechischen 
Geiste  noch  unberührten  Entwickehmg  des  „(Jrientalismus"  zuzu- 
schreiben haben.  Wir  müssen  uns  begnügen,  festzustellen,  was 
geworden  ist.  Die  neue  Erkenntnis  und  Stimmung,  die  geworden 
ist  und  uns  auf  dem  Boden  des  Hellenismus  (der  in  der  Ent- 
wickelung  seiner  alten  Mysterien  und  in  seiner  Philosophie,  dem 
fortgebildeten  Platonismus,  mit  dem  „Orientalismus"  zusammen- 
traft) begegnet,  war  etwa  folgende^: 

(1)  Die  scharfe  Teilung  zwischen  Seele  (Geist)  und 
Leib,  die  mehr  oder  weniger  exklusive  Scliätzung  des  Geistes 
imd  die  Vorstellung,  daß  derselbe  aus  einer  anderen,  höheren 
Welt  stamme  und  ewiges  Leben  in  sich  trage  oder  doch  zu  ihm 
befähigt  sei.     Der  damit  gesetzte  Individualismus. 

(2)  Die  scharfe  Teilung  zwischen  Gott  und  Welt  und 
die  Zerstörung  der  naiven  Vorstellung  ihrer  Zusammengehörigkeit 
und  Einheit. 

(3)  Als  Folge  der  Teilungen:  die  Sublimierung  der  Gott- 
heit  via  negationis  et  eminentiae:    nun  erst  ist  sie  unfaßbar,  un- 

^)  Das  Konvergieren  der  Entwickelungslinien  bei  den  verschiedenen 
Völkern  im  Zeitalter  des  Hellenismus  ist  eine  der  sichersten  Erkenntnisse. 
Nicht  nur  durch  Austausch  sind  damals  übereinstimmeude  oder  ähnliche 
Bildungen  zu  Stande  gekommen ,  sondern  auch  durch  Parallelentwickelung. 
Dies  erschwert  aber  die  Entscheidung,  auf  welchem  Aste  diese  oder  jene 
Erscheinung  gewachsen  ist ,  ja  macht  sie  in  vielen  Fällen  unmöglich.  Die 
Gleichartigkeit  der  Parallelentwickeluug  umfaßte  aber  nicht  nur  die  Ideen, 
sondern  oftmals  auch  die  Mittel  und  Anschauungsformen ;  denn  der  mensch- 
lichen Phantasie  sind  hier  engere  (/irenzeu  gezogen,  als  man  gemeinhin  an- 
nimmt. 

-)  Man  vgl.  hierzu  die  Abhandlung  von  Loofs,  „Die  Krisis  des  Christen- 
tums im  2.  Jahrhundert"  (Deutsch-evaugel.  Blätter  1904,  Heft  7),  in  welcher 
das  Problem  geschildert  ist,  welches  sich  aus  dem  Zusammentreffen  des 
Christentums  mit  dem  Synkretismus  ergab.  Dazu  die  einschlagenden  Aus- 
führungen in  Wernles  , Anfängen  unserer  Religion",  2.  Aufl.,  1904. 


28  Einleituug  und  Grundlegung. 

beschreiblich,  aber  auch  groß  und  gut:  sie  ist  auch  Urgrund  aller 
Dinge,  aber  letzter,  nur  statuierter,  nicht  wirklich  faßbarer. 

(4)  Ferner  als  Folge  der  Teilungen  und  der  exklusiven 
Schätzung  des  Geistes:  die  Erniedrigung  der  Welt,  die  Er- 
klärung, daß  sie  besser  nicht  wäre,  daß  sie  aus  einer  Verfehlung 
entstanden  sei,  daß  sie  für  den  Geist  Gefängnis,  im  besten  Fall 
Zuchthaus  sei. 

(5)  Die  Überzeugung,  daß  die  Verbindung  mit  dem 
Fleische,  ,,diesem  befleckten  Rock",  für  den  Geist  erniedri- 
gend und  verunreinigend  sei,  ja  daß  er  zerfallen  müsse, 
wenn  die  Verbindung  nicht  gelöst  oder  ilir  nicht  die  Macht  ge- 
nommen wird. 

(6)  Die  Sehnsucht  nach  Erlösung  als  Erlösung  von  der 
Welt,  dem  Fleische,  der  Endlichkeit  und  dem  Tode. 

(7)  Die  Überzeugung,  daß  alle  Erlösung  Erlösung  zum  ewigen 
Leben  ist,  daß  sie  aber  gebunden  ist  an  Erkenntnis  und  Ent- 
sühnung:  nur  die  erkennende  (die  sich  selbst,  die  Gottheit  und 
das  Seiende  in  seinem  Sein  und  Wert  erkennende)  und  die  reine 
(entsühnte)  Seele  kann  gerettet  werden. 

(8)  Die  Gewißheit,  daß  sich  die  Erlösung  der  Seele 
als  Rückkehr  zu  Gott  ebenso  stufenweise  vollzieht,  wie 
sich  einst  die  Tremiung  der  Seele  von  Gott  stufenweise  vollzogen 
hat,  bis  sie  in  dies  Jammertal  gelangt  ist.  Alle  Belehrung  über 
die  Erlösung  ist  daher  Belehrung  über  „die  Rückkehr  und  den 
Weg",  und  der  Vollzug  der  Erlösung  ist  nichts  anderes  als  stufen- 
weiser Aufstieg. 

(9)  Der  freilich  unsichere  Glaube,  daß  die  erhoffte  Er- 
lösung bez.  der  Erlöser  schon  vorhanden  sei  und  nur  auf- 
gesucht werden  müsse  —  vorhanden  entweder  in  einem  alten 
Kult,  der  nur  in  die  richtige  Beleuchtung  zu  setzen  sei,  oder  in 
einem  Mysterium,  das  allgemeiner  zugänglich  gemacht  werden 
müsse,  oder  in  einer  Persönlichkeit,  deren  Kraft  und  Gebot  man 
zu  folgen  habe,  oder  in  dem  Geiste  selbst,  wenn  er  sich  nur  auf 
sich  besinne. 

(10)  Die  Überzeugung,  daß  alle  erlösenden  Mittel  sich 
zwar  der  Erkenntnis  bedienen  sollen,  aber  sich  in  ihr  nicht  er- 
schö[)fen  können,  vielmehr  letztlich  eine  wirkliche  göttliche 
Kraft  real  zuführen  und  übertragen  müssen:  nur  die  mit 
der  Erkenntnismitteilung  verbundene  „Weihe"  (das  Mysterium, 
das  Sakrament),  die  den  Geist  überwältigt,  erlöst  wirklich  und 
führt  ihn  durch  den  mystischen  Exzeß  aus  dem  Gefängnis,  der 
Endlichk(üt  und  der  Sünde. 

(11)  Die  in  dem  allen  enthaltene,  ja  ihm  zu  Grunde  liegende 
p]insicht.  daß  Welterkenntnis.  Reliürion  und  streno^e  ethische 


Innere  Bedingungen  f.  d.  univ.  Ausbreitung  d.  christl.  Religion.         29 

Disziplinierung'  des  individuellen  Lebens  eine  geschlossene 
Einheit  bilden  müssen  —  eine  exklusive  Einheit,  die  mit  Staat, 
Gesellschaft,  Familien-  und  Berufsordnimg  schlechterdings  nichts 
zu  tun  hat  und  sich  daher  in  Bezug  auf  alle  diese  Gebiete  ne- 
gierend d.  h.  als  Askese  verhalten  muß. 

Seele.  Gott,  Erkenntnis,  Entsühnung,  Askese,  Er- 
lösung, ewiges  Leben,  demgemäß  Individualismus  und 
Menschentum  an  Stelle  des  Nationalismus:  das  sind  die  er- 
habenen —  aber  in  ernsthaft  genommenen  Mythen  ausgedrückten  — 
Gedanken,  die  als  der  Niederschlag  tiefer  innerer  und  äulkrer 
Bewegungen,  als  das  Produkt  der  Arbeit  großer  Geister  und  als 
die  Sublimierung  aller  Kulte  in  der  Kaiserzeit  lebendig  und  eine 
Macht  waren.  Wo  es  wirkliche  Religion  gab,  da  atmete  sie 
in  diesem  Kreise  von  Erfahrung  und  Gedanken.  Wie  viele  es 
waren,  die  in  ihm  lebten,  ist  gleichgültig:  der  Glaube  ist  nicht 
jedermanns  Ding,  und  die  Religionsgeschichte,  sofern  sie  wirklich 
Geschichte  der  lebendigen  Religion  ist,  läuft  stets  nur  auf  einer 
schmalen  Linie. 

Wunderbar  aber  ist  es,  unter  wie  vielen  verschiedenen  Ver- 
brämungen diese  Gedanken  umliefen!  Sie  bedurften  an  sich  eines 
großen  Apparats,  wie  alle  religiösen  Welterklärungen,  welche 
monistische  und  dualistische  Theorien  in  eine  Einheit  bringen 
wollen.  Aber  hier  gefiel  man  sich  noch  darin,  den  Apparat  zu 
steigern,  teils  um  alles  mögliche  Alte  und  wertvoll  Scheinende 
noch  unterzubringen,  teils  weil  das  Einzelne  nicht  kräftig  genug 
erschien  itnd  man  durch  Häufung  zum  Ziel  zu  kommen  hoffte. 
Durch  die  Verschiedenheit  der  Apparate  scheinen  diese  synkre- 
tistischen  Bildungen  auf  der  Oberfläche  oft  ganz  disparat:  blickt 
man  aber  auf  die  Motive  und  Ziele,  so  gewahrt  man  eine  über- 
raschende Einheit,  ja  Einfachheit.  In  der  Tat  —  die  letzten 
Motive  sind  einfach  imd  gewaltig,  wie  sie  aus  einfachen,  aber  ge- 
waltigen inneren  Erlebnissen  entsprungen  sind.  In  ihnen  ist  der 
Fortschritt  der  Religionsentwickelung  gegeben,  soweit  ein  solcher 
abgesehen  vom  Christentum  stattgefunden  hat. 

Mit  diesem  „Synkretismus"'  oder  Hellenismus  letzter  Hand 
hatte  es  die  christliche  Religion  neben  dem  Kaiserkult  zu  tim. 
Dann  ist  aber  sofort  offenbar,  daß  es  nicht  ausreicht,  den  Gegen- 
satz von  Christentum  und  „Heidentum"  einfach  als  den  Gegensatz 
von  Monotheismus  und  Polytheismus  zu  beschreiben.  Gewiß,  jener 
Synkretismus  vermochte  sich  auch  mit  dem  Polytheismus  ganz  wohl 
zu  vertragen;  er  fordert  ihn  sogar  und  mußte  ihn  verstärken. 
Der  „Apparat"  bedurfte  sowohl  für  die  Erklärung  der  Weltent- 
stehung als  auch  für  die  Beschreibung  des  „Rückwegs"  Äonen, 
Mittelwesen,  Halbgötter  und  Nothelfer,   und  die  höchste  Gottheit 


30  Einleitung  und  Grundlegung. 

wäre  nicht  die  liöclisti!  und  vollkommenste,  wemi  sie  die  einzige 
wäre.  Allein  im  Grunde  ist  doch  die  ganze  Denkweise  mono- 
theistisch; denn  sie  erhebt  den  höchsten  Grott  als  den  Urgott  hoch 
über  alle  Götter  und  schließt  die  Seele  und  den  Urgott  (nicht 
die  Untergötter)  exklusiv  z.usammen^.  Der  Polytheismus  ist  auf 
eine  tiefere  Stufe  verbannt,  also  auf  der  Höhe  nicht  mehr  vor- 
handen. Ferner  aber,  das  Christentum  selbst  nahm,  sobald  es  zu 
reflektieren  anfing,  an  diesem  „Synkretismus"  Teil,  entlehnte  ihm 
Gedanken,  ja  entwickelte  sich  mit  Hülfe  dieser  Gedanken. 
Es  ist  nicht  von  Anfang  an  selbst  eine  synkretistische  Erscheinung; 
denn  Jesus  Christus  gehört  nicht  in  diesen  Kreis,  und  die  erste 
Ausgestaltung  der  christlichen  Religion  war  die  der  Jüngerschaft 
Jesu.  Aber  sobald  es  Gedanken  über  Gott,  Jesus,  die  Sünde,  die 
Erlösung,   das  ewige  Leben    bildete,    schöpfte   es  aus  den  Erleb- 


^)  Den  Unterschied  zwischen  dem  christlichen  Gott  und  dem  Gott  des 
synkretistischen  Hellenismus  hat  der  Heide  bei  Macarius  Magnes  (Porphy- 
rius)  IV,  20  mit  trettender  Klarheit  angegeben:  Tö  /uvrot  tteqI  Tijg  ^lovagyiai; 
Tov  (.lörov  -dsov  xal  rTjg  jTo/.i'afj/iug  tcöv  asßof.(h'(or  ■decöv  diag^i'jdtjv  Qtprjooyf-isv , 
ojv  ovy.  nidag  ovös  «y?  fiorufjxiag  tov  !Myor  Mfnp/ijoaodm.  Moväoyijg  yäf) 
fTiTir  ovy_  6  pövog  öi%'  aXV  6  fiövog  aQ/(Ov.  üqx^''  ö' Ofioffi) kcov  di]?.adtj 
y.al  Oft  Ol  cor,  oJov  'A8(jiavog  6  ßaotlfvg  fiovdgyjjg  yryovsv ,  ovy  öri  ^lörog  rjv 
ovo'  on  ßoööi'  y.al  Jifjoßäroiv  f}(iy,EV ,  0)v  ugyovoi  noifieveg  ij  ßovxolni ,  alV  Sri 
äv&QOJJtcor  IßaailEve  x&v  6/A.oyKvwv  rl/v  avrtjv  (pi'taiv  lyövTiov.  Moav- 
Twc  dedg  ovy.  äv  (lovägy^g  xvgicog  fxh'jd}],  fl  fuj  &ewv  ygys-  tovto  yuQ  eJigsTis 
T(J>  ßsio)  iifyiDEi  xal  ro)  ovQarüp  y.al  :jo?J.<o  d^io'jfiaji.  Cf.  IV,  23 :  Tldvv  oq>äl- 
}.£oßE  [seil,  ihr  Christen]  vo/iiCovrsg  yalsjTalren'  tov  dsöv,  sl'  rig  xai  äU.og  y.h]- 
§eÜ]  deög  y.al  rfjg  ainov  jigoof^yogiag  rvyxdvoi ,  önöxE  xal  ägyovTsg  {mijy.öoig  y.al 
dov?Mig  deoJTorai  rfjg  oficovvfiiag  ov  (fOovovaiv.  ov  defujov  yovv  /.iixgoipvyÖTF.gov 
drdfjo'jjTcov  tov  deor  sirai  vo/hiCeiv.  Hier  ist  der  Gegensatz  des  christlichen 
und  des  hellenischen  Monarchismus  ausgezeichnet  formuliert,  nur  wäre  zu 
sagen,  daß  viele  philosophische  Christen  (schon  im  2,  Jahrhundert)  jenen 
strengen  monotheistischen  Gottesbegrilf  auch  nicht  hatten,  ja  daß  er  schon  im 
I.Jahrhundert  modifiziert  erscheint.  Tertullian  (adv.  Prax. -S),  der  den  damals 
orthodoxen  Gottesbegritt'  wiedergibt,  kommt  doch  bei  der  Verteidigung  der 
christlichen  Logoslehre  dem  Porphyrius  bedenklich  nahe:  ,Nullam  dico  domi- 
uatiouem  ita  unius  esse,  ita  singularem,  ita  monarchiam,  ut  nou  etiam  per 
alias  proximas  personas  administretur,  quas  ipsa  prospexerit  officiales  sibi''. 
Die  Schüler  des  Origenes  gingen  noch  weiter  in  der  Rezeption  des  synkre- 
tistischen Monotheismus.  Erst  das  Nicänum  hat  ihm  in  der  Christenheit  ein 
Ende  bereitet  durch  die  irrationale  Trinitiitslehre,  welche  gebietet,  den  Logos 
und  den  Geist  als  innergöttliche  Personen  zu  denken.  Allein  die  hier  aus 
dem  Felde  geschlagene  heidnische  Monarchie -Vorstellung  hatte  sich  auf  dem 
Boden  der  Engellehre  bereits  etabliert.  Daß  diese  ganz  hellenisch  ist.  weil 
sie  den  Polytheisnms  durch  eine  Hintertür  einläßt,  hat  Porphyrius  (IV,  21) 
wohl  bemerkt.  In  IV,  23  sucht  er  den  Christen  nachzuweisen,  daß  ihre 
heiligen  Schriften  eine  Mehrzahl  von  Göttern  lehrten,  also  die  Vorstellung 
der  Monarchie  Gottes  (in  einem  Kreise  von  Uutergöttern)  enthielten,  welche 
die  Hellenen  lehrten.  Er  verweist  auf  Exod.  22,28;  Jerem.  7,6;  Deut.  12,30; 
Josua  24,  14 ;  I  Cor.  8,  5. 


Jesus  Christus  und  die  Weltnüssion.  31 

nissen  der  allgeinoinen  Religionscntwickolung  und  nahia  ihre  Ob- 
jektivierungen zu  Hülfe.  — 

Dem  alten,  im  Kaiserkult  gii)felnden  Polytheismus  und  diesem 
Synkretismus  d.  h.  der  letzten  Stufe  des  Hellenismus  sah  sich  die 
christliche  T*redigt  gegenüber  gestellt.  Sie  bildeten  die  inneren 
Bedingungen,  unter  denen  die  Jugendliehe  Religion  missioniert 
hat.  Aus  dem  Gegensatz  zum  Polytheismus  schöpfte  sie  die  Kraft 
der  Antithese  und  die  Gewalt  der  Exklusive,  die  jede  selbständige 
Religion  braucht  und  die  sie  stark  macht.  In  dem  Synkretismus, 
d.  h.  in  alledem,  was  damals  den  Namen  „Religion"  überhau[)t 
verdiente,  hatte  sie,  ohne  es  zu  ahnen,  einen  ffeheimen  Bundes- 
genossen:  sie  mußte  ihn  nur  läutern,  vereinfachen  und  —  kompli- 
zieren. 


Viertes   Kapitel. 
Jesus  Christus  und  die  Weltmission. 

Es  ist  unmöglich,  die  Frage:  Jesus  und  die  Weltmission, 
kritiklos  nach  dem  Wortlaut  der  Evangelien  zu  beantworten.  Sie 
sind  geschrieben  worden,  als  die  Weltmission  des  Christentums  be- 
reits in  vollem  Gange  war  und  haben  sie  daher  auf  direkte  An- 
weisungen Jesu  zurückgeführt.  Aber  sie  lassen  den  wirklichen 
Tatbestand  doch  noch  deutlich  erkennen. 

Jesus  Christus  hat  seine  Botschaft  —  die  Predigt  von  dem 
nun  kommenden  Reiche  Gottes  und  vom  Gericht,  von  Gottes 
väterlicher  Vorsehung,  von  der  Buße,  der  Heiligkeit  und  der 
Liebe  —  ausschließlich  an  seine  Volksgenossen,  die  Juden  ge- 
richtet. Durch  kein  Wort  hat  er  diese  vom  nationalen  Boden 
losgelöst  oder  die  überlieferte  Religion  für  unwert  erklärt:  im 
Gegenteil  —  seine  Predigt  konnte  als  ihre  stärkste  Bekräftigung 
erscheinen.  Auch  hat  er  sich  an  keine  der  zahlreichen  „liberalen" 
oder  synkretistischen  jüdischen  Konventikel  und  Schulen  ange- 
schlossen oder  ihre  Gedanken  aufgenommen:  er  steht  vielmehr 
auf  dem  Boden  der  jüdischen  Rechten,  d.  h.  der  Frömmigkeit, 
wie  sie  der  Pharisäismus  behauptete.  Allein  er  zeigte,  daß  dieser 
das  Gute  zwar  festhalte,  aber  verkehre,  und  daß  die  Verkehrung 
zur  schlimmsten  Sünde  geworden  sei.  Er  kämpfte  gegen  die 
eigensüchtige  und  selbstgerechte,  im  Tiefsten  lieblose  und  gottlose 
Art,  in  welcher  zahlreiche  Pharisäer  die  Frömmigkeit  ausbauten 
und  betrieben.  Schon  daraus  ergab  sich  eine  Loslösung  von  der 
nationalen  Religion:  denn  die  pharisäische  Haltung  galt  als  die 
nationale  und  war  es.  Aber  weiter,  er  durchkreuzte  den  An- 
spruch,   daß   die  Abrahamssöhne   bereits   durch   ihre  Abstammung 


32  Einleitung  und  Grundlegung. 

des  Heiles  sicher  seien,  und  stellte  den  Gedanken  der  Gottes- 
sohnschaft ausschließlich  auf  die  Pfeiler  der  Buße  und  der  Demut, 
des  Glaubens  und  der  Ijiebe.  Damit  löste  er  die  Religion  inner- 
lich vom  nationalen  Boden  ab  und  machte  den  Menschen,  nicht 
den  Juden,  zu  ihrem  Träger.  Endlich,  je  deutlicher  es  wurde, 
daß  das  Jüdische  Volk  als  Ganzes  und  in  seiner  Repräsentanz 
seine  Fredigt  verwarf,  desto  bestimmter  kündigte  er  das  Gericht 
über  „die  Kinder  des  Reichs"  an,  und  desto  sicherer  nahm  er  die 
Weissagung,  die  auch  sein  Vorläufer  verkündigt  hatte,  auf,  daß 
der  Tisch  seines  Vaters  der  Gäste  doch  nicht  ermangeln,  sondern 
daß  eine  Fülle  derselben  von  den  Landstraßen  und  Zäunen  und 
von  Morgen,  Mittag  und  Abend  kommen  werde.  Zuletzt  hat  er 
die  Verwerfung  des  Volkes  und  den  Untergang  des  Tempels  vor- 
ausgesagt, darin  aber  nicht  den  Untergang  seines  Werks,  sondern 
vielmehr,  ebenso  wie  in  dem  eigenen  Todesleiden,  die  Voraus- 
setzung der  Erfüllung  dieses  Werks  gesehen. 

Das  ist  der  „Universalismus"  der  Predigt  Jesu;  ein  anderer 
läßt  sich  nicht  nachweisen,  und  darum  kann  auch  eine  Anweisung  zur 
Weltmission  von  ihm  nicht  gegeben  worden  sein.  Zwar  enthalten 
die  Evangelien  eine  solche,  aber  es  läßt  sich  unschwer  zeigen,  daß 
sie  weder  echt  ist  noch  der  ältesten  Überlieferung  angehört.  Sie 
würde  auch  einen  ganz  fremden  Zug  in  die  Verkündigung  Jesu 
bringen  und  zahlreiche  echte  Sprüche  unverständlich  oder  w^ertlos 
machen.  Wohl  aber  darf  man  sagen,  dal.l  die  Weltmission  mit 
Notwendigkeit  aus  der  Religion  Jesu  und  aus  seinem  Geiste 
hervorgehen  mußte,  und  daß  ihre  Entstehung  ohne  ein  direktes 
Wort  Jesu  —  ja  im  äußerlichen  Widerspruch  zu  manchem  seiner 
Worte  —  ein  stärkeres  Zeugnis  für  die  Art,  Kraft  und  Größe  seiner 
Verkündigung  ist,  als  wenn  sie  die  Ausführung  einer  bestimmten 
Anweisung  gewesen  wäre.  An  der  Frucht  erkennt  man  den  Baum: 
man  darf  aber  die  Frucht  nicht  an  der  Wurzel  suchen.  Was  die  Art 
betrifft,  wie  Jesus  gewirkt  und  Jünger  gesamnudt  hat.  so  tritt 
auch  hier  seine  und  seiner  Fredigt  Eigenart  leuchtmid  hervor. 
Weder  eine  Schule  noch  eine  Sekte  hat  er  sammeln  wollen.  Die 
Art  der  äußeren  Zugehörigkeit  zu  ihm  hat  er  unter  keine  Regel 
gestellt;  denn  zu  Gott  wollte  er  die  Menschen  führen  und  für  das 
Reich  Gottes  bereiten.  Wohl  hat  er  sich  Schüler  erwählt,  die  er 
besonders  unterwies  und  als  Mitarbeiter  amiahm,  aber  auch  hier 
war  nichts  geregelt  —  ein  nächster  Kreis  von  dreien,  ein  weiterer 
von  zwölfen,  ein  noch  weiterer  von  einigen  Dutzenden,  Männer 
und  Frauen.  di(;  mit  ihm  zogen.  Aber  daneben  hatte  er  Vertraute, 
die  in  ihren  Häusern  und  B(uufen  blieben,  und  er  erweckte  mul 
fand  Gotteskinder  überall  im  Lande.  Keine  Regel  und  Gesetz 
band  sie  zusjnnmcn;  seine  Teilnahme  und  sein  Eifer  galten  ledig- 


Jesus  Christus  und  die  Weltiiiission.  33 

licli  (lern  Grcißton  und  SpeziellstiMi  —  dem  Reiche  seines  Vaters 
und  der  einzelnen  Seele.  In  dieser  Art  Mission  zu  treiben  hat  er 
nur  einen  Nachfolger  gehabt,  und  der  kam  erst  nach  1000  Jahren 
—  den  heiligen  Franz  von  Assisi. 

Sieht  man  von  den  Worten  ab.  die  unser  erster  Evangelist  dem  auf- 
erstandenen Jesus  in  den  Mund  legt,  und  die  sich  ähnlich  im  unechten 
Anhang  zum  zweiten  Evangelium  finden  *,  läßt  man  ferner  die  Geschichte 
der  Weisen  aus  dem  Morgenlande  und  gev^^isse  alttestameutliche  Citate, 
welche  der  erste  Evangelist  in  seine  Darstellung  eiugeflochten  hat-,  bei 
Seite  —  so  muß  man  anerkennen,  daß  Marcus  und  Matthäus  der  Versuchung, 
in  die  Worte  und  in  die  Geschichte  Jesu  die  Anfänge  der  Heideuraissiou 
einzutragen  fast  durchweg  widerstanden  haben.  Daß  Jesus  die  Sünder  zu 
sieh  gerufen  und  mit  den  Zöllnern  gegessen ,  daß  er  am  Sabbath  geheilt, 
daß  er  die  Pharisäer  mit  ihrer  Gesetzesbeobachtuug  bekämpft  und  die  Barm- 
herzigkeit und  das  Gericht  in  den  Mittelpunkt  gerückt ,  daß  er  den  Unter- 
gang des  Tempels  prophezeit  hat.  das  ist  der  Universalismus,  den  sie 
bezeugen.  Aber  selbst  die  Geschichte  von  der  Wahl  bez.  Ausseudung  der 
Zwölfe  wird  ohne  Beziehung  auf  die  Weltmission  (Marc.  3,  13  ff.  6,  7ft'.  und 
Matth.  10,  1  ff.)  berichtet;  ja  Matthäus  schränkt  die  Sendung  ausdrücklich 
auf  PaUistina  ein.  „Weichet  nicht  ab  auf  den  Weg  der  Heiden  und  betretet 
keine  saniaritauische  Stadt,  geht  vielmehr  zu  den  verirrten  Schafen  aus  dem 
Hause  Israel"  (10,  6),  und  10,  23  heißt  es:  „Ihr  werdet  nicht  die  Städte 
Israels  sämtlich  besucht  haben,  bis  der  Menschensohn  kommt" ^.  Fast  noch 
charaktei'istischer  ist  die  Erzählung  vom  kananäischen  Weib;  denn  beide 
Evangelisten  lassen  darüber  keinen  Zweifel,  daß  die  Geschichte  im  Sinne 
Jesu  eine  Ausnahme  darstellt*,  also  die  Regel  bestätigt. 

Bei  Marcus  ist  diese  Perikope  die  einzige,  in  welcher  die  Missions- 
tätigkeit Jesu  ausdrücklich  auf  das  jüdische  Volk  in  Palästina  eingeschränkt 
erscheint.  Matthäus  aber  bietet  aul.^er  der  Ausseudungsrede  noch  (19,  28) 
das  Wort,  daß  die  Zwölfe  einst  die  zwölf  Stämme  Israels  richten  werden  — 
von  der  Heidenmission  ist  hier  also  abgesehen  •'*. 


»)  Matth.  28,  19 ff.,  cf  Marc.  IG,  15.  20.  -  ')    Cf.  Matth.  4,  13  ff.  12,  ISff. 

^)  Dieser  Vers  macht  es  unmöglich,  die  Rede  Jesu  als  eine  nur  vor- 
läufige Aussendungsrede  zu  fassen.  Ist  das  Wort  echt,  so  kann  die  Heiden- 
mission nicht  im  Horizonte  Jesu  gelegen  haben.  —  Bei  den  ^tjysfwvec;  und 
ßaodeig'^  (Matth.  10,  18;  Marc.  13,  9)  braucht  nicht  an  heidnische  gedacht 
zu  sein,  aber  der  bei  Matthäus  (nicht  bei  Marcus)  zu  den  Worten  £<V 
l-iaQTVQiov  avToTg  sich  findende  Zusatz  „^al  roTg  edrsotv"'  kann  schwerlich  anders 
verstanden  werden  denn  als  eine  Hinzufügung  im  Sinne  von  Matth.  28,  19  f. 
Marcus  hat  6,  7tt".  (vgl.  Luc.  9,  Iff'.)  die  Beschränkung  auf  Palästiua  und 
das  jüdische  Volk  fallen  gelassen,  aber  eine  universale  Bestinimung  doch 
nicht  zu  geben  gewagt.  „Obwohl  Marcus  es  nie  ausdrücklich  sagt  und  kein 
Gewicht  darauf  legt,  versteht  es  sich  bei  ihm  doch  von  selbst,  daß  Jesus 
seine  Wii-ksamkeit  auf  die  Juden  beschränkt"  (Wellhauseu  zu  Marc.  7,  29). 

*)  Nach  Matthäus  (15,  24)  sagt  Jesus  ausdrücklich:  „Ich  bin  nicht  ge- 
sandt denn  nur  zu  den  verlorenen  Schafen  aus  dem  Hause  Israel".  Das  jtqmtov 
bei  Marc.  7,  27  ist  nicht  zu  pressen,  wie  viele  Ausleger  tun. 

*)  Auch  das  Wort:  „Bittet,  daß  eure  Flucht  nicht  geschehe  am  Sabbath" 

(Matth.  24,  20)  mag  man  hierher  rechnen.     Beachtenswert  ist  auch,  daß  das 

Gleichnis  von  den  beiden  Söhnen   (Matth.  21,  28 ff.)   nicht  auf  Juden  und 

Heiden   gedeutet  wird.     Die  Arbeiter   im   Weinberg  (Matth.  20,   Iff'.)  sind 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  3  ■ 


34  Einleitung  und  Grundlegung. 

Von  einer  zukünftigen  Predigt  des  Evangeliums  in  der  Welt  läßt 
Marcus  Jesus  nur  zweimal  sprechen,  nämlich  in  der  eschatologischen  Rede 
(lo,  10:  ,Bei  allen  Völkern  muß  zuvor  das  Evangelium  verkündigt  werden", 
seil.  l)evor  das  Ende  kommt)  und  in  der  Salbuugsgeschichte,  wo  es  14,  9 
heißt:  „Wo  auch  immer  das  (dieses)  Evangelium  verkündigt  werden  wird  in 
der  ganzen  Welt,  da  wird  auch  das,  was  sie  getan  hat,  zu  ilirem  Gedächtnis 
erzählt  werden."  Die  erste  Stelle  legt  ein  geschichtliches  Theologumenon 
in  den  Mund  Jesu,  welches  schwerlich  von  ihm  stammt;  die  andere  erweckt 
zwar  nicht  in  Bezug  auf  den  Vorgang  selbst,  wohl  aber  in  bezug  auf  die 
Rede  Jesu  v.  8  und  9  starke  Bedenken;  denn  sie  ist  ein  Hysteron-Proteron, 
und  zudem  ist  die  feierliche  Versicherung  auffallend.  Es  muß  ihr  irgend 
eine  nicht  mehr  deutliche  Kontroverse  zu  Grunde  liegen,  welche  den  Vor- 
gang nicht  nur  damals,  als  er  sich  ereignete,  sondern  auch  später  noch 
hervorgerufen  hat.     Wurde  er  etwa  in  Zweifel  gezogen  ^  ? 

Matthäus  bietet  diese  beiden  Sprüche  auch  (24,  14;  26,  13);  außerdem 
aber  überliefert  er  noch  einen  Spruch-,  der  die  Heidenwelt  ins  Auge  faßt, 
der  jedoch  in  seiner  prophetischen  Haltung  Bedenken  in  bezug  auf  seine 
Echtheit  nicht  erregt.  C.  8,  11  heißt  es:  „Ich  sage  euch,  daß  viele  von 
Ost  und  West  kommen  und  mit  Abraham,  Isaak  und  Jakob  in  dem  Himmel- 
reich zu  Tische  sitzen  werden;  die  Söhne  des  Reichs  aber  werden  hinaus- 
geworfen worden."  Warum  sollte  Jesus  so  nicht  gesprochen  haben,  obgleich 
ihn  Marcus  nie  so  sprechen  läßtV  Heißt  es  doch  auch  in  der  Rede  des 
Täufers  (Matth.  3,  9):  „Glaubt  nicht  bei  euch  sagen  zu  können:  Wir  haben 
Abraham  zum  Vater;  denn  ich  sage  euch,  Gott  vermag  aus  diesen  Steinen 
dem  Abraham  Kinder  zu  erwecken." 


nach  der  Erzählung  des  Evangelisten  ebenfalls  nicht  auf  Heiden  zu  deuten, 
und  auch  c.  22,  9  ist  nicht  an  diese  zu  denken. 

')  Die  Perikope  von  den  bösen  Weingärtuern  rechne  ich  nicht  hierher; 
denn  weder  in  der  Fassung  des  Marcus  (12,  1  ff.)  noch  in  der  des  Matthäus 
(21,  3off.)  spricht  sie  von  der  Heidenmission.  Die  Worte  Matth.  21,  43  („das 
Gottesreich  wird  einem  Volke  gegeben,  das  die  Früchte  desselben  bringen 
wird")  beziehen  sich  nicht  auf  die  Heiden,  sondern  das  „Volk"  steht  im 
Gegensatz  zu  dem  offiziellen  Israel;  Marcus  spricht  absichtlich  nur  von 
, anderen",  denen  der  Weinberg  gegeben  werden  wird.  Ich  sage  absichtlich; 
denn  gerade  an  dieser  Allegorie,  die  nicht  leicht  Jesus  selbst  zugesprochen 
werden  kann  (s.  Jülich  er,  Gleichnisse  II  S.  405  f.;  doch  möchte  ich  mich 
nicht  sicher  entscheiden),  läßt  sich  erkennen,  wie  streng  Marcus  in  der 
Fernhaltung  der  Heidenmission  von  dem  Evangelium  gewesen  ist.  und 
wie  konsequent  Matthäus  den  Rahmen  des  jüdischen  Volkes  festhält.  Die 
Parabel  forderte  geradezu  auf,  Jesus  von  der  Heidenmission  sprechen  zu 
lassen;  aber  beide  Evangelisten  haben  die  Aufforderung  abgelehnt  (s.  auch 
Luc.  20,  9ff.).  Auch  Wellhausen  schreibt  zu  Matth.  21,  43:  „Unter  dem 
anderen  ,Volk'  können  auch  jüdische  und  nicht  bloß  heidnische  Christen 
verstanden  werden,  da  das  t'ßvoi;  nicht  national,  sondern  moralisch  charak- 
terisiert ist." 

^)  Von  den  Sprüchen  5,  13.  14:  ,.Ihr  seid  das  Salz  der  Erde;  ihr  seid 
das  Licht  der  Welt",  darf  man  wohl  absehen;  auch  das  ist  bedeutungslos, 
daß  bei  Marcus  allein  (11,  17)  zu  den  Worten:  „Mein  Haus  ist  ein  Bethaus" 
der  Zusatz  (übrigens  aus  der  Quelle,  Jesaj.  56, 7)  steht:  „.-läai  ToTg  nh'foiv" ; 
dieser  Zu.satz  „legt  den  Nachdruck  nicht  auf  die  Universalität  des  Bet- 
hauses, sondern  auf  den  nackten  Begriff  des  Bethauses  selber"  (Well- 
hausen). 


Jesus  Christus  uud  die  Weltmission.  35 

Es  hat  sich  also  ergeben,  daß  beide  Evangelisten  in  den  Rahmen  der 
•öffentlichen  Verkündigung  Jesu  nichts  von  der  Heidenmission  eingetragen 
haben,  außer  in  der  eschatologischen  Rede  und  bei  der  Salbungsgescbichte. 
Matthäus  hat  dabei  die  engen  Grenzen  der  Wirksamkeit  Jesu  positiv  und 
unzweideutig  markiert,  andererseits  aber  nicht  nur  c.  8,  11  aufgenommen, 
sondern  auch  in  seinen  alttestameutlichen  Zitaten  die  Heiden  ins  Auge  ge- 
faßt. Marcus  hat  sich  ganz  neutral  verhalten,  übrigens  die  Geschichte  vom 
kanauäischen  Weib  nicht  unterdrückt. 

Umso  kräftiger  hebt  sich  nun  das  Wort  des  Auferstandeneu  Matth. 
28,  19  ff.  von  dem  Vorangehenden  ab,  und  Matthäus  selbst  muß  diesen 
Abstand  nicht  nur  gefühlt ,  sondern  muß  ihn  absichtlich  zum  Ausdruck 
gebracht  haben  '.  Ein  Herr  und  Heiland,  der  seine  Predigt  auf  das  jüdische 
Volk  beschränkt  und  auch  nicht  einmal  den  Befehl  zur  Weltmission  gegeben 
hat,  war  in  der  Zeit,  in  der  unsere  Evangelien  geschrieben  worden  sind,  eine 
Unmöglichkeit.  Hat  er  den  Befehl  nicht  vor  seinem  Tode  gegeben,  so  hat 
er  ihn  als  der  Verklärte  erteilt. 

Es  ergiebt  sich  aus  diesem  Sachverhalt,  daß  ein  solcher  Befehl  über- 
haupt nicht  von  Jesus  herrührt,  daß  er  also  aus  den  geschichtlichen  Ent- 
wickelungen  der  Folgezeit  konstruiert  und  sachgemäß  erst  dem  Aufertsandenen 
in  den  Mund  gelegt  worden  ist.  Paulus  weiß  auch  von  einem  solchen  all- 
gemeinen Befehl  nichts-. 

Auch  Lucas  hat  als  Referent  der  Worte  Jesu  keine  andere  Haltung 
eingenommen  als  die  beiden  ersten  Evangelisten,  uud  das  will  vielleicht  am 
meisten  bedeuten.  Zwar  die  Vorgeschichte  hat  er  mit  leiser  Hand  universa- 
listisch gefärbt ',  und  am  Schluß  läßt  er  deutlich  und  stark  den  Auferstandenen, 

^)  Es  sei  denn,  daß  c.  28,  19  ff',  ein  späterer  Zusatz  zum  Evangelium 
wäre;  Sicherheit  läßt  sich  darüber  nicht  gewinnen.  Es  liegt  eine  gewisse 
Raffiniertheit,  die  man  dem  Schriftsteller  nicht  zutrauen  möchte,  darin,  erst 
die  heidenchristlichen  Leser  mit  jenen  Sprüchen,  die  das  Evangelium  auf 
das  Volk  Israel  einschränken,  gleichsam  auf  die  Folter  zu  spannen,  um  dann 
im  letzten  Satze  der  Schrift  die  Spannung  zu  lösen.  Auch  sehen  jene  Ein- 
schränkungen, wie  sie  erzählt  werden,  nicht  so  aus,  als  sollten  sie  später 
zurückgenommen  werden.  Andererseits  ist  zu  erwägen,  daß  das  erste  Evan- 
gelium mit  den  Weisen  aus  dem  Morgenlande  beginnt  —  doch  läßt  diese 
Perikope  auch  eine  streng  judenchristliche  Deutung  zu  — ,  daß  c.  8,  11  in 
diesem  Evangelium  steht,  daß  der  Schriftsteller  c.  4,  13  ff.  sein  Interesse  für 
das  Volk,  das  im  Finstern  sitzt,  bekundet,  daß  er  Jesum  c.  12,  20  als  den 
bezeichnet,  auf  dessen  Namen  die  Heiden  hoffen,  daß  er  in  der  eschatolo- 
gischen Rede  und  in  der  Salbungsgescbichte  auf  die  Verkündigung  des  Evan- 
geliums bei  allen  Heiden  ausblickt,  und  daß  durchschlagende  Gründe,  c.  28, 19  ff". 
als  Interpolation  zu  betrachten ,  nicht  nachgewiesen  werden  können.  Also 
ist  es  doch  ratsam,  dem  Verfasser  die  merkwürdige  Historizität  zuzutrauen, 
daß  er  den  Rahmen  der  Verkündigung  Jesu  so.  wie  er  ihm  gegeben  war,  fast 
durchweg  treu  beibehalten  hat,  um  ihn  erst  am  Schlüsse  zu  sprengen.  Ein- 
facher ist  Marcus  verfahren,  indem  er  die  Missionsfrage  ausschied  —  denn 
so  wird  man  sein  Verhalten  verstehen  müssen. 

-)  Im  übrigen  —  es  ist  unmöglich  und  völlig  zwecklos,  mit  denen  zu 
streiten,  die  in  der  Ablehnung  der  Überlieferung,  Jesus  habe  nach  seinem 
Tode  gegessen  und  getrunken  uud  seinen  Jüngern  Lehrvorträge  gehalten, 
eine  unstatthafte  „Voreingenommenheit"  sehen. 

^)  Man  vgl.  1,  o2  („Sohn  des  Höchsten");  2,  11  („Freude  allem  Volk", 
„Heiland");  2,  14  („Gloria  in  excelsis");  2,  31  („ein  Licht  zu  erleuchten  die 
Heiden");  dazu  3,  23 ff.  die  bis  auf  Adam  zurückgeführte  Genealogie. 

3* 


36  Einleitung  und  Grundlegung. 

wie  Matthäus,  den  Befehl  geben,  das  Evangelium  allen  Völkern  zu  ver- 
kündigend Aber  was  dazwischen  liegt,  hat  er,  dem  Marcus  folgend,, 
behandelt,  d.  h.  er  bietet  keine  Worte,  die  die  Mission  Jesu  ausdrücklich 
auf  das  jüdische  Volk  einschränken  2,  aber  auch  keine  Sprüche  oder  Er- 
zählungen ,  in  denen  sie  als  universalistisch  bezeichnet  wird  ^,  und  er  hat 
wahrscheinlich  nirgendwo  absichtlich  korrigiert*. 

Von  dem  vierten  Evangelium  ist  in  diesem  Zusammenhang  ganz  abzu- 
sehen;  denn  es  hat  den  Horizont  der  Predigt  Jesu,  ja  schon  den  Johannes" 
des  Täufers,  nach  Maßgabe  der  in  den  beiden  ersten  christlichen  Generationen 
so  erfolgreich  unternommenen  Heidenmission  erweitert  und  dementsprechend 
,die  Juden"  von  Anfang  an  —  trotz  der  historischen  Bemerkung  c.  4,  22  — 
als  die  Verworfenen  erscheinen  lassen.  Läßt  man  auch  den  Prolog  beiseite,, 
so  begegnet  sofort  (c.  1,  29)  das  Wort  im  Munde  des  Täufers:  „Siehe,  das 
ist  Gottes  Lamm,  welches  die  Sünde  des  Kosmos  trägt",  und  das  ganze 
Evangelium  ist  von  direkt  universalistischen  Aussagen  durchzogen.  Jesus 
ist  der  Weltheiland,  und  Gott  hat  die  Welt  also  geliebt,  daß  er  ihn 
gesandt  hat.  Dazu  finden  sich  Stellen  wie  die  von  „den  anderen"  Schafen 
und  der  einen  Herde  (10,  16).  Besonders  bemerkenswert  aber  ist  es,  daß 
dieses  Evangelium  , Griechen"  nach  Jesum  fragen  (12,  20 ff.)  und  diesen  eine- 
förmliche f]rkläruug  darüber  abgeben  läßt,  warum  er  noch  nicht  die  Griechen 
befriedigen  könne:  er  muß  erst  sterben;  erst  als  Erhöhter  wird  er  alle  zu 
sich  ziehen.     Man  sieht,  hier  wurde  ein  schweres  Problem  empfunden. 

Die  Verkündung  Jesu,  sei  es  auch  nur  in  ihren  Grundzügen,  hier  zur 
Darstellung  zu  bringen  ^  würde  irreführend  sein;  denn  zur  Missiouspredigt 
ist    sie    in    der    Folgezeit    nicht    einmal    Juden    gegenüber    geworden.      Sie 

')  C.  24,47;  dazu  Act.  1,8:  „Ihr  werdet  meine  Zeugen  sein  in  Jerusalem 
und  in  ganz  Judäa  und  Samarien  und  bis  zum  Ende  der  Erde." 

-)  Doch  findet  sich  das  indirekte  Wort  der  Einschränkung  c.  22,  30  = 
Matth.  19,  28  (s.  0.  S.  33),  aber  es  brauchte  nicht  so  verstanden  zu  werden. 

^)  Man  hat  dafür  allerlei  anzuführen  versucht,  aber  es  erweist  sich  als 
nicht  beweiskräftig,  so  Petri  wunderbaren  Fischzug  (5,  1  ff.),  die  Samariter- 
geschichten (10,  33  ff. ;  17,16),  das  Gleichnis  vom  verlorenen  Sohn  (15, 11  ff., 
s.  dazu  Jülicher,  a.  a.  0.  II  S.  333  ff'.).  Auch  die  Apostelaussendung  (6, 13  ff".) 
und  die  merkwürdige  Aussendung  der  Siebzig  (10,  1  ff.)  ist  keineswegs  im 
Sinne  der  Heideumission  erzählt.  Dali  die  Zwölfe  in  diesem  Evangelium  ein 
paarmal  „die  Apostel"  heißen,  ist  ein  harmloses  Hysteron-Proteron.  Die 
programmatische  Rede  in  Nazareth  (4,26.27)  fällt  noch  am  meisten  ins  Ge- 
wicht; aber  auch  in  ihr  erscheint  der  Universalismus  Jesu  nicht  über  den 
prophetischen  hinausgehoben.  In  bezug  auf  die  Stelle  21,  24  =  Marc.  13, 10  = 
Matth.  24,  14  ist  Lucas  sogar  der  Vorsichtigste  gewesen,  der  in  feinem  Ge- 
fühl den  Stil  der  Proijheteu  wiederherzustellen  versucht  hat.  Er  sagt  nichts 
davon,  daß  das  Evangelium  erst  in  aller  Welt  verkündigt  sein  müsse,  bevor 
das  P]nde  kommt,  sondern  schreibt:  axQi^  o^'  nXyQMdoyoiv  hcuqoI  edvwv.  —  Was 
die  Samaritergeschichten  betrifft,  so  scheint  Lucas  eine  weitergehende  reli- 
gionsgeschichtliche Tendenz  hier  nicht  im  Sinne  gehabt  zu  haben,  während 
eine  .solche  Joh.  4  unverkennbar  ist. 

*)  Die  Geschichte  vom  kananäischen  Weib,  die  bei  Matthäus  und  Marcus 
zwischen  den  beiden  Speisungsgeschichten  steht,  hat  er  wahrscheinlich  nicht 
weggelassen,  sondern  gar  nicht  gekannt.  Hat  er  sie  gekannt,  so  müßte  man. 
in  der  Wegla.ssung  allerdings  eine  Korrektur  sehen. 

'')  Vgl.  meine  Vorlesungen  über  das  Wesen  des  Christentums. 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  37 

unterstüzte  die  Missionspredigt  —  die  Evangelien  sind,  um  als  Mittel  der 
Evangelisation  zu  dienen,  niedergeschrieben  — ;  diese  aber  handelte  davon, 
daß  Jesus  der  Messias  sei  und  demnächst  wiederkehren  und  das  Reich  auf- 
richten werde  (so  vor  Juden),  beziehungsweise  von  der  Einheit  Gottes,  der 
Weltschöpfung,  dem  Sohne  Gottes,  dem  Heiland  und  dem  Gericht  (so  vor 
Heiden).  Die  Sprüche  Jesu  haben  daneben  freilich  eine  stille  und  wirksame 
Mission  ausgeübt,  und  das  geschichtliche  Bild,  welches  die  Evangelien  boten, 
hat  —  neben  dem  Glauben  an  den  Erhöhten  —  einen  tiefen  Einfluß  auf  die 
Katechumenen  und  die  Gläubigen  gewonnen. 

Die  partikularen  Züge  an  diesem  geschichtlichen  Bilde  und  den  Sprüchen 
wurde  man  nicht  mehr  gewahr,  und  das  war  recht  und  gut.  Eine  Gottes- 
nud  Menschenliebe  war  ja  hier  lebendig,  die  man  als  intensiven  Universalis- 
mus bezeichnen  kann,  ein  Absehen  von  allem  Äußeren  (Stand,  Person,  Ge- 
schlecht, äußerem  Kultus  u.  s.  w.),  welches  notwendig  zur  Innerlichkeit  zwang, 
ein  Protest  gegen  das,  was  „die  Alten"  gelehrt  hatten,  der  alles  Alte 
allmählich  unwert  machte*.  Eine  der  größten  Revolutionen,  welche  die 
Religionsgeschichte  kennt,  ist  hier  eingeleitet  und  begründet  worden  ohne 
jede  Revolution.  Nur  die  Ankündigung  des  Untergangs  des  Tempels  und 
das  Gericht  über  das  Volk  und  seine  Leiter  hat  Jesus  Christus  ausgesprochen. 
Er  erschütterte  das  Judentum  und  stellte  den  Kern  der  Religion  Israels  ans 
Licht:  damit,  d.  h.  durch  seine  Verkündigung  Gottes  als  des  Vaters  und 
durch  seinen  Tod.  gründete  er  die  Weltreligion,  die  zugleich  die  Religion 
des  Sohnes  wurde. 


Fünftes  KapiteL 
Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission. 

„Christi  mors  potentior  erat  quam  vita."  Der  Tod  Jesu  hat 
den  Ghiuben  an  ihn  als  den  Gesandten  Gottes  nicht  zu  erschüttern 
vermocht  und  eben  deshalb  die  Überzeugung  seiner  Auferstehung 
erweckt:  er  war  doch  der  Messias  —  denn  nun  gab  es  nur  ein 
Entweder-Oder  —  und  darum  ist  es  unmöglich,  daß  der  Tod  ihn 
behalten  hat.  Er  lebt  und  wird  in  Herrlichkeit  demnächst  wieder- 
kommen. Die  Schüler  aber  wurden  zu  berufenen  Reichsgenossen, 
zu  Zeugen  und  —  zu  Aposteln.  Sie  bezeugten  aber  nicht  nur  seine 
Predigt  und  seinen  Tod,  sie  bezeugten  auch  seine  Auferstehung: 
denn  sie  hatten  ihn  gesehen,  und  sie  hatten  seinen  Geist  emp- 
fangen. Andere  Menschen  waren  sie  geworden;  ein  Strom  gött- 
lichen Lebens  hatte  sie  erfaßt,  und  ein  neues  Feuer  brannte  in 
ihrer  Seele.     Furcht,  Zweifel,  Kleinmut  —  alles  war  ausgelöscht. 


')  Über  „Jesu  Stellung  zum  Alten  Testament"  s.  den  zutreffenden  Vor- 
trag von  E.  Klostermann  (19041  unter  diesem  Titel.  Wer  sich  diese  Stellung 
klar  gemacht  hat,  wird  an  die  Verkündigung  Jesu  nicht  mehr  ungeschicht- 
liche Ansprüche  in  bezog  auf  die  „Weltmission"  stellen. 


38  Einleitung  und  Grundlegung. 

Pflicht  iinrl  Recht,  diesen  Jesum  von  Nazareth  als  den  Christus 
zu  verkündigen,  drängte  sich  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  auf; 
denn  wie  konnten  sie  schweigen,  wenn  sie  wußten,  daß  die  neue 
Weltzeit  nun  herbeikomme,  und  daß  Gott  die  Erlösung  seines 
"Volkes  bereits  begonnen  habe  ?  Eine  alte  Überlieferung  (Act.  1 .  2) 
berichtet,  daß  die  Missionspredigt  der  Jünger  am  51.  Tage  nach 
der  lü-euzigung  in  Jerusalem  begonnen  habe.  Wir  haben  keinen 
Grund,  dieser  so  bestimmten  Angabe  zu  mißtrauen.  Nach  Jerusalem 
also  sind  sie  aus  Galiläa  zurückgekehrt  und  liaben  sich  dort  ge- 
sammelt. Schon  diese  Übersiedelung  spricht  dafür,  daß  sie  in 
größter  Öffentlichkeit,  im  Mittelpunkt  des  jüdischen  Gemeinwesens, 
wirken  wollten.  Hier  richteten  sie  sich  ein  und  blieben  daselbst 
lange  Jahre ^  —  zwölf  Jahre  sagt  ein  alter  Bericht^,  den  aber 
die  Apostelgeschichte  ignoriert  (doch  s.  c.  12,  17).  Yon  Jerusalem 
aus  unternahmen  sie  Missionsreisen  in  die  Umgegend  (auch  die 
AVahl  des  Jacobus  zum  Vorsteher  der  jerusalemischen  Gemeinde* 
—  er  gehörte  nicht  zu  den  Zwölfen  —  spricht  dafür).  Das  lehrt 
die  Apostelgeschichte,  vor  allem  aber  I  Cor.  9,  5. 

Zunächst  wurde  das  Evangelium  ausschließlich  den  Juden  ge- 
predigt. Es  bildete  sich  die  Gemeinde  in  Jerusalem,  bald  darauf 
Gemeinden  in  Judäa  (1  Thess.  2,  14:  al  exxhjoiat  tov  deov  al  ovoai 
Iv  rf]  'lovdaia  und  Gal.  1,  22:  yjiii]v  dyvoovjuevog  reo  jiqoowjtco  rmg 
IxxXrjoimg  jfjg  'lovöaiag  räig  iv  Xqiotöj)  sowie  in  Galiläa,  Samaria 
(Act.  1,  8;  8,  Iff.;  9,  31;  15,  3)  und  in  dem  Küstenland  (Act.  9, 


')  Man  darf  vielleicht  auch  annehmen,  daß  sie  an  Ort  und  Stelle  sein 
wollten,  wenn  der  Herr  demniichst  -wiederkommen  und  das  himmlische  Jeru- 
salem herabfahren  werde.  —  Galiläa  tritt  nun  ganz  zurück,  was  merkwürdig 
ist.     Man  hört  nichts  mehr  von  diesem  Laude. 

2)  Der  alte  Bericht  —  Petri  Kerygma  bei  Clemens  Strom.  VI,  5,  43  — 
ist  freilich  verdächtig;  denn  er  behauptet,  ein  Herrnwort  an  die  Jünger  zu 
kennen,  das  gelautet  habe:  ftera  iß'  ht]  e^ilOsTe  eic;  rov  xöai.iov,  fttj  rtg  d'jryj- 
ovx  TjHovoufiev.  Allein  mit  den  12  Jahren  kann  es  seine  Richtigkeit  haben 
ohne  die  falsche,  apologetische  Begründung;  denn  in  den  Acta  Petri  cum 
Simone  c.  5  und  bei  Apollonius  (bei  Euseb.,  h.  e.  V,  18,  14)  lautet  das  Wort 
(ebenfalls  als  Herrnwort),  die  Apostel  sollten  12  Jahre  in  Jerusalem  bleiben; 
von  dem  Auszug  elg  rov  xöofiov  ist  nichts  gesagt.  Das  „Herrnwort"  wird 
auch  hier  nicht  zu  Recht  bestehen,  wohl  aber  wird  die  Tatsache,  daß  die 
Jünger  12  Jahre  in  Jerusalem  blieben,  schwerlich  erfunden  sein.  Zwölf  bez. 
elf  Jahre  nach  der  Auferstehung  ist  ein  Zeitraum,  den  auch  andere  Quellen 
abgegrenzt  haben  (s.  D  ob  schütz  i.  d.  Texten  u.  Unters.  XI,  1  S.  58f.);  er 
liegt  sogar  der  späteren  Berechnung  des  Todesjahres  des  Petrus  zu  Grunde: 
ann.  30  +  12  -|-  25  =  ann.  67.  Isoliert  steht  die  Behauptung  der  pseudo- 
clementinischen  R-ekognitionen  (1,  43;  IX,  29),  die  Apostel  seien  sieben  Jahre 
in  Jerusalem  geblieben. 

')  Die  Apostelgeschichte  setzt  für  die  ersten  Jahre  voraus,  daß  die 
Apostel  die  jerusalemische  Gemeinde  geleitet  haben.  Plötzlich  c.  12,  17  er- 
scheint Jacobus  als  der  Leitende. 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  39 

o2ff.  ^).  Das  anfängliche  Verhältnis  dieser  Gemeinden  zu  dem 
Judentum  erscheint  uns  nicht  recht  deutlich,  und  es  ist  wohl  auch 
zAmächst  nicht  klar,  sondern  widerspruchsvoll  gewesen.  Einerseits 
wird  der  Bericht  der  Apostelgeschichte  (s.  c.  'S  ft'.),  daß  die  jerusa- 
lemische Gemeinde  fast  von  Anfang  an  stoßweise  Verfolgungen 
erleiden  mußte,  durch  das  Zeugnis  des  Paulus  beglaubigt  (I  Thess. 
2,  14:  ort  tol  avTO.  ijTdäsTe  xal  v/^mg  vjto  t(ov  töUov  ovjii(pid^T<7)v, 
xa'&iog  xai  amol  [seil,  die  Gemeinden  in  Judäaj  imd  rwv' Jovdaicov); 
die  Meinung,  die  eimge  jüdische  Gelehrte  vorgetragen  haben,  er- 
scheint somit  unhaltbar,  es  habe  ursprünglich  und  Jahrzehnte  hin- 
durch ein  dm'cliaus  friedliches  Verhältnis  zwischen  den  Christ- 
gläubigen und  den  Juden  bestanden^.  Andrerseits  steht  es  fest, 
daß  auch  Friede  und  Duldung  geherrscht  hatten^,  die  Gemeinden 
geraume  Zeit  hindurch  unbehelligt  geblieben  sind  (Act.  9,  31  :  »5 
lxxh]aia  xad'  öh]g  Tfjg  ^lovöalag  xai  raXtXaiag  xal  2^afiagiag  er/^v 
eiQii)v}]v)  und  einige  Christen  hohes  Ansehen  bei  ihren  jüdischen 
Brüdern  genossen  haben ^.  Sie  waren  strenge  Gesetzesbeobachter 
und    hielten   sich   auch    eitrig  zum  Tempel^;    damit  aber  erfüllten 

')  Der  dieser  Mission  parallel  laufenden  Mission  des  Simon  Magus  in 
Samarien  mag  hier  wenigstens  gedacht  sein.  Sie  hatte  im  Heimatlande 
große  Erfolge,  versuchte  aber  vergeblich,  aus  der  christlichen  Mission  Vor- 
teile zu  ziehen.  Im  einzelnen  ist  uns  das  meiste  dunkel;  soviel  aber  ist  ge- 
wiß, daß  sich  Simon  als  Religionsstifter  gab  (ob  er  auch  Jesus  zu  kopieren 
versuchte?),  und  daß  später  eine  hellenistische  Theosophie  (Gnosis)  dieser 
neuen  Keligion  zugesellt  worden  ist.  Die  Christen  haben  vom  Anfang  an 
und  stets  diese  Erscheinung  mit  dem  höchsten  Abscheu  behandelt.  Es  muß 
in  sehr  früher  Zeit  einen  Moment  gegeben  haben,  in  welchem  sie  eine  wirk- 
liche Versuchung  für  die  jugendlichen  Gemeinden  gewesen  ist;  aber  inwiefern 
ist  unklar.  Hatte  es  Simon  auf  eine  Fusion  abgesehen?  (Act.  8  und  spätere 
Quellen). 

-)  Vgl.  Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte,  2.  Abt.  1883.  Wie  es 
bei  der  Mission  in  Palästina  zugegangen  ist,  steht  Matth.  10,  17  ff.  zu  lesen: 
7iaQa8coaovoiv  v/iiäg  Fig  Gi'veÖQia  xal  h'  zaig  ovvaywyaig  avzdn'  fiaoiiyüjaovaiv 
vjLiäg  .  .  .  TragaScöoei  8k  d8e?.(p6i;  a8e}.q?o%'  eig  ßärarov  xal  Jtaryg  Ttxvov  xal 
ijiavaoTfjoovzat  zsxva  inl  yovftg  xal  &avaz(!}00voiv  avzovg  .  .  .  özuv  8k  8uöxcooiv 
v/iiäg  SV  zf]  jiöKei  zavrjj,  (pevyfzs  ag  zi/v  Izkoav. 

')  Sonst  hätten  sich  die  Apostel  überhaupt  nicht  so  lange  in  Jerusalem 
halten  können. 

*)  Hegesipp  bei  Eusebius,  h.  e.  ü,  22,  berichtet  dies  von  Jacobus.  Seine 
Darstellung  ist  freilich  sehr  undurchsichtig,  aber  das  Ansehen  des  Jacobus 
beim  Volke  darf  man  ihr  entnehmen. 

^)  S.  Act.  21,20,  wo  die  jerusalemischen  Christen  zu  Paulus  sprechen: 
&e(OQ£(g ,  d8e?.(i4,  Jiöoac  f,ivQiä8sg  eiolv  Iv  zoXg  'Iov8aioig  kov  izejnozEvxözwv ,  xal 
jidvzsg  ^rj?,cozal  zov  röftov  imdgyovatv.  Diese  Stelle  beleuchtet  und  recht- 
fertigt den  Hauptpunkt  des  Berichts  des  Hegesipp  über  Jacobus.  Aus  der 
sehr  alten  Überlieferung  (Prolog  zum  Marcusevangelium  um  200),  Marcus 
habe  sich,  Christ  geworden,  den  Daumen  abgeschnitten,  um  nicht  als  Priester 
fungieren  zu  müssen,  mag  man  schließen,  daß  manche  christianisierte  Juden 
aus  dem  Priesterstand  in  Jerusalem  anfaucrg  noch  als  Priester  fungiert  haben« 


40  Einleitung  und  Grundlegung. 

sie  die  oberste  Pflicht  des  Juden,  und  da  sie  Jesus  als  Messias 
erst  noch  erwarteten  —  die  erste  Ankunft  galt  ja  nur  als  etwas 
Vorläufiges;  daß  er  wirklich  der  Messias  sei,  dafür  stand  der 
öftentliche  Beweis  noch  aus  - — ■,  so  mag  ihnen  dies  bei  freund- 
licher Beurteilung  um  ihrer  Gesetzesbeobachtung  willen  als  Idio- 
sjTikrasie  nachgesehen  w^orden  sein^.  Wenigstens  vermögen  wir 
uns  die  Sache  nicht  anders  vorzustellen.  Daß  sie  überhaupt  den 
Messias  so  sicher  und  so  bald  erwarteten,   kaim  ihnen  grade  bei 


')  Richtig  Weizsäcker  (Apost.  Zeitalter-  S.  38):  „Die  Zugehörigkeit 
zu  dem  Glauben  und  Gemeinwesen  ihres  Volkes  hielten  die  ältesten  Christen 
fest.  Sie  wollten  nicht  Abtrünnige  sein,  und  sie  konnten  auch  nicht  als 
solche  beurteilt  werden.  Auch  wenn  sie  nicht  den  ganzen  Kultus  festhielten, 
geschah  dadurch  diesem  Verhältnisse  kein  Eintrag.  Das  Judentum  verstattete 
nicht  bloß  eine  große  Freiheit  der  Lehrmeinungen,  sondern  auch  der  Beteili- 
gung am  Kultus,  wie  das  Beispiel  der  Essäer  in  jener  Zeit  hinreichend  beweist. 
Die  Christen  ließen  sich  keine  Verletzung  des  Gesetzes  zu  Schulden  kommen, 
sie  traten  nicht  angreifend  auf.  Daß  sie  unter  den  Ortsgerichten  ebenso  wie 
unter  dem  Synedrium  als  oberstem  Landesgericht  stehen,  fällt  damit  zu- 
sammen, daß  sie  überhaupt  Juden  blieben.  Daß  einmal  einzelne  verklagt 
werden,  aber  wegen  mangelnden  Grundes  wieder  entlassen  werden  müssen, 
oder  auch  daß  dies  mit  einer  Züchtigung  begleitet  wird  .  .  .  .,  ist  an  sich 
ganz  denkbar  (cf.  Matth.  10, 17). . . .  Durch  die  ganze  Stellung  der  ersten  Christen 
im  jüdischen  Gemeinwesen  ist  nun  auch  die  Vorstellung  ausgeschlossen,  als 
ob  dieselben  auf  jüdischem  Boden  im  allgnmeinen  sich  eine  besondere  Syna- 
goge eingerichtet  und  ihre  Versammlung  als  solche  neben  die  bestehende 
Synagoge  gestellt  hätten.  Da  die  Synagoge  der  Regel  nach  eine  Einrichtung 
der  jüdischen  Gemeinde  ist,  so  hätte  das  soviel  bedeutet,  als  sich  vom  Ge- 
meindeverband in  jedem  Sinn  lossagen,  und  wäre  daher  dem  Abfall  gleich 
gewesen.  Nur  in  Jerusalem  kann  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  hier 
nicht  die  Fremdensynagogen  Gelegenheit  zu  einer  solchen  Einrichtung  gaben. 
Es  ist  unsere  Apostelgeschichte,  welche  uns  eine  unverfängliche  Angabe  über 
solche  bringt:  sie  spricht  c.  6,  9  von  der  Synagoge  der  Libertiner  und  Cyre- 
näer  und  Alexandriner  und  derer  von  Cilicieu  und  Asien,  welche  mit  Stephanus 
disputierten.  Es  ist  nicht  ganz  ersichtlich,  ob  dabei  an  eine  einzige  Synagoge 
zu  denken  ist,  welche  alle  die  Genannten  umfaßte,  oder  an  mehrei'e  und  wie 
viele.  Für  das  letztere  spricht,  daß  die  Fremden,  welche  sich  nach  dieser 
Angabe  in  Jerusalem  zu  eigenen  Versammlungen  vereinigen,  von  der  Lands- 
mannschaft ausgehen.  Man  könnte  nun  vermuten,  daß  die  Christen  als  Lands- 
mannschaft der  Galiläer  (Act.  1,  11;  2,  7)  eine  ähnliche  Stellung  eingenommen 
haben;  doch  ist  der  Name  nicht  in  zutretfendem  Sinne  nachweisbar.  Nach 
Act.  24,  5  muß  man  annehmen,  daß  sie  vielmehr  unter  dem  Namen  Nazaräer 
bekannt  waren ,  und  dieser  wiederum  bezeichnet  wohl  nicht  die  Herkunft 
des  Vereins,  sondern  diejenige  des  Stifters  und  hat  also  einen  anderen  Cha- 
rakter  Selbst  aber  wenn  die    Christen  eine  Synagoge  als  Galiläer  in 

Jerusalem  gebildet  hätten,  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Libertiner,  so  wäre 
daraus  nicht  viel  über  die  Einrichtung  ihrer  Gemeinschaft  zu  entnehmen,  da 
wir  ja  auch  darüber  gar  nichts  wissen,  in  welchem  Sinne  und  unter  welchen 
Formen  jene  Landsmannschaften  sich  als  besondere  Synagogen  in  Jerusalem 
eingerichtet  haben.  Für  die  ganze  Frage  ist  aber  doch  nicht  zu  übersehen, 
daß  wir  in  unsern  Quellen  den  Namen  der  Synagoge  überhaupt  nicht  auf 
die  Christen  aufgewendet  finden." 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  41 

den  Eifrigsten  ihrer  jüdischen  Landsleute  nur  zum  Lobe  gereicht 
haben.  Glaubten  sie  die  Person  des  künftigen  Messias  bereits 
zu  kennen,  so  war  das  freilich  in  den  Augen  dieser  ein  schwerer 
Irrtum;  aber  durch  den  Kreuzestod  schien  der  Irrglaube  an  der 
Wurzel  bereits  beseitigt,  und  jene  Eifrigen  konnten  eben  deshalb 
erwarten,  daß  „das  Ärgernis"  nun  in  sich, selbst  in  Kürze  zusammen- 
brechen, der  messianische  Eifer  dagegen  nachbleiben  werde.  Die 
jüdische  Obrigkeit  aber  konnte  die  Sache  abwarten  und  sich  mit 
Überwachung  begnügen.  Spielte  sich  doch  einstweilen  noch  die 
ganze  Bewegmig  in  den  untersten  Schichten  ab  ^. 

Allein  die  Periode  der  Nachsicht  bez.  stoßweiser  und  nicht 
sehr  kräftiger  Reaktionen  seitens  der  Judenschaft  mußte  aufhören 
und  den  schärfsten  Repressalien  weichen,  sobald  die  (im  jüdischen 
Sinn)  bedingungslose  oder  ganz  lax  bedingte  Heidenmission 
eine  offenkundige  Tatsache  wurde.  Die  Heidenmission  spaltete 
aber  zunächst  die  kleine  Christenschar  selbst  und  veranlaßte  die- 
jenigen, welche  sie  ablehnten,  näher  an  ihre  nichtchristgläubigen 
Brüder  heranzurücken.  Der  Apostel  Paulus  mußte  über  eine 
doppelte  Gegnerschaff  klagen  und  mit  ihr  kämpfen:  sowohl  die 
gesetzesstrengen  Judenchristen  verfolgten  ihn.  als  auch,  wie 
I  Thess.  2.  15  f.  zeigt,  die  Juden  (ey.dic6$arTeg  y/udg  ....  xco- 
Ivovxeg  fjjiiäg  roTg  edveoiv  Aalrjoni ,  t'ya  ocod(7)oiv),  die  somit  der 
christlichen  Mission  unter  den  Heiden,  obgleich  sie  sie  im  Grunde 
nichts    anging,    keineswegs   mit  verschränkten  Armen    zuschauten. 

Die  Anfänge  der  Heidenmission  sind  nicht  völlig  klar  — 
Paulus  ist  nicht  der  erste  Heidenmissionar  gewesen-  — ;  jedoch 
aus  apriorischen  Erwägungen  und  aus  bestimmten  Mitteilungen 
können    wir    folgern,    daß   der   Übergang    zur   Heidenmission    ein 


^)  Mau  vgl.,  was  über  Gamaliel  Act.  5,  34  ff.  erzählt  ist.  Niederes  Volk, 
s.  Joli.  7,48.  49:  fii'i  rig  sy.  rcöv  aoy6vio)r  s.-riOTevoer  eig  avzur  i)  sy.  rwr  <Paoi- 
oaio)v ;  d/J.ä  6  o/kog  ovio;  6  fiy  yiriooy.oyv  lov  vöuor  frcagaioi  staiv.  Die 
Apostelgeschiclite  mai-kiert  jedoch  c.  6.  7,  daß  auch  Priester  (angeblich  ein 
:To/.i'g  oyl.oq  derselben)  hinzugetreten  seien,  und  c.  15.  5  auch  Pharisäer. 

-)  Paulus  hat  nirgendwo  in  seinen  Briefen  den  Anspruch  erhoben,  die 
Heidenmission  überhaupt  erst  begonnen  zu  haben.  Hätte  er  sie  begonnen, 
so  hätte  er  das  gewiß  nicht  verschwiegen.  Gal.  1,  16  sagt  nur,  daß  der 
Apostel  bereits  seine  Bekehrung  als  Berufung  zur  Heidenmission  verstanden 
hat;  aber  daß  diese  selbst,  als  er  sie  auszuführen  begann,  etwas  ganz  Neues 
war,  sagt  die  Stelle  nicht.  Mau  braucht  auch  nicht  aus  ihr  zu  folgern,  daß 
daß  Paulus  sofort  als  Heidenmissionar  aufgeti-eten  ist;  der  Zweck  der  Offen- 
barung des  Sohnes  Gottes  (\'va  Evay/E/.l'^oifiai  ainov  iv  roT;  edreoir)  kann  sich 
ihm  allmählich  enthüllt  haben.  (Anders  wäre  es,  wenn  es  sicher  stünde, 
daß  er  sofort  nach  seiner  Bekehrung  nach  Arabien  gegangen  ist .  um  dort 
direkte  Heidenmission  zu  treiben;  allein  es  ist  nicht  bekannt,  ob  er  sich 
sofort  nach  Arabien  begeben  hat,  wie  lange  er  dort  gewesen  ist,  und  ob  er 
dort  schon  die  direkte  Heidenmission  begonnen  hat).    Nur  das  ist  anzunehmen, 


42  Einleitung  und  Grundlegung. 

allinählieher  Avar,  sich  aber  als  solcher  mit  zwingender  Gewalt 
aufdrängte.  Auch  hier  war  alles  durch  die  innnere  Lage  des 
Judentums  bereits  vorbereitet,  nämlich  durch  den  jüdischen 
Missionseifer,  die  zum  Universalismus  strebende  Zersetzung  und 
den  abgestuften  Proselytismus.  Wir  haben  darauf  in  dem  ersten 
Kapitel  schon  hingewiesen. 

Nach  der  Apostelgeschichte  (cap.  6.  7)  ^  war  die  älteste  jerusa- 
lemische Christengemeinde  aus  zwei  Elementen  zusaminengesetzt, 
dem  palästinensisch-hebräischen  und  dem  Element  der  Diaspora- 
Juden  ('EAkfjviotai)  2.  Zwischen  beiden  trat  frühzeitig  eine  Spannung 
ein;  sie  führte  zur  Einsetzung  der  sieben  Armenpfleger,  die  der 
zweiten  Gruppe  angehörten  und  sämtlich  griechische  Namen  trugen. 
Innerhalb  dieser  Grup})e,  die  wir  uns  im  ganzen  als  freisinniger 
d.  h.  als  minder  streng  in  der  buchstäblichen  Gesetzesbeobachtung 
denken  dürfen  ^,  trat  Stephanus,  der  Armenpfleger,  besonders  her- 


daß  für  ihn,  den  Bekehrten,  eine  neue  Berufung  und  ein  neuer  innerer  Kampf 
uicht  mehr  nötig  waren,  um  die  Heidenmission  zu  unternehmen.  Daß  er 
trotzdem  der  Heidenmissionar  bleibt,  ist  gewiß.  Er  hat  das  Recht  der  Mis- 
sion und  die  Pflicht  wirklich  begründet,  und  er  hat  die  Bewegung  aus 
unsicheren  Anfängen  zur  weltumspannenden  Mission  erhoben. 

')  Für  den  Verfasser  der  Apostelgeschichte  ist  der  Übergang  der  Judeu- 
mission  in  die  Heidenmission  und  die  aus  ihm  resultierende  Verwerfung  des 
Judentums  eine  Sache  von  größter  Wichtigkeit  gewesen;  ja  man  darf  sagen, 
daß  er  die  Darstellung  dieses  Übergangs  in  den  Hauptzweck  seines  Buches 
aufgenommen  hat.  Das  beweist  die  Anlage  der  15  ersten  Kapitel  sowie  der 
Schluß  des  Buches  c.  28,  23  — 28  (die  Verse  30  u.  31  sind  ein  Postscriptum). 
Nach  Anführung  von  Jesaj.  6,  9. 10  —  eine  für  das  Judentum  vernichtende 
Prophezeiung,  die  der  Verfasser  nun  erfüllt  sieht  —  läßt  er  den  Paulus  zu 
den  Juden  sprechen:  yi'cooTcn'  orv  f'aiw  vuTv  ön  roig  fOvfoiv  djreazdh]  tovto 
ro  nojTyQioi'  tov  dnov '  avrol  xai  dy.ovoovxai.  Deutlicher  kann  man  es  nicht 
sagen,  daß  das  Evangelium  nicht  den  Juden,  sondern  den  übrigen  Völkern 
gegeben  ist.  —  Was  oben  im  Text  von  dem  Werke  der  Heidenmission  er- 
zählt wird,  stützt  sich  auf  die  Apostelgeschichte,  soweit  als  ich  ihre  Berichte 
für  zuverlässig  halte.  Ihr  Verfasser  ist  Pauliner;  aber  er  motiviert  den  christ- 
lichen Universalismus  sehr  viel  einfacher  als  Paulus  oder  vielmehr  —  er 
motiviert  ihn  gar  nicht  (das  Evangelium  ist  universalistisch),  wenn  er  auch 
nicht  verschleiert,  daß  anfangs  nur  den  Juden  gepredigt  worden  ist  und  sich 
die  Heidenmission  langsam  entv/ickelt  hat.  Die  innerchristlichen  Spannungen 
kommen  dabei  kaum  zum  Ausdruck. 

-)  Daß  es  in  Jerusalem  aber  auch  Christen  gab,  die  vorher  Proselyten 
waren,  zeigt  Apostelgesch.  6,  5:  Nixölaov  jTfjoot'jkvTov.  Das  hinzugefügte 
'Avztoyja  zeigt  ein  besonderes  Interesse  für  diese  Stadt  beim  Verf.  der  Schrift. 

^)  S.  Weizsäcker,  Apost.  Zeitalter-  S.  51  ff.  Natürlich  waren  sie  „gute" 
Juden,  sonst  hätten  sie  sich  nicht  in  Jerusalem  niedergelassen ;  aber  es  darf 
angenommen  werden,  daß  diese  Synagogen  der  Libertiner  (Römer),  Cyrenäer, 
Alexandriner,  Cilicier  und  Asiaten  (Act.  6, 9)  auch  hellenisierte  Juden  um- 
faßten, die  durch  hellenische  Wissenschaft  die  jüdische  Religion  erweichten. 
Andererseits  zählten  auch  sie  exklusive  Fanatiker  in  ihrer  Mitte,  und  von 
ihnen   ist  der  erste  Ansturm   gegen   die  Christen   ausgegangen.     Das  palästi- 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  43 

vor.  Die  Anklage  seitens  einiger  fanatischer  Landsleute  gegen 
ihn  vor  dem  Synedrium  lautete,  daß  er  fortgesetzt  blasphemische 
Reden  führe  gegen  „den  heiligen  Ort"  und  das  Gesetz,  indem  er 
behaupte,  dal,!  Jesus  den  Tempel  zerstören  und  die  Sitten,  die 
Moses  geboten  habe,  ändern  werde.  Diese  Anklage  wird  in  der 
Apostelgeschichte  als  erlogen  bezeichnet;  aber,  wie  die  Rede  des 
Stephaims  beweist,  war  sie  an  sich  begründet,  erlogen  war  nur 
die  Tendenz,  die  man  den  Worten  gab.  Stephanus  hat  nicht 
wider  den  Tempel  und  das  Gesetz  gesprochen,  um  ihren  gött- 
lichen Ursprung  zu  bestreiten,  sondern  er  hat  die  begrenzte  Dauer 
dieser  Einrichtungen  behauptet.  Damit  setzte  er  sich  allerdings 
in  Widerspruch  zu  dem  vulgären  Judentum  seiner  Zeit,  aber 
schwerlich  in  AViderspruch  zu  allem,  was  jüdiscli  war.  Daß  es 
im  Judentum,  vornehmlich  in  dem  der  Diaspora,  bereits  Rich- 
tungen gab,  die  den  Tempelkultus ^,  und  in  diesem  in  erster 
Linie  die  blutigen  Opfer,  für  unwesentlich,  ja  für  bedenklich 
hielten,  steht  fest.  Ebenso  gewiß  ist  auch,  daß  aus  äußeren  und 
inneren  Gründen  in  manchen  jüdischen  Ivi'eisen  die  äußerliche 
Gesetzesbeobachtung  nicht  hoch  geschätzt  wurde  bez.  hinter  der 
Moral  mehr  oder  weniger  zurücktrat.  Es  ist  demnach  historisch 
und  psychologisch  wohl  verständlich,  daß  ein  für  das  Evangelium 
gewonnener  Diasporajude  die  souveränen  und  exklusiven  sittlichen 
Momente,  welche  dasselbe  darbot  2,  mit  schon  bestehenden  Dispo- 
sitionen in  Bezug  auf  die  relative  Wertlosigkeit  des  Tempels  und 
des  Zeremoniengesetzes  verband  und  das  Ergebnis  zog:  der  Messias 
Jesus  wird  den  Tempelkultus  abschaffen  und  das  Zeremonien- 
gesetz ändern.  Man  beachte  dabei  das  Futurum;  die  Apostel- 
geschichte scheint  hier  sehr  genau  zu  berichten:  Stephanus  hat 
nicht  zu  Änderungen  aufgefordert  —  erst  der  als  Messias  wieder- 
kehrende Jesus  wird  Wandel  schaffen  — ,  sondern  er  hat  diese 
Änderungen  prophetisch  vorhergesagt  und  damit  allerdings  den 
Unwert  der  bestehenden  Ordnungen  behauptet.  Zur  Heidenmission 
hat  er  nicht  aufgefordert,  aber  er  hat  sie  durch  sein  Wort  und 
seinen  Tod  doch  mitbegründen  helfen. 


nensische  Judentum  (das  Synedrium)  schloß  sich  an.  In  dem  embryonalen 
Stadium  erscheint  also  die  erste  Christeuverfolgung  als  eine  Zänkerei  und 
Spannung  innerhalb  des  Diaspora-Judentums  in  Jerusalem. 

^)  Zumal  nachdem  derselbe  wiederholt  durch  das  verweltlichte  Priester- 
tum  entweiht  war. 

^)  Auch  daran  darf  hier  erinnert  werden ,  daß  Jesus  selbst  den  Unter- 
gang des  Tempels  prophezeit  hat.  Ich  halte  mit  Weizsäcker  (a.  a.  0.  S.  53) 
dieses  Herrnwort  für  echt.  Es  ist  zum  Ausgangspunkt  geworden  für  eine 
innere  Entwicklung  seiner  Jünger,  die  sie  schließlich  zur  Heidemnission  ge- 
führt hat.  Vgl.  über  das  Herrnwort  vom  Untergang  des  Tempels  und  seine 
Bedeutung  Wellhau seus  Kommentare  zu  den  Synoptikern. 


44  Einleitung  und  Grundlegung. 

Stcphanus  wurde  gesteinigt  und  ntarb,  wie  Hus,  für  eine 
Sache,  deren  Konsequenzen  er  walirseheinlieli  nocli  nicht  über- 
schaute: seine  Steinigung  ist  nicht  auffallend  —  diese  Art  von 
Jesusgläubigen  konnte  das  orthodoxe  Judentum  am  wenigsten 
vertragen.  Auch  die  Anhänger  des  Stephanus  wurden  verfolgt  — 
grell  war  ja  auf  einmal  die  kleine  Christenschar  in  ihrer  Gefähr- 
lichkeit beleuchtet  ■ — :  sie  mußten  Jerusalem  verlassen,  nicht  aber 
die  Apostel  (Act.  S,  1);  diese  haben  sich  also  mit  Stephanus 
in  dem  l'unkte  der  Anklage  noch  nicht  für  solidarisch 
erklärt^  Die  Versprengten  zogen  in  Judäa  und  Samarien  umher 
und  wirkten  unfreiwillig-freiwillig  als  Missionare,  d.  h.  als  Apostel 
(Act.  8,  4):  unter  ihnen  war  der  Gemeindepfleger  Philippus  der 
Bedeutendste;  er  predigte  in  Samarien  und  an  der  Küste.  Wie 
er  den  äthiopischen  Dynasten,  einen  Eunuchen,  gewomien  und  ge- 
tauft hat,  wird  ausführlich  berichtet  (Act.  8,  26  ff.),  und  das  ist 
wohl  verständlich.  Der  Mann  war  kein  Jude,  sondern  gehörte  zu 
den  ^^(poßov/ievoi  rov  ^foj-";  übrigens  hätte  er  als  A'erschnittener 
auch  nie  Jude  Averden  kömien.  Indem  er  der  christlichen  Ge- 
meinde zugeführt  wird,  er,  der  „halbe"  Proselyt  und  Eunuch,  ist 
eine  starre  Schranke  bereits  gefallen. 

Allein  ein  Fall  entscheidet  noch  nicht,  und  auch  der  zweite 
ähnliche  Fall  —  Petrus  tauft  den  ,,fpoßovftevog'-^  Cornelius  in 
Cäsarea  —  kann  die  prinzipielle  Bedeutung  noch  nicht  gehabt 
haben,    welche    der  Verfasser   der   Apostelgeschichte    ihm   gibt 2. 


')  Dies  scheint  mir  sehr  wichtig  und  bezeugt  zugleich  die  Treue  der 
Berichterstattung  der  Apostelgeschichte  an  diesem  Punkte.  Verfolgt  wurden 
augenscheinlich  die  Christen  damals  mit  Auswahl;  unbehelligt  blieben  solche, 
deren  Devotion  gegenüber  dem  Tempel  und  Gesetz  zweifellos  war,  also  zu- 
nächst auch  noch  Jacobus,  Petrus  und  die  anderen  Apo.stel.  Daß  Petrus  erst 
später,  wenn  auch  nicht  viel  später,  den  ersten  Schritt  aus  dem  strengen 
Judentum  getan  hat,  sagt  die  Apostelgeschichte  deutlich  genug.  Anders 
Weizsäcker  (a.  a.  0.  S,  (JOf.),  der  den  ersten  Schritt  schon  hierher  verlegt, 
aber  sonst  richtig  bemerkt:  „Es  ist  einleuchtend,  daß  diese  Erkenntnis  (näm- 
lich daß  das  Heil  im  Reiche,  das  zukünftige  Heil,  nicht  mehr  auf  die  Ver- 
pflichtung des  Gesetzes  gegründet  sein  kann)  durch  nichts  so  sehr  erweckt 
und  gefördert  werden  konnte,  als  wenn  von  pharisäischer  Seite  der  Glaube 
an  Jesus  und  sein  Reich  verfolgt  wurde,  weil  durch  denselben  der  unver- 
Iniichlichen  Dauer  des  Gesetzes  uud  dem  Glauben  an  das  Heil  desselben 
f^intrag  geschehe.  Die  Verfolgung  ist  daher  die  Befreiung  des  Christen- 
glaubens, sie  ist  das  Mittel,  denselben  zur  Klarheit  über  sich  selbst  zu 
bringen.  Und  sie  ist  in  diesem  Sinne  an  der  Urgemeinde  nicht  vergeblich 
gewesen." 

■•')  Wenigstens  hat  sie  sicher  nicht  dort  gelegen,  wo  der  Verfasser  sie 
sucht;  al)er  insofern  war  allerdings  der  Fall  von  hoher  Bedeutung,  als  er 
Petrus  nötigte,  der  Gesinnung  und  Praxis  nun  beizutreten,  die  die  Stephanus- 
freunde  bisher  allein  (ohne  die  Urapostel)  befolgt  hatten  (s.  die  vorige  An- 
merkung).    Die  rk'kehrung  des  Hau})tmauns  von  Cäsarea   führte  deu  Petrus 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenniission.  45 

So  lange  es  sich  um  Proselytcn,  sei  es  aucli  \m\  solche  des 
weitesten  Kreises,  handelte,  konnte  selbst  der  strengsti;  Jndenchrist 
eine  Auffassung  finden,  die  ihm  ihre  Aufnahme  erträglicli  er- 
scheinen ließ:  er  konnte  die  recipierten  Proselyten  für  Angehiirige 
der  Christengemeinde  im  weiteren  Sinne  halten,  d.  li.  noch 
immer  für  Proselyten. 

Der  nächste  und  entscheidende  Schritt  geschah  in  Antiochien  ; 
er  ging  wiederum  von  den  verjagten  Stephanusfreunden  aus  (Act. 
11,  19  ff.),  die  auf  ihren  Missionswanderungen  nach  Phönicien, 
Cypern  und  Antiochia  gekommen  waren.  Zwar  die  Mehrzahl  von 
ihnen  hielt  sich  streng  an  die  Judenmission,  aber  einige  — 
cyprische    und    cyrenische   Männer^   —   predigten    in    der    großen 


und  mit  ihm  einen  Teil  der  jerusalemischen  Gemeinde  ein  wichtige«  Stück 
weiter.  Übrigens  ist  nicht  zu  verschweigen,  daß  die  ganze  Perikope  Be- 
denken in  bezug  auf  ihre  Geschichtlichkeit  erregt.  Lucas  hat  sie,  in  der 
Überzeugung,  daß  hier  der  große  Wendepunkt  gegeben  sei,  mit  einer  in 
seinem  Werke  sonst  vermißten  Ausführlichkeit  behandelt. 

M  Die  Namen  sind  hier  nicht  genannt,  aber  c.  Id,  1  werden  als  anti- 
ochenische  Propheten  und  Lehrer  der  (Cyprier)  Barnabas,  Simeon- Niger, 
der  Cyrener  Lucius,  Manahem,  der  Vertraute  [man  darf  nicht  „Milchbruder" 
übersetzen]  des  Tetrarchen  Herodes,  und  Saulus  genannt.  Da  nach  Act.  11, 22  ft^ 
Barnabas  und  Saulus  erst  nach  Gründung  der  Gemeinde  in  Antiochien  dort- 
hin gekommen  sind,  so  darf  man  vielleicht  in  den  drei  anderen  Personen  die 
Gründer  der  Gemeinde  und  also  auch  die  ersten  Heidenmissionare  erkennen. 
Aber  Barnabas  muß  unter  den  Begründern  der  Heidenmissiou 
doch  an  erster  Stelle  genannt  werden;  er  muß  die  freie  Anschauung 
selbständig  erworben  haben.  Das  zeigt  das  V^erhältnis  des  Paulus  zu  ihm. 
Ein  cyprischer  Levit,  gehörte  er  von  Anfang  an  der  jerusalemischen  Ur- 
gemeinde  an  (vielleicht  war  er  schon  im  Gefolge  Jesu  gewesen,  s.  Clemens, 
Strom.  II,  20;  Euseb.,  h.  e.  I,  12;  Clemens  Rom.,  Hom.  1,9)  und  hatte  sich  in 
ihr  durch  einen  Akt  der  Opferwilligkeit  eine  bedeutende  Stellung  verschafft 
(Act.  4, 36  f.).  Unzweifelhaft  ist  er  die  Mittelsperson  zwischen  Paulus  und 
den  Uraposteln  gewesen,  so  lange  eine  solche  nötig  war  (Act.  9,  27),  und 
ebenso  der  Vermittler  zwischen  Jerusalem  und  Antiochien  (Act.  11,  22  ff.).  Er 
ist  auf  der  sogenannten  ersten  Missionsreise  des  Paulus  fast  die  Hauptperson 
(Act.  13. 14).  Seitdem  er  sich  ganz  der  Heidenmission  gewidmet  hatte,  scheint 
sein  Ansehen  in  Jerusalem  nicht  das  alte  geblieben  zu  sein.  Man  mißtraute 
auch  ihm,  und  er  mußte,  wie  Paulus,  sein  Verhalten  rechtfertigen  (Act.  15; 
Gal.  2).  In  der  kritischen  Situation,  die  dann  in  Antiochien  eintrat,  hat  er, 
von  Petrus  verführt,  die  Probe  nicht  bestanden  (so  wenigstens  nach  dem 
Bericht  des  Paulus  Gal.  2,  13;  aber  was  für  Paulus  Heuchelei  gewesen  wäre, 
brauchte  es  für  ihn  nicht  zu  sein).  Die  gemeinsame  Missioustätigkeit  mit 
Paulus  hört  nun  auf  (die  Apostelgesciiichte  läßt  sie  auch  mit  einem  Miß- 
klang enden,  aber  nach  ihr  [c.  15,  36  ff'.]  haben  sich  die  beiden  Apostel 
darüber  gestritten,  ob  Marcus  mitzunehmen  sei).  Barnabas  geht  mit  Marcus 
nach  Cypern.  Als  Paulus  den  I.  Corintherbrief  und  den  Galaterbrief  schrieb, 
war  er  noch  als  Missionar  tätig,  und  sein  Name  war  auch  den  Corinthern 
nicht  unbekannt  (s.  I  Cor.  9,  6).  Daß  Paulus  den  Galatern  die  , Heuchelei* 
des  Barnabas  nach  Jahr  und  Tag   noch   erzählt,   ist  ein  Beweis  dafür,   wie 


46  Einleitung-  und  Grundlegung. 

AYeltstadt  Anrioehiii  auch  den  Hellenen^  und  fanden  bei  ihnen 
eine  gute  Wirksamkeit.  Diese  Männer  sind  die  ersten 
Heidenmissionare  gewesen  und  haben  die  erste  Heidenkirche 

—  eben  in  Antiochia  —  gestiftet.  In  ihr  Werk  aber  traten 
Barnabas  und  Paulus  (Act.  11,  2.3ft'.)  ein,  um  schnell  die  eigent- 
lich Leitenden  zu  werden  ^. 

Die  bekehrten  Hellenen   in  Antiochien,   Syrien    und   Cilicien 

—  denn  dort  entfalteten  Barnabas  und  Paulus  bald  darauf  ihre 
Mission    —    mö<>-en    in    den    ersten    Jahren    größtenteils    frühere 


unvergeßlich  dem  Apostel  diese  Katastrophe  ist,  in  der  die  ganze  Heideu- 
mission  auf  dem  Spiel  gestanden  hat,  fordert  aber  nicht  die  Annahme,  daß 
Paulus  sich  noch  von  Barnabas  getrennt  weiß.  Er  wird  in  jeuer  Erzählung 
überhaupt  nur  erwähnt,  um  die  Größe  des  Unheils,  welches  die  Feigheit  des 
Petrus  angerichtet  hatte,  schlagend  zu  charakterisieren.  Der  gewählte  Aus- 
druck (>iai  BaQväßag  avvajitjxi^i])  zeigt  zudem,  daß  er  halb  willenlos  mitfort- 
gerissen wurde.  Die  Stelle  I  Cor.  9,6  beweist,  daß  Paulus  in  Barnabas  immer 
noch  den  Apostel  Christi  gesehen  und  in  diesem  Sinne  in  seinen  Gemeinden 
von  ihm  gesprochen  hat  (s.  auch  Coloss.  4,  10:  aus  der  Stelle  geht  hervor, 
daß  Barnabas  auch  den  asiatischen  Christen  als  eine  Größe  bekannt  war). 
Aber  ein  herzliches  Verhältnis  zwischen  beiden,  die  so  lauge  Zeit  hindurch 
so  Großes  zusammen  erlebt  hatten,  kann  doch  nicht  bestanden  haben;  das 
Schweigen  in  den  Briefen  des  Paulus  und  in  der  Apostelgeschichte  (nach 
c.  15)  ist  beredt.  Wir  aber  haben  in  Ansehung  der  Heidenmission  nacTi 
Paulus  Barnabas  als  den  verdiente.sten  zu  schätzen,  ja  wir  können  ahnen  — 
denn  das  lassen  die  Quellen  gerade  noch  zu  — ,  daß  seine  Verdienste  in  bezug 
auf  die  Beschwichtigung  der  Sorgen  und  des  Argwohns  der  jerusalemischen 
Muttergemeinde  noch  weit  größere  gewesen  sind,  als  die  uns  erhaltenen  Be- 
richte sagen.  Vielleicht  besitzen  wir  ein  Schreiben  des  Barnabas  —  nicht 
den  sogenannten  Barnabasbrief,  aber  den  Hebräerbrief.  Die  Zeugnisse,  daß 
er  der  Verfasser  sei,  sind  nicht  schlecht,  aber  doch  nicht  ausreichend,  und 
die  inneren  Gründe  sprechen  gegen  diese  Annahme.  Ob  er  von  Cypern  aus 
nach  Alexandrien  gegangen  ist  und  dort  gev/irkt  hat,  wie  die  pseudoclemeu- 
tiuischen  Homilien  wissen  wollen  (Buch  I  u.  U)? 

V)  So  ist  11.  20  zu  lesen,  nicht  , Hellenisten''.  —  Daß  gerade  in  Anti- 
ochien die  heidenchristliche  Predigt  begonnen  hat,  ist  nicht  auffallend.  Nur 
in  einer  internationalen,  nivellierenden  Großstadt  war  diese  Wendung  möglich 
oder  drängte  sich  vielmehr  auf.  sofern  sie  nicht  durch  eine  prinzipielle  neue 
]">kenutnis  bedingt  war.  Eine  solche  aber  hat  höchst  wahrscheinlich  jenen 
ersten  Missionaren  noch  gefehlt.  Sehr  merkwürdig  ist,  daß  man  nichts  von 
einem  Gegens.\,tz  der  .Tudenchristen  und  der  Heidenchristen  in  Antiochien 
selbst  hört.  Die  dort  bekehrten  Juden  müssen  sich,  zersetzt  und  kosmo- 
politisch wie  sie  waren,  der  gesetzesfreien  Gemeinschaft  einfach  angeschlossen- 
haben.  Erst  die  jerusalemische  Gemeinde  trug  den  Streit  in  die  antiochenische 
hinein  (s.  Act.  15,  1  und  Gal.  2, 11—13). 

^)  Alles,  was  sich  in  der  Apostelgeschichte  direkt  oder  entfernter  auf 
Antiochien  bezieht,  ist  besonders  wertvoll;  denn  die  Überlieferung,  Lucas 
sei  ein  antiochenischer  Arzt  gewesen,  verdient  Glauben.  Bereits  c.  6  und 
die  zugehörigen  folgenden  Stücke  der  Apostelgeschichte  tendieren  auf 
Antiochien. 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidennüssion.  47 

^.qioßovfievoi'-^  gewesen  sein  ^,  aber  gewiß  nicht  ausschließlich. 
Jedenfalls  bildete  sich  in  Antiochien  eine  Gemeinde,  die  der 
Mehrzahl  nach  aus  Unbeschnittenen  bestand,  und  die  nun  selbst 
die  Mission  bei  den  Heiden  in  die  Hand  nahm^.  Für 
diese  Gemeinde  kam  zuerst  —  die  heidnischen  Gegner  prägten 
den  Namen  —  die  Bezeichnung  „XfjfOTfarot"  auf  (Act.  11,  26). 
Diese  Bezeichnung  ist  für  sich  selbst  ein  Beweis,  daß  sich  die 
neue  Gemeinde  in  Antiochien  kräftig  von  der  Judenschaft  abhob^. 

Die  heidenchristlichen  Gemeinden  Syriens  und  Ciliciens  hielten 
das  Gesetz  nicht,  wußten  sich  aber  doch  als  das  Volk  Gottes  im 
vollsten  Sinne  des  Wortes  und  waren  darauf  bedacht,  mit  der 
Muttergemeinde  in  Jerusalem  Fühlung  zu  haben  und  von  ihr  an- 
erkannt zu  werden*.  Für  die  meisten  dieser  bekehrten  kosmopoli- 
tischen Juden  und  Griechen  genügte  die  Versicherung,  daß  Gott 
ja  bereits  durch  die  Propheten  den  Unwert  der  Opfer  hat  ver- 
kündigen lassen  ^,  und  daß  man  deshalb  alles  Zeremonielle  im 
Gesetz  allegorisch  deuten  und  sittlich  verstehen  müsse ''.  Auch 
die  anderen  heidenchristlichen  Gemeinden,  die  sich  nun  durch 
unbekannte  Missionare  bildeten  (z.  B.  die  römische),  urteilten 
zunächst  so. 

Allein  so  einfach  hat  sich  der  Apostel  Paulus  mit  dem  Gesetz 
nicht  abgefunden.  Entwertet  durch  den  stillen  auflösenden  Gang 
der  Zeit  und  der  Verhältnisse  war  ihm  kein  Teil  desselben;  es 
bestand  vielmehr  in  allen  seinen  Geboten  zu  Recht.  Abrogiert 
kann   es   nur   von   dem   werden,    der   es   gegeben   hat,    von   Gott 


1)  Cf.  Havet,  Le  Christianisuie  T.  IV  p.  102:  ,Je  ne  sais  s'il  y  est 
entre,  du  vivant  de  Paul,  un  seul  paien  —  je  veux  dire  un  homme  qui  ue 
connüt  pas  dejä,  avaut  d'y  entrer,  le  juda'isme  et  la  Bible."  Das  ist  wolil 
übertrieben,  aber  wird  doch  wesentlich  richtig  sein. 

2)  Act.  13,  1  fl:". 

^)  Näheres  über  den  Namen  „Christen"  s.  im  8.  Buch.  —  Die  heiden- 
christliche theologische  Terminologie,  soweit  das  Heidenchristentum  eine 
solche  brauchte,  muß  auch  in  Antiochien  entstanden  sein. 

*)  Man  vergleiche,  was  die  Apostelgeschichte  (11,  '29  f.;  12,  2-5)  von  einer 
Spende  erzählt,  welche  die  jüngst  gestiftete  antiochenische  Gemeinde  nach 
Jerusalem  zur  Zeit  der  Hungersnot  unter  Claudius  gesandt  hat.  Das  war 
dieselbe  Hungersnot,  in  der  die  Königin  Helena  von  Adiabene  die  armen 
Jerusalemiten  so  reichlich  unterstützte. 

^)  An  dem  Opierwesen  hat  man  sich  durchweg  das  Recht  klar  gemacht, 
den  Buchstaben  preiszugeben;  denn  das  Opferwesen  war  bereits  für  weite 
Kreise  in  die  Ferne  gerückt  und  entwertet.  Das  übrige  Gesetz  folgte  dann 
wie  von  selbst  nach. 

^)  Daß  dies  die  vulgäre  heidenchristliche  Anschauung  war,  erkennt 
man  besonders  deutlich  aus  der  nachapostolischen  Literatur.  Sie  war  also 
in  Kraft  geblieben  trotz  der  sehr  abweichenden  und  energischen  Lehre  des 
Paulus. 


48  Einleitung  und  (irundlejjiiuij. 

selbst,  und  auch  Gort  kann  es  nur  so  aufheben,  daß  er  es  zugleich 
in  semem  Kechtc  bejalit,  d.  h.  für  seine  Erfüllung  sorgt  imd  es 
eben  dadurch  aufhebt.  Dies  alles  ist  geschehen :  durcli  den 
Kreuzestod  des  Sohnes  Gottes,  Jesus  Christus,  und  die  Auf- 
erstehung ist  das  (jesetz  erfüllt  und  aufgehoben.  Ob  diese  Be- 
trachtung und  Spekulation  eine  sekundäre  und  abgeleitete  war 
(gewonnen  an  dem  Besitz  des  Geistes  und  des  neuen  Lebens,  das 
der  Apostel  in  sich  fühlte),  ob  sie  eine  primäre  war  (gewonnen 
an  der  Gewißheit  der  Sündenvergebung),  ob  beides  zusammentraf, 
diese  Frage  braucht  uns  hier  nicht  zu  beschäftigen.  Genug,  daß 
er  überzeugt  war,  durch  den  Tod  und  die  Auferstehung  des 
Christus  sei  bereits  die  neue  Zeit  angebrochen:  „Die  Zukunft  ist 
schon  Gegenwart  geworden,  und  der  Geist  regiert."  In  dieser 
Gewißheit  erkannte  er  in  dem  Evangelium  fest  und  sicher  die 
neue  Religionsstufe,  wie  er  sich  auch  selbst  als  eine  neue 
Kreatur  fühlte.  Die  neue  Religionsstufe  ist  die  Stufe  des  Geistes 
mid  der  Wiedergeburt,  der  Gnade  und  des  Glaubens,  des  Friedens 
und  der  Freiheit:  alles  Alte,  auch  alle  früheren  Gottesoffen- 
l)arungen,  hat  sie  als  Religionen  des  Sündenstandes  unter  und 
hinter  sich.  Yon  hier  aus  konnte  er,  der  Jude  und  Pharisäer, 
sogar  die  große  Konzeption  wagen,  mit  der  er  alle  gesunde 
Religionsphilosophie  und  die  ganze  vergleichende  Religions- 
geschichte begründet  hat.  nämlich  die  „natürliche''  Gotteserkenntnis 
der  Menschheit  bez.  das,  was  sich  unter  dem  Prinzipat  des  Ge- 
wissens in  ihr  entwickelt  hatte,  mit  dem  Gesetze  des  erwählten 
Volkes  zusammenstellen  (Rom.  1  f.).  Beides  ist,  wenn  auch  in 
verschiedener  Weise  und  nicht  gleichwertig,  göttliche  Offenbarung 
—  das  Beste,  was  die  Menschheit  bisher  besessen  hat  — ,  und 
beides  hat  doch  nicht  ausgereicht,  sondern  den  Sündenstand  ver- 
mehrt und  zum  Tode  geführt. 

Eine  neue  Religion  ist  gegeben  —  eben  deshalb  ist  die 
Heidenmission  nicht  eine  Miiglichkeit,  sondern  eine  Pflicht,  die 
Gesetzesfreiheit  nicht  eine  Konzession,  sondern  die  entscheidende 
und  beseligende  Form  des  Evangeliums.  Daß  es  in  keinem  Sinn 
Gesetz  ist,  sondern  Gnade  tmd  Gabe,  darin  liegt  ja  sein  Wesen 
begründet.  Der  geborene  Jude  mag  sich  auch  als  Christ  be- 
schneiden lassen  und  die  Gesetzesgebote  halten  —  er  hält  damit 
das  jüdische  Volk  in  Kraft,  dessen  Rolle  im  weltgeschichtlichen 
Plane    Gottes    noch     nicht    ausgespielt    ist    —  \    aber    für    seine 

'j  Indessen  da  der  geborene  .Jude,  der  Christ  geworden,  nach  der  Mei- 
nung des  Paulus  mit  den  Heidenchristen  in  Lebens-  und  Tischgemeinschaft 
treten  soll,  so  wird  damit  die  Gesetzesbeobachtuug  an  einem  sehr  wichtigen 
Punkte  durchbrochen.  Über  dies  Problem  hat  Paulus  wohl  nur  deshalb 
nicht  weiter  nachgedacht,  weil  er  an  das  nahe  Weltende  glaubte. 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  49 

Seligkeit  ist  das  Gesetz  belanglos;  der  geborene  Heide  aber  darf 
sich  nicht  beschneiden  lassen  und  darf  das  Gesetz  nicht  halten; 
denn  er  ^\'ih■de  durch  solches  Tun  erklären,  daß  Christus  umsonst 
gestorben  ist. 

In  diesem  Sinne  hat  der  große  Apostel  den  Heiden  Christus 
den  Gekreuzigten  gepredigt  und  die  Heidenmission  sowohl  prinzipiell 
begründet  als  tatsächlich  verwirklicht.  Was  die  anderen  vor  ihm 
getan,  war,  gemessen  an  seiner  Überzeugung,  unbefestigt  und 
fragwürdig:  es  schien  zu  demselben  Ziele  zu  führen,  aber  es 
wurde  weder  dem  Gesetze  noch  dem  Evangelium  ganz  gerecht. 
Paulus  zertrümmerte  mit  dem  Kreuz  Christi  die  Religion  Israels, 
während  er  sie  doch  mit  größerer  Ehrfurcht  und  sti^engerem 
Gehorsam  umfaßte,  als  jene;  er  erklärte,  die  Zeit  Israels  sei 
abgelaufen.  Zwar  mit  einer  fast  unbegreiflichen  Pietät  ehrte  er 
die  Judenchristengemeinde  Jerusalems,  aus  der  ihm  doch  soviel 
Feindschaft  entgegengebracht  wurde:  aber  er  ließ  darüber  keinen 
Zweifel,  daß  nun  „die  Zeiten  der  Heiden-'  gekommen  seien,  daß 
also  judenchristliche  Gemeinden,  wenn  sie  nicht  mit  den  heiden- 
christlichen zu  der  einen  „Kirche  Gottes"  verschmölzen,  in  ihrer 
Exklusivität  ein  wirkliches  Existenzrecht  nicht  mehr  besäßen. 
Seine  religiöse  und  religionsgeschichtliche  Konzeption  war,  auf 
den  Kern  gesehen,  von  größter  Einfachheit,  weil  sie  auf  einer 
einzigen  Tatsache  fußte.  Auf  eine  kurze  Formel  aber  läßt  sie 
sich  nicht  bringen,  ohne  bis  zur  Flachheit  entstellt  zu  werden,  sie 
ist  immer  nur  in  einem  paradoxen  Medium  lebendig.  An  Stelle 
des  Mittels  und  der  Mittel,  die  er  aufgebracht  hat,  und  in  denen 
sie  für  ihn  gültig  und  gesichert  war,  können  auch  andere  Mittel 
ti'eten :  das  haben  bereits  in  der  nächsten  Generation  der  Verfasser 
des  Hebräerbriefes  und  jener  große  Unbekannte  bewiesen,  der  die 
Johanneischen  Schriften  geschrieben  hat.  Seitdem  sind  noch  viele 
andere  Lehrer  aufgetreten,  die  das  paulinische  Evangelium  anders 
begründet  haben  —  ich  nenne  aus  dem  2.  Jahrhundert  zwei  so 
verschiedene,  wie  Marcion  und  Clemens  Alexandrinus  — :  aber 
was  sie  transformierten,  war  nicht  die  Frucht  und  der  Kern.  In 
dem  Kerne  sind  sie  vielmehr  mit  dem  Apostel  einig:  der  nach- 
geborene Historiker  hat  das  hohe  Vorrecht,  dort  Einheit  in  den 
ersten  und  letzten  Dingen  sehen  zu  dürfen,  wo  die  Begründungen 
und  Beweise  sehr  verschieden  sind. 

Paulus,  der  Pharisäer,  hat  das  Volk  Israel  und  die  Religion 
Israels  in  der  Geschichte  entthront^;   er  hat  das  Evangelium  von 

^)  Kein  Wunder,   daß   die  Juden  später  behaupteten,    er   sei    ein  ver- 
kappter  Heide;    s.  Epiph.,    haer.  30,  16:    aal   tov    Uavkov    xaTrjyoQOvvts?    ovx 
aloxvvovzai  i:^iJiÄuozotg  riol  t^g  zatv  iperbanooTÖ/xav  avrwi'  -/caxoi'oyiaQ  xal  :ilävrig 
Xöyoig  jie!ioirji.iEvoig.      Tagoea    ixkv   avzov,    dig    avzög    o^ioloysl   xai    oi-x    uQVElzai, 
Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  4 


50  Einleitung  und  Grundlegung. 

dorn  jüdischen  Boden  losg-orissen  und  auf  den  Boden  der  Mensch- 
heit verpflanzt  ^.  Kein  Wunder,  daß  die  volle  Reaktion  des  Juden- 
tums gegen  das  Evangelium  nun  erst  begann  —  die  Reaktion 
der  Juden  und  der  Judenchristen.  Die  Feindschaft  der  Juden 
zeigt  jedes  Blatt  der  Apostelgeschichte  vom  12.  Kapitel  an ''^,  und 
auch  aus  den  evangelischen  Berichten,  deren  Quellen  bis  in  die 
Zeit  vor  d.  J.  65  zurückreichen,  lernt  man  sie  kennen  ^.  Die  Juden 
versuchten  nun  die  palästinensischen  Gemeinden  auszurotten  und 
die  christlichen  Missionare  zum  Schweigen  zu  bringen.  Sie  haben 
das  Werk  des  Paulus  unter  den  Heiden  auf  Sciiritt  und  Tritt  zu 
hemmen  gesucht.  Sie  haben  die  Christgläubigen  und  Christus 
in  ihren  Synagogen  verflucht;  sie  haben  die  Massen  und  die 
Obrigkeit  in  allen  Ländern  aufgehetzt:  sie  haben  die  furchtbaren 
Vorwürfe  gegen  die  Christen,  die  schon  im  Zeitalter  Trajans  eine 
Rolle  spielten,  systematisch  und  offiziell  in  die  Welt  gesetzt  (v/ueig 
rfjg  xarä  tov  dixatov   xai   yjucTn'   tmv  djz'  ixeivov  xaxrjg  nQoXi)ipE<jog 


XF.yovzeg  i§  'E^J.rjrcov  äk  aviöv  vjToriüerzat ,  ?.aß6rTeg  Tt/r  jToöq^'aciv  fx  tov  töjiov 
öiä  t6  (pÜMhjüsg  Vit  avrov  gijdh',  mi,  Tagoevg  el/ii,  ovx  no/jfiov  jroXecog  jrokir7jg. 
eha  cpäoxovaiv  avrov  sirai  "El/.jp'a  xai  'ElXrpnÖog  fitjTQog  xai  "Ekhp'og  jiaxQog 
Tiaiha,  dvaßFßijxerai  ök  etg  'IsQoaöXvjia  xai  ;^poj'07'  sxsT  /ne/isvtjxsrai ,  sjrire&v/Lii]- 
XEvai  ÖS  ■dvyaiEQa  tov  legeoig  jiQog  yd/ttov  ayaysadai  xai  tovtov  Evsxa  jTQoatjkvrov 
yf.vEodai  xai  jTeQiTiitj{)f]rai,  eha  /li]  kaßövTa  tijv  xögtjv  wQyioüai  xai  xarli  nepi- 
rofif/g  yeyQa<perai  xai  xarä  aaßßdzov  xai  vojio&eolag. 

^)  Niemand  hat  das  Ergebnis  der  Verpflanzung  erhabener  ausgedrückt 
als  Lucas  in  der  Geburtsgeschichte  Jesu  (c.  2),  und  zwar  in  den  Worten,  die 
er  dem  Engel  und  den  Engeln  in  den  Mund  legt.  —  Von  der  Schätzung  des 
Paulus  in  der  Heidenkirehe,  einem  sehr  komplexeu  Problem,  kann  hier  nicht 
gehandelt  werden.  Die  höchste  Schätzung  findet  sich  bei  den  Marciouiten. 
Origenes  (Hom.  XXV  in  Lucam,  t.  5  p.  181  f.  ed.  Lommatzsch)  erzählt  uns, 
sie  lehrten,  Paulus  sitze  im  Himmel  zur  Rechten  Christi  und  Marcion  zur 
Linken.  Er  fährt  fort:  ..Porro  alii  legentes:  Mittam  vobis  advocatum  spiri- 
tum  veritatis,  volunt  intellegere  apostolum  Paulum''.  Auch  wenn  die  letz- 
teren in  katholischen  Kreisen  zu  suchen  wären,  was  mir  nicht  wahrschein- 
lich ist,  wäre  diese  Auffassung  für  die  Großkirche  nicht  charakteristisch, 
sondern  etwas  Singulare?. 

^)  Nun  begann  auch  der  König  Herodes  die  Verfolgung  und  zwar  richtete 
er  sich  gegen  das  Kollegium  der  Zwölfe  (Act.  12).  Er  statuierte  ein  Exempel 
und  ließ  den  Jacobus  Zebedäi  hinrichten  (warum  er  ihn  herausgegriften  hat, 
wissen  wir  nicht).  Dann  ließ  er  den  Petrus  in  Ketten  legen,  aber  dieser 
entging  dem  Tode,  mußte  jedoch  .Jerusalem  verlassen.  Dies  geschah  im  J.  12 
p.  mortem  Chr.  Seitdem  scheinen  nur  noch  einzelne  Apostel  in  Jerusalem 
geblieben  zu  sein.  Zur  Zeit  des  sog.  Apostelkonzils  ist  zwar  Petrus  wieder 
daselbst,  al)er  die  Konvention  schließt  Paulus  nicht  mit  den  Elfen,  sondern 
nur  mit  ihm,  dem  Herrenbruder  Jacobus  und  Johannes.  Wo  waren  die 
übrigen?  Waren  sie  nicht  mehr  in  Jerusalem,  oder  zählten  sie  in  dieser  An- 
gelegenheit nicht  mit? 

')  S.  die  Aussenduugsreden  in  den  synoptischen  Evangelien  und  auch 
die  große  eschatologische  Rede, 


Der  Übergans^  von  der  Juden-  zur  Heideumission.  51 

aiTioi)  und  die  Yerleumduiigon  über  Josum  aufgebracht^;  sie  haben 
den  heidnischen  Christenteinden  das  literarische  Material  geliefert; 
sie  haben  —  wenn  nicht  alles  täuscht  —  die  neronische  Christen- 
hetze inspiriert  und  fast  überall  bei  den  späteren  blutigen  Ver- 
folgungen im  Hintergrunde  oder  im  Vordergründe  der  Aktion 
gestanden  —  „fontes  persecutionum"  nennt  Tertullian  die  Syna- 
gogen — ;  sie  haben  das  Heidenchristentum,  das  sie  doch  gar 
nichts  anzugehen  schien,  instinktiv  als  ihren  eigentlichen  Feind 
empfunden.  Die  Juden  taten,  was  sie  mußten:  sie  beschleunigten 
den  Prozeß,  der  die  volle  Befreiung  der  neuen  Religion  von  der 
alten  bedeutete,  und  der  dem  Judentum  die  Lösung  der  schon 
begonnenen  Aufgabe,  sich  zur  Weltreligion  auszugestalten,  entzog. 
In  diesem  Sinn  hat  die  jüdische  Feindschaft  etwas  Befriedigendes : 
sie  half  die  beiden  Religionen  völlig  von  einander  trennen  und 
verstärkte,  wenn  es  noch  nötig  war,  in  den  Heidenchristen  die 
Gewißheit,  daß  ihre  Religion  eine  neue  Schöpfung  darstelle,  und 


*)  Justin  (Dial.  17,  cf.  108.  117),  nachdem  er  die  Juden  für  die  Ver- 
leumdungen der  Christen  verantwortlieh  gemacht,  behauptet,  daß  die  jüdische 
Regierung  in  Jerusalem  ausgesandt  habe  äVÖpa«;  sy.'^.EXTovg  ano  'lEQovoa/.>j/.i  sig 
jiäaav  zip'  yfjv,  ^syovTa<;  al'Qsoiv  ä&eov  XgiaTiavwv  JiEqyrjvevai,  xaza^Jyovzag  raina, 
äjiEQ  xaO'  t]/.twv  Ol  dyvoovrzsg  ?jf(c2g  jidvzsg  Xeyovai%',  (oozs  ov  /.wrov  iavzoig  aöixiag 
atzioi  vjiÜQxsze ,  dAAä  xal  zoTg  aXXoig  äjzaoiv  cmlöig  dv&gwjtoig,  cf.  117:  zov  viov 
Tov  ■d'eov  ovofia  ßeßrjliod'rjvai  xazä  Tiäom'  zijv  yfjv  xal  ßXaocprj/HEca&ai  ot  ägxiSQeTg 
zov  Xaov  v/iicöv  xal  diddoxakoi  sigyäaavzo ,  u.  C.  108:  ävÖQag  ;ij£<poioi'rJ  oaiTS? 
ixXexzovg  sig  jräaav  zijv  oixov/nsvtji'  ijzefiifmzs ,  xrjQvaoovzag  ozi  aigeoig  zig  ädsog 
xai  ttvofiog  sy/jyeQzai  äjio  'Itjaov  zivog  FaliXalov  jiXävov ,  ov  ozavocoadrzcov  rj^üjv 
Ol  jLia&tjzal  avzov  aXeifjavzsg  avrov  djto  zoü  ftv7]fiazog  vvKZog  ....  nXavöJoi  rovg 
dv&Qü)jiovg  XJyovzeg  sy?]yeQ&ai  avzov  sx  vexQwv  xal  eig  ovgavov  dveXr}}..v&Evai, 
xazEiJtövzEg  dsdidaxEvai  xal  zavza  aizEQ  xazd  zwv  6fioX.oyovvz(av  Xqiozov  xai  6idd- 
oxaXov  xai  viov  dEov  Eivai  jiavzi  ysvEi  dv&QWJiwv  ddsa  xai  dro/iia  xai  dvöoia 
IsyszE.  Verfluchung  der  Christen  in  den  Synagogen:  Dial.  16  (dazu:  ovx  l^ov- 
aiag  s}(szs  avzoxeiQeg  yevEodai  'tjf.uov  did  rovg  vvv  ijnxgazovvzag  [die  Römer], 
oadxig  de  äv  iörvrjre,  xal  zovzo  ejigd^azs).  47.  93,  95.  96.  108.  117.  137:  hier  .sagt 
Justin,  daß  die  Verfluchung  Ciiristi  im  synagogalen  Gottesdienst  auf  An- 
ordnung der  Archisynagogen  /ifzd  zi]v  jTQoasvx>iv  geschieht  (daß  sich  die 
jüdischen  Proselyten  aus  den  Heiden  noch  feindlicher  gegen  die  Christen  be- 
nehmen als  die  Juden  selb.st,  sagt  Justin  ausdrücklich,  Dial.  122);  Hieron.  in 
Jesaj.  52,  5;  Ej^iphan.,  haer.  29,  9.  —  Justin,  Apol.  I,  10;  I,  31  (im  ßarkochba- 
krieg  wurden  die  Judenchristen  blutig  von  den  Juden  verfolgt).  Tertull.  ad 
nat.  1, 14:  ,et  credidit  vulgus  ludaeo;  quod  euim  aliud  genus  seminarium  est 
infamiae  nostrae?"  adv.  Marc.  III,  23;  adv.  Jud.  13:  „ab  illis  enim  in- 
cepit  infamia" ;  Scorpiace  10:  „synagogae  ludaeorum  fontes  persecutiouuni". 
Iren.  IV,  21,  3:  „ecclesia  insidias  et  persecutiones  a  ludaeis  patitur". 
IV,  28,  3 :  „ludaei  interfectores  domini  ....  apostolos  interficientes  et  perse- 
quentes  ecclesiam".  Origenes  bezeugt  wiederholt,  daß  die  Juden  die  Urheber 
der  Verleumdungen  gegen  die  Christen  seien.  Dazu  s.  Stellen  wie  Hom.  I 
in  Ps.  36  (t.  12  p.  154  ed.  Lomm.):  „Etiam  nunc  ludaei  nou  moventur  ad- 
versus  gentiles,  adversus  eos,  qui  idola  colunt  et  deum  blasphemant,  et  illos 
nou  oderunt  nee  indignautur  adversus  eos;  adversus  Christiauos  vero  insatia 


52  Einleituuij;  und  (irundlegung. 

daß  sie  selbst  nicht  nur  die  Zugelassenen  zweiter  Ordnung,  son- 
dern das  neue  Yolk  Gottes  seien,  das  an  Stelle  des  alten  ge- 
treten ist^. 

Aber  aucli  die  Judenchristen  nahmen  den  Kampf  auf;  sie 
stellten  an  die  unriochenische  Gemeinde  von  Jerusalem  aus  die 
Fordermig  der  Beschneidung.  Die  Folge  dieser  Forderung  war 
,^  das  sogenannte  Apostelkonzil.  Wir  haben  zwei  Berichte  über 
/  ii  dasselbe  (Gal.  2  und  Act.  1^);  aber  jeder  läßt  an  sich  viel  zu 
wünschen  übrig,  und  beide  sind  schwer  vereinbar.  Der  des  Paulus 
ist  mehr  hingewühlt  als  hingeschrieben  und  strebt  so  gewaltsam 
der  Mitteilung  des  schließlichen  Ausgangs  zu,  daß  die  Vorstufen 
aus  den  abgerissenen  Sätzen  teils  gar  nicht,  teils  nur  unsicher  zu 
erkennen   sind:    der   andere   hat   den   endgültigen  Ausgang,   wenn 

bili  odio  feruntur-'  (s.  auch  p.  155).  Vor  allem  ist  der  Bericht  des  Eusebius 
(in  Jesaj.  18,  1  f.)  von  Wichtigkeit,  dessen  Quelle  man  leider  nicht  kennt 
(Justin  ist  jedenfalls  nicht  die  Quelle  desselben):  evqouev  iv  toTc  tmv  .-za/.aicov 
ox'yyQäjiuamv,  loc  ot  t1]v  'l£goi'aa?.i//t  oixovvtsg  tov  tojv  'Im'dakov  edi'ovc:  leoeig 
xai  jToeaßrTsooi  yodfifiara  Stayaoä^avifg  eig  .Twrra  diE:ji^m'a%'TO  zu  f'dvy]  roTg 
a:iavzay_ov  'lovöaioig  öiaßdXXovzeg  rijv  Xqictov  diSaaxa'/.iav  (og  cuQeaiv  xaivrjv  xal 
aX/MToiav  rod  deov,  jTa()t]yy£MÖi'  zs  öi'  e:jiozo?.mv  fii/  jzaoads^aa&ai  avzr/v  ....  o'i 
Z8  u:rr6ozo?.oi  ai'zMV  (■:xiozolag  ßißlivo.g  xofuCo/isvoi  ....  üjiavraxov  yi]? 
dthosyov ,  zov  iregi  rov  ocoziJQog  ijßwv  iväiaßdU.ovzeg  Xdyov.  u:ioaz6/Mvg  fik  elahi 
xal  vvv  k'dog  eozlv  'lovöaloig  ovo^iaQsii'  zovg  kyxvxXia  yQÜfinaza  jiagd  riov  doxöv- 
rxov  avzwv  E.-rixofut^o/^ih'ovg.  Nach  dieser  Stelle  ist  Paulus  ein  , Apostel"  ge- 
wesen, bevor  er  ein  Apostel  wurde,  und  es  läßt  sich  die  Frage  wohl  aui- 
werfen,  ob  jene  Eigenschaft  nicht  mit  dazu  beigetragen  hat,  daß  er  sich, 
Christ  geworden,  in  und  mit  seinem  Christenstand  sofort  zum  Apostel  be- 
rufen fühlte. 

^)  In  diesem  Zusammenhang  hat  man  auch  auf  den  christlichen  Sprach- 
gebrauch von  eOrt]  („gentes",  „gentiles")  zu  achten.  Das  Alte  Testament 
stellt  die  f'dvrj  dem  Volke  Israel  gegenüber  (unter  Umständen  wird  natürlich 
auch  dieses  zu  den  „Völkern"  gerechnet),  und  daher  war  es  den  Juden  ganz 
geläufig,  auch  die  anderen  Religionen  lediglich  dadurch  zu  charakteri- 
sieren, daß  sie  die  Religionen  der  idv-)]  seien.  Somit  hatte  edvyj  Ijereits  im 
vorchristlichen  Zeitalter  bei  den  Juden  eine  Bedeutung,  die  sich  mit  unserem 
Wort  „Heiden"  (das  vielleicht  das  von  den  Deutschen  rezipierte  Wort  f&v>] 
selbst  ist;  s.  darüber  später)  ungefähr  deckte.  Paulus  —  und  augenschein- 
lich nicht  er  allein  —  konnte  es  daher  nicht  bestehen  lassen,  daß  ein  für 
das  Evangelium  gewonnener  Nicht-Jude  noch  zu  den  t'dvt]  gerechnet  wurde. 
Er  gehörte  einst  zu  ihnen,  nun  aber  nicht  mehr  (s.  z.  B.  I  Cor.  12,2:  oldare 
ozi  QTF.  f'/)v7}  »}ts  TTQog  T«  ««SwA«  .  .  .  i/ysöüs);  er  zählt  jetzt  zum  wahren  Israel 
bez.  zu  dem  neuen  Volke.  Offenbar  sollte  ursprünglich  damit  nicht  gesagt 
sein,  daß  er  seine  Nationalität  wirklich  gewechselt  hätte;  allein  es  mußte 
den  christlichen  Kosmopolitismus  und  wiederum  das  Selbstbewußtsein,  auch 
politisch  etwas  Besonderes  zu  sein,  mächtig  fördern,  wenn  man  sich  in  dieser 
Weise  einerseits  allen  Edvt]  gegenüber  stellte,  andererseits  sich  als  das  neue 
Weltvolk  faßte  und  von  den  Juden  nichts  wissen  wollte.  Daß ,  wo  der  Zu- 
sammenhang unmißverständlich  war  und  es  nur  auf  die  nichtjüdische  Her- 
kunft ankam,  aucli  Christen  noch  als  zu  den  £{)vt]  gehörig  bezeichnet  worden 
sind,  lu'aucht  kaum  besonders  erwähnt  zu  werden. 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  53 

nicht  alles  trügt,  duroli  die  imgehörigo  Kombination  mit  einer 
anderen,  späteren  Aktion  vöUii»-  vorwirrt  mid  erregt  auch  sonst 
Bedenken.  Aber  feststellen  läßt  sich  noch,  daß  Petrus.  Johannes 
und  .Tacobus  das  Werk  des  Paulus  anerkannt  und  ihm  keine 
YorscIiiifrtMi  für  seine  Missionswii'ksamkeit  gemacht  haben:  sie 
selbst  aber  wollten,  wie  bisher,  ausschließlich  bei  der  Judenmission 
bleiben.  Die  Vereinigung  von  Juden-  und  Heidenchristen  zu  einer 
Gemeinschaft  des  Grottesdienstes  und  des  Lebens  wurde  zunächst 
von  Paulus  nicht  erreicht;  mu-  das  Prinzip  war  zum  Siege  ge- 
kommen. Weite  Kreise  der  Judenchristen  haben  auch  diese, 
freilich  in  sich  haltlose  und  kurzlebige  Konvention  nicht  anzu- 
erkennen vermocht,  und  dennoch  war  sehr  viel  gewonnen  —  durch 
die  Abmachung  selbst  und  noch  mehr  dadurch,  daß  sie  über  sich 
hinauswies.  Die  Judenchristen  spalteten  sich.  Wie  sie  dabei 
Jahre  hindurch  (in  Jerusalem  und  sonst)  doch  haben  zusammen- 
halten können,  ist  ein  schweres  Rätsel.  Der  eine  Teil  fuhr  fort, 
den  Paulus  und  sein  Werk  mit  glühender  Feindschaft  und  mit 
allen  Mitteln  zu  verfolgen:  man  suchte  ihn  zu  vernichten.  Gewiß 
war  auch  ehrliche  Überzeugung  dabei,  die  Paulus  freilich  nicht  zu 
sehen  vermochte:  doch  hat  er  diesen  „Eiferern  um  das  Gesetz" 
auf  palästinensischem  Boden  bis  zuletzt  Konzessionen  gemacht; 
nur  außerhalb  Palästinas  ließ  er  sie  nicht  gelten,  sobald  sie  auch 
Heiden  für  ihre  Form  des  Christentums  gewinnen  wollten.  Der 
andere  Teil  —  und  auf  diesen  Boden  stellten  sich  Petrus  und  viel- 
leicht noch  andere  Urapostel  —  begann  bald,  w^enn  auch  tastend 
und  unsicher,  über  die  Konvention  hinauszugehen  und  auf  dem 
außerpalästinensischen  Gebiet  mit  den  Heidenchristen  in  Lebens- 
gemeinschaft zu  treten,  auch  die  Judenchristen  in  diesem  Sinne 
anzuleiten.  Diese  unsicheren  Versuche  endigten  mit  einer  neuen 
Konvention,  durch  welche  nun  eine  wirkliche  Lebensgemeinschaft 
ermöglicht  wurde.  Bedingung  war.  daß  die  Heidenchristen  sich 
vom  Götzenopferfleisch,  vom  Genuß  des  Bluts  und  des  Erstickten 
und  von  der  Hurerei  enthalten  sollten.  Seitdem  ist  Petrus  und 
vielleicht  noch  dieser  oder  jener  aus  der  Zahl  der  Lh'apostel  in 
die  Heidenmission  eingetreten.     Die  letzte  Schranke  war  gefallen^. 


')  Daß  es  in  der  Diaspora  —  und  zwar  nicht  nur  in  den  Palästina  be- 
nachbarten Provinzen  —  ursprünglich  auch  judenchristliche  C4emeindeu  ge- 
geben hat  (nicht  nur  einen  judenchristlichen  Bestand  innerhalb  der  heiden- 
christlichen Gemeinden),  darf  man  wohl  annehmen.  Aber  solche  judenchrist- 
liche Gemeinden  müssen  sich  in  Kleiuasien,  oder  wo  sie  sonst  existierten, 
verhältnismäßig  schnell  mit  den  heidenchristlichen,  paulinischen  verschmolzen 
haben.  Die  Gemeinden  von  Smyrna  und  Philadelphia  scheinen  um  das 
Jahr  93  (Apoc.  Joh.)  wesentlich  aus  bekehrten  Juden  bestanden  zu  haben; 
sie  stehen  aber  im  Verbände  der  anderen  Gemeinden,  als  wären  sie  heiden- 
christliche. 


54  Einleituncf  und  Grundlegung. 

Bewundern  wir  die  Gr(">ße  des  Paulus,  so  gilt  unsere  Bewunderung 
nicht  minder  den  Uraposteln,  die  imi  des  Evangeliums  willen  auf 
eine  Lebensweise  eingingen,  die  ihr  Herr  und  Meister,  mit  dem 
sie  gegessen  und  getrunken,  sie  nicht  gelehrt  hatte. 

Das  Judenchristentum,  welches  in  Lebensgemeinschaft  mit 
den  Heidenchristen  trat,  hob  sich  damit  selbst  auf:  Petrus  ist  in 
der  zweiten  Periode  seiner  Wirksamkeit  kein  „Judenchrist"  mehr 
gewesen,  sondern  „Hellene"  geworden^;  aber  noch  blieben  zwei 
judenchristliche  I^arteien,  nämlich  die,  welche  auf  der  Konvention 
des  Apostelkonzils  verharrte,  den  Heidenchristen  ihren  8egen  gab, 
aber  im  Leben  von  ihnen  abrückte,  und  die,  welche  die  Heiden- 
kirche als  eine  Pseudokirche  zu  bekämpfen  fortfuhr.  Eine  kirchen- 
geschichtliche Bedeutung  kommt  beiden  nicht  mehr  zu,  dazu 
Avaren  sie  numerisch  zu  schwach;  Justin,  der  es  wissen  mußte, 
sagt  Apol.  T,  53,  das  jüdische  Volk  habe  Jesum  verworfen  „jiAj/v 
dUycov  Ttvcor".  In  der  Diaspora  waren  Judenchristen  —  Syrien 
und  Ägypten  ausgenommen  —  kaum  vertreten-,  dort  fühlten  sich 

')  S.  Pseudoclemens,  Honi.  XI,  16:  iuv  6  äXköcfvXos  t6v  vöfwv  jigä^i], 
'lovdaTog  iariv,  fd]  jigätag  ök'IovdaToc:  "EXhp'.  Die  Mi.ssionstätigkeit  muß  Petrus 
zuletzt  ganz  an  die  Seite  des  Paulus  gerückt  haben  (s.  I  Cleni.  5)  —  sonst 
bliebe  seine  Schätzung  in  der  Heidenkirche  vollends  unerklärlich  — ,  aber 
wir  wi.ssen  nichts  Genaueres  über  sie.  Zufällig  erfahren  wir  (Gal.  2\  daß  er 
in  Antiochien  gewesen  ist.  Der  I.  Corintherbrief  macht  es  wahrscheinlich, 
daß  er  bald  nach  der  Stiftung  der  corinthischen  Gemeinde  vorübergehend 
auch  nach  Corinth  gekommen  ist.  Es  ist  auch  ein  Zufall  zu  nennen,  daß 
Avir  das  hören.  Lucas  hat  nach  c.  12  der  Apostelgeschichte  das  Interesse 
für  die  Missionstätigkeit  des  Petrus  verloren;  warum,  ist  nicht  recht  klar. 
AVenn  er  bei  Judenchristen  in  universalem  Sinn  gewirkt  hat,  ohne  doch 
ihre  Lebensführung  von  dem  Judentum  sofort  zu  befreien,  so  versteht  man 
es,  daß  die  heidenchristliche  Überlieferung  kein  besonderes  Interesse  an  seiner 
Tätigkeit  genommen  hat.  Einmal  aber  muß  in  seinem  Leben  der  Moment 
eingetreten  sein,  in  welchem  er  ganz  auf  die  heidenchristlichen  Grundsätze 
eingegangen  ist.  Man  kann  vermuten,  daß  das  nicht  erst  in  Rom  geschehen 
ist,  sondern  schon  damals,  als  er  in  Corinth  war.  (In  Rom  war  er  kaum 
wenige  Monate,  dann  wurde  er  gekreuzigt.  Wir  besitzen  dafür  ein  urkund- 
liches Zeugnis,  das  merkwürdigerweise  bisher  nicht  beachtet  worden  ist. 
Porphyrius  schreil)t  bei  Macarius  Magnes  (III,  22):  lOTogniai  fitjS'  öXlyov? 
fifjvag  ßocHijoag  r«  TTgoßdria  6  Tlhgog  ioravQwaßai.  Das  kann  sich  nur  auf 
den  römischen  Aufenthalt  beziehen.  Das  Zeugnis  ist  um  so  wichtiger,  als 
Porphyrius  lauge  in  Rom  gelebt  und  dort  eingehend  sich  mit  dem  Christen- 
tum befaßt  hat.  Sollte  aber  der  Heide  bei  Macarius  nicht  Porphyrius  selbst 
sein,  so  hat  er  ihn  ausgeschrieben).  Dennoch  müssen  wir  gestehen,  daß  uns 
die  Mittel  fehlen,  um  jene  Schätzung  des  Petrus  wirklich  erklären  zu  können, 
die  ihn  erst  neben  (s.  Clemens  und  Ignatius),  dann  über  Paulus  gestellt  hat. 
Auch  daß  der  Brief,  den  wir  im  N.  T.  als  I.  Petrusbrief  lesen,  ihm  beigelegt 
worden  ist,  ist  ein  Rätsel,  das  kaum  mindere  Schwierigkeiten  bereitet  als 
die  Annahme,  das  Schreiben  sei  wirklich  von  ihm. 

2)  Doch  haben  einzelne  Versuche  der  Propaganda  nicht  gefehlt.  Dahin 
gehören    die    (irundschrii'ten     der    pseudoclementinischen    Literatur,    gehört 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  55 

die  Heidenchristen  als  die  Herren,  ja  fast  als  die  Einzigen^,  und 
es  dauerte  nur  noch  bis  gegen  das  Jahr  1 80,  da  wurden  die  Juden- 
christen in  die  Ketzerkataloge  der  großen  Kirche  eingerückt.  Man 
zahlte  ihnen  also  heidenchristlicherseits  mit  der  gleichen  Münze 
heim:    die  Ketzer  machten  ihre  früheren  Richter  zu  Ketzern. 

Aber  auch  die  Beziehungen  der  Judenchristen  zu  ihren 
Stammesgenossen,  den  Juden,  verschlechterten  sich  bald  —  soweit 
überhaupt  leidliche  Beziehungen  bestanden  hatten.  Die  Zerstörung 
Jerusalems  und  des  Tempels  scheint  hier  die  letzte  Krise,  die 
mit  dem  vollen  Bruch  endigte,  hervorgerufen  zu  haben'-.  Kein 
Christ,  mochte  es  auch  ein  einfacher  Judenchrist  sein,  konnte 
die  Katastrophe  des  jüdischen  Staates,  seiner  Stadt  und  seines 
Heiligtums,  für  etwas  anderes  halten  als  für  die  gerechte  Strafe 
des  Volkes,  das  seinen  Messias  gekreuzigt  hatte.  Damit  hörte  er 
eigentlich  auf,  Jude  zu  sein  —  gewiß  hat  übrigens  die  Katastrophe 
das  exklusive  palästinensische  Judenchristentum  dezimiert  und 
eine  beträchtliche  Anzahl  sei  es  zum  Judentum  zurückgeführt 
sei  es  in  die  große  Ivirche  getrieben  -  -  ;  denn  ein  Jude,  der  den 
Untergang  seines  Staates  und  des  Tempels  als  göttliche 
Schickung  acceptierte,  mordete  sich  damit  selbst.  Indessen,  welcher 
Inkonsequenz  sind  nicht  Gefühle  fähig,  die  an  eine  starke  Über- 
lieferung gebunden  sind!  Es  gab  doch  Judenchristen,  die  nach 
dem  Fall  Jerusalems  das  blieben,  was  sie  waren,  also  augen- 
scheinlich über  den  Fall  des  Tempels  klagten  und  doch  in  diesem 
Fall  eine  gerechte  Strafe  sahen!  Durften  sie  wünschen,  daß  der 
Tempel  wieder  erbaut  würde,  oder  durften  sie  das  nicht  wünschen? 
Daß  sie  ihren  Landsleuten,  den  echten  Juden,  nun  zum  doppelten 
Ärgernis  wurden,  ist  wohl  verständlich.  So  gerieten  diese  armen 
Leute  dauernd  zwischen  zwei  Feuer:  die  Juden  verfolgten  sie 
mit    grimmem    Haß^,    und    die    Heidenkirche    beurteilte    sie    als 


Symmaehus  und  seine  literarische  Tätigkeit  am  Ende  des  2.  Jahrhunderts 
sowie  jener  Elkesait  Alcibiades  aus  Apamea  in  Syrien,  der  nach  Rom  kam,, 
und  von  dem  Hippolyt  in  den  Philosophumenen  berichtet.  Das  gnostische 
Judenchristentum  —  ihm  sind  alle  diese  Erscheinungen  zuzurechnen  —  konnte 
mehr  Gehör  in  der  Heidemvelt  erhoffen  als  das  strenggläubige,  da  es  syn- 
kretistisch  war.    Auf  Einzelheiten  hier  einzugehen,  würde  zu  weit  führen. 

1)  Wie  sich  das  Blatt  gewendet  hat.  erkennt  man  bei  Ju.stin,  Dial.  47. 
Die  Heidenchristen  lassen  sich  längst  keine  Bedingungen  mehr  vorschreiben, 
sondern  sie  erwägen  ihrerseits,  ob  und  wie  weit  sie  Judenchristen  als  christ- 
liche Brüder  anerkennen  können,  und  verfahren  dabei  sehr  rigoros. 

-)  Wann  sich  die  Judenchristen  von  jeder  Beziehung  zu  den  Synagogen 
getrennt  haben  bez.  trennen  mußten,  wissen  wir  nicht ;  wir  können  nur  ver- 
muten, daß,  wenn  diese  Beziehungen  bis  zum  .Jahre  70  bestanden  haben,  sie 
dann  aufhörten. 

^)  Epiphanius  (h.  29,  9):  ov  fiovov  ot  rwr  'lovbauov  zialöeg  .toö^  rovxovg 
yjy.rtp'zat  lüaoc ,  a/j.ä  driOTÜueroi  i'codfr  y.ui  fifoijc  /j^ieoag  xal  neol  ri/V  iortsoarr 


56  Einleituno-  und  Grundlegung. 

Ketzer,  d.  h.  als  Nichtchristen.  „Semijudaei"  und  „Semicliristiani" 
zugleich  hat  sie  Ilierouymus  genannt,  der  sie  noch  persönlich  ge- 
kannt hat^.  Er  hat  nicht  Unrecht:  sie  waren  wirklich  „Halbe''; 
sie  waren  Halbe,  obgleich  sie  die  Lebensweise  befolgten,  die 
Jesus  selbst  l)efolgt  hatte.  Unter  dem  Druck  des  Buchstabens 
Jesu  sind  sie  langsam  gestorben. 

Kaum  gibt  es  eine  Tatsache,  die  des  Nachdenkens  so  würdig 
ist,  wie  die,  daß  die  Religion  Jesu  auf  jüdischem  und  auch  auf 
semitischem  Boden  keine  Wurzeln  hat  fassen  können  2.  Es  muß 
doch  etwas  in  dieser  Religion  gelegen  haben  und  liegen,  was  dem 
freieren  griechischen  Geist  verwandt  ist.  In  gewisser  Weise  ist 
ja  das  Christentum  bis  auf  den  heutigen  Tag  griechisch  geblieben; 
denn  die  Formen,  die  es  auf  diesem  Boden  angenommen  hat, 
sind  in  den  großen  Kirchen  —  auch  im  Protestantismus  —  wohl 
modifiziert,  aber  nicht  abgestreift  worden.  Welche  Kraftprobe  aber 
ist  es  gewesen,  die  diese  Religion  im  zartesten  Kindesalter  erlebt 
hat  I  „Gehe  aus  deinem  Vaterland  und  aus  deiner  Freundschaft 
in  ein  Land,  das  ich  dir  zeigen  will,  und  ich  will  dich  zum  großen 
Yolke  machen."  Der  Islam  ist  in  Arabien  entstanden  und  über- 
all arabische  Religion  geblieben :  die  Kraft  seiner  Jugend  war 
auch  die  Kraft  seines  Mannesalters.  Die  christliche  Religion  ist, 
fast  unmittelbar  nach  ihrer  Erscheinung,  aus  dem  Volke  vertrieben 
worden,  dem  sie  angehörte.  Sie  mußte  so  gleich  anfangs  unter- 
scheiden lernen,  was  Kern  und  was  Schale  sei  ■'. 

Für  den  dezidierten  Antijudaismus,  der  sicli  ))ereits  in  der 
ältesten  Heidenchristenheit  ausbildete,  ist  Paulus  nur  zum  Teil 
verantwortlich.     Lehrte  er  auch,  daß  die  Zeiten  der  Juden  {ttuoiv 


rgls;  rf/g  ))/iFi)ac,  ötf,  svyjxg  FjriTF.kovatv  ev  raig  avziov  ovvayaiyaTg ,  tlTaywrro« 
avTotg  y.al  arndf/iaTiCovoi  q'änxovTfg  öri  '  'EsrixaTagaoai  6  i)sög  Tovg  NaCoigotiovg. 
y.ai  yäg  Toiiroig  crFoioaÖTFoov  n-F/ovoi ,  (iia  ro  djto  'lovSai'cov  avrorg  oviag  hjaovv 
yijoi'ootir  fh'ai  XgiOTÖv,  (hfij  fotIv  irnrriov  :roog  rovg  Fit  'lovSaiovg  TOvg  Xqiotov 
/^ly  dFzafiFvovg. 

■)  Epiplninius  (1.  c.)  sagt  von  ihnen:  'lovdaToi  /täUnr  y.ai  ov()fi-  FTtQor- 
Trürv  dk  ovtoi  f/DqoI  zoTg  'I(yi'()aioig  v.-rdQxovatv. 

^)  Die  Syrer  bilden  eine  gewisse  Ausnahme;  aber  wie  stark  gräcisiert 
diese  syrische  Kirche,  obgleich  sie  ihre  eigene  Sprache  beibehalten  hat! 

')  Das  Evangelium  verband  sich  besonders  enge  mit  dem  Griechentum, 
aber  exklusiv  ist  es  auch  in  dieser  Verbindung  in  unserer  Periode  nicht  ge- 
worden: im  Gegenteil  —  man  legte,  wie  schon  der  Apostel  Paulus  getan, 
das  höchste  Gewicht  darauf,  daß  alle  Völker  berufen  seien  und  das  Evange- 
lium von  Angehörigen  aller  Nationen  aufgenommen  sei.  Als  primi  inter 
pares  galten  allerdings  die  Griechen,  und  ihr  Ausehen  mußte  in  dem  Maße 
wachsen,  als  man  auf  die  Tradition  Gewicht  legte  und  diese  doch  nicht  bis 
zu  den  .Juden  zurückführen  konnte  und  durfte  (die  Berufung  auf  die  jerusa- 
lemische (Gemeinde  war  seit  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  eine  Berufung  auf 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  57 

ävdoomoiQ  ivarricov,  I  Thess.  2,  15)  jetzt  vorüber  seien,  so  konnte 
und  wollte  er  doch  an  eine  definitive  Yerstoßimg-  des  ^'olkes 
Gottes  nicht  glauben ;  sein  letztes  Wort  darüber  hat  er  lii'nn.  11 
gesprochen:  ov  dtX(o  viiiäg  oLyvoeiv  ro  f-ivoryoiov  toüto,  oti  ncöocooig 
UTio  jueQovs  TO)  "looaijl  ytyovtv  nXQig  ov  to  7ih)oo)üa  twv  eOvc~)V 
etoüM)],  y.al  ol'TCog  rrd:;  "Ingalj/.  0(od rjOEJai  ....  djiieTa^uthjTa 
ydg  TU  yagionaia  y.al  fj  yjSjoig  xov  tieov.  In  diesem  Sinn  ist  Panlus 
JudencJirist  geblieben:  die  Zweiheit  der  Menschheit  (Juden  und 
„Völker")  bleibt  trotz  der  einen  Kirche  Gottes,  die  sie  umspannt, 
in  gewisser  Weise  bestehen,  und  diese  Kirche  hebt  die  besonderen 
den  Juden  geschenkten  Verheißungen  nicht  auf. 

Aber  dieser  Stand]>unkt  isr  dem  Paulus  eigentümlich  ge- 
blieben. Diejenigen,  welche  sich  ausschließlich  durch  das  Mittel 
der  Allegorie  von  dem  Buchstaben  der  alttestamentlichen  Religion 
und  von  dieser  selbst  befreiten  —  sie  bildeten  die  große  Mehr- 
zahl — ,  hatten  für  die  paulinische  Betrachtung  keinen  Sinn 
und  durften  sie  gar  nicht  gelten  lassen :  denn  blieb  sie  auch  nur 
an  einem  Punkte  bestehen,  so  war  damit  das  Recht  der  allegori- 
schen Auffassung  imd  damit  das  Recht  der  Heidenkirche  überhaupt 
in  Frage  gestellt^.  Kommt  dem  Volke  Israel  noch  ein  Sonder- 
recht zu,  bedeutet  auch  nur  eine  Sonderverheißung  irgend  etwas, 
muß  auch  nur  ein  Buchstabe  in  Kraft  erhalten  bleiben  —  wie 
darf  das  Übrige  spiritualisiert  und  auf  ein  fremdes  Volk  über- 
tragen werden?  Konsequent  folgte  aus  dieser  Betrachtung,  daß 
das  jüdische  Volk  nun  verworfen  ist.  daß  es  Ismael  ist  und 
nicht  Isaak,  Esau  und  nicht  Jakob.  Aber  auch  dieses  Urteil 
konnte  noch  nicht  genügen.  AVenn  die  geistige  Deutung  des  Alten 
Testaments  die  richtige  ist  und  die  buchstäbliche  die  falsche,  so 
ist  jene  von  Anfang  an  die  richtige  gewesen;  denn  nicht 
kann  heute  richtig  sein,  was  gestern  noch  falsch  war.  Xun  aber 
hat  das  jüdische  Volk  von  Anfang  an  und  stets  die  buchstäbliche 
Deutimg  befolgt  —  es  hat  sich  beschneiden  lassen,  es  hat  blutige 
Opfer  gebracht,  es  hat  die  Speisegesetze  beobachtet  — ,  also  ist 
es  stets  im  Irrtum  gewesen  und  hat  durch  solchen  Irrtum  be- 
wiesen,   daß    es    niemals   das   erwählte   Volk   war.      Das   er- 


eine griechische,  nicht  auf  eine  jüdische  Gemeinde).  In  diesem  Sinne  em- 
pfanden sich  auch  die  Lateiner  den  Griechen  gegenüber  als  die  sekundären; 
doch  verstand  die  römische  Kirche  bald ,  diesen  Nachteil  wett  zu  machen. 
Im  Osterstreit  um  das  Jahr  190  kamen  zuerst  gewisse  Rivalitäten  zum  Aus- 
druck; aber  es  waren  nicht  nationale  —  die  römische  Gemeinde  war  damals 
noch  überwiegend  griechisch  — ,  sondern  provinzialkirchliche. 

^)  Die  ijaulinische  Lehre  vom  Gesetz  und  vom  alten  Bunde  wurde,  wie 
die  nachapostolische  Literatur  lehrt,  in  weiten  Kreisen  nicht  verstanden  und 
daher  nicht  oder  nur  in  Fragmenten  rezipiert. 


5S  Einleitung  und  Grundlegung. 

wählte  Volk  war  stets  das  christliche;  es  war  gleichsam  latent 
immer  vorhanden  —  der  jüngere  Bruder  ist  in  Wahrheit  der 
ältere  — ,  wenn  es  auch  erst  mit  Christus  in  die  Erscheinung  ge- 
treten ist.  Das  jüdische  Volk  hat  von  Anfang  an  die  Verheißung 
verloren;  ja  ob  sie  je  iiim  gegolten  hat,  selbst  darüber  läßt  sich 
streiten;  jedenfalls  beweist  die  buchstäbliche  Deutung  der  gött- 
lichen AVillensoffenbarungen,  daß  es  von  Gott  verlassen  und  unter 
die  Führung  des  Teufels  gekommen  ist.  Ist  das  aber  klar,  so 
muß  auch  noch  der  letzte  Schritt  getan  und  das  letzte  Urteil 
ausgesprochen  werden;  das  Alte  Testament,  dieses  ganze 
Buch,  geht  die  Juden  überhaupt  nichts  an.  AViderrecht- 
lich  und  frech  haben  sie  es  an  sich  gerissen,  mit  Beschlag  belegt, 
und  suchen  es  seinem  einzigen  Eigentümer  zu  entziehen,  ver- 
fälschen es  durch  ihre  Auslegungen,  ja  selbst  durch  Korrekturen 
und  Streichungen.  Jeder  Christ  muß  ihnen  daher  den  Besitz  des 
Alten  Testaments  absprechen;  ein  Christ,  der  sagen  würde,  dieses 
Buch  gehört  uns  und  den  Juden,  der  sündigt;  das  Buch  ge- 
hört von  Anfang  an,  jetzt  und  immerdar  den  Christen 
allein^;  die  Juden  aber  sind  das  schlimmste,  gottloseste  imd  gott- 
verlassenste Volk  unter  allen  Völkern-,  das  eigentliche  Teufels- 
volk, die  Synagoge  des  Satan,  die  Genossenschaft  der  Heuchler^. 
Die  Kreuzigung  des  Herrn  —  das  ist  die  Signatur  dieses  Volkes*. 
I^un  aber  hat  sie  Gott  auch  offenkundig  und  vor  aller  Welt  dem 
Verderben  dahin  gegeben:  ihr  Tempel  ist  verbrannt,  ihre  Stadt 
ist  zerstört,  ihr  Gemeinwesen  ist  vernichtet,  ihr  Volk  ist  zerstreut 
—  es  darf  Jerusalem  nicht   einmal  mehr  betreten^.     Man  kann 


^)  Die  unbequeme  Tatsache,  daß  den  Juden  das  Buch  nicht  entrissen 
worden  ist,  und  daß  sie  es  noch  immer  haben  und  brauchen,  legt  sich  Pseudo- 
.fustin  (Cohort.  13)  also  zurecht:  die  Juden  bewahren  nach  Gottes  Anord- 
nung das  Alte  Testament  auf,  damit,  wenn  die  heidnischen  Gegner  den 
Christen  Fälschungen  (der  Weissagungen)  vorwerfen,  der  Gegenbeweis  geführt 
werden  kaun.  Aber  Justin  macht  den  Juden  den  Vorwurf  (im  Dialog),  daß 
sie  das  A.  T.  im  antieliristlichen  Sinne  verfälscht  hätten.  Seine  Beweise  sind 
a])er  nichtig. 

')  Justin  z.  B.  beurteilt  die  Juden  nicht  günstiger  als  die  Heiden,  son- 
dern ungünstiger  (s.  Apol.  I,  :!7.  39.  43.  44.  47.  53.  60).  Aristides'  freundlichere 
Stellung  (Apol.  c.  14)  ist  eine  Ausnahme. 

^)  S.  Apoc.  .foh.  2,  9;  3,9;  Didache  8;  vgl.  auch,  was  im  Johannes-  und 
im  Petrusevangelium  über  die  Juden  zu  lesen  steht.  Daß  sie  von  einem 
bösen  Engel  von  Anfang  an  verführt  worden  seien,  sagt  Barnabas,  ep.  9,  4. 
Im  II.  Clemensbrief  heißen  die  Juden  ,ot  öoxovriFg  e'xeiv  dsöv'^,  ähnlich  in 
dem  Kerygma  Petri  bei  Clemens,  Strom.  VI,  5,  41 :  ixsTvoi  fiövoi  olöfievoi  rov , 
iIfÖv  yrp'djoxen'  ovh  l-jiioravzai. 

*)  Pilatus  wurde  immer  mehr  entlastet. 

'■)  Cf.  Tertull.  Apolog.  21:  „Dispersi,  palabundi  et  soli  et  caeli  sui  ex- 
torres  vagantur  per  orbem  sine  homine,  sine  deo  rege,  cjuibus  nee  advenarum 
iure  terram  xnitriam  saltim  vestigio  salutare  conceditur". 


Der  Übergan jT  von  der  Jiulen-  zur  Heidenmission.  59 

daher  zweifeln,  ol)  Gott  die  Bekehrung  dieses  Volkes  überhaupt 
noch  wünscht,  ob  nicht  in  seine  Strafe  unerlaubt  eingreift,  wer 
auch  nur  einen  Juden  zu  geM'iruu'u  unternimmt:  doch  sie  wollen 
ja  selbst  nicht  kommen  und  überheben  durch  ihre  Halsstarrig- 
keit und  Christusfeindschaft  die  Christen  der  Beantwortung  dieser 
Frage. 

Das  ist  die  konsequente  Haltung  der  Heidenkirche  gegen- 
über dem  Judentum.  Der  Trieb  der  Selbsterhaltung  und  die 
Rechtfertigimg  der  Aneignung  des  Alten  Testamentes  trafen  mit 
der  alten  Antipathie  der  Griechen  und  Römer  gegen  das  Juden- 
tum zusammen.  Die  letzten  Konsequenzen,  wie  sie  der  Verfasser 
des  Barnabasbriefs  (c.  4,  6  f. ;  14,  l  f.)  gezogen  hat,  haben  doch 
nicht  alle  zu  ziehen  gewagt  ^  Die  Meisten  gestanden  in  un- 
klarer Weise  zu,  daß  in  früheren  Zeiten  ein  besonderes  Verhält- 
nis Gottes  zu  diesem  Volk  existiert  habe ;  aber  auch  sie  bezogen 
alle  Verheißungen  im  Alten  Testament  auf  das  Volk  der  Christen. 
"Während  Barnabas  in  der  Beobachtung  des  AVortsinns  des  Ge- 
setzes einen  Beweis  der  teuflischen  Verführung  erkannte,  der  das 
jüdische  Volk  unterlegen  sei^.  sahen  diese  in  der  Beschneidung 
ein  von  Gott  gegebenes  Signum  ^  und  erkannten  auf  Grund  irgend 
welcher  Erwägungen  an,  daß  die  wörtliche  Beobachtung  des  Ge- 
setzes zeitweilig  die  Absicht  und  das  Gebot  Gottes  gewesen, 
wenn  auch  die  Gerechtigkeit  niemals  aus  solcher  Beobachtung 
geflossen  sei.  Indessen  auch  sie  sahen  in  dem  geistigen  Sinn 
den  allein  wahren,  den  die  Juden  durch  eigene  Schuld  verkannt 
hätten,  urteilten,  daß  die  Belastung  mit  Zeremonien  eine  päda- 
gogische  Notwendigkeit    gegenüber    dem   halsstarrigen    und    zum 


')  Das  Folgende  nach  meinera  Lehrbuch  der  Dogmengeschichte  PS.  168  ff. 

-)  S.  Barnab.  ep.  9  f.  Man  mißversteht  die  Stellung  des  Barnabas  zum 
Alten  Testament  gründlich,  wenn  man  glaubt,  über  seine  Auslegungen 
cc.  6 — 10  als  über  „Seltsamkeiten"  und  „Willkürlichkeiten"  hinwegschreiten 
und  sie  als  gleichgültig  und  „unmethodisch"  beiseite  schieben  zu  können. 
, Unmethodisch"  ist  hier  gar  nichts,  und  darum  auch  nichts  willkürlich.  Der 
streng  geistige  Gottesbegrift'  des  Barnabas  und  die  Überzeugung,  daß  alle 
(jüdischen)  Zeremonien  teuflisch  seien,  nötigten  ihn  zu  seinen  Auslegungen ; 
diese  sind  im  Sinne  des  Barnabas  so  wenig  bloß  geistreiche  Einfälle,  daß 
er  vielmehr  ohne  sie  das  Alte  Testament  völlig  hätte  preisgeben  müssen. 
Z.  B.  der  Bericht,  daß  Abraham  seine  Knechte  beschnitten  habe,  hätte  dem 
Barnabas  die  ganze  Autorität  des  Alten  Testaments  vernichten  müssen,  wenn 
es  ihm  nicht  gelungen  wärQ,  ihn  umzudeuten.  Er  tut  es,  indem  er  eine 
andere  Stelle  aus  der  Genesis  mit  ihm  kombiniert  und  nun  im  Bericht  über- 
haupt nicht  mehr  die  Beschneidung,  sondern  eine  Weissagung  auf  den  ge- 
kreuzigten Christus  findet  (c.  9). 

^)  Barnab.  9,  6:  «/./.'  / offc  ■  x(u  /o'/r  rreoirh^irjTai  6  laog  f(V  oqgcr/iöa : 
so  läßt  Barnabas  den  vulgären  Heideuchristen  sprechen;  er  selbst  teilt  diese 
Meinuu"'  nicht. 


(jO  Einleitung-  und  Grundlegung. 

Götzendienst  geneigten  A'olk  gewesen  sei  (Schutz  des  Monotheis- 
mus), und  gaben  dem  Zeichen  der  Beschnei  düng  auch  Avohl  eine 
Deutung,  durch  die  es  nicht  mehr  als  ein  Gut,  sondern  vielmehr 
als  das  Merkmal  zur  Yollziehmig  des  Gerichts  an  Israel  erschient 
So  ist  Israel  eigentlich  zu  allen  Zeiten  die  After-  bez.  die 
Teufelskirche  gewesen;  in  Wahrheit  steht  das  „ältere"  Volk  dem 
„jüngeren"  auch  zeitlich  nicht  voran:  dieses  ist  vielmehr  das  ältere 
mid  das  „ueue"  Gesetz  das  ursprüngliche.  Die  Patriarchen, 
Propheten  und  Gottesmämier  aber,  die  der  Mitteilung  von  Gottes 
"Worten  gewürdigt  worden  sind,  haben  mit  dem  Volke  der  Juden 
innerlich  nichts  gemein :  sie  sind  Gottes  Erwählte,  die  sich  durch 
einen  heiligen  Wandel,  ihrer  Erw'ählung  entsprechend,  ausgezeichnet 
haben  und  als  die  Vorläufer  und  Väter  des  latenten  Volkes  der 
Christen  betrachtet  w'erden  müssen^.  Auf  die  Frage,  wie  es  zu 
erklären  sei,  daß  diese  Männer,  die  doch  gar  nicht  als  Juden 
l)etrachtet  werden  dürfen,  ausschließlich  oder  fast  ausschließlich 
innerhalb  des  Volkes  der  Juden  erschienen  sind,  erhält  man  aus 
den  Urkunden  keine  befriedigende  Antwort.  Man  nahm  wohl  an, 
daß  Gott  in  seiner  Barmherzigkeit  das  schlimmste  Volk  durch  die 
stärksten  Mittel  habe  zur  rechten  Erkenntnis  führen  wollen;  aber 
auch  das  habe  nichts  gefruchtet. 

Eine  solche  Ungerechtigkeit  wie  die  der  Heidenkirche  gegen- 
über  dem   Judentum    ist    in    der   Geschichte    fast   unerhört.      Die 


')  Vgl.  Justin,  Dial.  16.  18.  20.  30.  40-46;  er  hat  neben  einander  die 
drei  Beurteilungen:  (1)  daß  die  Zeremonialgesetze  eine  pädagogische  Maß- 
regel Gottes  gewesen  seien  gegenüber  dem  halsstarrigen,  zum  Abfall  ge- 
neigten Volk,  (2)  daß  sie  —  so  die  Beschneidung  —  das  Volk  in  Hinsicht  auf 
die  Vollziehung  des  zukünftigen  Gerichts  nach  göttlicher  Anordnung  kennt- 
lich machen  sollten,  (3)  daß  sich  im  zeremouialgesetzlichen  Gottesdienst  der 
Juden  die  besondere  Verworfenheit  und  Schlechtigkeit  des  Volks  darstelle. 
Den  Dekalog  aber  hat  Justin  als  das  natürliche  Vernunftgesetz  gefaßt,  also 
vom  Zeremonialgesetz  bereits  bestimmt  unterschieden. 

^)  Das  ist  die  übereinstimmende  Ansicht  aller  Schriftsteller  des  nach- 
apostolischen Zeitalters.  Die  Christen  sind  das  wahre  Israel;  daher  gebühren 
ihnen  alle  Ehrenprädikate  des  Volkes  Israel.  Sie  sind  die  zwölf  Stämme 
(s.  Jacob,  epist.  1,  1),  und  so  sind  Abraham,  Isaak  und  Jakob  die  Väter  der 
Christen  (diese  Vorstellung,  über  welche  in  der  Heidenkirche  kein  Schwanken 
herrscht,  ist  nicht  allein  auf  den  Apostel  Paulus  zurückzuführen) ;  die  Gottes- 
manner  des  Alten  Testaments  sind  Christen  gewesen:  s.  Ignat.,  ad  Magn.  8.  "2: 
Ol  -Too(/  r/Tuc  y.aia  Xomrov  'hjaorr  t'ujoar.  Zu  beachten  hat  man  al>er,  daß 
ein  nicht  geringer  Bruchteil  der  Christen,  die  Mehrzahl  der  sog.  Gnostiker 
und  die  Marcioniten,  mit  dem  Judentum  auch  das  Alte  Testament  verwarf 
(Barnabas  steht  im  Uriefe  dicht  vor  der  Verwerfung,  vermeidet  sie  aber  durch 
seine  entschlossene  Umdeutung  des  Buchstabens).  Sie  erscheinen  als  die 
Konsequenten  und  sind  es  doch  nicht;  denn  das  Alte  Testament  abschneiden 
heißt   für   das  Christentum  eine  andere,   neue   historische  Grundlage  suchen, 


Der  Übergang  von  der  Juden-  zur  Heidenmission.  Q] 

Ilculciikirche  streitet  ihm  alles  ab,  iiiinint  iluti  sein  heiliges  lUich, 
und,  während  sie  selbst  nichts  anderes  ist  als  transformiertes  Juden- 
tum, durchsehneidet  sie  jeden  Zusammenhang  mit  demselben:  die 
Tochter  verstößt  die  Mutter,  nachdeni  sie  sie  ausg-e}>lünd(M't !  Aber 
ist  diese  J^etrachtung  wii'klicli  zutreffend?  Auf  einer  gewissen 
Stufe  allerdings,  und  vielleicht  kann  man  niemanden  zwingen,  sie 
zu  verlassen.  Aber  auf  einer  höheren  Stufe  stellt  sich  die  Sache 
anders  dar:  das  jüdische  Volk  hat  durch  die  Verwerfung  Jesu 
seinen  Beruf  verleuguet  und  sich  selbst  den  Todesstoß  versetzt; 
an  seine  Stelle  rückt  das  neue  Volk  der  Christen;  es  übernimmt 
die  gesamte  Überlieferung  des  Judentums;  was  unbrauchbar  in 
derselben  ist,  wird  umgedeutet  oder  fallen  gelassen.  In  Wahrheit 
aber  ist  diese  Abrechnung  nicht  einmal  eine  plötzliche  oder  uner- 
wartete; unerwartet  ist  nur  die  spezielle  Form:  das  Heidenchristen- 
tum führt  doch  nur  einen  Prozeß  zu  Ende,  der  in  einem  Teile 
des  Judentums  bereits  längst  begonnen  hatte  —  die  Entschränkung 
der  jüdischen  Religion  und  ihre  Transformation  zur  Weltreligion. 

Um  das  Jahr  140  war  der  volle  Übergang  der  christlichen 
Religion  zu  den  „Heiden"  und  die  Loslösung  von  dem  Judentum 
perfekt  ^.  Nur  gelehrte  Gegner  imter  den  Griechen  und  die  Juden 
selbst  erinnerten  die  Christen  daran,  daß  sie  eigentlich  Juden  sein 
müßten.  Eine  jüdische  Gegenmission  hat  es  aber  seit  dem  Falle 
Jerusalems    —    lokale  Versuche    ausgenommen  "-^    —    nicht    mehr 


und  diese  konnte  nur  in  ii-gend  einer  anderen  Religion  oder  einem  anderen 
Kultsystem  gefunden  werden.  Nur  Marcion  machte  den  bedeutsamen  Ver- 
such, das  Alte  Testament  preiszugeben  und  mit  der  Lehre  und  Mythologie 
des  Paulinismus  ausschließlich  zu  arbeiten;  aber  gelungen  ist  der  Ver- 
such nicht. 

')  Vierzig  Jahi-e  später  konnte  daher  Ijereits  Irenäus  das  Alte  Testament 
und  seine  wirkliche  Religion  viel  unbefangener  betrachten;  denn  man  fühlte 
sich  im  Besitz  des  Alten  Testaments  kaum  mehr  ernstlich  durch  das  Juden- 
tum gestört.  Nun  vermochte  Irenäus  sogar  wieder  zuzugestehen,  daß  die 
wörtliche  Beobachtung  des  Alten  Testaments  in  früherer  Zeit  gut  und 
fromm  war,  und  die  folgenden  altkatholischen  Väter  gingen  darin  noch  weiter. 
Sie  näherten  sich  von  der  einen  Seite  so  wieder  dem  Paulinismus;  aber  sie 
entfernten  sich  gleichzeitig  womöglich  noch  stärker  von  ihm  als  die  früheren 
Generationen,  da  sie  seinen  Antinomismus  noch  weniger  verstanden  und  dazu 
das  Alte  Testament  gegen  die  Gnostiker  zu  verteidigen  hatten.  Ihre  Un- 
befangenheit in  Anerkennung  des  wörtlichen  Sinnes  des  Alten  Testaments 
war  aber  nicht  nur  durch  die  Sicherheit  verursacht,  die  sie  gegenüber  dem 
Judentiun  empfanden,  sondern  noch  mehr  durch  das  steigende  Wohlgefallen, 
das  sie  an  den  Gesetzen  und  Kultussatzungen  des  Alten  Testaments  fanden. 

-)  Von  Verlockungen  der  Christen  seitens  der  Juden  zum  Abfall  hört 
man  in  der  Literatur,  aber  nicht  häufig;  s.  z.  B.  Serapions  Schrift  bei  PJuseb., 
h.  e.  VL  12  und  Acta  Pionii  13  (hier  auch  eine  Kritik  der  Juden  an  Christus 
als  Selbstmörder  und  Zauberer). 


()2  Einleitung  und  Grundlegung. 

gegeben,  vielmelir  setzten  sich  die  Christen  in  die  Burgen  der 
jüdischen  Propaganda  und  der  jüdischen  Proselyten:  Japheth 
bezog  die  Hütton  Sems  ^,  und  Sem  mußte  weichen. 

Immerhin  gab  es  einen  dunklen  Punkt:  warum  ist  Jesus 
nicht  in  der  ]Mitte  der  „Völker",  sondern  unter  den  Juden  auf- 
getreten -  ?  Das  war  ein  quälendes  Problem.  Es  ist  wichtig  (s.  o.), 
daß  das  4.  Evangelium  erzählt,  Griechen  hätten  Jesum  sehen 
wollen  (12,  20tf.).  Die  Worte,  welche  der  Evangelist  daraufhin 
Jesu  in  den  Mund  legt^,  sollen  eine  Erklärung  der  fehlenden 
Heidenmission  des  Heilands  sein.  Und  derselbe  Evangelist  läßt 
Jesum  unmißverständlich  deutlich  sprechen  (10,  16):  xal  äXXa 
TXQÖßaxa  eyo)  ä  ovx  l'oiiv  ex  rrjg  avÄfjs  ravj)]g,  y.dxnva  de!  jus 
dyayeiv  xai  Trjg  q)0)y)jg  juov  äxovoovoiv.  Er  selbst  wird  sie  her- 
führen —  also  ist  die  durch  seine  Jünger  vollzogene  Mission  seine 
eigene  Mission:  es  ist  so  gut,  wie  wenn  er  selbst  hinauszöge* 
—  ja,  weil  er  ihnen  den  heiligen  Geist  senden  wird,  der  sie  in 
alle  Wahrheit  leiten  und  ihnen  noch  verborgene  Weisheit  mit- 
teilen soll,  wird  sich  sein  eigenes  Wirken  in  ihnen  noch 
potenzieren. 


*)  Die  unfertigen  und  halbbürtigen  Schöpfungen  der  jüdischen  Propa- 
ganda im  Eeiehe  verwandelten  sich  in  selbständige,  auziehungskrilftige,  den 
Synagogen  weit  überlegene  Bildungen,  die  sich  naturgemäß  sofort  gegen  eben 
diese  mit  aller  Schärfe  richten  mußten. 

-)  Das  Jesus  selbst  viele  ix  tov  'EXbjrty.ov  für  sich  gewonnen  habe,  be- 
hauptet nur  das  relativ  späte  falsche  Josephus-Zeugnis. 

^)  'E/.ij/.vüev  ij  6j(ja  Iva  Öo^aoOfj  6  viö';  tov  dv&QOjJiov.  äfiljv  u/iljy  ksyoj 
vuTr,    eÜv  fti]  6  y.öy.y.og  tov  oltov  jtsoojv  stg  Trjr  yf/v  unoi^ävi],  avTog  /.lovog  /^svef 

fär  dk  ujioßüv)] ,   Jio/.iiv    xuottov   cfFQfi 7jXüev  ovv    (fcorij  ix  tov  ovQavov " 

xal    idö^aoa   xai    :iäXiv    Öo^äoco 'Itjaovg    eiTiev    ov  di'    i/^ik  ■>)    (poivrj  avTi] 

yiyovev  d?J.ä  öt'  i'/iäg'  vvv  xgioig  ioTiv  xov  xöofAov  tovtov  vvr  6  anywv  tov 
xöofiov  TOVTOV  iy.ßXjjdrjOETai  e^co'  xayoi  itxv  vipoido)  ix  r//?  7')c,  716.%'Tag 
ilxvoo)    rroög   i fiavTov. 

*)  Freilich  vollständig  und  überall  beruhigte  man  sich  dabei  nicht. 
Zwar  mitten  unter  die  heidnischen  Völker  hat  auch  die  Legende  in  älterer 
Zeit  Jesum  nicht  zu  versetzen  gewagt ;  aber  schon  zu  dem  Kinde  sind  Magier 
aus  dem  Orient  gekommen  und  haben  es  angebetet,  nachdem  ein  Stern  seine 
Geburt  aller  Welt  kund  getan  hat  (Matth.  2) ;  Kngel  haben  „allem  Volke" 
bei  der  Geburt  Jesu  große  Freude  angekündigt  (Luc.  2);  als  jener  Stern  er- 
schien —  so  erzählt  Ignat.  ad  Eph.  19  — ,  da  bezeugte  diese  Erscheinung, 
daß  i'/.VKTO  ,T«oa  fiayeia,  xai  nag  dsa/nog  7jq^a%'LL.£T0  xaxiag ,  äyvoia  xaötjgeao, 
7in).aid  ßaoiksia  bifq>dsi(jt:TO  deov  ävdQOiJilvoig  (fiavsgoviuivov  slg  xatrÖTtjTa  di'dtov 
Coifjg'  dg/Jjv  dk  iXä/ißavev  t6  Jiagä  dsaj  djTtjgxio/iii'ov.  i't'ösv  to.  ndvTa  ovruxivtiTO 
öia  To  nfleTüodai  davaTov  xaTalvoiv.  Kühner  noch  sind  die  edessenischen 
Christen  gewesen;  sie  haben  im  o.  Jahrhundert  behauptet,  Jesus  habe  mit 
ihrem  Könige  Abgar  korrespondiert  und  ihn  geheilt.  Eusebius  (h.  e.  I  fin  ) 
war  diese  Erzählung  sehr  wichtig;  denn  sie  schien  ihm  das  direkte  Wirken 
Jesu  bei  den  Heiden  in  etwas  zu  ersetzen. 


Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Paulus  und  der  ersten  Missionare.         63 

Eine  Folge  dieser  Betrachhmo-  war,  daß  man  die  Zwölf  wie 
eine  Art  von  persönlicher  Yervielfältii!,uiig'  Christi  selbst  anffaßte, 
und  daß  man  ihre  Sendung  in  alle  Welt,  d.h.  die  von  Jesus 
angeblich  selbst  befohlene  Heidenniission,  in  das  Kerygma  aufnahm  ; 
man  vgl.  die  Apologie  des  Aristides  c.  2;  Justin  Apol.  I,  39; 
Ascens.  Isaiae  3,  13  ff.  (der  adventus  Xll  discipulorum  gehört  zu 
den  grundlegenden  Heilstatsachen):  Iren,  fragm.  29^;  Tertull., 
Apol.  21,  adv.  Marc.  IIT,  22:  „habes  et  apostolorum  opus  praedi- 
catum"  [geweissagt];  Hippol.,  de  antichr.  61;  Orig.  c.  Geis,  III,  28; 
Novat.,  de  trinit.  8;  Acta  Joh.  (ed.  Zahn  p.  246):  „Der  Gott,  der 
uns  zur  Mission  der  Völker  erwählt  hat,  der  uns  ausgesandt  hat 
in  alle  Welt,  der  sich  gezeigt  hat  durch  die  Apostel."''^ 
Serapion  bei  Eusebius,  h.  e.  VI,  12:  „Wir  nehmen  Petrus  und  die 
anderen  Apostel  an  wie  Christus.''  Näheres  über  die  Apostel 
s.  im  3.  Buch. 


Sechstes  Kapitel. 

Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Paulus 
und  der  ersten  Missionare. 

1.  Vor  seiner  letzten  Reise  nach  Jerusalem  schrieb  Paulus 
von  Corinth  aus  nach  Rom  (15,  19  ff.):  „Ich  habe  die  Verkündi- 
gung Christi  ausrichten  können  von  Jerusalem  an  bis  nach  Illyrien, 
wobei  ich  immer  meine  Ehre  darein  gesetzt  habe,  das  Evangelium 
da  nicht  zu  verkündigen,  wo  Christus  schon  bekannt  war,  weil 
ich  nicht  auf  fremden  Grund  bauen  wollte.  Das  ists  auch,  was 
mich  so  oft  verhindert  hat,  zu  euch  zu  kommen.  Jetzt  endlich, 
wo  ich  in  diesen  Gegenden  keine  Arbeit  mehr  habe,  wohl  aber 
seit  langen  Jahren  die  Sehnsucht,  zu  euch  zu  kommen,  (werde 
ich  es  ausführen),  sobald  ich  nach  Spanien  reise.  Denn  ich  hoffe 
auf  der  Durchreise  euch  zu  sehen  und,  von  euch  geleitet,  dorthin 
zu  gehen,  nachdem  ich  mich  zuvor  an  euch,  ohne  euch  beschwer- 
lich zu  fallen,  erquickt  habe." 


')  Harvey  II  p.  494:  0(^7-0^  [6  XQtotog]  ev  ri]  xagSta  ri];  yijc,  h  ;i;w//a7f 
xQvßelg  xai  Toi>jfi£Q(o  niyiozoi'  öevöqov  ysvvtjdek  [vorher  war  er  mit  dem  Samen- 
korn Luc.  13,  39  verglichen]  i^hsivs  rovg  kavrov  xXädovg  slg  za  jtiqaza  rfjg  yf/g. 
ex  zovTOV  jiQoy.inpavzsg  01  iß"  ajiöozoXoi ,  xXädoi  dioaloi  xal  sv§a?.£tg  yevrjdsvzeg 
oy.ijiTj  iysvvt'jdtjaav  zocg  e&vsacv,  co?  jiezeiroTg  ovQavoü,  vq?  (Lv  yJ.ddcov  oxsjiaoß^svzeg 
Ol  jrdvzeg,  (vg  OQVsa  imo  y.aXiav  ovveXOovza  /.iszsXaßoi'  zfjg  i$  auzcöv  jroosQ/o/ievTjg 
sdojdi'fiov  xai  ejiovqaviov  ZQOcpfjg. 

-)  Auch  eines  der  Motive  zur  Erfindung  von  apostolischen  Missions- 
geschichten ist  hier  zu  suchen. 


64  Kinleituiii»-  und  GruiuUeirung. 

Die  Yorkündigun_<>-  des  Evangelimiis  in  der  hellenischen 
Welt  ist  also  vollendet:  das  bedenten  die  Worte  „bis  nach  Jllyrien'': 
denn  hier  beginnt  die  lateinische  Welt'.  Die  Ansdrncksweise 
des  Paulns.  der  die  ^lissionspredigt  auf  einer  schmalen  Linie  von 
Jerusalem  bis  Illyrien  für  die  Yerkündignng  des  Evangeliums  in 
der  ganzen  Osthälfte  der  Welt  erklärt,  ist  nur  bei  der  Annahme 
verständlich,  daß  die  Gewißheit  des  nahen  Weltendes  eine  andere 
Art  der  Mission  überhaupt  nicht  zuläßt  als  die  der  Durch- 
querung  der  AYelt.  Zu  Grunde  liegt  der  Gedanke,  daß  das 
f]vangelium  in  der  kurzen  S|)anne  der  gegenwärtigen  AVeltzeit 
überall  verkündet  werden  muß-,  daß  aber  die  Durchquerung  das 
einzig  mögliche  Mittel  seiner  Durchführung  ist.  Vorausgesetzt  ist 
dabei,  daß  sich  nach  rechts  und  links  von  der  flammenden  Linie 
das  Feuer  von  selbst  verbreiten  wird  '^ 

Der  Gedanke  der  Durchquerung  der  Welt  ist,  wie  es  scheint, 
von  dem  Apostel  auf  der  sog.  zweiten  3fissionsreise  gefaßt  worden  *, 
und  er  Itetrachtet  ihn  natürlich  als  eine  göttliche  Weisung.  So 
ist  die  schwierige  Stelle  (Act.  1(3,  6— S)  zu  deuten.  Hatte  er  die 
zweite  AEissionsreise  unternommen,  um  in  die  rein  hellenischen 
Küstenstriche  Kleinasiens  zu  gehen,  und  somit  das  Bewußtsein 
gewonnen,  auch  zum  Apostel  der  Hellenen  berufen  zu  sein,  so 
wird  an  der  Westgrenze  Phi-ygiens  dieses  Bewußtsein  in  ihm  von 
einer  weit  höheren  Aufgabe  überboten.  Er  ist  nicht  nur  der 
Apostel  der  Barbaren  (der  Syrer,  Cilicier,  Lycaonier),  auch  nicht 
nur  der  Apostel  der  Barbaren  und  Hellenen  —  er  ist  der  Welt- 
apostel: er  hat  die  Pflicht,  das  Evangelium  durch  das  ganze 
römische  Reich  bis  zum  äußerten  Westen  zu  tragen,  bez.  sofern 
es  auch  von  anderen  verkündigt  wird,  die  Lücken  in  der  großen 
Transversale  zu  ergänzen.  Daher  schwenkt  er  an  der  Grenze 
Phrygiens  nicht  nach  Westen  ab  (Asien)  und  nicht  nach  Norden 
(Bithynien)  —  wie  man  erwartet,  und  wie  er  selbst  ursprünglich 
geplant   hat   — ,    sondern    nach    Xordwestcn.      Aber  auch   Mysien 


*)  Ägypten  konnte  nicht  ausiallen.  Wenn  Paulus  es  weder  hier  noch 
sonstwo  nennt,  so  muß  er  gewußt  hal)en,  daß  dort  andere  Missionare  tätig 
sind.  Die  hellenische  Welt  ohne  Ägypten  wäre  unvollständig  gewesen.  Oder 
war  ihm  Ägypten  ein  so  gottverhaßte.s  Land,  daß  nichts  mehr  für  dasselbe 
zu  hoffen  ist,  wie  dem  Johannes  (Offenb.  11,  8) V 

-)  Der  Gedanke  kehrt  in  den  Evangelien  wieder  (Marc.  13,  10).  Ist  er 
von  Paulus  zuerst  erfaßt  und  in  Kurs  gesetzt  worden? 

3)  Vgl.  dazu  1  Thess.  1,8;  Rom.  1,8;  Coloss.  1,6. 

*)  Aber  auch  nicht  früher.  Die  ganze  sog.  erste  Missionsreise  bliebe 
unverständlich,  wenn  er  ihn  schon  damals  gehabt  hätte,  ja  Wendt  (zu 
Apostelgesch.  13,  13)  wird  recht  haben,  wenn  er  bemerkt,  Paulus  habe  sich 
damals  üljerhaupt  noch  nicht  als  Apostel  der  Hellenen,  sondern  als  der  der 
Barbaren  gefühlt.  Nur  so  ist  die  Wahl  des  Missionsgebietes  (südöstliches 
Kleiuasienj  zu  verstehen. 


Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Paulus  und  der  ersten  Missionare.         65 

durcheilt  er  nur;  jener  Entschluß,  Asien  und  Bithynien 
liegen  zu  lassen,  bedeutete  von  Anfang  an  die  Unter- 
nehmung der  Mission  nach  Macedonien,  Achaja  und, 
über  sie  hinaus,  in  den  Westen. 

Philippi,  Thessalonich,  Beröa,  Athen,  Corinth  oder,  richtiger 
im  Sinn  des  Paulus,  Macedonien  und  Achaja  hören  das  Evan- 
geliimi.  Warum  bleibt  er  aber  18  Monate  in  Corinth?  warum 
ffeht  er  nicht  sofort  nach  Rom  und  weiter  in  den  Westen?  warum 
schiebt  er  eine  neue  Reise  ein  und  zwar  diesmal  nach  Kleinasien 
und  nimmt  in  Ephesus  einen  dreijährigen  Aufenthalt?  Die  Ant- 
wort ist  nicht  schwierig:  gewiß,  schon  damals,  als  er  das  erste 
Mal  bis  Corinth  vorgedrungen  war,  gedachte  er  nach  Rom  und 
in  den  Westen  zu  gehen  (s.  Rom.  1,  13);  aber  die  Verhältnisse 
waren  zum  Glück  stärker  als  diese  hochfliegende  Idee.  Wenn 
ich  recht  sehe,  kam  ein  Dreifaches  in  Betracht.  Erstlich  wollte 
und  durfte  er  die  Fühlung  mit  Jerusalem  und  Antiochien,  den 
beiden  Muttergemeinden,  nicht  verlieren ;  das  nötigte  ihn  zweimal 
zu  Rückwegen.  Zweitens  drängte  sich  ihm  gebieterisch  die  Pflicht 
auf,  gegründete  Gemeinden  auszubauen  und  sie  nicht  nach  eirdgen 
Wochen  im  Stich  zu  lassen ;  die  Pflicht  der  Organisation  und  der 
Arbeit  im  Kleinen  gewann  die  Oberhand  über  die  phantastische 
und  vermeintliche  Pflicht,  hinter  der  sich  doch  wohl  auch  ein 
Korn  von  Ehrgeiz  verbarg,  die  Welt  mit  dem  Evangelium  zu 
durchqueren.  Endlich  zeigte  es  sich,  daß  niemand  die  Fahne 
des  Evangeliums  aufpflanzte  in  dem  großen  Gebiet,  das  er  mitten 
auf  dem  Wege  liegen  gelassen  hatte,  nämlich  in  dem  westlichen 
Kleinasien  —  dem  Kern  der  hellenischen  Welt.  Gewiß  hatte  er 
darauf  gerechnet,  daß  andere  dort  das  Wort  Gottes  verkünden 
würden,  aber  die  Hoffnung  war  fehlgeschlagen.  Zwar  ließ  er 
nun  bei  seiner  ersten  Rückreise  (von  Corinth  nach  Jerusalem) 
die  ausgezeichnete  Missionarin  Prisca  mit  ihrem  Gatten  Aquila 
in  Ephesus  zurück;  aber  als  er  selbst  auf  der  sog.  dritten  Missions- 
reise wieder  dort  eintraf,  fand  er  (neben  kleinen  Anfängen  einer 
christlichen  Gemeinde)  Johannesjünger  daselbst,  deren  Mission  er 
nicht  bestehen  lassen  durfte,  bald  aber  ein  so  reiches  und  frucht- 
bares Arbeitsgebiet,  daß  er  sich  gezwungen  sah,  seßhaft  zu  werden. 
Hier  in  Ephesus  ist  die  geistige  Auseinandersetzung  mit  dem 
Hellenismus,  die  in  Corinth  begonnen  worden  war,  fortgeführt 
worden.  Beweis  dafür  ist  der  erste  Corintherbrief.  In  Antiochien 
war  diese  Auseinandersetzung  noch  nicht  möglich  gewesen.  Die 
Stadt  war  doch  nur  eine  große  griechische  Kolonie,  griechisch  in 
dem  Sinne,  in  welchem  Kalkutta  englisch  ist. 

Den  Plan  der  Durchquerung  der  Welt  hatte  der  Apostel 
nicht  aufgegeben.     Seine  Durchführung  verzögerte   sich  nur,   wie 

Harnack,  Mission.     2.  Aufl.  .5 


66  Einleituni^  und  Grundlegung. 

ja  aiicli  die  Wiederkunft  Christi  sich  verzögerte.  Wahrscheinlifli 
wäre  er  noch  länger  in  Ephesus  geblieben  (in  dessen  näherer  und 
weiterer  Umgebung  neue  Gemeinden  aufwuchsen)  und  hätte  innigere 
Fühlung  mit  dem  Griechentum  genommen,  wenn  ihn  nicht  trübe 
Nachrichten,  die  aus  Corinth  kamen,  und  ein  kleiner  ]*öbelaufstand 
aus  der  Stadt  getrieben  hätten. 

Ephesus  ist  durch  sein  Wirken  die  dritte  Hauptstadt  der 
Christenheit,  die  eigentlich  griechische  Hauptstadt,  geworden,  imd 
eine  Zeitlang  schien  es,  als  sollte  es  die  d(^finitive  und  d(M'  ]\rittei- 
punkt  werden.  Allein  schon  entAvickelte  sich  im  fernen  Westen 
ein  Rivale,  der  die  asiatische  Metropole  überstrahlen  sollte  — 
die  vierte  Stadt  der  Christenheit  und  bald  die  erste,  Rom. 

Nachdem  Paulus  Ephesus  verlassen  hatt(^  und.  durch  Mace- 
donien  und  Achaja  reisend,  wieder  der  wandernde  Apostel  ge- 
worden war.  gewann  die  unvergessene  Tdee  der  Durchquerung 
der  Welt  wieder  die  Oberhand.  Von  Corinth  aus  schrieb  er 
damals  nach  Rom  jene  Worte,  mit  denen  wir  dieses  Kapitel 
(eröffnet  haben.  Sic;  verlieren  etwas  von  ihrem  hyperbolischen 
Anstrich,  wenn  man  die  außerordentlichen  Erfolge  des  Apostels 
in  Macedonien  und  Achaja,  in  Asien  und  Phrygien,  die  hinter  ihm 
lagen,  ins  Auge  faßt.  Er  hatte  das  Gefühl,  die  hellenische 
Welt  —  trotz  des  geringen  P]rfolges  in  Athen  — •  bezwungen  zu 
haben,  und  in  diesem  Bewußtsein  eines  religiösen  und  intellektuellen 
Sieges  schien  ihm  die  Aufgabe;  hier  erschöpft  zu  s(Mn. 

Aber  auch  in  Rom  (und  darum  auch  in  Italien)  hatte  Gott 
ihn  nicht  m(dir  nötig.  Dort  war  das  Evangelium  schon  verkündigt ; 
eine  große  Gemeinde,  „von  deren  Glauben  man  in  der  ganzen 
Welt  hörte",  hatte  sich  durch  unbekannte  Missionare  bereits  ge- 
bildet. Also  blieb  nur  Spanien  übrig;  Gallien  und  Africa,  an  den 
Seittm  liegend,  werden  dann  nicht  unberührt  bleiben.  Der  Richt- 
punkt „Spanien"  statt  „Africa"  oder  „Gallien"  zeigt,  daß  es 
wirklich  auf  ein(5  Transversale  abgesehen  war.  So  hat  ihn  auch 
richtig  Clemens  (Rrief  I.  5)  verstanden,  und  fast  ghnibt  man  den 
Apostel  selbst  zu  hören:  „Siebenmal  in  Ketten,  vertrieben,  ge- 
steinigt, ein  Herold  geworden  im  Lande  des  Aufgangs  und  des 
Niedergangs,  ein  Lehrer  der  Gerechtigkeit  in  der  ganzen  Welt 
und  bis  an  den  Grenzpfahl  des  Westens  hin." 

Ob  er  wirklich  dahin  gelangt  ist?  Zunächst  jedenfalls  nicht, 
wieder  mußte  ei-  in  den  fernen  Osten  zurück,  und  die  bitteren 
Ahnungen,  mit  denen  er  die  Reise  nach  ,I(>rusalem  antrat,  erfüllten 
sich.  Als  er  mehrere  Jahre  später  wiiklich  nach  Rom  kam, 
geschah  es  als  Gefangener.  Aber  vermochte  er  auch  nicht  mehr 
zu  wirken,  wie  er  wollte,  so  wurde  doch  seine  Wirksamkeit  keine 
geringere  —    durch    die   Predigt    in  Rom,    durch   Briefe    an    die 


Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Puulus  und  der  ersten  Missionare.         67 

fernen   (lenieinden   und    perscinliolien   Verkehr    mit   Freunden   ;ius 
dem   Osten. 

Als  ei'  im  Sommer  des  Jalires  61  mit  dem  Schwerte  hin- 
gerichtet wurde,  hatte  er  seinen  Schuldschein  an  die  Völkerwelt 
voll  eingelöst.  Er  ist  der  Apostel  xax  l^oxrjv  gewesen,  ßarbaren, 
Griechen  und  Ijateinern  hat  er  das  Evangelium  gebracht.  Aber 
nicht  darin,  daß  er  bis  Illyrien,  bis  Korn,  ja  wahrscheinlich  bis 
Spanien  als  Missionar  gekommen  ist,  liegt  seine  Größe,  sondern 
in  der  Art,  wie  er  seine  Mitarbeiter  erzogen  und  wie  er  seine 
Gemeinden  geschaffen  und  organisiert  hat.  Er  hat,  obgleich  ihm 
alles  Jlellenische  im  Tiefsten  stets  verschlossen!  geblieben  ist,  doch 
die  christliche  Religion  auf  den  hellenischen  Boden  dauernd  ver- 
pflanzt —  nicht  er  allein;  aber  nur  seine  Gedanken  sind  ein 
neues  Ferment  im  Hellenismus  geworden.  Die  Gnostikci-,  Irenäus, 
Origenes  und  vor  allem  Augustin  bezeugen  das.  Sof<n'n  (?s  einen 
originellen  (diristlichen  Hellenismus  geg(^ben  hat,  ist  er  ein  paulinisch 
beeinflußter  gewesen.  In  seinen  Briefen  lebte  er  fort.  Sie  sind 
nicht  nur  Dokumente  seiner  Persöidichkeit  und  seiner  Arbeit  — 
nur  wonige  Schriftstücke  der  Weltliteratur  lassen  sich  in  dieser 
Hinsicht  mit  ihnen  vergleichen  -  ,  sondern  wie  sie  aus  der  Tiefe 
eines  lebendigen  religicisen  Besitzes  und  eines  unaufhcirlichen 
inneren  Kampfes  geboren  sind,  sind  sie  auch  unversieglichc^ 
Quellen  religiöser  Kraft.  Jede  Zeit  hat  sie  an(l(u-s  verstanden, 
noch  keine  hat  ihr  Verständnis  erschöpft,  selbst  in  der  VeiHachung 
sind  sie  höchst  wirksam  gewesen. 

Von  den  vier  Mittelpunkten  der  Christenheit  im  I .  Jahrhundert 
—  Jerusalem,  Antiochien,  Ephesus  und  Rom  —  ist  nur  eine 
(Ephesus)  die  Schöpfung  cUis  Paulus,  und  auch  sie  ist  ihm  nicht 
so  treu  geblieben,  wie  man  erwartcm  sollte.  Als  „Vater"  ist  er 
überall  zurückgetreten,  ja  verdrängt  worden,  verdrängt  durcdi  das 
Mittelmäßige,  das  „Natürliche",  durch  das,  was  sich  von  selber 
machte.  Weder  seine  Stärken  noch  seine  Schwächen  sind  als 
Influenzen  auf  seine  Genunnden  übergegangen.  In  diesem  Sinn 
war  er  stets  ein  einsamer  Mann;  aber  der  Lehrer  der  (.hristen- 
heit  ist  er  geblieben,  ja  ist  es  in  steigendem  Maße  erst  geworden. 
2.  Seine  Hinterlassenschaft  sind  ncsben  seinen  Ib-iefcüi  seine 
Gemeinden.  Er  hat  sie  selbst  als  seine  „Hriefe"  bezeichnet. 
Weder  sein  Beruf  als  rastlos  fortschreitender  Missionar  noch  sein 
Temperament  noch  seine  religiöse  Eigenart  (ekstatischer  Enthusiast 
und  exklusiver  Theologe)  schienen  ihn  zum  Organisator  zu  be- 
fähigen, und  dennoch  hat  er  es  wie  kein  anderer  verstanden, 
Kirchen  zu  gründen  und  zu  bauen  (vgl.  Wcnnel,  Paulus  als 
kirchlicher  Organisator,  1899).  In  Glaube,  Liebe,  Ilofl'nung 
und  den  verwandten  Tugenden  die  höchsten  Früchte  des  Geistes 


6§  Einleitung  und  Grundlegung. 

erkennend,  die  Ausl)rüch(!  des  Enthusiasmus  unter  den  Zweek  der 
Erbauung  beugend .  den  Einzelnen  dem  Organismus  des  Ganzen 
vmterordnend,  die  natürlichen  Ordnungen  des  gemeinschaftlichen 
Lebens  trotz  ihrer  Mängel  und  Weltlichkeit  als  Glottes  Ordnungen 
behauptend,  hat  er  die  Gefahren  der  Schwärmerei  überwunden 
und  Gemeinden  geschaffen,  die  in  der  \Yelt  leben  konnten,  ohne 
von  der  Welt  zu  sein.  Aber  die  Organisation  ist  ihm  nie  Selbst- 
zweck oder  Mittel  zu  weltlichen  Herrschaftszwecken  gewesen  und 
nie  hat  er  sie  gewollt.  ,,Einheit  in  der  Bruderliebe,  Gottesherr- 
schaft im  Menschenherzen,  nicht  Herrschaft  der  Virtuosen  oder 
der  Priester  über  Laien,  das  sind  die  Ziele  seiner  Kirchengründung." 
Als  Theologe  und  im  Kampfe  gegen  die  Judaisten  erscheint  er 
manchmal  wie  ein  Liquisitor  oder  wie  ein  fanatischer  Schrift- 
gelehrter, und  man  hat  gesagt,  daß  er  der  Kirche  die  theologische 
Verengung  und  die  Ketzermacherei  eingeimpft  habe ;  aber  in 
Wahrheit  kannte  er  nur  ein  Bekenntnis  neben  dem  Bekenntnis 
zum  lebendigen  Gott,  nämlich  das  „Christus  der  Herr'*',  und  am 
Ende  seines  Lebens  hat  er  bezeugt,  daß  er  jede  Lehre  ertragen 
wolle,  die  auf  diesem  Grunde  stehe.  Der  Geist  Christi,  die 
Freiheit,  die  Liebe  —  wider  sein  Temperament  und  seine  Er- 
ziehmig  hat  er  sich  diese  Höhe  erkämpft  und  errungen,  und 
deshalb  auch  die  Gemeinden  auf  diese  Höhe  zu  stellen  versucht. 
3.  Zwischen  ihm  und  seinen  Mitarbeitern  war  ein  großer 
Abstand.  LTnter  den  selbständigen  sind  Barnabas,  Silas  (Silvanus), 
das  Ehepaar  Prisca  und  Aquila  sowie  Apollo  zu  nennen.  Von 
Barnabas  wurde  oben  S.  45  gehandelt;  Silas,  der  Prophet  der 
jerusalemischen  ürgemeinde,  rückte  an  seine  Stelle  neben  Paulus 
und  hat  auf  der  sogenannten  zweiten  Missionsreise  etwa  so  neben 
ihm  gestanden  wie  Barnaljas  auf  der  ersten.  Es  bedeutete  wohl 
eine  Art  von  Rückversicherung  Jerusalem  gegenüber,  daß  Paulus 
ihn  mitgenommen  hat.  Aber,  soviel  wir  sehen  (vgl.  auch  noch 
TI  Cor.  1,  19),  hat  kein  Mißton  ihr  Verhältnis  gestört:  Silas  ist 
Mitbegründer  der  Gemeinden  in  Macedonien  und  Achaja  geworden. 
Dann  verschwindet  er  vollkommen  im  Leben  des  Paulus  und  in 
der  Apostelgeschichte,  um  zur  Überraschung  am  Schluß  des 
ersten,  nach  Pontus,  (ialatien,  Cappadocien,  Asien  und  ]}ithynien 
gerichteten  Petrusbriefs  wieder  aufzutauchen  und  zwar  als  Schreiber 
des  von  Petrus  inspirierten  Briefs  (denn  das  besagen  höchstwahr- 
scheinlich die  Worte  c.  5.  12:  öiä  Ztlovnvov  vpXv  rov  mmov 
äöflrpov,  chq  Xoyi'Qofini,  Öl  oXiywv  eyQaym).  Diese  abgerissene  Nach- 
richt muß  in  ihrer  Isolierung  ein  Rätsel  bleiben.  —  Das  aus  Rom 
nach  Coriiith  zur  Zeit  des  Claudius  gepflüchtete  Ehepaar  Prisca 
und  Acpiila  (oder  vi(dm(>hi'  di(>  Missionarin  Piisca  und  ihr  Gatte 
Aquila)    stand    von    allen    selbständigen    Missionaren    Paulus    am 


Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Paulus  und  der  ersten  Missionare.         69 

nächsten:  sie  haben  mit  ihm  in  Corinth  zusanimcngewirkt,  haben 
sein  Wirken  in  Ephesus  vorbereitet,  die  Prisca  hat  den  aus 
Alexandricn  stammenden  Johannesjünger  Apollo  für  Christus  ge- 
wonnen —  ein  Beweis  ihrer  christlichen  Weisheit  — ,  sie  haben 
dem  Apostel  einmal  das  Leben  gerettet,  und  sie  haben,  nach 
Rom  zurückgekehrt,  dort  in  seinem  Sinn  gewirkt  (s.  meine  Ab- 
handlung in  den  Sitzungsber.  der  Berliner  Akad.  1900,  11.  Jan.). 
Es  spricht  vieles  dafür,  daß  der  Hebräerbrief  von  ihnen  —  sei 
es  aus  der  Feder  der  Prisca,  sei  es  aus  der  des  Aquila  —  stammt 
(s.  meine  Abhandlung  in  der  Zeitschr.  f.  NTliche  Wissenschaft 
Bd.  1,  S.  1  if..  1900).  —  Apollo,  der  Alexandriner,  hat  in  Corinth 
als  selbständiger  Missionar  auf  dem  von  Paulus  bepflanzten  Felde 
gewirkt.  Nur  im  I.  Corintherbrief  hat  sich  Paulus  über  ihn  ge- 
äußert und  zwar  anerkennend  und  freundlich,  gerade  weil  er 
wußte,  daß  man  in  Corinth  eine  Spannung  und  Rivalität  zwischen 
ihnen  konstruierte.  Dennoch  läßt  sich  fragen,  ob  ihm  das  Wirken 
dieses  von  ihm  selbst  nicht  bestellten  geistvollen  Genossen  durch- 
weg sympathisch  gewesen  ist.  Die  abgerissene  Notiz  im  Titus- 
brief  über  ihn  (3,  13)  lehrt  uns  leider  nicht  mehr,  als  daß  auch 
später  das  Yerhältnis  zwischen  den  beiden  Männern  nicht  ge- 
litten hat. 

Unter  den  Missionaren,  die  Paulus  selbst  an  sich  herangezogen 
bez.  gebildet  hat,  steht  Timotheus  im  Vordergrund.  Wir  hören 
ziemlich  viel  von  ihm,  und  seine  Person  ist  auch  dem  Verfasser 
der  Apostelgeschichte  so  wichtig  gewesen,  daß  er  von  seiner 
Herkunft  und  Auswahl  (16,  1)  erzählt.  Dennoch  vermögen  wir 
uns  von  diesem  treuesten  jüngeren  Mitarbeiter  des  Apostels  kein 
rechtes  Bild  zu  machen,  vielleiclit  eben  deshalb,  weil  er  ihm 
gegenüber  unselbständig  war.  Nach  dem  Tode  des  Apostels  — 
er  war  auch  in  Rom  bei  ihm  und  hat  so  Beziehungen  zu  dieser 
Gemeinde  gewonnen  —  hat  er  seine  Wirksamkeit  noch  fortgesetzt, 
ist  zeitweise  gefangen  gewesen  und  hat  die  domitianische  Zeit 
noch  erlebt  (Hebr.  13,  23).  —  Unter  den  übrigen  Mitarbeitern 
zweiten  Rangs  sind  Marcus  (der  älteste  Jerusalemit),  Titus  und 
der  Arzt  Lucas  hervorzuheben.  In  Bezug  auf  Marcus,  den  Paulus 
auf  die  sogenannte  2.  Missionsreise  nicht  mehr  mitgenommen  hat, 
der  sich  aber  später  wieder  in  seiner  Begleitung  findet  (Phileni.  24; 
Coloss.  4,  10;  HTim.  4,  II),  ist  es  möglich,  daß  die  Tradition 
aus  zwei  Personen  eine  gemacht  hat  (wahrscheinlich  ist  es  m.  E. 
nicht).  Er  ist  der  Mann,  der  nach  dem  Zeugnis  des  Presbyters 
Johannes  evangelische  Aufzeichnungen  gemacht  hat.  Titus,  von 
dem  wenig  bekamit  ist.  war  ein  Vollblut-Heide  (Gal.  2,  1  f.)  und 
hat  zeitweise  auf  Creta  gewirkt.  Li  Lucas,  der  auf  der  zweiten 
Missionsreise    in   Troas    zu    dem   Apostel    stieß    (er    gehörte    der 


70  Einleitung  und  Grundlegung. 

antiochenischen  Gemeinde  an  und  war,  wie  Titus,  Heidenchrist), 
erhielt  die  älteste  Christenheit  nicht  ihren  größten,  aber  ihren 
verständigsten  Schriftsteller.  Paulus  selbst  sclieint  „den  geliebten 
Arzt"  (Coloss.  4,  15)  und  „Mitarbeiter"  (Philem.  24)  in  seiner 
Bedeutung  doch  nicht  voll  erkannt  zu  haben.  Die  letzten  Worte 
über  seine  Mitarbeiter,  die  wir  von  ihm  besitzen,  sind  nicht  er- 
freulich. Schon  aus  dem  Philipperbrief  spricht  Vereinsamung, 
und  II  Tim.  4,  9  f.  heißt  es :  „Beeile  dich ,  schleunig  zu  mir  zu 
kommen;  denn  Demas  hat,  nachdem  er  diese  Welt  lieb  gewonnen, 
mich  verlassen  und  ist  nach  Thessalonicli  gegangen.  Crescens 
nach  Galatien.  Titus  nach  Dalmatien.  Lucas  ist  allein  bei  mir 
[das  scheint  aber  ein  geringer  Trost  zu  sein!].  Nimm  den  Marcus 
zu  dir  und  bring'  ihn  mit,  denn  er  kami  mir  gute  Dienste  leisten. 

Tychicus   habe  ich  nach  Ephesus  gesandt Alexander,   der 

Schmied,  hat  mir  viel  Böses  erwiesen  ....  Bei  meiner  ersten 
Verteidigungsrede  stand  mir  niemand  zur  Seite,  sondern  alle  ließen 
mich  im  Stich  .  .  .  ."  Man  würde  aber  doch  unrecht  tun,  die 
Mitarbeiter  des  Apostels  nach  diesen  unmutigen  Worten  zu  be- 
urteilen. Augenscheinlich  haben  sie  nicht  getan,  was  er  wollte, 
aber  die  Gründe  ihrer  Entschlüsse  kennen  wir  nicht. 

4.  Daß  Petrus  (nach  Paulus?  neben  Paulus?)  in  die  klein- 
asiatische Mission  eingetreten  ist,  dafür  besitzen  wir  in  dem  so- 
genannten I.  Petrusbrief  eine  sehr  zweifelhafte  Urkunde;  aber 
gewiß  ist,  daß  —  wohl  nach  der  Zerstörung  Jerusalems  —  her- 
vorragende palästinensische  Christen  nach  Asien  und  Phrygien 
gekommen  sind  und  dort  eine  bedeutende  Tätigkeit  entfaltet 
haben.  An  ihrer  Spitze  steht  ein  Mann,  der  nach  Ephesus  kam 
und  dort  im  höchsten  Alter  beim  Beginn  der  Regierung  Trajans 
gestorben  ist  —  Johannes,  „der  Presbyter",  ^vie  er  sich  selbst 
und  wie  ihn  sein  Kreis  genannt  hat.  Er  wirkte  in  den  paulinischen 
Gemeinden  Asiens  persönlich  und  durch  Briefe ,  vermehrte  sie, 
ordnete  ihre  inneren  Verhältnisse  und  trat  Irrlehrern  mit  außer- 
ordentliclier  Schärfe  entgegen.  Die  Oberleitung  der  Gemeinden 
behielt  er  sich  vor  und  übte  sie  durch  wandernde  Sendlinge  aus. 
Sein  Ansehen  wai'  ein  apostolisches  oder  apostelgleiches,  aber 
gegen  Ende  seines  Lebens  suchte  diese  und  jene  Gemeinde ,  die 
sich  selbständig  fühlte,  im  Vorein  mit  ihrem  Bischof  seine  Ober- 
herrschaft abzuschütteln.  Als  er  die  Augen  schloß,  verschwand 
wohl  sofort  die  nur  noch  in  seiner  Person  gegebene  Missions- 
organisation, und  die  selbständige  lokale  trat  überall  hervor.  Als 
Ignatius  zwölf  l)is  fünfzehn  .lahre  späten-  nach  Asien  kam,  war 
von  jen(!r  nichts  mehr  vor]iand(Ui.  luul  auch  das  (iredäclitnis  an 
jencMi  .JohaniKss  trat  hinter  dem  Gedächtnis  an  I'aulus  zurück. 
Es  muß  also  zuletzt  der   Kreis  des  Johannes  ein   beschränkter,  er 


Die  Ergebnisse  der  Mission  des  Paulus  und  der  ersten  Missionare.         71 

selbst  ziemlich  isoliert  gewesen  sein  ^.  Sicher  gehören  ihm  der 
zweite  und  dritte  Johannesbriei",  der  im  neuen  Testamente  steht, 
und  eben  deshalb  darf  man  auch  den  ersten  Brief  und  das  vierte 
Evangelium  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  ihm  zuschreiben,  ja 
man  darf  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  ihm  auch  jenes 
Buch  vlndicieren,  welches  sieben  Briefe  und  die  christliche  Be- 
arbeitung einer  (oder  mehrerer)  jüdischer  Apokalypsen  enthält  — 
die  Offenbarung  Johannis.  Diese  Hypothese  ist  die  einfachste, 
die  sich  aufstellen  läßt,  schließt  sich  der  Überlieferung  am  besten 
an  und  hat  keine  kapitalen  Schwierigkeiten  gegen  sich.  Über  die 
Person  dieses  Johannes  läßt  sich  nur  das  mit  einer  an  Gewißheit 
grenzenden  Wahrscheinlichkeit  sagen,  daß  er  nicht  der  Zebedäide 
ist,  sondern  ein  sonst  unbekannter  Jerusalemit  priesterlicher  Her- 
kunft und  „Herrnjünger'-'  -,  ferner  daß  er,  wie  sein  Evangelium 
zeigt,  eine  besondere  Beziehung  zum  Zebedäiden  Johannes  einst 
gehabt  haben  muß  '^.  War  am  Ende  seines  Lebens  seine  Autorität 
erschüttert  bez.  auf  einen  kleinen  Ki-eis  beschränkt,  so  ist  es 
diesem  Kreise  („die  Presbyter")  gelungen,  jene  Autorität  dadurch 
wiederherzustellen  und  mächtig  zu  erweitern,  daß  sie  seine 
Schriften  „edierten"  und  in  den  Kirchen  durchsetzten.  Wahr- 
scheinlich haben   sie  auch  den  Herrnjünger,   „Apostel"  und  Pres- 


')  Es  scheint,  daß  ihn  damit  dasselbe  Geschick  ereilte,  welches  er  dem 
Paulus  bereitet  hat.  Man  geht  freilich  hier  wie  im  Nebel,  aber  das  völlige 
Verschweigen  des  Paulus  in  den  sieben  Briefen  der  Apokalypse  ist  ein  Pro- 
blem und  kann  nicht  als  unerheblich  bezeichnet  werden.  Auch  das  Schweigen 
in  dem  Evangelium  Johannis,  in  welchem  sich  doch  sonst  so  viel  Zeitgeschicht- 
liches spiegelt,  ist  höchst  auffallend.  Die  sind  gewiß  ganz  im  Unrecht, 
welche  die  Sendung  des  Parakleten,  von  der  das  Evangelium  spricht,  auf 
Paulus  beziehen  wollen  (Origenes  —  s.  o.  S.  50  —  erzählt  uns  von  solchen), 
aber  sie  haben  recht,  wenn  sie  in  dem  Evangelium  nach  Paulus  suchten  und 
ihn  sonst  nicht  fanden. 

^)  Diese  Bezeichnung  legt  nahe,  fordert  aber  nicht  notwendig  die 
persönliche  Jüngerschaft,  da  sie  nicht  in  Jerusalem,  sondern  in  Asien  auf- 
gekommen ist. 

^)  Daß  der  Jünger,  den  der  Herr  lieb  hatte,  der  Zebedäide  Johannes 
ist,  ist  noch  immer  die  wahrscheinlichste  Annahme;  dann  aber  ergibt  sich 
alles  andere.  Die  Beziehung  zu  ihm  braucht  nicht  in  Asien  vom  Presbyter 
gewonnen  worden  zu  sein,  sondern  kann  sehr  wohl  auf  Jerusalem  zurückgehen. 
Den  formalen  Anstoß  (zwei  Johannes)  muß  man  in  den  Kauf  nehmen;  der 
Name  war  sehr  häufig.  Wenn  aber  irgendein  kritisches  Problem  hier  durch 
die  Annahme  erleichtert  wird,  auch  der  Zebedäide  Johannes  sei  nach  Asien 
gekommen,  so  mag  man  dieser  Überlieferung,  die  schon  Justin  bezeugt, 
Glauben  schenken.  Durch  diese  Zustimmung  wird  in  bezug  auf  die  Frage 
nach  dem  Verfasser  der  johanneischen  Schriften  nichts  geändert.  Erleichtert 
aber  wird  die  Erklärung  der  Tatsache,  daß  man  verhältnismäßig  so  früh  in 
der  asiatischen  Tradition  den  Verfasser  der  johanneischen  Sfihriften  für  den 
Zebedäiden  gehalten  hat. 


72  Einleitung  und  Gruncllegxing. 

byter    geflissentlich    zum    Zwölfapostel    gemaclit    oder    sind    doch 
diesem  Irrtum  nicht  entgegengetreten. 

Außer  diesem  Johannes  sind  der  Evangelist  Philippus  und 
seine  vier  weissagenden  Töchter,  ferner  der  „Herrnjünger"  Aristion 
und  vielleicht  auch  der  Apostel  Andreas  als  solche  zu  nennen, 
die  nach  Kleinasien  gekommen  sind.  Für  Philippus  (man  hat  ihn 
übrigens  im  zweiten  Jahrhundert  auch  mit  dem  Apostel  gleichen 
Namens  verwechselt)  imd  seine  Töchter  steht  die  Wirksamkeit 
in  Hierapolis  in  Phrygien  durch  sichere  Zeugnisse  fest.  Den 
Herrnjünger  Aristion  nennt  Papias  neben  Johannes  als  alten 
Zeugen,  und  nach  einer  armenischen  Handschrift  geht  der  unechte 
(mit  dem  Lucas-  und  Johannes-Evangelium  verwandte,  also  wohl 
in  Asien  entstandene)  Schluß  des  Marcusevangeliums  auf  ihn  zurück. 
Daß  Andreas  nach  Asien  gekommen  ist,  läßt  sich  auf  Grund  der 
im  Muratorischen  Fragment  stehenden  alten  Legende  vermuten; 
dieselbe  wird  durch  die  freilich  späte,  aber  doch  nicht  sicher 
wertlose  Nachricht  gestützt,  Andreas  sei  in  Griechenland  gestorben  ^ 

Im  Ausgang  des  1.  Jahrhunderts  waren  Asien  und  Phrygien 
die  einzigen  Provinzen,  in  denen  palästinensische  Traditionen 
durch  persönliche  Repräsentanten  noch  lebendig  waren.  Zugleich 
war  wahrscheinlich  in  keinem  anderen  Teile  des  Reichs  eine  so 
große  Anzahl  nahezusammenliegender  Christengemeinden  zu  finden 
wie  hier  und  in  Bithynien  und  im  Pontus.  Das  mußte  ihnen,, 
namentlich  aber  der  Gemeinde  von  Ephesus  ein  großes  Ansehen 
geben.  Wenn  Clemens  Alexandrinus  nach  alten  Traditionen 
suchte,  blickte  er  auf  Asien,  und  auch  in  Rom  wußte  man,  welche 
Bedeutung  den  Gemeinden  dort  aus  ihrer  Tradition  zukam.  Aber 
in  Rom  ist  man  doch  niemals  gewillt  gewesen,  sich  auf  die  zweite 
Stufe  zu  stellen.  Um  das  Jahr  50  ist  die  Christenheit  eine 
Ellipse,  die  an  Jerusalem  und  Antiochen  ihre  Mittelpunkte  hat: 
fünfzig  Jahre  später  liegen  diese  Mittelpunkte  bereits  in  Ephesus 
und  Rom.  In  dieser  Tatsache  tritt  die  Größe  des  Werkes  des 
Paulus  und  der  ersten  christlichen  Missionare  aufs  deutlichste 
hervor. 

')  Man  darf  hier  auch  a,n  Ignat.  ad  Ephes.  11  erinnern:  i'va  evl  xX/jq«) 
'E(pf.oioiv  svQEÜö)  TÖjv  XgioTiavcüv,  o'i  xal  zoTg  äjrooTÖXoig  jiävToie  ovvt'ivFonr  (al. 
avvrjoav)  fv  övvdfifi  'Irjoov  Xoioiov.  Die  LA  onvtjveoav  fordert  aber  nicht  not- 
wendig die  persönliche  Anwesenheit  der  Apostel  in  Ephesus. 


Zweites  Buch. 
Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Das  Geheimni8  der  Anziehungskraft  der  chrisÜiclien  Predigt 
und  eine  wichtige  Bedingung  ihres  Erfolges  lag  in  dem  Einen 
und  Vielen,  das  sie  von  Anfang  an  umfaßte.  Sie  war  einerseits 
so  einfach,  daß  man  sie  mit  wenigen  kurzen  Sätzen  zu  umschreiben, 
in  einer  großen  imieren  Erschütterung  zu  erfahren  vermochte, 
und  sie  war  andererseits  so  mannigfaltig  und  reich,  daß  sie  jeg- 
liches Denken  befruchtete  und  jedes  Grefühl  belebte.  Fast  von 
Anfang  an  vermochte  sie  mit  jeder  Betätigung  des  Edlen  und 
Guten,  ja  auch  mit  jeder  Spekulation  und  jedem  Mysterienkultus 
zu  wetteifern.  Sie  war  neu  und  alt,  jenseitig  und  diesseitig  zu- 
gleich; sie  war  hell  und  durchsichtig  und  wiederum  tiefsinnig  und 
geheimnisvoll;  sie  war  statutarisch  und  über  jedes  Gesetz  erhaben; 
sie  war  eine  Lehre  und  doch  keine  Lehre,  eine  Philosophie  und 
doch  etwas  anderes  als  Philosophie.  Man  hat  vom  abendländischen 
Katholizismus  gesagt,  er  sei  in  seiner  Gesamterscheinung  die 
complexio  oppositorum:  aber  dies  gilt  auch  schon  von  der  christ- 
lichen Predigt  in  ihren  frühesten  Anfängen.  Man  kann  es  bereits 
am  Paulinismus  nachweisen,  ebenso  aber  auch  an  der  Verkündigung 
der  christlichen  Religion  im  zweiten  Jahrhundert.  Wer  daher  die 
Missionspredigt  imd  Missionswirksamkeit  darstellen  will,  um  die 
überraschenden  Erfolge  des  Christentums  zu  erklären,  muß  sich 
aller  Momente  gleichmäßig  zu  bemächtigen  versuchen.  Wir  werden 
so  verfahren,  daß  wir  darstellen  werden: 

(1)  Religiöse  Grmidzüge  der  Missionspredigt. 

(2)  Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung. 

(3)  Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung. 

(4)  Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft,  des  sittlichen 
Ernstes  und  der  Heiligkeit. 

(5)  Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien 
und  der  transcendentalen  Erkenntnisse. 

(6)  Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten 
Geschlecht  (das  geschichtliche  und  politische  Bewußtsein  der 
Christenheit). 


74  I^ie  Mission«predigt  in  Wort  uud  Tat. 

(7)  Die  Religion  des  Buchs  und  der  erfüllten  Geschichte. 

(8)  Den   Kampf  gegen    den   Polytheismus  und   Götzendienst. 

Tn  diesen  Kapiteln  zusammengenommen  hoffen  wir  dem  Reich- 
tum der  Aufgabe  gerecht  zu  werden,  ohne  doch  die  einfache 
Kraft  dieser  Religion  abzuschwächen  oder  zu  verdunkeln  ^.  Eines 
freilich  muß  hier  ausgeschlossen  bleiben,  nämlich  die  Entwickelung 
der  christliclien  Lehre  bis  zu  der  abgeschlossenen  Katechismus- 
lehre der  Kirche  und  bis  zu  der  christlichen  Religionsphilosophie 
des  Origenes  und  seiner  Schüler  zu  verfolgen.  Unstreitig  hat  die 
Lehre  in  beiden  Gestalten  auch  für  die  Mission  eine  hohe  Be- 
deutung gehabt,  namentlich  seit  ihrem  relativen  ersten  Abschluß 
um  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts.  Aber  die  Aufgabe  hier  ist  so 
groß,  daß  sie  ein  eigenes  Werk  füllt.  Ich  habe  ihr  in  dem 
1.  Bande  meines  Lehrbnchs  der  Dogmengeschichte  (3.  Aufl.)^  zu 
entsprechen  versucht  und  muß  diejenigen  auf  dieses  AVerk  ver- 
weisen, welche  die  Lücke,  die  wir  hier  lassen  müssen,  ergänzt 
sehen  wollen. 


Erstes   Kapitel. 
Religiöse  Grundzüge  der  Missionspredigt. 

Das  Wort  „Missionspredigt"  kann  in  einem  doppelten  Sinne 
verstanden  werden  —  erstlich  (im  weiteren  Sinne)  umfaßt  es  alles, 
was  das  Evangelium  an  bewegenden,  anziehenden  und  überzeugen- 
den Momenten  besaß  bez.  in  seiner  Entwickelung  zur  synkretistischen 
Religion  bis  zum  Ende  des  3.  Jahrhunderts  rezipierte  und  in  Kraft 
und  lieben  umsetzte.  Zweitens  (im  engeren  Sinne)  umschließt 
das  Wort  lediglich  die  entscheidende  Glaubensbotschaft  und  die 
moralisclien  Forderungen.  Im  letzteren  Sinne  werden  wir  in 
diesem  Absciinitt  die  Grundzüge  der  Missions[)redigt  zur  Dar- 
stellung bringen  :  in  d(!r  weiteren  Fassung  geliört  vieles  hierher. 
Altes  Testament  und  mnio  Schriften,  Heilung  und  Erlösung.  Gnosis 
und  Apologetik,  Mythus  und  Sakramente.  Dämonenbezwingung, 
soziale  Ausgestaltung  und  Hilfleistung  —  alh^s  dies  nahm  an  der 
Missionspredigt  teil  und  trug  dazu  bei,  sie  eindrucksvoll  und  über- 
zeugend zu  machen.  Im  engeren  Sinne  sind  der  Darstellung  der 
MiKsionsj)redigt  hier  Schranken  zu  ziehen;  denn  die  Fassung  der 
entscheidend(ui  Glaubensbotschaft  und  der  moralischen  Forderung(m 

')  In  dem  Martyrium  der  8cilitaner  sagt  der  l'rokoiisul:  ,Et  uos  religiosi 
sumus,  et  simplex  est  religio  nostra."  Darauf  repliziert  der  Christ  Speratus: 
„>ii  tranquillas  pracbueris  aures  tuas,  dico  mysteriuni  simplicitatis." 

-)  Vgl.  meinen  Grundriß  der  Dogmeugeschichte,  4.  Aufl.,  1905. 


Religiöse  Grundzüge  der  Missiouspredigt.  75 

ist  natürlich  abhängig  gewesen  von  der  dogmengesehichtlichen 
Entwickohmg.  Diese  kann  aber  nicht  dargelegt  werden,  ohne  die 
Grenzen  dieses  Werks  zu  überschreiten  (s.  o.).  Indessen  ist  die 
Schranke  nicht  so  empfindlich,  weil,  soviel  wir  wissen,  die  Missions- 
predigt im  strengen  Sinne  des  Wortes  seit  dem  Ende  des  2.  Jahr- 
hunderts so  ziemlich  aufgehört  hat.  Der  Katecliumenenunterricht 
trat  an  ihre  Stelle,  ferner  die  häusliche  Erziehung  im  und  zum 
Christentum  und  der  kirchliche  Gottesdienst.  Endlich  ist  das 
Mißverständnis  abzuwehren,  als  sei  jeder,  der  zum  Christentimi 
übertrat,  durch  eine  in  den  Grundzügen  vollständige  Missionspredigt 
gewonnen  worden.  Die  Quellen,  soweit  sie  uns  hier  Aufschluß 
geben,  zeigen  ein  ganz  anderes  Bild  —  und  zwar  während  der 
ganzen  vorconstantinischen  Epoche.  In  unzähligen  Fällen  war 
das,  was  die  Entscheidung  bewirkte,  nur  ein  Strahl  des  Lichtes: 
der  eine  wurde  durch  das  alte  Testament  gewonnen,  der  andere 
dm'ch  Dämonenbeschwörer,  ein  dritter  durch  die  Reinheit  des 
christlichen  Lebens,  wieder  ein  anderer  durch  den  Monotheismus 
oder  —  vor  allem  —  durch  die  Aussicht  auf  eine  totale  Ent- 
sühnung und  auf  das  ewige  Leben  oder  durch  die  Tiefe  der  Speku- 
lationen oder  durch  den  sozialen  Halt,  den  er  gewann.  Am 
häufigsten  aber  mag,  solange  das  Christentum  sich  noch  nicht 
natürlich  fortpflanzte,  ein  Gläubiger  den  anderen  erweckt  haben, 
wie  ein  Prophet  den  anderen  salbt;  das  Beispiel  —  nicht  nur  das 
der  Märtyrer  —  und  die  persönliche  Darstellung  des  christlichen 
Lebens  erzeugten  die  Nachahmung.  Eine  vollständige  Kenntnis 
der  christlichen  Lehre,  die  ja  noch  im  2.  Jahrhundert  wie  weiches 
Wachs  war,  haben  sich  gewiß  die  wenigsten  erworben  —  „idiotae, 
quoruni  semper  maior  pars  est",  sagt  Tertullian,  und  Hippolyt 
klagt  über  die  Ignoranz  sogar  eines  römischen  Bischofs  — ;  aber 
auch  die  Kenntnis  der  heiligen  Schriften  mußte  trotz  der  nicht 
fehlenden  Privatlektüre  das  Vorrecht  einzelner  bleiben,  so  weit- 
schichtig und  schwer  verständlich  waren  sie  ^. 

Die  älteste  Missionspredigt  an  die  Juden  lautete :   „Das  Gottes- 
reich  ist  nahe  herbeigekommen;  tut  Buße  2."     Was  das  Himmel- 


*)  Namentlich  abendländische  Bischöfe  und  Theologen  klagen  immer 
wieder  über  die  mangelnde  Bibelkenntnis  bei  Laien  und  auch  bei  Klerikern, 
aber  vgl.  auch  Clemens  Alexandriuus. 

^)  Die  älteste  Missionspredigt  (Matth.  10.  7  f.),  mit  der  die  Jünger  Jesu 
betraut  wurden,  lautet:  xrjQvoasrs  Xsyovxeg  ort  rjyyiysv  i]  ßaoileia  rwv  ohga- 
vöiv.  Die  Buße  ist  hier  nicht  genannt,  aber  aus  anderen  Stellen  zu  er- 
gänzen. Die  Kraft,  Heilandswirken  zu  üben ,  wird  ihnen  dabei  in  Aussicht 
gestellt  (a.o&£vovvzag  deoaJTSVSTS ,  VEXoovg  syeigeis,  Äsjigovg  xa&aQiCsie ,  dai/iöyia 
sxßäklETs). 


76  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

reicli  sei  und  was  die  Nähe  bedeute,  glaubten  die  Juden  zu  wissen; 
was  Buße  zur  Erwerbung  der  besseren  Gerechtigkeit  sei,  mußte 
ihnen  gesagt  werden,  und  von  hier  aus  empfing  auch  der  Begriif 
,,Gottesreich"  einen  anderen  Sinn. 

Die  zweite  Stufe  in  der  Missionspredigt  an  die  Juden  bildete 
der  Satz  ,, Jesus,  der  Auferstandene^,  ist  der  Messias ^  und  wird 
vom  Himmel  wiederkommen,  um  sein  Reich  aufzurichten." 

Die  dritte  Stufe  war  durch  die  Beleuchtung  des  ganzen  alten 
Testaments  (des  Gesetzes  und  der  Propheten)  vom  Standpimkte 
der  durch  Jesus  Christus  geschehenen  Erfüllung  bezeichnet,  und 
zugleich  galt  es,  diejenige  iimere  Gesinnung  und  sittliche  Haltung 
zu  gewinnen  nnd  auszugestalten,  zu  welcher  die  Mitglieder  der 
messianischen  Gemeinde,  die  dui'ch  den  heiligen  Geist  berufen  und 
von  ihm  getragen  sind,  sich  verpflichtet  wissen^.  Hierbei  mußte 
die  Erfahrung  gemacht  werden ,  daß  die  bisherige  Gesetzes- 
beobachtung nicht  ausreiche,  vim  die  Sünde  zu  tilgen,  bezw.  um 
die  Gerechtigkeit  zu  gewinnen,  daß  aber  Jesus,  der  Messias,  ge- 
storben sei  zur  Vergebung  der  Sünden  (yvcoarov  I'otco  vjlüv,  ön  öid 
TOVTOV  vfAiv  ärpeoK;  afiaQTicöv  xciTayyeXXerai  a.To  Tiüvran'  cbv  ovx 
rjdvvyjt^rjje  iv  i'Ofico  MiOvo^iOQ  dixaicoßrp'at)  *. 


^)  Vgl.  das  uralte  gern  ein  christliche  Auferstehungsbekenntnis  I  Cor. 
15,  4  ff. 

■')  Cf.  Matth.  10,  32. 

•■')  „Nachahmung"  und  „Nachfolge"  Christi  hatten  bei  den  sittlichen  Er- 
mahnungen nicht  den  Spielraum,  den  man  erwartet.  Jesus  hat  von  Nach- 
ahmung Gottes  gesprochen  und  ihm  selbst  nachzufolgen  geboten;  auch  legte 
das  Verhältnis  von  Lehrer  und  Schüler  die  Formel  der  Nachfolge  nahe. 
Aber  so-bald  er  als  Messias  anerkannt  war,  als  Gottes  Sohn,  Heiland  und 
Richter,  mußten  Nachahmung  und  Nachfolge  zurücktreten,  wenn  auch  die 
Apostel  in  ihi-en  Briefen  beides  noch  eingeschärft  und  Jesum  in  Gesinnung, 
Tat  und  Leiden  als  Vorbild  aufgestellt  haben.  Ein  ethisches  Formprinzip, 
um  mich  eines  modernen  Ausdrucks  zu  bedienen,  ist  in  der  alten  Kirche  die 
Nachahmung  nur  für  die  Virtuosen  der  Relii;ion,  die  Geistlichen,  Lehrer, 
Asketen  und  Märtyrer  geworden;  in  der  ethischen  Unterweisung  der  Ge- 
meinde spielte  sie  eine  geringere  Rolle.  Auch  die  Anweisung  zur  Nachfolge 
im  strengen  Sinn  findet  sich  verhältnismäßig  selten.  Doch  ist  es  nicht  ohne 
Interesse,  die  Stellen  zu  sammeln  und  zu  überschauen,  die  hier  einschlagen. 
Gerne  parallelisierte  man  den  Lebensgang  und  das  Verhalten  hervorragender 
Christen,  namentlich  der  Confessoren,  mit  dem  Christi.  Zu  generellen  gesetz- 
lichen Vorschriften  in  bezug  auf  die  Nachahmung  Christi  ist  es  nicht  ge- 
kommen, weil  die  Christologie  dazwischen  trat  (Gehorsam,  nicht  Nachahmung 
ist  gefordert),  und  weil  die  wirkliche  pünktliche  Nachahmung  zu  schwer 
erschien.  Die,  welche  sie  versuchten,  haben  daher  stets  als  Christen  höherer 
Gattung  gegolten  (wenn  ihnen  auch  frühe  schon  zugerufen  worden  ist,  sich 
nicht  zu  überheben);  also  hat  die  Theorie  der  katholischen  Kirche  von  den 
„evangelischen  Räten"  eine  uralte  Wurzel. 

*)  Act.  i;J,  38;  soweit  ist  m.  E.  die  judenchristliche  Erkenntnis  in  der 
antiochenischen  Rede  des  Paulus  zutreffend  formuliert;  die  weitere  Fortführung 


Religiöse  Gnmdzüg'e  der  Missionspredigt.  77 

„Ihr  wißt,  (laß.  als  ihr  lleidcn  wart,  ihr  zu  den  stummen 
Götzen  entführt  fortgerissen  wurdet"  (I  Cor.  12,2):  „Ihr  seid  be- 
kehrt von  den  Götzen  zu  Gott,  zu  dienen  dem  lebendif^en  und 
wahrhaftigen  Gott  und  zu  erwarten  vom  Himmel  her  seinen  Sohn, 
den  er  erweckt  hat  von  den  Toten,  Jesum,  der  uns  rettet  von 
dem  kommenden  Zorn"  (I  Thess.  1 ,  9  f.).  Hier  haben  \vir  die 
Missionspredigt  an  die  Heiden  in  nuce.  Der  „lebendige  und 
wahrhaftige  Gott"  ist  das  Erste  und  Entscheidende;  Jesus,  der 
Sohn  Gottes,  der  uns  gegen  den  zukünftigen  Zorn  (d.  h.  an  dem 
nun  hereinbrechenden  Gerichtstage)  sicher  stellt  —  daher 
„Jesus  der  Herr"  —  das  Zweite.  Dem  lebendigen  Gott,  der  jetzt 
allen  verkündigt  wird,  gebührt  Glaube  und  hingebender  Dienst; 
dem  Sohne  Gottes  als  dem  Herrn  gebührt  Glaube  und  Hoifnung^. 

Diese  kurze  Predigt  enthält  einen  unerschöpflichen  Inhalt  — 
objektiv  und  subjektiv,  positiv  und  negativ  —  und  ist  doch  aufs 
festeste  in  sich  geschlossen.  Objektiv  und  positiv  ist  sie  die  Bot- 
schaft von  Gott  dem  einen,  dem  geistigen,  dem  allgegenwärtigen, 
allwissenden  imd  allmächtigen,  dem  Schopfes  Himmels  und  der 
Erden,  dem  Herrn  und  Vater  der  Menschen,  dem  großen  Ökonomen 
der  Menschheitsgeschichte  ^ :  sie  ist  ferner  die  Botschaft  von  Jesus 
Christus,  dem  Sohne  Gottes,  der  vom  Himmel  gekommen  ist,  den 


des  Gedankens  ih  tovtw  .-tö^  6  :riaTfrcor  dipcaiovrai)  ist  spezifisch  paulinisch. 
Im  übrigen  bietet  die  ganze  Rede  ein  schönes  Beispiel  einer  an  Juden  ge- 
richteten Missionspredigt.  Daß  der  Satz:  „Christus  ist  für  unsere  Sünden 
gestorben  nach  den  Schriften ",  ein  allgemein  christlicher  und  nicht  bloß  ein 
paulinischer  v^ar,  folgt  aus  I  Cor.  15.  3.  Auch  Weizsäcker  (a.a.O.-  S.  60 f.) 
hebt  es  mit  Recht  .stark  hei'vor,  daß  vor  und  neben  Paulus  auch  in  den 
judenchristlichen  Kreisen  (bei  Petrus)  die  Einsicht  bestanden  haben  muß,  das 
Gesetz  und  seine  Beobachtung  sei  zur  Rechtfertigung  vor  Gott  nicht  völlig 
ausreichend,  und  dem  Messias  Jesus  bez.  seinem  Tode  komme  eine  soterio- 
logische  Bedeutung  zu. 

')  Justin  (Acta  .Ju.st.  2)  antwortet  auf  die  Frage  nach  dem  „Dogma" 
der  Christen:  ottso  svaeßovjxev  elg  xov  tmv  XoroTiavojv  ^eoV,  ov  rjyovfxeda  sva 
TOVTOV  i^  0LO/i}g  Ttocr/rrjv  xai  ÖrjfiiovQyov  zfjg  Jiäarjg  y.ziascog,  öoaxfjg  re  xal  doqäzov, 
y.al  y.vQiov  'Irjoovv  Xoiazov  TiaiSa  &£ov ,  (ig  xai  jTQoy.sxtjQvy.zai  vnb  zwv  tiqo- 
q)t]Ta)V  f^üXlmv  ^taqayiveo'&ai  zm  ysrsi  zü>v  av&QMJtojv  ooirt]qiag  y.rjov^  y.al  di8a- 
oy.a/.og  yakwv  ua{h]zöj%'. 

'^)  In  dieser  Hinsicht  ist  die  Rede,  die  Lucas  dem  Paulus  auf  dem 
Areopag  in  den  Mund  gelegt  hat  (Act.  17,  22  — 30) ,  typisch  und  besonders 
instruktiv.  Zugleich  stellt  sie  die  Verbindung  dar  mit  den  reinsten  Konzep- 
tionen des  Hellenismus.  Man  muß  diese  Rede  mit  dem  I.  Thessalouicherbrief 
kombinieren,  um  sich  ein  Bild  zu  machen,  wie  die  grundlegende  Missions- 
predigt  vor  Heiden  beschaffen  gewesen  ist,  und  das  Vorurteil  zu  beseitigen, 
als  seien  der  Galater-  und  Römerbrief  Muster  der  paulinischen  Missions- 
predigt.  —  Ein  besonders  gutes  Bild  von  den  Grundzügen  der  Missionspredigt 
(neg.  und  pos.)  ö;ewähren  auch  die  Fragmente  des  Kerygma  Petri.  Die  alte 
Schrift  hat  wohl,  wie  auch  schon  der  Titel  andeutet,  geradezu  ein  Kompen- 
dium der  Lehre  für  Missionszwecke  sein  sollen. 


78  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Täter  kundgetan  hat.  für  die  Sünden  gestorben,  auferstanden  ist, 
den  Geist  herabgesandt  hat  und,  zur  Rechten  Gottes  sitzend, 
zum  Gericht  wiederkommen  wird^;  sie  ist  endlich  die  Bot- 
schaft von  dem  Heile,  das  Jesus  als  der  Heiland  bringt,  nämlich 
die  Befreiung  von  der  Plerrschaft  der  Dämonen,  der  Sünde  und 
des  Todes  und  das  Geschenk  des  ewigen  Lebens. 

Objektiv  und  negativ  ist  sie  die  Verkündigung  von  der 
Nichtigkeit  aller  übrigen  Götter,  der  Protest  gegen  die  goldenen, 
silbernen  nnd  hölzernen  Götzenbilder  und  der  Protest  gegen  das 
blinde  Fatuni  und  die  Gottlosigkeit. 

Subjektiv  endlich  ist  sie  die  Botschaft  von  dem  Unwert  aller 
Opfer,  aller  Tempel  und  alles  Kultus  von  Menschenhänden,  da- 
gegen die  Verkündigung  des  Gottesdienstes  im  Geist  und  in  der 
Wahrheit,  des  zuversichtlichen  Glaubens,  der  Heiligkeit  und  der 
Enthaltung,  der  läebe  und  der  Brüderlichkeit,  endlich  der  felsen- 
festen Gewißheit  der  Auferstehung  und  des  ewigen  Lebens  und 
daher  des  Unwerts  des  gegenwärtigen  Lebens,  welches  unter  dem 
zukünftigen  Gericht  steht. 

Furcht  und  Hoffnung  wurden  bei  dieser  neuen  Botschaft  in 
außerordentlicher  Weise  erregt:  die  Furcht  vor  dem  Hereinbrechen 
des  Weltendes  und  der  großen  Abrechnung,  bei  der  der  Gerechte 
kaum  zu  bestehen  vermag,  und  die  Hoffnung  auf  ein  herrliches 
Reich  auf  Erden  nach  der  Katastrophe,  ein  Paradies  voll  köst- 
licher Genüsse  und  voll  Trost  und  Seligkeit.  Solch  einen  Sehrecken 
und  solch  ein  Glück  hatte  wahrscheinlich  noch  keine  Religion  als 
öffentliche  Botschaft  verbreitet. 

Die  Botschaft  von  dem  einen  allmächtigen  Gott  befremdete 
weite  Kreise  nicht  mehr  —  im  Gegenteil:  das  unsicher  Geahnte 
schien  erfüllt  in  Gewißheit  und  Herrlichkeit.  Anders  stand  es 
mit  Jesus  und  der  Botschaft  von  der  Auferweckung.  Wie  man 
nach  dem  Bericht  der  Apostelgeschichte  (17,  18)  in  Athen  „den 
Jesus  und  die  Anastasis"  für  neue  Dämonen  und  für  höchst  selt- 
sam hielt,  so  mußte  überall  die  Lehre  von  ihnen  zuerst  als  paradox 
gcdten.  Doch  auf  diesen  Punkt  haben  wir  hier  nicht  einzugehen. 
Gewiß  ist,  daß  „der  eine,  lebendige  Gott  als  dei-  Weltschöpfer", 


')  Thaddäus  kündigt  dem  Abgar  für  den  folgenden  Tag  eine  Missions- 
predigt an  und  gibt  im  vora^us  ihren  Inhalt  also  an  (Euseb.,  h.  e.  I,  1>5): 
xr}Qv$o)  xal  otiequ)  tov  hiyov  rrjc:  Lcofjg ,  jtFQi  ze  rfjc;  Flfvoewc:  rov  'Irjaov  xadwg 
gyh'ETo ,  xai  jifqI  t?}?  änoGtokrjc:  avrov,  xal  rvfxa  zlvog  äjTFardhj  vjto  rov  TiaTfjög, 
y.al  Tirol  zf/g  (iin'üfiFMg  xal  zio%'  rgyiov  avzov  xal  fivoztjgüov  (bv  ildhjoei'  fv 
xöofKo,  xal  TTOia  öwäfisi  zavra  fjtoIfi  ,  xal  jifqI  tfjc;  xairPjc;  avzov  X}]Qi>^e(05,  xal 
jTFQi  rfjg  fiix(>özf^zog ,  xal  tifqI  rfjg  zanEivcoOFCog ,  xal  jiwg  FzaJiFi'vfOOFv  Favzoi'  xai 
djiidFzo  xal  F.oftixQVVFv  avzov  zip'  ÜF.özfjza,  xal  F.azavQwdf]  xal  xazFßt]  Fig  zov 
"Aidrjv,  xal  ftiioyiGF  (f>Qay(iov  zw  f'E,  alwvog  firj  axio&h'za,  xal  ävrjyFiQFV  vFxgovg 
xal  xazfßrj  ftörog,  dvißrj  öl:  fiFzd  jtoU.ov  o'yj.ov  jtQog  zov  jiazsQa  arnov. 


Religiöse  Grundzüge  der  Missiouspredigt.  79 

„der  Soter  Jesus"  i,  „die  Aiiferwcckung"  und  „die  asketische  Ent- 
haltung" die  hervorstechendsten  Punkte  der  neuen  Yerkündigung 
bildeten.  Dabei  mußte  die  Geschichte  Jesu  kurz  mitgeteilt  werden 
(christologisch(!s  Kerygma)  und  wurde  die  Auferstehung  in  der 
Regel  als  Auferstehung  des  Fleisches,  die  Enthaltung  in  erster 
Linie  als  die  geschlechtliche  Reinheit,  überhaupt  aber  als  der 
Verzicht  auf  die  Welt  und  die  Abtötung  des  Fleisches  bestimmt-. 
Das  ll^berschwänglichste  war  die  Botschaft  von  Auferweckung 
des  Fleisches,  der  vollkommenen  Restitutio  in  integrum  und  des 
Herrlichkeitsreichs.  Creatio  und  resurrectio  sind  Anfang  und  Ende 
der  Lehre.  In  der  erregten  Hoffnung  auf  die  Auferweckung  floß 
die  neue  Schätzung  des  Werts  des  Individuums  mit  ganz  minder- 
wertigen  sinnlichen   Wünschen    zusammen.      Der   Glaube    an    die 


*)  In  der  Paradoxie.  daß  der  Soter  auch  der  Richter  ist,  besaß  das 
Christentum  einen  seiner  charakteristischen  Gedanken,  durch  den  es  anderen 
Religionen  besonders  überlegen  war.  —  , Vater  und  Sohn"  bez.  „Vater,  Sohn 
und  heiliger  Geist":  die  üyas  und  die  Trias  wechselt,  aber  jene  Formel  ist 
wohl  etwas  älter;  beide  sind  schon  bei  Paulus  selbst  nachweisbar,  üb  er 
die  letztere  geprägt  hat,  möchte  ich  bezweifeln.  Sie  gehört  wahrscheinlich 
wie  „die  Kirche",  ,,das  neue  Volk",  „das  wahi'e  Israel",  „Apostel,  Propheten 
und  Lehrer",  „Wiedergeburt"  usw.  zu  den  Schöpfungen  des  ältesten  Jünger- 
kreises. —  Das  Kerygma  von  Jesus  ist  mit  dem  Bekenntnis  zu  Vater,  Sohn 
und  Geist  und  mit  der  Kirche,  der  Sündenvergebung  und  der  Fleisches- 
auferstehung verbunden  worden.  Das  römische  Symbol  ist  für  uns  der  erste 
Zeuge  dieser  Verbindung  und  wahrscheinlich  auch  an  sich  der  älteste.  Dieses 
Symbol  ist  wohl  nicht  aus  der  Missionspraxis  im  engeren  Sinn  entstanden, 
sondern  schon  aus  der  katechetischen  Praxis. 

-)  Für  den  ersten  Punkt  (der  eine,  lebendige  Gott)  ist  Hernias  Mand.  I 
besonders  entscheidend  (ctomtov  jravrcov  jTi'arsvaor,  öri  elg  iarlv  6  dsog  6  rä 
yiävTct  y.Ti'aag  xai  y-aragrloag  htI.},  vgl.  Praedic.  Petri  bei  Clemens.  Strom.  V,  6,48; 
VI,  5,  39;  VI,  6,  48  (die  zwölf  Jünger  werden  von  Jesus  als  Apostel  aus- 
gesandt mit  dem  Auftrag:  svayyeXloaodm  rovg  y.ara  rrjv  oiyovfiivrjv  äri^pcojrofc 
yn'waxeiv,  on  sfg  dsög  eotiv).  Aristides  gibt  c.  2  seiner  Apologie  das  Kerygma 
von  Jesus  Christus;  aber  wo  er  das  Christentum  auf  einen  kurzen  Ausdruck 
bringen  will,  genügt  es  ihm  zu  sagen:  die  Christen  sind  die,  welche  den 
einen  wahren  Gott  gefunden  haben,  s.  z.  B.  c.  15:  „Die  Christen  haben  .... 
die  Wahrheit  gefunden  ....  sie  kennen  nämlich  und  glauben  an  Gott,  den 
Schöpfer  Himmels  und  der  Erde,  ihn,  durch  den  alles  besteht,  und  von  dem 
alles  kommt,  ihn,  der  keinen  anderen  Gott  neben  sich  hat,  ihn,  von  welchem 
sie  die  Befehle  erhalten  haben,  die  sie  in  ihren  Sinn  eingeschrieben  haben, 
Befehle,  die  sie  beobachten  im  Glauben  und  in  der  Erwartung  der  zukünftigen 
Welt."  (Vgl.  auch  die  pseudomelitonische  Apologie.)  Die  drei  anderen  Haupt- 
punkte sind  besonders  charakteristisch  in  den  Acta  Theclae  formuliert:  von 
Paulus  heißt  es  hier  (c.  1.  5),  daß  er  überliefert  habe  itavta  rä  löyia  xvqiov  xal 
Tfjg  yEvvijoscog  xat  ri];  dvaaräoscog  zov  rjyasirjiiEvov ,  und  daß  der  Inhalt  seiner 
Predigt  sonst  gewesen  sei  —  löyog  deov  jteqI  iyxQazEiag  xal  ävaardoEcog.  Die 
beiden  letztgenannten  Begrifie  sind  als  sich  ergänzende  aufzufassen.  Die 
EyxQarEia  wird  gefordert,  weil  die  Auferstehung  d.  h.  das  ewige  Leben  gewiß 
ist,  aber  jene  zur  Bedingung  hat;  vgl.  z.  B.  Vita  Polycarpi  14:  ilsysy  rrjv 
ayvEiav  TTgSSgo/iiov  sivai  zfjg  /lE/dovotjg  äcpdÜQzov  ßaoiÄEiag. 


80  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Autcrstohung  des  Fleisclics  und  an  das  iOOO jährige  Reich  schien 
auch  bald  den  Heiden  als  das  eigentliche  Charakteristikum  dieser 
töricliten  Religion.  Sie  hatten  Recht:  er  war  es  damals  wirklich. 
Justin  erklärt,  daß  alle  rechtgläubigen  Christen  so  lehren  und 
hoffen.  „Fidncia  Christianorum  resurrectio  mortuorum,  illä  cre- 
dentes  sumus",  schreibt  Tertullian  (de  resurr,  l),  und  er  fügt 
(c.  2])  hin7Ai,  daß  man  sie  nicht  allegorisch  verstehen  dürfe  wie 
die  Häretiker  meinen;  denn:  „verisimile  non  est,  ut  ea  species 
sacramenti,  in  quam  fides  tota  committitur,  in  quam  disciplina  tota 
conititur.  ambigue  annuntiata  et  obscure  proposita  videatur  (s.  auch 
das  Folgende).  Die  ältesten  „wissenschaftlichen"  Traktate  groß- 
kirchlicher Lehrer  waren  Abhandlungen  über  die  Auferstehung 
des  Fleisches.  Und  in  diese  Hoffnung  hinein  spielte  der  glühende 
Wunsch  der  Gedrückten,  der  Armen,  der  Sklaven,  aber  auch  der 
Enttäuschten:  „volumus  non  diutius  servire,  optamus  maturius 
regnare"  (Tertull.  de  orat.  5).  „Cum  et  tempora  totius  spei  fixa 
sint  sacrosancto  stilo,  ne  liceat  eam  ante  conatitui  quam  in  adven- 
tum,  opinor.  Christi,  vota  nostra  suspirant  in  saeculi  huius  occasum, 
in  transitum  mundi  quoque  ad  diem  domini  magnum,  diem  irae 
et  retributionis"  (Tert.  de  resurr.  22).  „Kommen  möge  die  Gnade, 
und  vergehen  möge  diese  Welt,  der  Herr  kommt!"  betete  man 
bei  der  Abendmahlsfeier  (Didache  10).  Bis  über  den  Anfang  des 
;}.  Jahrhunderts  hat  in  weiten  Kreisen  diese  Stimmung  angehalten; 
aber  ihr  Höhepunkt  war  die  Zeit  bis  Marc  Aurel  ^.  — 

Der  „Weisheit",  dem  „Verständnis",  dem  „Wissen"  und  der 
„Erkenntnis"  war  von  Anfang  an  das  weiteste  Gebiet  geöffnet, 
und  schwerlich  gab  es  irgend  eine  ausführlichere  Missionspredigt, 
die  nicht  ins  „Gnostische"  d.  h.  ins  Hellenisch-Philosophische  über- 
ging; deim  da  es  feststand,  daß  der  Soter  Jesus  vom  Himmel 
gekommen  war  —  die  Kreise,  die  es  anders  auffaßten,  kr)nnen 
hier  bei  Seite  bleiben  — ,  so  war  die  Phantasie  völlig  entschränkt 
und  zum  h()c]isten  Fluge  verpflichtet.  „Wir  sind  göttlichen  Ge- 
schlechts" (Act.  17,28)  war  noch  eine  nüchterne  Erkenntnis:  die 
Gottheit  ist  Mensch,  ja  Fleisch  geworden,  damit  die  Menschen 
göttlich  würden,  das  war  die  Erkenntnis,  zu  der  sich  alles  zu- 
spitzte. Sie  wurde  verbunden  mit  dei'  Si)ekulation,  daß  die 
Menschwerdung,    eben  weil    sie   ein   göttlich  -  kosmisches   Ereignis 


')  Sehr  detailliert  hat  Origenes  (De  princ.  II,  11,2)  die  Vorstellungen 
der  Chiliasten  geschildert,  die  er  bekämpft  und  bereits  wie  eine  zurückge- 
bliebene Partei  behandelt.  Mau  sieht  aus  seiner  Schilderung,  daß  man  sie 
sich  nicht  sinnlich  genug  denken  kann.  Auch  auf  „nuptiarum  conventiones 
et  filiorum  procreationes"  rechneten  sie  wieder.  Aber  man  vgl.,  wie  selbst 
ein  Irenäus  im  5.  Buch  seines  großen  Werkes  das  tausendjährige  Reich,  „nach 
apostolischer  Überlieferung"  und  an  Papias  sich  anschließend,  gezeichnet  hat. 


Religiöse  Gruudzüge  der  Missionspredij^fc.  81 

sei,  eine  wiederherstellende  und  steigernde  Bedeutung  für  alles 
Geschaffenem  habe,  und  daß  die  Seele  des  Menschen,  durch  ab- 
gestufte Mächte  und  Schranken  bisher  von  Gott,  ihrem  Ur(juell, 
geschieden,  nun  den  freien  Rückweg  zu  Gott  besitze,  wobei  alle 
jene  Mächte,  selbst  befreit,  nicht  mehr  Schranken,  sondern  Stufen 
und  Vermittler  sind.  Zu  der  unumgänglichen  Spekulation  über 
Gott,  Welt,  Seele  kam  noch  die  über  die  Kirche;  auch  hier  wurde 
das  Historische  und  Irdische  ins  Kosmische  und  Transzendentale 
erhoben. 

Der  Gegensatz  einer  j^gemsunden"  und  einer  häretischen  Gnosis 
hat  sich  in  der  Predigt  erst  allmählich  herausgestaltet,  wenn  man 
auch  von  Anfang  an  aufmerksam  gewesen  ist  auf  gewisse  Speku- 
lationen, die  das  Kerygma  selbst  zu  gefährden  schienen^.  Das 
Korrektiv  gegen  eine  zu  ausschweifende  Gnosis,  die  die  ganze 
synkretistische  Religion  des  Zeitalters  hereinzog  und  ins  Dua- 
listische und  Doketische  überging,  wurde  in  der  „gesunden"  Gnosis, 
sodann  aber  in  der  Lehre  von  der  Freiheit,  in  einer  nüchternen, 
rationalistischen  Gotteslehre  und  Moral,  in  dem  Realismus  der  als 
Heilstatsachen  gedeuteten  Geschichte  Jesu  und  in  der  Lehre  von 
der  Auferstehung  des  Fleisches  —  letztlich  aber  und  am  sichersten 
in  dem  Verbot  von  „Neuerungen"  und  in  der  Fixierung  der  Über- 
lieferung —  gefunden.  Li  dieser  Hinsicht  ist  sehr  instruktiv,  wie 
Origenes  das  Kerygma  bestimmt  (in  Joh.  XXXII,  9).  Erst  repe- 
tiert er  Hermas  Mand.  I  (der  eine  Gott,  der  Schöpfer),  dann  fügt 
er  hinzu:  „man  muß  aber  auch  glauben,  daß  Jesus  Christus  der 
Herr  ist,  und  an  die  ganze  Wahrheit,  die  von  ihm  als  Gott  und 
als  Mensch  gilt;  man  muß  aber  auch  an  den  heiligen  Geist  glauben, 
und  daß  wir,  da  wir  einen  freien  Willen  besitzen,  gestraft  werden 
für  das,  was  wir  gesündigt  haben,  aber  belohnet  werden  für  unsere 
guten  Taten". 


^j  Es  gehört  zu  deu  merkwürdigsten  Erscheinungen  und  zu  denen, 
welche  am  meisten  zu  denken  geben,  daß  von  Anfang  an,  wo  nur  immer 
eine  „gefährliclie"  vSpekulation  auftauchte,  diese  so  bekämpft  wurde,  daß 
man  einen  Teil  derselben  übernahm.  Man  vgl.  die  in  Phrygien  (Colossae) 
aufgetauchten  „Irrlehren"  und  halte  den  Colosser-  und  Epheserbrief  dagegen  ; 
man  erinnere  sich  der  „Irrlehren",  welche  die  johanneischen  Schriften  be- 
kämpfen, und  denke  an  den  gnostischen  Inhalt  dieser  Schriften ;  man  zeichne 
sich  ein  Bild  von  deu  „Irrlehren",  welche  Ignatius  in  seinen  Briefen  be- 
kämpft, und  vergegenwärtige  sich  die  Theologie  des  Ignatius;  man  stelle 
sich  die  großen  gnostischen  Systeme  des  2.  Jahrhunderts  vor  und  lese  den 
sie  bekämpfenden  Ireuäus:  „vincendi  vincentibus  legem  dederunt!"  So  ge- 
waltig war  die  Macht  der  helleuisch-synkretistischen  Ideen !  Es  scheint  fast, 
als  habe  stets  eine  Art  von  Immunisierungsverfahren  stattgefunden:  man 
impfte  der  „gesunden"  Lehre  die  Irrlehre  in  starker  Verdünnung  ein  und 
feite  sie  so  gegen  die  akute  Infektion. 

Harnack,  Mission.    2.  Aiiil.  6 


82  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Im  2.  Jahrhundert  bereits  war  das  christliehe  Kerygma  ein 
sehr  verschiedenes:  anders  predigten  die  Evangelisten  der  großen 
Kirche  im  Morgenland  und  anders  im  Abendland,  wenn  auch  auf 
derselben  Grundlage,  wieder  anders  predigten  die  Gnostiker  und 
Marcionitcn.  Aber  Tertullian  hat  violleicht  nicht  ganz  unrecht, 
wenn  er  behauptet,  die  Heidenmission  werde  von  diesen  wenig 
betrieben:  sie  machten  sich  in  der  Regel  nur  an  solche,  die  be- 
reits Christen  waren.  Seit  dem  gnostischen  Kampf  ist  die  anti- 
gnostische  Glaubensregel  allmählich  überall  die  Grundlage  der 
kirchlichen  Verkündigung  geworden.  Das  Ethische  und  Stürmische 
trat  hinter  das  Dogmatische  mehr  zurück,  aber  das  Drängen  auf 
Enthaltung  und  Askese  hörte  doch  nicht  auf. 

Die  Theologie  war  beim  Übergang  des  2.  zum  8.  Jahrhundert 
unübersehbar  weitschichtig  geworden,  aber  die  Missionspredigt  muß 
stets  verhältnismäßig  kurz  gewesen  sein;  denn  für  die  „Idioten" 
waren  schon  jene  vier  Stücke,  die  wir  oben  genannt,  genug  und 
übergenug.  Szenen,  wie  die,  welche  die  Apostelgeschichte  (c.  8, 
26  —  38)  erzählt,  haben  sich  mutatis  mutandis  —  besonders  in 
Zeiten  der  Verfolgung  angesichts  der  Märtyrerfreudigkeit  einzelner 
Christen  —  immer  noch  wiederholt,  obgleich  eine  rechtgläubige 
(und  in  der  Theorie  unumgängliche)  Lehre  von  großem  Umfang 
bestand,  und  das  Bekenntnis:  Ein  Gott,  der  die  Welt  geschaffen, 
Jesus  der  Herr,  Gericht,  Auferstehung  —  war  gewiß  für  viele 
alles,  was  sie  wußten.  Andererseits  waren  gewisse  Hauptstücke 
des  Weissagungsbeweises,  der  in  der  Predigt  vor  Juden  und  Heiden 
eine  so  große  Rolle  spielte  (siehe  das  Kapitel  über  das  Alte  Testa- 
ment), in  sehr  weiten  Kreisen  vorbreitet,  und  es  müssen  die  Grund- 
züge des  christlichen  Gottesbegriffs  sehr  vielen  geläufig  gewesen 
sein;  denn  triumphierend  weisen  die  Apologeten  immer  wieder 
darauf  hin,  daß  „bei  uns  die  Handwerker  und  Sklaven  und  alten 
Weiblein  Rechenschaft  zu  geben  wissen  von  der  Gottheit  und  nicht 
ohne  Beweis  glauben  ^'' 

Die  vier  Stücke  —  d(!r  eine  k^bendige  Gott,  der  Soter  und 
Richter  Jesus,  die  Auferstehung  des  Fleisches  und  die  Enthaltung 
—  konstituierten  in  ihrer  Verbindung  die  neue  Religion,  die  sich 


^)  Zusammen  mit  den  Hauptstücken  des  Weissagungsbeweises  (ein  bis 
zwei  Dutzend  Stellen  aus  dem  Alten  Testament)  waren  die  entsprechenden 
Stücke  der  Geschichte  Jesu  die  bekanntesten  und  geläutigsten.  Daß  es  — 
abgesehen  vom  Kreuzestod  —  streng  historisch  genommen  fast  sämtlich 
Legeudenstotle  (ideelle  Geschichte)  waren,  war  das  notwendige  Ergebnis 
dieser  Betrachtungsweise  und  Methode.  An  gewaltigem  Eindruck  kam  wahr- 
scheinlich nichts  den  Geburtsgesehichten  gleich,  wie  sie  bei  Matthäus  und 
namentlich   bei  Lucas  zu   lesen  standen.     Daß   die  Auferstehungsgeschichte 


Religiöse  Grundzüge  der  Missionspredigt.  83 

kräftig  von  den  alten,  namentlich  auch  von  der  jüdischen,  abhob 
und  sich  doch  trotz  ihres  scharfen  Kampfes  gegen  den  Poly- 
theismus organisch  an  den  Entwickelungsgang  anschloß,  den  die 
Religion  an  den  Ufern  des  (istlichen  und  zentralen  Mittelmeeres 
genommen  hatte.  Das  Medium  aber,  in  welchem  jene  vier  Stücke 
lebendig  waren,  war  der  Vergeltungsgedanke  d.  h.  die 
Souveränetät  des  Sittlichen  einerseits  und  das  erlösende 
Kreuz  andererseits  —  jede  Auffassung  der  Grundzüge  der  christ- 
lichen Missionspredigt  ist  verfehlt,  die  nicht  alles  sub  specie  der 
Souveränetät  des  Sittlichen  und  der  auf  dem  Kreuze  Christi  sich 
gründenden  Gewißheit  der  Erlösung  durch  Vergebung  betrachtet^. 
Die  „Gnade"  d.  h.  die  Vergebung  hat  einen  großen  Spielraum; 
aber  sie  hat  die  Vergeltung  nicht  gesprengt.  Die  Einschärfung 
des  Sittlichen  wurde  in  den  christlichen  Gemeinden  von  Anfans: 
an  doppelt  bewirkt,  durch  den  Geist  Christi  imd  dm'ch  den  Ge- 
danken des  Gerichts  und  der  Vergeltung.  Es  erhielt  aber  durch 
beides  eine  strenge  Richtung  auf  das  Jenseits:  demi  Christus  war 
der,  der  wiederkehren  sollte.  Die  „gegenwärtige"  und  die  „zu- 
künftige Zeit"  standen  sich  schroff  für  das  Empfinden  der  ältesten 


im  Detail  nicht  den  gleichen  Erfolg  erzielte,  lag  an  der  Verschiedenheit 
der  Berichte,  die  in  den  autoritativen  Schriften  so  groß  ist,  daß  eine  einheit- 
liche und  eiudi-ucksvolle  Vorstellung  des  Verlaufs  herzustellen  selbst  den 
damaligen  Exegeten  —  und  was  vermochten  sie  nicht  alles!  —  nicht  gelang. 
So  haben  die  in  den  Evangelien  erzählten  Einzelgeschichten  in  bezug  auf 
die  Auferstehung  nicht  die  Bedeutung  erlangt  wie  die  Geburtsgeschiehten. 
„Am  dritten  Tage  auferstanden  von  den  Toten  nach  der  Schrift''  —  nur 
dieses  kurze  Bekenntnis  ist  so  populär  geworden  wie  Luc.  1  und  2  und  wie 
die  Geschichte  der  Weisen  aus  dem  Morgenlande.  —  Die  Vorstellung,  daß 
die  Apostel  selbst  eine  Quintessenz  des  christlichen  Lehrstoffes  zusammen- 
gestellt hätten,  war  verbreitet;  aber  worin  diese  Quintessenz  bestehe,  darüber 
herrschte  große  Verschiedenheit.  Mit  der  Didache  beginnt  die  Abfassung 
der  Werke,  die  als  Werke  aller  Apostel  oder  als  autoritative  Zusammen- 
fassung ihrer  Anordnungen  angesehen  wurden. 

')  Die  Erlösung  durch  Vergebung  war  im  strengen  Sinne  als  eine  ein- 
malige gedacht:  in  der  Taufe  kommt  der  Ertrag  des  Todes  Christi  dem  ein- 
zelnen zugut  und  tilgt  alle  seine  bisherigen  Sünden.  Wie  Paulus  haben 
zahlreiche  Lehrer  nach  ihm  das  Kreuz  Christi  als  den  Inhalt  des  Christen- 
tums überhaupt  vorgestellt.  Dem  Doketismus  Marcions  gegenüber,  der  den 
Kreuzestod  Jesu  unsicher  macht,  ruft  Tertullian  (de  carne  5)  aus:  „Parce 
unicae  spei  totius  orbis."  Über  die  in  der  Taufe  den  Gläubigen  zugewendete 
Folge  hinaus  wirkt  das  Kreuz  wohl  noch  schirmend  und  schützend  (gegen 
die  Dämonen),  aber  nicht  sündentilgend  (Spekulationen,  die  das  behaupteten, 
setzten  erst  später  ein).  Als  Mysterium  ist  es  freilich  unerschöpflich ,  und 
seine  Wirkungen  sind  darum  nicht  auszusagen.  Schon  Pseudobarnabas  und 
Justin  sind  Mysteriosophen  des  Kreuzes  gewesen,  s.  Barnab.  ep.  11.  12;  Justin, 
Apol.  I,  55,  wo  auch  triumphierend  behauptet  ist,  daß  [oi  xaxoi  daifiovec] 
ovdafiov  ov8^  ijic  Tivog  tcöv  Xeyo/nevcov  vlcöv  xov  Ai6<;  ro  azavQOid^fjvat  i/xi/ntjoavio. 
Vgl.  auch  Minucius,  Octav.  29;  Tertull.,  ad  nat.  I,  12,  etc. 

6* 


g4  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Christen  gegenüber  \  und  von  hier  erhielt  die  Forderung-  der 
,,Enthaltung"  das  kräftigste  Motiv,  ja  wurde  bei  nicht  wenigen  zu 
einer  Art  passionierter  Leidenschaft.  Es  ist  dieselbe  Gemeinde, 
die  in  jedem  Gottesdienste,  wie  wir  gehört  haben,  betete: 
„Kommen  möge  die  Gnade,  und  vergehen  möge  diese  Welt; 
Maran  atha",  und  die  solche  Anweisungen  gab,  wie  wir  sie  im 
Hirten  des  Hermas  im  ersten  Gleichnis  lesen  ^.    „Von  allen  Christen 

^)  S.  II  Clem.  ad  Cor.  (i:  ianr  orrog  ö  auor  y.o.l  6  fif.lXoir  ()i>o  f/dQoi. 
ovros  fJysi  ftoiyeiav  xai  qrdoQov  xai  (fi).aQyvoiav  xai  ajiäzrjv,  ixeirog  ds  zoinoig 
anoräoaezai.  ov  dvvd/ie&a  ovv  rojv  ovo  rfü.oi  fivai.  öfT  Sk  i'jfiäg  roino)  djioraSa- 
fih'ovg  gxfi'vq)  XQ^od-ai.  oiofisda  öri  ßsXiiör  tarn'  rct  erddSf  fuafjoai ,  Sri  /uiygä 
y.al  dhyoyoovia  y.al  q&aQTÖf  Exei%'a  <5f  a.yanf]oai,  rä  dyadd  rä  (updagra. 

-)  „Ihr  wißt,"  —  ich  setze  die  Stelle,  die  statt  vieler  gilt,  hierher  — 
„daß  ihr  Diener  Gottes  in  der  Fremde  weilt;  denn  eure  Stadt  liegt  fern  ab 
von  dieser  Stadt.  Wenn  ihr  nun  die  Stadt  kennt,  in  der  ihr  künftig  wohnen 
werdet,  warum  richtet  ihr  euch  hier  Felder  ein,  schafft  ihr  euch  kostspieligen 
Prunk,  zwecklose  Gebäude  und  Wohnungen?  Wer  sich  in  dieser  Stadt  hier 
derart  einrichtet,  der  erwartet  nicht,  in  seine  Stadt  hinaufzugelangen. 
Törichter,  halbherziger,  elender  Mensch,  siehst  du  denn  nicht,  daß  all  dieses 
fremdes  Eigentum  ist  und  unter  der  Gewalt  eines  anderen  steht?  Der  Herr 
dieser  Stadt  wird  dir  einst  sagen:  ,Ich  sehe  es  nicht  gern,  daß  du  in  meiner 
Stadt  wohnest;  räume  diese  Stadt,  weil  du  nicht  nach  meinen  Gesetzen 
lebst.'  Nun  du,  Besitzer  von  Ackern,  Häusern  und  vielen  anderen  Geschäften, 
was  willst  du  mit  deinem  Hause  und  was  du  dir  sonst  erworben  hast,  an- 
fangen, wenn  du  von  jenem  ausgewiesen  wirst  ?  Denn  der  Herr  dieses  Landes 
erklärt  mit  vollem  Rechte:  , Entweder  füge  dich  meinen  Gesetzen  oder  gehe 
mir  aus  dem  Lande.'  Was  willst  du  in  diesem  Fall  deiner  Felder  und  übrigen 
Habe  wegen  tun,  da  du  in  deiner  eigenen  Stadt  schon  ein  Gesetz  hast? 
Wirst  du  dein  Gesetz  vollständig  verleugnen  und  nach  dem  Gesetze  dieser 
Stadt  wandeln  ?  Sieh  zu,  ob  es  nicht  nachteilig  für  dich  sei,  dein  Gesetz  zu 
verleugnen.  Denn  wenn  du  in  deine  Stadt  zurückkehren  willst,  wirst  du 
nicht  aufgenommen,  sondern  ausgeschlossen  werden,  weil  du  das  Gesetz  deiner 
Stadt  verleugnet  hast.  Siehe  darum  zu,  daß  du,  in  der  Fremde  weilend,  dir 
nicht  mehr  erwerbest  als  das  gerade  Ausreichende;  und  wenn  der  Herr  dieser 
Stadt  kommt,  dich  als  einen  gegen  sein  Gesetz  Widerspenstigen  hinauszu- 
schaffen, so  sei  bereit,  seine  Stadt  zu  verlassen,  nach  der  deinigen  dich  auf- 
zumachen und  ungestört  und  freudig  nach  deinem  Gesetz  zu  leben.  Sehet 
euch  also  vor,  ihr,  die  ihr  Gott  dienet  und  ihn  im  Herzen  habt.  Vollbringet 
die  Gott  gefälligen  Werke,  eingedenk  der  Gebote  und  Verheißungen,  die  er 
gegeben  hat,  und  vertrauet  ihm,  er  werde  diese  erfüllen,  wenn  seine  Gebote 
erfüllt  werden.  Statt  Äcker  kaufet,  so  weit  jeder  imstande  ist,  bedrängte 
Seelen,  nehmt  euch  der  Witwen  und  Waisen  an  und  übei'sehet  sie  nicht; 
eueren  Reichtum  und  alle  euere  Bemühungen  verwendet  auf  solche  Felder 
und  Häuser,  die  ihr  von  Gott  empfangen  lialit  [seil,  auf  die  Armen].  Denn 
zu  dem  Zweck  hat  euch  der  Herr  Reichtum  verliehen,  daß  ihr  ihm  solche 
Dienste  leistet.  Viel  besser  ist's,  solche  Äcker,  Güter  und  Häuser  zu  kaufen, 
die  du  wiederfinden  wirst  in  deiner  Stadt,  wenn  du  dich  dort  niederlassen 
wirst.  Ein  solcher  Aufwand  ist  gut  und  heilig,  nicht  mit  Schmerz  und 
Furclit,  sondern  mit  Freude  verbunden.  Machet  darum  nicht  den  Aufwand 
der  Heiden;  denn  er  ist  euch,  den  Knechten  Gottes,  unzuträglich;  entfaltet 
vielmehr  den  eignen  Aufwand,  an  dem  ihr  Freude  haben  könnt.    Drückt  den 


Religiöse  Grnudzüge  der  Missionspredigt.  85 

kann   man   das   Wort   hören:     Mir    ist    die   Welt  gekreuzigt   und 
ich  der  Welt^." 

Aber  eben  dieser  entschlossene  Verzicht  auf  die  Welt  machte 
sie  erst  fähig  und  stark,  auf  sie  zu  wirken.  W^enn  der  Spruch: 
„Wer  für  die  Welt  etwas  tun  will,  muß  sich  mit  ihr  nicht  ein- 
lassen", je  eine  Wahrheit  gehabt  hat.  so  hat  er  sich  damals 
bewahrheitet.  Man  hat  dem  ältesten  Christentum  vorgeworfen, 
daß  es  zu  weltflüchtig  und  asketisch  gewesen  sei ;  aber  Revolutionen 
werden  nicht  mit  Rosenwasser  gemacht,  und  hier  galt  es  auch 
einer  Revolution.  Es  galt,  den  Polytheismus  zu  stüi'zen  und  die 
Majestät  Gottes  imd  des  Guten  aufzurichten  in  der  Welt  —  für 
die,  welche  an  sie  glaubten,  und  auch  für  die,  welche  nicht  an 
sie  glaubten.  Das  konnte  zunächst  nicht  anders  geschehen  als 
dadurch,  daß  man  den  Unwert  dieser  Welt  behauptete  und  sich 
wirklieh  vor  ihr  löste.  Diese  Schroffheit  aber  hat  die  Missions- 
predigt schw'erlich  gehemmt,  sondern  verstärkt,  da  sie  nicht  isoliert 
war,  sondern  begleitet  von  der  Botschaft  von  dem  Heilande  und 
der  Heilung,  von  der  Liebe  und  Hilfleistung.  Und  noch  etwas 
ist  zu  sagen  :  dem  Yergeltungsgedanken,  so  scharf  er  ausgeprägt 
war  und  so  stark  er  die  Gemüter  auf  das  Jenseits  richtete,  war 
die  Härte  und  Unlebendigkeit  genommen;  denn  neben  ihm  stand 
die  sicherste  Empfindung  imd  Überzeugung  von  der  Gegenwart 
Gottes,  seiner  Vorsehung  und  Leitung.  Von  keiner  Beti-achtung 
waren  die  alten  Christen  weiter  entfernt  als  von  der,  welche  man 


Dingen  keinen  falschen  Stempel  auf;  rühi-t  nichts  Fremdes  an  und  verlangt 
nicht  darnach ;  denn  es  ist  verderblich ,  Fremdes  zu  begehren.  Tu ,  was  dir 
als  Arbeit  befohlen  ist,  und  du  vrirst  das  Heil  erlangen."  Bei  aller  Schroff- 
heit der  Ermahnung  kommt  es  dem  Hermas  übrigens  doch  nicht  in  den  Sinn, 
daß  der  Unterschied  von  reich  und  arm  tatsächlich  in  der  Gemeinde  auf- 
hören soll.  Das  zeigt,  wenn  es  noch  nötig,  das  folgende  Gleichnis.  Wie  die 
Entwicklung  in  der  christlichen  Gemeinde  in  bezug  auf  diese  Frage  weiter 
fortgeschritten  ist,  lehrt  der  Traktat  des  alexandrinischen  Clemens:  „Quis 
dives  salvetur?"  Übrigens  zeigt  schon  das  Joh.  12,8  Jesu  in  den  Mund  ge- 
legte Wort  „Arme  werden  allezeit  bei  euch  sein''  —  das  Wort  ist  schwerlich 
absichtslos  gesetzt  — ,  daio  man  in  der  Gemeinde  nicht  an  eine  wirkliche 
Aufhebung  des  Unterschieds  von  reich  und  arm  gedacht  hat. 

*)  Celsus  bei  Origenes  V,  64.  Den  Pessimismus  der  ältesten  Christen 
in  bezug  auf  die  Welt  kann  man  sich  nicht  stark  und  entschieden  genug 
denken.  (Marciou  nannte  seine  Konfessionsgenossen  ovvraÄaiJicoooi  xal  av/nfu- 
oov,u£voi,  s.  Tertull.  adv.  Marc.  IV,  9).  In  dieser  Hinsicht  ist  uns  noch  Ter- 
tullian,  ja  selbst  Origenes  ein  Zeuge.  Es  sei  nur  ein  Zug  hervorgehoben. 
Hom.  8  in  Levit.  t.  9  p.  316 f.  sagt  er,  daß  in  der  Bibel  nur  Weltmenschen 
wie  Pharao  und  Herodes  ihren  Geburtstag  feiern,  „sancti  non  solum  uon 
agunt  festivitatem  in  die  natali  suo,  sed  a  spiritu  sancto  repleti  exsecrantur 
hunc  diem".  Der  wahre  Geburtstag  der  Christen  ist  ihr  Todestag.  Origenes 
denkt  an  Hiob;  außerdem  ist  die  Form  seines  Pessimismus  allerdings  noch 
durch  besondere  Spekulationen  bedingt. 


86  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

die  deistische  nennt.  Sie  kannten  den  Vater  im  Himmel:  sie 
wnßten,  daß  Gott  ihnen  nahe  sei,  daß  er  sie  leite,  und  die  Tiefsten 
unter  ihnen  waißtcn,  daß  er  mit  seiner  Kraft  in  ihnen  regiere.  So 
verkündigten  sie  ihn,  und  in  dieser  Verkündigung  wurde  das  Jen- 
seits zum  Diesseits;  die  starre  Vergeltung  schien  zu  verschwinden ; 
denn  was  war  noch  zu  „vergelten",  wenn  man  in  seiner  Gegen- 
wart lebte  und  seine  Weisheit,  Macht  und  Güte  mit  allen  Kräften 
des  Herzens,  Ja  mit  allen  Sinnen  spürte?  Die  Stimmungen  des 
sicheren  Besitzes  und  der  Sehnsucht,  der  erfahrenen  Gnade  und 
einer  leidenschaftlichen  Hoffnung  haben  nicht  nur  in  einem  Mamie 
wie  Paulus  gev/echselt.  Sehnsüchtig  schaut  er  aus  auf  die  Be- 
freiung von  dem  Leibe,  und  ergreifend  ist  dabei  seine  Teilnahme 
für  alles,  was  in  Banden  liegt,  für  die  ganze  seufzende  Kreatur. 
Aber  die  Hoffiumg,  die  sein  ganzes  Herz  und  sein  Sein  erfüllte, 
war  keine  aufreibende  und  ungewisse;  sie  ruhte  auf  dem  festen 
Grunde  eines  sicheren  Unterpfandes,  nämlich  der  Kindschaft  und 
des  Besitzes  des  Geistes  Gottes  ^ 

Es  bedarf  wohl  nicht  eines  besonderen  Hinweises  darauf,  daß 
die  christliche  Verkündigung  als  Predigt  von  der  Buße  und  der 
strengen  Sittlichkeit  einerseits  und  als  Anbietung  der  Sünden- 
tilgung und  Erlösung  andererseits  eine  innere  Spannung  enthielt, 
die  dem  einzelnen  in  ganz  verschiedener  Weise  zum  Bewußtsein 
kommen  mußte.  War  diese  Sündontilgung  und  Erlösung  ein- 
geschlossen in  Sakramente  bez.  in  ein  Sakrament  (die  Taufe),  so 
konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  Tausende  eben  nur  nach  diesem 
Sakrament  ausschauten,  sich  mit  dem  Glauben  an  seine  prompte 
mngische  Wirkung  begnügten  und  mit  der  sittlichen  Forderung 
keinen  rechten  Ernst  machten.  Umgekehrt  konnte  diese  so  über- 
wältigend in  das  Gewissen  fallen,  daß  die  Erlösung  lediglich  als 
der  Lohn  und  Preis  eines  heiligen  Lebens  erschien.  Dazwischen 
waren  viele  Standpunkte  möglich.  Die  kirchliche  Verkündigung 
hat  beides  ernstlich  in  einem  Gleichgewicht  halten  wollen;  aber 
Sakramente  sind  überall  willkommener  als  Sitten|)redigten,  und 
jene  Zciit  war  in  besonderer  Weise  sakramentssüchtig.  Sie  brachte 
den  Mysterien  noch  die  nötige  Naivetät  und  zugleich  schon  das 
nötige  Raffinement  entgegen. 

^)  Das  Bild  der  Person  Christi  in  ihrer  Totalität,  so  daß  ein  Christus- 
pathos entstand,  hat  doch  nur  in  wenigen  so  gewirkt,  daß  sie  das,  was  sie 
an  ihm  erlebt  haben,  auszusprechen  sich  getrieben  fühlten.  Neben  Paulus 
und  Johannes  ist  eigentlich  nur  Ignatius  zu  nennen.  Aber  in  wie  vielen 
Christen  mag  dieses  Bild  die  stärkste  Macht  gewesen  sein,  ohne  daß  wir  es 
wissen !  Bei  einigen  Märtyrern  bricht  es  in  den  letzten  Bekenntnissen ,  bei 
Origenes  mitten  in  gelehrten  Homilien,  in  ergreifender  Weise  hervor. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  87 

Zweitens  T\a])itel. 
Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung  ^ 

Das  Evangelium,  wie  Jesus  es  verkündigt  hat,  ist  Erlösungs- 
religion ,  aber  Erlösungsreligion  in  verborgener  Weise.  Jesus 
verkündigt  eine  neue  Botschaft  —  die  Nähe  des  Reiches 
Gottes,  den  Vater,  seinen  Yater  —  und  ein  neues  Gesetz,  aber 
er  wirkt  als  Heiland,  und  in  solchem  Wirken  wurde  er  ans  Kreuz 
geschlagen.  Als  Religion  der  Erlösung  hat  Paulus  das  Evangelium 
verkündigt. 

Als  Arzt  ist  Jesus  in  die  Mitte  seines  Volkes  getreten.  „Nicht 
die  Gesunden  bedürfen  des  Arztes,  sondern  die  Kranken ^Z'  Als 
den  Arzt  des  Leibes  und  der  Seele,  als  den  Heiland  schildern  ihn 
die  drei  ersten  Evangelien.  Er  spricht  nicht  viel  von  der  Krank- 
heit, sondern  er  heilt  sie.  Er  erklärt  nicht,  daß  die  lu'ankheit 
gesund  sei,  sondern  er  nennt  sie  beim  rechten  Namen,  aber  er 
erbarmt  sich  der  Kranken.  Nichts  von  Sentimentalität  oder  Raffine- 
ment findet  sich  bei  ihm :  auch  keine  feinen  Distinktionen  mid 
Sophismen,  daß  die  Gesunden  eigentlich  die  Kranken  seien  und  die 
Kranken  die  Gesunden.  Er  sieht  Scharen  von  Kranken  um  sich, 
er  zieht  sie  an  sich,  und  er  hat  nur  den  Trieb  zu  helfen.  Leibes- 
mid  Seelenkrankheiten  unterscheidet  er  nicht  streng  —  er  nimmt 
sie  als  die  verschiedenen  Äußerungen  des  einen  großen  Leidens 
der  Menschheit.  Aber  er  kennt  ihre  Wurzeln;  er  weiß,  daß  es 
leichter  ist  zu  sagen:  „Stehe  auf  und  wandle",  als  „Dir  sind  deine 
Sünden  vergeben''  ^,  und  er  handelt  demgemäß.  Vor  keiner 
Seelenkrankheit  schreckt  er  zurück  —  Sünderinnen  und  Zöllner 
bilden  seine  stete  Gesellschaft  — ,  und  keine  Leibeskrankheit  ist 
ihm  zu  ekelhaft.  In  dieser  Welt  von  Jammer,  Elend,  Schmutz, 
und  Verworfenheit,  die  ihn  täglich  umgibt,  bleibt  er  lebendig, 
rein  und  immer  tätig. 

So  hat  er  Jünger  und  Jüngerinnen  gewomien:  es  ist  ein  Kreis 
von  Geheilten,  der  ihn  umgibt*.     Sie  sind  geheilt  worden,  weil 


^)  Nach  dem  Abschnitt  VI  meiner  Abhandlung  „Medizinisches  aus  der 
ältesten  Kirchengeschiclite"  1892  (Texte  u.  Untersuch.  Bd.  VHI)  in  neuer  Be- 
arbeitung. 

2)  Marc.  2.  17.  Luc.  5,  31. 

^)  Marc.  2,  9.  Oder  ist  die  Stelle  anders  zu  verstehen?  Ist  das  „Dir 
sind  deine  Sünden  vergeben"  leichter  zu  sagen?  Wenn  die  Stelle  so  ver- 
standen werden  muß,  dann  ist  augenscheinlieh  der  Sinn  von  , leichter"  ein 
anderer. 

*)  Eine  alte  edessenische  Legende  über  Jesus  hat  sieh  an  seine  heilende 
Tätigkeit  angeschlossen.    Die  Edessener  führten  am  Ende  des  3.  Jahrhunderts 


88  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

sie  an  ihn  glanbton,  das  lieißt  weil  sie  aus  seinen  Zügen  und  ans 
seinen  Worten  Gesundheit  abgelesen  haben.  Die  Gesundheit  der 
Seele  ist  die  Erkenntnis  Gottes.  Auf  diesen  Fels  hatte  sie  Jesus 
aus  dem  Schiffbruch  des  Lebens  gerettet.  Weil  sie  Gott  als  den 
Yater  in  dem  Sohne  erkannt  haben,  darum  wissen  sie  sich  als 
geheilt.  Sie  schöpfen  fortan  aus  einem  nie  versiegenden  Quell 
Gesundheit  und  wahres  Leben. 

„Ihr  werdet  zu  mir  dies  Sprichwort  sagen:  .Arzt,  heile  dich 
selbst'"^  —  er,  der  so  vielen  half,  schien  selbst  in  eine  immer 
hilflosere  Lage  zu  kommen.  Angefeindet,  verleumdet,  von  den 
Oberen  seines  Volkes  mit  dem  Tode  bedroht,  verfolgt  in  dem 
Namen  des  Gottes,  den  er  verkündigte,  ging  er  dem  Kreuze  ent- 
gegen. Aber  eben  dieses  Kreuz  offenbarte  erst  die  ganze  Tiefe 
und  Kraft  seines  AVirkens  als  Heiland.  Es  vollendete  seinen  Beruf, 
indem  es  die  Menschen  lehrte,  daß  das  Leiden  des  Gerechten 
das  Heil  in  der  Geschichte  ist. 

„Fürwahr  er  trug  unsere  Krankheit  und  lud  auf  sich  unsere 
Schmerzen;  durch  seine  Wunden  sind  wir  geheilt''   —  das  war  die 


ihr  Christentum,  welches  sie  in  der  zweiten  Hälfte  des  '2.  Jahrhunderts  er- 
halten hatten,  auf  die  apostolische  Zeit  zurück,  und  sie  bewahrten  einen  an- 
geblichen Briefwechsel  zwischen  ihrem  Könige  Abgar  und  Jesus.  Dieser 
Briefwechsel  ist  uns  noch  erhalten  (s.  Euseb.,  h.  e.  I,  13).  Er  ist  eine  naive 
Dichtung.  Der  schwer  erkrankte  König  schreibt  also :  „Abgar,  Toparch  von 
Edessa,  entbietet  Jesu,  dem  guten  Heilande,  der  in  der  Gegend  von  Jerusalem 
erschienen,  seinen  Gruß.  Ich  habe  von  Dir  und  Deinen  Heilungen  gehört, 
die  Du  ohne  Arznei  und  Kräuter  vollbringst.  Denn,  wie  erzählt  wird,  machst 
Du  Blinde  sehen.  Lahme  gehen  und  reinigst  Aussätzige,  treibst  unreine 
Geister  und  Dämonen  aus,  heilst  die,  welche  von  langwierigen  Krankheiten 
gequält  sind,  und  erweckst  Tote.  Da  ich  nun  alles  dieses  über  Dich  gehört 
hatte,  da  stellte  ich  mir  das  Doppelte  vor  die  Seele:  entweder  bist  Du  selbst 
Gott,  und,  herabgestiegen  vom  Himmel,  tust  Du  dies,  oder  Du  bist  ein  Sohn 
Gottes,  indem  Du  dies  tust.  Deswegen  schreibe  ich  nun  an  Dich  und  bitte 
Dich,  zu  mir  zu  kommen  und  das  Leiden,  welches  ich  habe,  zu  heilen.  Denn 
ich  habe  auch  gehört,  daß  die  Juden  wider  Dich  murren  und  Dir  Übles  zu- 
fügen wollen.  Ich  habe  eine  sehr  kleine,  aber  anständige  Stadt,  die  für  uns 
beide  genügt."  Darauf  antwortet  Jesus:  „Selig  bist  Du,  weil  Du  au  mich 
gläubig  geworden  bist,  ohne  mich  gesehen  zu  haben;  denn  es  steht  von  mir 
geschrieben :  Die  mich  gesehen  haben,  werden  nicht  an  mich  glauben,  damit 
diejenigen,  welche  mich  nicht  gesehen  haben,  glauben  und  leben.  Was  aber 
Deine  Bitte  zu  Dir  zu  kommen  betritft,  so  muß  ich  hier  alles,  wozu  ich  ge- 
sandt bin,  erfüllen  und  darnach  zu  dem  aufgenommen  werden,  der  mich  ge- 
sandt hat.  Wenn  ich  aber  aufgenommen  sein  werde,  so  werde  ich  einen 
meiner  Jünger  senden,  daß  er  Deine  Krankheit  heile  uml  Dir  und  den  Deinigen 
das  Leben  gebe."  K's  wird  nun  erzählt,  daß  Thaddäus  nach  Edessa  gekonunen 
sei  und  den  König  ohne  .Arznei  und  Kräuter  durch  Handauflegung  geheilt 
habe,  nachdem  dieser  ein  Glaubensbekenntnis  abgelegt  hatte.  „Auch  Abdus, 
der  Sohn  des  Abdus,  wurde  von  ihm  vom  l'odagni,  geheilt." 
>)  Luc.  4, 23. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  §9 

neue  Erkenntnis,  die  vom  Kreu/(>  ausgingt.  Wie  ein  lebendiger 
Strom  Wassers  ergoß  sie  sich  auf  die  vertrockneten  Monschen- 
herzen  und  auf  ihre  dürre  Moral.  An  die  Stelle  der  dinglichen 
und  statutarischen  Moral  trat  di(^  Anschauung  eines  persönlichen, 
reinen  und  göttlichen  Lebens,  das  sich  im  Dienste  an  den  l>rüdern 
verzehrt  und  willig  in  den  Tod  gegeben  hatte.  Diese  Anschauung 
wurde  das  neue  Lebensprinzip;  sie  entwurzelte  das  alte  Leben, 
wie  es  zwischen  Sünde  und  Moral  hin-  und  herschwankte ;  aber 
sie  ließ  ein  neues  Leben  entstehen,  welches  nichts  anderes  sein 
wollte  als  Jüngerschaft  Christi,  und  welches  Kraft  schöpfte  aus 
seinem  Leben.  Die  Jünger  zogen  hinaus,  um  die  Botschaft  „(yottes 
des  Heilandes"  zu  verkündigen^,  des  Heilandes  und  Arztes,  dessen 
Person,  Tun  und  l^eiden  die  Heilung  war.  Es  war  nicht  augen- 
blickliche überschwängliche  Stimmung,  sondern  der  sichere  und 
ruhige  Ausdruck  des  Bewußtseins,  das  ihn  stetig  erfüllte,  wenn 
Paulus  den  Galatern  schrieb ^r  „Ich  lebe  —  doch  nun  nicht  ich, 
sondern  Christus  lebt  in  mir.  Denn  was  ich  jetzt  lebe  im  Fleisch, 
das  lebe  ich  in  dem  Glauben  des  Sohnes  Gottes,  der  mich  geliebt 
hat  und  sich  selbst  für  mich  dargegeben."  In  diesem  Bewußtsein 
waren  die  ältesten  christlichen  Missionare  bereit,  täglich  zu  sterben. 
Eben  deshalb  ist  ihre  Sache  nicht  untergegangen. 

In  der  W^elt,  welcher  die  A]>oste]  die  neue  Botschaft  ver- 
kündigten, war  die  Religion  ursprünglich  nicht  für  die  Kranken 
da,  sondern  für  die  Gesunden.  Die  Gottheit  will  reine  und  gesunde 
Verehrer.  Die  Kranken  und  die  Sünder  sind  den  finsteren  Mächten 
verfallen;  sie  mögen  zusehen,  ob  sie  Gesundheit  des  Leibes  und 
der  Seele  von  irgend  woher  wiedergewinnen  können.  Erst  dann 
sind  sie  den  Göttern  willkommen.  Es  ist  interessant  zu  sehen, 
wie  noch  bei  dem  Christenfeind  Celsus  im  Ausgang  des  2.  Jahr- 
hunderts diese  Auffassung  die  durchschlagende  ist*:  „Die,  welche 
zur  Feier  anderer  Weihen  auffordern,  schicken  folgende  Botschaft 
voraus:  ,Wer  reine  Hände  hat  und  Verständiges  spricht,  (der 
komme  herzu)',  oder:  ,Wer  rein  ist  von  jeder  Schuld  und  wer 
sich   in  seiner  Seele  keiner  Sünde  bewußt  ist  und   wer   ein  edles 


^)  ^  gl.  I  Petr.  2,24:  ov  zoj  {.uiXioTn  avzoi  i(xdi]T£. 

')  Luc.  2,11:  ETS/ßtj  vfiTr  owrt'jQ ,  Sg  ionv  Xqioto;  >cvgio;.  .loh.  4,42: 
oibaf^iev  (hl  ovrög  eoziv  aXrjdxÖQ  6  a<ori]o  zov  xöofiov.  Tit.  2,  11:  tJisqävri  7\ 
X^Q'?  TO?  deov  aojztjQiog  jtuciv  ävdgwjroig.  Tit.  .3, 4 :  *;  -/QrjozoTi^g  xai  »/  (fiXuv- 
■dgwjiia  EJiecpäv}]  zov  ocoztjgog  rjfwjv  ßeov.  In  einigen  christlichen  Kreisen 
wurde  die  Bezeichnung  „Heiland"  für  Jesus  sogar  ausschließlich  gebraucht. 
Irenäus  (I,  1,  3)  macht  es  dem  Valeutinianer  Ptolemäus  zum  Yorvsrurf,  daß  er 
Jesus  nicht  ,^KVQiog"  nennen  wolle,  sondern  nur  ^acoTt/g'',  und  wirklich  wird 
in  dem  Brief  des  Ptolemäus  an  die  Flora  Jesus  ausschliei'dich  oojzt'jg  genannt. 

')  Gal.  2,  20.  —  *)  Orig.  c.  Geis.  IH,  -59  f. 


90  Die  MissioD.spredigt  in  Wort  und  Tat. 

und  gerechtes  Leben  geführt  hat,  (der  trete  heran)\  Und  das 
rufen  die  aus.  welche  Entsühnung  von  Sünden  versprechen^. 
Hören  wir  nun  dagegen,  was  für  Leute  jene  (die  Christen)  rufen: 
.Wer  ein  Sünder  ist.  ein  Tor,  ein  Einfältiger,  mit  einem  Wort 
ein  Unglücksmensch  —  ihn  wird  das  Reich  Gottes  aufnehmen'. 
Den  Sünder,  damit  meinen  sie  den  Ungerechten,  den  Dieb,  den 
Einbrecher,  den  Giftmischer,  den  Tempelräuber  und  den  Grabes- 
schänder. Wenn  einer  eine  Räuberbande  bilden  wollte,  würde  er 
solche  Leute  herbeirufen^!"  Mit  wünschenswerter  Deutlichkeit 
hat  hier  Celsus  den  prinzipiellen  Gegensatz  des  Christentums  und 
der  antiken  Religion  zum  Ausdruck  gebracht''. 

Aber  die  religiöse  Stimmung,  welche  das  Christentum  vor- 
fand und  welche  sich  im  2.  und  3.  Jahrhundert  rapid  entwickelte 
und  verbreitete,  war,  wie  wir  bereits  gesehen  haben  (Buch  I 
Kap.  3),  nicht  mehr  die  „antike".  Auch  hier  zeigt  es  sich,  daß 
die  neue  Religion  erschien,  „als  die  Zeit  erfüllt  war".  Die  heitere 
Naivetät  der  alten  Religion,  soweit  eine  solche  bestanden  hatte, 
war  im  Absterben:  an  ihre  Stelle  traten  neue  religiöse  Bedürf- 
nisse. Die  Phil()soi)hie  hatte  das  Individuum  entfesselt  und  den 
Menschen  im  Bürger  entdeckt.  Der  Austausch  der  Staaten  und 
Nationen,  ihr  Zusammenwachsen  zu  einem  Weltreich,  hatte  den 
Kosmopolitismus  verwirklicht.  Der  Kosmopolitismus  aber  hat 
immer  den  Lidividualismus  zu  seiner  Kehrseite.  Die  verfeinerte 
materielle  und  geistige  Kultur  machte  das  Leid  des  Lebens  emp- 


')  Der  Sinn  ist,  selbst  zu  solchen  Mysterien,  in  denen  es  sich  um  Ent- 
.sühnung  bandelt,  werden  nur  solcbe  berufen,  die  im  allgemeinen  gut  und 
gerecht  gelebt  haben. 

^)  Bei  Porphyrius  steht  die  Sache  schon  etwas  anders.  Unbedingt  kann 
er  den  Spruch  Christi  von  den  Kranken,  um  deren  willen  er  gekommen  sei, 
nicht  verwerfen.  Andrerseits  steht  ihm  doch  als  Helleneu  fest,  daß  die 
Religion  für  die  Einsichtigen,  die  Gerechten  und  die  Forschenden  ist.  Daher 
ist  seine  Ausführung  (bei  Macarius  Magnes  IV,  10)  ziemlich  verworren. 

^)  Origenes  verteidigt  hier  das  Christentum  geschickt.  „Wenn  ein  Christ 
seine  Einladung  an  dieselben  Leute  ergehen  läßt,  an  die  sich  ein  Räuber- 
hauptniann  wendet,  so  tut  er  das  in  anderer  Absicht.  Er  tut  es,  um  ihre 
Wunden  mit  seiner  Lehre  zu  verbinden,  um  die  Fieberglut  der  Leidenschaften 
in  der  Seele  mit  den  Heilmitteln  zu  ersticken ,  die  der  Glaube  bietet ,  und 
die  dem  Wein  und  dem  Ol  und  den  anderen  Mitteln  entsprechen,  welche  die 
Heilkunde  anwendet,  um  dem  Leibe  Linderung  der  Schmerzen  zu  verschatfen" 
(111,60)  .  .  .  „Celsus  verdreht  den  Tatbestand  und  behauptet,  wir  lehrten, 
Gott  sei  nur  für  die  Sünder  gesendet  worden.  Dies  i.st  gerade  so,  als  wenn 
er  etwas  daran  auszusetzen  hätte  und  den  Leuten  es  verübelte,  wenn  sie 
sagten,  ein  wohlwollender  und  gnädiger  {qnXav&QoyTiÖTaTog ,  Beiwort  des 
Äsculap)  König  habe  in  eine  Stadt  seinen  Arzt  gesendet  der  Personen  wegen, 
die  in  derselben  krank  lägen.  Gott  das  Wort  ist  demnach  als  Arzt  für  die 
Sünder  gesandt  worden,  als  Lehrer  der  göttlichen  Geheimnisse  aber  für  die, 
welche  bereits  rein  sind  und  nicht  mehr  sündigen"  (III,  61). 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  91 

findlicher.  Die  größere  Empündlichkeit  zeigte  sich  aucli  auf  dem 
sittlichen  Gebiet,  und  einige  orientalische  Religionen  kamen  dem 
entgegen.  Die  Philosophie  der  Socratiker  mit  ihren  feinen 
ethischen  Reflexionen  verbreitete  sich  aus  den  Höhen  der  Denker 
in  die  Niederungen  des  Volkes.  Yor  allem  die  Stoiker  hatten 
es  unablässig  mit  der  ,, Gesundheit  und  den  Krankheiten  der  Seele" 
zu  tun  und  zwangen  ihre  praktische  Philosophie  in  diese  Grund- 
form. Reinheit,  Trost.  Entsühnung,  Heilung  begehrte 
man,  und  man  begann  sie  in  der  Religion  zu  suchen,  weil  man 
sie  sonst  nirgends  fand.  Man  schaute  nach  neuen  religiösen 
Weihen  aus,  um  sie  zu  gewinnen.  Beweise  für  diese  veränderte 
religiöse  Stimmung  bieten  die  Werke  des  Seneca,  des  Epictet 
imd  vieler  anderer.  Aber  ein  noch  viel  stärkerer  Beweis  liegt 
in  dem  Aufschwung,  den  der  Kult  des  Asculap  in  der  Kaiserzeit 
gewonnen  hat  ^.  Bereits  im  Jahre  290  vor  Chr.  war  auf  den  Rat 
der  Sibyllinischen  Bücher  der  Asculap  von  Epidaurus  nach  Rom 
geholt  worden.  Auf  der  Tiberinsel  hat  er  sein  Heiligtum  er- 
halten; daneben  stand,  wie  bei  den  zahlreichen  Asclepien  der 
Griechen,  eine  Heilanstalt,  in  welcher  die  Kranken  im  Schlaf  die 
Anweisungen  des  Gottes  erwarteten.  Griechische  Arzte  folgten 
dem  Gott  nach  Rom.  Aber  es  dauerte  lange,  bis  der  Gott  und 
die  griechischen  Arzte  populär  wurden.  Diese  scheinen  sich  anfangs 
nicht  durch  Geschicklichkeit  empfohlen  zu  haben.  „Im  Jahre 
219  vor  Chr.  hatte  sich  der  erste  griechische  Wundarzt  in  Rom 
niedergelassen:  er  bekam  sogar  das  Bürgerrecht  und  auf  Staats- 
kosten einen  Laden  „in  compito  Acilio".  Allein  dieser  Arzt 
wütete  so  unbarmherzig  mit  Messer  und  Brenneisen,  daß  der 
Name  eines  Chirurgen  und  der  eines  Schinders  gleichbedeutend 
wm-de'-."'  In  der  Kaiserzeit  wurde  es  anders.  Zwar  hielten  sich 
die  Römer  selbst  immer  noch  von  der  Kunst  der  Medizin  fern 
und  beurteilten  sie  wie  eine  Art  Divination;  aber  geschickte 
griechische  Arzte  waren  auch  in  Rom  gesucht,  und  der  Kultus 
des  Asculap,  des  „deus  clinicus",  blühte.  Yon  Rom  aus  hat  er 
sich  über  den  ganzen  Westen  verbreitet,  hie  und  da  verschmolzen 
mit  dem  Kultus  des  Serapis  und  anderer  Gottheiten,  ihm  zur 
Seite   und   untergeordnet   der  Kultus  der  Hygiea   und  Salus,   des 


-)  Vgl.  über  den  Äsculap-Kult  v.  Wilamowitz -Moellendorf,  IsjUos 
von  Epidauros,  1886  S.36  f.,  44fi'..  116  S.:  Usener,  Götternamen,  1896,  S.  147  f., 
350,  ferner  die  Abhandlung  Ilbergs  über  Asclepios  in  Teubuers  Neuen  Jahr- 
büchern II,  1901  und  den  umsichtigen  Artikel  Asclepios  in  Pauly-Wissowas 
REncykl.  von  Thrämer  (II  Col.  1642  ff.). 

^)  Preller-Jordan,  Rom.  Mythologie  11  S.  243.  Plinius  sagt:  „Mox 
a  saevitia  secandi  urendique  transisse  nomen  in  carnificem  et  in  taedium 
artem  omnesque  medicos". 


92  I^i<?  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Tclcsphorus  und  Sonnius.  Dabei  erweiterte  sich  die  Sphäre  dieses 
heilenden  Gottes  immer  mehr:  er  wurde  zum  „Soter"  schlecht- 
hin, zu  dem  Gott,  der  in  allen  Nöten  hilft,  zai  dem  „Menschen- 
freunde" (qdardgcojzoxaTog)  ^.  Je  mehr  man  in  der  Religion 
nach  Rettung  imd  Heilung  ausschaute,  desto  mehr  W'Uchs  das 
Ansehen  des  Gottes.  Er  gehört  zu  den  alten  Göttern,  welche 
dem  Christentum  am  längsten  Widerstand  geleistet  haben.  Da- 
rum begegnet  er  auch  in  der  alten  christlichen  Literatur  nicht 
selten.  In  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  und  im 
dritten  war  der  Äsculapkultus  einer  der  verbreitetsten.  Man  reiste 
zu  den  berühmten  Heilanstalten  des  Gottes,  wie  man  heute  in  die 
Bäder  reist:  man  rief  ihn  an  bei  den  Krankheiten  des  Leibes 
und  der  Seele:  man  schlief  in  seinen  Tempeln,  um  zu  genesen; 
man  brachte  ihm,  dem  GEOZ  ZQTHP^  die  reichsten  Geschenke ; 
man  weihte  ihm  das  Leben.  Ungezählte  Inschriften  und  Bild- 
werke bezeugen  das.  Aber  auch  bei  anderen  Göttern  stellte  man 
die  heilbringende  Tätigkeit  nun  in  den  Mittelpunkt.  Zeus  selbst 
und  Apollo-  traten  in  ein  neues  Licht.  Auch  sie  WTirden  „Hei- 
lande". Niemand  konnte  mein-  ein  Gott  sein,  der  nicht  auch  ein 
Heiland  war'^  Durchmustert  man  die  große  Streitschrift  des 
Origenes  gegen  Celsus.  so  gewählt  man  leicht,  daß  ein  Haupt- 
sti-eitpunkt  zwischen  den  beiden  bedeutenden  Männern  der  war. 
ob  Jesus  der  rechte  Heiland  sei  oder  Asculap.  Celsus  tritt  ebenso 
lebhaft  und  wundergläubig  für  diesen  ein.  wie  Origenes  für  jenen. 
Dabei  ist  die  Mischmiff  schlimmsten  Aberglaubens  mit  verständiger 


^)  Der  Kult  war  ■wirklieh  ein  humaner,  und  die  Ärzte  wurden  durch 
ihn  zur  Humanität  geführt.  In  einer  Stelle  in  den  pseudoliippoci-atischen 
Tlagay/eUai  heißt  es:  „Ich  ermahne  aber,  sich  nicht  inhuman  zu  bezeigen, 
sondern  Eeichtum  oder  Dürftigkeit  (der  Patienten)  in  Betracht  zu  ziehen, 
gegebenenfalls  auch  unentgeltlich  zu  behandeln"  —  in  welchem  Ansehen  die 
iazQoi  uvdgyvooi  standen,  ist  bekannt  —  ,und  mehr  auf  künftige  Dankbarkeit 
zu  rechnen  als  auf  augenblicklichen  ßuhm.  Wenn  sich  (also)  Veranlassung 
bietet,  einem  Unbekannten  oder  Unbemittelten  beizuspringen,  wird  man 
solchem  vor  allem  hilfreich  sein:  denn  wo  Nächstenliebe  ist,  da  ist  auch 
Werktätigkeit "  (IX  258  Littre,  III  321  Erm.;  mir  bekannt  aus  der  Mit- 
teilung llbergs  und  in  der  Berl.  Philol.  AVochenschrift  1893,  25.  Mäi-z).  Wie 
stark  die  Christen  selbst  die  Wahlverwandtschaft  mit  den  humanen  Ärzten 
empfanden,  dafür  hat  llberg  (a.  a.  0.  aus  VI  90  Littre,  II,  123  Erm.)  das 
schlagendste  Beispiel  gegeben.  Eusebius  schreibt  (h.  e.  X,  4,  11):  „Jesus  hat 
wie  ein  treiflicher  Arzt  um  der  Heilung  der  Kranken  willen  Abschreckendes 
untersucht  und  Ekelhaftes  berührt,  bei  fremden  Leiden  selbst  Schmerz  emp- 
funden." Diese  Stelle  ist  wörtlich  hinübergenommen  aus  dem  pseudo- 
hippocratischen  Traktat  jicqI  cfvoMv:  ' O  luv  yao  hjxQo?  ogsT  ts  deivd,  Oiyyävei 
JE  atjdiojv,  iji'   u/./.OTgcrjoi  de  ^v/Hpogf/aiv  läiac:  xuoTTovrai  ?.v.iac. 

^)  z.  B.  Tatian,  Orat.  8. 

')  Dem  entsprechend  bezeichnet  Poriihyrius  als  Zweck  des  l'hilosophie- 
rens  ^  zf/c  %j>v/f/c  nonr^gla. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  93 

Kritik,  wie  sio  sich  bei  beiden  findet,  heute  für  uns  ein  Rätsel. 
Wir  können  uns  den  j^eistigen  Zustand,  in  welchem  sich  jene 
Männer  befanden,  kaum  mehr  vorstellen.  L.  IIT,  .'}  bemerkt 
Origenes:  „Es  geschahen  überall  oder  doch  an  vielen  Orten 
Wunder.  Celsus  selbst  gibt  in  seinem  Buche  an,  daß  Äsculap 
Krankheiten  geheilt  und  künftige  Dinge  offenbart  hat  in  allen 
Städten,  die  ihm  geweiht  waren,  wie  in  Tricca,  Epidaurus,  Cos, 
Pergamum^'.  Nach  IIT.  22  macht  es  Celsus  den  Christen  zum 
Vorwurf,  daß  sie  sich  nicht  entschließen  können,  den  Äsculap. 
weil  er  zuvor  Mensch  gewesen.  Gott  zu  nemien.  Origenes  er- 
widert, daß  Äsculap  nach  der  griechischen  Überlieferung  von 
Zeus  mit  dem  Blitz  getötet  worden  sei.  Celsus  behauptet  (III,  14) 
als  glaubwürdig,  daß  eine  große  Anzahl  von  Griechen  und  Bar- 
baren den  Äsculap  gesehen  haben  und  noch  sehen,  ihn  selbst 
und  nicht  ein  bloßes  Trugbild  von  ihm.  wie  er  Krankheiten  heilt 
imd  Wohltaten  spendet,  daß  aber  die  Jünger  Jesu  nur  einen 
Schatten  gesehen  hätten.  Origenes  ist  darüber  sehr  empört:  aber 
seine  Gegenbeweise  sind  schwach.  Auch  auf  die  zahllose  Menge 
von  Griechen  und  Barbaren,  die  an  Äsculap  glaubten,  beruft  sich 
Celsus.  Origenes  verweist  auf  die  große  Anzahl  von  Christen 
(1.  c),  auf  die  Wahrheit  der  h.  Schriften  und  auf  die  gelungenen 
Krankenheilungen  im  Namen  Jesu.  Dann  aber  ändert  er  plötzlich 
seine  Verteidigung  und  schreibt  (III,  25)  in  höchst  verständiger 
Überlegung:  „Wollte  ich  aber  auch  zugeben,  daß  ein  Dämon, 
Äsculap  mit  Namen,  die  Macht  habe,  körperliche  Krankheiten 
zu  heilen,  so  könnte  ich  doch  denjenigen,  welche  dieses  Heilen 
oder  das  Weissagen  des  Apollo  mit  Staunen  erfüllt,  die  Bemerkung 
machen,  daß  diese  Kraft  der  Krankenheilungen  an  sich  weder 
gut  noch  böse  ist,  daß  sie  eine  Sache  ist,  die  nicht  bloß  Recht- 
schaffenen, sondern  auch  den  Gottlosen  zuteil  wird,  desgleichen 
daß,  wer  die  Zukunft  kennt,  damit  nicht  sofort  ein  braver  und 
wackerer  Mann  ist.  .  .  Man  wird  nicht  imstande  sein,  die  Tugend- 
haftigkeit derer  zu  beweisen,  die  Kranke  heilen  und  Künftiges 
verkünden.  Es  lassen  sich  viele  Beispiele  von  solchen 
anführen,  die  geheilt  wurden,  obgleich  sie  es  nicht 
verdienten,  zu  leben,  Leute,  die  so  verdorben  waren 
und  einen  so  schmählichen  Wandel  geführt  hatten,  daß 
ein  verständiger  Arzt  Bedenken  getragen  hätte,  sie  zu 
heilen.  .  .  In  der  Macht,  Kranke  zu  heilen,  offenbart  sich  an  sich 
nicht  etwas  Göttliches."  Man  sieht  aus  allen  Ausführungen  des 
Origenes  hier,  wie  hoch  der  Kultus  des  Äsculap  gestanden  hat 
und  wie  die  damaligen  Menschen  nach  „Heilung"  ausschauten. 

In  diese   heilungssüchtige  Welt   trat    die   christliche  Predigt 
ein.     Daß  sie  Heilung  versprach  und  brachte,    daß   sie  in  dieser 


94  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Eigenschaft  alle  anderen  Religionen  nnd  Kulte  überstrahlte,  das 
hat  ihren  Sieg  bereits  begründet,  bevor  sie  ihn  durch  eine  ein- 
drucksvolle Religionsphilosophie  vollends  gewann.  Nicht  nur  setzte 
sie  dem  erträumten  Äsculap  den  wirklichen  Jesus  gegenüber, 
sondern  sie  gestaltete  sich  selbst  als  die  „Religion  der 
Heilung'',  als  „die  Medizin  der  Seele  und  des  Leibes" 
bewußt  und  bestimmt  aus  ^,  nnd  sie  sah  auch  in  der 
tatkräftigen  Sorge  für  die  leiblich  Kranken  eine  ihrer 
wichtigsten  Pflichten.  Beides  soll  hier  durch  eine  Reihe  von 
Beispielen  aus  einer  unübersehbaren  Fülle  beleuchtet  werden. 

Zunächst  die  Theorie.  Das  Christentum  blieb  bei  der  ihm 
eingepflanzten  Regel,  daß  die  Religion  für  die  Kranken  sei.  Aber 
es  setzte  demgemäß  voraus,  daß  sich  kein  Mensch  oder  doch  fast 
kein  Mensch  in  einem  normalen  Zustande  befinde,  daß  sie  allzumal 
untüchtig  seien.  Nicht  nur  Paulus  hat  diesen  Charakter  ans  Licht 
gestellt  —  er  sah  alle  Menschen  ohne  Christus  als  Sterbende  an, 
sterbend  an  ihrer  Sünde  — :  neben  ihm  haben  die  vielen  unbe- 
kannten ältesten  Missionare  ähnlich,  wenn  auch  einfacher,  gelehrt: 
die  menschliche  Seele  ist  krank,  ist  dem  Tode  verfallen,  und  zwar 
von  ihrer  Geburt  an.  Das  ganze  Geschlecht  liegt  im  Sterben. 
Jetzt  aber  ist  die  „Güte  und  Menschenfreundlichkeit  Gottes  des 
Heilandes^'  erschienen  und  erneuert  die  kranke  Seele-.  So  wurde 
die  Taufe  als  ein  Bad  zur  Wiederherstellung  der  Gesundheit  der 
Seele,  zur  „Erlangung  des  Lebens"  aufgefaßt^;  so  galt  das 
Abendmahl  als  das  „Pharmakon  der  Unsterblichkeit^;  so  heißt 
die  Buße  „vera  de  satisfactione  medicina" ''.  Bei  der  Feier  wurde 
für  das  „Leben"  gedankt,  welches  nun  geschenkt  ist^.  Der  Be- 
griff" des  „Lebens"  erhielt  eine  neue,  vertiefte  Bedeutung.  Schon 
Jesus  selbst  hatte  von  einem  „Leben"  gesprochen,  dem  der  Tod 
nichts  anzuhaben  vermag,  ja  das  man  gewinnt,  indem  man  das 
irdische  Leben  opfert.  Paulus  und  der  vierte  Evangelist  haben 
die  Anschauung  und  das  Wort  aufgenommen  und  sie  zum  Inbegriff 
aller  Güter  der  Religion  ausgestaltet.  Der  Not,  dem  Elend,  der 
Sünde,  dem  Tode  gegenüber  gab  sich  die  neue  Religion  als  die 
Botschaft  von  der  LTnsterbliclikeit.    Das  verstand  die  Ileidenwelt. 


')  Schon  das  Neue  Testament  ist  so  stark  von  medizinischen  Ausdrücken 
durchzogen,  die  als  Bilder  verwertet  werden,  daß  eine  Zusammenstellung 
mehrere  Seiten  füllen  würde. 

^)  Tit.  3,4:  r;  ygrjOTÖTrj?  xui  rj  (piXav  &QWJiia  hieqiävrj  rov  o<oTfj(>og 
fjfuov  deov  .  .  .  eoiooev  r/fiäg,  s.  das  Neue  Testament  sub  oiottiq. 

3)  Tertullian,  de  bapt.  1  u.  viele  a.  Stellen.  Clemens,  Paedag.  1,  6,  29 
nennt  die  Taufe  „flniwvioi'  (pägfiaxov" ,  Tertull.  „aqua  medicinalis". 

*)  Ignatius,  Justin,  Irenilus.  —  ^)  Cypr.,  de  lapsis  15. 

«)  Didache  9.  10. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung-.  95 

Sie  verstand  es,  wenn  ihr  verheißen  wurde,  sie  sollte  selig  und 
unsterblich  w^erden  wie  die  seligen  Götter.  Aber  nicht  wenige 
verstanden  auch  das  Recht  der  Bedingung,  daß  man  sich  der  Kur 
der  Religion  zu  unterwerfen  habe,  daß  die  Seele  erst  rein  nnd 
heilig  sein  müsse,  bevor  sie  unsterblich  werden  könne.  So  er- 
griffen sie  die  Botschaft  von  dem  großen  Arzte,  der  „Enthaltimg'' 
predigt  und  „Leben"  verleiht '.  Wer  einen  Strahl  von  der  Krafr 
und  Herrlichkeit  des  neuen  Lebens  empfangen  hatte,  der  beur- 
teilte sein  bisheriges  Leben  als  Blindheit.  Krankheit  und  Sterben  2. 
Die  apostolischen  Yäter  und  die  Apologeten  bezeugen  diese  Auf- 


^)  Clemens  Alex,  beginnt  seinen  Pädagog  damit,  daß  er  den  Logos  als 
den  Arzt  bezeichnet,  welcher  die  Leidenschaften  heilt  (I,  1,1:  xa  nä^rj  6 
jiaQajivßrjtiy.og  löyog  läzai).  Er  unterscheidet  den  loyog  jrgoTQSjiztyög,  vTiodsTixög 
und  7iaQaiuv{)t]Tiy.6g;  dazu  kommt  noch  der  di8ay.Tiy.6g.  Der  Logos  aber  ist 
Christus.  Auch  Gregorius  Thaum.  nennt  in  der  Lobrede  auf  Origenes  (c.  16) 
den  Logos  den  Arzt.  In  den  pseudoclementinischen  Homilien  ist  Jesus ,  der 
wahre  Proj^het,  durchweg  auch  der  Arzt;  ebenso  wirkt  Petrus  überall  als 
der  groiie  Arzt,  der  lediglieh  durch  Gebet  und  Rede  Scharen  von  Kranken 
heilt  (s.  besonders  Buch  VII).  Umgekehrt  ist  Simon  Magus  als  der  böse 
Zauberer  vorgestellt,  der  überall,  wohin  er  kommt,  Krankheiten  hervorruft. 
Am  häufigsten  und  eingehendsten  hat  Origenes  Jesus  als  den  Arzt  geschildert. 
Eine  der  vielen  Stellen  wenigstens  möge  hier  stehen  (Hom.  VIII  in  Levit. 
c.  1  t.  9  p.  0I2  f.):  „Medicum  dici  in  scripturis  divinis  dominum  nostrum  Jesum 
Christum,  etiam  ipsius  domini  sententia  perdocemur,  sicut  dicit  in  evangeliis 
[folgt  Matth.  9,  12  f.].  omnis  autem  medicus  ex  herbarum  succis  vel  arborum 
vel  etiam  metallorum  venis  vel  animantium  naturis  profutura  corporibus 
medicamenta  componit.  sed  herbas  istas  si  quis  forte,  antequam  pro  ratione 
artis  componantur,  adspiciat,  si  quidem  in  agris  aut  montibus,  velut  foenum 
vile  conculcat  et  praeterit.  si  vero  eas  intra  medici  scholam  dispositas  per 
ordinem  viderit,  licet  odorem  tristem,  fortem  et  austerum  reddant,  tamen 
suspicabitur  eas  curae  vel  remedii  aliquid  continere,  etiamsi  nondum  quae 
vel  qualis  sit  sanitatis  ac  remedii  virtus  agnoverit.  haec  de  communibus 
medicis  diximus.  veni  nunc  ad  Jesum  coelestem  medicum,  intra  ad  hanc 
stationem  medicinae  eins  ecclesiam,  vide  ibi  languentium  iacere  multitu- 
dinem.  venit  mulier,  quae  et  partu  immunda  effecta  est,  venit  leprosus,  qui 
extra  castra  separatus  est  pro  immunditia  leprae,  quaerunt  a  medico  remedium, 
quomodo  sanentur,  quomodo  mundentur,  et  quia  Jesus  hie ,  qui  medicus  est, 
ipse  est  et  verbum  dei,  aegris  suis  non  herbarum  succis,  sed  verborum  sacra- 
mentis  medicamenta  conquirit.  quae  verborum  medicamenta  si  quis  incultius 
per  libros  tamquam  per  agros  videat  esse  dispersa,  ignorans  singulorum  dic- 
torum  virtutem,  ut  vilia  haec  et  nulluni  sermonis  cultum  habeutia  j^raeteri- 
bit.  qui  sero  ex  aliqua  parte  didicerit  animarum  ajjud  Christum  esse  medi- 
cinam,  intelliget  profecto  ex  his  libris,  qui  in  ecclesiis  recitantur,  tamquam 
ex  agris  et  montibus,  salutares  herbas  adsumere  unumquemque  debere.  ser- 
monum  dumtaxat  vim,  ut,  si  quis  illi  est  in  anima  languor,  non  tarn  ex- 
terioris  frondis  et  coi-ticis.  quam  succi  interioris  hausta  virtute  sanetur." 

^)  Die  Untugenden  als  Seelenkrankheiten  —  dieses  Thema  wird  von  den 
christlichen  Lehrern  so  häufig  behandelt  wie  von  den  Stoikern;  s.  z.  B.  Orig. 
in  ep.  ad  Rom.  lib.  II  (t.  6,  91  f.):  ,.Languores  quidem  animae  ab  apostolo  in 
his  (Rom.  2,  8)  designantur,  quorum  medelam  nullus  inveniet  nisi  prius  mor- 


96  I^ie  Missiouspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

fassuiig.  „Das  Licht  liat  er  uns  geschenkt,  wie  ein  Yater  haf 
er  zu  uns  als  zu  Söhnen  gesprochen,  die  wir  bereits  verloren 
waren,  hat  ei-  gerettet.  Blind  waren  wir  in  unserem  Sinn,  Steine, 
Holz.  Gold,  Silber  und  Erz  anbetend,  und  unser  Leben  war  nichts 
anderes  als  der  Tod^.''  Das  Sterbliche  wird  das  Unsterbliche 
anziehen,  ja  hat  es  bereits  angezogen,  das  Yergängliche  das  Un- 
vergängliche: das  war  der  Jubelruf  der  alten  Christen,  der  sie 
wa])pnete  gegen  eine  See  von  Plage]!  und  die  Furcht  des  letzten 
Augenblicks  in  einen  Triumpli  verwandelte.  „Jene  elenden  Leute 
haben  sich  in  den  Kopf  gesetzt,  daß  sie  ganz  und  gar  unsterblich 
seien",  sagt  Lucian  im  ,,Peregrinus  Proteus^'.  Er  hätte  gewiß 
einen  Witz  dazu  gemacht,  wenn  ihm  einer  eingefallen  wäre :  aber 
dem  beweglichen  Spötter  ist  bei  der  Schilderung  des  Glaubens 
der  Christen  der  Witz  in  bemerkenswerter  AVeise  abhanden  ge- 
kommen. 

Die  Gesundheit  der  Seele,  das  neue  Leben,  wdrd  geschenkt : 
aber  es  muß  innerlich  angeeignet  werden.  Groß  war  die  Gefahr, 
daß  die  das  übersahen,  welche  gew'olint  w'aren,  aus  allen  mög- 
lichen Mysterien  Weihen  und  überirdische  Güter  fortzutragen,  wie 
man  eine  Sache  fortträgt.  Auch  wäre  es  leicht  zu  zeigen,  wie 
bald  die  Kirche  in  ihrer  Sakramentspraxis  dem  heidnischen 
Mysterienwesen  verfallen  ist.  Aber  so  stark  war  das  einmal  ein- 
gepflanzte Element  der  sittlichen  Forderung ,  der  Reinheit  der 
Seele,  daß  es  sich  in  der  katholischen  Kirche  auch  neben  der 
schlechten  Sakramentspraxis  behauptete.  Seelenheilung  und 
Seelenheil  künde  haben  nie  aufgehört,  ja  ihren  ganzen  dog- 
matischen und  kultischen  Apparat  stellte  die  alte  Kirche  unter 
diesen  Zweck.  Sie  gab  sich  fort  und  fort  als  die  große  Heil- 
anstalt, als  das  Lazaret  der  Menschheit;  die  Heiden,  Sünder  und 
Häretiker  sind  die  Kranken,  die  kirchlichen  Lehren  und  Hand- 
lungen sind  die  Arzneien:  die  Bischöfe  und  Seelsorger  sind  die 
Arzte,  aber  als  solche  nur  die  Diener  Christi,  des  Arztes  der 
Seelen-,  ich  greife  einige  Beispiele  heraus.  „Wie  das  Gut  des 
Leibes  die  Gesundheit  ist,  so  ist  das  Gut  der  Seele  die  Erkenntnis 

borum  cognoverit  causas,  et  ideo  in  divinis  scri])turis  aegritudiiies  animae 
numerantur  et  reniedia  desoriliuntur,  ut  hi ,  ijui  se  apostolicis  subdiderint 
disciplinis,  ex  bis,  quae  scripta  sunt,  agnitis  languoribus  suis  curati  possint 
dicero:  .Lauda  anima  mea  dominum,  qui  sanat  omnes  languores  tuos'.'^ 

')  JI  Clom.  ej).  ad  Cor.  1.  Äbnliches  namentlich  bei  Tatiaii;  aber  es 
fehlt  in  keiner  Apologie  ganz. 

-)  Celsus,  diese  Art  der  christlichen  Predigt  wohl  kennend,  beurteilt 
die  Christen  als  Kurpfuscher :  „Der  Lehrer  des  Christentums  macht  es  wie 
jemand,  der  einem  Kranken  Wiederherstellung  seiner  Gesundheit  verspricht, 
aber  davon  abhält,  daß  man  kundige  Ärzte  hinzuziehe,  damit  .seine  Unwissen- 
heit nicht  von  ihnen  aufgedeckt  werde."    Darauf  erwidert  Origenes:  .Welches 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  97 

Gottes",  sagt  Justin  ^  „Solange  wir  noch  Frist  haben  für  (unsere) 
Heilung,  wollen  wir  uns  dem  Gott,  der  da  heilt,  übergeben  und 
ihm  als  Bezahlung  lautere  Bußgesinnung  weihen-."  „Jesus  hat 
wie  ein  trefflicher  Arzt  um  der  Heilung  der  Kranken  willen  Ab- 
schreckendes untersucht  und  Ekelhaftes  berührt,  bei  fremden 
Leiden  selbst  Schmerz  empfunden  und  ims.  die  wir  nicht  nur 
krank  waren,  nicht  nur  an  schrecklichen  Geschwüren  und  eiternden 
Wunden  litten,  sondern  bereits  unter  den  Toten  lagen,  aus  den 
Abgründen  des  Todes  durch  sich  selbst  errettet  .  .  .  er,  der 
Lebensspender,  der  Lichtspender,  unser  großer  Arzt^,  König  und 
Herr,  der  Christus  Gottes^."  „Der  Arzt  kann  dem  heilungs- 
bedürftigen Leibe  keinerlei  Heilmittel  mit  Erfolg  verordnen,  ohne 
das  im  Leibe  sitzende  Übel  ausgeschieden  oder  das  hinzutretende 
aufgehalten  zu  haben.  Ebenso  kann  der  Lehrer  der  Wahrheit 
mit  seinem  Vortrag  über  die  Wahrheit  niemanden  überzeugen,  so 
lange   noch   ein   L*rtum   in   der  Seele  der  Zuhörer  sich  verborgen 


sind  denn  die  Arzte,  von  denen  wir  die  Einfältigen  fern  halten'?''  Er  zeigt 
dann,  daß  es  die  Philosophen  nicht  sein  können,  noch  weniger  die,  welche 
noch  in  dem  rohen   Aberglauben  des  Polytheismus  befangen  sind    (III,  74). 

^)  Fragm.  IX,  Otto,  Corp.  Apol.  III  p.  258.  Vgl.  dazu  den  schönen 
Wunsch  im  Anfang  des  3.  Johanuesbriefes:  .-teoI  nävion'  sv/ofiai  as  svoöov- 
odai  y.al  vyialveiv,  xadüg  EvoÖovxai  aov  fj   y'v//j. 

•-)  II  Clem.  ad  Cor.  9. 

')  A"gl.  ep.  ad  Diogn.  9,  G.  PseudoJustin,  de  resurr.  10:  „Unser  Arzt, 
Jesus  Christus",  Clemens,  Paedag.  I.  2,  6:  „Der  Logos  des  Vaters  ist  der  ein- 
zige Päonische  Arzt  für  die  menschlichen  Schwächen,  und  der  heilige  Zauberer 
iäywg  ijifodög)  für  die  kranke  Seele"  (folgt  Ps.  86,  2.  3).  ,.Die  Heilkunst 
kuriert  nach  Democrit  die  Krankheiten  des  Körpers,  die  Weisheit  aber  be- 
freit die  Seelen  von  den  Leidenschaften.  Der  gute  Pädagog  aber,  die  Weis- 
heit, der  Logos  des  Vaters ,  der  Schöpfer  des  Menschen ,  kümmert  sich  um 
das  ganze  Gebilde  und  heilt  es  nach  Leib  und  Seele,  er,  o  7iava.oy.ijq  r»)? 
dv&QOj.-TÖrijTog  larodg  6  oonyo.*  Folgt  Marc.  2.  11.  S.  auch  I,  6,  36  u.  I,  12.  100: 
„Deshalb  heißt  auch  der  Logos  , Heiland';  denn  er  hat  für  die  Menschen 
geistige  Arzneien  erfunden  zum  Wohlbefinden  und  zum  Heil ;  er  bewahrt  die 
'Gesundheit,  er  deckt  die  Schäden  auf,  er  bezeichnet  die  Ursachen  der  Leiden- 
schaften, er  amputiert  die  Wurzeln  unvernünftiger  Begierden,  er  schreibt  Diät 
vor,  er  verordnet  alle  heilsamen  Gegengifte  für  die  Kranken.  Denn  das  ist 
das  größte  und  wahrhaft  königliche  Werk  Gottes :  die  Rettung  der  Mensch- 
heit. Dem  Arzt,  der  keinen  Rat  für  die  Gesundheit  gibt,  zürnen  die  Kranken, 
wie  aber  sollten  wir  nicht  dem  göttlichen  Erzieher  Dank  sagen  usw." 
Paedag.  I,  8,  64.  65. 

*)  Euseb.,  h.  e.  X,  4,  11  (die  Stelle  wurde  oben  bereits  berührt),  vgl.  auch 
die  Bezeichnung  der  Bibel  bei  Aphraates  „die  Bücher  des  weisen  Ai-ztes". 
Vgl.  Cyprian,  de  op.  1:  „Christus  ist  verwundet  worden,  um  unsere  Wunden 
zu  heilen  .  .  .  Als  der  Herr  bei  seiner  Ankunft  jene  Wunde,  die  Adam  ver- 
ursacht, geheilt  hatte  usw."  Bei  Cyprian  sind  überhaupt  die  von  der  Krank- 
heit hergenommenen  Bilder  sehr  häufig;  s.  z.  B.  de  habitu  2;  de  unitat.  3; 
de  laps.  14.  34. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  ' 


9S  Die  Missiouspredigt  in  Wort  und  Tat. 

hält  und  den  Beweisen  widersü-ebt  ^."  „Wenn  wir  aus  dem 
Satze:  ,Durch  die  medizinische  Wissenschaft  wird  die  Krankheit 
erkannt',  den  Schluß  ziehen  wollten,  also  sei  die  medizinische 
Wissenschaft  die  Ursache  der  Krankheit,  würden  wir  etwas  Un- 
gereimtes behaupten.  Steht  es  aber  fest,  daß  die  Heilwissenschaft 
etwas  Gutes  ist,  weil  sie  die  Kenntnis  der  Krankheit  lehrt,  so  ist 
auch  das  Gesetz  gut,   durch  welches  die  Sünde  geti-offen  wird 2." 

Von  den  Häretikern  heißt  es  schon  im  2.  Timotheusbrief 
(2,  17),  daß  ihre  Rede  wie  der  „Krebs"  um  sich  fresse.  Dieses 
Wort  ist  sehr  häufig  wiederholt  und  weiter  ausgestaltet  worden: 
„Ihr  Gespräch  steckt  an  wie  die  Pest^."  „Häretiker  sind  schwer 
zu  heilen",  sagt  Ignatius*,  „einen  Arzt  gibt  es  .  .  .  Jesum 
Christum  unseren  Herrn."  Den  häretischen  Irrlehren  gegenüber 
heißt  die  richtige  Lehre  schon  in  den  Pastoralbriefen  die  „gesunde 
Lehre". 

Am  häufigsten  aber  wird  das  Bußverfahren  mit  dem  Heil- 
verfahren verglichen:  „Nicht  alle  Wunden  werden  mit  demselben 
Pflaster  geheilt;  die  Fieberanfälle  stille  durch  mildernde  LTm- 
schläge",  heißt  es  bei  demselben  Ignatius ''.  „Die  Heilung  der 
Leidenschaften",  sagt  Clemens  im  Eingang  des  Pädadog,  „be- 
wirkt der  Logos  durch  Zureden;  er  kräftigt  die  Seelen  mit  milden 
Gesetzen  wie  mit  mildernden  Arzneien  ^  und  disponiert  die  Kran- 


')  Athenag.,  de  resurr.  1. 

^)  Origenes  gegen  die  An  tinomisten,  Conim.  in  Rom.  III,  6.  Lomni. 
T.  VI  p.  195.  Hom.  in  Jerem.  19,  3.  Ähniieh  Clemens,  Paedag.  I,  9,  88:  „Wie 
der  Arzt  dem  Kranken  nicht  böse  ist,  der  ihm  mitteilt,  daß  er  Fieber  habe  — 
denn  der  Arzt  ist  nicht  der  Urheber  des  Fiebers,  sondern  der,  der  es  kon- 
statiert {ovy.  aiTiog,  äX/'  fJsyyo?)  — ,  so  ist  auch  der  Tadelnde  dem,  der  an 
der  Seele  leidet,  nicht  übelwollend."  Vgl.  Methodius  (Opp.  I  p.  52  Bon- 
wet.sch):  ^Wie  wir  nun  einen  Arzt  nicht  tadeln,  der  angesagt,  auf  welche 
Weise  ein  Mensch  gesund  sein  könne  usw."  Vgl.  auch  I,  65:  „Denn  auch 
die  an  den  Leibern  ärztlich  Behandelten,  welche  erkrankt  leiden,  verlangen 
nicht  sofort  Gesundheit,  sondern  durch  die  Hoffnung  der  kommenden  Rettung 
nehmen  sie  Leiden  gern  auf  sich." 

')  Cyprian,  de  laps.  34.  —  *)  Ad  Ephe.s.  7:  (ii'oßcgüjitvToc:. 

'')  Ad  Polyc.  2.  Die  Stelle  ist  allegorisch  zu  verstehen  und  richtet  sich 
an  den  Bischof  Polycarp ,  der  schon  c.  1  ermahnt  worden  war:  „Trage  die 
Krankheiten  aller."  Mit  Sanftmut  und  Weisheit  soll  der  Bischof  gegen  die 
Irrenden  und  geistlich  Kranken  verfahren.  Die  Mahnung  kehrt  in  der  Form, 
in  die  sie  Ignatius  gekleidet  hat,  in  der  späteren  Literatur  sehr  oft  wieder, 
s.  die  gelehrte  Note  von  Lightfoot,  Clem.  Alex.,  Fragm.  (Dindorf  III 
p.  499):  „Mit  einem  Pflaster  wirst  du  dich  selbst  und  den  Nächsten  (der 
dich  verleumdet)  heilen  (wenn  du  der  Verleumdung  sanftmütig  begegnest)." 
Clem.  Homil.  X,  18:  „Man  muß  das  Pflaster  nicht  auf  das  gesunde  Glied  des 
Körpers  legen,  sondern  auf  das  leidende."  Hermes  Trismeg.,  ^tgi  ßoi.  ivl. 
p.  331:   „Brauche  nicht  (immer)  das  nämliche  Pflaster." 

*j  I,  1,  3:  r]7na,  (f^ügfiaxa,  s.  Homer. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Hi'ilung.  99 

ken  zur  vollen  Erkenntnis  der  Wahrheit."  „Lasset  uns  das  Ver- 
fahren der  Ärzte  (bei  Ausübung  der  Sittenzucht)  anwenden",  sagt 
Origenes^:  „wenn  trotz  der  Behandlung  mit  Ol,  der  Pflaster  und 
erweichender  Umschläge  die  Härte  der  Geschwulst  nicht  nachgibt, 
bleibt  nur  noch  das  Mittel  übrig  —  zu  schneiden."  Auf  den 
Einwurf  bußscheuer  Christen,  die  behaupteten,  das  (iffentliche 
Schuldb(>kenntnis  samt  der  Bußleistimg  beleidige  das  Ehrgefühl 
und  sei  jämmerlich,  erwidert  Tertullian'-:  „Nein  —  durch  die 
Sünde  gerät  man  in  die  Jämmerlichkeit;  wo  es  aber  zur  Buße 
kommt,  da  hört  das  Jämmerliche  auf,  weil  das  Heilsame  eintritt. 
Jämmerlich  ist  es  auch,  sich  schneiden,  mit  dem  Eisen  ausbrennen 
mid  durch  ein  ätzendes  Pulver  peinigen  zu  lassen;  allein  bei  den 
Heilmitteln,  die  unter  Schmerzen  Heilung  bewirken,  dient  der 
Vorteil  der  Heilung  zur  Entschuldigung  der  Unbill."  Mit  ihm 
stimmt  Cj^rian  überein,  wenn  er  schreibt^:  „Der  Priester  des 
Herrn  muß  heilsame  Mittel  brauchen*.  Unerfahren  ist  der  Arzt, 
der  angeschwollene  AVundbeulen  mit  schonender  Hand  berührt 
und  das  tief  in  den  inneren  Teilen  eingeschlossene  Gift  sich  ver- 
mehren läßt,  indem  er  es  konserviert.  Die  Wunde  muß  geöffnet 
und  geschnitten  werden,  imd  nach  Entfernung  der  fauligen  Teile 
muß  ein  energisches  Heilverfahren  eintreten.  Mag  auch  der 
Kranke,  weil  er  es  nicht  aushalten  kann,  vor  Schmerz  rufen, 
schreien  und  klagen  —  er  wird  nachher  danken,  wenn  er  Ge- 
nesung verspürt."  Den  ausgeführtesten  Vergleich  aber  zwischen 
einem  Bischof  und  einem  Chirurgen  lesen  wir  in  der  Grundschrift 
der  apostolischen  Konstitutionen^:  „Heile  auch  du  (Bischof)  wie 
ein  mitleidiger  Arzt  alle  Sünder,  indem  du  heilsame,  zur  Rettimg 
dienliche  Mittel  anwendest.  Beschränke  dich  nicht  auf  Schneiden 
und  Brennen  und  auf  die  Anwendung  austrocknender  Streupulver, 
sondern  verbrauche  auch  Verbandzeug  und  Charpie,  gib  milde 
und  zuheilende  Arzneien  und  spende  Trostworte  als  mildernde 
Umschläge.  Wenn  aber  die  Wunde  tief  und  hohl  ist,  so  pflege 
sie  mit  Pflastern,  damit  sie  sich  wieder  fülle  und  dem  Gesmiden 
gleich  wieder  ausheile.  Wenn  sie  aber  eitert,  dann  reinige  sie 
mit  Sti'eupulver,  d.  h.  mit  einer  Sti-afrede;  wenn  sie  sich  aber  durch 

1)  In  1.  Jesu  Nave  VIII,  6  Lomni.  XI,  p.  71.     Cf.  Hom.  in  Jerem.  14,  1. 

2)  De  poenit.  10. 

')  De  lapsis  14.  Bei  Cyprian  wird  das  Büß-  und  das  Heilverfahren  stän- 
dig parallelisiert,  s.  e^).  31,  6.  7;  ep.  55, 16;  ep.  59,  13.  Vgl.  auch  das  römische 
Schreiben,  1.  c.  ep.  30,  3.  5.  7.  Derselbe  Novatian,  von  dem  dieses  Schreiben 
stammt,  schreibt  de  trinifc.  5,  daß  Gottes  Haß  zur  Medizin  diene. 

*)  Vgl.  Pseudociem.  ep.  ad  Jacob.  2:  „Der  Vorsitzende  (der  Bischof) 
muß  (in  der  Gemeinde)  wie  ein  Arzt  walten  und  darf  nicht  heftig  wie  ein 
unvernünftiges  Tier  sein." 

°)  L.  II,  41. 

7* 


{QQ  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

wildes  Fleisch  vergrtißert,  so  mache  sie  mit  scharfer  Salbe  gleich 
d.  h.  durch  Androhmig  des  Gerichts;  wenn  sie  aber  um  sich  frißt, 
so  brenne  sie  mit  Eisen  und  schneide  das  eitrige  Geschwür  aus, 
nämlich  durch  Auferlegung  von  Fasten.  Hast  du  dies  getan  und 
gefunden,  daß  von  Fuß  bis  zvmi  Kopf  kein  milderndes  Pflaster 
aufzulegen  ist,  weder  Ol  noch  Bandage,  sondern  das  Geschwür 
um  sich  greift  und  jedem  Heilungsversuch  zuvorkommt  —  wie 
der  Krebs  jegliches  Glied  in  Fäulnis  versetzt  — ,  dann  schneide 
mit  vieler  Umsicht  und  nach  gepflogener  Beratung  mit  anderen 
erfahrenen  Ärzten  das  faule  Glied  ab,  damit  nicht  der  ganze 
Leib  der  Kirche  verdorben  werde.  Nicht  voreilig  also  sei  zum 
Schneiden  bereit,  und  nicht  so  rasch  stürze  dich  auf  die  viel- 
gezähnte Säge,  sondern  brauche  zuerst  das  Messer  und  entferne 
die  Abszesse,  damit  durch  Entfernung  der  innen  liegenden  Ur- 
sache der  Krankheit  der  Körper  vor  Schmerzen  geschützt  bleibe. 
Triffst  du  aber  einen  Unbußfertigen  und  (innerlich)  Abgestor- 
benen, dann  schneide  ihn  mit  Trauer  und  Schmerz  als  einen 
Unheilbaren  al)  ^.'•' 

Man  kann  nicht  leugnen,  daß  diese  fortgesetzte  Aufmerk- 
samkeit auf  die  „Krankheiten"  der  Sünde  auch  schlimme  Folgen 
hatte.  Nicht  nur  der  ästhethische  Sinn  stumpfte  sich  ab  2,  son- 
dern auch  der  sittlich -tätige.  Man  muß  die  Menschen  auf  das 
Gesunde,  die  edle  Tat,  lenken,  wenn  man  sie  bessern  will;  das 
fortgesetzte  Reden  über  Sünde  und  Yergebung  übt  eine  narko- 
tische Wirkung  aus.  Mindestens  muß  der  Pädagoge  abwechseln 
zwischen  dem  Hinweis  auf  die  Vergangenheit  (die  Schuld,  die 
sittliche  Gebundenheit)   und   dem   Ausblick  auf  die   Zukunft  (das 


')  S.  Clemens  Alex.  Paed.  1.8,  64  f.:  „Viele  Leidenschaften  werden  ge- 
heilt durch  Strafe  und  durch  Anordnung  strengerer  (lebote  .  .  .  der  Tadel 
ist  gleichsam  eine  chirurgische  Operation  für  die  Leidenschaften  der  Seelen ; 
diese  sind  Abszesse  an  der  Wahrheit;  mau  muß  sie  durch  den  Schnitt  des 
Tadels  öffnen.  Der  Tadel  gleicht  einer  Arznei,  die  die  verhärteten  Beulen 
der  Leidenschaften  auflöst  und  das  Häßliche  des  wollüstigen  Lebens  reinigt, 
dazu  die  Hypersarkosen  des  Hochmuts  abträgt  und  den  Menschen  wieder  ge- 
sund und  wahr  macht."  Vgl.  I,  9,  83.  Methodius,  Opp.  I  p.  115  ed.  Bon- 
wetsch. 

-)  An  dieser  Folge  hat  namentlich  der  Kaiser  Julian  Anstoß  genommen 
—  und  mit  Recht.  Es  war  in  der  Kirche  eine  Ästhetik  des  Häßlichen  auf- 
gekommen als  Protest  gegen  die  Sinnlichkeit  des  Heidentums.  Krankheit, 
Tod  und  die  Reste  des  Todes,  Moder  und  Gebeine,  wurden  der  Gesundheit 
und  dem  Schönen  vorgezogen.  Die  Übersinnlichkeit  des  Christentums  suchte 
sieh  einen  Ausdruck  zu  geben  in  den  häßlichen  Fragmenten  des  abgestorbeneu 
Sinnlichen.  Wie  weit  von  diesem  Raffinement  einer  sublimen  Frömmigkeit 
war  der  entfernt,  der  auf  die  Schönheit  der  Lilien  auf  dem  Felde  hingewiesen 
hatte!  Die  Christen  des  3.  u.  4.  Jahrhunderts  fingen  wirklich  an,  die  Krank- 
heit für  gesund  und  den  Tod  für  das  Leben  zu  erklären. 


Das  Evaii<;elium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  1()I 

zu  erstrebende  Ziel  und  die  Anspannung  der  Kräfte).  Die  Theo- 
logen der  alexandrinischcn  Kirche  hatten  für  letzteres  einen  Sinn. 
Aber  indem  sie  das  Bild  des  vollkommenen  Christen  zeichneten, 
des  wahren  Gnostikcrs.  legten  sie  in  einseitiger  Weise  Wert  auf 
das  Wissen  und  die  richtige  Erkenntnis.  Sie  hatten  sich 
nicht  völlig  von  dem  sokratischen  Irrtum  losgemacht,  daß  der 
wissende  Mensch  auch  immer  der  gute  sei.  Zwar  haben  sie 
des  Wisscnsdünkel  der  „Gebildeten"  auf  dem  Boden  der  Religion 
imd  Sittlichkeit  überwunden  ^  In  der  Schrift  des  ürigenes  gegen 
Celsus  finden  sich  vortreffliche  Abschnitte  darüber,  daß  auch  der 
ungebildete  Mensch  Gesundheit  der  Seele  erlangen  muß  und  kann, 
daß  allem  zuvor  Heilung  von  Sünde  und  Kraftlosigkeit  nötig  ist^, 
und  er  trifft  den  Nagel  auf  den  Ko})f,  wenn  er  bemerkt^:  ,,Plato 
und  die  anderen  weisen  Männer  unter  den  Griechen  sind  mit  ihren 
schönen  Aussprüchen  jenen  Ärzten  ähnlich,  die  nur  den  höheren 
Ständen  ihre  Aufmerksamkeit  schenken,  den  gemeinen  Mann  aber 
verachten,  während  die  Jünger  Jesu  dafür  zu  sorgen  bemüht 
sind,  daß  die  große  Menge  der  Menschen  gesunde  Nahrung  er- 
halte*." Allein  Origenes  meint  doch,  daß  es  für  den  weiter- 
strebenden Menschen  nur  ein  Durchgangs p unkt  ist,  die  Reli- 
gion als   Heilmittel   zu   gebrauchen.     Er   ist  überzeugt,    daß    auf 


^)  Clemens  Alex. ,  Strom.  VII,  7,  48 :  log  6  largo?  vyktav  nagiitim  roTg 
ovvegyovoi  Jigog  vyietav ,  omcog  xal  6  Osog  ri/v  dtÖiov  ocorr/oiav  roTg  avvsQyovoi 
jtQog  yvüjaiv  ts  xal  evjigaylav. 

■-)  C.  Geis.  III,  53:  „Wir  heilen  mit  der  Arznei  unserer  Glaubenslehre 
jedes  vernünftige  Wesen." 

ä)  C.  Gels.  VII,  60. 

*)  Eine  sehr  feine  Ausführung  darüber,  daß  der  wahre  Prophet  so  reden 
muß,  daß  die  Menge  —  nicht  nur  die  Gebildeten  —  ihn  verstehen  und  be- 
herzigen kann,  findet  sich  1.  c.  VII,  .59:  „Man  nehme  eine  Speise  an,  die  ge- 
sund ist  und  im  stände,  den  Menschen  zu  nähren  und  zu  stärken,  aber  auf 
eine  Weise  zubereitet  und  mit  süßen  und  leckeren  Zutaten  gewürzt,  daß  sie 
dem  Geschmacke  der  einfachen  Leute,  die  an  solche  Dinge  nicht  gewöhnt 
sind,  wie  den  Bauern,  den  Arbeitern  und  Armen,  nicht  zusagt,  sondern  nur 
den  Reichen  und  Verweichlichten  mundet.  Man  nehme  ferner  an,  diese  näm- 
liche Speise  sei  nicht  so  zubereitet,  wie  die  Feinschmecker  es  lieben,  sondern 
so,  wie  es  der  Arme,  der  Laudmann,  die  überwiegende  Mehrzahl  gewohnt 
ist.  Wenn  nun  der  Annahme  zufolge  die  auf  die  eine  Art  zubereitete  Speise 
nur  allein  den  Feinschmeckern  wohl  bekommt,  von  den  andern  aber  nicht 
gegessen  wird,  während  sie  im  Gegenteil,  auf  die  andere  Art  zubereitet,  un- 
zähligen Menschen  Kraft  und  Stärke  gibt:  von  welcher  Art  von  Speisen 
werden  wir  dann  glauben,  daß  sie  dem  öffentlichen  Wohle  zuträglicher  und 
dienlicher  sei,  von  jener,  die  sich  nur  den  Vornehmen ,  oder  von  dieser,  die 
sich  der  großen  Menge  als  nützlich  erweist  ?  Nehmen  wir  auch  an ,  die 
Speise  sei  gleich  gesund  und  nahrhaft,  mag  sie  nun  auf  diese  oder  auf  jene 
Art  zubereitet  sein,  so  ist  es  doch  klar  und  augenscheinlich,  dalä  der  Menschen- 
liebe und  der  Sorgfalt  für  das  allgemeine  Wohl  besser  genügt  wird  von  einem 


102  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

der  höchsten  Stufe  religiöser  Bildung  alles  Greschichtliche  und 
Positive  in  der  Religion  ebenso  unnötig  wird,  wie  der  Begriff 
Erlösung  und  Heilung  selbst.  Auf  der  höchsten  Stufe  ist  der 
Geist  von  Gott  erfüllt  und  bedarf  keines  „Heilandes",  also  auch 
keines  geschichtlichen  „Christus"  mehr.  „Selig",  ruft  er  aus  ^ 
„sind  diejenigen,  die,  indem  sie  den  Sohn  Gottes  brauchten,  so 
geworden  sind,  daß  sie  ihn  nicht  mehr  als  den  Arzt  nötig  haben, 
der  die  Kranken  heilt,  noch  als  den  Hirten,  noch  einer  Erlösung 
bedürfen,  sondern  nur  Weisheit,  Vernunft  und  Gerechtigkeit". 
Ganz  scharf  scheidet  er  in  der  Schrift  gegen  Celsus  (Hl,  (>!  f.) 
zwischen  zwei  Zwecken  und  Gütern  der  christlichen  Religion, 
einem  niederen  und  einem  höheren.  „Nicht  zu  den  Mysterien 
und  zur  Teilnahme  an  der  Weisheit,  die  im  Geheimnis  verborgen 
liegt,  rufen  wir  den  Ungerechten,  den  Dieb,  den  Einbrecher  u.  s.  w., 
sondern  zur  Heilung.  Denn  ein  Doppeltes  bietet  unsere  göttliche 
Lehre.  Sie  reicht  dem  Kranken  Heilmittel  dar,  und  darauf  be- 
zieht sich  das  Wort:  Nicht  die  Gesunden  bedürfen  des  Arztes, 
sondern  die  Kranken,  und  sie  eröffnet  denen,  die  rein  an  der 
Seele  und  am  Leibe  sind,  das  Geheimnis,  das  seit  ewigen  Zeiten 
verschwiegen  war,  nun  aber  durch  die  prophetischen  Schriften 
offenbart  worden  ist  und  durch  die  Erscheinung  unseres  Herrn 
Jesu  Christi  .  .  .  Gott  das  Wort  ist  demnach  als  Arzt  gesendet 
worden  für  die  Sünder,  als  Lehrer  der  göttlichen  Geheimnisse 
aber  für  die,  welche  bereits  rein  sind  und  nicht  mehr  sündigen^." 
Origenes  verbindet  also  den  altchristlichen  und  den  philo- 
sophischen Religionsbegriff.  Er  erhebt  sich  damit  auch  über  die 
pessimistische  Romantik,  welche  als  Gefahr  jenem  Religions- 
begriff drohte.     Aber    nur  unter  den  Gebildeten  konnte  er  Nach- 


Arzt, der  vielen  die  Gesundheit  geben  und  erhalten  will,  als  von  einem 
anderen,  der  dieses  nur  bei  wenigen  zu  tun  wünscht."  Wie  entfernt  derselbe 
Origenes  von  aller  orthodoxen  Borniertheit  war,  zeigt  folgende  schöne  Aus- 
führung (III,  13):  „Wie  nur  derjenige  in  der  Heilkunsi  tüchtig  wird,  der  die 
verschiedenen  Schulen  studiert  und  nach  sorgfältiger  Prüfung  unter  den  vielen 
an  die  beste  sich  anschließt  .  .  .,  so  besäße  nach  meiner  Meinung  der  die 
gründlichste  Kcmntnis  des  Christentums,  der  von  den  jüdischen  und  christ- 
lichen Sekten  sorgfältig  Einsicht  genommen  hat." 

*)  Conim.  in  Joh.  I,  22  T.  I,  p.  43  Lomm. 

-)  Ebenso  Clemens  Alex.,  Paed.  I,  1,  3:  lam  ovx  saxov  vyisia  xal  yvcöaig, 
ä/./'  /}  fikv  /mi%]OEi,  ij  ök  läoF.i  jTEQiyivsTai.  ovx  av  ovv  rig  voocöv  hi  TTQÖxefiöv  ri 
TÖiv  6i.öaoxahx(7>v  gxfid&oi  jzqIv  t}  rehov  vyiävai.  ov^e.  yag  waamwg  JiQog  rovg 
fiavOdvovTag  i)  xä/.ivovTag  del  rcov  jiaQayysl/tcLT.wv  yxaazor  Uyszat ,  dX^ä  jiQog  ovg 
/XEv  sig  yrwoiv,  tiqoq  ovg  de  Big  i'aoiv.  xad'djT.FQ  ovv  roTg  voaovoi  xo  Oü)/ia  laxQOv 
XQfjLEi,  rmn]j  xal  xoTg  doßEvovai  lijv  y'vyj/r  jraiSayoyov  Sei,  iv  y/^<7n'  marjxai  xa 
miOrj ,  Elia  <)e  xal  di()aoxd?MV ,  og  xadfjyr'/OExai  jroog  xai)a()dv  yva)0£o>g  ejtixijSeiÖ- 
X7JXU  EVTQEJilCoiv  x>i%>  i/'vyj'jv,  övva/iEVijv  y(Ofi}~ioai  xi/v  djtoxdlvtjnv  xov  löyov. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  103 

folger  finden.      Das   christliche   Volk   hielt    an   Jesus,    dorn    Hei- 
lande, fest. 

Das  läßt  sich  bisher  nicht  erweisen,  daß  der  für  uns  im 
fünften  (vielleicht  schon  im  vierten)  Jahrhundert  auftauchende 
Christust^^ius,  der  dann  in  den  bildlichen  Darstellungen  der  herr- 
schende geworden  ist,  dem  Typus  dos  Asculap  nachgebildet  ist. 
Zwar  sind  die  Typen  sich  ähnlich,  die  Prädikate,  die  beiden  ge- 
spendet werden,  zum  Teil  identisch:  auch  ist  es  bisher  nicht  ge- 
nügend aufgeklärt,  warum  man  das  ursprüngliche  Bild  des  jugend- 
lichen Christus  dui'ch  das  neue  Bild  ersetzt  hat:  aber  es  fehlen 
alle  Mittel,  um  die  Entstehmig  des  kallistinischen  Christustypus 
aus  dem  Urbilde  des  Asculap  abzuleiten.  Diese  Ableitung  muß 
deshalb  zur  Zeit  als  eine  ungenügend  begründete,  wenn  auch 
beachtenswerte  Hypothese  gelten.  Ein  positives  Zeugnis  für  sie 
wäre  vorhanden,  wenn  die  Bildsäule,  welche  in  der  Stadt  Paneas 
(Cäsarea  Philippi)  im  4.  Jahrhundert  für  ein  Bild  Jesu  galt ,  ein 
Asculap-Standbild  gewesen  ist.  Eusebius  erzählt  uns  nämlich  ^, 
er  habe  dort  ein  Kunstwerk  an  dem  Hause  gesehen,  welches  das 
von  Jesus  geheilte  blutflüssige  Weib  aus  Dankbarkeit  habe  er- 
richten lassen.  „Es  steht  auf  einer  hohen  Basis  bei  der  Türe 
ihres  Hauses  das  Erzbild  eines  Weibes,  das,  auf  die  Knie  gebeugt, 
wie  eine  Flehende  die  Hand  ausstreckt:  gegenüber  steht  aus 
demselben  Metall  die  Bildsäule  eines  aufrechtstehenden  Mannes, 
der,  ehrbar  in  einen  doppelt  um  den  Leib  geschlagenen  Mantel 
gekleidet,  die  Hand  nach  dem  Weibe  ausstreckt.  Zu  seinen 
Füßen  an  der  Basis  wächst  eine  fremdartige  Pflanze  empor,  die 
bis  an  den  Saum  des  ehernen  Mantels  reicht  und  ein  Heilmittel 
gegen  mancherlei  Krankheiten  ist.  Diese  Mannesgestalt  nun  soll 
das  Bild  Jesu  sein.  Zu  verwundern  ist  es  nicht,  daß  ehemalige 
Heiden,  die  Wohltaten  von  dem  Herrn  empfangen  hatten,  sich 
auf  diese  Weise  dankbar  erwiesen.''  Daß  dieses  Bildwerk  Jesum 
darstellen  sollte  und  von  dem  blutflüssigen  Weibe  errichtet  wor- 
den sei,  ist  aus  verschiedenen  Gründen  unwahrscheinlich"^:  viel- 
mehr hat  man  anzunehmen,  daß  es,  vielleicht  schon  frühe,  von 
der  christlichen  Bevölkerung  in  Paneas  umgedeutet  worden  ist. 
War  es  nun  eine  Äsculapstatue  —  und  dafür  spricht  die  heil- 
kräftige Pflanze  — ,  so  läge  hier  allerdings  ein  Übergang  von 
„Asculap -Soter"  zu  „Jesus-Soter"  vor.  Allein  gesichert  ist  die 
Deutung  auf  den  heidnischen  Heiland  nicht,  und  auch  wenn  sie 
sicher  wäre,  so  ist  eine  generelle  Schlußfolgerung  noch  nicht  ge- 
stattet.   Jedenfalls  unterschätzt  man  den  Abscheu,  den  auch  noch 


1)  H.  e.  VII,  18,  cf.  Philostorg ,  h.  e.  VII.  3. 

*)  S.  Hauck,  Die  Entstehung  des  Christustypus,  1880  S.  8  ff. 


1Q4  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

die  Christen  des  4.  Jahrhunderts  vor  den  heidnischen  Göttern  ge- 
hegt haben,  wenn  man  an  eine  bewußte  Umbihlimg  des  Aseulap- 
bildes  zum  Christusbilde  denken  zu  dürfen  meint  ^. 

Wir  haben  bisher  beti'achtet,  wie  sich  das  älteste  Christentum 
als  Religion  der  „Heilung"  in  den  Gleichnissen,  Gedanken, 
Lehren  und  Bußordnungen  ausgebaut  hat.  Es  erübrigt  noch 
zu  zeigen,  daß  es  diesen  Charakter  auch  in  seinen  Ordnungen 
zur  Pflege  der  leiblich  Kranken  ausgeprägt  hat. 

„Ich  bin  krank  gewesen,  und  ihr  habt  mich  besucht  .... 
Was  ihr  getan  habt  einem  unter  diesen  meinen  geringsten  Brüdern, 
das  habt  ihr  mir  getan."  In  diesen  Worten  hat  der  Stifter  der 
Religion  die  dienende  Liebe  an  den  Kranken  in  den  Mittelpunkt 
der  Religion  gestellt  und  sie  allen  seinen  Jüngern  auf  die  Seele 
gelegt.  Die  alte  Christenheit  hat  diese  Verpflichtung  im  Herzen 
behalten  "^  und  in  der  Tat  verwirklieht.  Man  kann  das  noch  aus 
den  Resten  der  uns  erhaltenen  Literatm-  erkennen,  obgleich  sie 
nicht  zu  dem  Zwecke  geschrieben  ist,  das  Gedächtnis  an  die  Werke 
der  Barmherzigkeit  zu  erhalten.  Zunächst  begegnen  uns  überall 
Mahnungen,  für  die  Kranken  zu  sorgen.  „Tröstet  die  Kleinmütigen, 
nehmt  euch  der  Kranken  an",  schreibt  der  Apostel  Paulus  an 
die  erregte,  die  nächsten  Pflichten  übersehende  Gemeinde  von 
Thessalonich  ^.  In  dem  Kirchengebet,  welches  uns  in  dem  ersten 
Clemensbrief  erhalten  ist,  wird  ausdrücklich  für  die  seelisch  und 
körperlich  Leidenden  gebetet*.     „Ist  jemand  krank,    der  rufe  zu 

^)  Äsculap  war  in  den  Augen  der  Christen  ein  Dämon  und  ein  Götze; 
ihn  konnten  sich  die  Christen  weder  zum  Vorbild  nehmen  noch  mit  ihm 
paktieren.  Von  bildungseifrigen  Christen  in  Rom  wird  wohl  einmal  gesagt 
—  jedoch  von  einem  fanatischen  Gegner  — ,  daß  sie  den  Galen  anbeteten 
(bei  Euseb.,  h.  e.  V,  28),  aber  daß  sie  den  Äsculap  anbeten,  wird  nie  behauptet. 
Zu  den  Stellen,  die  oben  angefahrt  sind,  an  denen  sich  altchristliche  Schrift- 
steller mit  Äsculap  befassen  (vielleicht  wird  bereits  Apoc.  2, 13  auf  ihn  an- 
gespielt), sind  noch  folgende  hinzuzufügen:  Justin,  Apol.  I,  21.  22.  25.  54  [man 
würde  Justin  gründlich  mißverstehen,  wenn  man  aus  diesen  Stellen  irgend 
etwas  zugunsten  des  Gottes  herauslesen  wollte];  Tatian,  Orat.  21;  Theoph. 
ad.  Autol.  I,  9;  Tertull.,  de  anima  1  [eine  für  den  Abscheu  vor  diesem  Gott 
besonders  charakteristische  Stelle];  Cypr.,  Quod  idola  1;  Origenes  c  Cels.  III, 
•S.  22—25.  28.  42.  Eine  euhemeristische  Erklärung  für  den  Gott  gibt  Clemens, 
Protr.  2,  26 :  rov  yag  EveQyeiovvra  fitj  ovvievreg  de6%'  a.vijT}iaoäv  rivag  ocorfjQag 
Aioaxovgovg  .  .  .  xal  'ÄGxXr]jitov  laxQfk'.  Wie  wenig  er  ihm  wohlwill,  zeigen 
mehrere  Stellen,  Protr.  2,  30:  largog  (pdÜQyvgog  fjv,  cf.  4,  52. 

''■)  Vgl.  die  schönen  Ausführungen  des  Lactant.,  Div.  inst.  VI.  12  (nament- 
lich p.  52'J  Brandt):  „aegros  quoque  quibus  defuerit  qui  adsistat,  curandos 
fovendosque  suscipere  summae  hunianitatis  et  magnae  opcrationis  est." 

'^   1,  5,  14. 

■*)  I  Clem.  59:  Tovg  uadn'FTg  [so  ist  wahrscheinlich  zu  lesen]  Yuaai  .... 
y'^uväairioav  rovg  dodr.vovvrag,  JTagaxuXfnov  rovg  oXiyoijwyovvTag.  Vgl.  die  späteren 
Krankengebetslormularicn  von  App.  Const.  VIII,  10  au;  s.  Biuterim,  Denk- 
würdigkeiten VI,  3  S.  17(1. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  1  05 

sich  die  Ältesten  der  Gemeinde",  heißt  es  im  Jacobusbrief  ^  — 
ein  deutlicher  Beweis,  daß  die  Hilfe  in  Krankheitsfällen  als  eine 
Gemeindesache  ^  angesehen  wnrde.  Dies  geht  auch  aus  dem 
Polycarpbrief  hervor,  wo  es  von  den  Obliegenheiten  der  Altesten 
heißt:  „sie  sollen  das  Verirrte  zurückholen,  für  alle  Kranken 
sorgen  und  die  AVitwen,  Waisen  und  Armen  nicht  vernachlässigen^." 
Genaueres  erfahren  wir  von  Justin.  Er  berichtet  uns  in  seiner 
Apologie*,  daß  die  Christen  sonntäglich  freiwillige  Gaben  im 
Gottesdienst  darbringen:  diese  werden  bei  dem  Vorsteher  (dem 
Bischof)  niedergelegt,  und  „er  verwendet  diese  Gaben  für  die 
AVaisen  und  Witwen  und  für  die,  welche  durch  Krankheit  oder 
aus  irgend  einer  anderen  Ursache  Mangel  leiden."  Dasselbe  be- 
richtet Tertullian  im  Apologeticus  ^,  besonders  hervorhebend,  daß 
die  Gemeinde  für  die  arbeitsunfähigen  Greise  sorge.  Wir  erfahren 
weiter  durch  Justin,  daß  es  die  Diakonen  gewesen  sind,  welche 
die  Pflicht  hatten,  zu  den  Krauken  zu  gehen.  —  Spätestens  gegen 
Ende  des  3.  Jahrhunderts  im  Zusammenhang  mit  der  Verehrung 
heiliger  Herren  und  Nothelfer  imd  mit  der  Erbauung  von  Mär- 
tyrer- und  Heiligen-Kapellen  beginnt  in  der  Kirche  die  voll- 
kommene i^achahniung  der  Asculapkulte,  um  von  Krankheiten 
und  Gebrechen  geheilt  zu  werden.  Auch  die  Incubation  muß 
schon  damals  —  wenn  nicht  schon  früher  —  ihren  Anfang  ge- 
nommen haben,  sonst  könnte  sie  im  4.  Jahrhundert  nicht  so  ver- 
breitet gewesen  sein.  In  früherer  Zeit  hatten  sie  Kirchenlehrer 
als  einen  heidnischen  Brauch  abgelehnt;  aber,  wie  so  oft  in 
ähnlichen  Fällen  —  sie  kam  doch,   nur  mit  veränderter  Etikette. 

Die  Kirche  hat  ein  festes  Institut  der  Kranken-  und 
Armenpflege  in  frühester  Zeit  ausgebildet  und  mehrere  Gene- 
rationen hindurch  in  Wirksamkeit  erhalten.  Es  >uhte  auf  der 
breiten  Grundlage  der  Gemeinde;  es  empfing  seine  Weihe  aus  dem 
Gemeidegottesdienst,  aber  es  war  streng  zentralisiert.  Der  Bischof 
war  der  Oberleiter'',  und  in  manchen  Fällen  —  namentlich  in 
Syrien  und  Palästina  —   ist   er  wirklich   zugleich   Arzt   gewesen'^; 


1)  C.  5,  14. 

^)  S.  I  Cor.  12,  26:  „Wenn  ein  Glied  leidet,  so  leiden  alle  Glieder  mit." 

3)  C.  6. 1.  —  *)  C.  67.  —  «)  0.  39.  —  ')  Ap.  Coust.  111,  4. 

')  Achelis,  Die  syrische  Didaskalia  (Texte  u.  Unters.  Bd.  25,  Heft  2, 
1904)  S.  381  sucht  nachzuweisen,  daß  der  Verfas.ser  dieses  Buchs  Bischof  und 
Arzt  zugleich  gewesen  ist.  S.  383  zeigt  er,  daß  ähnliche  Kombinationen 
nicht  ganz  selten  gewesen  sind  (s.  de  Rossi,  Roma  Sott.,  tav.  XXI,  9,  Grab- 
schrift aus  San  Callisto:  Aiowoiov  mtqov  Jigsoßinegov  —  Zenobius,  Arzt  und 
Märtyrer  in  Sidon  zur  Zeit  Diocletians,  Euseb.,  h.  e.  VIII,  13  —  ein  Arzt  und 
Bischof  in  Tiberias,  Epiphan.,  haer.  30,  4  —  Theodotus,  Arzt  und  Bischof  in 
Laodicea  Syr.    —    Basilius,    episcopus    artis    medicinae    gnarus,    zu   Ancyra, 


1 06  Die  Mis^sionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

seine  ausführenden  Organe  waren  die  Diakonen  und  die  angestellten 
„Witwen".  Die  letzteren  sollten  zugleich  vor  Mangel  geschützt 
werden,  indem  sie  in  den  Genieindedienst  aufgenommen  wurden  ^. 
Tn  einer  Anweisung  aus  dem  2.  Jahrhundert  heißt  es'-:  „In  jeder 
Gemeinde  soll  (mindestens)  eine  Witwe  angestellt  werden,  um 
den  von  Krankheiten  heimgesuchten  Frauen  beizustehen^,  die 
dienstfertig  sei,  nüchtern,  das  Nötige  den  Presbytern  meldend, 
nicht  gewinnsüchtig,  nicht  vielem  Weingenuß  ergeben,  damit  sie 
nüchtern  zu  sein  vermag  für  die  nächtlichen  Hilfeleistungen."  Sie 
soll  „den  Presbytern  das  Nötige"  melden,  d.  h.  sie  soll  dem  Clerus 
gegenüber  Dienerin  bleiben-^.  Beiläufig  bemerkt  Tertullian 
einmal  tadelnd  von  den  Weibern  in  den  häretischen  Gemein- 
schaften: „sie  wagen  zu  lehren,  zu  streiten,  zu  exorzisieren.  Hei- 
lungen zu  versprechen,  vielleicht  auch  zu  taufen^."  Ziemlich 
frühe  scheint  im  Orient  das  Institut  der  angestellten  Witwen  in 
das  der  „Diakonissen"  übergegangen  zu  sein:  leider  ist  uns  über 
diesen  Übergang  und  die  Entstehung  der  Diakonissen-Institution 
nichts  bekannt  ^. 

In  der  ältesten  Kirche  traten  die  weiblichen  Pfleger  hinter 
den  männlichen  sehr  zurück.  Die  Diakonen  waren  die  eigent- 
lichen Helfer.  Ihr  Amt  war  schwer  und.  namentlich  in  den 
Zeiten  der  A  erfolgungen,  sehr  exponiert.  Sie  haben  eine  beti-ächt- 
liche  Anzahl  zu  den  Märtyrern  gestellt.  „Täter  guter  Werke, 
Tag  und  Nacht  nach  allem  sehend",  werden  sie  genannt '^.  Die 
Sorge  für  die  Armen  und  Kranken  war  eine  ihrer  Hauptaufgaben  ^. 
Wie  viel  sie  leisten  muläten  und  was  sie  geleistet  haben,  erkennt 


Hierou. ,  de  vir.  inl.  89,  cf.  Canones  Hippol.  c.  :>  §  18:  im  Ordinationsgebet 
für  den  Bischof  und  Presbyter  wird  um  die  Gabe  zu  heilen  gebetet;  c.  8  §  53 
wird  vorausgesetzt,  daß  jemand,  der  die  Ga))e  der  Krankenheihmg  hat,  den 
Antrag  stellt,  daraufhin  in  den  Klerus  aufgenommen  zu  werden).  Vgl.  Texte 
u.  Unters.  Bd.  8,  Heft  4  8.  1  —  14:  .Christliche  Ärzte". 

1)  S.  I  'i'im.  ö,  16.  —  2)  S.  Texte  u.  Unters.  II.  5  S.  -J:'.. 

'j  „Üu  aber.  Witwe,  die  du  ohne  Zucht  bist"  —  heißt  es  iu  der  Didasc. 
syr.  c.  15  S.  80  — .  „du  siehst  wohl  die  Witwen,  deine  Genossinnen,  oder 
deine  Brüder  in  Krankheit,  al)er  du  kümmerst  dich  nicht  um  deine  Glieder, 
für  sie  zu  fasten,  zu  beten,  die  Hand  aufzulegen  und  sie  zu  besuchen,  son- 
dern du  stellst  dich  selbst,  als  wärest  du  nicht  gesund,  oder  als  wärest  du 
nicht  frei." 

*)  .S.  Didasc.  syr.  c.  15  S.  79  f.  —  '>)  De  praescr.  41. 

*)  Sie  werden  zuerst  im  Pliniusbrief  erwähnt. 

')  Texte  u.  Unters.  II,  5  S.  24. 

*)  >S.  Ep.  Pseudoclem.  ad  Jacob.  12:  Oi  rij,-  Ey.y.hjoiag  diäy.ovoi  rov  fjti- 
oy.fjJTOv  ovreTÖJg  {jf/ißoftsvoi  l'nro)oav  oq^Sa'/.uoi ,  ty.äozov  rTjg  gy.y./.tjaiag  no}.v- 
:r[Qay/iovodvTsg  zag  Troa^F.ig  .  .  .  rohg  Ök  >cara  oaQxa  voaovvrag  /itavßavhoyoav  xai 
TM  dyvoovvzi  nh'iütt  nQoaavrißaXlezoioav ,  IV  e7iiqmlvo)vzai ,  xal  zu  ÖEOvza  fJtl  zf] 
zov  TiQoy.aOe^ofiivov  yvojfnj  .-raos/izMoav. 


Das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung.  107 

man  aus  der  Briefsammlung'  Cyprians  ^  und  aus  den  echten 
Märtyrerakten.  Aber  der  Umstand ,  daß  besondere  Kranken- 
pfleger vorhanden  waren,  sollte  den  Laien  nicht  entlasten.  „Die 
Ki-anken  sind  nicht  zu  vernachlässig-en,  noch  soll  einer  sagen: 
ich  habe  das  Dienen  nicht  gelernt.  Niemand  soll  eine  gemäch- 
liche Lebensweise  oder  das  Ungewohntem ,  anderen  hilfreich  zu 
sein,  vorschützen",  heißt  es  im  pseudojustinischen  Brief  an  Zenas 
und  Serenus^.  Daß  sich  die  Nachfolge  Christi  im  Krankendienst 
zeigt,  mit  dem  das  „visitare  pupillos  et  viduas"  häufig  zusammen- 
gestellt wurde,  wird  besonders  vom  Verfasser  des  pseudoclemen- 
tinischen  Briefs  de  virginitate  hervorgehoben.  Dem  Märtyrer 
Seleucus  wird  von  Eusebius^  das  Zeugnis  ausgestellt,  daß  er, 
wie  ein  Vater  und  Beschützer,  der  Waisen  und  hilflosen  Witwen 
und  der  Armen  und  Kranken  Bischof  und  Pfleger  gewesen  sei, 
und  \ie\e  ähnliche  Beispiele  werden  berichtet.  Namentlich  ent- 
flammte die  Pestzeit  den  barmherzigen  Eifer  vieler  Christen. 
„Siehe,  wie  sie  einander  lieben",  hat  Tertullian  aus  heidnischem 
Mmide  öfters  gehört  *,  und  Lucian  bezeugt  es  ^. 

Was  die  therapeutischen  Methoden  anlangt,  so  war  es  wie 
heute:  je  weltflüchtiger  und  weltfeindlicher  die  Christen  waren,  um 
so  skeptischer  und  erbitterter  waren  sie  auch  gegen  die  übliche 
Behandlungsweise  (s.  z.  B.  Tatians  Oratio  c.  17.  18).  Es  gab  — 
und  nicht  nur  den  Dämonischen  gegenüber  (s.  den  folgenden  Ab- 
schnitt) —  eine  therapeutische  „Christian  Science",  aus  neuem 
und  altem  Aberglauben  gemischt.  Als  eine  Probe  vergleiche  man 
Tertull.,  Scorpiace  I  :  „Wir  Christen  machen  über  den  gebissenen 
Fuß  sofort  das  Kreuzeszeichen,  sprechen  eine  Beschwörung  und 
reiben  ihn  mit  dem  zerquetschten  Tier  ein."  Das  Kreuzeszeichen 
und  die  Beschwörung?  allein  taten  es  also  nicht. 


1)  Er  ermahnt  immer  wieder  in  den  Briefen,  die  er  aus  seinem  Versteck 
an  die  Gemeinde  schrieb,  die  Kranken  nicht  zu  vernachlässigen. 

2)  C.  17.  —  »)  De  mart.  Pal.  11,22.  —  *;  Apolog.  -39. 

°)  Auf  den  Kampf,  den  die  Kirche  gegen  die  medizinischen  Sünden, 
z.  B.  die  Fruchtabtreibung  (Didache  2,  2,  Barnab.  19,  5,  Tertull.,  Apolog.  9, 
Minucius  30,2,  Athenag.,  Suppl.  35,  Clem. ,  Paed.  II,  10,  96  etc.),  und  gegen 
die  widernatürlichen,  krankhaften  Laster  des  Heidentums  geführt  hat,  sei 
nur  im  Vorübergehen  hingewiesen.  Die  Kirche  nahm  hier  in  wahrhaft  huma- 
nem Sinne  den  Kampf  auf;  ihr  stand  der  Wert  und  die  Würde  des  mensch- 
lichen Lebens  fest,  das  in  keiner  Entwickelungs.stufe  vernichtet  oder  ge- 
schändet werden  dürfe.  In  bezug  auf  diese  Verbrechen  hat  sie  auch  vom 
4.  Jahrhundert  an  die  Reichsgesetzgebung,  die  ihr  übrigens  im  3.  Jahrhundert 
bereits  selbst  entgegengekommen  war,  beeinflußt. 


108  Die  Misbionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Drittes  Kapitel. 
Fortsetzung:  Der  Kampf  gegen  die  Dämonen ^ 

In  den  ersten  Jahrhunderten  ist  der  Glaube  an  Dämonen 
und  ihre  Herrschaft  in  der  Welt  weit  verbreitet  gewesen.  Dem- 
gemäß glaubte  man  auch  an  dämonische  Besessenheit,  und  folge- 
recht nahm  auch  der  ^Yahnsinn  häufig  die  Form  an,  daß  die 
Kranken  sich  von  einem  oder  mehreren  bösen  Geistern  besessen 
glaubten.  Diese  Form  des  AVahnsinns  kommt  auch  heute  noch 
vor.  ist  aber  selten,  weil  in  weiten  Kreisen  der  Glaube  an  die 
Existenz  imd  Wirksamkeit  von  Dämonen  erloschen  ist.  Die  Er- 
scheinungsformen aber,  in  denen  der  AYahnsinn  sich  ausprägt, 
sind  stets  abhängig  von  dem  allgemeinen  Zustande  der  Kultur 
und  den  Vorstellungen  der  Gesellschaft.  Wo  das  religiöse  Leben 
noch  erregt  ist,  und  wo  zugleich  ein  starker  Glaube  an  die  im- 
heimliche  Tätigkeit  böser  Geister  herrscht,  da  bricht  auch  jetzt 
noch  sporadisch  die  .^Besessenheit"  aus.  ]S^euere  Fälle  haben 
sogar  gezeigt,  daß  ein  überzeugter  „Geisterbeschwörer",  nament- 
lich ein  religiöser,  in  seiner  Umgebung  unfreiwillig  „Besessenheit" 
erst  hervorruft,  um  sie  dann  zu  heilen.  Auch  wirkt  die  „Besessen- 
heit" ansteckend.  Ist  erst  ein  Fall  der  Art  in  einer  Gemeinschaft 
vorgekommen  und  bringt  der  Kranke  selbst  oder  gar  der  Priester 
denselben  in  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  mid  besonderen 
Sündhaftigkeit,  predigt  er  darüber  und  richtet  erschütternde  Worte 
an  die  Gemeinde,  verkündet  er,  daß  hier  wirklich  der  Teufel  sein 
Spiel  treibe,  so  folgt  dem  ersten  Fall  bald  ein  zweiter  und 
dritter-.  Dabei  treten  die  wunderbarsten,  im  einzelnen  noch 
vielfach  unerklärten  Erscheinungen  ein.  Das  Bewußtsein  des 
Kranken,  sein  Wille  und  seine  Aktionssphäre  verdoppeln  sich. 
Mit  vollster  subjektiver  Wahrhaftigkeit  —  Schwindeleien  laufen 
natürlich   immer  mit   unter   —   fühlt   er    sich   selbst  und  dazu  ein 

M  Nach  derselben  Abhandlung,  welcher  der  vorige  Abschnitt  größten- 
teils entnommen  ist.  Vgl.  hierzu  Weinel,  Die  Wirkungen  des  Geistes  und 
der  Geister  im  nachapostolischen  Zeitalter  (1899)  S.  1  ff.  und  den  Artikel 
^Dämonische"'  in  der  Protest.  REncykl.  Bd.  4^'  (J,  Weiss). 

-)  Wie  die  krankliaften  geistigen  Zustände,  besonders  die  Visionen, 
welche  die  Christen  in  den  Gemeindeversammlungen  befielen,  von  der  eben 
gehörten  Predigt  abhängig  waren,  dafür  bietet  Tertulliau,  de  anima  9,  ein 
schönes  15eispiel.  Kine  Schwester,  erzählt  er,  sah  in  der  Vision  eine  Seele  in 
leiblicher  Gestalt,  nachdem  Tertullian  eben  über  die  Seele  (und  zwar  wahr- 
scheinlich über  die  Körperlichkeit  der  Seele)  gepredigt  hatte.  Er  fügt  ganz 
unbefangen  selb.st  hinzu,  daß  die  Visionen  ihren  Inhalt  aus  der  eben  gehörten 
Schriftverlesung,  aus  Psalmen  und  aus  den  Predigten  zu  erhalten  pflegen. 


Der  Kampf  aoc^cii  die  Dämonen.  |09 

zweitos  Wesen  in  sich,  welches  ihn  zwingt  und  beherrscht.  Er 
denkt,  fühlt,  handelt  bald  als  der  eine,  bald  als  der  andere,  und 
von  der  Überzeugung,  ein  Doppelwesen  zu  sein,  durchdrungen, 
bestärkt  er  sich  selbst  und  seine  Umgebimg  durch  ersonnene, 
wenn  auch  innerlich  erzwungene.  Handlungen  in  diesem  (jjauben. 
Abgenötigter  Selbstbeti'ug.  schlaue  Aktivität  imd  hilfloseste  Passi- 
vität sind  in  miheimlicher  Weise  verbunden  und  vollenden  das 
Bild  einer  seelischen  Krankheit,  die  in  der  Regel  auch  die  höchste 
Empfänglichkeit  für  die  „Suggestion"  zeigt  und  deshalb  zur  Zeit 
häufig  noch  einer  wissenschaftlichen  Analyse  spottet,  es  jedem 
freilassend,  besondere  geheimnisvolle  Kräfte  hier  wirksam  zu 
denken.  Es  gibt  auf  diesem  Gebiete  Tatsachen,  die  man  nicht 
wegleugnen  kann  und  doch  nicht  zu  erklären  vermag  ^  Aber 
noch  mehr:  es  gibt  hier  „Krankheiten",  von  denen  um-  die  IH^er- 
menschen  befallen  werden,  und  sie  schöpfen  aus  dieser  „Krank- 
heit" ein  bisher  ungeahntes  neues  Leben,  eine  alle  Hemmnisse 
niederwerfende  Energie  und  den  Eifer  des  Propheten  oder  Apostels. 
Ton  dieser  „Besessenheit"  ist  hier  nicht  die  Rede;  denn  sie  be- 
steht nur  für  den  Glauben  oder  L'nglauben. 

Wo  die  Krankheit  bei  Menschen  gewöhnlichen  Schlages  mid 
im  Zusammenhang  mit  der  Religion  auftritt,  da  ist  die  Prognose 
keine  ungünstige.  Die  Religion,  welche  sie  zur  Reife  bringt, 
vermag  sie  in  der  Regel  auch  zu  heilen.  Vor  allem  der  christ- 
lichen Religion  wohnt  diese  Kraft  inne.  Wo  ein  leeres  oder 
sündhaftes,  fast  dem  Tode  verfallenes  Leben  plötzlich  durch  die 
Predigt  dieser  Religion  erweckt  wird  und  der  Schrecken  über 
die  Knechtschaft  des  Bösen  in  die  Vorstellung  wirklicher  Besessen- 
heit übergeht,  da  wird  die  Botschaft  von  der  Gnade  Gottes,  die 
in  Jesus  Christus  erschienen  ist,  die  gebundene  Seele  wieder  be- 
freien. Die  Blätter  der  Kirchengeschichte  vom  Anfang  bis  auf 
den  heutigen  Tag  legen  dafür  Zeugnis  ab.  Wenn  sie  in  unserer 
Zeit  nur  mit  wenigen  Zeilen,  in  den  ersten  drei  Jahrhunderten 
bis  zum  Rande  beschrieben  sind,  so  ist  der  Grund  nicht  in  den 
selteneren  Heilungen,  sondern  in  dem  selteneren  Auftreten  der 
Krankheit  zu  suchen. 

Die  bloße  Botschaft,  die  christliche  Predigt  allein,  genügt 
freilich  nicht,  um  die  Ki'ankheit  zu  heilen.  Hinter  ihr  muß  ein 
überzeugter  Glaube,    eine  von   diesem  Glauben  getragene  Person 


^)  Vgl.  das  Lebensbild  Blumhards  von  Zündel  (1881),  Ribot,  Las 
maladies  de  la  personnalite,  Paris  1885,  Derselbe,  Les  tnaladies  de  la 
memoire,  Paris  1881,  und  Les  maladies  de  la  volonte,  Paris  1883.  S.  auch 
das  Werk  von  Jundt,  Rulman  Merswin.  Un  probleme  de  psychologie  reli- 
gieuse,  Paris  1890,  besonders  p.  96ff. ,  ferner  die  Untersuchungen  von  Forel 
und  Krafft-Ebins". 


110  Die  Missiouspredigt   in  Wort  uud  Tat. 

stehen.  Nicht  das  Gebet  heilt,  sondern  der  Beter,  nicht  die 
Formel,  sondern  der  Geist,  nicht  der  Exorzismus,  sondern  der 
Exorzist.  Nur  wo  die  Krankheit,  wie  wir  das  von  nicht  wenigen 
Fällen  des  2.  Jahrhunderts  voraussetzen  müssen,  epidemisch  imd 
fast  gewöluilich  geworden  ist,  ja  sogar  etwas  Konventionelles  be- 
kommen hat,  da  genügen  auch  konventionelle  Mittel.  Der  Exorzist 
wird  zum  Magnetiseur,  wohl  auch  zum  betrogenen  Betrüger. 
Aber  wo  eine  starke  Individualität  vom  Dämon  des  Schreckens 
um  sich  selber  betrogen  wird  und  die  Seele  wirklich  erschüttert 
ist  durch  die  Macht  der  Finsternis,  die  sie  besitzt,  und  der  sie 
doch  bereits  entfliehen  wnll,  da  muß  ein  starker  heiliger  AVille 
von  außen  den  gebundenen  Willen  befreien.  Dort  und  hier 
handelt  es  sich  um  das.  was  man  aus  Verlegenheit  in  neuerer 
Zeit  „Suggestion"  nennt;  aber  anders  „suggeriert"  der  Prophet, 
anders  der  professionelle  Exorzist. 

Der  Glaube  an  die  Wirksamkeit  der  Dämonen  hat  sich  in 
der  Form,  wie  wir  ihn  in  den  jüngsten  Büchern  des  griechischen 
Alten  Testaments,  im  Neuen  Testament  und  in  den  jüdischen 
Schriften  der  Kaiserzeit  finden,  verhältnismäßig  spät  bei  den  Juden 
entwickelt.  Damals  aber  stand  er  in  vollster  Blüte  ^.  Um  die- 
selbe Zeit  begann  er  auch  bei  den  Griechen  und  Römern  über- 
hand zu  nehmen.  Es  ist  bisher  noch  nicht  erklärt  worden,  wie 
diese  dazu  gekommen  sind.  Daß  die  Form  des  Dämonenglaubens, 
wie  wir  sie  vom  2.  Jahrhundert  an  überall  im  Reiche  verbreitet 
finden,  lediglich  auf  jüdische  oder  gar  auf  christliche  Einflüsse 
zurückzuführen  sei,  ist  unmöglich.  Aber  ihren  Beitrag  zur  Ein- 
bürgerung des  Glaubens,  oder  richtiger  zur  Faitwicklung  des  alt- 
griechischen und  dann  auch  von  den  IMiilosophen  (Plato)  genährten 
Geisterglaubens  in  einer  ganz  bestimmten  Richtung  mögen  diese 
Religionen  ebenso  geliefert  haben,  wie  andere  orientalische,  vor 
allem  die  ägyptische^,  deren  Priester  von  alten  Zeiten  her  be- 
rühmte Exorzisten  waren.  Im  zweiten  Jahrhundert  gab  es  einen 
Stand  von  Exorzisten,  wie  es  heute  neben  den  gelehrten  Ärzten 
„Naturärzte"  gibt.  Aber  verständige  Leute  waren  doch  skeptisch, 
und  der  große  Jurist  Hlpian  —  es  war  dies  damals  eine  ebenso 
brennende  Frage  wi(5  h(uite  —  wollte  sie  nicht  in  den  Stand  der 


*)  S.  die  interessante  Stelle  Joseph.  Antiq.  Vlll,  2,5:  Tlagioxe  ^o/.oftwvi 
fiaOnv  (')  t)e(K  xal  Trjv  xatn  rwv  daifiövcov  ti^vip'  slg  wffsXeiav  xal  'dfQansiav 
loig  dvdfjwjioig '  fjkoSÜi;  te  awru^äfievog  aig  JiaQt]yoQÜTai  ra  voorjfiaTa  xai  t()o- 
jiovg  i^0£)xwo£(ov  y.arihMFV,  oTg  oi  evöov/Jfvoi  xa  (iai/iövia  cbg  (.irjxET  gjiaveh'Jfii' 
Fxbioj^ovoi.  xal  uikrj  fiexQt  vvv  Jiag''  r/fiTv  r/  ösQaneia  nXeiaro^'  lap'ii.  Man 
vergleiche  die  Geschichte,  die  nun  folgt.  Die  Juden  müssen  im  Reiche  als 
Exorzisten  bekannt  gewesen  sein. 

'^)  Auch  die  persische. 


Der  K;ini})t'  gegeu  die  Dämonen.  \\l 

Ärzte  eingcreelinet  wissen;  freilich  war  es  ihm  sogar  zweifelhaft, 
ob  die   „Spezialisten"  Arzte  im  Sinne  des  Gesetzes  seiend 

Das  Eigentümliche  des  Dämonenglaubens-  im  2.  Jahrhundert 
besteht  erstlich  darin,  daß  er  aus  den  dunklen  unteren 
Schichten  in  die  oberen,  selbst  in  die  Literatur,  empordringt 
und  eine  ungleich  wichtigere  Sache  wird  als  ehedem,  zweitens 
daß  er  keine  kräftige  naive  öffentliche  Religion  mehr 
neben  sich  hat,  die  ihn  niederhält,  ferner  daß  die  bisher  als 
sittlich  indiiferent  gedachte  Macht  des  Dämon  sich  in  die  Vor- 
stellung von  der  Schlechtigkeit  desselben  wandelt,  und  endlich  in 
der  individuellen  Applikation  des  neuen  Glaubens,  die  dann 
auch  die  seelischen  Krankheiten  zu  ihrer  Folge  hatte.  Faßt  man 
diese  Momente  zusammen,  so  sind  die  außerordentliche  Verbreitung 
des  Dämonenglaubens  und  die  zahlreichen  Ausbrüche  der  dämo- 
nischen Krankheit  auf  das  Zusammenwirken  der  bekannten  Tat- 
sachen zurückzuführen,  daß  in  der  Kaiserzeit  das  Zutrauen  zu  den 
alten  Keligionen  dahinschwand,  das  Individuum  aber  als  freies 
und  abhängiges  sich  zu  fühlen  begann  und  darum  auch  auf  seinen 
eigenen  Kern  und  die  eigene  Verantwortimg  stieß.  Von  keiner 
Überlieferung  mehr  gezügelt  und  gehalten,  irrt  es  unter  den  zu 
leblosen  Fragmenten  gewordenen,  zusammengewürfelten  Über- 
lieferungen einer  im  Untergang  begrifiFenen  Welt  umher,  bald 
diese,  bald  jene  hervorsuchend,  um  schließlich  oft,  von  Furcht 
und  Hoffnung  getrieben,  am  Absurdesten  einen  trügerischen  Halt 
zu  finden  oder  an  ihm  zu  erkranken^. 

In  diese  Situation  ist  das  Evangelium  eingetreten.  Spottend 
hat  man  gesagt,  es  habe  erst  die  Krankheiten  erzeugt,  die  es  zu 
heilen  verkündete.  Aber  der  Spott,  in  einzelnen  Fällen  berechtigt, 
fällt  in  der  Hauptsache  auf  den  Spötter  zurück.  Das  Evangelium 
hat  die  Krankheiten  zur  Reife  gebracht,  die  es  dann  geheilt  hat. 
Es  fand  sie  vor  und  hat  sie  durch  seine  eigene  Mission  gesteigert. 
Aber  es  hat  sie  auch  geheilt,  und  die  kühnste  Phantasie  vermag 
sich  kein  Bild  zu  machen,  was  aus  dem  Reiche  des  3.  Jahrhundets, 
was  aus  der  alten  Welt  geworden  wäre  ohne  die  Kirche.  Pro- 
fessoren wie  Libanius  oder  wie  seine  Kollegen  an  der  Hochschule 


')  S.  die  merkwürdige  Stelle  Dig.  L,  XIII,  c.  1,  §  3:  „Medicos  fortassis 
quis  accipiet  etiam  eos,  qui  alicuius  partis  corporis  vel  certi  doloris  Sani- 
tätern pollicentur:  ut  puta  si  auricularis,  si  fistula  vel  dentium,  non  tarnen 
si  incantavit,  si  inprecatus  est,  si,  ut  vulgari  verbo  inpostorum  utar,  exorci- 
zavit:  non  sunt  ista  medicinae  genera,  tametsi  siut,  qui  hos  sibi  profuisse 
cum  praedicatione  adfirmant." 

^)  Die  wissenschaftliche  (philosophische)  Grundlegung  und  Ausführung 
des  Dämonenglaubens  geht  auf  Xenocrates  zurück ;  nach  ihm  ist  Posidonius 
besonders  zu  nennen,  vgl.  Apulejus,  de  deo  Socratis. 

')  Von  einer  ^aocpia  öaifioviwötjg^  redet  der  Jacobusbrief  (3, 15). 


112  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

zu  Atlion  sind  freilicli  unsterblich,  und  sie  können  sich,  wesentlich 
unverändert,  in  allen  Jahrhunderten  erhalten;  aber  Völker  leben 
nicht  von  der  Kost  der  Rhetoren  und  Philosophen.  Das  alte  Rom 
hat  beim  Ausgang  des  4.  Jahrhunderts  nur  einen  Symmachus  be- 
sessen, der  Osten  nur  einen  Synesius,  aber  Synesius  wurde  Christ. 
Tch  beabsichtige,  im  folgenden  einige  wichtige  Nachrichten 
über  die  Besessenheit  und  die  Heilung  von  Besessenen,  die  uns 
aus  der  alten  Kirchengeschichte  erhalten  sind,  ohne  Kommentar 
zusammenzustellen.  An  einer  Stelle  werde  ich  ein  Bild  geben 
von  der  Yerbreitung  und  der  Art  des  Dämonenglaubens.  Tertullian 
hat  es  gezeichnet;  man  tut  nicht  gut,  an  Tertullian  vorüberzugehen. 
Um  den  Wert,  welchen  die  Exorzismen  für  die  älteste  Christen- 
heit besaßen,  zu  würdigen,  muß  man  sich  erinnern,  daß  nach  dem 
Glauben  der  Christen  der  Sohn  Gottes  in  die  Welt  gekommen 
ist,  um  den  Satan  und  sein  Reich  zu  bekämpfen.  Die  Evangelisten, 
besonders  Lucas,  haben  das  Leben  Jesu  von  der  Yersuchungs- 
geschichte  an  als  unaufhörlichen  Kampf  gegen  den  Teufel  ge- 
schildert: er  ist  gekommen,  um  die  Werke  des  Teufels  zu  zerstören. 
Tm  Marcus-Evangelium  heißt  es  (1,  32).  man  habe  viele  Besessene 
zu  Jesus  gebracht,  und  er  habe  sie  geheilt,  indem  er  die  Dämonen 
austrieb  (1,  34).  „Er  ließ  die  Dämonen  nicht  reden:  denn  sie 
kannten  ihn"  (vgl.  auch  Luc.  4,  34.  41).  Generell  wird  (l,  39) 
erzählt:  ,,Er  predigte  in  den  Synagogen  in  ganz  Galiläa  imd  trieb 
die  Dämonen  aus."  Den  zwölf  Jüngern  verlieh  er  bei  der  Aus- 
sendung die  Macht  des  Exorzismus  (3,  15),  die  sie  auch  sofort 
ausübten  (ß,  13:  vgl.  für  die  70  Jünger  Luc.  10,  17):  aber  die  jeru- 
salemischen Schriftgelehrten  sagen  von  ihm,  daß  er  den  Beelze- 
bul  habe^  und  die  Dämonen  durch  den  Obersten  der  Dämonen 
austreibe  (3,  22)  -.  Die  Geschichte  von  den  „unsauberen  Geistern", 
die  in  die  Herde  Säue  fahren,  ist  hinreichend  bekannt  (5,  2  ff.): 
sie  bildet  eines  der  seltsamsten  Stücke  der  heiligen  Geschichte, 
an  dem  sich  die  gläubige  und  rationalistische  Erklärung  vergebens 
abgemüht  hat.  Eine  andere  uns  näher  berührende  Geschichte  ist 
die  von  d(;r  besessenen  Tochter  des  kananäischen  Weibes  (7.  25  ff.). 
Daß  auch  epileptische  Krämpfe  als  Besessenheit  gedeutet  wurden, 
sowie  andere  neivöse  Störungen  (auch  Stumndicit,  s.  Matth.  12,22: 
J.uc.  II.  14),  zeigt  die  Erzählung  Matth.  17.  15  ff.  (Luc.  9,38). 
bemerkenswert  ist,  daß  schon  bei  Lebzeiten  Jesu  Exorzisten, 
ohne  von  ihm  besonders  autorisiert  zu  sein,  in  seinem  Namen 
Teufel  beschworen.    Das  hat  Anlaß  zu  einem  wichtigen  Gespräch 

')  Auch  vou  .lohannes  dem  Tilufer  hieß  es,  er  sei  besessen;  s.  Matth.  11, 18. 

")  Jesus  sell)st  erklärt,  daß  er  die  Dämonen  durch  den  Geist  Gottes 
austreibe.  Matth.  12,28;  aber  der  Vorwurf  scheint  öfters  wiederholt  worden 
zu  sein,  daß  er  den  Teufel  habe  und  rase;  s.  Joh.  7,20;  8,  48  f.;  10,20. 


Der  Kampf  gegen  die  Dämonen.  [\^ 

zwischen  Jesus  und  Johannes  gegeben  (Marc.  9,  38) :  „Johannes 
sprach  zai  Jesus:  Meister,  wir  sahen  einen,  der  in  deinem  Namen 
Dämonen  austrieb,  und  wir  wehrten  es  ihm,  weil  er  uns  nicht 
nachfolgte.  Jesus  aber  antwortete:  Wehret  ihm  nicht;  denn  es 
ist  niemand,  der  eine  Krafttat  tut  in  meinem  Namen  und  mich 
alsbald  schmähet:  denn  wer  nicht  wider  uns  ist.  der  ist  füi'  uns." 
Aber  andererseits  gibt  es  nach  einem  anderen  Herrnwort  unter 
denen,  die  in  seinem  Namen  Teufel  austreiben,  solche,  die  er  nie 
erkannt  hat  (Matth.  7,  22).  Von  einer  der  Frauen  in  der  Be- 
gleitimg Jesu  war  auch  später  noch  bekannt,  daß  er  ihr  „sieben 
Dämonen"  ausgetrieben  hatte  (Marc.  16,  9;  Luc.  8,  2),  und  unter 
die  Krafttaten,  mit  denen  alle  Gläubigen  ausgerüstet  werden 
sollten,  zählte  man  nach  dem  unechten  Schluß  des  Marcus-Evan- 
geliums auch  den  Exorzismus  (16,  17)^. 

Als  Dämonenbeschwörer  sind  die  Christen  in  die  große  Welt 
eingetreten,  und  die  Beschwörung  war  ein  sehr  wichtiges 
Mittel  der  Mission  und  Propaganda.  Es  handelte  sich 
dabei  um  die  Beschwörung  und  Besiegung  der  in  den 
einzelnen  Menschen  wohnenden  Dämonen,  aber  auch 
um  die  Reinigung  des  ganzen  öffentlichen  Lebens  von 
ihnen.  Denn  das  Saeculum  steht  unter  der  Herrschaft 
des  Schwarzen  und  seiner  Scharen  (Barnabas);  xsTrai  Iv 
Tiovfjocp  (Johannes).  Das  war  keine  blasse  Theorie,  sondern 
lebendigste  Anschauung.  Die  ganze  Welt  und  der  Luftraum, 
der  sie  umgibt,  ist  von  Teufeln  erfüllt;  alle  Formen  des  Lebens 
—  nicht  nur  der  Götzendienst  —  sind  von  ihnen  beherrscht.  Sie 
sitzen  auf  den  Thronen  und  umschweben  die  Wiege  des  Kindes. 
Die  Erde  ist  recht  eigentlich  eine  Hölle  geworden,  obgleich  sie 
Schöpfung  Gottes  ist  und  bleibt.  Aber  dieser  Hölle  und  den 
Teufeln  gegenüber  verfügen  die  Christen  über  unbezwingliche 
Waffen.  Neben  dem  Beweise,  den  sie  aus  dem  Alter  ihrer 
Schriften  führten,  verwiesen  sie  auf  die  ihnen  verliehene  Kraft  des 
Exorzismus,  der  die  bösen  Geister  in  die  Flucht  schlage  und  sie 
sogar  zwinge,  für  die  Wahrheit  ihrer  Religion  Zeugnis  zu  geben. 
„AVir  haben",  sagt  Tertullian  am  Schluß  des  Apologeticus  (c.  46), 
„euch  imseren  ganzen  Zustand  dargelegt  und  auch  die  Beweise 
für-  die  Wahrheit  unserer  Sache,  nämlich  die  Glaubwürdigkeit 
und  das  Altertum  der  göttlichen  Schriften  und  zweitens 
das  Geständnis  der  dämonischen  Mächte  (für  uns)."  Ein 
solches  Gewicht  legte  man  auf  die  Tätigkeit  der  Exorzisten^! 

^)  Er  ist  hier  sogar  als  erstes  Stück  genannt. 

-)  In  dem  j^seudoclementinischen  Brief  .über  die  Jungfräulichkeit" 
sind  Schriftvorlesung,  Exorzismus  und  Lehre  als  die  Avichtigsten  religiösen 
Funktionen  zusammengestellt  (1. 10). 

Harnack,  Mission.     2.  Aufl.  8 


]  1  4  Die  Mi.ssionspredigt  in  Wort  uud  Tat. 

In  den  Paulusbriefcn  ^  in  dem  Briefe  des  Plinius  und  in  der 
Didache  ist  von  ihnen  allerdings  nicht  die  Rede"^.  Aber  seit  der 
Zeit  Justins  ist  die  christhche  Literatur  angefüllt  von  den  Hin- 
weisen auf  die  Dämonenbeschwörungen,  und  mindestens  jede 
o-rößere  Gemeinde  besaß  Exorzisten,  die  ursprünghch  als  be- 
sonders begnadigte  Menschen  angesehen  \\aii'den,  später  aber  einen 
eigenen  Stand  in  der  niederen  Hierarchie  neben  den  Lektoren 
und  Subdiakonen  bildeten.  Indem  sie  zu  einem  eigenen  Stande 
wm-den.  hörten  sie  auf,  das  zu  sein,  was  sie  früher  gewesen 
waren  ^.  Die  Kirche  zog  eine  feste  Grenze  zwischen  ihren  Exor- 
zisten, die  im  Namen  Christi  handelten,  und  den  heidnischen 
Magiern,  Zauberern  u.  dgl.  ^  Dennoch  vermochte  sie  sich  gegen 
gewinnsüchtige  Schwindler  nicht  genügend  zu  schützen,  und 
manche  ihrer  Exorzisten  waren  ebenso  zweideutige  Leute  wie 
ihre  „Propheten".  Die  hohe  Schule  religiöser  Schwindeleien  war 
in  Ägvpten,  worüber  sowohl  Lucians  „Peregrinus  Proteus"  als 
Cclsus  und  der  Brief  des  Hadrian  an  den  Servian  belehren^. 
Sehr  frühe  schon  haben  heidnische  Beschwörer  den  Xamen  der 
Patriarchen^.  Salomos,  ja  sogar  Jesu  Christi  in  ihre  Zauber- 
formeln aufgenommen:  auch  jüdische  Exorzisten  fingen  bald  an. 
den    Namen    Jesu    in    ihre    Sprüche    einzuflechten ".      L'mgekehrt 


1)  Doch  s.  Ephes.  6,  12:  II  Cor.  12,  7  usw. 

-)  Es  ist  bisher  unerklärt.  dal.i  bei  Paulus  die  Dämouenbeschwörungen 
fehlen.     Übrigens  ist  seine  Sündenlehre  ihnen  nicht  günstig. 

')  Die  Geschichte  des  Exorzismus  (bei  der  Taufe  und  als  selbständige 
Handlung)  und  der  Exorzisten  ist  viel  zu  umfangreich  und  zum  Teil  noch 
zu  wenig  erforscht,  um  hier  abgehandelt  werden  zu  können.  Von  den  sog. 
Zauberpapyri,  die  in  immer  größerer  Anzahl  auftauchen,  ist  noch  manches 
zu  erwarten.  Insofern  Exorzismus  uud  Exorzisten  in  das  öffentliche  Leben 
der  Kirche  fielen,  vgl.  Probst,  Sakramente  und  Sakramentalieu  S.  39ft'.: 
Kii-chliche  Disziplin  S.  116  ff. 

*)  Vgl.  die  Apologeten,  die  Schrift  des  Origenes  c.  Celsum  und  die 
Bestimmung  in  den  Canones  Hippolyti  (Texte  u.  untersuch.  VI,  4  S.  83f.): 
„  Otco)'«oT>;c  vel  magus  vel  astrologus,  hariolus,  somniorum  interpres,  prae- 
stigiator  .  .  .  vel  qui  phylacteria  conticit  .  .  .  hi  omnes  et  qui  sunt  similes 
his  neque  instruendi  neque  baptizandi  sunt."  Vgl.  auch  die  Polemik  gegen 
die  magischen  Künste  der  Gnostiker. 

^)  Vopiscus,  Saturn.  8:  „nemo  illic  archisynagogus  Judacorum,  nemo 
Samarites,  nemo  Ohristianorum  presbyter.  non  mathematicus ,  non  haruspex, 
uon  aliptes." 

«)  S.  Orig.  c.  Cels.  I,  22. 

■')  S.  den  Bericht  über  jüdische  Exorzisten  in  der  Apostelgeschichte 
(19,13):  „Es  unterwanden  sich  aber  auch  etliche  der  umlaufenden  jüdischen 
Beschwörer  (in  Ephesus),  den  Namen  des  Herrn  Jesus  über  die  von  bösen 
Geistern  Besessenen  auszusprechen,  indem  sie  sagten:  Ich  beschwöre  euch 
bei  dem  Jesus,  den  Paulus  verkündigt."  —  Pseudocyprian,  de  rebapt.  7.  räumt 
ein,  daß  auch  Nichtchristen  Dämonen  manchmal  wirksam  mit  dem  Namen 
Christi  austreiben. 


Der  Kampf  gegen  die  Dämonen.  |  15 

mußte  die  Kirche  ihre  eigenen  Exorzisten  ermahnen,  es  nicht  den 
Heiden  nachzumachen.  In  dem  pseudoclementinischen  Briefe 
„über  die  Jungfräulichkeit"  heißt  es  (I,  12):  „Auch  dies  ziemt 
den  Brüdern  in  Christo  und  ist  gerecht  und  ihnen  rühmlich,  daß 
sie  die  besuchen,  die  von  bösen  Geistern  gequält  werden,  und 
beten  und  Beschwörungen  über  sie  in  geziemender  AYeise  anstellen 
in  Bittworten,  die  vor  Gott  angenehm  sind,  nicht  aber  in  glän- 
zenden imd  langen  Reden,  wohlgesetzt  mid  ausstudiert,  um  vor 
den  Menschen  als  beredt  und  mit  einem  guten  Gedächtnis  begabt 
zu  erscheinen.  Solche  Menschen  gleichen  in  ihrem  Geschwätz 
einem  tönenden  Erz  oder  einer  klingenden  Schelle  und  nützen 
denen  nichts,  über  die  sie  ihre  Beschwörmigen  anstellen,  sondern 
bringen  nur  schreckliche  Worte  hervor,  mit  denen  sie  die  Leute 
in  Furcht  jagen,  nicht  aber  handeln  sie  mit  wahrem  Glauben 
nach  der  Lehre  des  Herrn,  der  gesagt  hat:  ,Diese  Art  fährt  nicht 
aus  demi  durch  Fasten  und  festes  und  unablässiges  Gebet  und 
durch  die  Anspannimg  des  Gemüts  (auf  Gott).'  So  mögen  sie 
also  heiliges  Flehen  und  Beten  zu  Gott  richten  mit  Freudigkeit 
und  aller  Nüchternheit  und  Keuschheit,  ohne  Haß  und  ohne  Bos- 
heit. So  sollen  wir  die  kranken  (besessenen)  Brüder  und 
Schwestern  besuchen  .  .  .  ohne  Falsch  und  ohne  Geldgier  und 
Gepränge  und  ohne  Geschwätz  und  ohne  Yielgeschäftigkeit.  welche 
der  Frömmigkeit  fremd  ist,  und  ohne  Stolz,  sondern  mit  dem 
demütigen  mid  bescheidenen  Simi  Christi.  So  mögen  sie  die 
Kranken  also  mit  Fasten  und  Gebet  exorzisieren ,  nicht  aber  mit 
eleganten,  gelehrt  zusammengestellten  und  wohldisponierten  Reden, 
sondern  wie  Menschen,  die  von  Gott  das  Charisma  der  Heilung 
erhalten  haben,  zuversichtlich,  zum  Lobe  Gottes.  Durch  euer 
Fasten  und  durch  Flehen  mid  beständige  Nachtwachen  und  durch 
die  anderen  guten  Werke,  die  ihr  tut.  tötet  die  Werke  des 
Fleisches  durch  die  Kraft  des  heiligen  Geistes.  Wer  so  handelt, 
der  ist  ein  Tempel  des  heiligen  Geistes  Gottes:  ein  solcher  möge 
die  Dämonen  austreiben,  und  Gott  wird  ihm  dabei  helfen.  .  .  . 
Der  Herr  hat  befohlen:  .Treibt  die  Dämonen  aus',  und  hat  die 
Anweisvmg  gegeben,  auch  sonst  zu  heilen,  und  dazu  gesprochen: 
,Umsonst  habt  ihr  es  empfangen,  umsonst  gebt  es.'  Ein  großer 
Lohn  von  Gott  wartet  derer,  die  so  handeln,  die  da  dienen  den 
Brüdern  mit  den  Charismen,  die  ihnen  vom  Herrn  geschenkt  sind." 
Justin  schreibt  (Apol.  H,  6):  „(Der  Sohn  Gottes  ist  Mensch 
geworden  zur  Yernichtung  der  Dämonen).  Hir  könnt  das  er- 
kennen aus  dem,  was  unter  euren  eigenen  Augen  vorgeht.  Denn 
viele  von  den  Unsrigen,  den  Christen,  haben  eine  große  Anzahl 
Besessener  in  der  ganzen  Welt  und  in  eurer  Stadt  (Rom)  durch 
Beschwörung:  beim  Namen  Jesu  Christi,  des  unter  Pontus  Pilatus 


1  I Q  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Gekreuzigten,  geheilt,  während  sie  von  allen  anderen  Beschwörern 
und  Zauberern  und  Arzneimisehern  nicht  geheilt  worden  w^aren; 
sie  heilen  sie  auch  jetzt  noch  fort  und  fort,  indem  sie  die  Dämonen, 
von  denen  diese  Menschen  besessen  sind,  zu  nichte  machen  und 
austreiben.-'  In  seinem  Dialoge  gegen  die  Juden  (c.  85)  schreibt 
derselbe  Justin:  „Jeder  Dämon,  der  beschworen  wird  bei  dem 
Namen  des  Sohnes  Gottes  und  des  Erstgeborenen  vor  aller  Kreatur, 
des  durch  eine  Jungfrau  Geborenen,  des  zum  leidensfähigen 
Menschen  Gewordenen  und  Gekreuzigten  unter  Pontius  Pilatus 
von  eurem  Volke  und  Gestorbenen  und  von  den  Toten  Auf- 
erstandenen und  zum  Himmel  Aufgestiegenen  —  bei  diesem 
Namen  wird  jeder  Dämon  besiegt  und  überwunden.  Wenn  ihr 
aber  bei  allen  Namen  der  Könige  oder  Gerechten  oder  Propheten 
oder  Patriarchen,  die  bei  euch  gewesen  sind,  Beschwörungen 
anstellt,  so  wird  doch  kein  einziger  Dämon  überwunden  werden  .  .  . 
Bereits  bedienen  sich  eure  Exorzisten,  wie  auch  die  Heiden,  einer 
besonderen  Kunst  vmd  wenden  Räucherwerk  an  und  magische 
Bande."  Aus  dieser  Stelle  geht  hervor,  daß  die  christlichen  Be- 
schwörungsformeln die  Hauptstücke  der  Geschichte  Christi  ent- 
hielten^, und  dies  sagt  Origenes  in  der  Schrift  gegen  Celsus  (I,  6) 
mit  aller  Deutlichkeit:  „Die  Kraft  des  Exorzismus  liegt  in  dem 
Namen  Jesu,  der  ausgesprochen  wird,  indem  zugleich  die 
Geschichten  von  ihm   verkündigt   werden^." 

Sehr  skeptisch  wird  man  freilich  gestimmt,  wenn  man  liest, 
daß  die  christlichen  Parteien  unter  einander  sich  die  Kraft  des 
Exorzismus  absprachen  und  die  Heilungen  für  Irrtum  oder 
Täuschungen  erklärten.  So  schreibt  Trenäus  (11,31,2):  „Die 
Anhänger  des  Simon  und  Carpocrates  und  die  übrigen  angeblichen 
Wundertäter  werden  überführt,  daß  sie  nicht  in  der  Kraft  Gottes, 
noch  in  Wahrheit,  noch  zum  Segen  der  Menschen  das  tun,  w^as 
sie  tvm,  sondern  zum  Verderben  und  zur  Verführung  durch 
magische  Täuschungen  und  jeglichen  Trug,  mehr  schadend  als 
nützend  denen,  die  ihnen  glauben,  weil  sie  Verführer  sind.  Denn 
weder  können  sie  Blinden  das  Gesicht  schenken,  noch  Tauben 
das  Gehör,  noch  alle  Dämonen  in  die  Flucht  schlagen,  mit  Aus- 
nahme derer,  die  sie  selbst  gesandt  haben,  wenn  anders  sie  das 
vermögen  ■\"     In   bezug   auf  die   eigene  Gemeinde   aber   hat  sich 

')  Das  wichtigste  Stück  iu  der  Beschwörungsformel  war  die  Erwähnung 
des  Kreuzestodes,  s.  Justin,  Dialog.  30.  49.  7ü. 

-)  'loyvsiv  fioxovai  ....  töj  oi'ö^mTi  'I/noov  /iifTa  t/;?  e.-rayys/Jag  iwr  .ifoi 
aviov  ioTOotcöv. 

^)  Man  vgl.  dazu  die  traurigen  Versuche  der  Großkirche  in  Asien,  die 
montanistischen  Prophetinnen  als  Dämonische  zu  betrachten  und  zu  be- 
schwören.    Die  Versuche   mißglückten  aber.     Zu  vergleichen  ist   hierzu  der 


Der  Kampf  gegen  die  Dämonen.  ]{" 

Irenäus  (a.  a.  ().)  davon  überzeugt,  das  selbst  Tote  von  ihren 
Mitgliedern  erweckt  werden.  Hier,  behauptet  er,  sei  nichts  Schein 
oder  Irrtum  und  Trug,  sondern,  wie  bei  dem  Herrn  selbst,  das 
Außerordentlichste  Wahrheit.  „In  Jesu  Namen  üben  seine  wahren 
Jünger,  die  von  ihm  die  Gnade  empfangen  haben,  eine  heil- 
bringende Wirksamkeit  zum  Wohle  der  anderen  Menschen  aus, 
je  nachdem  sie  das  Gnadengeschenk  von  ihm  erhalten  haben. 
Denn  die  einen  treiben  die  Dämonen  aus  gewiß  und  wahrhaftig; 
oftmals  ereignet  es  sich  dann,  daß  die,  welche  von  den  bösen 
Geistern  gereinigt  worden  sind,  den  Glauben  annehmen  und 
Glieder  der  Kirche  werden  ^  Die  anderen  haben  auch  eine 
Vorkenntnis  künftiger  Dinge  und  Gesichte  und  prophetische 
Sprüche  .  .  .  Nicht  zu  zählen  ist  die  Zahl  der  Segnungen,  welche 
in  der  ganzen  Welt  die  Kirche,  sie  von  Gott  empfangend,  im 
Namen  Jesu  Christi,  des  unter  Pontus  Pilatus  Gekreuzigten, 
Tag  für  Tag  zum  Heile  der  Heidenwelt  vollbringt,  ohne 
jemanden  zu  täuschen  oder  Geld  zu  verlangen.  Denn  wie  sie 
umsonst  empfangen  hat  von  Gott,  so  dient  sie  auch  damit  umsonst" 
(larool  ävdgyvQoi). 

Die  populäre  Vorstellung  der  ältesten  Christen,  wie  der 
späteren  Juden,  war  die,  daß  abgesehen  von  der  zahllosen  Menge 
der  Dämonen,  die  in  der  Natur  und  in  der  Geschichte  ihr  ver- 
wegenes Spiel  treiben,  ein  jeder  einen  guten  Engel  zur  Seite  hat, 
der  über  ihn  wacht,  und  einen  bösen  Geist,  der  auf  ihn  lauert^. 
Läßt  er  sich  von  diesem  leiten,  so  ist  er  eigentlich  schon  „be- 
sessen", d.  h.  die  Sünde  selbst  ist  „Besessenheit".  Die  sklavische 
Abhängigkeit,  in  welche  der  Mensch  gerät,  der  sich  seinen  Trieben 
überläßt,  ist  gut  beobachtet,  aber  die  Deutung  ist  naiv.  An  dem 
Dämonenglauben,  wie  er  die  christliche  Welt  im  2.  und  3.  Jahr- 
hundert beherrscht  hat,  lassen  sich  leicht  die  Züge  nachweisen, 
die  ihn  zu  einer  reaktionären,  die  Kultur  bedrohenden  Erscheinung- 
Stempeln.  Aber  man  darf  doch  nicht  vergessen,  daß  er  in  seinem 
Kern  einen  sittlichen  mid  darum  auch  einen  geistigen  Fortschritt 


Bericht  Firmiliaus  (Cypr.,  ep.  75, 10)  über  eine  christliche  Frau,  die  sieh  als 
Prophetin  fühlte  und  viele  „verführte":  „subito  apparuit  illi  unus  de  exor- 
cistis,  vir  probatus  et  circa  religiosam  disciplinam  bene  semper  conversatus, 
qui  exhortatione  quoque  fratrum  plurimorum  qui  et  ipsi  fortes  ac  laudabiles 
in  fide  aderant  excitatus   erexit   se  contra  illum   spiritum  uequam  reviucen- 

dum ille  exorcista  inspiratus  dei  gratia  fortiter  restitit  et  esse  illum 

nequissimum  spiritum  qui  prius  sanctus  putabatur  ostendit.'" 

')  Doch  scheint  es  im  3.  Jahrhundert  zum  Vorwm-f  gemacht  worden  zu 
sein,  an  Besessenheit  gelitten  zu  haben.  Cornelius  wirft  es  Novatian  (bei 
Euseb. ,  h.  e.  VI,  43)  vor,  daß  er  vor  seiner  Taufe  besessen  gewesen  und  von 
einem  Exorzisten  geheilt  worden  sei. 

*)  S.  z.  B.  den  Hirten  des  Hermas. 


1 1  S  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

barg:  die  Aufmerksamkeit  auf  das  Böse  und  die  Erkenntnis  der 
Macht  der  Sünde  und  ihrer  Herrschaft  in  der  Welt.  Deshalb 
hat  auch  ein  so  hochgebildeter  Geist  wie  Tertullian  sich  ganz 
dem  Dämonenglauben  hingegeben.  Es  ist  interessant  zu  sehen, 
wie  sich  in  seiner  ausführlichen  Darstellung  desselben  (in  dem 
Apologeticus)  die  griechisch-römischen  und  die  jüdisch-christlichen 
Elemente  verbunden  haben.  Ich  setze  seine  Ausführung  voll- 
ständig hierher.  Sie  steht  in  dem  Zusammenhang  des  Nachweises, 
daß  hinter  den  toten  Götzen  aus  Holz  und  Stein  die  Dämonen 
stecken,  die  aber,  von  den  Christen  gezwungen,  sich  als  das  be- 
kennen müssen,  was  sie  sind,  nämlich  als  unreine  Geister,  nicht 
als  Götter.  An  einigen  Stellen  klingt  schon  der  Ton  der  Ironie 
und  des  Spotts  über  diese  „armen  Teufel"  an,  der  im  Mittelalter 
so  kräftig  wurde,  ohne  doch  den  Dämonenglauben  zu  erschüttern. 
Aber  im  ganzen  ist  die  Darstellung  h()chst  ernsthaft.  Mit  welchen 
Koeffizienten  das  alte  Christentum  l)elastet  gewesen  ist,  mögen 
die  lernen,  welche  heute  träumen,  sie  besäßen  es,  wenn  sie  nur 
einige  alte  Glaubensformeln  in  Kraft  erhielten  ^ : 

„Wir  Christen  behaupten  (c.  2H  f.)  die  Existenz  gewisser 
geistiger  Wesen.  Auch  der  Name  ist  nicht  neu.  Die  Philo- 
sophen kennen  die  Dämonen,  da  Socrates  selbst  die  Willens- 
meinung eines  Dämoniums  abwartote.  Natürlich !  Soll  ihn  doch 
auch  ein  Dämonium  von  Kindheit  an  begleitet  haben  —  versteht 
sich  ein  vom  Guten  abmahnender  Geist!  Alle  Dichter  kennen 
sie ;  auch  das  ungebildete  Volk  nennt  sie  häufig  beim  Fluchen. 
Denn  auch  , Satanas'  —  den  Fürsten  dieser  schlimmen  Gesellschaft 
—  ruft  es  bei  eben  diesen  Verwünschungen  aus ;  der  Seele  ist 
die  Kunde  von  ihm  angeboren.  Auch  die  Existenz  von  Engeln 
hat  selbst  Plato  nicht  geleugnet.  Für  beide  Arten  geistiger 
Wesen  stehen  sogar  die  Magier  ein.  Allein  (nur)  aus  den 
heiligen  Schriften   läßt  sich  der  Hergang  erkennen,  wie  aus   ge- 


')  Neben  Tertullian  ist  es  der  ältere  Tatiau  gewesen,  der  in  seiner 
.,Rede  an  die  Griechen"  c.  7 — 18  die  genaueste  Darlegung  der  christlichen 
Därnonenlehre  gegeben  hat.  Die  Dämonen  haben  das  .,Fatum"  eingeführt 
und  den  l'olytheismus.  Für  die  Gläubigen,  resp.  die  pneumatischen  Menschen 
sind  sie  sichtbar;  die  „Psychiker"  vermögen  sie  nicht  zu  sehen,  oder  doch 
nur  ausnahmsweise  (15.  16).  Die  Krankheiten  stammen  aus  den  Körpern; 
aber  die  Dämonen  schreiben  sich  die  Ursache  davon  zu.  „Bisweilen  aller- 
dings erschüttern  sie  selbst  im  Sturm  ihrer  unverbesserlichen  Bosheit  den 
Zustand  des  Leibes;  doch  trifft  sie  ein  Machtwort  Gottes,  so  erschrecken  sie, 
fliehen  davon,  und  der  Kranke  wird  geheilt"  (16  extr.).  Übrigens  leugnet 
Tatian  nicht,  dalä  Besessene  manchmal  auch  ohne  Beihilfe  der  Christen  ge- 
heilt werden.  —  Auch  in  den  pseudoclementinischen  Homilien  (IX,  10.  16—18) 
stehen  wichtige  Mitteilungen  über  die  Dämonen.  Vgl.  zu  dem  christlichen 
Därnonenglaubeu  Diels,  ,Elementum",  1899,  namentlich  S.  50  tf. 


Der  Kampf  gogeu  die  Dämonen.  1  ]  <) 

wissen  Engeln,  die  durch  eigene  Schuld  verdorben  sind,  ein  noch 
verdorbeneres  Geschlecht  von  Dämonen  geworden  ist,  das  von 
Gott  samt  den  Urhebern  des  Geschlechts  und  mit  dem,  den  wir 
(oben)  den  Fürsten  genannt  haben,  verdammt  wurde.  Hier  muß 
es  genügen,  ihr  Wirken  darzulegen.  Dasselbe  hat  einzig  das 
Verderben  der  Menschen  zum  Zweck.  Von  Anfang  an  arbeitete 
die  Bosheit  dieser  Geister  auf  den  Untergang  der  Menschen. 
Daher  verursachen  sie  den  Kfh'pern  Krankheiten  und  böse  Zufälle 
aller  Art,  der  Seele  aber  plötzliche  und  außerordentliche,  sie 
gewaltsam  erschütternde  Ausbrüche.  Zu  statten  kommt  ihnen 
bei  diesen  Angriffen  auf  Seele  und  Leib  ihre  Feinheit  und  Dünn- 
heit. An  sich  unsichtbar  und  jeder  Wahrnehmung  entzogen, 
erschienen  diese  Geister  zwar  nicht  im  Akt  selber,  aber  im  Effekt 
sind  sie  häufig  bemerkbar,  wenn  z.  B.  ein  unerklärliches  in  der 
Luft  liegendes  Übel  die  Baum-  und  Feldfrüchto  in  der  Blüte 
herabwirft,  im  Keime  erstickt,  in  der  Reifeentwickelung  schädigt, 
und  wenn  die  durch  eine  unbekannte  Ursache  verdorbene  Luft 
ihren  pestbringenden  Hauch  herabschüttet.  Mit  derselben  Heim- 
lichkeit der  Ansteckung  bewirkt  die  Anhauchung  der  Dämonen 
und  Engel  auch  mancherlei  Verderben  des  Geistes  dvu'ch  Raserei, 
Wahnsinn  und  häßliche  oder  schreckliche  Lüste  mit  verschiedenen 
Irrtümern,  wovon  der  vornehmste  jener  ist,  daß  sie  den 
besessenen  und  gebundenen  Menschenseelen  jene  Götter 
empfehlen^,  um  [auch]  sich  das  beliebte,  in  Fettdampf  und 
Blut  bestehende  Futter  zu  verschaffen,  welches  den  Götzenstatuen 
imd  -bilden!  dargebracht  wird.  Und  welch  eine  ausgesuchtere 
Weide  könnte  es  für  sie  geben,  als  daß  sie  die  Menschen  durch 
falsche  Vorspiegelungen  von  dem  Gedanken  und  der  Erwägung 
der  wahren  Gottheit  abbringen?  Wie  sie  diese  Vorspiegelungen 
bewirken  können,  werde  ich  zeigen.  Jeder  Geist  ist  beflügelt; 
so  auch  die  Engel  und  Dämonen.  Daher  sind  sie  im  Augenblick 
überall.  Die  ganze  Welt  ist  für  sie  ein  einziger  Ort.  Was  und 
wo  etwas  geschieht,  erfahren  sie  ebenso  schnell  als  sie  es  melden. 
Ihre  Schnelligkeit  hält  man  für  Göttlichkeit,  weil  man  ihr  Wesen 
nicht  kennt.  Sich  das  zu  nutze  machend,  wollen  sie  bisweilen 
auch  als  Urheber  der  Dinge  gelten,  die  sie  nur  ankündigen.  In 
bezug  auf  die  schlimmen  sind  sie  es  in  der  Tat  manchmal,  in 
bezug  auf  die  guten  nie.  Sogar  die  Kenntnis  der  Dispositionen 
Gottes  wissen  sie  zu  erlangen,  in  früherer  Zeit  aus  den  Reden 
der  Propheten,    jetzt    aus  der  Vorlesung   der   h.  Schriften.     Aus 

M  Das  gilt  überall  als  die  Hauptveranstaltung  der  Schlechtigkeit  der 
Dämonen:  sie  haben  den  Polytheismus  eingeführt,  d.h.  unter  den 
Bildern  toter  Götzen  lassen  sie  sich  verehren  und  machen  sich  die  Opfer, 
deren  Dünste  ihnen  schmecken,  zu  nutze. 


120  Pif  Missioiihpredigt  in  Wort  und  Tat. 

diesen  Quellen  erfahren  sie  manches  Zukünftige  und  ahmen  nun 
die  Gottheit  nach,  während  sie  doch  die  Grabe,  die  Zukunft  zu 
schauen,  nur  stehlen.  Wie  verschlagen  sie  bei  den  Orakeln  die 
zweideutige  Rede  auf  den  möglichen  doppelten  Erfolg  berechnen, 
davon  w'issen  die  Crösus  und  Pyrrhus  zu  erzählen  ....  Da  sie 
in  der  Luft  wohnen,  in  der  Nachbarschaft  der  Gestirne,  und  mit 
den  Wolken  in  Verbindung  stehen,  können  sie  sofort  wissen,  was 
sich  dort  vorbereitet,  so  daß  sie  den  Segen,  den  sie  schon  fühlen, 
versprechen  können.  Wohltätig  sind  sie  fürwahr  auch  in  ihrer 
Sorge  für  die  Gesundheit!  Sie  schädigen  nämlich  zuerst,  dann 
schreiben  sie  Heilmittel  vor,  unerhörte  oder  gegenteilige,  um  das 
Wunder  zu  markieren  — ,  dann  hören  sie  auf  zu  schädigen  und 
gelten  nun  als  die  Heilbringer.  Was  soll  ich  also  noch  über  die 
anderen  Künste  oder  auch  Fähigkeiten  der  betrügerischen  Geister- 
welt sagen?  Soll  ich  von  den  Trugbilden  der  Castoren,  von  dem 
im  Siebe  getragenen  Wasser,  von  dem  durch  einen  Gürtel  in 
Bewegung  gesetzten  Schiff,  von  dem  durch  Berührung  rot  ge- 
färbten Bart  reden?  —  alles  Dinge,  die  in  Szene  gesetzt  worden 
sind,  damit  man  Steine  für  Götter  halte  und  den  wahren  Gott 
nicht  suche. 

Ferner,  wenn  euch  die  Magier  Gespenster  sehen  lassen  und 
die  Seelen  schon  Verstorbener  (durch  Zitieren)  beschimpfen,  wenn 
sie  Knaben  durch  Mißhandlung  zum  Hervorstoßen  von  (Jrakel- 
sprüchen  zwingen,  wenn  sie  allerlei  Wunder  durch  markt- 
schreierische Blendwerke  aufführen,  wenn  sie  sogar  Träume  senden, 
indem  sie  die  hilfreiche  Macht  der  einmal  zitierten  Engel  und 
Dämonen  zur  Verfügung  haben  —  daß  Ziegen  und  Tische  weis- 
sagen, ist  ja.  Dank  jenen  Geistern,  etwas  Gewöhnliches  geworden, 
—  wenn  schon  Magier  das  vermögen,  um  wie  viel  mehr  wird 
die  Geisterwelt  bestrebt  sein,  nach  eigenem  Plan  und  auf  eigene 
Rechnung  mit  allen  Kräften  das  in  Szene  zu  setzen,  was  sie 
sogar  einer  fremden  Unternehmung  zur  Verfügung  stellt.  Oder 
wenn  die  Engel  und  Dämonen  dasselbe  bewirken  wie  eure  Götter, 
wo  bleibt  da  der  Vorzug  der  Gottheit,  die  man  doch  für  er- 
habener als  jede  andere  Macht  halten  muß?  Ist  die  Verteilung 
nicht  würdiger,  sie  selbst  (die  Dämonen)  seien  es,  die  sich  zu 
Göttern  machen,  indem  sie  (gerade)  die  Dinge  tun,  welche  den 
Glauben  an  Götter  hervorrufen,  als  zu  glauben,  daß  die  Götter 
den  Dämonen  und  I]ngeln  gleich  seien?  Es  ist,  denke  ich,  imr 
noch  eine  Ortsverschiedenheit:  in  den  Tempeln  haltet  ihr  die  für 
„Götter",  die  ihr  außerhalb  derselben  nicht  so  nennt  .... 

Doch  keine  weiteren  Worte  —  es  folge  jetzt  die  Darlegung 
der  Tatsaciu;;  wir  werden  beweisen,  daß  „Götter"  und  Dämonen 
dieselbe  Qualität  haben.     Stellt  hier  von  euren  Tribunalen  irgend 


Der  Kampf  gegeu  die  Dämoneu.  '121 

jemanden  auf,  von  dem  es  feststellt,  daß  er  von  einem  Dämon 
besessen  ist.  Auf  den  Befehl  eines  beliebigen  Christen, 
zu  reden,  wird  jener  Geist  sich  ebenso  gewiß  als  einen 
Dämon  wahrheitsgemäß  bekennen,  wie  er  sich  anders- 
wo lügnerisch  für  einen  Gott  ausgibt^.  Ebenso  möge 
einer  von  denen  vorgeführt  werden,  die  nach  eurer  Meinung 
unter  der  Einwirkung  eines  Gottes  stehen,  welche,  an  den  Altären 
Luft  einziehend,  die  Gottheit  aus  dem  Pettdampf  in  sich  auf- 
nehmen, welche  durch  Luftausstoßung  wieder  zu  sich  kommen 
(„ructando  curantur"),  welche  mit  keuchendem  Atem  weissagen. 
Oder  laßt  die  „himmliclio  Jungfrau"  selber  kommen,  die  Regen- 
verheißerin,  ja  den  Asculap  selbst,  den  Lehrer  der  Arzneien,  der 
Leute,  die  demnächst  sterben  werden,  mit  Scordium,  Tenatium  (?) 
und  Asclepiodotum  bedient  —  wenn  sie  sich  nicht  als  Dämonen 
bekennen  werden,  weil  sie  nicht  wagen,  einen  Christen  zu  belügen, 
so  vergießet  vor  dem  Tribunal  das  Blut  dieses  unverschämtesten 
Christen!  Was  kann  es  Entscheidenderes  geben  als  solch  einen 
Versuch,  was  Zuverlässigeres  als  diesen  Beweis?  Die  Wahrheit 
in  schlichter  Klarheit  steht  vor  den  Schranken ;  nur  ihre  eigene 
Kraft  steht  ihr  zur  Seite;  jeder  Argwohn  ist  ausgeschlossen. 
Behauptet  ihr,  daß  Zauberei  oder  sonst  eine  Betrügerei  hier  ob- 
walte ?  .  .  .  Was  kann  man  einwerfen  gegen  das ,  was  in  un- 
verhüllter Klarheit  gezeigt  wird?  Wenn  jene  (Dämonen)  doch 
wahrhaft  Götter  sind,  warum  lügen  sie  (werm  wir  sie  beschwören), 
daß  sie  Dämonen  seien?  Um  uns  zu  willfahren?  Dann  aber 
wäre  bereits  das,  was  bei  euch  ,,Gott"  ist.  den  Christen  Untertan 
und  hörte  damit  auf,  Gottheit  zu  sein,  weil  sie  den  Menschen 
untergeben  ist  ...  .  Also  ist  das  keine  Gottheit,  woran  ihr 
festhaltet,  weil  sie,  wenn  sie  es  wäre,  weder  von  den  Dämonen, 
wenn  sie  Rede  stehen,  erheuchelt  noch  von  den  Göttern  abge- 
leugnet werden  könnte  ....  Erkennt,  daß  es  nur  eine  Gattung 
gibt,  nämlich  Dämonen:  auch  die  „Götter"  sind  nichts  anderes. 
Sucht  also  nach  Göttern!  Die,  welche  ihr  dafür  gehalten  hattet, 
erkennt  ihr  nun  als  Dämonen!" 

Tertullian  sagt  im  folgenden,  daß  die  Dämonen,  von  Christen 
befragt,  nicht  nur  sich  selbst  als  Dämonen  bekennen,  sondern 
auch  den  Christengott  als  den  wahren  Gott.  „Indem  sie  Christus 
in  Gott  fürchten  und  Gott  in  Christus,  müssen  sie  sich  den 
Dienern  Gottes  und  Christi  unterwerfen.  Wenn  wir  sie  berühren 
und  anblasen,  so  werden  sie  durch  die  Betrachtung  und  Ver- 
gegenwärtigung des   (zukünftigen)  Feuers   in  Bestürzung  versetzt 


')  Tertullian  hat   hier  wie    an    anderen  Stelleu   des  Apologeticus  den 
Mund  zu  voll  orenommen. 


I  22  Die  Missionsprecligt  in  Wort  und  Tat. 

und  verlassen  auf  unsern  Befehl  die  Körper  (der  Kranken),  mit 
Un-sNallen  und  Schmerz  und  —  wenn  ihr  zugegen  seid  —  voll 
Scham.  Glaubet  ihnen,  wenn  sie  über  sich  selber  die  Wahrheit 
sagen,  die  ihr  ihnen  glaubt,  wenn  sie  lügen.  Memand  lügt  zu 
seiner  eigenen  Schande,  sondern  nur  zu  seiner  Verherrlichung  .... 
Derartige  Zeugnisse  eurer  „Götter"  haben  Übertritte 
zum  Christentum  zur  gewöhnlichen  Folge." 

Im  27.  Kapitel  des  Apologeticus  begegnet  Tertullian  dem 
naheliegenden  Einwurf,  wenn  die  Dämonen  wirklich  den  Christen 
unterworfen  wären,  so  wäre  es  unmöglich,  daß  die  Christen  hilf- 
los den  Yerfolgungen.  die  gegen  sie  gerichtet  werden,  unterliegen. 
Tertullian  widerlegt  diese  Bemerkung ,  indem  er  sagt ,  sie  seien 
Sklaven  in  der  Christen  Gewalt,  aber  wie  nichtsnutzige  Sklaven 
wenden  sie  sich  von  der  Furcht  zum  Trotz  und  freuen  sich,  wenn 
sie  diejenigen  verletzen  können,  welche  sie  fürchten.  „Von 
weitem  bekämpfen  sie  uns,  in  der  Nähe  flehen  sie.  Wie  revo- 
lutionierende gefangene  Sklaven,  Mie  Sträflinge  und  Bergwerks- 
arbeiter, bricht  auch  diese  Art  Strafgefangener  Knechte  wider 
uns.  in  deren  Gewalt  sie  sich  befinden,  los,  wohl  wissend,  daß  sie 
uns  nicht  gewachsen  sind  und  sich  selbst  nur  immer  mehr  ins 
Verderben  stürzen.  AVir  aber  lassen  uns  mit  dieser  wilden  Bande, 
gleich  als  wären  sie  noch  nicht  besiegt,  auf  einen  Kampf  ein, 
wehren  uns,  in  dem  beharrend,  was  sie  bekämpfen,  und  ti'ium- 
phieren  niemals  glänzender  über  sie,  als  wenn  wir  für  unseren 
hartnäckig  festgehaltenen  Glauben  verdammt  werden." 

Im  dem  37.  Kapitel  faßt  Tertullian  noch  einmal  den  Nutzen 
zusammen,  den  die  Christen  den  Heiden  durch  ihre  Exorzismen 
leisten :  „Wenn  wir  nicht  wären  —  wer  würde  euch  jenen  ver- 
borgenen, eure  seelische  und  körperliche  Gesundheit  fort  und  fort 
verwüstenden  Feinden  —  ich  meine  den  Anläufen  der  Dämonen 
—  entreißen,  welche  wir  euch  ohne  Belohnung,  ohne  Bezahlung 
vertreiben?"  Dasselbe  behauptet  er  in  der  Schrift  an  den  Statt- 
halter Scapula  (c.  2):  „Die  Dämonen  verachten  wir  nicht  nur, 
sondern  wir  überwinden  vmd  überführen  sie  jeden  Tag  und  treiben 
sie  aus  den  Menschen  aus,  wie  sehr  vielen  bekannt  ist^." 
Diese  Gabe  der  Christen  muß  also  wirklich  in  weiten  Kreisen 
anerkannt  gewesen  sein,  und  Tertullian  spricht  an  mehreren 
Stellen  so,   als  ob  jeder  Christ  sie  besäße  2.     Interessant  wäre  es 


')  S.  auch  die  interessanten  Mitteilungen  de  anima  1. 

-)  Vgl.  z.B.  de  Corona  11;  auch  andere  christliche  Schriftsteller  haben 
sich  so  ausgedrückt,  vgl.  die  Petrusrede  in  den  pseudoclom.  Homil.  (IX.  19): 
Durch  die  Taufe  erhalten  die  Christen  die  Gabe,  durch  Exorzismen  andere 
zu  heilen,  hUnE  Ök  ol  SaifiovEg  /lwvov  h'töovrcov  vjliwv  (fsvSovrar  i'oaaiv  yuQ  tov? 
(mob£()coxöra?  iavxovg  t<o  ■dsw,  diö  TtfiöJvre?  avTOvg  :;ie(/.oßr]f(tvoi  qevyovotv. 


Der  Kampf  gegen  die  Dämonen.  [23 

nur,  zu  wissen,  wie  lange  diese  Heilungen  von  psychisch  Kranken 
gedauert  haben.  Leider  ist  darüber  nichts  bekannt,  und  doch 
ist  auf  diesem  Gebiete  nichts  häufiger  als  ein  nur  augenblicklicher 
Erfolg. 

Wie  Tertullian,  so  hat  auch  Minucius  Felix  in  seinem 
„Octavius"  dieses  Thema  abgehandelt,  z.  T.  mit  denselben  Worten 
wie  Tertullian  (c.  27)^.  Der  Apologet  Theophilus  (ad  Autolyc. 
II.  S)  schreibt:  „Die  griechischen  Dichter  reden,  nicht  von  einem 
reinen,  sondern  von  einem  Irr-Geist  inspiriert.  Dies  erweist  sich 
deutlich  daraus,  daß  auch  Besessene  manchmal  und  zwar  bis  heute 
im  !N'amen  des  wahren  Gottes  exorzisiert  werden,  und  daß  dann 
die  Irrgeister  selbst  bekemien,  sie  seien  Dämonen  und  eben  diese 
Dämonen,  die  früher  in  jenen  Dichtern  wirksam  gewesen."  Hier- 
nach ist  anzunehmen,  daß  die  Besessenen  bei  den  Exorzismen 
manchmal  den  Namen  „Apollo"'  oder  den  der  Muse  ausgestoßen 
haben."  Auch  Cj^rian  spricht  noch,  um  d.  J.  250,  wie  die  Frü- 
heren, von  den  christlichen  Dämonenheilimgen  (ad  Demetr.  15): 
„O  wenn  du  die  Dämonen  hören  und  in  jenen  Momenten  sehen 
wolltest,  wenn  sie  von  uns  beschworen,  mit  geistlichen  Geißeln 
gequält  und  durch  folternde  Worte  aus  den  besessenen  Leibern 
ausgeti'ieben  werden,  weim  sie,  mit  menschlicher  Stimme  (?) 
heulend  und  ächzend  und  durch  göttliche  Macht  die  Geißelhiebe 
und  Schläge  empfindend,  das  kommende  Gericht  bekennen  müssen. 
Komm  und  sieh,  daß  es  wahr  ist,  was  wir  sagen.  Und  weil  du 
sagst,  daß  du  so  sehr  die  Götter  verehrst,  so  glaube  doch 
wenigstens  denen  selbst,  die  du  verehrst  .  .  .  du  wirst  sehen, 
daß  wir  angefleht  werden  von  denen,  die  du  anflehst,  gefürchtet 
werden  von  denen,  die  du  anbetest.  Sehen  wirst  du,  wie  die- 
jenigen unter  unserer  Hand  gebunden  stehen  und  als  Gefangene 
zittern,  zu  denen  du  aufschaust  und  sie  verehrst  wie  Despoten. 
Hier  wirst  du  sicherlich  in  deinen  Irrtümern  zu  schänden  gemacht, 
wenn  du  siehst  und  hörst,  wie  deine  Götter  auf  unsere  Frage 
sogleich  kundtun,  was  sie  sind,  und  selbst  in  eurer  Gegenwart 
jene  ihre  Blendwerke  und  Trügereien  nicht  verheimlichen  können^." 
Ahnlich   heißt   es  in   der  Schrift    „an   den   Donatus"  (c.  5):    „Im 

^)  „Adiui'ati  (daemones)  per  deum  venim  et  solum  inviti  miseris  cor- 
poribus  inhorrescunt  et  vel  exiliunt  statim  vel  evaneseunt  gradatim,  prout 
fides  patientis  adiuvat  aut  gratia  curantis  adspirat.  sie  Christianos  de 
proximo  fugitant,  quos  longe  in  coetibus  per  vos  lacessebant  etc." 

-)  Vgl.  auch  Quod  idola  dei  non  sint  7  und  Cypr.  ep.  69,  15:  ^Hodie 
etiam  geritur,  ut  per  exorcistas  voce  humana  et  potestate  divina  flagelletur 
et  uratur  et  torqueatur  diabolus,  et  cum  exire  se  et  homines  dei  dimittere 
saepe  dicat,  in  eo  tamen  quod  dixerit  fallat  ....  cum  tarnen  ad  aquam 
salutarem  adque  ad  baptismi  sanctificationem  venitur,  scire  debemus  et  fidere 
[das  klingt  etwas  kleinlaut],  quia  illic  diabolus  opprimitur." 


124  Die  Missionspredigt  in  "Wort  und  Tat. 

Christentum  wird  die  Gabe  verliehen  —  wenn  reine  Keuschheit, 
reiner  Sinn,  hiutre  Rede  waltet  —  zur  Heilung  der  Kranken 
giftige  Tränke  unschädlich  zu  machen,  Verrückte  von  ihrem 
schimpflichen  Leiden  durch  Wiederherstellung  der  Gesundheit  zu 
reinigen ,  Feindseligen  Frieden ,  Gewalttätigen  Ruhe ,  Wütenden 
Sanftmut  anzubefehlen,  unreine  und  umherschweifende  Geister, 
die  in  die  Menschen  fahren,  um  von  ihnen  Besitz  zu  nehmen, 
durch  Drohungen  und  Scheltworte  zum  Bekenntnis  zu  zwingen, 
durch  harte  Rede  zum  Ausfahren  zu  nötigen,  sie  unter  Sträuben, 
Heulen,  Seufzen  über  die  Vergrößerung  ihrer  Pein  auf  die  Folter 
zu  spannen,  mit  Geißeln  zu  peitschen  und  mit  Feuer  zu  brennen. 
So  geschiehts .  auch  wenn  man  es  nicht  sieht:  die  Schläge  sind 
verborgen,  offenbar  ist  die  Strafpein.  So  gewinnt  das,  was  wir 
schon  angefangen  haben,  (bereits)  seine  Herrschaft  .  .  .  Der 
Christ  herrscht  bereits  mit  königlichem  Recht  über  das  ganze 
Heer  des  wütenden  Gegners  ^" 

Am  interessantesten  aber  sind  die  Auseinandersetzungen 
zwischen  Celsus  und  ürigenes  über  die  Dämonen  und  Besessenen: 
denn  hier  streiten  zwei  Männer  mit  einander,  welche  auf  der 
Höhe  der  Bildung  der  Zeit  stehen^.  Celsus  behauptet,  die  Christen 
verdankten  die  Kraft,  die  sie  zu  haben  scheinen,  der  Anrufmig 
und  Beschwörung  gewisser  Dämonen  ^.  ürigenes  er-v\idert,  es  sei 
lediglich  der  Name  Jesu  und  das  Zeugnis  von  seiner  Geschichte, 
welche  die  Kraft  haben,  die  Dämonen  zu  verscheuchen,  ja  so 
kräftig  sei  der  Jesusname,  daß  er  selbst  wirke,  wenn  ihn  unsittliche 
Menschen  aussprächen*.  Beide,  Celsus  und  Origenes,  glaubten 
also  an  Dämonen,  und  die  alte  Vorstellung  von  der  Kraft  der 
Aussprechung  gewisser  „Namen"  wird  von  Origenes  auch  sonst 
(z.  B.  I,  24  f.)   ausgeführt ,    ja    er    deutet    eine  geheime   „Namen- 

')  Hierzu  ist  Lactantius,  Divin.  Inst.  II,  15,  IV,  27  zu  vergleichen,  der 
z.  T.  die  Schilderung  Cyi^rians  wiederholt,  aber  das  Kreuzeszeichen  als  Heil- 
mittel gegen  die  Dämonen  besonders  hervorhebt. 

^)  Origenes  hat  (Hom.  XY,  5  in  Jesu  Nav.  1. 11  p.  141  f.)  noch  eine  ganz 
besondere  Theorie  über  die  Dämouenbezvpingung  durch  die  Kirche  entwickelt, 
und  zwar  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Ausbreitung  des  Christentums.  „Wenn 
ein  Mensch  einen  Dämon  bei  sich  besiegt,  z.  B.  den  Dämon  der  Unzucht,  so 
wird  dieser  Dämon  unwirksam,  d.  h.  er  wird  in  den  Abgrund  geworfen  und 
vermag  nun  keinem  mehr  zu  schaden.  So  gibt  es  jetzt  schon  viel 
weniger  Dämonen  als  früher;  et  inde  est  quod  plurimo  daemonum 
numero  iam  victo  ad  credulitatem  gentes  venire  relaxantur,  qui 
utique  nullatenus  sinerentur,  si  integrae  eorum,  sicut  prius 
fuerant,   subsisterent   legiones." 

■'')  Celsus  sagt  (I,  4tf.),  die  ethische  Grundlehre  der  Christen  ist  ihnen 
mit  den  Philosophen  gemeinsam,  worin  aber  die  Christen  ihre  Stärke  zu 
haben  scheinen,  das  seien  die  Namen  etlicher  Dämonen  und  Bezauberungen. 

*)  Orig.  c.  Cels.  I,  6. 


Der  Kamjif  gegen  die  Dämonen.  125 

wissenschatV  an  \  die  den  Eingeweihten  Kräfte  verleihe,  bei  der 
man  aber  wohl  zusehen  müsse,  daß  man  sie  in  der  richtigen 
Sprache  rezitiere.  „Die  einen  sind  besonders  kräftig,  wenn  sie 
ägyptisch  gesprochen  werden,  bei  gewissen  Geistern,  deren  Macht 
nm'  auf  diese  Dinge  und  Gebiete  sich  erstreckt;  die  anderen 
aber,  wenn  sie  in  der  Sprache  der  Perser  ausgesprochen  werden, 
bei  anderen  Geistern,  und  so  weiter."  „Zu  dieser  Namenwissen- 
schaft gehört  auch  der  Jesusname ,  welcher  bereits  unzählige 
Geister  aus  den  Seelen  und  Leibern  ausgetrieben  hat  und  kräftig 
gewesen  ist  in  bezug  auf  die,  aus  denen  sie  ausgetrieben  wurden 2." 
Auf  die  Tatsache  des  gelmigenen  Exorzismus  beruft  sich  Origenes 
noch  mehrmals  (I,  46.  67).  Celsus  leugnet  sie  nicht,  leugnet  auch 
die  „Wunder"  Jesu  nicht,  aber  deutet  sie  ganz  anders:  „Die 
Goeten  versprechen  noch  viel  wunderbarere  Dinge,  und  die  in 
der  Schule  der  Agyptier  ausgebildet  worden  sind,  führen  das 
gleiche  aus,  wie  Leute,  welche  für  wenige  Obolen  auf  den  Märkten 
ihre  Wunderweisheit  losschlagen,  Dämonen  aus  Besessenen  aus- 
treiben. Krankheiten  wegblasen,  die  Geister  der  Heroen  zitieren, 
köstliche  Speisen.  Tische,  Backwerk  und  Delikatessen  vorführen, 
ohne  daß  sie  wirklich  vorhanden  sind,  und,  wie  wenn  es  lebendige 
Wesen  wären,  leblose  Dinge  in  Bewegung  setzen,  ihnen  einen  täu- 
schenden Schein  verleihend.  Wenn  einer  solche  Dinge  vollbringen 
kann,  müssen  wir  ihn  deshalb  für  .Gottes  Sohn"  halten?  Müssen 
wir  nicht  vielmehr  sagen,  daß  diese  Dinge  nur  Veranstaltungen 
schlechter,  schlimmen  Dämonen  ergebener  Menschen  sind?"  Die 
Christen  Taschenspieler  oder  Zauberer  oder  beides  —  das  ist  die 
eigentliche  Meinung  des  Celsus  ^.  Origenes  gibt  sich  viele  Mühe, 
diesen  schwersten  Vorwurf  zu  widerlegen'^.  Es  gelingt  ihm  auch. 
Er  kann  auf  die  gewisse  Tatsache  verweisen,  daß  Christus  all 
sein  Wirken  unter  den  Zweck,  die  Menschen  zu  bessern,  gestellt 
hat^.    Tun  das  die  Zauberer?    Aber  eine  ernste  Mahnung  an  die 


')  Usgl  ovofiuzcm'  ra  iv  djroQQtjzoi?  (fi?.oao(fnv. 

-)  Vgl.  dazu  die  Aussage  des  Schülers  des  Origenes,  des  Bischofs  Diony- 
sius  von  Alexandrien  (bei  Euseh.,  h.  e.  VII,  10,  4).  über  die  Ursache  des  Aus- 
bruchs der  valerianischen  Verfolgung.  Hier  haben  heidnische  und  christliche 
Beschwörer  sich  gegenüber  gestanden.  Von  diesen  sagt  Dionysius :  „Es  gibt 
und  gab  unter  ihnen  viele,  die  durch  ihre  bloße  Gegenwart  und  ihren  Blick, 
sowie  schon  durch  Anblasen  und  durch  ein  Wort  die  Blendwerke  der  bösen 
Geister  zu  zerstören  vermögen."  Auch  sonst  sind  lokale  Christenverfolgungen, 
ja  sogar  die  gi-oße  Diocletianische,  so  entstanden,  daß  die  heidnischen  Priester 
erklärten,  die  anwesenden  Christen  verhinderten  durch  ihre  Gegenwart  die 
heilbringenden  Opfer  usw. 

^)  Über  die  gnostischen  Dämonenbeschwörer  hat  er  sich  (VI,  39  f.)  noch 
besonders  ausgesprochen. 

*)  S.  z.  B.  I,  68.  —  °)  S.  z.  B.  III,  28  und  I,  68. 


1  26  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Kirclie  und  an  die  Christen  lug  doch  in  diesem  Yonvurf  des 
Celsus,  den  er  nicht  allein  erhoben  liat.    Schon  um  die  Mitte  des 

2.  Jahrhunderts  hatte  ein  christlicher  Geistlicher  gepredigt:  „Der 
Käme  des  Avahren  Gottes  wird  durch  uns  Christen  unter  den 
Heiden  verlästert:  denn  wenn  wir  die  Gebote  Gottes  nicht  erfüllen, 
sondern  ein  unwürdiges  Leben  führen,  so  wenden  sich  die  Heiden 
ab  und  lästern  und  sagen,  unsere  Lehre  sei  nur  ein  neuer  Mythus 
und  Irrtum  ^"  Seit  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  wurde  den 
Christen  nicht  selten  zugerufen,  sie  seien  Taschenspieler  oder 
Schwarzkünstler,  und  gewiß  nicht  wenige  unter  ihnen  trugen  die 
Schuld  an  solchem  Vorwurf^.  Die  „Besessenenheilungen",  von 
ungeistlichen  Menschen  als  Metier  betrieben,  mußten  bei  aller 
Anziehungskraft,  die  sie  besaßen  (Tertull.,  Apol.  23:  „Christianos 
facere  consuerunt"),  auf  Besonnenere  doch  auch  abstoßend  wirken. 
Dazu  kam,  daß  leichtfertige  oder  ungebildete  Christen  ihre  Sünden 
nicht  selten  damit  entschuldigt  haben  müssen,  sie  seien  von  einem 
Dämon  verführt  worden  oder  —  nicht  sie  hätten  das  Böse  getan, 
sondern    der    Dämon  ^.       Wirkliche    Aufklärung     vermochte     im 

3.  Jahrhundert  kaum  Einer  zu  bringen.  Christen  und  Heiden 
verstrickten  sich  immer  mehr  in  den  Dämonenglauben,  und  während 
sie  in  der  Dogmatik  und  Religionsphilosophie  den  Polytheismus 
immer  mehr  verdünnten  und  einen  sublimen  Monotheismus  aus- 
arbeiteten, versanken  sie  im  Leben  immer  hilfloser  in  die  Ab- 
gründe der  erträumten  Geisterwelt.  Vergeblich  protestierten  ein- 
sichtige Arzte  *. 

')  II  Clem.  ad  Cor.  lo,  3:  /ivdöv  nvu  y.al  :t)ävi]v. 

^)  Daß  die  christlichen  Exorzisten  gewöhnlich  ungebildete  Leute  waren, 
gibt  Origenes  selbst  zu,  betont  aber  wiederholt  und  ausdrücklich,  daß  keine 
Zauberei  und  Schwarzkunst  angewendet  werde,  sondern  einzig  das  Gebet 
„und  so  einfache  Beschwörungsformeln,  daß  sie  auch  der  einfachste  Mensch 
anwenden  kann"  (c.  Gel.  VII,  4:  ovr  ovbsvi  crentsgyco  xal  fiayix(J>  i]  (jiaoiiay.ev- 
riy.(o  :Tgdy/iaTi,  «A/.ä  /(öinj  fvyfj  y.ai  Ofjycoosatv  aj:).ovoTeQaiQ  xal  öoa  äv  övvano 
TiQooäyeiv  d:7?.ovort:oog  äv&QWTiog,  vgl.  Comm.  in  Matth.  XllI,  7,  t.  o  p.  224). 

^)  S.  Orig. .  de  princip.  III,  2,  1 :  „Unde  et  simpliciores  quique  domino 
Christo  credentium  existimant,  quod  omnia  peccata,  quaecunque  commiseriut 
honiines,  ex  istis  contrariis  virtutibus  [seil,  den  Dämonen]  mentem  deliuquen- 
tium  perurgentibus  fiant." 

*)  So  jener  berühmte  Arzt  Posidonius  am  Ende  des  4.  Jahrhunderts,  von 
dem  Philostorgius  (h.  e.  VIII,  10)  erzählt:  Uyeir  avxöv  —  6)/ok  ovy.  6oi)o)g, 
lügt  Philostorgius  hinzu  —  ovyl  daifi6vo)v  i:^idsasi  rovg  m'&Qcänovg  sxßayy/ü- 
Efidai,  vyfj(7)v  d^  rtvoyr  y.ay.oyyitim'  ro  nädog  f-gyaCsadai'  /lij  yuQ  sTvai  rö  naQä::iav 
ioyvv  baifiövojv  urOoo)rro}r  (/'voiv  fTCtjOEÜLOVoav. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  ]27 

Yioi'tos  Kap  i  t  el. 
Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung  K 

,,Tch  bin  hungrig  gewesen,  und  ihr  habt  mich  gespeiset:  ich 
bin  durstig  gewesen,  und  ihr  habt  mich  getränket:  ich  bin  ein 
Gast  gewesen,  und  ihr  habt  mich  beherbergt:  ich  bin  nackend 
gewesen,  und  ihr  habt  mich  bekleidet;  ich  bin  krank  gewesen, 
und  ihr  habt  mich  besuchet:  ich  bin  gefangen  gewesen,  und  ihr 
seid  zu  mir  gekommen.  Denn  was  ihr  getan  habt  einem  unter 
diesen  meinen  geringsten  Brüdern,  das  habt  ihr  mir  getan." 

Diese  Worte  Jesu  haben  in  seiner  Gemeinde  mehrere  Gene- 
rationen hindurch  so  hell  geleuchtet  und  so  kräftig  gewirkt,  daß 
man  die  christliche  Missionspredigt  auch  als  Predigt  der  Liebe 
und  Hilfleistung  bezeichnen  kami.  Ja  von  hier  aus  erscheint 
die  Yerkündigmig  vom  Heiland  und  von  der  Heilung  nur  als 
ein  Ausschnitt,  wie  denn  auch  die  Worte:  ,,Ich  bin  krank  ge- 
gewesen,  und  ihr  habt  mich  besuchet",  ein  Glied  in  jener  Kette 
von  Sprüchen  sind. 

Unter  den  überlieferten  Worten  und  Gleichnissen  Jesu  sind 
die,  welche  zur  Liebe  und  Hilfleistung  ermahnen,  besonders 
zahlreich,  und  auch  manche  Erzählungen  von  ihm  gehören  hier- 
her^. Aber  jene  Worte  mögen  noch  zahlreicher  oder  spärlicher 
sein  —  daß  die  Ermahnung  zur  Brüderlichkeit  mid  zur  dienen- 
den Liebe  der  Kern  seiner  Predigt  gewesen  ist,  so  oft  sie  das 
Verhältnis  von  Mensch  zu  Mensch  ins  Auge  faßt,  steht  fest,  und 
daß  er  selbst  diese  Brüderlichkeit  und  dienende  Liebe  in  sich 
und  seinem  Wirken  dargestellt  hat.  war  das  Sicherste  in  dem 
Eindruck,  den  er  hinterlassen  hat.  „Einer  ist  euer  Meister:  ihr 
alle  aber  seid  Brüder".  „Welcher  unter  euch  will  der  Vornehmste 
werden,  der  soll  aller  Knecht  sein:  denn  auch  der  Menscliensohn 


')  Eine  gründliche,  aber  gegen  das  ,, Heidentum"  ungerechte  Darstellung 
hat  Uhlhoru  geliefert:  :,Die  christl.  Liebestätigkeit  in  der  alten  Kirche'" 
1.  Aufl.,  1882.     Auch  Griechen  und  Römer  kannten  die  Philanthropie. 

-)  Man  erinnere  sich  vor  allem  des  Gleichnisses  vom  barmherzigen 
Samariter  und  des  neuen  Begriffs  vom  „Nächsten",  welches  es  bringt,  sowie 
des  Gleichnisses  vom  verlorenen  Sohn;  unter  den  „Geschichten"  der  vom 
reichen  Jüngling.  Das  Hebräer-Evangelium  hat  die  letztere  besonders  ein- 
drucksvoll erzählt:  „Und  es  sprach  der  Hen-  zu  ihm:  Wie  kannst  du  sagen: 
Ich  habe  das  Gesetz  und  die  Propheten  gehalten,  da  doch  im  Gesetz  ge- 
schrieben steht:  „Du  sollst  lieben  deinen  Nächsten  als  dich  selbst?"  Und 
siehe,  viele  deiner  Brüder.  Söhne  Abrahams,  liegen  im  Schmutze  und  sterben 
vor  Hunger,  und  dein  Haus  ist  voll  von  vielen  Gütern,  und  niemals  kommt 
etwas  aus  ihm  heraus  zu  jenen." 


128  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

ist  nicht  gekommen,  daß  er  sieh  dienen  lasse,  sondern  daß  er 
diene  und  gebe  sein  Leben  zur  Bezahlung  für  viele."  So  sollte 
das  Gebot  der  Nächstenliebe  verstanden  werden.  Wie  schranken- 
los es  gilt,  zeigt  der  Spruch:  „Ijiebet  eure  Feinde,  segnet  die 
euch  fluchen,  tut  wohl  denen,  die  euch  hassen,  bittet  für  die,  so 
euch  beleidigen  und  verfolgen  ^ :  auf  daß  ihr  Kinder  seid  eures 
Vaters  im  Himmel:  denn  er  läßt  seine  Sonne  aufgehen  über  die 
Bösen  und  über  die  Guten,  und  läßt  regnen  über  Gerechte  und 
Ungerechte".  „Selig  sind  die  Barmherzigen",  ist  der  Grundton 
der  Verkündigung  Jesu,  und  weil  diese  Barmherzigkeit  vom 
Größten  bis  zum  Kleinsten,  vom  Innersten  bis  zum  Äußerlichsten 
reichen  soll,  so  steht  neben  dem  alles  beherrschenden  Spruch: 
„Vergib  uns  vmsre  Schuld,  wie  wir  vergeben  imsern  Schuldigern", 
der  andere,  in  welchem  des  Bechers  kalten  Wassers  nicht  ver- 
gessen ist-.  Brüderlichkeit  ist  Liebe  auf  dem  Fuße  der  Gleich- 
heit: dienende  Liebe  ist  Vergeben  und  Geben:  keine  Schranke 
soll  ihr  mehr  gezogen  sein.  Dienende  Liebe  ist  aber  auch 
die  Betätigung  der  Liebe  zu  Gott. 

Indem  Jesus  selbst  diese  Liebe  darstellte  und  Ivi-aft  und 
Leben  werden  ließ,  lernten  seine  Jünger  das  Größte  und  Seligste, 
was  in  der  Religion  gelernt  werden  kann,  nämlich  an  die  Liebe 
Gottes  glauben.  Zum  „Vater  der  Barmherzigkeit  und  Gott  alles 
Trostes"  wurde  ihnen  das  Wesen,  das  Himmel  und  Erde  ge- 
schaffen hat  —  kein  Schwanken  gibt  es  darüber  mehr  in  den 
apostolischen  imd  altchristlichen  Zeugnissen  — .  und  nmi  erst  trat 
in  der  Menschjeit  das  Zeugnis-  hervor,  dem  nichts  mehr  über- 
geordnet werden  kann:  Gott  ist  die  Liebe.  Die  erste  große, 
einheitliche  Zusammenfassung  der  neuen  Religion,  die,  welche 
der  vierte  Evangelist  gegeben  hat,  ist  ganz  und  ausschließlich 
auf  die  Liebe  gestellt  —  „Lasset  uns  ihn  lieben:  denn  er  hat 
uns  zuerst  geliebt"  ;  „Also  hat  Gott  die  Welt  geliebt" ;  „Ein  neu 
Gebot  gebe  ich  euch,  daß  ihr  euch  unter  einander  liebt"  —  und 
das  Größte,  Gewaltigste  und  Tiefste,  was  der  Apostel  Paulus 
geschrieben  hat,  ist  der  Hymnus,  der  mit  den  Worten  beginnt: 
„Wenn  ich  mit  Menschen-  und  Engelzungen  redete  und  hätte 
der  Liebe  nicht,  so  wäre  ich  ein  tönendes  Erz  oder  eine  klingende 
Schelle".  Die  neue  Sprache,  die  den  Christen  auf  die  Lippen 
gelegt  wurde,  war  di(!  Sprache  der  Liebe. 

Es  war  riielit  nur  eine  Sprache:  es  war  Kraft  und  Tat:  sie 
betrachteten  sich  wirklich  als  Brüder  und  Schwestern  und  han- 
delten danach.     Wir   haben    dafür    zwei  vollgültige  Zeugnisse  aus 


')  Auch  der  Siiruch:  „Fastet  für  eure  Verfolger",  ist  überliefert;  s.  Doctr. 
apost.  1. 

-)  Matth.  10,  42. 


Das  Evangelium  der  Liebe  and  Hilfleistung.  129 

,/ 
heidnischem  Mund»;  Daß  sie  dem  Ende  des  2.  Jahrhnndcrts  an- 
gehören, macht  fiich  um  so  wertvoller.  Lucian  sagt  von  den 
Christen:  „Ihr  erster  Gesetzgeber  hat  ihnen  die  Überzeugung  bei- 
gebracht, daß  sie  alle  untereinander  Brüder  seien;  sie  entv\'ickeln 
eine  unglaubliche  Rührigkeit,  sobald  sich  etwas  ereignet,  was 
ihre  gemeinschaftlichen  Interessen  berührt;  nichts  ist  ihnen  als- 
dann zu  teuer" ^,  und  Tertullian  bemerkt^:  „Die  Sorge  für  die 
Hilflosen,  die  wir  üben,  unsere  Liebestätigkeit,  ist  bei  miseren 
Gegnern  zu  einem  Merkmal  für  uns  geworden:  , Siehe  niir',  sagen 
sie,  ,wie  sie  sich  untereinander  lieben'  —  sie  selber  hassen  sich 
nämlich  untereinander  — ,  und  wie  einer  für  den  andern  zu 
sterben  bereit  ist';  sie  selber  wären  eher  bereit,  sich  gegenseitig 
umzubringen 3."  Das  Wort:  „Dabei  wird  jedermann  erkennen, 
daß  ihr  meine  Jünger  seid,  so  ihr  Liebe  imtereinander  habt",  ist 
also  die  Konstatierung  einer  Tatsache. 

Das  Evangelium  wurde  so  zu  einer  sozialen  Botschaft.  Die 
Predigt,  welche  das  innerste  Wesen  des  Menschen  ergriif.  ihn  aus 
der  Welt  herauszog  und  ihn  mit  seinem  Gott  zusammenschloß, 
war  auch  die  Predigt  von  der  Solidarität  und  Brüderlichkeit. 
Das  Evangelium,  hat  man  mit  Recht  gesagt,  ist  im  Tiefsten  indi- 
vidualistisch und  im  Tiefsten  sozialistisch  zugleich.  Seine  Tendenz 
auf  Assoziation  ist  nicht  eine  zufällige  Erscheinung  in  seiner  Ge- 
schichte, sondern  ein  wesentliches  Element  seiner  Eigenart.  Es 
vergeistigt  den  unüberwindlichen  Trieb,  der  den  Menschen  zum 
Menschen  zieht,  und  erhebt  die  gesellschaftliche  Verbindung  der 
Menschen  über  die  Konvention  hinaus  in  den  Bereich  des  sittlich 
Notwendigen.  Es  steigert  damit  den  Wert  des  Menschen  mid 
schickt  sich  an,  diese  gegenwärtige  Gesellschaft  umzubilden,  den 
Sozialismus,  der  da  ruht  auf  der  Voraussetzung  widerstreitender 
Interessen,  umzuwandeln  in  den  Sozialismus,  der  sich  gründet  auf 
dem  Bewußtsein  einer  geistigen  Einheit  und  eines  gemeinsamen 
Ziels.  Dem  großen  Heidenapostel  hat  das  klar  vor  der  Seele 
gestanden:  in  seinen  kleinen  Gemeinden,  in  denen  jeder  die  Last 
des  anderen  trug,  sah  er  im  Geiste  bereits  eine  neue  Menschheit, 
imd  in  dem  Epheserbrief  hat  er  dem  einen  jubelnd  freudigen  Aus- 
druck gegeben.  Im  wesenlosen  Scheine  hinter  diesen  Gemeinden 
—  wenn  sie  waren,  was  sie  sein  sollten  —  lagen  die  Gegensätze 
von  Juden  und  Heiden,  Barbaren  und  Griechen,  Vornehm  imd 
Gering.  Reich  imd  Arm.  Eine  neue  Menschheit  war  vorhanden. 
Der  Apostel  schaute  sie  als  den  Leib  Christi  an,  in  welchem  jedes 


1)  Liician,  Peregrin.  10.  —  -)  Apolog.  39.     - 

*)  Dazu  Cäcilius  bei  Min.  Felix  9:  ,An  geheimen  Merkmalen  und  Zeichen 
kennen  sie  sich  und  lieben  sich  fast  vorher,  ehe  sie  sich  kennen." 
Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  9 


130  Die  Missionsin-edigt  in  Wort  und  Tat. 

Glied  dem  anderen  dient  und  jedes  an  seiner  Stelle  notwendig  ist. 
In  Stunden  hoher  Begeisterung  nahm  er  im  Blick  auf  diese  Ge- 
meinden, trotz  ihrer  Kümmerlichkeiten  und  Schwächen,  die  Ent- 
wickelung  von  Jahrtausenden  vorweg  ^ 

Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein  —  denn  es  würde  zu 
weit  führen  — ,  alle  die  Stellen  aus  den  Schriften  der  drei  ersten 
Jahrhunderte  zu  sammeln,  wo  zur  Liebe  und  Hilfleistung  ermahnt 
wird.  Allerdings  würde  uns  bei  solcher  Sammlung  manches  Wert- 
volle begegnen;  wir  würden  sehen,  daß  die  Aufforderung  zu 
schrankenlosem  Geben,  wie  wir  sie  in  Sprüchen  Jesu  finden, 
wiederholt  worden  ist;  wir  würden  uns  andererseits  wundern,  daß 
die  Stellen,  die  das  Liebesgebot  einschärfen,  nicht  noch  zahlreicher 
sind,  und  daß  sie  hinter  den  Mahnmigen  zur  Askese  so  oft  zurück- 
treten, und  wir  würden  an  manchen  Fassungen  Anstoß  nehmen, 
in  denen  die  Begehrlichkeit  nach  „Lohn"  für  die  Übung  der 
Barmherzigkeit  recht  ungeschminkt  hervortritt^.  Allein  die  Lohn- 
sucht ist  hier  nicht  unter  allen  Umständen  unsittlich,  und  die 
größere  oder  geringere  Anzahl  von  Ermahnungen  ist  nicht  ent- 
scheidend. Entscheidend  ist,  festzustellen,  was  wirklich  auf  dem 
Gebiete   der  Liebestätigkeit  und  Hilfleistung   geschehen   ist,   und 


*)  Die  Warnung  vor  Unbarmherzigkeit  und  der  Tadel  der  Unbarm- 
herzigen innerhalb  der  Gemeinde  haben  freilich  frühe  beginnen  müssen;  man 
vergleiche  den  Jacobus])rief  (c.  4  u.  5)  und  mehrere  Abschnitte  im  Hirten  des 
Hermas. 

^)  Belege  für  alle  diese  Punkte  findet  man  in  der  ganzen  Literatur  von 
der  ^ Apostellehre"  und  dem  Hirten  des  Hermas  ab.  Schrankenloses  Geben: 
Doctrin.  apost.  1,5  f.:  Jiavxi  zw  alrovvic  oe  8ßov  xai  /lij  djtaiiei'  näoi  yaQ  ■diXst 
öi'Öoo&ai  6  jiarijQ  ex  xwv  lÖicov  xagio/idicor.  fianägiog  6  Siöovg  xara  rip'  IvTolrjv; 
ädqjog  yiiQ  iaziv  oval  tco  JMfißävovrr  ei  fikv  yag  xqemv  sycov  Xa^ißärei  rig,  äd^coo? 
l'oraf  6  ÖE  fii]  ygetw  f'yoiv  dcöasi  öixtjv,  Iva  zi  slaßs  xai  Eig  zi-  h'  avvoyf/  öe 
yEvöfiEvog  E^EiaadtjOEzai  jieqI  <hv  Ejiga^E ,  xai  ovx  i^e?.£i!0£zai  exeWev  fiE/jjig  ov 
oTtoöio  lov  Ecyazor  xoSgävztp'.  Die  oft  wiederholte  Aufforderung  zum  schranken- 
losen Geben  steht  mit  dem  Besitzproblem  der  alten  Kirche  und  daher  auch 
mit  dem  asketischen  Problem  in  inniger  Verbindung.  Besitz  oder  gar  Reich- 
tum soll  überhaupt  nicht  sein,  sagte  die  Theorie  von  Anfang  an;  denn  er 
gehört  zu  der  Welt,  der  man  entsagen  soll.  Die  Hingabe  von  Mitteln  für 
andere  trat  damit  unter  einen  ganz  neuen  Gesichtsjiunkt:  daß  mau  den 
Besitz  los  wurde,  war  an  sich  das  Vorgeschriebene  und  Verdienstliche,  gleich- 
gültig war  zunächst,  wem  man  ihn  gab.  Aber  in  der  Praxis  stellte  sich  die 
Sache  anders  dar,  und  zu  ihr  leitete  die  Theorie  selbst  immer  wieder  au, 
weil  sie  das  Prinzip  der  Freiwilligkeit  nicht  aufgegeben  hat 
(auch  in  Jerusalem  war  der  Versuch  eines  KommunisTiius,  wenn  er  überhaupt 
stattgefunden  hat,  dem  Boden  der  Freiwilligkeit  nicht  entrückt).  Durch  das 
Prinzip  der  Freiwilligkeit  wurde  das  der  Liebe  mit  in  Kraft  erhalten.  In 
der  Praxis  ül)ten  nur  einige  wenige  den  vollkommenen  Verzicht;  sie  galten 
als  Heroen  und  Heilige.  Die  anderen  befanden  sich  genau  in  derselben  Lage, 
Stimmung  und  Sorge,  in  der  sich  noch  heute  ernste,  opferwillige  katholische 
Christen   befinden;  sie   wurden  vom  asketischen  und  von  dem  Liebes -Motiv 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  131 

davon  eine  Übersicht  zu  geben,  wollen  wir  versuchen.  Drei 
Stellen  seien,  um  die  Gesamtwirkungen  zu  charakterisieren,  vor- 
angestellt. 

In  dem  offiziellen  Schreiben,  welches  die  römische  Gemeinde 
um  das  Jahr  96  an  die  corinthische  gerichtet  hat,  wird  der  treff- 
liche Zustand  geschildert,  in  welchem  sich  diese  Gemeinde  bis 
vor  km"zem  befunden  hat  (I  Clem.  1.  2).  Die  Schilderung  bringt 
uns  also  das  Idealbild  einer  christlichen  Gemeinde,  väe  sie  sein 
soll  und  wie  es  annähernd  in  Corinth  ver^sirklicht  war:  „Wer 
wäre  bei  euch  eingekehrt  und  hätte  nicht  euern  tugendreichen 
imd  festen  Glauben  erprobt?  wer  eure  besonnene  mid  tüchtige 
christliche  Frömmigkeit  nicht  bewundert?  wer  die  glänzenden 
Erweise  euerer  Gastfreundschaft  nicht  gerühmt  und  euer  voll- 
endetes und  sicheres  Erkennen  nicht  hochgepriesen?  Tatet  ihr 
doch  alles,  ohne  persönliche  Rücksichten  walten  zu  lassen; 
ihr  wandeltet  in  Gottes  Satzungen,  eueren  Vorgesetzten  untergeben 
und  eueren  Altesten  die  geziehmende  Ehre  erweisend.  Die  Jugend 
hieltet  ihr  an.  ihren  Sinn  auf  Bescheidenes  und  Würdiges  zu 
richten.     Die  Frauen  ermahntet  ihr,  alles  mit  tadellosem,  würde- 


zugleich  bestimmt.  Diese  Lage  braucht  daher  nicht  näher  beschrieben  zu 
•werden.  Der  strengste  Standpunkt  kommt  bei  Hermas,  Sim.  I  zum  Ausdruck 
(s.  0.  S.  84). 

Über  den  altchristlichen  „Kommunismus"  hat  man  viel  geschrieben. 
Auf  dem  Boden  der  großen  Heidenkirche  hat  er  nie  existiert;  denn  eine 
solche  partikulare  Erscheinung  wie  die  der  halbheidnischen  carpocratiauischen 
Sekte  mit  ihrem  Kommunismus  kommt  nicht  in  Betracht.  Der  mönchische 
Kommunismus  wird  aber  nur  ex  abusu  so  genannt,  gehört  übrigens  nicht 
mehr  hierher.  Auch  auf  judenchristlichem  Boden  hat  es  keinen  Kommunis- 
mus gegeben  —  das  Beispiel  der  Essener  blieb  also  wirkungslos.  Richtig 
L'hlhorn  (a.  a.  0.  S.  68):  „Man  kann  sich  die  sog.  Gütergemeinschaft  nicht 
falscher  vorstellen,  als  wenn  man  sich  darunter  eine  Institution  denkt,  ähn- 
lich der  bei  den  Essenern  und  Therapeuten  vorkommenden.  Viel  besser  stellt 
man  sich  den  Zustand  als  die  Abwesenheit  jeder  Institution  vor."  Kommu- 
nistisch klingende  Anweisungen  sind  nicht  ganz  selten  (s.  z.  B.  Barnab.  e^). 
19,8,  TertuU. ,  Apol.  39),  aber  sie  sind  doch  nicht  so  zu  verstehen.  Die 
häufige  Formel  ^ovy.  ioeTg  i'dia  eirai~  gebietet  nm-  die  Freigebigkeit  und  ver- 
bietet, das  Vemiögen  nur  zum  eigenen  Vorteil  zu  gebrauchen. 

Es  ist  oben  gesagt  worden,  daß  das  Prinzip  der  Freiwilligkeit  (in  bezug 
auf  das  Geben  überhaupt  und  die  Höhe  der  Gaben)  nicht  aufgegeben  worden 
ist.  Dieser  Satz  erleidet  indes  eine  Einschränkung.  Zwar  das  Abendland 
kennt  in  miserer  Periode,  so  viel  ich  sehe,  das  Gebot  der  Erstlinge  und 
Zehnten  noch  nicht  (Cyprian,  de  unit.  26,  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  gelte 
das  Zehntengebot) ;  aber  in  einigen  Gegenden  des  Ostens  ist  die  Übertragung 
des  Erstliugsgebots  uralt,  s.  die  Apostellehre  c.  13.  Aus  der  Apostellehre  ist 
es  als  apostolische  Anordnung  in  alle  orientalischen  apostolischen  Konstitu- 
tionen gekommen.  Doch  scheint  es  Origenes  noch  nicht  als  ein  kirchliches 
Gebot  anzusehen ;  er  selbst  aber  hält  es  für  gültig  (in  Num.  hom.  XI,  1 ;  in 
Jos.  Nav.  hom.  XVII). 


132  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

vollem  und  reinem  Gewissen  zu  tun  imd  ihren  Männern  mit  schul- 
diger Liebe  entgegenzukommen.  Ihr  lehrtet  sie,  in  den  Schranken 
des  Gehorsams  das  Hauswesen  würdig  zu  besorgen  und  allerwegs 
züchtig  zu  sein.  Ferner  wart  ihr  insgesamt  demütig,  in  keinem 
Stück  hoff  artig,  lieber  gehorsam  als  befehlend,  lieber  gebend 
als  nehmend.  Zufrieden  mit  den  von  Christus  verliehenen 
Gütern  und  an  ihnen  festhaltend,  bewahrtet  ihr  seine  Worte  zu 
tiefst  im  Innern,  und  seine  Leiden  schwebten  euch  vor  Augen. 
Allen  war  so  tiefer  und  reiner  Frieden  geschenkt  und  ein  un- 
stillbares Verlangen  nach  Übung  der  Wohltätigkeit. 
.  .  .  .  Tag  und  Nacht  läget  ihr  im  Wettstreit  für  das 
Beste  der  gesamten  Bruderschaft,  damit  durch  Barm- 
herzigkeit und  Sorge  die  Zahl  der  Auserwählten  Gottes  ge- 
rettet w^erde.  Ihr  wäret  schlicht  und  arglos  und  trüget  einander 
nichts  nach.  Jedes  Zerwürfnis  und  jede  Spaltung  war  euch  ein 
Greuel.  Ihr  beklagtet  die  Fehltritte  des  Nächsten  und 
beurteiltet  seine  Versehen  gleich  euren  eigenen.  Keine 
AVohltat  reute  euch,  und  zu  jeder  guten  Tat  wart  ihr 
bereit." 

Justin  in  seiner  Apologie,  dort  wo  er  den  christlichen  Gottes- 
dienst darstellt,  schreibt  am  Schlüsse  der  Schilderung  (c.  67): 
„Die  Wohlhabenden  und  W^illigen  geben,  ein  jeder  nach  eigenem 
Ermessen,  soviel  er  will,  mid  das  Gesammelte  ward  bei  dem  Vor- 
steher niedergelegt,  und  er  unterstützt  die  Witwen  mid  Waisen 
und  die  Bedürftigen,  sei  es  die  Kranken,  sei  es  die  sonst  Mangel 
Leidenden,   und   die  Gefangenen  und   die  zugereisten  Fremden." 

Tertullian  endlich  (Apolog.  39)  schreibt:  „Wenn  bei  ims  auch 
eine  Art  von  Kasse  vorhanden  ist,  so  wird  sie  nicht  etwa  durch 
ein  Aufnahmehonorar,  was  eine  Art  von  Verkauf  der  Religion  wäre, 
gebildet,  sondern  jeder  einzelne  steuert  eine  mäßige  Gabe  bei 
an  einem  bestimmten  Tage  des  Monats  oder  wann  er  will,  wofern 
er  will  und  kann;  denn  niemand  wird  dazu  genötigt,  sondern 
jeder  gibt  freiwillig  seinen  Beitrag.  Das  sind  gleichsam  die 
Sparpfennige  der  Gottseligkeit.  Denn  es  wird  nichts  davon  für 
Schmausereien  und  Trinkgelage  oder  nutzlose  Freßwirtschaft  aus- 
gegeben, sondern  zum  Unterhalt  und  Begräbnis  von  Armen,  von 
eiterlosen  Knaben  und  Mädchen  ohne  Vermögen,  auch  für  Greise, 
die  nicht  mehr  aus  dem  Hause  können,  ebenso  für  Schiff'brücliige, 
uiul  wenn  sich  etwa  Leute  in  den  Bergwerken,  auf  den  Inseln 
oder  in  Gefangenschaft  befinden,  w'ofern  mu-  die  Zugehörigkeit 
zm'  Genossenschaft  Gottes  die  Ursache  davon  ist  —  diese  werden 
Versorgungsbereehtigte  ihres  Bekenntnisses." 

Im  folgenden  werden  wir,  soweit  es  unsere  Aufgabe  nötig 
macht,  handeln: 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistuiig.  i;33 

(1)  Von  dem  Alniosen  überhaupt  und  seiner  Verbindung  mit 
dem  Kultus  und  den  kirchlichen  Beamten. 

(2)  Von  der  Unterstützung  der  Lehrer  und  Beamten. 

(3)  Von  der  Unterstützung  der  Witwen  und  Waisen. 

(4)  Von  der  Unterstützung  der  Kranken,  Schwachen  und 
Arbeitsunfähigen. 

(5)  Von  der  Sorge  für  die  Gefangenen  und  in  den  Bergwerken 
Schmachtenden. 

(6)  Von  der  Sorge  für  die  zu  begrabenden  Armen  und  die 
Verstorbenen  überhaupt. 

(7)  Von  der  Sorge  für  die  Sklaven. 

(8)  Von  der  Sorge  bei  großen  Kalamitäten. 

(9)  Von  dem  Arbeitsnachweis  und  dem  Recht  auf  Arbeit  in 
den  Gemeinden. 

(10)  Von  der  Sorge  für  die  zugereisten  Brüder  (Gastfreund- 
schaft) und  für  arme  oder  gefährdete  Gemeinden. 

(1)  Das  Almosen  überhaupt  und  seine  Verbindung 
mit  dem  Kultus. 

Zur  Freigebigkeit  ist  fort  und  fort  ermahnt  worden,  und  zwar 
soll  das  Haus  die  Stätte  dieser  Tugend  und  das  tägliche  Leben 
ihre  Bewährung  sein.  Von  den  apostolischen  Mahnungen  bis  zur 
großen  Schrift  Cyprians  „de  opere  et  eleemosynis"  läuft  eine  lange 
Kette  von  Einschärfungen.  Die  Bedeutung  des  Almosens  für  die 
religiöse  Haltung  des  Spendenden  und  die  Aussicht  auf  Lohn  im 
Jenseits  ist  dabei  immer  mehr  gesteigert  worden.  Schon  im 
Hirten  des  Hermas  liest  man  darüber  viel,  und  im  "2.  Clemens- 
briefe heißt  es:  y.aXbv  sAeyjßoovvij  cog  juerdvoia  äjLtaoTiag,  xgsioaMv 
vt]oreia  nQooevyfjg,  l?.e}]jLioovrrj  de  äinq)OT£QO)v.  Zu  einem  förndichen 
Gnadenmittel ,  dem  einzigen,  welches  der  Christ  nach  der  Taufe 
noch  besitzt,  hat  Cyprian  das  Almosen  entwickelt^,  ja  noch  mehr 
—  er  hat  das  Almosen  als  ein  Schauspiel  hingestellt,  welches 
der  Christ  Gott  darbietet '■^. 


^)  De  op.  et  eleena.  1:  ,nam  cum  dominus  adveniens  sanasset  illa  quae 
Adam  portaverat  vulnera  et  veueua  serpeutis  antiqui  curasset,  legem  dedit 
sano  et  praecepit,  ue  ultra  iam  peccaret,  ne  quid  peccauti  gravius  evenirefc. 
coartati  eramus  et  in  angustum  innocentiae  praescriptione  conclusi.  nee 
haberet  quid  fragilitatis  humanae  infirmitas  atque  imbecillitas  faceret,  nisi 
iterum  pietas  divina  subveniens  iustitiae  et  misericordiae  operibus  ostensis 
viam  quandam  tuendae  salutis  aperiret,  ut  sordes  postmodum,  quascumque 
contrahimus,  eleemosynis  abluamus." 

*)  L.  C.21:  „Quäle  munus,  cuius  editio  deo  spectante  celebratur!  si  in 
gentilium  munere  graude  et  gloriosum  videtur  proconsules  vel  imperatores 
habere  praesentes  et  apparatus  ac  sumptus  apud  munerarios  maior  est,  ut 
possint  placere  maioribus  —  quanto  inlustrior  mmieris  et  maior  est  gloria 
deum  et  Christum  spectatores  habere,  quanto  istic  et  apparatus  uberior  et 


134  Die  Missiouspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Diese  Seite  der  Sache  zu  verfolgen  und  /ai  untersuchen,  in 
welchem  Grade  dadurch  das  Almosen,  das  aus  der  Menschenliebe 
fließen  soll,  gelitten  hat,  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein. 
Gewiß  ist,  daß  viel,  sehr  viel  privatim  in  den  christlichen  Ge- 
meinden gegeben  worden  ist  ^  Den  Heiden  war  das,  wie  wir 
bereits  gehört  haben,  nicht  unbekannt^. 

Allein  die  alte  Christenheit  hat  sich  mit  diesem  privaten 
Almosenspenden  nicht  begnügt^,  sondern  sie  hat,  wie  es  scheint 
von  Anfang  an,  eine  Gemeindekasse  (Tertull.:  „arca")  gebildet 
und  die  Liebestätigkeit  auf  das  engste  mit  dem  Kultus   und    den 


sumptus  largior  exhibendus  est,  ubi  ad  spectaculum  conveniunt  caelorum 
virtutes,  conveuiunt  angeli  omnes,  ubi  munerario  non  quadriga  vel  consulatus 
petitur,  sed  vita  aeterna  praestatur,  nee  captatur  inanis  et  temporarius  favor 
Yulgi,  sed  perpetuum  praemium  regni  caelestis  accipitur." 

^)  Der  Heide  bei  Macarius  Magnes  (III,  5)  behauptet,  daß  manclie 
Christinnen  durch  Verschenken  ihres  Eigentums  zu  Bettlerinnen  geworden 
sind:  „In  der  Tat  haben  die  Christen  noch  gestern,  nicht  etwa  vor  alters 
angesehenen  Frauen  Matth.  19,  21  vorgelesen  und  haben  sie  dadurch  über- 
redet, all  ihren  Besitz  und  ihre  Habe  unter  die  Armen  zu  verteilen,  selbst 
sich  in  Bedürftigkeit  zu  begeben,  sich  milde  Gaben  zu  sammeln  und  so  von 
einer  unabhängigen  Stellung  zu  unschicklicher  Bettelei  herabzusinken,  indem 
sie  statt  des  alten  Wohlstandes  eine  Jammergestalt  annahmen  und  schließ- 
lich gezwungen  waren,  an  den  Türen  derer  anzuklopfen,  die  etwas  besaßen." 

-)  Bei  Clemens  Alex,  ist  das  Motiv  der  Menschenliebe  hier  stets  das 
Übergeordnete;  s.  das  3.  Buch  des  Pädagogen  und  besonders  das  schöne  Wort 
111,7,89:  y.a'&ü.JiEQ  töjv  (fgeuzcov  öoa  jzscfwxev  ßgvEiv  änrnnkovi^iEva  elg  i6  UQiaiov 
uvaTiiövei  jLiETQOV,  ovTcog  i)  fisrüÖooi?,  uya&tj  (pÜMV&QOiJiiag  vnüoyovoa  nr]yi'],  xol- 
vcovovoa  xolq  öctpwoi  jiozov  av^ezai  nü'/.iv  xai  :!ii'/iiJi?Mzai.  Klagen,  daß  die  Wohl- 
tätigkeit abnehme,  bei  Cyprian,  de  unit.  26:  „Largitas  operationis  infracta 
est ...  .  nunc  de  patrimonio  nee  decimas  damus,  et  cum  vendere  iubeat  domi- 
nus, emimus  potius  et  augemus." 

*)  Besonders  häufig  ist  empfohlen  worden,  sich  Almosen  abzusparen 
durch  Fasten.  So  konnte  auch  der  Arme  es  aufbringen.  S.  Hermas,  Simil.  V; 
Aristides,  Apol.  15:  „Und  wenn  bei  ihnen  jemand  ist,  der  bedürftig  oder  arm 
ist,  und  sie  nicht  überflüssige  Mittel  haben,  so  fasten  sie  zwei  oder  drei 
Tage,  damit  sie  den  Armen  erfüllen  den  Bedarf  ihrer  Nahrung" ;  Mart.  Lucii 
et  Montaui  21:  „nam  ut  omittam  carceris  abstinentiam  singularem  ut  acci- 
pientibus  ceteris  vel  modicum  cibuni  qui  de  sordibus  peuuriae  fiscalis  ex- 
hibebatur,  solus  se  ab  ipso  modico  continuit  tanti  habens  ieiuniis  multis  et 
legitimis  fatigari,  dummodo  alios  victu  proprio  saginaret";  auch  Ap.  Constit. 
V,  1  etc.  (diese  Praxis  kommt  auch  in  vorchristlicher  Zeit  vor).  Sonst  tritt 
bei  der  Frage,  wie  das  Almosen  zu  beschaffen  ist,  häufig  und  von  Anfang 
an  der  Hinweis  auf  die  Arbeit  ein,  ja  innerhalb  der  religiösen  Betrachtimg 
ist  dies  fast  der  einzige  Punkt,  wo  der  Arbeit  gedacht  wird  und  ihr  „sitt- 
licher Wert"  (also  nur  indirekt)  in  Betracht  kommt;  s.  Ephes.  4,  28:  „Wer 
gestohlen  hat,  der  stehle  nicht  mehr,  sondern  arbeite  und  schaffe  mit  den 
Händen  etwas  Gutes,  auf  daß  er  habe  zu  geben  dem  Dürftigen." 
Barnab. ,  ep.  19,  10:  öia.  y^eifjwv  oov  egyäo)]  eic:  Ivtqov  uixuqiiwv  oov  [gemeint 
ist  das  Almosen].  Vgl.  meinen  kurzen  Aufsatz  in  der  Zeitschrift  „Evangelisch- 
Sozial"   1905  S.  48f.:  .Der  Wert  der  Arbeit  nach  urchristlicher  Anschauung". 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  135 

Gemeindeämtern  verbunden.  Das  reiche  Material,  welches  wir 
besitzen,  gestattet  es,  folgendes  Bild  zu  entwerfen:  An  jedem 
Sonntag  (s.  schon  I  Cor.  16,  2)  oder  einmal  im  Monat  (Tertull.)  oder 
auch,  wann  es  beliebt  wurde,  brachte  man  in  den  Gottesdienst 
Gaben  (Geld  und  Naturalien  =  „stips")  und  übergab  sie  dem  Vor- 
steher. Dieser  legte  sie  auf  den  Tisch  des  Herrn  nieder,  sie  waren 
damit  Gott  geweiht  ^ ;  der  Empfänger  erhielt  sie  nun  aus  Gottes 
Hand.  „Die  Gnade  und  Menschenfreundlichkeit  des  Herrn  ernährt 
sie",  schreibt  der  Bischof  Cornelius  (Euseb.,  h.  e.  VI,  43).  Der 
Vorsteher  bestimmte,  wer  die  Gaben  erhalten  und  wieviel  ein 
Jeder  empfangen  sollte.  Er  war  dabei  von  Diakonen  beraten, 
die  mit  den  Verhältnissen  aller  möglichst  verti-aut  sein  sollten. 
Sie  verteilten  auch  die  Gaben,  teils  direkt  am  Schluß  des  Gottes- 
dienstes, teils  trugen  sie  sie  den  Hilfsbedürftigen  ins  Haus.  Zu 
den  regelmäßigen  Selbstbesteuerimgen  —  denn  so  muß  man  bei 
dem  Prinzip  der  Freiwilligkeit,  welches  streng  festgehalten  wurde, 
die  Darbringung  nennen  —  kamen  auch  noch  außerordentliche 
Gaben.  So  hören  wir  z.  B.,  daß,  als  Marcion  in  die  römische 
Gemeinde  um  das  Jahr  139  eintrat  (er  kam  aus  Asien  und  war 
bereits  Christ),  er  ihr  200000  Sestertien  zum  Geschenke  brachte"^. 
Zu  den  Unterstützungen  muß  man  auch  die  Liebesmahle 
(Agapen)  rechnen,  mit  denen  ursprünglich  die  solenne  Abend- 
mahlsfeier verbunden  war,  die  sich  aber  auch  in  späterer  Zeit 
noch  erhalten  haben.  Ihrer  Idee  nach  sollten  hier  die  Armen 
Speise  und  Trank  erhalten,  da  eine  gemeinsame  Mahlzeit,  zu  der 
ein  jeder  nach  Vermögen  beitrug,  sie  und  die  Reichen  vereinigen 
sollte.  Mißstände  waren  freilich  schon  frühe  zu  bekämpfen 
(s.  I  Cor.  11,  IS  ff.),  mid  die  ganze  Einrichtmig  (ob  den  heidnischen 
Mahlzeiten  bei  den  Festen  der  Thiasoi  nachgebildet?  schwerlich) 
scheint  überhaupt  keine  besondere  Bedeutimg  erlangt  zu  haben  ^. 


^)  über  das  Verhältnis  von  „stips"  und  „oblationes"  ist  man  noch  nicht 
ins  klare  gekommen.     Die  Sache  kann  hier  auf  sich  beruhen. 

-)  S.  darüber  unten.     Sie  wurden  ihm  wieder  zurückgegeben. 

^)  S.  auch  Judas,  ep.  12;  Tertull.,  Apol.  39,  de  ieiun.  17;  Clemens.  Paed. 
II  1.  —  Die  Kontroversen  über  die  Agapen  brauchen  hier  nicht  erörtert  zu 
werden;  s.  Keating,  The  Agape  and  the  Eucharist.  1901.  Batiffol,  Etudes 
d'hist.  et  de  theol.  positive,  1902,  p.  279  ff.  Funk,  L'Agape  (Rev.  d'hist. 
ecclesiastique  t.  IV,  1,  1903).  In  späterer  Zeit  dienten  auch  die  Mahlzeiten 
bei  den  Gräbern  (Märtyrergräbern)  dazu,  die  Armen  zu  sättigen.  Constantin 
rechtfertigt  diese  Praxis  der  Totenmahlzeiten,  die  augenscheinlich  noch  An- 
stoß gab,  in  seiner  Rede  an  den  h.  Syllogus  (c.  12)  ausdrücklich  durch  den 
Hinweis  der  Unterstützungen,  die  dabei  stattfinden:  tu  ovfin^öoia  [für  die 
Märtyrer  vor  ihren  Gräbern]  .toÖ?  elsov  y.al  äväy.Djotr  tCöv  beoiievcov  Jioiovfuva 
y.ai  n-oö?  ßorfdsiav  rcöv  £y..T£o6vrcor.  ünso  uv  iig  (foqziy.ä  e'irca  ro/niL)] ,  ov  y.azä 
rrjv  ■dsiav  xai  fiaxaQiav  diÖaoya/.iav  cfQovsT. 


J36  Diß  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Der  Yoi'stehor  scheint  von  Anfang  an  und  stets  so  gut  wie 
unbeschränkt  über  die  Gaben  verfügt  zu  haben  ^ ;  als  ausführende 
Organe  hatten  aber  auch  die  Diakonen  mit  ihnen  zu  tun.  Die 
Terantwortung  war  groß  und  auch  die  Versuchung  zu  Eigennutz 
und  Unredliclikeit:  daher  wurde  die  Ermahnung,  Bischöfe  (und 
Diakonen)  sollen  „äcpildoyvQoi"  sein,  stets  wiederholt.  Erst  in 
späterer  Zeit  bildeten  sich  gewisse  Grmidsätze  über  die  Ver- 
teilung der  Gaben  im  großen  aus,  von  denen  nicht  abgewichen 
werden  sollte. 

Dies  System  der  organisierten  kirchlichen  Liebestätigkeit  und 
die  private  Wohltätigkeit  wirkten  nebeneinander  (aus  den  Schriften 
und  Briefen  Cyprians  läßt  sich  das  deutlich  erkennen).  Aber  es 
konnte  nicht  ausbleiben,  daß  diese  durch  jenes  allmählich  gehemmt 
wurde;  denn  auf  jenem  lag  in  höherem  Grade  der  Glanz  religiöser 
Weihe,  also,  wie  man  überzeugt  war,  des  göttlichen  Wohlgefallens. 
Doch  wurde  an  die  private  Wohltätigkeit  in  besonderen  Fällen 
noch  immer  appelliert.  Wir  haben  darüber  bei  Cyprian,  ep.  62, 
ein  schönes  Beispiel.  Rasch  wurden  hier  in  der  carthaginiensischen 
Gemeinde    100000  Sestertien   (=  17—20  000  Mark)   aufgebracht  2. 

Die  römische  Gemeinde  hatte  im  Jahre  250  ca.  100  Kleriker 
und  1500  Hilfsbedürftige  zu  ernähren.  Berechnet  man  die  Jahres- 
kosten für  den  Unterhalt  eines  Menschen  auf  150  Mark  (so  be- 
rechnete sich  ungefähr  der  Unterhalt  eines  Sklaven),  so  kommen 
wir  auf  die  Summe  von  240  000  Mark  jährlich.  Rechnen  wir 
aber  nur  (mit  Uhlhorn,  a.  a.  0.  I  S.  153)  60  römische  Scheffel 
Weizen  im  Jahre  auf  die  Person  (ä  1)0  Pfennige),  so  erhalten 
wir  ca.  86  000  Mark.  Man  wird  daher  gewiß  sagen  dürfen,  daß 
um  das  Jahr  250  der  römischen  Gemeinde  für  Unterstützungen 
100—200  000  Mark  (=  500  000  bis  eine  Million  Sest.)  zur  Ver- 
fügung standen. 

Die  Anforderungen  an  die  Gemeindekassen  waren  groß :  wir 
werden  das  im  folgenden  erkennen,  wenn  wir  die  einzelnen 
Grujjpen  überschauen. 

(2)  Die  Unterstützung  der  Lehrer  und  Beamten.  Der 
]>aulinische  Grundsatz,  daß  die  Regel:  „Der  Arbeiter  ist  seines 
Lohnes  wert"  auch  von  den  Missionaren  und  Lehrern  gelte  ^,    ist 


1)  Über  die  Spuren  einer  Ausnahme  in  der  sog.  Apost.  Kirchenordnung 
s.  Texte  u.  Unters.  II.  5  S.  12  tt".  S.  38. 

2)  Besondere  Kollekten,  die  der  Bischof  ausschreibt,  s.  Tert.  de  jej.  13.^ 
Hom.  Clem.  III,  71:  J.To're  ygeia  rivog  jtoqov  JiQog  ro  avayxdiov  yhoiro ,  ö.fia  ol 
TiävxEi;  ov/ißäD.eoOf.. 

')  Fuuliis  hat  den  Grundsatz  sogar  als  eine  Anweisung  Jesu  selbst  be- 
zeichnet, s.  I  Cor.  S),  14:  <5  xvfjiog  (iiita^sv  rolg  ro  suayythor  y.arayyillouair  ex 
Tov  svayye}.io)>   'Qfiv. 


Das  Evaiigeliiuii  der  Liehe  und  Hilfleistuug.  ]  37 

stets  und  ohne  Schwanken  in  den  Gemeinden  eingehalten  worden. 
Man  zog  aus  ihm  die  Folgerung,  daß  die  Lehrer  auf  einfachen 
Lebensunterhalt  Anspruoli  (n-iieben  können,  und  dieser  Anspruch 
muß  allen  anderen  Anforderungen  an  die  Kasse  stets  vorangestellt 
worden  sein.  Als  sich  die  Gremeinden  ständige  Beamte  gewählt 
hatten,  nahmen  auch  diese  an  dem  Recht,  den  Unterhalt  fordern 
zu  dürfen,  teil,  doch  nur  so  weit,  als  sie  in  ihrem  bürgerlichen 
Verdienst  durch  ihr  Amt  geschmälert  wurden  ^.  Der  Bischof 
hatte  auch  hier  diskretionäre  Gewalt  und  konnte  für  sich  selbst 
nehmen  imd  den  Presbytern  und  Diakonen  geben,  was  er  für  gut 
und  billig  hielt;  dem  Lehrer  (Missionar,  Propheten)  aber  hatte 
er  den  vollen  Tagesunterhalt  zu  geben.  Daß  sich  daraus  Miß- 
stände entwickeln  mußten,  ist  klar;  daß  sie  sich  entwickelt  haben 
und  die  Rechte  mißbraucht  wurden,  lernen  wir  aus  der  „Apostel- 
lehre" und  aus  Lucian'-. 

(3)  Die  Unterstützung  der  \Yitwen  und  \Yaisen'^. 
Überall  wo  in  den  altchristlichen  Quellen  Hilfsbedürftige ,  die  zu 
unterstützen  sind,  genannt  werden,  stehen  die  Witwen  und  Waisen 
voran.  Es  entsprach  das  der  besonderen  Not,  in  der  eben  diese 
sich  im  Altertum  befanden,  und  es  entsprach  den  ethischen  An- 
weisungen, wie  sie  aus  dem  Judentum  ins  Christentum  gekommen 
waren.    Witwen  und  Waisen  waren  die  Hilfsbedürftigen  hqt  s^oyjji' 

1)  Ganz  klar  sehen  wir  in  die  Verhältnisse  nicht  hinein,  aber  doch 
soweit,  um  das  oben  Gesagte  erhärten  zu  können.  Die  Gemeindebeamten 
brauchten  ihren  bürgerlichen  Beruf  zunächst  nicht  aufzugeben,  und  soweit  als 
er  ihnen  Unterhalt  bot,  bestand  kein  Ansprach  an  die  Gemeindekasse.  Aber 
in  gröiäeren  Gemeinden  und  im  Laufe  der  Zeit  wurde  es  immer  schwieriger, 
einen  bürgerlichen  Beruf  mit  dem  Gemeindeamt  zu  verbinden.  Sehr  lehr- 
reich ist  eine  Ausführung  in  den  clementinischen  Homilien  (III,  71),  aus  der 
hervorgeht,  daß  von  einigen  die  Unterhaltungspflicht  in  bezug  auf  den 
Bischof  und  die  Kleriker  in  Zweifel  gezogen  wurde.  Der  Verfasser  schreibt: 
Zay-xaTog  [das  war  der  Bischof]  fiövog  vfiTv  ölog  iavzov  äo^oXsIv  äjiodsSo)xd>g, 
y.oiUav  eycov  xal  savTio  /»)  evo^olwr,  Jicbg  dvvarat  rrjv  avayKaiav  jioQit,Eiv  XQO(pi]v  ; 
ov^i  8s  EvXoyöv  ioztv  jidviag  v/.iäg  tov  Cw  o-vtov  jiQÖvocav  noieiv,  ovk  dvafist'ov- 
Tag  avTov  vj-iäg  ahsTv,  xovto  ydg  jiQooaixovvzög  iaziv  /uäXXor  ös  rs&vtj^Erai  hfÄOi 
■))  TovTO  jToiEiv  vjioarait].  jicög  öij  xal  vfiEig  ov  dixrjv  vcpE^ETS,  /il/  ?Mycaä/iEvoi  ozi 
„ä^iög  Eoziv  6  EQyäzrjg  zov  ficaßov  avzov^;  xai  fuj  Isyszco  zig'  Ovxovv  6  öcoQsäv 
szagaa/EdEig  P.öyog  jicüXeTzuc;  f.ii]  yivoizo.  eI'  zig  yäg  k'ycov  jzö&ev  Cw  Xäßoi,  ovzog 
sioAeX  zov  Xöyov  —  eI  öe  firj  k'^wv  zov  i^ijv  ydoiv  ?M/Lißdv£i  zQoqn'jv;  wg  y.ai  6 
xvQiog  Elaßsi'  ev  ze  dsijzvoig  xai  (fiXoig,  ovbiv  Eywv  6  sig  avdig  jzdvza  e/ojv,  ovy 
dfiagzdvEi.  dxo?.ov&o)g  ovv  zi/uäzs  [durch  Honorar]  jrgEaßvzsQovg  y.az}jp]zdg,  8ia- 
y.övovg  •/o)joifioi^g ,  yjjQo.g  ev  ßEßiwxviag ,  oQc/mvovg  ojg  i^cx/.ijaiag  zsHva.  —  Ein 
fester  Monatsgehalt,  wie  ihn  die  Gemeinde  des  Theodotus  ihrem  Bischof 
Natalis  aussetzte,  wurde  als  anstöL^ig  empfunden  (s.  den  alten  Bericht  bei 
Euseb.,  h.  e.  V,  28). 

^)  Näheres  darüber  s.  unten  in  dem  Kapitel  über  die  Missionare. 

*)  Auch  im  Kirchengebet  haben  Witwen  und  Waisen  ihren  Platz  un- 
mittelbar hinter  den  Kirchendienern. 


138  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

schon  deshalb,  weil  sie  nirgendwo  fehlten.  „Die  römische  Ge- 
meinde", schreibt  der  Bischof  Cornelius,  „ernährt  1500  Witwen 
und  Hilfsbedürtige"  (Euseb.,  h.  e.  VI,  43);  nur  die  Witwen  sind 
neben  der  allgemeinen  Kategorie  genannt.  Die  Witwen  führten 
einen  besonderen  Ehrentitel  in  den  Gemeinden:  „Altar  Gottes"^, 
und  selbst  der  Heide  Lucian  wußte,  daß  Witwen  und  Waisen  bei 
den  Christen  im  Vordergrund  stehen'^.  Der  rechte  Gottesdienst 
ist,  Witwen  und  Waisen  in  ihrer  Trübsal  besuchen,  sagt  schon  der 
Jacobusbrief  (1,  27),  und  Hermas  beginnt  seinen  Tugendkatalog 
(Mand.  VIII,  10)  mit  den  Worten:  x^W^^^'^  vm^Qejelv,  oQcpavovg  y.al 
voregrjjuevovg  emoxETztso^at^.  In  der  Unterstützung  der  Witwen 
hat  die  alte  Kirche  unzweifelhaft  einen  wichtigen  Beitrag  zur 
Hebung  der  sozialen  Lage  der  unteren  Klassen  geleistet*.  Daß 
Mißbräuche  nicht  gefehlt  haben  —  sie  stellen  sich  überall  ein, 
wo  Menschen  die  Sorge  für  sich  selbst  ganz  oder  teilweise  ab- 
genommen wird  — ,  braucht  nicht  besonders  erwähnt  zu  werden. 
Schon  die  Briefe  an  Timotheus  zeigen  solche  ^. 

^)  S.  Polyc.  ad  Philipp.  4;  Tertull.  ad  uxor.  1,7;  Pseudo-Ignat.,  Tars.  9; 
Const.  Apost.  II,  26  (hier  heißen  auch  die  Waisen  so,  cf.  IV,  3).  Auf  das 
Witweninstitut,  welches  sich  schon  in  dem  I.  Timotheusbrief  findet  und  auch 
der  Fürsorge  für  die  Witwen  diente,  gehe  ich  nicht  ein.  Die  besondere  Sorge 
für  die  Witwen  sollte  übrigens  auch  die  Wiederverheiratung,  die  man  nicht 
gern  sah,  verhindern. 

-)  Peregr.  12. 

^)  Merkwürdig  ist  auch,  wie  Vis.  II,  4,  .3  die  Witwen  und  Waisen  hervor- 
gehoben sind.  Aristides,  Apol.  15:  ,Von  den  Witwen  wenden  sie  ihre  Auf- 
merksamkeit nicht  ab,  und  die  Waisen  befreien  sie  von  dem,  der  sie  ver- 
gewaltigt." —  Beispiele,  daß  Privatpersonen  Waisenkinder  in  ihre  Familien 
aufnahmen,  fehlen  nicht.  So  ist  Origenes  aufgenommen  worden  von  einer 
christlichen  Frau  (Euseb.  VI,  2),  cf.  Acta  Perpet.  et  Felic.  15  und  Const. 
Ap.  IV,  1.  Für  die  Pflicht,  Witwen  und  Waisen  zu  unterstützen,  bringt 
Lactantius  (Inst.  VI,  12)  noch  ein  besonderes  Argument  bei:  „Gott  hat  des- 
halb sie  zu  versorgen  befohlen,  daß  nicht  jemand  aus  Rücksicht  auf  seine 
Lieben  sich  abhalten  lasse,  für  die  Gerechtigkeit  in  den  Tod  zu  gehen,  son- 
dern ohne  Zögern  und  tapfer  ihn  auf  sich  nehme,  da  er  weiß,  daß  er  seine 
Lieben  Gott  zurückläßt,  und  daß  ihnen  niemals  Schutz  und  Hilfe  fehlen  wird." 

^)  Vgl.  noch  Hermas,  Simil.  I;  V,  8;  IX,  26.  27;  X,  4;  Polyc.  ep.  6,  1; 
Bamab.  20,2;  Ignat. ,  Smyrn.  6  (über  die  Häretiker:  jieqI  ä}'(im]g  ov  /nsksi 
avTolg ,  ov  jt^qI  yJ]Mii ,  ov  .tf^u  6Q(pavov ,  ov  ;rfßt  O/.cßofuvov ,  ov  jteqI  deSsjUEVov 
r/  ?.£?.vfüvov,  ov  :jEQi  :^sivwvzog  t]  öiipcövro?:) ;  Ignat.,  ad  Polyc.  4;  Justin, 
Apol.  I,  67;  Clem.  ep.  ad  Jacob.  8:  roTg  fih'  ogqavoTg  Jioiovvzsg  rä  yoviwv,  ralg 
fi£  yjifjaig  zu  urfiQÖn';  Tertull.,  ad  ux.  1,7.  8.  Das  3.  und  4.  Buch  der  Const. 
App.;  Pseudoclem.  de  virg.  1,12:  „Pulchrum  et  utile  est  visitare  pupillos  et 
viduas,  imprimis  pauperes  qui  multos  habent  liberos."  In  bezug  auf  die 
empörende  Unbarmherzigkeit  mancher  heidnischer,  in  Luxus  versunkener 
Damen  vgl.  das  beißende  Wort  des  Clemens  (Paedag.  III,  4,  30):  jraidiov  de 
ovSt  jiooGiEvzai  oQCfarov  al  zovg  yuzzaxovg  xai  zovg  ;)j«p«(^£*<or?  txzQitfovoai. 

')  Klatschsucht,  Habsucht,  Trunksucht  und  Arroganz  der  Witwen,  die  von 
der  Gemeinde  ihren  Unterhalt  empfingen,  mußten  bekämpft  werden.    Selbst 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  139 

(4)  Die  Unterstützung  der  Kranken,  Schwachen,  Ar- 
men und  Arbeitsunfähigen.  Von  der  Heilung  der  Kranken 
ist  bereits  oben  die  Rede  gewesen;  wo  Heihmg  nicht  möglich 
war,  sollte  die  Gemeinde  sie  unterstützen,  unterstützen  durch  Trost 
—  im  Kirchengebet  ist  von  Anfang  an  ihrer  gedacht  worden  ^  — , 
durch  Besuche^  und  durch  Gaben  (in  der  Regel  Naturalien). 
Den  Kranken  stehen  die  „sv  ■d-Xiipei"  und  die  „xdjuvovreg  rf]  'ipvxf]" 
(Herrn.  Mand.  VIII,  10)  sehr  nahe,  ferner  auch  die  Hilflosen  und 
Arbeitsunfähigen  — ■  „senes  domestici"  hebt  Tertullian  ausdrücklich 
hervor  — ,  endlich  überhaupt  die  Armen.  Stellen  hier  anzuführen, 
ist  überflüssig:  nicht  nur  die  Mahnungen  kehren  immer  wieder, 
sondern  auch  konkrete  Beispiele  sind  ziemlich  zahlreich,  obschon 
unsere  Quellen  nur  beiläufig  und  wie  zufällig  solche  Fälle  er- 
wähnen'. Diakonen,  „Witwen"  und  Diakonissen  (letztere  gab  es, 
wie  es  scheint,  nur  im  Orient)  waren  für  solche  Tätigkeit  ein- 
gesetzt. A^on  den  Diakonen  heißt  es  in  der  Apostolischen  Kirchen- 
ordnung: „Täter  der  guten  Werke  sollen  sie  sein,  Tag  und  Nacht 
überall  umherspähend,  weder  den  Armen  verachtend  noch  des 
Reichen  Person  ansehend ;  sie  sollen  den  Notleidenden  erkennen 
nnd  ihn  nicht  von  dem  Anteil  an  der  Gemeindekollekte  ausschließen, 
den  Vermögenden  aber  nötigen,  zu  guten  Werken  zurückzulegen." 
Von  den  „Witwen"  wird  (ebendort)  gesagt,  sie  sollen  den  von 
Krankheiten  heimgesuchten  Frauen  beistehen,  und  auch  unter  den 
Qualitäten  des  Bischofs  wird  verlangt ,  daß  er  „rpdojncoyioQ"  sei  *. 
Eine  alte  Legende  aus  der  Verfolgungszeit  des  Decius  erzählt, 
der  Diakon  Laurentius  in  Rom  habe  auf  das  Verlangen,  die  Schätze 


das  kam  vor,  daß  Witwen  das  Geld,  das  sie  empfingen,  auf  Wucherzins  aus- 
liehen (s.  Didasc.  Apostol.  c.  15,  Texte  u.  Unters.  Bd.  25  H.  2  S.  78.  274  ff".). 
Aber  auch  geistesmächtige  Witwen  gab  es;  ja  man  rechnete  darauf,  daß 
rechte,  im  Gebet  verharrende  Witwen  Offenbarungen  empfangen  werden  (s.  d. 
Apostol.  Kirchenordnuug). 

»)  S.  I  Clem.  59,  4. 

-)  Tert.  ad  uxor.  II,  4  (über  die  schwierige  Lage  einer  Christin ,  die 
einen  Heiden  zum  Mann  hat):  ,Wird  er  ihr  es  gestatten,  Straße  für  Straße 
in  fremde  und  grade  in  die  ärmsten  Hütten  einzutreten,  um  die  Brüder  zu 
besuchen?" 

^)  Daß  die  private  Hilfleistung  oder  gar  die  der  Gemeinde  nicht  ein- 
treten sollte,  wenn  die  Familie  im  stände  war,  ein  hilfloses  Glied  zu  unter- 
stützen, ist  selbstverständlich,  wird  aber  I  Tim.  5,  8  so  scharf  vorgehalten, 
daß  man  sieht,  wie  Versuche  von  Abwälzungen  nicht  gefehlt  haben  („So 
jemand  die  Seinen,  besonders  seine  Hausgenossen,  nicht  versorgt,  der  hat  den 
Glauben  verleugnet  und  ist  ärger  als  ein  Heide"). 

*)  Apost.  Kirchenordn.  in  den  Texten  u.  Unters.  II,  5  S.  8  ff.  In  der  Vita 
Polycarpi  (Pionius)  werden  Züge  von  diesem  Bischof  erzählt,  die  an  den 
h.  Franciscus  erinnern.  Über  die  weibliche  Diakonie  s.  Uhlhoru,  a.  a.  0. 
S.  159-171. 


140  Die  Misftiouspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

der  Kirche  auszuliefern,  die  Armen  als  die  einzigen  Schätze  be- 
zeichnet. Das  war  kühn,  aber  doch  nicht  unwahr:  das,  was  die 
Kirche  besaß,  ist  von  Anfang-  an  und  stets  als  Armengut  bezeichnet 
worden,  und  in  den  ersten  Jahrhunderten  war  das  noch  keine 
Lüge  ^  Daß  das  Unterstützungssystem  der  Kirche  ^  trefflich  war, 
einen  tiefen  Eindruck  machte  und  viele  gewann,  dafür  liefert  Julian 
der  Apostat  den  besten  Beweis.  Er  hat  versucht,  es  in  seiner 
künstlichen  Schöpfung,  der  heidnischen  Staatskirche,  einfach  nach- 
zuahmen, um  den  Christen  diese  Waffe  zu  entreißen.  Die  Nach- 
ahmung gelang  freilich  nicht. 

Julian  bezeugt  uns  aber  nicht  nur  die  Trefflichkeit  des  kirch- 
lichen Unterstützungssystems,  sondern  auch  seine  Ausdehnung 
auf  Mcht-Christen.  An  Arsacius  (Sozem.  V,  16)  schrieb  er:  „Die 
gottlosen  Galiläer  ernähren  außer  ihren  eigenen  Armen  auch  die 
unsrigen;  die  unsrigen  aber  ermangeln  unserer  Fürsorge."  Dieses 
Zeugnis  ist  um  so  wichtiger,  als  wir  in  christlichen  Quellen  kein 
genügendes  Material  für  diese  ausgedehnte  Armenpflege  besitzen. 
Doch  s.  sub.  Nr.  S,  und  schon  Paulus  ermahnte  (Gal.  6.  10): 
„Lasset  uns  Gutes  tun  an  allen,  am  meisten  aber  an  den  Ge- 
nossen des  Glaubens."  „Wahre  Barmherzigkeit",  schreibt  Ter- 
tullian,  Apol.  42,  „gibt  auf  den  Gassen  mehr  Geld  aus  als  eure 
Religion  in  den  Tempeln."  Die  Gemeindekasse  war  wohl  aus- 
schließlich für  die  Brüder  da,  aber  die  private  Wohltätigkeit  hat 
sich  nicht  auf  die  Glaubensgenossen  beschränkt.  Bei  gi-oßen 
Kalamitäten  haben  außerdem  —  nach  sicheren  Zeugnissen,  s.  u.  — 
die  Christen  auch  den  Nicht -Christen  geholfen  und  sogar  ihre 
Bewunderung  geerntet. 

(5)  Die  Sorge  für  die  Gefangenen  und  in  den  Berg- 
werken Schmachtenden.  In  dem  Tugendkatalog  bei  Hermas 
liest  man  an  dritter  Stelle  :  f|  dvayy.cTjv  IvTQovoßm  rovg  dov?^ovg 
rov  deov.  Unschuldige  Gefangene  gab  es  mancherlei,  vor  allem 
um  des  Glaubens  willen  Eingekerkerte  und  in  Schuldhaft  Be- 
findliche. Auf  beide  sollte  sich  die  Liebestätigkeit  erstrecken, 
und  zwar  sowohl  die  offizielle  (kirchliche)  wie  auch  die  private. 
Zunächst  sollten  sie  besucht,  getröstet  und  durch  Nahrungsmittel 
ihre  Laffe  erleichtert  werden^.     Der  Besuch  der  Gefangenen  war 


^)  Aller  Not  konnte  natürlich  nicht  gesteuert  werden;  von  Christen,  die 
bei  Heiden  Geld  leihen  müssen,  spi-icht  Tertull.,  de  idolol.  23.  Es  scheint 
das  doch  nicht  so  selten  gewesen  zu  sein. 

^)  Über  die  zu  Unterstützenden  wurde  eine  Matrikel  geführt  (dies  läßt 
sich  sicher  erschließen).  Allein  diese  Tatsache  schon  gab  den  Ai-nien  einen 
moralischen  Halt:  sie  wußten,  daß  sie  nicht  unbeachtet  blieben. 

*)  Hebr.  10,  34:  roTg  ösafitoig  ovreTiaOtjoare.  I  Cleni.  59,  4  (Kirchengebet): 
?.vT(jojoai  Tovg  ösojbttov?  rjfiwv.    Ignat.,  Smyrn.  6:  (es  ist  Pflicht  zu  sorgen)  :^sqI 


Das  Evangelium  der  LieV)e  und  Hilfleistung.  141 

regelmäßig  Pflicht  der  Diakonen  —  sie  kamen  dadurch  öfters  in 
eine  gefährliche  Lage  — .  aber  auch  die  übrigen  Christen  sollten 
sie  üben.  Waren  die  Gefangenen  um  ihres  Glaubens  willen  ein- 
gesetzt, imd  waren  es  gar  angesehene  Lehrer,  so  war  es  nicht 
schwer,  das  Gebot  zu  erfüllen,  ja  viele  setzten  alles  daran,  um 
zu  den  Gefangenen  zugelassen  zu  werden^;  denn  der  Verkehr 
mit  dem  Konfessor  galt  als  eine  Heiligung.  Man  scheute  sogar 
nicht  Bestechungen  der  Gefängniswärter-,  um  Einlaß  zu  erhalten, 
gute  Mahlzeiten  einzuschmuggeln  und  den  Segen  des  Heiligen  zu 
erflehen.  Die  Märtyrergeschichten  sind  angefüllt  von  Erzählungen 
dieser  Art;  auch  dem  Lucian  ist  das  nicht  verborgen  geblieben, 
und  er  macht  auf  Ungehörigkeiten  aufmerksam,  die  dabei  vor- 
kamen. Die  christlichen  Quellen  bestätigen  das,  und  zwar  be- 
sonders die  der  späteren  Zeit^;  aber  schon  in  der  montanistischen 
Kontroverse  spielt  die  Frage  eine  Rolle,  ob  nicht  dieser  oder 
jener  angesehene  Konfessor  in  Wahrheit  ein  Schwindler  gewesen 


öedeuhov  >j  /.e/.viih-oi\  Clem.  ep.  ad  Jacob.  9:  roTg  iv  cfv/.ay.uTg  e:nq(uv6fieroi 
log  dvraaüs  ßotjdeTre.  Aristides.  Apol.  15:  „Und  wenn  sie  hören,  daß  einer 
von  ihnen  gefangen  ist  oder  bedrückt  wegen  des  Xamens  ihres  Christus,  so 
nehmen  sie  sich  alle  seiner  Notdurft  an,  und  wenn  es  möglich  ist,  daß  er 
befreit  werde,  so  befreien  sie  ihn."  Von  dem  Jüngling  Origenes  wird  erzählt 
(Euseb.,  h.  e.  VI.  3):  -Er  war  mit  den  h.  Märtyrern  nicht  nur,  so  lauge  sie 
sich  im  Gefängnis  befanden  und  das  Endurteil  über  sie  noch  nicht  gesprochen 
war,  zusammen,  sondern  auch  wenn  sie  zum  Tode  geführt  wurden,  und  ging 
so  voll  des  größten  Freimuts  den  Gefahren  offen  entgegen."  Tertull.,  ad 
mart.  Iff. :  .Inter  carnis  alimenta,  benedicti  martyres  designati,  quae  vobis 
et  domina  mater  ecclesia  de  uberibus  suis  et  singuli  fratres  de  opibus  suis 
propriis  in  carcerem  subministrant  etc."  Acta  Pass.  Perpetuae  3.  Petri  Alex, 
ep.  c.  2  (Lagarde,  Reliq.  jur.  ecel.  p.  64, 14f.).  c.  11  (p.  70, 1  f.\  c.  12  (p.  70,  20  f.). 

\)  S.  die  Thecla  in  den  Acta  Theclae  und  viele  andere  Beispiele ,  z.  B. 
Tertull..  ad  uxor.  11,4. 

-)  S.  die  Thecla;  Lucian,  Peregr.  12;  Epist.  Lugd.  bei  Euseb.  V,  1,  61. 

^)  S.  Lucian,  Peregr.  12.  13.  16  („köstliche  Speisen").  Tertullian  —  am 
Ende  seines  Lebens,  als  er  von  grimmigem  Haß  gegen  die  große  Kirche 
erfüllt  war  —  schreibt  de  jejun.  12:  „Eure  Mode  ist  es  freilich,  für  unsichere 
Märtyrer  in  den  Gefängnissen  Garküchen  zu  errichten,  damit  sie  nicht  aus 
der  Gewohnheit  kommen,  des  Lebens  nicht  überdrüssig  werden  und  sich  an 
der  Schule  der  ihnen  ungewohnten  Entbehrungen  nicht  stoßen.  Bis  zu  dieser 
hatte  es  ja  auch  jener  Pristinus  [oder  jener  Jüngste]  —  euer  Märtyrer,  kein 
christlicher  —  noch  nicht  gebracht.  Nachdem  ihr  ihn.  den  ihm  bewilligten 
freien  Gewahrsam  benutzend,  eine  Zeitlang  gemästet  hattet  und  er  sich  in 
allen  möglichen  Bädern,  als  wären  sie  besser  wie  die  Taufe,  an  allen  Er- 
holungsarten der  feinen  Welt,  als  wären  dies  die  Heimlichkeiten  der  Kirche, 
und  mit  allen  Reizen  einer  solchen  Lebensweise,  als  stünden  sie  über  dem 
Ewigen,  amüsiert  hatte  —  aus  dem  Grunde,  wie  ich  glaube,  um  kein  Ver- 
langen nach  dem  Tode  zu  bekommen  — .  so  habt  ihr  ihm  am  letzten  Tage, 
am  Tage  des  Verhörs,  in  aller  Frühe  gewürzten  Wein  eingegeben  (um  ihn 
gegen  die  Qualen  zu  betäuben)." 


142  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

ist,  der  Yergchungcn  wegen  in  den  Kerker  gewandert  ist,  aber 
die  Sache  so  zu  drehen  verstanden  hat,  als  sei  er  des  christlichen 
Glaubens  wegen  gefangen  gesetzt  worden.  Allein  solche  Miß- 
bräuche waren  unvermeidlich  und  im  ganzen  gewiß  selten.  Dit» 
Aufseher,  selbst  innerlich  bewegt  von  der  Haltung  der  Christen, 
gestatteten  öfters  aus  freien  Stücken  den  Verkehr  mit  den  Ge- 
fangenen (xlcta  Perpet.  9 :  „Pudens  miles  optio,  praepositus  carceris, 
nos  magnificare  coepit  intellegens  magnam  virtutem  esse  in  nobis; 
qui  multos  ad  nos  admittebat,  ut  et  nos  et  illi  invicem  refri- 
geraremus"). 

Waren  die  christlichen  Brüder  in  die  Bergwerke  verurteilt, 
so  ließ  man  sie  auch  dort  nicht  außer  acht  ^ :  ihre  Namen  wurden 
genau  aufgezeichnet;  man  suchte  die  Beziehungen  zu  ihnen  fest- 
zuhalten; man  bemühte  sich,  sie  frei  zu  bekommen^,  und  man 
sandte  Brüder  dorthin,  um  ihre  Lage  zu  erleichtern,  sie  zu  erbauen 
und  zu  stärken^.  Die  Sorge  der  Christen  für  ihre  Gefangenen 
war  so  bekannt,  daß  (nach  Eusebius  X,  S)  der  letzte  Kaiser,  der 
vor  Constantin  die  Christen  verfolgt  hat,  Licinius,  ein  Gesetz  erließ, 
„daß  sich  niemand  gegen  die  Unglücklichen  in  den  Gefängnissen 
durch  Darreichung  von  Speise  menschenfremidlich  zeigen  oder 
derer,  welche  in  Fesseln  vor  Hunger  verschmachteten,  sich  er- 
barmen dürfe";  „auch  war",  fährt  Eusebius  fort,  „diesem  Gesetz 
noch  die  Straf bestimmung  beigesetzt,  daß  die  Mitleidigen  das 
gleiche  Geschick  mit  den  Bemitleideten  haben,  und  diejenigen, 
welche  den  Unglücklichen  einen  menschenfreundlichen  Dienst  er- 
wiesen, in  Fesseln  und  in  das  Gefängnis  geworfen  werden  und 
die  gleiche  Strafe  wie  jene  erdulden  sollten."  Dieses  direkt 
gegen  die  Christen  gerichtete  Gesetz  zeugt  sicherer  als  alles 
andere  von  der  Sorge  der  Christen  für  ihre  Gefangenen,  mag 
dabei  auch  manches  untergelaufen  sein,  was  der  Staat  nicht 
dulden  durfte. 


*)  S.  Dionysius  Cor.  bei  Euseb.  IV,  23,  der  der  römischen  Gemeinde  ein 
leuchtendes  Zeugnis  ausstellt. 

^)  Mau  vgl.  die  Geschichte,  die  Hippolyt  (Philos.  IX,  12)  erzählt:  Der 
römische  Bischof  Victor  besitzt  eine  Liste  aller  nach  Sardinien  in  die  Berg- 
werke veinirteilten  Christen  und  bekommt  sie  wirklich  durch  die  Interzession 
der  kaiserlichen  Konkubine  Marcia  bei  Commodus  frei. 

^)  Besonders  schöne  Beispiele  hierfür  in  der  Schrift  Eusebs  de  mart. 
Palaest.  für  die  Zeit  der  Diocletianischen  Verfolgung.  Ägyptische  Christen 
gehen  bis  in  die  entferntesten  Bergwerke,  selbst  nach  Cicilien,  um  ihre  dort 
zu  Zwangsarbeiten  verurteilten  Brüder  zu  stärken  und  zu  erbauen.  Bei  den 
Bergwerken  in  Phäno  wird  eine  förmliche  Kirche  eingerichtet.  Vgl.  auch 
Ap.  Const.  V,  1 :  si'  zig  Ägiatiavog  diu  rij  ovofia  zov  Xqiotov  .  .  .  xaraxQi&f/  vno 
daeßüiv  sig  .  .  ,  fiha/.Xov,  jiit]  Tiagidrjxf.  avrov,  d?J.'  ex  rov  xöjiov  xal  zov  u^Qonog 
vfiüiv  jiEfiipazs  avzöj  el;  Öiaroor/  ijv  avzov  y.al  eh  (iia&odoaiav  zwv  oroazicozMP. 


Das  Evaugelium  der  Liebe  und  Hilfleistung-.  143 

Aber  nicht  nur  die  Lage  der  Gefangenen  zu  erleichtern  ver- 
suchte man,  sondern  auch  sie  loszukaufen.  Fälle  dieser  Art  bei 
Schuldgefangenen  müssen  nicht  ganz  selten  gewesen  sein  —  leider 
ist  uns  das  Urteil  erschwert,  weil  wir  häufig  nicht  sicher  entscheiden 
können,  ob  von  Gefangenen  oder  von  Sklaven  die  Rede  ist,  denen 
der  Loskauf  galt.  Jedenfalls  wurde  das  Loskaufen  als  ein  besonders 
gutes  und  Gott  wohlgefälliges  Werk  betrachtet;  es  scheint  aber 
niemals  von  Gemeinde  wegen  unternommen  worden  zu  sein, 
sondern  blieb  stets  dem  Edelmut  Privater  überlassen,  und  einzelne 
haben  dabei  wahrhaften  Heroismus  bewiesen  ^ 

(6)  Die  Sorge  für  die  zu  begrabenden  Armen  und 
die  Verstorbenen  überhaupt.  Hier  mag  das  \Yort  des  Kaisers 
Julian  voranstehen  (ep.  ad.  Arsacium  bei  Sozom.  Y.  15):  „Am 
meisten  ist  die  Gottlosigkeit  (das  Christentum)  gefördert  worden 
durch  die  Philanthropie  in  bezug  auf  die  Fremden  und  durch  die 
Fürsorge  für  die  Bestattimg  der  Toten."  Daß  aus  der  Gemeinde- 
kasse das  Begräbnis  armer  Brüder  besti'itten  wurde,  sagt  Tertullian 
(s.  0.  S.  1 32),  und  Aristides  (Apol.  c.  1 5)  bestätigt  es,  aber  als  Übung- 
privater  Hilfleistung:  „So  oft  aber  einer  von  ihren  Armen  aus 
der  Welt  geht  und  ihn  irgend  einer  von  ihnen  sieht,  so  nimmt  er 
sich  nach  Kräften  seines  Begräbnisses  an."  Welche  Bedeutung 
in  jener  Zeit  ein  ehrliches  Begräbnis  hatte,  und  wie  schmerzlich 
die  Aussicht  war,  ein  solches  entbehren  zu  müssen,  ist  bekannt. 
Die  christliche  Gemeinde  kam  hier  einer  Gesinnung  entgegen,  die 
auch  bei  ihren  Gegnern  als  eine  Pflicht  der  Humanität  empfunden 
wurde.  Über  irdische  Schmach  sollten  sich  die  Christen  erhaben 
fühlen;  aber  nicht,  wie  es  sich  geziemt,  bestattet  zu  werden,  war 
auch  ihrer  Empfindimg  etwas  Schreckliches.    Speziell  die  Diakonen 


^)  Henii.,  Sim.  I:  dvTi  dyoöj}'  dyooaQsxE  yw/äg  dhßoiiivag ,  na&d  ri;  bvva- 
tög  iaziv.  Sim.  X,  4,  2  f. ,  IClem.  55,  2:  eTiioTUfiEßa  :ro/./.ovg  iv  ij/icTv  zraoahsöo)- 
y.ötag  kavxovg  elg  öeoiitd,  oTicog  srigovg  IvTOcöoovTai'  jto/J.oI  kavzovg  igidcoy.av  elg 
dovlsiav,  aal  laßövisg  rag  ri/ndg  avzöiv  hioovg  hpoi/moav.  Const.  App.  IV,  9: 
TU  sx  rov  dixaiov  y.6:;iov  ddooitöixeva  yorjuaTa  SicndooEzs  diay.ovovvzsg  sig  dyo- 
gaa^uovg  tmv  ayiojv,  ovö/nsvoi  öov'/.ovg  y.ai  alyjta'/.o'novg,  deaiiiovg,  i.-rrjosa^ousvovg, 
tjy.ovrag  ly.  y.azaSiyrjg  y.z/.. ,  cf.  V,  1,  2.  Auf  die  Befreiung  aus  der  Schuldhaft 
bez.  auf  die  Verhütung  derselben  durch  mildtätige  Brüder  bezieht  sich  eine 
Ausführung  Tertullians  de  idolol.  23.  —  Als  numidische  Räuber  Christen 
weggeschleppt  hatten,  sammelte  die  carthaginiensische  Gemeinde  schnell  ein 
Lösegeld  von  100000  Sestertien  und  erklärte  sich  zu  weiteren  Hilf leistungen 
bereit  (Cypr. ,  ep.  62).  Als  die  Gothen  in  Cappadocien  Christen  um  das 
Jahr  255  geraubt  hatten,  sandte  die  römische  Gemeinde  Beiträge  zum  Los- 
kaufen derselben  (Basil.,  ep.  70  ad  Damas.).  Über  beide  Fälle  s.  unten.  Das 
Loskaufen  der  Gefangenen  gilt  auch  in  der  Folgezeit  als  ein  gutes  Werk  von 
besonderem  Werte.  Le  Blaut  hat  mehrere  gallische  Inschriften  des  4.  und 
5.  Jahrhunderts  publiziert,  in  denen  dem  Verstorbenen  nachgerühmt  wird: 
,Er  hat  die  Gefangenen  losgekauft.'' 


144  Dit?  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

hatten  die  Sorge  dafür,  daß  jeder  anständig  begraben  werde 
(Const.  Ap.  III.  7)  ^.  An  diesem  Punkt  ging  man  auch  über  die 
Grenzen  der  Bruderschaft  im  gegebenen  Fall  hinaus.  „Wir  werden 
es  nicht  dulden",  schreibt  Lactantius-,  „daß  das  Bild  und  Geschöpf 
Gottes  den  wilden  Tieren  und  Yögeln  als  Beute  hingeworfen  wird, 
sondern  werden  es  der  Erde  zurückgeben,  von  der  es  genommen 
ist'',  und  auch  an  einem  unbekannten  Menschen  das  Amt  seiner 
Verwandten  erfüllen,  an  deren  Stelle,  wenn  sie  fehlen,  die 
Humanität  tritt*."  —  Hierher  muß  aber  auch  die  Sorge  für  den 
späteren  Zustand  der  Verstorbenen  gerechnet  werden :  auch  sie 
galten  z.  T.  noch  immer  als  Hilfsbedürftige  und  der  Unterstützung 
Fähige.     Man  brachte  in  ihrem  ]N^amen  und  zu  ihrem  Seelenheile 

^)  Sogar  ein  gewisser  Luxus  war  an  diesem  Punkte  den  Christen  ge- 
stattet; s.  Tertull..  Apolog.  42:  „Wenn  sich  aber  Arabien  über  uns  beklagen 
sollte  [daß  wir  diesem  Lande  nichts  zu  verdienen  geben],  so  mögen  die  Sabäer 
wissen,  daß  eine  teurere  und  bessere  Sorte  ihrer  Ware  beim  Begräbnis  von 
Christen  wahrhaft  verschwendet  wird,  als  die  ist,  von  der  man  den  Cxötzeu 
räuchert."  Zum  richtigen  Begräbnisse  gehörte  auch,  daß  man  bei  seinen 
Glaubensgenossen  ruhte.  Wer  die  Seinigen  ohne  Not  bei  den  Nicht  -  Christen 
bestattete,  setzte  sich  schwerer  Anklage  aus;  aber  wir  hören,  daß  um  die 
Mitte  des  3.  Jahrhunderts  selbst  ein  Bischof  in  Spanien  seine  Kinder  bei  den 
Heiden  beigesetzt  hat;  s.  Cyprian,  ep.  67,6:  „Martialis  [episcopus]  praeter 
gentilium  turpia  et  lutulenta  convivia  in  coUegio  diu  frequentata  filios  in 
eodem  collegio  exterarum  gentium  more  apud  profana  sepulcra  deposuit  et 
alienigenis  consepelivit."  Auf  jüdischen  Friedhöfen  sind  vereinzelte  Christen- 
gräber gefunden  worden. 

2)  lustit.  VI,  12. 

^)  Die  Christen  waren  deshalb  auch  Gegner  der  Leichenverbrennung 
und  versuchten  alles,  um  wenigstens  die  Reste  der  verbrannten  Brüder  aus 
dem  Feuer  zu  sammeln.  Der  Glaube  der  „simplices"  in  bezug  auf  die  Auf- 
erstehung des  Leibes  kam  ins  Wanken  angesichts  der  Verbrennung;  aber  die 
Theologen  haben  sie  stets  beschwichtigt,  obgleich  auch  sie  die  Verbrennung 
für  eine  Unsitte  hielten;  s.  Epist.  Lugd.  bei  Enseb.  V,  1  fin.;  Tertull..  de 
anima  51:  „Nee  ignibus  funeraudum  aiunt  [seil,  einige  Heiden],  parcentes 
superfluo  auimae  [seil,  weil  am  Körper  noch  etwas  Seele  haftet],  alia  est 
autem  ratio  pietatis  istius  [seil,  der  Christen],  non  reliquiis  animae  adulatrix, 
sed  crudelitatis  etiam  corporis  nomine  aversatrix,  quod  et  ipsum  homo  non 
utique  mereatur  poenali  exitu  impendi.''  Tertull.,  de  resurr.  1:  „Ego  magis 
ridebo  vulgus,  tum  quoque,  cum  ipsos  defunctos  atrocissime  exurit,  quos 
postmodum  gulosissime  nutrit  ....  o  pietatem  de  crudelitate  ludentem!" 
Die  Gründe,  welche,  wie  es  scheint,  von  Anfang  an  zur  Ablehnung  der 
Leichenverbrennung  bei  den  Christen  geführt  haben,  sind  uns  nicht  über- 
liefert.    Man  kann  sie  nur  zu  erraten  versuchen. 

*)  Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Gemeinden  zu  den  collegia  tenu- 
iorum  (collegia  funeraticia)  kann  hier  ausscheiden;  sie  ist  übrigens  auch  in 
dem  letzten  Jahrzent  mehr  zurückgetreten,  da  wirklich  aufklärendes  Licht 
in  bezug  auf  die  Lage  der  Gemeinden  aus  ihnen  nicht  gekonnnen  ist,  so  ein- 
leuchtend die  Konstruktion  scheint,  daß  die  Rechte,  welche  jene  Kollegien 
erhalten  hatten,  zeitweilig  auch  den  Christen  zugut  gekommen  sind;  s.  Neu- 
mann, Römi'-cher  Staat  und  Kirche  I  S.  102  ff. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistnng.  145 

Oblationen  dar,  die  als  wirksame  Fürbitten  galten,  und  diese  ur- 
alte Sitte  hat  unzweifelhaft  eine  große  Bedeutung  im  Leben  gehabt, 
vielen  besorgten  Angehörigen  Trost  gebracht  und  die  Anziehungs- 
kraft des  Christentums  besonders  erhöht  ^. 

(7)  Die  Sorge  für  die  Sklaven.  Eine  „Sklavenfrage"  hat 
man  der  alten  Kirche  zu  Unrecht  beigelegt.  Die  alten  Christen 
beurteilten  die  Sklaverei  nicht  schlechter  und  nicht  besser  als  den 
Staat  und  die  Rechtsverhältnisse^;  sie  haben  nicht  daran  gedacht, 
an  der  Aufhebung  des  Staats  zu  arbeiten,  und  es  kam  ihnen  nicht 
in  den  Sinn,  aus  humanen  oder  verwandten  Motiven  die  Sklaverei 
aufzuheben  —  auch  nicht  in  ihrer  eigenen  Mitte.  Bereits  die 
neutestamentlichen  Briefe  setzen  voraus,  daß  christliche  Herrn 
Sklaven  haben  (nicht  nur,  daß  heidnische  Herrn  christliche  Sklaven 
haben),  und  geben  keine  Anweisungen,  dies  A^erhältnis  zu  ändern. 
Die  Sklaven  werden  vielmehr  zur  Treue  und  zum  Gehorsam  ernst- 
lich vermahnt^. 

Dennoch  würde  man  unrichtig  urteilen,  wollte  man  behaupten, 
daß  das  alte  Christentum  gleichgültig  gegen  die  Sklaven  und  ihre 
Lage  gewesen  wäre ;  vielmehr  hat  es  ihnen  seine  Sorge  zugewandt 
und  auf  ihre  Lage  eingewirkt.  Es  ergibt  sich  das  an  folgenden 
Punkten  : 

(a)  Die  bekehrten  Sklaven  und  Sklavinnen  wurden  in  reli- 
giöser Hinsicht  als  Brüder  und  Schwestern  in  vollem  Sinne  an- 
erkannt; ihr  Stand  in  der  Welt  wurde  dem  gegenüber  als  etwas 
Gleichgültiges  beurteilt  *, 

*)  Tertullian  ist  für  uns  der  älteste  Zeuge  dieser  Sitte,  die  nicht  ohne 
Einfluß  des  Heidentums  entstanden  ist,  wenn  sie  auch  eine  Wurzel  im  christ- 
lichen Kultus  selbst  haben  mag.  Gegen  die  üblichen  heidnischen  Toten- 
mahlzeiten und  die  Sitte,  Speisen  an  die  Gräber  zu  bringen,  hat  Tertullian 
polemisiert;  aber  sie  bürgerte  sich  schon  im  Laufe  des  o.  Jahrhunderts  ein 
und  war  nicht  mehr  auszurotten. 

2)  Die  Apostellehre  (c.  4,  11)  gebietet  sogar  den  Sklaven,  ihren  (christ- 
lichen) Herrn  tog  tvtko  deov  zu  gehorchen. 

^)  Die  Stellen  in  den  paulinischen  Briefen  sind  bekannt,  s.  auch  den 
I.  Petrusbrief.  Paulus  hat  die  Freilassung  des  Sklaven  Onesimus  im  Philemon- 
brief  weder  verlangt  noch  erbeten.  Die  Stelle  I  Cor.  7,  20  f.  (k'xaoxog  iv  ifj 
xltjoei  fi  Ex/.7]ßr] ,  iv  ravit]  ^evhco.  öov/M?  Ey.Xrjdrjg ;  fit)  goi  fielhco  ■  dAA'  si  xai 
övvaoai  ikevßsQog  yevead^ai,  fiä?J.ov  X9V<^(^^)  kann  nur  so  verstanden  werden, 
daß  der  Apostel  den  Sklaven  rät,  sogar  die  Möglichkeit  der  Freilassung  nicht 
zu  benutzen.  Die  Standesänderung  würde  ihren  Sinn  —  das  scheint  die 
Meinung  zu  sein  —  auf  Irdisches  ablenken.  Ob  man  aus  der  Stelle  heraus- 
lesen darf,  daß  christlichen  Sklaven  christlicher  Herreu  die  Möglichkeit  frei 
zu  werden  häufiger  als  anderen  geboten  war,  ist  sehr  zweifelhaft.  In  der 
Literatur  des  2.  und  3.  Jahrhunderts  kommen  Christen ,  die  Sklaven  haben, 
öfters  vor,  s.  z.  B.  Athenag.,  Suppl.  35;  Acta  Perpet.  etc. 

*)  So  nach  dem  Vorgang  des  Paulus  andere,  z.  B.  Tatian,  Orat.  11; 
Iren.  IV,  21,  3:  „secundum  carnem  ex  liberis  et  ex  servis  Christus  statuit  filios 
Harnack,  Jlission.    2-  Aufl.  10 


]^46  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

(b)  sie  nalimcn  deshalb  an  den  Rechten  der  Gemeindeglieder 
in  vollem  Umfange  teil;  Sklaven  konnten  auch  Kleriker  werden, 
ja  sogar  Bischöfe  K 

(c)  als  Persönlichkeiten  (in  sittlicher  Hinsicht)  sollten  sie 
cbensohoch  geschätzt  werden  wie  die  Freien:  die  Geschlechtsehre 
und  Schamhaftigkeit  der  Sklavinnen  sollte  nicht  verletzt,  den 
Sklaven  sollten  dieselben  Tugenden  zugemutet  werden  wie  den 
Freien,  deshalb  aber  auch  dieselbe  Wertschätzung  ihrer  Tugen- 
den gelten-, 

dei,  similiter  omuibus  daus  munus  spiritus  vivificantis  nos'- ;  Tertull. ,  de 
Corona  13;  Lactant.,  Instit.  V,  15:  die  Gegner  sagten:  „Auch  bei  euch  sind 
Herren  und  Sklaven;  wie  steht  es  also  mit  eurer  Gleichheit;"'  Antwort: 
,,alia  causa  nulla  est  cur  nobis  invicem  fratrum  nomen  impertiamus  nisi 
quia  pares  esse  uos  credimus.  nam  cum  omnia  humana  nou  corpore  sed 
spiritu  metiamur,  tametsi  corporum  sit  diversa  condicio,  nobis  tarnen  servi 
non  sunt,  sed  eos  et  habemus  et  dicimus  spiritu  fratres,  religioue  conservos." 
De  Rossi  (Bullet.  1866  p.  24)  macht  darauf  aufmerksam,  daß  sich  iu  christ- 
lichen Sepulkralinschriften  niemals  die  Bezeichnung  „Sklave"  finde.  Ob  das 
zufällig  ist  oder  absichtlich,  muß  ich  dahingestellt  sein  lassen.  —  Pflicht 
christlicher  Herren,  ihre  Sklaven  im  Christentum  zu  unterweisen,  s.  Aristides, 
Apol.  15:  ..Die  ^Sklaven  und  Sklaviimen  unterweisen  sie,  daß  sie  Christen 
werden,  wegen  der  Liebe,  die  sie  zu  ihnen  haben ;  und  wenn  sie  es  geworden 
sind,  nennen  sie  sie  Brüder  ohne  Unterschied." 

1)  Der  römische  Presbyter -Bischof  Pius,  Bruder  des  Hermas,  muß  dem 
Sklavenstande  angehört  haben ;  der  römische  Bischof  Callist  war  lu-sprünglich 
Sklave.  Vgl.  den  80.  Kanon  von  p]lvira:  „Prohibendum  ut  lil)erti,  quorum 
patroni  in  saeculo  fuerint,  ad  clerum  non  promoveantur." 

-)  Hier  ist  in  den  Märtyrerakten  ein  reiches  Material  zu  finden ;  erinnert 
sei  besonders  an  Blaudina,  die  lugdunensische  Märtyrerin,  und  an  Felicitas 
in  den  Akten  der  Perpetua.  (Gemeinsames  Martyrium  von  Herrn  und  Sklaven 
ist  mehrfach  bezeugt).  Unter  den  „heiligen  Märtyrern"  der  Kirche  sind  nicht 
wenige  Sklaven.  Wer  würde,  wenn  es  nicht  im  Texte  stünde,  ahnen,  daß 
Blaudina  eine  Sklavin  ist,  sie,  die  von  der  ganzen  Gemeinde  hochverehrt 
wird  und  die  so  edle  Züge  trägt!  In  Eusebs  Mart.  Pal.  (Texte  u.  Unters. 
Bd.  24  H.  2  S.  78)  heißt  es:  „....  Porphyrius,  der  für  einen  Sklaven  des 
Pamphilus  galt  [sie],  in  der  Liebe  zu  Gott  aber  und  im  bewunderungswerten 
Bekenntnisse  sein  Bruder,  ja  noch  mehr  ein  geliebter  Sohn  für  den  Pamphilus 
war  und  seinem  Erzieher  in  allem  glich."  —  Man  vgl.  übi-igens  auch  die 
Bußgesetzgebung  gegen  die  pfiffigen  christlichen  Herren,  die  iu  der  Diocle- 
tianischen  Verfolgung  ihre  christlichen  Sklaven  gezwungen  hatten,  für  sie  zu 
opfern  (Kanon  G  u.  7  des  Petrus  Alex,  bei  Routh,  Reliq.  Sacr.  IV  p.  29f.): 
die  Herren  sollen  3  Jahre  Buße  tun,  xal  wg  v:ioy.Qirä[iEvoi  nal  w?  xaravayy.ä- 
oavrsg  rovg  6fwöox>}.ovg  ddoai ,  äie  St]  Jiagay.ovoai'zeg  tov  d.~ioaz6?.ov  zä  arzä 
üflovzog  jioinTv  zovg  Ssojtozag  roTg  Sovkoig ,  avUvzag  zijv  CLTisilrjv,  eiSörag ,  fpi/air, 
6'zi  y.ai  vjimv  xal  uvzcör  6  y.vniög  t:aziv  ev  ovQavoTg,  y.al  TiQoowJiohpina  :Tao'  avzto 
ovy.  t'oziv  (Ephes.  G,  9;  es  folgt  Coloss.  3,  11)  .  .  .  oy.o:Tsiv  ocfsdovotv  o  y.aztiQyä- 
oavTO  dEh'jouvzsg  zip'  yw/r/v  eavzMV  ocöaai ,  ol  zovg  ovvSovlovg  t'j/iojv  flxvoavzfg 
LtI  fMoy}.o).a.zijEiav  dvvafth'ovg  y.al  avzoi>g  syc/jvysTv,  sl  z6  öty.aiov  y.al  zip'  loüzrjza 
fjoav  avzoTg  :iaQo.oy/>rzF.g ,  ojg  nuhv  6  Ü7i6ozo?.og  liysi  (Coloss.  4,  1).  Den  ver- 
führten Sklaven  wird  in  diesen  Fällen  nur  eine  einjährige  Buße  auferlegt. 
Umgekehrt  zeigt  Tertull.,  de  idolol.  17,   daß   man   an   den  Mut  und   die  Be- 


Das  Evangelium  der  Liebe  uud  Hilfleistung.  ^47 

(d)  die  Hori'on  und  Herrinnen  wurden  eindringlich  ermahnt, 
alle  iliro  Sklaven  human  zai  behandeln  ^,  christlichen  Sklaven  gegen- 
über aber  nicht  zu  vergessen,  daß  sie  ihre  Brüder  seien 2;  um- 
gekehrt wird  den  christlichen  Sklaven  gesagt,  daß  sie  ihre  christ- 
lichen Herren  nicht  verachten,  d.  h.  sich  ihnen  nicht  gleich  stellen 
sollen  ^, 

(e)  Freilassung  der  Sklaven  hat  als  ein  rühmliches  Werk 
wahrscheinlich  von  Anfang  an  gegolten*,  sonst  hätte  der  An- 
spruch christlicher  Sklaven  auf  Freilassung  nicht  entstehen  können; 
einen  solchen  Anspruch  —  zumal  an  die  Gemeindekasse  —  hat 
aber  die  alte  Kirche  nicht  anerkannt,  sondern  ausdrücklich  zurück- 
gewiesen; doch  hat  sie  in  einigen  Fällen  Sklaven  aus  der  Ge- 
meindekasse freigekauft  ^.  Sie  beurteilte  eben  das  Hen-enrecht 
über  die  Sklaven  an  sich  niclit  als  sündig,  sondern  sah  in  der 
Sklaverei  einen  natürlichen  Stand.  Änderungen  in  dieser  Be- 
ziehung stammen  nicht  aus    dem  Christentum,    sondern    aus   all- 


kenntnistreue  christlicher  Sklaven  uud  Freigelassener  dieselben  Ansprüche 
stellte  wie  an  die  der  Vornehmen.  Sie  sollen,  wenn  ihre  heidnischen  Herren 
Opfer  darbringen,  denselben  keinen  Wein  darreichen  und  keine  Formel  mit- 
sprechen. Tun  sie  es  doch,  so  sind  sie  der  Idololatrie  schuldig.  Versuche 
heidnischer  Herren,  ihre  Sklaven  vom  Glauben  abzubringen,  siud  bezeugt, 
s.  z.  B.  Acta  Pionii  9. 

1)  Ein  schönes  Beispiel  der  angesehenen  Stellung  einer  christlichen 
Sklavin  in  einem  christlichen  Hause  bietet  Augustin  in  seiner  Schilderung 
der  alten  Dienerin  („famula  decrepita")  in  seinem  großväterlichen  Hause 
(mütterlicherseits),  die  schon  seinen  Großvater  als  Kind  gewartet  hatte  (,.sicut 
dorso  grandiuscularum  puellarum  parvuli  portari  solent"),  also  schon  um  300 
tätig  war.  ,,Propter  senectam  ac  mores  optimos  in  domo  christiana  satis  a 
dominis  honorabatur;  unde  etiam  curani  filiarum  dominicarum  (also  auch  der 
Mouica)  commissam  diligenter  gerebat  (mehr  als  die  Mutter,  war  schon  vor- 
her gesagt),  et  erat  in  eis  coercendis,  cum  opus  esset,  sancta  severitate  vehe- 
mens  atque  in  docendis  sobria  prudentia"  (Confess.  IX,  8,  17).  Auf  diese 
Sklavin  geht  die  Grundlage  der  Frömmigkeit  Augustins  zurück! 

-)  Daß  christliche  Herren  auch  heidnische  Sklaven  hatten,  ist  durch 
eine  lange  Reihe  von  Zeugen  vom  lugdunensischen  Brief  an  bezeugt.  Denun- 
tiationen  christlicher  Herren  durch  diese  Sklaven  und  Verleumdungen  der 
christlichen  Gottesdienste  müssen  nicht  ganz  selten  gewesen  sein. 

^)  So  schon  I  Tim.  6,  1  f.  Das  ist  ein  Beweis,  daß  das  Christentum  von 
christlichen  Sklaven  in  manchen  Fällen  „mißverstanden"   worden  sein  muß. 

*)  Zweifellose  Belege  fehlen  freilich. 

^)  Aus  dem  Brief  des  Ignatius  an  Polj'carp  (c.  4)  folgt  beides:  (1)  daß 
Loskauf  von  Sklaven  aus  den  Mitteln  der  Gemeindekasse  stattgefunden  hat, 
(2)  daß  ein  Anspruch  nicht  anerkannt  wurde :  äovlovg  y.al  8ov).ag  fa)  v.-tsq7]- 
(pävef  aXlä  firjöe  avxoi  (fvoiovo&cooav  [christliche  Sklaven  konnten  leicht  die 
Bescheidenheit  ihi-en  christlichen  Herren  gegenüljer  verlieren],  all'  elg  66'§av 
■deov  Tclsov  8ovlsv£io}öav,  i'ra  xoEiTTOvog  ilsvßeQcag  6.716  dsov  rv/tooiv  /iu)  iQdzco- 
aav  ä:i6  roö  holvov  ilFvOeQovaßui,  Iva  f^ii)  dovlot  suqs&ojoiv  i.-zi&vficag. 

10* 


148  l^iß  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

gemeinen  moralphilosopliischen  Erwägungen  und  wirtschaftlichen 
Nötigungen. 

Daß  leider  auch  in  den  christlichen  Gemeinden,  namentlich 
im  3.  Jahrhundert,  Beispiele  empörender  Härte  und  Grausamkeit 
gegenüber  den  Sklaven  vorgekommen  sind,  lehrt  uns  neben  an- 
deren Zeugnissen  vor  allem  ein  Kanon  der  um  das  Jahr  3(tO  ge- 
haltenen Synode  von  Eivira^. 

Im  allgemeinen  hat  man  sich  zu  erinnern,  daß  sich  schon 
im  2.  Jahrhundert  eine  Abnahme  der  großen  Sklavenfamilien  be- 
merklich macht,  und  daß  diese  Abnahme  —  aus  wirtschaftlichen 
Gründen  —  im  3.  Jahrhundert  stetig  zugenommen  hat.  Die  Frei- 
lassungen der  Sklaven  sind  häufig  abgenötigte  gewesen  und  dürfen 
in  der  Regel  nicht  als  Akte  der  Barmherzigkeit  oder  Brüderlich- 
keit beurteilt  Averden. 

(&)  Die  Sorge  bei  großen  Kalamitäten.  Schon  im 
Hebräerbrief  (c.  10,  32  ff.)  wird  eine  Gemeinde  dafür  gelobt,  wie 
sie  sich  in  einer  großen  Terfolgung  und  Xot  herrlich  bewährt 
hat,  bewährt  durch  Sympathie  und  Fürsorge.  Ermahnungen  an 
die  christlichen  Brüder,  sich  in  besonderen  Kalamitäten  besonders 
tüchtig  und  aufopfernd  zu  erweisen,  begegnen  seitdem  nicht  selten; 
aber  nicht  nur  Ermahnungen,  sondern  auch  Zeugnisse,  daß  die 
Ermahnungen  gefruchtet  haben.  Auf  die  Fälle,  in  denen  die 
Gemeinden  Schwestergemeinden,  auch  weit  entfernten,  geholfen 
haben,  ist  hier  noch  nicht  einzugehen  —  sie  werden  sub  Nr.  10 
aufgewiesen  werden  — ,  aber  einige  Beispiele  in  bezug  auf  Kala- 
mitäten in  der  eigenen  Mitte  mögen  hier  stehen: 

Als  in  Alexandrien  die  Pest  wütete  (um  d.  J.  259).  schrieb 
der  Bischof  Dionysius  (Euseb.,  h.  e.  VH,  22):  „Die  meisten  unserer 
Brüder  schonten  aus  großer  Nächstenliebe  ihre  eigene  Person 
nicht  und  hielten  fest  aneinander.  Furchtlos  besuchten  sie  die 
Kranken,  bedienten  sie  sorgfältig,  pflegten  sie  um  Christi  willen 
und  schieden  freudigst  zugleich  mit  ihnen  aus  dem  Leben  ,  .  . 
Ja  viele  starben  selbst,  nachdem  sie  anderen  durch  ihre  Pflege 
die  Gesundheit   wieder   verschafft  und    deren   Tod   g-leichsam   auf 


')  Kanon  5:  ,Si  qua  femina  furore  zcli  accensa  flagris  verberaverit 
ancillam  suam,  ita  ut  intra  tertium  dieni  animam  cum  cruciatu  eft'undat  etc." 
Von  Herren  und  Sklaven  handelt  auch  can.  41.  —  Auf  die  Krlaubnis  des 
römischen  Bischofs  Callist,  daß  Matronen  geschlechtliche  Verbindungen  mit 
Sklaven  schließen  können,  wird  in  diesem  Zusammenhang  nicht  einzugehen 
sein;  denn  diese  Erlaubnis  war  durch  die  Rücksicht  auf  die  heiratslustigen 
vornehmen  Frauen  motiviert,  nicht  aber  durch  die  Rücksicht,  die  Sklaven 
als  gleichberechtigt  anzuerkennen  (HippoL,  Philos.  IX,  12:  y.al  yvvai'ilv  ettf- 
TOfipev,  Fl  uvavdooi  fIev  xal  rjltxiq  ye  FxxmoivTO  dva^ia  tj  mvnoi'  d^i'av  fuj  ßov- 
t.oivTO  HudaiotTv  dtu  z6  vo/nifuog  yufitjdiirai ,  e/eiv  t'va  ov  liv  atQtjocovTui,  oir/xonov , 
eile  otxhtp-,  nl'rf.  E/.EvßFQor,  xal  tovtov  xihvfiv  uvrl  dvÖQÖg  liilj  rofuo  yeyaurj/iEvtp'). 


Das  Evangelium  der  Liehe  und  Hilfleistung.  149 

sich  verpflanzt  hatten  .  .  .  Auf  diese  Weise  starben  die  Edelsten 
unserer  Brüder,  einige  Presbyter,  Diakone  und  hochgefeierte 
Laien  .  .  .  Bei  den  Heidon  aber  fand  das  gerade  Gegenteil  statt. 
Sie  stießen  diejenigen,  Avelche  zu  erkranken  begannen,  von  sich, 
flohen  von  den  Teuersten  hinweg,  warfen  die  Halbtoten  auf  die 
Sti-aße  hin  und  ließen  die  Toten  unbeerdigt  liegen." 

Ähnliches  wird  uns  von  Cyprian  bei  der  Pest  in  Carthago 
berichtet;  er  ruft  dem  Heiden  Demetrian  (c.  10)  zu:  „pestem  et 
luem  criminaris,  cum  peste  ipsa  et  lue  vel  detecta  sint  vel  aucta 
crimina  singulorum,  dum  nee  infirmis  exhibetur  misericordia  et 
defunctis  avaritia  inhiat  ac  rapina.  idem  ad  pietatis  obsequium  timidi  ^, 
ad  impia  lucra  temerarii,  fugientes  morientium  funera  et  adpetentes 
spolia  mortuorum."  Wie  er  aber  selbst  ermahnt  hat,  zeigt  seine 
Schrift  „de  mortalitate",  und  wie  er  gehandelt  und  durch  sein 
Beispiel  auch  andere  Christen  entflammt  hat,  berichtet  sein  Bio- 
graph Pontius  (Vita  9  ff.):  „adgregatam  primo  in  loco  plebem  de 
misericordiae  bonis  instruit.  docet  divinae  lectionis  exemplis  .  .  . 
tunc  deinde  subimigit  non  esse  mirabile,  si  nostros  tantum  debito 
caritatis  obsequio  foveremus:  eum  enim  perfecrum  posse  fieri,  qui 
plus  aliquid  publicano  vel  ethnico  fecerit.  qui  malum  bono  vincens 
et  divinae  clementiae  instar  exercens  inimicos  quoque  dilexerit  .  .  . 
Quid  Christiana  plebs  faceret,  cui  de  fide  nomen  est?  distril)uta 
sunt  ergo  continuo  pro  qualitate  hominum  atque  ordinum  ministeria 
[also  organisierte  Hilfleistung],  multi.  qui  paupertatis  beneficio 
sumptus  exliiberi  non  poterant,  plus  sumptibus  exhibebant,  compen- 
santes  proprio  labore  mercedem  divitiis  omnibus  cariorem  .  .  . 
fiebat  itaque  exuberantium  operum  largitate.  quod  bonum  est  ad 
omnes.  non  ad  solos  domesticos  fidei." 

Ganz  ähnlich  hören  wir  bei  der  großen  Pest  z.  Z.  des  Maximinus 
Daza  von  dem  tätigen  Mitleid  und  der  selbstverleugnenden  Liebe 
der  Christen  auch  in  bezug  auf  Andersgläubige  (Euseb.,  h.  e.  IX,  S): 
„Sie  zeigten  sich  damals  allen  Heiden  im  hellsten  Lichte ;  denn 
die  Christen  waren  die  einzigen,  welche  inmitten  so  vieler  und  so 
großer  Drangsale  ihr  Mitgefühl  und  ihre  Menschenliebe  durch  die 
Tat  selbst  bewiesen.  Die  einen  beschäftigten  sich  Tag  für  Tag 
mit  der  Pflege  und  Bestattimg  der  Leichen  (es  gab  unzählige, 
um  welche  sich  sonst  niemand  kümmerte);  die  anderen  ver- 
sammelten die  in  der  ganzen  Stadt  von  Hunger  Gequälten 
an  einem  Ort  und  teilten  unter  alle  Brot  aus.  Als  dies 
bekannt  wm'de,  pries  man  den  Gott  der  Christen  und  bekannte, 
daß  sie  allein  die  wahrhaft  Frommen  und  Gottesfürchtigen  seien, 
weil  sie  es  durch  die  Tat  selbst  bewiesen." 


^)  Cf.  Cypr.  per  Pont.  9:    ^iacebant   Interim   tota   civitate   vicatim   non 
iam  Corpora,  sed  cadavera  plurimorum.'" 


150  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Man  darf  gewiß  annehmen,  daß  solche  Fälle,  wie  ja  auch 
Eusebius  sagt,  auf  die  Xichtchristen  einen  tiefen  Eindruck  machten 
und  die  Propaganda  mächtig  beförderten. 

(9)  Arbeitsnachweis  und  Eecht  auf  Arbeit  in  den 
Gemeinden.  Das  Christentum  verbreitete  sich  zuerst  haupt- 
sächlichlich  unter  der  hart  arbeitenden  Bevölkerung  und  hat  diese 
zwar  nicht  „die  Würde  der  Arbeit"  oder  „die  hohe  Befriedigung, 
welche  die  Arbeit  gewährt",  gelehrt,  wohl  aber  die  Pflicht  zu 
arbeiten  ihnen  eingeschärft  ^.  „Wer  nicht  arbeitet,  soll  auch  nicht 
essen"  (II  Tliess.  3,  10).  Daß  die  Unterstützungspflicht  ihre  Grenzen 
an  der  Arbeitsfähigkeit  hat,  ist  immer  wieder  gepredigt  worden. 
Die  Beobachtung,  daß  Brüder  in  ein  aufgeregtes,  arbeitsscheues 
Treiben  gerieten,  mußte  man  bald  machen,  auch  die  andere, 
schmerzlichere,  daß  arbeitsscheue  Brüder  die  Mildtätigkeit  in  eigen- 
nütziger Weise  auszubeuten  suchten.  Die  Sache  war  so  bekannt, 
daß  in  der  kurzgefaßten  „Apostellehre"  Yorkehrungen  gegen  solche 
Versuche  getroffen  sind,  und  daß  Lucian  es  als  einen  charakteri- 
stischen Zug  im  Bilde  der  Christen  bezeichnet,  sie  ließen  sich  in 
ihrer  Bruderliebe  von   abgefeimten  Schwindlern   leicht  betrügen  2. 

Jedenfalls  kann  man  dem  Christentum  nicht  den  Vorwurf 
machen,  es  habe  den  Bettel  groß  ziehen  wollen  und  die  Pfliclit 
der  Arbeit  unterschätzt  ^.  Selbst  den  Vorw^urf  „infructuosi  in 
negotiis"  zu  sein,  w-ollte  Tertullian  nicht  auf  den  Christen  sitzen 
lassen:  „Wie?  Leute,  die  mit  euch  zusammenleben,  Leute  von 
derselben  Lebensweise,  Kleidung,  Einrichtung  und  denselben  Be- 
dürfnissen des  Lebens?  Wir  sind  doch  keine  Brahmanen  oder 
indische  Gymnosophisten,  Waldmenschen  und  aus  dem  Leben 
bereits  ausgeschieden?  .  .  .  Wir  wohnen  in  dieser  Welt  mit  euch 
zusammen  nicht  ohne  den  Gebrauch  des  Forum,  nicht  ohne  den 
Fleischmarkt,  ohne  die  Bäder,  ohne  eure  Kaufläden,  Werkstätten, 
Ställe,  Jahrmärkte  und  sonstigen  Handelsverkehr.  AVir  treiben 
mit  euch  Schiff'ahrt,  tun  Kriegsdienst,  treiben  Ackerbau  und 
Handel;  wir  gesellen  unsere  Kunstfertigkeit  zu  der  der  anderen 
und  geben   die  Erzeugnisse   unserer  Arbeit  zu   eurem  Gebrauche 

*)  Als  eine  stille  Unterströmiing  verbreitete  sich  aber  doch  die  Maxime, 
daß  gänzliche  Hingeljung  an  das  Heilige  —  „der  himmlische  Vater  wird  uns 
ernähren,  wie  er  die  Vögel  ernährt  und  die  Lilien  kleidet"  —  ein  höherer 
Stand  sei.  Apostel  und  Propheten  (wohl  auch  von  Anfang  an  heroische 
Asketen)  brauchten  nicht  mit  der  Hand  zu  arbeiten.  Man  nahm  an,  dal.^ 
ihre  Predigttätigkeit  ihre  ganze  Persönlichkeit  fordern  und  ihi-e  ganze  Zeit 
ausfüllen  werde. 

-)  Scharfe  Warnung  gegen  die  „otiosi",  die  von  Religion  schwatzen  statt 
zu  arbeiten,  im  pseudoclementinischen  Brief  de  virginit.  1, 11. 

^)  S.  II  Thess.  ?>,ii:  utagay/t/.oinev  vfilv  h  ovo/naTi  zov  xvulov  '/.  A'.  otü.Ie- 
oüai  v/iiäg  u:tü  navzog  uSeÄipov  äiüxtiog  TiEQijiatovvzog ,  cf.  v.  12. 


Das  Evangelium  der  Liebe  uud  Hilfleistung.  151 

hin"  (Apol.  42)  ^.  Sogar  Kleriker  standen  mitten  im  allgemeinen 
Erwerbsleben  2.  Über  die  Notwendigkeit  der  Arbeit  linden  sich 
bei  Clemens  Alexandrinus  imd  anderen  treffliche  Worte.  Daß 
ziu'  Ai'beit  auch  durch  die  Erwägung  angefeuert  wurde,  man  könne 
sich  dadurch  etwas  erwerben,  um  andere  zu  unterstützen,  wurde 
schon  bemerkt  (s.  o.  S.  1 34).  Es  war  das  nicht  nur  ein  Hüchtiger 
Gedanke,  sondern  die  häufige  Wiederhohmg  dieses  Satzes  seit 
der  Ermahimng  im  Epheserbrief  zeigt,  daß  man  in  ihm  ein  wicli- 
tiges  Motiv,  mit  Fleiß  zu  arbeiten,  erkannte.  Daß  der  Arbeiter 
seines  Lohnes  wert  sei,  ist  ebenfalls  schlicht  und  eindringlich  ver- 
kündigt und  ein  schreckliches  Strafgericht  denen  prophezeit  worden, 
welche  den  Arbeitern  ihren  Lohn  vorenthalten  (s.  vor  allem  den 
Jacobusbrief  c.  5,  4  f.).  Daß  in  einer  religiösen  Gemeinschaft,  der 
die  Gefahr  der  Schwärmerei  und  Tatenlosigkeit  so  nahe  lag,  so 
nüchtern  von  der  Arbeit  gesprochen  und  so  ernsthaft  die  Arbeits- 
pflicht eingeschärft  worden  ist,  ist  bewundermigswürdig  ^. 

Aber  das  eigentlich  Bemerkenswerte  haben  wir  noch  nicht 
berührt.  Es  waren  uns  schon  früher  einige  Stellen  bekannt,  aus 
denen  wir  schließen  konnten,  daß  in  der  ältesten  Christenheit 
mit  der  Anerkennung  des  Anspruchsrechts  eines  jeden  christlichen 
Bruders  auf  das  Existenzminimum  auch  eine  Pflicht  der  Gemeinden 
existierte,  dieses  Minimum  entweder  durch  Arbeitsnachweis  oder 
durch  Unterstützimg  zu  gewähren.  So  lesen  wir  in  den  pseudo- 
clementinischen  Ilomilien  (ep.  Clem.  8):  „dem  Arbeitsfähigen 
Arbeit,  dem  Arbeitsunfähigen  Mitleid"  *,  und  Cyprian  (ep.  2)  hält 


')  Tertullian  verschweigt  hier  seine  eigenen  sittlichen  Anschauungen 
und  spricht  vom  Standpunkt  der  Majorität  der  Christen.  In  Wahrheit  war 
er,  wie  die  Schrift  de  idololatria  lehrt,  der  Überzeugung,  daß  es  kaum  einen 
Beruf  (oder  ein  Handwerk)  gebe,  das  der  Christ  ausüben  könne,  ohne  sein 
Gewissen  mit  Götzendienst  zu  beflecken. 

^)  Erst  in  den  Bestimmungen  von  Elvii-a  (can.  19}  liest  mau  Beschrän- 
kungen, aber  vorsichtige:  „Kpiscopi,  presbyteres  et  diacones  de  locis  suis 
[nur  das  wird  verboten]  negotiandi  causa  non  discedant;  .  .  .  sane  ad  victum 
sibi  conquirendum  aut  filiuni  aut  libertum  aut  mercenariuni  aut  amicum  aut 
quemlibet  mittant;    et  si  voluerint  negotiari,  intra  provinciam  negotieutur." 

^)  Hier  mag  noch  die  in  der  Didasc.  apost.  c.  13  S.  73  f.  gegebene  An- 
weisung stehen:  „All  ihr  Gläubigen  nun  sollt  au  jedem  Tage  und  zu  jeder 
Zeit,  so  oft  ihr  nicht  in  der  Kirche  seid,  fleißig  bei  eurer  Arbeit  sein,  so  daß 
ihr  die  ganze  Zeit  eures  Lebens  .  .  .  niemals  müßig  seid.  Denn  der  Herr  hat 
gesagt  [folgt  Proverb.  6,  6 — 11],  Seid  also  allezeit  tätig,  denn  eine  Schande, 
die  nicht  wieder  gut  zu  macheu  ist,  ist  der  Müßiggang.  So  aber  jemand 
bei  euch  nicht  arbeitet,  der  soll  auch  nicht  essen;  denn  die  Faulen  haßt 
auch  Gott  der  Herr;  ein  Fauler  nämlich  kann  nicht  ein  Gläubiger  werden." 

*)  UuQej^ovTsg  fisiä  jTÜo7jg  fVff^oavvijg  tu;  TOO(f(ig  .  .  .  roig  dze/roig  Sia 
rxbv  ijiiTtjösvfidrojv  evvoov^ievoi.  rag  :TQO(fäoeig  rr/g  uvuyy.aiug  T(joqfjg'  leyrizt] 
egyov,  dÖQavei  e/.eog. 


j^52  Die  Missioiispredigt  in  Wort  und  Tat. 

es    für    selbstvorsttlndlich ,    daß    die   Gemeinde,    wenn    sie   einem 
Lehrer   der  Schauspielkunst  die  Ausübung   dieses  Berufes   unter- 
sagt,  für  ihn  sorgen,   bez.    wenn   er  sonst  nichts  kann,   ihm   das 
Existenzminimum  gewähren   muß^     Aber  wir  wußten  doch  nicht, 
ob    diese   Pflicht  wirklich    generell    empfunden    wurde.      Seitdem 
mr  die  „Apostellehre"  besitzen,    ist   das  anders  geworden.     Hier 
heißt  es  (c.  12),   daß  kein   arbeitsfähiger  Bruder   länger   als  zwei 
oder   drei  Tage   von    der  Gemeinde   unterstützt   werden  soll.     Es 
besteht  also  ein  Recht  der  Gemeinde,  solche  Brüder  abzuschieben. 
Aber  dieses  Recht  hat  zu  seiner  Kehrseite  eine  Pflicht:    „Ist  der 
Bruder    ein   Handwerker,    so    möge    er    sein  Handwerk    ausüben 
und    essen.      Kann    er    aber    kein    Handwerk,    so    tragt    dafür 
Sorge,     daß    kein    Christ    als    Müßiger    mit    euch    lebe. 
Wenn  er  aber  das  nicht  tun  will  [die  ihm  von  euch  nachgewiesene 
Arbeit  nicht  leisten],    so   ist  er  einer,    der  mit  Christus  Handel 
treibt  (xQioTfjujrooog).     Haltet  euch  fern   von    solchen."     Hiernach 
ist   es  nicht   zweifelhaft,    daß   der   christliche  Bruder  in   der  Ge- 
meinde Arbeit  verlangen  konnte,   und   daß   sie  ihm  solche  nach- 
weisen   mußte.      Nicht    nur    die    Unterstützungspflicht    also    ver- 
band  die   Gemeindeglieder   —    sie   war   nur   die   ultima   ratio   — , 
sondern  sie  waren  in  diesem  Sinne  auch  eine  Arbeitsgemeinschaft, 
daß  die  Gemeinden,  wo  es  nötig,  dem  Bruder  Arbeit  zu  verschaffen 
hatten.     Diese   Tatsache    scheint    mir    sozial    von   hohem  Werte. 
Die  Gemeinden  waren  auch  wirtschaftliche  Gemeinschaften.     Der 
durch  Cyprian  bezeugte  Fall  beweist  es,  daß  hier  nicht  etwa  nur 
eine    rhetorische    Maxime    zu    erkennen    ist.      Für    arbeitswillige 
Menschen,    die   in  Not  geraten  waren,    war  mithin  die  christliche 
Gemeinde    ein   Zufluchtsort.      Ihre   Anziehungskraft    war   dadurch 
erhöht,  und  wirtschaftlich  müssen  wir  eine  Gemeinschaft  sehr  hoch 
schätzen,    die   den  Arbeitskräftigen  Arbeit   gewährte   und  die  Ar- 
beitsunfähigen vor  dem  Hunger  schützte. 

(10)    Die    Sorge    für    zugereiste    Brüder   (Gastfreund- 
schaft) und  für  arme  oder  gefährdete  Gemeinden-. 


')  „Si  paenuriaui  talis  et  necessitatem  paupertatis  obtendit,  potest  inter 
ceteros  qui  ecclesiae  alimentis  sustinentur  huius  quoque  necessitas  adiuvari, 
si  tarnen  conteutus  sit  frugalioribus  et  innoceutibus  cibis  nee  putet  salario 
se  esse  redimendum,  ut  a  peccatis  cesset." 

-)  Hier  habe  ic-h  meine  in  der  „Monatsschrift  f.  Diakouie  und  innere 
Mission"  (1879  Dez.,  1880  Jan.)  erschienene  Abhandlung  zu  Grunde  gelegt. 
Größere  Ausführlichkeit  war  in  diesem  Abschnitt  am  Platze,  da  die  Verhält- 
nisse der  Eiuzelgenieinde  zur  Gesamtchristenheit  hier  in  Betracht  kommen. 
Den  idealen  Hintergrund  der  Betätigungen  kann  man  in  dem  Wort  Ter- 
tullians  finden  (de  "praescr.  20):  „Omnes  ecclesiae  una;  probant  unitateui 
ecclesiarum  communicatio  pacis  et  appellatio  fraternitatis  et  contesseratio 
hospitalitatis." 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  ■[53 

Über  den  Kreis  der  eigenen  Gemeinde  griff  die  Diakonie 
hinaus,  sofern  sie  die  Pflege  der  Fremdlinge,  d.  h.  zunächst 
der  zAigereisten  christlichen  Brüder,  ausdrücklich  in  ihre  Aufgabe 
mit  einschloß.  In  dem  ältesten  Bericht,  den  wir  über  den  Ge- 
meindegottesdienst besitzen  (Justin,  Apol.  I,  67,  s.  o.  S.  132),  werden 
unter  denen,  welche  Unterstützungen  aus  der  Gemeindekasse 
erhalten,  auch  die  herzugereisten  Fremden  genannt.  Die  Pflege 
derselben  wird  also  nicht  bloß  dem  guten  Willen  einzelner 
überlassen,  obschon  auch  dieser  mannigfach  in  Anspruch  ge- 
nommen und  die  Tugend  der  Gastfreundschaft  immer  wieder 
eingeschärft  wird  ^,  sondern  gilt  als  eine  Gemeindeangelegenheit. 
In   dem   ersten  Brief   des  Clemens  an  die  corinthische  Gemeinde 


*)  Rom.  12,13:  „Nebmet  eucb  der  Heiligen  Notdurft  an.  Herberget  gern." 
IPetr.  4,  9:  ,Seid  gastfrei  untereinander  ohne  Murmeln."  Hebr.  6,  10;  13,2; 
„Gastfrei  zu  sein  vergesset  nicht;  denn  durch  dasselbe  haben  etliche,  ohne 
ihr  Wissen,  Engel  beherberget.''  Die  Empfehlung  einzelner  Personen  an  die 
Gastfreundschaft  der  Gemeinde  durch  Paulus  öfters,  z.  B.  Rom.  16. 1  f.:  „Daß 
ihr  sie  aufnehmt  in  dem  Herrn,  wie  sich's  ziemet  den  Heiligen."  S.  auch 
3.  Job.  5  — 8.  Im  Hirten  des  Hermas  wird  Mand.  VUI,  10  in  dem  Tugend- 
katalog die  Gastfreundschaft  ausdrücklich  genannt  mit  dem  bemerkenswerten 
Zusatz:  ir  yao  rfj  rpü.o^srm  evQi'oy.erai  uya^ojToüjoig  jrore.  In  demselben  Buche 
werden  Sim.  VIII,  10,  3  solche  Christen  gerühmt,  welche  ek  tov;  ol'y.ovg  avröiv 
tjdscog  v.iede^arTO  Tovg  dov/.ovg  tov  deov.  Aristides  in  seiner  Apologie  (c.  15) 
schreibt  von  den  Christen:  Sevov  iäv  l'äcoaiv,  vjtÖ  ozsyip'  sladyovai  xal  yaiQovoiv 
en  avrqj  cbg  sm  äds/.rpo)  aXr]divö).  Tertullian  setzt  die  private  Ausübung  der 
Gastfreundschaft  gegenüber  christlichen  Brüdern  als  eine  Pflicht,  der  sich 
niemand  entziehen  dürfe,  voraus,  wenn  er  seine  Frau  im  Falle  seines  früheren 
Ablebens  auch  deshalb  ermahnt,  mit  keinem  Heiden  eine  zweite  Ehe  ein- 
zugehen, weil  im  fremden  Hause  kein  wandernder  Bruder  gastliche  Aufiiahme 
finden  würde  (ad  uxor.  II,  4).  Besonders  eingeschärft  aber  wird  die  Gast- 
fi'eundschaft  den  Gemeindebeamteu,  den  Altesten  (Bischöfen)  und  Diakonen, 
da  sie  ja  im  Namen  der  ganzen  Gemeinde  diese  Tugend  ausüben ;  s.  I  Tim.  3,  2, 
Tit.  1,  8  (I  Tim.  5, 10).  Im  Hirten  des  Hermas  bilden  eine  besondei-e  Klasse 
der  Seligen  die  gastfreien  Bischöfe,  „welche  allezeit  gerne  die  Knechte  Gottes 
in  ihre  Häuser  aufgenommen  haben  ohne  Heuchelei"  (Sim.  IX,  27,  2).  In  der 
„Apostellehre"  nehmen  die  Anweisungen,  welche  die  Sorge  für  die  Zugereisten 
betreffen,  einen  verhältnismäßig  großen  Raum  ein.  Cypriaus  Sorge  für  die 
Fremden  bezeugt  der  7.  Brief,  den  er  während  der  Verfolgung  des  Decius  aus 
seinem  Zufluchtsort  an  seinen  Klerus  in  Carthago  geschrieben  hat:  .  .  .  „vidu- 
arum  et  infirmorum  et  omnium  pauperum  curam  peto  diligenter  habeatis, 
sed  et  peregrinis  si  qui  iudigentes  fuerint  sumptus  suggeratis  de  quantitate 
mea  propria  quam  apud  Rogatianum  compresbyterum  nostrum  dimisi.  Quae 
quantitas  ne  forte  iam  erogata  sit,  misi  eidem  per  Naricum  acoluthum  aliam 
portionem,  ut  largius  et  promptius  circa  laborantes  fiat  operatio."  S.  auch 
Apost.  Constit.  III,  3  (p.  98,  9  sq.  edid.  de  Lagarde).  Ep.  Clem.  ad  Jacob, 
(p.  9, 10  sq.  edid.  de  Lagarde):  rovg  ^svovg  ftsra  :iao)]g  :ioo&vf.iiag  sig  rovg  sav- 
TCüj'  ol'xovg  ?M^ißävETE.  —  Lucian  in  seiner  Spottschrift  über  das  Lebensende 
des  Peregrinus  erzählt,  wie  dieser,  Christ  geworden,  auf  seinen  Wanderungen 
reichlich  unterstützt  worden  ist.  „Peregrinus  nun  zog  so  zum  zweitenmal 
aus  und  begab  sich  auf  die  Wanderschaft;   einen  hinreichenden  Zehrpfennig 


154  Die  Missiouspredigt  in  Wort  und  Tat. 

wird  unter  den  Tugenden,  dureli  welche  diese  sich  ausgezeichnet 
hat,  namentlich  erwähnt,  daß  jedermann,  der  sich  bei  ihr  auf- 
gehalten habe,  ihre  herrliche  Sitte  der  Gastfreundschaft  preise^. 
Es  ist  aber  vor  allem  die  römische  Kirche  selbst,  welche  in  den 
ersten  Jahrhunderten  durch  die  weitherzige  Übung  dieser  Tugend 
hervorleuchtet.  In  einem  Schreiben  aus  der  Zeit  Marc  Aureis, 
einem  Briefe  des  corinthischen  Bischofs  Dionysius  an  die  römische 
Gemeinde,  wird  anerkannt,  daß  diese  Kirche  ihre  uralte  Ge- 
wohnheit, den  auswärtigen  Brüdern  Wohltaten  zu  erweisen, 
beibehalten  habe.  „Diesen  Beruf  hat  euer  würdiger  Bischof  Soter 
nicht  nur  bew^ahrt,  sondern  sogar  noch  gesteigert,  indem  er  nicht 
bloß  die  für  die  Heiligen  bestimmten  Gaben  reichlich  spendet, 
sondern  die  (durchreisenden)  zurückkehrenden  Brüder  wie  ein 
liebevoller  Vater  seine  Kinder  mit  gottseligen  Worten  tröstet^." 
Wir  kommen  später  noch  auf  diese  Stelle  zurück;  aber  soviel 
darf  schon  hier  gesagt  werden,  daß  die  römische  Gemeinde 
nicht  nur  deshalb  so  rasch  an  die  Spitze  der  abendländischen 
Christenheit  getreten  ist,  w^eil  sie  in  der  Hauptstadt  des  Reiches 
ihren  Sitz  hatte,  oder  weil  sie  die  Stätte  apostolischer  Wirksam- 
keit im  Occident  gewesen  ist,  sondern  vor  allem  auch  deshalb, 
weil  sie  die  besonderen  Verpflichtungen  der  allgemeinen  Fürsorge 
erkannt  hat,  welche  ihr  in  der  Reichshauptstadt  auferlegt  waren. 
Das  wirksame  Interesse  am  Gesamtwohl  der  Kirche  Christi  ist 
in  der  römischen  Gemeinde,  wie  wir  sehen  werden,  von  Anfang 
an  in  besonderem  Maße  lebendig  gewesen.  Dasselbe  kam  aber 
auch  in  der  Übung  der  Tugend  der  Gastfreundschaft  zum  Aus- 
druck. In  einer  Zeit,  in  welcher  das  Christentum  noch  Wander- 
religion war,  die  zufälligen  Reisen  der  Brüder  häufig  das  Mittel 
wurden,  um  Gemeinden,  die  sonst  ohne  jede  Verbindung  waren, 
einander  nahe  zu  bringen,  in  welcher  gefangene  Christen  weithin 
durch  das  Reich  geschleppt  w^urden  vmd  verwiesene,  notleidende 
Brüder  Schutz  und  Trost  suchten,  mußte  die  Bewährung  der 
Gastfreundschaft  von  besonderer  Wichtigkeit  sein.  Bereits  im 
2.  Jahrhundert  hat  ein  kleinasiatischer  Bischof  sogar  ein  Buch 
über  sie  geschrieben '',    und   so   hoch   wird    sie   in  den  Gemeinden 

hatte  er  von  den  Christen,  die  seine  Trabanten  machten,  so  daß  er  in  Hülle 
und  Fülle  lebte.  Eine  Zeitlang  fütterte  er  sieh  also  auf  solche  Weise"  (c.  16). 
Wie  die  Gastfreundschaft  in  Anspruch  genommen  und  geübt  wurde,  erkennt 
man  auch  aus  den  pseudoclementiuischen  Briefen  de  virginitate.  Endlich 
hebt  auch  Julian  (Ep.  ad  Arsac.)  i)  jisqI  rovg  ^h'ovg  (pi?.avdQcojTia  bei  den 
Christen  hervor  und  wünscht,  dai5  seine  Glaubensgenossen  sie  nachahmen. 

^)  I  Clem.  1,2:  Tig  yÜQ  jTUQSJriÖijfi/joag  :iQog  {:/iiäg  .  .  .  zo  fiEyulo:i(iEJikg  rijg 
((.i'/.o'geviag  v/udjv  rjdog  ovx  exh'iqv^ev. 

-)  Euseb.,  bist,  eccles.  IV,  2:j,  10. 

^j  Melito  V.  Sardes  nach  der  Angabe  des  Eusebius  (h.  e.  IV,  26,  2). 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung-.  j  55 

gerühmt,  daß  uiiin  ilir  neben  dem  Glauben  (als  der  rechten  Be- 
tätigung desselben)  die  nächste  Stelle  anwies.  „Um  seines  Glaubens 
und  seiner  Gastfreundschaft  willen  wurde  dem  Abraham  noch  in 
seinem  Alter  ein  Sohn  beschert."  —  „Der  Gastfreundschaft  und 
der  Frihnmigkeit  wegen  ist  Lot  aus  Sodom  gerettet  worden."  — 
„Um  ihres  Glaubens  und  ihrer  Gastfreundschaft  willen  ist  die 
Rahab  errettet  worden."  —  An  solche  Beispiele  imd  in  solchen 
Worten  erinnert  die  nhnische  Kirche  die  corinthische  Schwester- 
gemeinde ^  Aber  nicht  nur  eine  Süchtige  Gastfreundschaft  wurde 
gewährt.  Von  dem  Recht  auf  Arbeit  in  der  Gemeinde  wurde 
bereits  oben  gesprochen  (s.  S.  150  f.);  auch  die  Zugereisten,  wenn 
sie  sich  niederlassen  wollten,  durften  es  in  Anspruch  nehmen,  ja 
wir  kennen  es  deutlich  nur  aus  den  Anweisungen  für  solche  Fälle. 
An  Straßen,  die  durch  öde  Gegenden  führten,  wurden  Hospize 
eingerichtet.  Das  älteste  Beispiel  bieten  die  Acta  Archelai^  um 
den  Anfang  des  4.  Jalirhunderts. 

Solch  weitgehendes  Entgegenkommen  konnte  leicht  mißbraucht 
werden  (s.  o.  Peregrinus  Proteus;  namentlich  mit  angeblichen 
Lehrern  und  Propheten  hat  man  schlimme  Erfahrungen  gemacht): 
L'rlehrer  konnten  sich  einschleichen  und  Arbeitsscheue  und  Schwind- 
ler. AVir  sehen  daher,  daß  schon  frühe  gegen  solche  bestimmte 
Vorsorge  getroffen  worden  ist.  Der  Ankömmling  soll  geprüft 
werden,  ob  er  Christ  und  ein  rechter  Christ  ist  (s.  IL  u.  III.  Joh., 
Doctr.  Apost.,  1.  c);  bei  einem  zugereisten  Propheten  sollen  die 
Worte  und  Taten  verglichen  werden ;  ohne  Arl)eit  soll  kein  Bruder 
länger  als  zwei,  höchstens  drei  Tage  bleiben;  dann  soll  er  weiter 
gehen  oder  arbeiten  (Doctr.  Apost.  12).  Später  verlangte  man, 
daß  der  zugereiste  Bruder  eine  Art  von  Paß  aus  seiner  heimat- 
lichen Gemeinde  brächte.  Es  mußte  weit  gekommen  sein,  wenn 
die  Apostellehre  erklärte,  jeder  zugereiste  Prophet  sei  ohne 
weiteres  als  Pseudoprophet  zu  betrachten,  der  sich  in  der  Ekstase 
ein  Diner  bestelle  und  dann  wirklich  das  Mahl  einnehme,  oder 
der  in  der  Ekstase  Geld  verlange.  Manche  Zugereiste,  die  sich 
niederlassen  wollten,  kamen  übrigens  nicht  mit  leeren  Händen; 
sie  forderten  nicht,  sondern  sie  gaben.  So  wissen  wir  von  Marcion 
(s.  o.),  daß  er,  aus  dem  Pontus  kommend,  bei  seinem  Eintritt  in 
die  römische  Gemeinde  dieser  200000  Sesterzen  dargebracht  hat 
(Tertull.  de  praescr.  30).  Aber  das  waren  Ausnahmen;  in  der 
Regel  waren  die  Zugereisten  hilfsbedürftig. 

Die  Fürsorge  für  die  reisenden  Brüder  bildete  naturgemäß 
die  Brücke   zu   der  Teilnahme  und  der  Sorffe  für  entfernte  arme 


1)  I  Clem.  10,7.  11,1.  12,1. 

*)  S.  c.  4:  ,.  .  .  si  quando  veluti  peregriuans   ad  hospitium  pervenisset, 
quae  quidem  diversoria  hospitalissimus  Marcellus  instruxerat." 


{50  Diß  Missionspredigt  iu  Wort  imd  Tat. 

und  gefährdete  Gemeinden.  Das  eingehende  Interesse,  welches 
man  dem  Gaste  widmete ,  konnte  nicht  aufhören,  wenn  er  die 
Schwelle  des  Hauses,  das  Tor  der  Stadt  verlassen  hatte.  Aber 
dies  ist  doch  nur  das  Geringere.  Der  Gast  war  ja  selbst  jedes- 
mal der  Gemeinde,  zu  der  er  kam,  ein  Repräsentant,  ein  Bote 
aus  einem  fernen,  vielleicht  völlig  vmbekamiten,  aber  doch  ver- 
wandten Bruderkreise.  Was  er  erzählte  von  der  Not  und  dem 
Leiden  oder  dem  Wachstum  und  den  Gnadengaben  seiner  heimat- 
lichen Gemeinde,  das  war  keine  Kunde  als  von  Fremdem.  Die 
ältesten  Gemeinden  wußten  sich  in  Glauben  und  Beruf  innerhalb 
der  Welt  eng  verbunden  und  empfanden  nach  der  apostolischen 
Regel:  „So  ein  Glied  leidet,  so  leiden  alle  Glieder  mit:  und  so 
ein  Glied  wird  herrlich  gehalten,  so  freuen  sich  alle  Glieder  mit^" 
Und  gewiß:  dieses  Bewußtsein  ist  in  den  Zeiten  am  stärksten 
und  lebendigsten  gewesen,  in  denen  noch  kein  äußeres  Band  die 
fast  independentistisch  nebeneinander  stehenden  Gemeinden  mit- 
einander verband,  in  denen  der  uralte  Artikel  des  allgemeinen 
Symbols:  „Ich  glaube  eine,  heilige  Kirche",  wirklich  nur  ein 
Glaubenssatz  gewesen  ist.  Aber  freilich,  um  so  stärker  wirkten 
die  inneren  Verbindungen:  die  Gemeinschaft  desselben  Glaubens, 
bald  auch  ausgedrückt  in  einem  kurzen,  kräftigen  Bekenntnis,  die 
gleiche  Ausübung  der  Liebe,  Geduld  und  christlichen  Erziehung, 
sowie  die  gemeinsame  Hoffnung  auf  die  Zeit  der  herrlichen 
Ausgestaltung  des  Reiches  Christi,  für  welches  alle  das  gleiche 
Angeld  und  Unterpfand  schon  empfangen  hatten.  Dieser  Besitz 
belebte  die  Bruderliebe  und  machte  die  Unbekannten  bekannt, 
brachte  die  Fernen  nahe.  „An  geheimen  Zeichen  und  Merkmalen 
kennen  sie  sich  und  lieben  einander,  schier  bevor  sie  sich  kenjn?n 
gelernt  haben",  sagte  der  Heide  Cäcilius  von  den  Christen-.  Es  ist 
später  anders  geworden,  wenn  auch  das  lebendige  Gefühl,  einem 
Bruderbunde  anzugehören,  niemals  ganz  geschwunden  ist. 

In  dem  großen  Gebete,  in  welchem  sonntäglich  die  Gemeinden 
ihren  Dank  und  ihre  Bitte  Gott  vortrugen,  hatte  die  Fürbitte  für 
die  ganze  Christenheit  auf  dem  Erdkreise  ihre  feste  Stelle.  Von 
dorther  wurde  das  Bewußtsein,  einer  heiligen  Christenheit  anzu- 
geliören,  bald  in  den  einzelnen  Gliedern  belebt  und  die  Erinnerung 
an  die  Aufgaben  für  das  Ganze  wach  erhalten.  Wo  nur  in  Briefen 
und  Schriftstücken  der  ältesten  Zeit  des  Gemeindegebetes  gedacht 
wird,  da  wird  auch  dieser  ökumenische  Charakter  desselben  aus- 
drücklich hervorgehoben '^    Im  einzelnen  aber  vermittelten  Briefe, 


')  I  Cor.  12,  26.  —  2)  Cäcil.  bei  Minuc.  Felix,  Octav.  9,  3. 
•')  Vgl.  I  Cleiu.  59,  2  t'.  und  meine  Benierkungeu  zu  dieser  Stelle.    Polyc. 
Philipp.  12,  2  f. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  |57 

Zirkulärschroibon,  Briefsammliingon ,  übersandte  Akten  oder  offi- 
zielle Berichte,  Reisende  und  S]>ezialf!fesandte  den  Verkehr.  \n 
wichtigen  Fällen  haben  sich  die  Bischöfe  selbst  aufgemacht,  um 
Streitfragen  beizulegen  oder  ein  gemeinsames  Abkommen  zu  treffen. 
Es  ist  hier  nicht  unsere  Aufgabe,  diesen  mannigfaltigen  Verkehr 
zu  schildern ;  wir  beschränken  uns  darauf,  diejenigen  Berichte  zu 
sammeln  und  zu  beleuchten,  in  denen  die  eine  Gremeinde  in  Fällen 
der  Not  der  anderen  zu  Hilfe  gekommen  ist.  Armut,  Krankheit, 
Verfolgung  und  Leiden  aller  Art  sind  es  einerseits  gewesen,  welche 
tätige  Hilfe  von  selten  der  besser  situierten  Gemeinden  erheischten, 
andererseits  waren  es  innere  Krisen  in  bezug  auf  Lehre  und 
Leben,  Disziplin  und  Kultus,  welche  eine  Gemeinde  bedrohten, 
ja  ihre  Existenz  in  Frage  stellen  konnten.  In  beiden  Fällen 
hatte  sich  die  christliche  Bruderliebe  der  Schwestergemeinden  zu 
bewähren. 

Das  erste  Beispiel  von  LTnterstützung  der  einen  Gemeinde 
durch  eine  andere  begegnet  uns  schon  im  Anfange  des  aposto- 
lischen Zeitalters.  In  der  Apostelgeschichte  (11,  27  f.)  lesen  wir, 
daß  in  Antiochien  Agabus  eine  Teuerung  geweissagt  habe.  Auf 
diese  Kunde  hin  sammelte  die  junge  antiochenische  Gemeinde 
für  die  armen  Brüder  in  Judäa  und  schickte  die  Spende  durch 
Barnabas  und  Paulus  an  sie  ab^  Eine  heidenchristliche  Gemeinde 
ist  es  gewesen,  welche,  soviel  wir  wissen,  zuerst  der  Not  einer 
Schwestergemeinde  zu  Hilfe  gekommen  ist.  Bald  sollte  sich  die 
brüderliche  Liebe  der  jungen  christlichen  Gemeinden  aus  den 
Heiden  in  Asien  und  Europa  in  noch  größerem  Umfange  bewähren. 
Die  Armut  der  jerusalemischen  Muttergemeinde  hat  auch  nach 
der  Zeit  der  Teuerung  fortbestanden.  Die  Gründe  hierfür  sind 
unbekannt.  Man  hat  auf  den  Versuch,  freiwillige  Gütergemein- 
schaft einzuführen,  welchen  die  Gemeinde  am  Anfange  gemacht 
haben  soll,  verwiesen ;  er  sei  mißlungen,  und  die  Gemeinde  somit 
verarmt.  Dies  ist  vage  Vermutung;  aber  die  Tatsache  selbst  steht 
fest.  Bei  der  entscheidenden  Zusammenkunft  in  Jerusalem,  auf 
welcher  die  drei  Säulenapostel  die  Heidenmission  des  Paulus 
ausdrücklich  anerkannten,  verpflichtete  sich  dieser,  der  jerusalemi- 
schen Armen  in  den  fernen  Ländern  zu  gedenken.  In  welchem 
Umfange  und  mit  w^elcher  Treue  der  Apostel  dieser  Verpflichtimg 
nachgekommen  ist,  das  zeigen  uns  die  Briefe  an  die  Galater, 
Corinther  und  Römer.  Seine  Stellung  ist  in  dieser  Angelegenheit 
keine  leichte  gewesen:  er  hatte  sich  für  seine  Person  zu  einer 
Kollekte  verpflichtet,  die  doch,  wenn  sie  Wert  haben  sollte,  die 

^)  Der  Bericht  der  Apostel gesch.  über  die  antioclienisclie  Spende  und 
die  Reise  des  Barnabas  und  Paulus  nach  Jerusalem  unterliegt  allerdings 
kritischen  Bedenken,  die  aber  nicht  unüberwindlich  sind,  s.  0 verbeck  z.  d. St. 


158  r)i^  Missionsi^redigt  in  Wort  und  Tat. 

freie  Opfcnvilligkeit  der  von  ihm  gestifteten  Gemeinden  zur 
A^oraussetzuiiG,'  hatte.  Er  war  gewiß,  auf  diese  rechnen  zu  dürfen, 
und  liat  sieh  nicht  getäuscht.  Seine  Sache  wurde  die  seiner  Ge- 
meinden, und  in  Gahitien,  Macedonien,  Achaja  sammelte  man  für 
die  fernen  jerusalemischen  Brüder.  Als  der  Apostel  es  erleben 
mußte,  daß  in  Corinth  eine  schwere  Krise  sein  ganzes  Werk  in 
Frage  stellte,  selbst  da  hat  er  neben  dem  Größeren  die  Kollekten- 
sache nicht  vergessen.  Die  Sammlung  war  dort  fast  schon  ins 
Stocken  geraten;  die  eindrhiglichen,  herzlichen  und  feinen  Worte, 
in  denen  er  die  Gemeinde  ermahnt,  belebten  wiederum  den  in  den 
Parteikämpfen  erkalteten  Eifer  ^.  „Die  aus  Macedonien  und 
Achaja",  kann  er  bald  darauf  den  Römern  schreiben,  „haben 
williglich  eine  gemeine  Steuer  zusammengelegt,  den  armen 
Heiligen  zu  Jerusalem.  Sie  haben  es  williglich  getan  und  sind 
auch  ihre  Schuldner.  Denn  so  die  Heiden  sind  ihrer  geistlichen 
Güter  teilhaftig  geworden,  ist  es  billig,  daß  sie  ihnen  auch  in 
leiblichen  Gütern  Dienst  beweisen-."  Eine  Liebespflicht  der 
Gemeinden  aus  den  Heiden  sieht  der  Apostel  in  dieser  Kollekte. 
Man  braucht  sich  aber  nur  die  Verhältnisse,  unter  denen  sie  ge- 
sammelt wurde,  zu  vergegenwärtigen,  um  zu  erkennen,  welche 
Bedeutung  zugleich  dieses  Liebeswerk  für  die  Geber  selbst  haben 
mußte.  Noch  bestand  keine  Lebensgemeinschaft  zwischen  den 
Christen  aus  den  Heiden  und  den  Christen  in  Judäa,  und  doch 
sollten  sich  jene  als  Brüder,  als  Glieder  einer  Gemeinde  mit 
diesen  geeint  wissen.  Nachfolger  der  Gemeinden  Gottes  in  Judäa 
sind  die  Gemeinden  in  Asien  und  Europa  ^,  und  doch  bestand 
keine  Gemeinschaft  des  Kultus,  des  Leidens,  der  Sitte  zwischen 
ihnen.  Jene  Spende  war  somit  der  einzig  sichtbare  Ausdruck 
der  brüderlichen  Einheit,  welche  sonst  nur  in  dem  gemeinsamen 
Glauben  festzustellen  war.  Darin  bestand  ihre  hohe  Bedeutmig. 
Einzig  in  dieser  Sorge  der  Heidenchristen  für  die  notleidenden 
Brüder  in  Jerusalem  tritt  eine  längere  Zeit  hindurch  das  Bewußt- 
sein um  eine  innerliche  Gemeinschaft  aller  Christen  auch  äußer- 
lich liervor.  Wie  lange  die  Unterstützungen  gedauert  haben, 
wissen  wir  nicht.  Die  großen  Katastrophen  in  Palästina  seit  der 
]\ritte  der  seeliziger  Jahre  sind  jedenfalls  aucli  für  die  Beziehungen 
der  Cliristen  ans  den  Heiden  zu  denen  in  Jerusalem  und  Pahistina 
verhängnisvoll  geworden*.  —  Vierzig  Jahre  später  brach  die 
Verfolffuna'szeit  über  die  Gemeinden  lierein.    Aber  eine  allgemeine 


')  11  Cor.  8.  9.  —  ■')  Rom.  15,  26  f.  —  =')  I  Thessal.  2.  14. 

■*)  ^Vie  Hehr.  G,  10  zu  deuten  ist,  ist  ungewiß.  —  Es  mag  hier  erwäluit 
sein,  daß  melir  als  dreihundert  .Jahre  später  Hieronymus  aus  jener  von  Paulus 
betriebenen  Kollekte  eine  l'flicht  aller  Christen  im  römischen  Reiche  dedu- 
ziert hat,    die    J\Iünchskolonieii    an   den   heiligen    Stätten    zu   Jerusalem    und 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung'.  |59 

Verfolgung  hat  bis  zur  ]\ritte  des  dritten  Jahrliunderts  nicht  statt- 
gefunden. Während  einige  Gemeinden  bedrängt,  ihrer  Güter 
beraubt^  und  in  ihrem  Bestände  gefährdet  wurden,  konnten  sich 
andere  des  Friedens  erfreuen.  Diesen  erwuchs  nun  die  Pflicht, 
den  Verfolgten  zu  Hilfe  zu  eilen.  Sie  haben  sich  dieser  Pflicht 
nicht  entzogen.  Justin  berichtet  uns-,  daß  die  in  der  Gemeinde 
gesammelten  Gelder  regelmäßig  auch  für  die  Pflege  der  Gefangenen 
verwendet  \\'urden,  und  Tortullian  bestätigt  und  erweitert  diese 
Angabe,  indem  er  sagt,  daß  die  in  den  Bergwerken  Schmachten- 
den, die  auf  wüste  Inseln  Verbannten  und  die  Gefangenen  unter- 
stützt würden^.  Beide  Zeugnisse  lassen  es  unklar,  ob  nur  Glieder 
der  heimischen  Gemeinde  zu  verstehen  sind:  aber  schon  an  sich 
ist  dies  nicht  wahrscheinlich,  und  ausdrückliche  Angaben,  sowie 
selbst  ein  heidnischer  Bericht .  stehen  dem  entgegen.  Dionysius 
von  Corinth  schreibt  um  das  Jahr  170  an  die  Römer:  „Ihr  habt 
von  Anfang  an  die  Gewohnheit  gehabt,  daß  ihr  allen  Brüdern 
die  mannigfachsten  Wohltaten  erwieset  und  vielen  Gemeinden 
in  den  verschiedenen  Städten  Unterstützungen  schicktet  und  auf 
diese  Weise  bald  die  Armut  der  Dürftigen  erleichtertet,  bald  den 
in  den  Bergwerken  befindlichen  Brüdern  den  nötigen  Unterhalt 
verschafftet.  Durch  diese  Gaben,  die  ihr  schon  von  Anfang  an  zu 
schicken  pfleget,  bleibt  ihr  als  Römer  einer  von  den  Vätern  er- 
erbten Sitte  der  Römer  treu.  Diesen  Brauch  hat  auch  euer 
würdiger  Bischof  Soter  nicht  nur  bewahrt,  sondern  sogar  noch 
gesteigert*."  Hundert  Jahre  später  kommt  der  Bischof  Dionysius 
von  Alexandrien  in  einem  Briefe  an  den  Bischof  Stephanus  von 
Rom  auf  die  Kirchen  in  Syrien  und  Arabien  zu  sprechen  und 
bemerkt  beiläufig:  „Dorthin  schickt  ihr  regelmäßig  Unterstützungen 
und  habt  erst  vor  kurzem  wieder  geschrieben^."  Basilius  der 
Große  erzählt,  daß  zur  Zeit  des  römischen  Bischofs  Dionysius 
(259—269)  die  römische  Kirche  Gelder  nach  Cappadocien  geschickt 
habe  zur  Auslösung  der  christlichen  Gefangenen  aus  den  Händen 
der  Barbaren.    IS^och  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  erinnerte 


Bethlehem  zu  unterstützen.  Tu  seiner  Schrift  gegen  Vigilantius,  der  gegen 
die  Verschleuderung  von  Geldmitteln  zum  Unterhalt  der  Mönche  in  Judäa 
aufgetreten  war,  entwickelt  er  geradezu  einen  Schriftbeweis  für  die  Verpflich- 
tung zu  jenen  Kollekten  aus  II  Cor.  8  usw.  (adv.  Vigilant.  13). 

^)  VeraiTuungen  christlicher  Gemeinden  durch  Gütereinziehung  seitens 
der  Obrigkeit  stellten  sich  schon  zur  Zeit  Domitians  ein,  s.  Hebr.  10,  34  (wenn 
dieser  Brief  in  diese  Zeit  gehört),  Euseb.,  h.  e.  111,  17. 

-)  A.  a.  0. 

*)  TertulL,  Apolog.  39:  „si  qui  in  metallis  et  si  c[ui  in  iusulis,  vel  in 
custodiis,  dumtaxat  ex  causa  dei  sectae,  alumni  confessionis  suae  fiunt." 

*)  Euseb.,  h.  e.  IV,  23, 10.  —  s)  Euseb.,  h.  e.  VII.  5,  2. 


160  Di^  Missioüsprecligt  in  Wort  und  Tat. 

man  sich  dessen  mit  Dank  in  Cappadocien  ^  Eusebius-  endlich 
bezeugt,  daß  die  römische  Gemeinde  auch  in  der  letzten  Ver- 
folgung (der  diocletianischen)  ihrer  Gewohnheit,  leidende  aus- 
wärtige Gemeinden  zu  unterstützen,  treu  geblieben  sei.  So  legen 
Corinth,  Syrien,  Arabien  und  Cappadocien,  Kirchen  des  Ostens, 
ein  Zeugnis  des  Ruhmes  ab  für  die  römische  Kirche,  und  wir 
verstehen  es  nach  den  Worten  des  Dionysius  von  Corinth,  wie 
Ignatius  die  Gemeinde  zu  Rom  die  TTQoy.a'drjjuevr]  jfjg  äydnrjg,  die 
procuratrix  caritatis,  nennen  konnte^.  Aber  auch  andere  Ge- 
meinden und  deren  Bischöfe  sind  nicht  zurückgeblieben.  Yon  der 
carthaginiensischen  Kirche  und  deren  Bischof  Cyprian  ist  uns 
Ahnliches  berichtet.  Aus  mehreren  Briefen,  die  kurz  vor  der 
Hinrichtmig  Cyprians  geschrieben  sind,  geht  hervor,  daß  er  an 
die  damals  in  ]^J^umidien  gefangen  gesetzten  Christen  Unterstützungen 
gesandt  hat*,  und  Ahnliches  von  seiner  Sorge  für  fremde  Christen 
und  auswärtige  Gemeinden  erfahren  wir  auch  sonst  noch  aus 
seiner  Korrespondenz.  Am  denkwüi-digsten  ist  in  dieser  Hinsicht 
sein  Brief  an  numidische  Bischöfe  vom  Jahre  253.  Diese  hatten 
ihm  gemeldet,  daß  wilde  Räuberhorden  in  das  Land  eingefallen 
seien  und  viele  Christen  beiderlei  Geschlechts  als  Gefangene  fort- 
geschleppt hätten.  Cj^prian  veranstaltete  sofort  eine  Kollekte  und 
übersandte  das  Ergebnis  derselben  den  Bischöfen  zugleich  mit 
einem  Schreiben-'.  Es  ist  die  ausführlichste  und  wertvollste  Ur- 
kunde, welche  wir  aus  den  drei  ersten  Jahrhunderten  in  bezug 
auf  Unterstützungen  einer  Gemeinde  durch  eine  andere  besitzen, 
und  mag  daher  hier  seine  Stelle  finden: 

„Cyprianus  entbietet  den  Brüdern  Januarius,  Maxi- 
mus. Proculus,  Victor,  Modianus.  Nemesianus,  l^ampu- 
lus  und  Honoratus  seinen  Gruß. 

Mit  größtem  Schmerze  der  Seele  und  unter  vielen  Tränen 
haben  wir  euer  Sehreiben,  geliebteste  Brüder,  gelesen,  welches  ihr 
in  Besorgnis  der  Liebe  in  bezug  auf  die  Gefangenschaft  unserer 
Brüder  und  Schwestern  an  uns  gerichtet  habt.  Denn  wer  emp- 
fände nicht  Schmerz  bei  solchen  Unglücksfällen,  oder  wer  macht 
nicht  den  Schmerz  des  Bruders  zu  seinem  eigenen,  da  der  Apostel 
Paulus  spricht:  „So  ein  Glied  leidet,  so  leiden  auch  die  anderen 
mit,  und  so  ein  Glied  sich  freut,  so  freuen  sich  die  anderen  mit", 
und  an  einer  anderen  Stelle :  „Wer  ist  schwach  und  ich  werde 
nicht  mit  schwach".  Daher  müssen  auch  wir  jetzt  die  Gefangen- 
schaft unserer  Brüder  als   unsere  Gefansrenschaft  betrachten   und 

';  Basilius,  ep.  (70)  ad  Damasum  papam.  —  -)  Euseb.,  h.  e.  IV,  23,  9. 
^)  Ignat.  ad   ßom.  proocm.     y.  Zahn   z.  d.  St.:    „In   caritatis    operibus 
semper  primum  locum  sibi  vindicavit  ecclesia  Romana." 
«)  Cypr.  epp.  70—79.  —  ^)  Cypr.  ep.  62. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  jQl 

den  Schmerz  der  Gefährdeten  für  unseren  Schmerz  lialten,  da 
wir  ja  in  unserer  Vereinigung  nur  einen  Leib  bilden  und  nicht 
nm-  die  Liebe,  sondern  auch  die  Pflicht  des  Ghiubens  uns 
antreiben  und  stärken  muß,  um  die  Glieder,  die  Brüder,  loszu- 
kaufen. 

Denn  da  der  Apostel  Paulus  abermals  spricht:  „Wisset  ihr 
nicht,  daß  ihr  ein  Tempel  Gottes  seid  und  der  heilige  Geist  in 
euch  wohnet",  so  muß  man,  wenn  auch  die  Liebe  nicht  stark 
genug  zur  Hilfleistung  für  die  Brüder  antriebe,  in  diesem  Falle 
bedenken,  daß  es  Tempel  Gottes  sind,  die  da  gefangen  sind. 
AVir  dürfen  es  nicht  lange  zögernd  und  des  Mitleids  vergessend 
ertragen,  daß  Gottes  Tempel  eine  lange  Zeit  gefangen  sind,  son- 
dern wir  müssen  mit  allen  Kräften  uns  anstrengen  und  schleunig 
es  bewerkstelligen,  die  Gnade  Christi,  unseres  Richters,  Herrn 
und  Gottes,  durch  unsere  Dienste  zu  verdienen.  Denn  da  der 
Apostel  Paulus  spricht:  „Soviele  eurer  in  Christo  getauft  sind, 
die  haben  Christum  angezogen",  so  müssen  wir  in  unseren  ge- 
fangenen Brüdern  Christum  erblicken  und  ihn  aus  der  Gefahr 
der  Gefangenschaft  erlösen,  der  uns  aus  der  Gefahr  des  Todes 
erlöst  hat.  Ihn  also,  der  uns  aus  dem  Rachen  des  Teufels  ge- 
zogen, der  uns  am  Kreuze  durch  sein  Blut  erkauft  hat,  der  jetzt 
selber  in  uns  bleibt  mid  wohnt,  ihn  müssen  wir  durch  eine 
Summe  Geldes  aus  den  Händen  der  Barbaren  auslösen.  .  .  . 
"NVie  sollte  auch  nicht  das  Gefühl  der  Menschlichkeit  und  das 
Bewußtsein  gegenseitiger  Liebe  jeden  Yater  bewegen,  in  den  dort 
Gefangenen  seine  Söhne  zu  erblicken,  und  jeden  Gemahl,  für  seine 
dort  im  Gefängnis  schmachtende  Gattin  den  Schmerz  und  die 
Liebe  des  ehelichen  Bundes  zu  empfinden  .  .  (es  folgt  eine  Aus- 
führung über  die  besonders  entsetzliche  Lage  der  geweihten  Jung- 
frauen) .  .  Dieses  alles  hat  auf  Grund  eueres  Briefes  unsere 
Gemeinde  in  Erwägung  gezogen  und  mit  Schmerz  durchgeprüft, 
und  daher  haben  alle  rasch  und  gerne  und  reichlich  Geldspenden 
für  die  Brüder  herbeigebracht.  Immer  sind  sie  gemäß  der 
Stärke  ihres  Glaubens  billig  zu  jedem  "Werke  Gottes;  dieses 
Mal  aber  hat  die  Betrachtung  eines  so  großen  Schmerzes  sie  in 
noch  höherem  Grade  zu  heilsamen  Werken  entflammt.  Denn 
wenn  der  Herr  in  seinem  Evangelium  sagt:  „Ich  bin  krank  ge- 
wesen, und  ihr  habt  mich  besucht",  wie  wird  er  erst  zu  weit 
größerer  Belohnung  unseres  Almosens  sagen:  „Ich  bin  gefangen 
gewesen,  und  ihr  habt  mich  losgekauft".  Und  da  er  abermals 
spricht:  „Ich  bin  gefangen  gewesen,  und  ihr  habt  mich  besucht", 
wie  viel  mehr  wird  es  dann  am  Gerichtstage  wert  sein,  an  dem 
wir  von  dem  Herrn  den  Lohn  erhalten  sollen,  wenn  er  sagt.  „Ich 
bin  im  Kerker    der  Gefangenschaft   gewesen,   und   gefesselt   und 

H ar na ok,  Mission.    2.  Aufl.  H 


162  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

gebunden  lag  ich  bei  den  Barbaren,  und  aus  jenem  Gefängnis 
der  Sklaverei  habt  ihr  mich  befreit".  Endlich  danken  wir  euch, 
daß  ihr  uns  an  euerem  Kummer  und  an  diesem  so  guten  luid 
notwendigen  Liebeswerke  Anteil  nehmen  ließet,  so  daß  ihr  uns 
fruchtbares  Ackerfeld  darbotet,  in  welches  wir  die  Samenkörner 
unserer  Hoffnung  ausstreuen  konnten  in  der  Erwartimg,  daß  wir 
die  herrlich  großen  Früchte,  welche  aus  diesem  himmlischen 
und  heilsamen  Werke  hervorgehen,  ernten  werden.  Wir  über- 
senden euch  aber  100000  Sestertien  (etwa  17  —  20  000  Mark), 
welche  hier  in  der  Kirche,  deren  Vorsitz  wir  durch  Gottes  Barm- 
herzigkeit füliren,  aus  den  Beiträgen  unseres  Klerus  und  Volkes 
gesammelt  worden  sind ;  ihr  möget  sie  dort  nach  euerem  gewissen- 
haften Ermessen  verteilen. 

Schließlich  wünschen  wir,  daß  sich  in  Zukunft  nichts  der- 
gleichen mehr  ereigne,  und  daß  unsere  Brüder,  durch  Gottes  Macht 
geschützt,  von  solchen  Gefahren  nicht  mehr  betroffen  werden  mögen. 
Sollte  sich  aber  doch  noch  zur  Prüfung  unseres  Glaubens  und 
unserer  Liebe  Ahnliches  wieder  ereignen,  so  zögert  nicht,  es  uns 
schriftlich  anzuzeigen.  Seid  versichert  und  wisset,  daß  unsere 
Kirche  und  die  ganze  Gemeinde  flehentlich  betet,  es  möge  nicht 
wieder  eintreten;  geschiehts  aber  doch,  daß  sie  gerne  und  reich- 
lich Beiträge  spenden  wird.  Damit  ihr  aber  unserer  Brüder 
und  Schwestern,  welche  zu  diesem  so  notwendigen  Liebeswerke 
bereitwillig  und  gerne  beigetragen  hab(m,  bei  eueren  Gebeten 
eingedenk  seid,  auf  daß  sie  immerfort  zum  Geben  bereit  seien, 
und  damit  ihr  ihnen  bei  eueren  Opfern  und  Gebeten  das  gute 
Werk  vergelten  könnt,  habe  ich  ihre  Namen  einzeln  beigefügt. 
Ich  habe  auch  die  Namen  unserer  Kollegen  (der  Bischöfe)  und 
der  Priester  beigeschrieben,  welche  unserem  Beispiele  folgend  bei 
ihrem  Pliersein  in  ihrem  und  ihrer  Gemeinde  Namen  nach  ihrem 
Vermögen  etliches  beigesteuert  haben;  auch  habe  ich  neben  der 
von  uns  gesandten  Hauptsumme  ihr  Sümmchen  ebenfalls  ange- 
geben und  mitgeschickt.  Es  ist  nun  euere  Pflicht,  dieser  aller 
in  eueren  Gebeten  und  Andachten  zu  gedenken,  wie  Glaube  und 
Ijicbe  es  ei'heischen. 

Wir  winischen  (uich,  teuerste  Brüder,  stets  Wohlergehen  in 
dem  Herrn.     (Jedenket  unser."  — 

Unverkennliar  ist  die  carthaginiensisch(!  Gemeinde  sich  be- 
wußt, etwas  Aul;!erordcntliclies  getan  zu  haben.  Aber  doch  ist 
das  P)cwußtsein,  hier  eine  Pflicht  der  Jjiebe  erfüllt  zu  hal)en, 
lebendig,  und  die  religiöse  Begründung  solcher  l'flicht  musterhaft. 
Auch  versteht  es  sicli  von  selbst,  daß  eine  so  liberale  Unter- 
stützung nicht  d(Mi  Ertrügen  d(^r  regelmäßigen  Gemeindekollekte 
entnommen  werden  konnte. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  1()3 

Wir  haben  aber  noch  ein  anderes  Beispiel  für  die  Sorge 
Cyprians,  eine  auswärtige  (xenieindc  betreffend.  In  jenem  oben 
(S.  152)  besprochenen  Fall  des  Lehrers  der  Schauspielkunst,  der 
von  seinem  Unterricht  abstehen  und,  wenn  er  sonst  keine  Mittel 
hat,  von  der  Gemeinde  erhalten  werden  soll,  schreibt  Cyprian 
(ep.  2),  der  Mann  möge  nach  Carthago  kommen  und  dort  von 
der  Gemeinde  Unterstützung  empfangen,  falls  seine  heimische 
Gemeinde  zu  arm  sei,  ihn  zu  ernähren^. 

Wie  rege  und  wirksam  aber  der  Anteil  auch  ferner  Gemein- 
den zur  Zeit  oder  im  Falle  einer  Verfolgung  gewesen  ist,  bezeugt 
Lucian,  in  den  Tagen  des  Kaisers  Marc  Aurel,  in  der  Spottschrift 
über  das  Lebensende  des  Peregrinus.  Der  Statthalter  von  Syrien 
hatte  diesen  von  Lucian  als  ruchlosen  Schwindler  geschilderten 
Mann,  nachdem  er  Christ  geworden,  einsetzen  lassen.  Lucian 
berichtet  nun,  wie  er  von  den  Christen  im  Gefängnisse  geehrt 
worden  sei.  Dann  fährt  er  fort  (c.  13):  „Ja  sogar  aus  einigen 
Städten  der  Provinz  Asia  kamen  Leute,  welche  die  Christen  im 
Namen  ihrer  Gemeinde  abgeschickt  hatten,  um  Beistand  zu  leisten, 
die  Verteidignng  zu  führen  und  den  Mann  zu  trösten.  Sie  ent- 
wickeln nämlich  eine  unglaubliche  Rührigkeit,  sobald  sich  etw^as 
dergleichen  ereignet,  was  ihre  gemeinschaftlichen  Interessen  be- 
rührt; nichts  ist  ihnen  alsdann  zu  teuer.  So  flössen  denn  auch 
damals  von  ihrer  Seite  dem  Peregrinus  nicht  unbeträchtliche  Geld- 
summen zu,  und  er  verschaffte  sich  daraus  keine  geringe  Ein- 
nahmequelle'-^.^' Es  muß  also  nichts  Seltenes  gewesen  sein,  wo- 
von Lucian  hier  berichtet.  Im  Namen  ihrer  Gemeinden  kamen 
von  fern  her  Brüder,  und  sie  brachten  nicht  nur  Unterstützungs- 
gelder für  die  Gefangenen,  sondern  sie  kamen  auch  zu  ihnen  in 
das  Gefängnis,  trösteten  sie  durch  ihre  Liebe,  ja,  versuchten  selbst 
im  Prozeßverfahren  ihnen  beizustehen.  Zu  diesen  Angaben  des 
heidnischen  Schriftstellers  bilden  die  sieben  Briefe  des  Ignatius 
gleichsam  einen  Kommentar.  In  ihnen  tritt  uns  die  lebendige  Teil- 
nahme der  kleinasiatischen  Kirchen  sowie  der  römischen  Gemeinde 
an  dem  Schicksale  eines  Bischofs,  den  sie  früher  nie  gesehen, 
sowie  die  Sorge  für  die  nun  verwaiste  antiochenische  Gemeinde 
lebhaft  entgegen.     Ignatius   befindet   sich    auf  dem  Transport  von 


^)  „Si  illic  ecclesia  non  sufficit  ut  laborantibus  praestet  alimenta,  poterit 
se  ad  nos  transferre  [seil,  nach  Carthago]  et  hie  quod  sibi  ad  victum  atque 
ad  vestitum  neeessarium  fuerit  accipere." 

-)  Erwähnt  mag  hier  sein,  daß  es  allgemeine  Kollekten  in  der 
ältesten  Kirche,  wie  die  Juden  in  der  Kaiserzeit  solche  hatten,  nicht  gegeben 
hat.  Die  Organisation  der  Kirchen  wäre  einem  solchen  Unternehmen  auch 
wenig  günstig  gewesen;  denn  es  fehlte  der  Mittelpunkt,  den  die  Juden  in 
Palästina  besaßen. 

11* 


1  64  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Antiocliieu  nach  Ixoui,  um  dort  mit  den  Tieren  zu  kämpfen.  In 
Antiochien  dauert  unterdes  die  Verfolgung  der  Christen  noch  fort. 
In  Smyrna  angehingt,  begrüßen  ihn  die  Abgesandten  der  Ge- 
meinden von  Eph(;sus,  Magnesia  und  Tralles.  Nach  mehrtägigem 
Yerkelir  mit  ihnen  übergibt  Ignatius  ihnen  Briefe  an  ihre  Ge- 
meinden, in  welchen  er  neben  anderem  den  kleinasiatischen 
Brüdern  seine  verlassene  Gemeinde  an  das  Herz  legt.  „Betet  für 
die  Kirche  in  Syrien",  schreibt  er  den  Ephesern.  „Gedenket  in 
eueren  Gebeten  der  Kirche  Syriens;  ich  bin  nicht  wert,  zu  ihr 
gerechnet  zu  werden,  da  ich  der  Geringste  unter  ihnen  bin",  heißt 
es  im  Briefe  an  die  Trailer.  In  dem  Briefe  an  die  Magnesier 
wiederholt  er  dieselbe  Bitte:  er  vergleicht  die  antiochenische 
Gemeinde  mit  einem  von  der  glühenden  Hitze  der  Verfolgung 
versengten  Felde,  das  nach  einem  erfrischenden  Tau  verlange; 
die  Liebe  der  Brüder  soll  es  erquicken^.  Aber  gleichzeitig 
wendet  er  sich  bereits  an  die  Römer.  Es  scheint  ein  Bruder  aus 
Ephesus  zu  sein,  der  bereit  ist,  den  Brief  an  sie  zu  überbringen. 
Ignatius  setzt  voraus,  daß  die  Römer  schon  vor  Eintreffen  des 
Briefes  von  seinem  Schicksal  unterrichtet  sind.  Was  er  befürchtet, 
ist,  sie  könnten  ihren  Einfluß  bei  Hofe  zu  seinen  Gunsten  geltend 
machen  oder  durch  eine  Appellation  an  den  Kaiser  ihn  des  er- 
sehnten Martyriums  berauben  wollen.  Der  ganze  Brief  ist  ge- 
schrieben, um  die  römische  Gemeinde  hiervon  abzuhalten'-.  Uns 
interessiert  hier  die  Tatsache,  daß  ein  fremder  Bischof  aus  fernem 
Land  das  Eintreten  der  römischen  Gemeinde  für  ihn  voraussetzt, 
sei  es  nun.  daß  er  dabei  an  eine  legale  Appellation  oder  an  die 
Wirksamkeit  besonderer  Konnexionen  der  römischen  Gemeinde 
gedacht  hat.  Wenige  Tage  später  befindet  sich  Ignatius  in  Troas, 
begleitet  von  dem  ephesinischen  Diakon  Burrhus  und  ausgerüstet 
mit  Lhiterstützungen  der  smyrnensischen  Gemeinde^.  Von  dort 
aus  schreibt  er  nach  Philadelphia  und  Smyrna  —  beide  Gemein- 
den hat  er  auf  seinen  Reisen  kennen  gelernt  —  sowie  an  den 
Bischof  der  Kirche  von  Smyrna,  Polycarp.  Boten  aus  Antiochien 
sind  in  Troas  zu  ihm  gekommen  und  haben  ihm  von  dem  Auf- 
Iniren  der  Verfolgung  berichtet.  Sie  haben  ihm  zugleich  er- 
zählt, daß  Gemeinden  aus  der  Nachbarschaft  Antiochions  bereits 
Bischöfe  oder  Presbyter  und  Diakonen  dorthin  gesandt  haben, 
um  die  Kirche  zu  be<>:lückwünsch(>n^.     In    der  Uberzeu<>un"'.    daß 


1)  Eph.  21,2;  Trall.  13,  1;  Magn.  14. 

^)  Auch  hier  vergißt  es  Ignatius  (c.  9)  nicht,  seine  antioclienische  Ge- 
meinde den  lernen  Römern  ans  Herz  zu  legen.  „Gedenket  in  eurem  Gebet 
der  Gemeinde  in  Syrien,  welche  statt  meiner  Gott  zum  Bischof  hat.  Jesus 
Christus  allein  wird  sie  (als  Bischof)  beschützen  und  euere  Liebe." 

=>)  Ad  Philad.  11,2;  ad  Smyrn.  12,  1.  —  ")  Philad.  10.  2. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  165 

das  Gebet  dev  kleinasiatischen  Gemeinden  die  antioehenische  Kirche 
A'on  der  Yert'olg-nng  befreit  hat,  fordert  Ignatius  diese  Gemeinden 
nun  auf,  ihrerseits  ebenfalls  Gesandte  nach  Antiochien  zu  schicken, 
um  sich  in  dem  Dank  für  die  Hilfe  Gottes  mit  der  dortigen  Ge- 
meinde zu  veremigen:  ,,Da  mir  gemeldet  worden  ist",  schreibt  er 
nach  Philadelphia.  ,,daß  gemäß  euerem  Gebete  und  der  Liebe, 
die  ihr  habt  in  Christus  Jesus,  die  Kirche  im  syrischen  Antiochien 
(wieder)  Frieden  habe,  so  geziemt  es  euch,  als  einer  Gemeinde 
Gottes,  einen  Diakonen  mit  einer  Gottesbotschaft  dorthin  ab- 
zudelegieren,  um  sich  in  der  Gemeinde- Versammlung  mit  ihnen 
zu  freuen  und  den  Xamen  zu  verherrlichen.  Selig  in  Jesu  Christo 
ist  der  Maim,  der  eines  solchen  Dienstes  gewürdigt  wird,  und  euch 
allen  wird  es  zum  Ruhme  gereichen.  Wenn  ihr  nur  wollt,  so  ist 
euch  für  den  Xamen  Gottes  nichts  unmöglich  ^.^'  Ähnliches 
schreibt  er  nach  Smyrna :  einen  Boten  mit  einem  Gemeinde- 
schreiben sollen  auch  sie  nach  Antiochien  abschicken-.  Der  un- 
erwartete schnelle  Aufbruch  von  Troas  verhinderte  ihn.  den  übrigen 
kleinasiatischen  Gemeinden  dieselbe  Bitte  vorzutragen.  Er  ersucht 
daher  den  Polycarp  durch  einen  eigenen  Brief,  in  welchem  er 
ihn  selbst  zur  schleunigen  Beaufti-agung  eines  Gesandten  ermahnt  ^, 
er  möge  in  seinem  IS^amen  den  übrigen  Gemeinden  schreiben, 
daß  auch  sie  sich,  sei  es  durch  Boten,  sei  es  durch  Briefe,  an 
der  Freude  der  Antiochener,  die  eine  allgemeine  sei,  beteiligen*. 
"Wenige  Wochen  später  hat  die  Gemeinde  zu  Philippi  an  Polycarp 
geschrieben:  sie  hat  ebenfalls  unterdes  den  Ignatius  persönlich 
kemien  gelernt,  und  sie  bittet  mm  den  Bischof  von  Smyrna,  auch 
ihre  Briefe  an  die  Gemeinde  zu  Antiochia  dorthin  gelangen  zu 
lassen,  wenn  er  einen  Boten  absende.  Polycarp  sagt  diese  Bitte 
zu:  ja  er  stellt  sogar  in  Aussicht,  daß  er  selbst  vielleicht  der 
Uljerbringer  sein  werde.  Die  Briefe  des  Ignatius.  soviele  ihm 
zugekommen,  schickte  er  ihnen  auf  ihren  Wunsch  anbei  mit,  und 
wünscht  sichere  ]S'achrichten  über  das  Geschick  des  Ignatius  und 
seiner  Genossen  von  den  Philippern  zu  bekommen-'. 

Dies  sind  in  Kürze  die  Verhältnisse,  welche  uns  aus  den 
sieben  Briefen  des  Ignatius  vmd  dem  Schreiben  des  Polycarp  an 
die  Philipper  entgegengetreten.  Welch  eine  Fülle  von  Beziehungen 
der  Gemeinden  untereinander,  welch  ein  Gemeinsinn  und  welche 
brüderliche  Sorge  I  Die  Unterstützungen  durch  Geldmittel  ti'eten 
hier  ganz  zurück  hinter  den  Bezeugungen  einer  persönlichen  Teil- 
nahme, durch  welche  ganze  Gemeinden  untereinander  und  wieder- 
um Bischöfe  und  Gemeinden  sich   gegenseitig   beistehen,    ti'östen 


1)  Philad.  10,  If.  —  -)  Smvrn.  11.  —  'i  Polyc.  7,2.  —  ^j  C.  8,  1. 
«)  Polyc.  ad  Philipp.  13. 


1  66  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

und   stärken,    mit    einander   Leid   tragen   und   sich   freuen.      Eine 
Welt  von  Teilnahme  und  Liebe  tritt  uns  hier  entgegen. 

Auch  sonst  ist  uns  bekannt,  daß  die  Gemeinden  nach  über- 
standener  Verfolgung  anderen  Gemeinden  einen  ausführlichen  Be- 
richt abstatteten.  Wir  besitzen  noch  größere  Schreiben  dieser 
Art.  den  Brief  der  Gemeinde  von  Smyrna  an  die  Gemeinde  zu 
Philomelium  und  an  alle  Kirchen  nach  der  Verfolgung  zur  Zeit 
des  Kaisers  Antoninus  Pius,  und  den  Brief  der  gallischen  Kirchen 
an  die  kleinasiatischen  und  phrygischen  nach  Ablauf  der  blutigen 
Verfolgung  unter  Marc  AureU.  Sehr  ausführlich  wird  in  beiden 
Schreiben  die  ganze  Verfolgung,  in  dem  ersteren  besonders  der 
Tod  des  Bischofs  Polycarp  geschildert:  das  glorreiche  Ende  des 
im  Orient  und  Occident  bekannten  Bischofs  sollte  der  ganzen 
Christenheit  kund  werden.  Die  Vorgänge  in  Gallien  beanspruchten 
in  besonderem  Maße  die  Teilnahme  der  kleinasiatischen  Brüder; 
denn  mindestens  zwei  der  ihrigen,  Attalus  aus  Pergamum  und 
ein  Phrygier,  Alexander,  hatten  in  der  Verfolgung  ruhmvoll  den 
Märtyrertod  erlitten.  Die  Gemeinden  benutzen  aber  zugleich  die 
Gelegenheit,  um  wertvolle  Erfahrungen,  die  sie  während  der  Ver- 
folgungszeit gemacht,  und  Grundsätze,  die  sie  erprobt,  den  Brüdern 
mitzuteilen.  So  spricht  sich  die  smyrnensische  Gemeinde  sehr 
entschieden  gegen  das  Selbstangeben  und  Aufsuchen  des  Marty- 
riums aus,  und  teilt  einen  hierauf  bezüglichen  traurigen  Fall  mit  '^. 
Die  gallischen  Gemeinden  warnen  ihrerseits  vor  allzu  strenger 
Behandlung  der  Gefallenen,  wenn  sie  Reue  zeigen,  und  wissen 
von  dem  barmherzigen  Sinn  ihrer  Konfessoren  zu  berichten^. 
Umgekehrt  ist  es  die  römische  Gemeinde,  welche  die  cartlia- 
giniensische  während  der  Verfolgung  unter  Decius  zur  Stand- 
haftigkeit  und  Ausdauer  ermahnt '•^^  und  später  ihre  Grundsätze 
über  die  Behandlung  der  Gefallenen  mit  der  carthaginiensischen 
austauscht'.  Ein  besonderer  Fall  lag  hier  vor.  Cyprian,  der 
Bischof  von  Carthaffo,  hatte  sicli  der  A^erfolffunff  durcli  die  Flucht 


^)  Der  letztere  ist  uns,  nicht  ganz  vollständig,  von  Eusebius  in  der 
Kirchengescbichte  (V,  1  f.)  aufbewahrt;  der  erstere  findet  sich  ebenfalls  ver- 
kürzt bei  Eusebius  (lY,  15),  außerdem  aber  noch  vollständig  in  besonderer 
Überlieferung  griechisch  und  lateinisch. 

■')  Mart.  Polyc.  c.  4.  —  »)  Bei  Euseb.,  h.  e.  V,  2. 

*)  Unter  den  Briefen  Cyprians  der  8.  (nach  Hartel). 

■')  S.  meine  Abhandlung  (in  der  Festschrift  für  Weizsäcker):  „Die 
Briefe  des  römischen  Klerus  aus  der  Zeit  der  Sedisvakanz  im  Jahr  250"  (1892). 
—  Interessant  ist  auch  eine  Notiz  des  Dionysius  von  Alexandrien  in  einem 
Briefe  an  Germanus,  welchen  uns  Eusebius  (h.  e.  VII,  11,  3)  aufbewahrt  hat. 
Dionysius  erzählt,  daß  bei  seinem  Verhör  vor  dem  Statthalter  Aemiliaiius 
(Valerianische  Verfolgung)  auch  „einer  von  den  aus  Rom  anwesenden  Brüdern 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistuii"-.  167 

entzogen,  leitete  aber  seine  Gemeinde  von  seinem  Versteck  aus; 
mit  gutem  Gewissen  durfte  er  sich  sagen,  er  müsse  sich  den 
Seinen  erhalten.  Den  Römern  waren  zunächst  die  näheren  Ver- 
hältnisse nicht  kund  geworden:  unverkennbar  beurteilten  sie  die 
Flucht  des  Bischofs  mit  Mißtrauen  und  hielten  es  eben  deshalb 
für  geboten,  an  die  Gemeinde  zu  schreiben  und  sie  zu  stärken. 
In  der  Tat  konnte  in  schlimmen  Zeiten  einer  Gemeinde  nichts 
Verhängnisvolleres  begegnen,  als  daß  sie  ihres  Klerus  oder  ihres 
Bischofs,  sei  es  durch  das  Martyrium,  sei  es  durch  pflichtwidriges 
Verhalten,  beraubt  wurde.  Tertullian  erzählt  uns  in  seiner  Schrift 
„über  die  Flucht  in  der  Verfolgung",  daß  unter  Berufung  auf 
Matth.  10,23:  „Wenn  sie  euch  aber  in  einer  Stadt  verfolgen, 
so  fliehet  in  eine  andere",  nicht  selten  Diakonen,  Presbyter  und 
Bischöfe  bei  Anbruch  einer  Verfolgung  geflohen  seien.  Die  Folge 
war,  daß  die  Gemeinde  sich  zerstreute  oder  den  Häretikern  zur 
Beute  fiel  ^.  Je  mehr  die  Gemeinde  in  Abhängigkeit  vom  Klerus 
geriet,  desto  erschütternder  für  sie  mußte  jeder  Verlust  desselben, 
ja  schon  jeder  Wechsel  sein.  Das  haben  auch  die  energischen 
Verfolger  der  Kirchen  im  dritten  Jahrhundert,  Maximin  L.  Decius, 
Valerian  und  Diocletian  wohl  erkannt.  Konnte  doch  selbst  ein 
Cy|3rian  von  seinem  Versteck  aus  seiner  Gemeinde  nicht  Herr 
werden  und  mußte  die  erschütterndsten  Krisen  dort  erleben!  Aber 
eben  deshalb  betätigte  sich  in  solchen  Fällen  die  Teilnahme  der 
Schwestergemeinden,  teils  durch  Trostschreiben  während  der  Not, 
wie  es  die  Römer  getan,  teils  durch  Gratulationsbriefe,  wenn  sie 
gehoben.  Eusebius  hat  uns  in  seiner  Kirchengeschichte  Regesten 
aus  der  umfangreichen  Korrespondenz  des  corinthischen  Bischofs 
Dionvsius  mitereteilt.  Hier  interessiert  uns  ein  Schreiben  an  die 
Gemeinde  zu  Athen.  Eusebius  berichtet:  „der  Brief  enthält  eine 
Aufmunterung  zum  Glauben  und  zu  einem  den  Vorschriften  des 
Evangeliimis  entsprechenden  Lebenswandel.  Dionysius  macht  den 
Athenern  den  Vorwurf,  daß  sie  denselben  vernachlässigt,  ja  beinahe 
vom  Glauben  abgefallen  seien,  seitdem  ihr  Bischof  Publius  in 
den  damaligen  Verfolgungen  den  Märtyrertod  gefunden.  Auch 
des  Quadratus  erwähnt  er,  der  nach  dem  Martyrium  des  Publius 
ihr  Bischof  geworden.  Er  bezeugt  nämlich,  daß  durch  dessen 
Bemühung  sich  die  Gemeinde  wieder  gesammelt  und  neuen  Eifer 
für  den  Glauben  bekommen  habe^."     Die  in  xA.ntiochien  zur  Zeit 


^)  De  fuga  11:  ^Sed  cum  ipsi  auctores,  id  est  ipsi  diacoui  et  presbyteri 
et  episcopi  fugiunt,  quomodo  laicus  intellegere  poterit,  qua  ratione  dictum: 
Fugite  de  civitate  in  civitatem?  (Tales)  dispersum  gi-egem  faciunt  et  in 
praedam  esse  omnibus  bestiis  agri,  dum  non  est  pastor  Ulis.  Quod  nuuquam 
magis  fit,  quam  cum  in  perseeutione  destituitur  ecclesia  a  clero.'' 

^)  Euseb..  h.  e.  IV,  28,  2  f. 


1 6S  Diß  MissioDspredigt  in  Wort  und  Tat. 

des  Septimius  Scvcrus  wütende  Yerfolgung  forderte  als  ihr  Opfer 
den  dortigen  Bischof  Serapion.  Dieser  Tod  muß  der  großen 
Gemeinde  schwere  Gefahr  gebracht  haben:  denn  als  der  Bischofs- 
sitz glücklich  wieder  besetzt  ist.  da  gratiüiert  ein  cappadocischcr 
Bischof  vom  Gefängnis  aus  in  einem  eigenen  Schreiben  der 
antiochenischen  Kirche:  „Erträglich  mid  leicht  hat  mir  der  Herr 
zur  Zeit  meiner  Gefangenschaft  meine  Fesseln  gemacht,  weil 
ich  erfahren,  daß  durch  die  göttliche  Vorsehung  der  durch  das 
Verdienst  seines  Glaubens  vollkommen  dazu  geeignete  Asclepiades 
das  bischöfliche  Amt  in  eurer  heiligen  Gemeinde  überkommen 
habei." 

In  dem  Bisherigen  haben  wir  zusammengestellt,  was  sich  in 
den  dürftigen  Resten  der  ältesten  kirchlichen  Literatur  über 
materielle  Unterstützungen  einer  Gemeinde  durch  andere  und 
über  die  gegenseitige  Hilfleistung  in  Verfolgungszeiten  findet. 
Sofern  die  Verfolgmigen  nicht  selten  auch  innere  Krisen  und  Ge- 
fahren für  die  Gemeinden  hervorriefen,  erstreckte  sich  die  Teil- 
nahme auch  auf  diese ,  und  hatte  Versuche  zur  Folge .  ihnen 
abzuhelfen.  Es  erübrigt  aber  noch,  diejenigen  Fälle  zu  berück- 
sichtigen, wo  weder  Armut  noch  Verfolgung,  sondern  lediglich 
innere  Mißstände  und  Gefahren  ein  Wort  der  Mahnung  oder  des 
Rates  seitens  einer  Schwestergemeinde,  resp.  ihres  Bischofs,  ver- 
anlaßt haben. 

Aus  der  frühesten  Zeit,  dem  Ende  des  ersten  Jahrhunderts, 
ist  uns  ein  Dokument  erhalten,  welches  vor  allem  einer  Betrachtung 
hier  Mäirdig  ist,  der  sogenaimte  erste  Brief  des  Clemens,  in  Wahr- 
heit ein  offizielles  Schreiben  der  römischen  Gemeinde  an  die 
corinthische  -.  Im  Schöße  dieser  Gemeinde  war  eine  Krisis  aus- 
gebrochen, welche  von  den  ernstesten  Folgen  begleitet  war.  Wir 
kennen  freilich  nur  die  Beurteilung  der  Krisis  seitens  der  ]\Iajorität 
in  der  Gemeinde.  Danach  hatten  sich  einige  ehrgeizige,  auf- 
geblasene Neuerer  wider  die  bestehenden  Autoritäten  aufgelehnt, 
und  hatten  einen  Teil  der  jüngeren  Glieder  der  Gemeinde  mit- 
verführt •^.  Jhr  Absehen  war  darauf  gerichtet,  die  Presbyter  und 
Diakonen  zu  entsetzen,  ja  die  wachsende  Autorität  des  Amtes 
ül)erhaupt  zu  vernichten^.  Ein  erbitterter  Kampf  war  die  Folge. 
Selbst  die  Frauen  mischten  sicli  hinein^:  Glaube,  Liebe  und 
brüderlicher  Siini  droliten  bereits  unterzugehen'';  das  Ärgernis 
wurde  in  der  Christenheit  bekannt,  ja,  scluni  war  Gefahr  vorhanden, 
daß   die  Zwistigkeiten    den  Heiden  ruchbar,  der  Name   Christi  so 


'j  Euseb.,  h.  e.  VI,  11,5.  —  -)  Vgl.  die  Inscriptio. 

=*;  S.  c.  1,  1.  3,  3.  39, 1.  47,  6.  usw.  —  *)  S.  c.  40  —  48. 

'')  Das  ist  nach  c.  1,3.  21,6  wahrscheinlk'h.  —  «)  S.  c.  1-3. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  [(39 

gelästert  und  die  Sicherheit  der  Gemeinde  bedroht  würde  ^  Da 
tritt  die  römische  Gemeinde  ein.  Sie  ist  nicht  von  Corintli  aus 
aufgefordert  worden,  sich  in  die  Angelegenheit  einzumischen;  nein, 
aus  freien  Stücken  ergreift  sie  das  Wort  2.  Aber  sie  führt  es  mit 
ebensoviel  herzlicher,  besorgter  Liebe,  wie  mit  Freimut  und  AVürde. 
Sie  fühlt  sich  von  Gewissens  wegen  zu  einer  ernsten  brüderlichen 
Mahnung  verpflichtet,  und  weiß,  daß  es  Gottes  Stimme  ist,  welche 
durch  sie  zum  Frieden  mahnt '^  freilich  auch  zugleich  die  erhabene 
Würde  der  kirchlichen  Amtsträger  durch  sie  einschärft*.  Dabei 
läßt  sie  es  doch  nie  aus  den  Augen,  daß  sie  den  Corinthern  nichts 
zu  befehlen,  sondern  nur.  was  recht  ist,  darzulegen  habe\  und 
sie  gibt  auch  immer  wieder  in  feiner  Weise  der  guten  Zuversicht 
Ausdruck,  daß  die  Gemeinde  den  Willen  Gottes  kenne  und  selbst 
sich  auf  das  Richtige  wieder  besimien  werde  ^,  wie  sie  auch  auf 
eine  Umkehr  der  Unruhestifter  noch  hofft".  Aber  sie  verlangt 
im  Xaraen  Gottes,  daß  dem  Ärgernisse  rasch  ein  Ende  gemacht 
werde.  Mit  der  Uberbringung  ihres  Schreibens  beauftragt  sie  die 
angesehensten  Männer  aus  ihrer  Mitte,  „sie  sollen  Zeugen  sein 
zwischen  euch  und  uns.  Dieses  aber  haben  wir  getan,  damit  ihr 
wisset,  daß  sich  unsere  ganze  Sorge  darauf  gerichtet  hat  und  noch 
richtet,  daß  ihr  in  Kürze  den  Frieden  wieder  herstellt*^.''  Der 
Brief  schließt  mit  den  Worten,  die  Corinther  sollten  die  Abge- 
sandten alsbald  in  Frieden  und  Freude  wieder  nacli  Rom  zurück- 
schicken, damit  sie  so  schnell  wie  möglich  von  der  wiederher- 
gestellten Einmütigkeit  erführen  und  sich  in  Bälde  freuen  könnten^. 
Diesem  ausfülirlichen.  energischen,  von  kirchlichem  Gemeinsinn 
und  brüderlicher  Liebe  durchleuchteten  Schreiben  ist  nichts  aus 
der  ältesten  Literatur  an  die  Seite  zu  stellen.  Aber  ähnliches 
ist  uns  nicht  selten  berichtet.  So  hat  die  Gemeinde  zu  Philippi 
übers  Meer  an  den  greisen  Polycarp  von  Smyrna  geschrieben 
imd  ihm  u.  a.  von  einem  traurigen  Falle,  der  sich  in  ihrer  Mitte 
ereignet  hat.  erzählt.  Einer  ihrer  Presbyter,  Yalens  mit  Xamen, 
war  der  Yeruntreuung  von  Gemeindegeldern  überfülirt  worden. 
In  dem  Antwortschreiben  des  Polycarp,  welches  wir  besitzen, 
geht  er  auf  diese  beti-übende  Nachricht  ein  ^°.  Er  mischt  sich 
nicht  in  die  Jmisdiktion  der  Gemeinde;  aber  er  gibt  ihr  Er- 
mahnungen und  Ratschläge.  Sie  selbst  sollen  sich  an  dem  Fall 
ein  Beispiel  nehmen,  die  Habsucht  zu  fliehen;  wenn  der  Presbyter 
und  sein  Weib  Reue  zeigen,  so  sollen  sie  sie  nicht  als  Feinde 
behandeln,    sondern  als  leidende  und  irrende  Glieder,    damit   der 


')  S.  c.  47,  7.  1, 1.  —  -)  S.  c.  1,  1.  47,6,  7.  —  3)  S.  c.  59, 1.  56,  1.  63,  2. 
*)  S.  c.  40f.  —  ^)  S.  besonders  c.  58,  2:  di^aoße  zip'  avußovlrjv  i]iicör. 
«)  S.  c.  40, 1.  45,  2  f.  .53. 1.  62,3.  —  ■)  S.  c.  54.  -  «)  S.'  c.  63,3. 
')  S.  c.  65,1.  —  1«)  Polyc.  ad  Philipp.  11. 


]  70  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

ganze  Leib  gerettet  werde.  Der  Bischof  läßt  durchblicken,  daß 
ihm  die  Behandhing  des  Falles  seitens  der  Gemeinde  nicht  durch- 
weg richtig  scheine':  er  ermahnt  sie  zur  Nüchternheit  gegenüber 
der  Leidenschaft  und  zur  Milde;  aber  er  tut  es,  indem  er  sich 
wolil  I)ewußt  ist,  wie  weit  er  einer  fremden  Gemeinde  gegenüber 
gehen  darf.  —  Der  Bischof  Tgnatius  von  Antiochien  benutzt  auf 
seinem  Transporte  durch  Kleinasien  die  Gelegenheit,  in  kurzen 
Schreiben  die  dortigen  Gemeinden  in  den  besonderen  Gefahren 
zu  stärken,  denen  sie  ausgesetzt  sind.  Er  warnt  sie  vor  den  Um- 
trieben der  Häretiker,  mahnt  zum  Gehorsam  gegen  den  Klerus, 
fordert  zur  klugen  Einmütigkeit  und  festem  Zusammenhalten  auf 
und  gibt  in  eingehender  Weise  besondere  Ratschläge  für  spezielle 
obw^altende  Verhältnisse.  —  Am  Anfange  des  2.  Jahrhunderts  will 
ein  römischer  Christ,  der  Bruder  des  Bischofs,  gegenüber  Laxheit 
und  Rigorismus  in  der  Gemeinde  in  scliweren  Krisen  den  Mittel- 
weg richtiger  Disziplin  und  Kirchenzucht,  den  er  gefunden,  an- 
geben. Sein  Absehen  ist  aber  nicht  nur  auf  die  römische  Ge- 
meinde gerichtet,  sondern  auf  die  ganze  Christenheit,  auf  die 
„auswärtigen  Städte",  und  er  wünscht,  daß  seine  Mahnungen, 
die  er  vom  heiligen  Geiste  durch  die  Kirche  selbst  empfangen 
haben  will,  dort  bekannt  würden  ^  —  Im  Zeitalter  Marc  Aureis 
ist  es  namentlich  der  Bischof  Diönysius  von  Corinth.  welcher, 
gewiß  auch  namens  seiner  Gemeinde,  in  einer  umfangreichen 
Korrespondenz  die  gefährdeten  Gemeinden,  auch  die  entferntesten, 
zu  stärken  sucht.  Zwei  seiner  Briefe,  den  an  die  Athener  und  den 
an  die  Römer,  haben  wir  schon  erwähnt.  Eusebius  teilt  uns  den 
Inhalt  einiger  ähnlicher  Schreiben  mit,  er  nennt  sie  „katholische" 
Briefe.  AVahrscheinlich  sollten  sie  in  den  Gemeinden  zirkulieren, 
wie  sie  denn  auch  frühzeitig  gesammelt  und  —  wie  bereits  der 
Biscliof  selbst  entrüstet  bemerken  muß  —  verfälscht  worden  sind. 
Ein  l'n'ief  an  die  Gemeinde  zu  Lacedämon  enthielt  eine  Darlegung 
der  rechten  Lehre,  sowie  eine  Aufforderung  zu  Frieden  und 
Einigkeit,  fn  dein  Briefe  an  die  Gemeinde  zu  Nicomedien  in 
Bithynien  b((kämpft  er  die  Häresie  des  Marcion.  „Ferner  schrieb 
er  an  die  Gemeind((  zu  Gortyna  sowie  an  die  übrigen  Gemeinden 
auf  ih-otix  einen  ]3rief,  worin  er  deren  Bischof  Philippus  rühmt, 
weil  seiner  (Tomeindc!  das  Zeugnis  sehr  großer  Frömmigkeit  und 
Stand liaftigkoit  erteilt  w(n-de,  und  sie  ermahnt,  vor  Verführung 
der  lläietiker  sich  zu  bewahren.  Auch  sciirieb  er  an  die  (xemeinde 
zu  Aiuastris  und  zugleich  an  die  übrigen  Gemeinden  im  Pontus. 
Jliei-  fügt  er  Erkläi'ungen  von  Stellen  aus  der  heiligen  Schrift  an. 
Ihren  Biischof  nennt  er  J'almas.    Er  gibt  ihnen  viele  Ermahnungen 

')  Hemi.,  Vis.  11,4. 


Das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  |71 

Über  die  Ehe  und  über  die  Jung-fräulichkeit  und  fordert  sie  auf, 
alle,  welche  von  irgend  einem  Falle  oder  von  einer  Yergehuug 
oder  von  einem  häretischen  Irrtume  zurückkehren,  gnädig  wieder 
aufzunehmen.  In  seiner  Sammlung  befindet  sich  auch  ein  anderer 
Brief  an  die  Cnosier  (auf  Greta),  worin  er  den  Bischof  dieser 
Gemeinde,  Pinytus,  ermahnt,  er  möchte  den  Brüdern  in  betreff 
der  Enthaltsamkeit  keine  zu  große  Last  mit  Gewalt  auflegen, 
sondern  die  Schwachheit  der  Mehrzahl  berücksichtigen^."  So 
mannigfach  ist  der  Inhalt  der  Briefe.  t"ber  alle  Fragen,  die 
damals  die  Gemeinden  bewegten,  scheint  sich  Dionysius  ausge- 
sprochen zu  haben,  und  keine  Kirche  war  ihm  zu  fern,  um  ihr 
nicht  seine  Teilnahme  an  ihren  inneren  Geschicken  zu  beweisen. 
Eine  bedeutende  Veränderung  dieser  Yerhältnisse  trat  seit 
dem  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  ein,  als  das  Institut  der 
Synoden  sich  einbürgerte.  Der  freie  und  zwanglose  Austausch 
der  Gemeinden  und  ihrer  Bischöfe  wich  einem  geregelten  Yerkehr, 
Schon  die  montanistischen  Streitigkeiten  und  die  um  den  richtigen 
Ostertermin  unterlagen  einer  neuen  Art  der  Behandlung.  In  weit 
höherem  Grade  noch  ist  dies  bei  den  späteren,  den  großen  christo- 
logischen  und  novatianischen  Kämpfen  der  Fall.  Zwar  hören 
wir  noch  fortgehends  von  Fällen  besonderer  Sorge  einzelner  Ge- 
meinden oder  deren  Bischöfe  für  andere  entfernte  Kirchen,  und 
die  freie  Teilnahme  am  Wohl  und  Wehe  einer  Schwestergemeinde 
ist  nicht  erloschen;  aber  sie  tritt  doch  mehr  und  mehr  zurück 
hinter  die  Sorge  für  den  Zustand  der  Gesamtkirche  angesichts 
einzelner  bestimmter  Bewegungen  und  hinter  die  Pflege  der 
provinzialen  Gemeinden  ^.  Man  nahm  ein  Interesse  daran,  wie  sich 
die  Gemeinden  im  Reiche  resp.  deren  Bischöfe  zu  einschneiden- 
den Fragen  verhielten,  und  ließ  sich  hier  die  Eimnütigkeit  an- 
gelegen sein,  sonst  aber  begannen  die  kirchlichen  Provinzen  sich 
in  sich  selber  abzuschließen.  Aber  doch  kommen  noch  im  dritten 
Jahrhundert  neue  Formen  zur  Unterstützung  oder  Stärkung  der 
einen  Gemeinde  durch  eine  andere  auf.  Hierher  gehört  es,  wenn 
wir  erfahren,  daß  gefeierte  Lehrer  zu  Vorträgen  in  eine  andere 
Gemeinde  berufen  wurden,  oder  daß  man  sie  sich  erbittet,  um  in 
ausgebrochenen  Streitigkeiten  ein  Gutachten  abzugeben,  die  Par- 
teien zu  belehren  und  ein  Urteil  zu  fällen.  Das  Leben  des  großen 
Theologen  Origenes  bietet  z.  B.  hierfüi-  Belege^.  Auch  im  vierten 
und  fünften   Jahrhundert    haben   die   materiellen   Unterstützungen 


')  Euseb.,  h.  e.  IV.  23. 

-)  Belege  hierfür  bietet   z.  B.  die  Korrespoudenz  des   Cypriau   und  des 
Dionysius  von  Alexandrien. 

')  S.  Euseb.,  li.  e.  VI,  19. 15.  VL  33.  2.  VI.  37.  VI,  32.  2. 


172  Die  Missiousprodigt  iu  Wort  und  Tat. 

armer  Gemeiden  von  auswärts  nicht  aufgehört.  Ein  besonders 
leuchtendes  Beispiel  hat  Socrates  in  seiner  Kirchengeschichte 
aufgezeichnet  ^. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft,  des  sittlichen  Ernstes 
und  der  Heiligkeit-. 

Die  christliche  Religion  stellte  sich  in  ihrer  Missionswirksam- 
keit nicht  nur  als  das  Evangelium  der  Erlösung  und  der  helfenden 
Liebe  dar,  sondern  auch  als  die  Religion  des  Geistes  und  der 
Kraft.  Allerdings,  als  Geist  und  Kraft  bewährte  sie  sich  eben 
dadurch,  daß  sie  Erl()sung  imd  Hilfe  brachte,  daß  sie  von  den 
Dämonen  befreite^  und  von  der  Not  des  Lebens.  Allein  da^  '^ 
Zeugnis  des  Geistes  reichte  weiter.  Wenn  Paulus  (I  Cor.  2,  6) 
schreibt:  „Ich  kam  zu  euch  mit  Schwachheit  und  mit  Furcht 
und  mit  großem  Zittern,  und  mein  Wort  und  meine  Predigt  waren 
nicht  in  beredenden  Worten  der  Weisheit,  sondern  in  Beweisimg 
des  Geistes  und  der  Kraft",  so  denkt  er  wohl  auch  an  den  Kampf 
mit  den  Dämonen  und  an  ihre  sinnenfällige  Besiegung,  aber  keines- 
wegs nur  an  sie.  An  alle  die  Wunderwirkungen  denkt  er,  welche 
die  Wirksamkeit  der  Apostel  und  die  Begründung  der  Gemeinde 
begleiteten.  Sie  waren  nicht  an  seine  Person  allein  gebunden. 
'Yon  überall  her  kamen  die  Nachrichten,  daß  sie  auch  anderen 
Missionaren  gegeben  waren.  Als  man  gegen  Ende  des  l.  Jahr- 
hunderts auf  die  Begründungszeit  zurückschaute,  da  faßte  man 
das  Geschehene  in  die  Worte  zusammen  (Hebr.  2,  3) :  „Das  Heil 
nahm  seinen  Anfang  der  A^erkündigung  durch  den  Herrn  und 
wurde  uns  von  seinen  Hörern  zuverlässig  mitgeteilt,  indem  Gott 
mit  Zeuge  war  durch  Zeichen  und  Wunder  und  mancherlei  Kräfte 
und  Verteilung  des  heiligen  Geistes." 

Schon  die  ^Mannigfaltigkeit  der  Ausdrücke  "^  zeigt,  daß  es  viele 
Erscheinungen  sind,  die  hier  hervortraten.  Yersuchen  wir  es.  die 
wichtiffsten  herauszuhelfen: 


')  Socrat.,  b.  e.  VII,  25. 

-)  -Mau  muß  sich  bei  der  Darstellung  dieser  Seite  der  christliehen  Reli- 
gion entweder  ganz  kurz  fassen  oder  ausführlich  werden.  Eine  sehr  gründ- 
liche Darstellung  ist  von  Weinel  in  dem  oben  (S.  108)  genannten  Buche 
gegeben  worden.    Ich  bescliränke  mich  darauf,  die  Hauptpunkte  anzutuliren. 

')  S.  oben  8.  108  ff. 

*)  Vgl.  .Justin,  Dial.  o9:  i/  oniCö/m'oi  diä  tov  ovoftmog  tov  Xqiotov  tovtov 
6  fifv  yao  '/.(lußävti  avveofdjg  :ivErfia,  6  fif  ßor<Xfjg ,  6  Sk  i'oyvog,  6  ()!■:  iäne<oc ,  6 
(ik  Trqoyvionfiog,  ä  1)1:  ()if)<Kox<ülac,   o   <Ve   (fußov   deov. 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  173 

(1)  Grott  spricht  in  der  Vision,  im  Traum,  in  der  Ekstase  zu 
den  Missionaren  und  zeigt  ihnen  das  Größte  und  das  Kleinste, 
leitet  ihre  Absichten,  weist  ihnen  die  Straße,  auf  der  sie  wandern, 
und  die  Stadt,  in  der  sie  einkehren  sollen;  er  macht  ihnen  die 
Personen  kenntlich,  die  sie  aufzusuchen  haben.  Visionen  brechen 
namentlich  nach  Martyrien  hervor;  der  verstorbene  Märtyrer  er- 
scheint seinen  Bekannten  in  den  nächsten  AVochen  nach  seinem 
Tode;  so  erscheint  die  Potamiäna  [Euseb..  h.  e.  VI,  5],  so  Cyprian 
und  viele  andere.  Durch  Träume  sollen  Arnobius  (Hieron.,  Chron. 
z.  J.  326)  und  andere  zum  Christentimi  gekommen  sein.  Die 
beiden  großen  Bischöfe  in  der  Mitte  des  3.  Jahrhimderts,  Cyprian 
und  Dionysius,  sind  noch  Visionäre  gewesen  ^.  Monica,  die  Mutter 
Augustins,  die,  wie  manche  christliche  Witwen,  häufig  Visionen 
hatte,  erklärte,  sie  könne  an  einem  gewissen  Geschmack  im  3Iunde 
erkennen,  ob  das  Geschaute  wirkliche  Offenbarung  oder  Traum- 
einbildung sei  (Augustin,  Confess.  VI,  13,  23:  „dicebat  discernere 
se  nescio  quo  sapore,  quem  verbis  explicare  non  poterat,  quid 
interesset  inter  revelantem  te  et  animam  suam  somniantem").  Sie 
wird  nicht  die  erste  gewesen  sein,   die  so  unterschied. 

(2)  Bei  der  Missionspredigt  der  Apostel  mid  Evangelisten 
oder  in  den  Gottesdiensten  der  gegründeten  Gemeinden  zeigen 
sich  plötzlich  eintretende  und  viele  zugleich  ergreifende  Er- 
weckungen, bald  als  Erschütterungen  des  ganzen  Seelenlebens 
voll  Fm'cht  und  Schrecken,  bald  als  jubelnde  Ausbrüche  emer 
Freude,  die  den  Himmel  offen  sieht.  Aber  auch  die  einfache 
Frage:  ,,Was  muß  ich  tun,  daß  ich  selig  werde?*'  bricht  mit 
elementarer  Gewalt  hervor. 

(3)  Einzelne  werden  erweckt,  die  das  Erlebte  in  Worte  zu 
fassen  vermögen  —  Propheten,  welche  die  Vergangenheit  erklären, 
das  Gegenwärtige  deuten  und  vertiefen,  das  Zukünftige  weissagen-. 
Die  Weissagungen  beziehen  sich  auf  den  großen  Gang  der  Ge- 
schichte, aber  auch  auf  das  Geschick  einzelner  und  auf  das.  was 
sie  tim  und  lassen  sollen. 

(4)  Brüder  werden  begeistert  und  zu  Gebeten.  Hymnen, 
Psalmen,  die  sie  extemporieren,  angeregt. 


^)  S.  meine  Abhandlung  über  „Cyprian  als  Enthusiast"  in  der  Ztschr. 
f.  NTliche  Wissenschaft  Bd.  3,  1902,  S.  177  ff. 

-)  Zu  diesen  Weissagungen  gehören  nicht  die  christlichen  sibyllinischen 
Orakel.  Die  jüdischen  sind  von  den  Christen  gutgläubig  aufgenommen  worden 
und  wurden  (seit  dem  Hirten  des  Hermas)  wie  Prophetensprüche  von  ihnen 
zitiert ;  die  christliche  Sibyllenfabrikation  hat  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
erst  seit  der  Mitte  des  o.  Jahrhunderts  begonnen  und  ist  eine  künstliche 
Nachblüte  des  urchristlichen  Enthusiasmus,  sie  ist  eine  Kette  von  Fälschungen, 
s.  meine  Chronologe  I  S.  581  ff.  II  S.  184  ff. 


174  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

(5)  Andere  werden  von  dem  Geiste  so  erfüllt,  daß  sie  das 
Bewußtsein  verlieren  und  in  ein  stammelndes  Sprechen  oder 
Schreien  ausbrechen,  das  unverständlich  ist.  aber  von  Begabten 
gedeutet  werden  kann. 

(6)  Wieder  andern  drückt  der  Geist  die  Feder  in  die  Hand, 
sei  es  in  der  Ekstase,  sei  es  in  Momenten  höchster  seelischer 
Anspannung;  sie  reden  nicht  nur,  was  sie  müssen,  sondern  sie 
schreiben  auch,  Avas  sie  müssen. 

(7)  Kranke  werden  gebracht  imd  von  den  Missionaren  oder  von 
jüngst  erweckten  Brüdern  geheilt :  wilde  Ausbrüche  der  Gottes- 
angst werden  besänftigt  und  Teufel   in  Jesu  Namen  ausgetrieben. 

(S)  Zu  wunderbaren  Handlungen  der  verschiedensten  Art 
treibt  der  Geist  —  zu  symbolischen  Handlungen,  die  etwas  Ge- 
heimnisvolles offenbaren  oder  AuM^eisungen  geljen  sollen,  uiul  zu 
heroischen  Handlungen. 

(9)  Mit  allen  Sinnen  nehmen  einige  die  Gegenwart  des  Gei- 
stes wahr;  sie  sehen  seinen  Lichtglanz,  sie  hören  seine  Stimme, 
sie  riechen  den  Duft  der  Unsterblichkeit  und  schmecken  seine 
Süße,  noch  mehr:  sie  sehen  himmliche  Personen  mit  ihren  Augen; 
sie  sehen  die  Seele ;  sie  sehen  und  hören  zugleich ;  sie  sehen  in 
das  Verborgene,  in  das  Ferne,  in  das  Zukünftige ;  sie  selbst  werden 
entrückt  in  die  jenseitige  Welt,  in  den  Himmel:  sie  hören  dort 
„unaussprechliche  Worte ^ ". 

(10)  Aber  der  Geist  tut  sich  nicht  nur  durch  solche  Wunder 
kund,  sondern  nicht  minder  durch  die  Steigerung  der  religiösen 
und  sittlichen  Kräfte,  die  so  rein  und  so  stark  in  einigen  wirk- 
sam sind,  daß  sie  den  Stempel  göttlichen  Ursprungs  sinnenfällig 
an  sich  tragen:  ein  heroischer  Glaube,  ein  Gottvertrauen  zeigt 
sich,  das  Berge  versetzt  und  ül)er  den  Glauben  weit  hinausragt, 
den  jeder  Christ  im  Herzen  trägt;  hilfreiche  Liebesdienste  werden 
geleistet,  die  mehr  erschrecken  und  mehr  erschüttern  als  alle 
Wunder;  umsichtige  Leitung  und  Fürsorge  wird  lebendig,  die  so 
sicher  wirkt  wie  die  göttliche  Vorsehung.  Diese  Charismen,  neben 
denen  des  Apostels,  des  Propheten  und  des  Lehrers  erweckt,  er- 
bauen die  Gemeinden  grundlegend  und  erwciseii  sie  als  „Kirchen 
Gottes". 

Für  alle  diese  hier  aufgewiesenen  Züge  findet  man  auf  den 
Blättern  der  (diristlicheii  ijiteratur   von    der  ältesten  Aufzeichnung 


')  Aber  vf^l.  Origenes,  Ilona.  XXVII,  11  in  Num.  (t.  10  p.  353):  ,Solet  in 
visionibus  esse  tentatio;  nam  noniiunquam  angelns  iniquitatis  transtigurat  se 
in  angelum  Incis,  et  ideo  cavendum  est  et  sollicite  agenduni,  nt  scienter 
discernas  visionnm  geuus,  sieut  et  lesus  Nave,  cum  visionem  viderit,  sciens 
in  hoc  esse  tentationeni,  statim  requirit  ab  eo  qui  apjiaruit  et  dieit:  Noster 
es  an  adversariorumV"     S.  auch  das  Folgende. 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  175 

bis  zu  Ircnäus  (und  auch  weiter  noch)  die  zahlreichsten  Belege; 
die  Apologeten  verweisen  auf  sie  als  auf  etwas  Bekanntes  und 
Anerkanntes.  Daß  sie  für  die  ^NFission  und  Propaganda  der  christ- 
lichen Religion  von  höchster  Bedeutung  waren,  liegt  auf  der  Hand. 
Wohl  liatten  auch  andere  Religionen  und  Kulte  einiges  von  diesen 
Geistwirkungen  aufzuweisen,  die  Ekstase,  die  Vision,  die  dämo- 
nischen und  anti- dämonischen  Manifestationen,  allein  für  keine 
von  ihnen  ist  ims  eine  solche  Fülle  von  Erscheinungen  überliefert 
wie  hier,  und  vor  allem :  daß  ihre  Scala  die  Mirabilia  des  sittlichen 
Heroismus  umfaßte,  verlieh  ihnen  ein  einzigartiges  Gepräge  und 
gab  ihnen  eine  durchschlagende  Bedeutung.  Was  anderswo  in 
einigen  stereotypen  Erscheinungen  stückweise  vorhanden  war, 
zeigte  sich  hier  in  einer  Fülle  der  Manifestationen,  in  der  jede 
geistige ,  seelische  und  sittliche  Funktion  über  sich  selbst  hinaus 
gesteigert  erschien  ^. 

Der  Komplex  dieser  Vorgänge  —  gefährlich,  weil  die  Ver- 
suclumg,  sie  künstlich  zu  steigern  oder  leichtgläubig  zu  vermehren^ 
oder  in  Täuschung  nachzuahmen  oder  eigennützig  auszubeuten,  so 


')  Daß  diese  Beweise  ..des  Geistes  und  der  Kraft"  nicht  durchweg?  der 
Propaganda  günstig  waren,  darf  nicht  verschwiegen  werden.  Celsus  beurteilt 
sie  als  Gaukeleien,  Zauberwerk  und  groben  Unfug.  Mit  ihm  werden  auch 
andere  nüchterne  Heiden  so  geurteilt  haben.  Ganz  sicher  waren  sie  freilich 
ihrer  Sache  gewiß  so  wenig  wie  Celsus.  Daß  die  Glossolalie,  statt  die  christ- 
liche Religion  zu  empfehlen,  sie  umgekehrt  bei  den  Heiden  zu  diskreditieren 
vermag,  hat  schon  Paulus  bemerkt  (I  Cor.  14,  23:  eäv  ovre/.d>i  >)  }y.y.h]oia  öh] 
ijTi  tÖ  avTO  y.al  Tiuvzeg  ?.u/.o)r,tv  y/.wnoaig ,  eioF^.dcooir  Öf  tÖKOTUi  >}  ü.TtOTOt ,  ovy. 
ioovGiv  Ott  (laivec'de;). 

■-)  Der  Wunderglaube  war  in  jenem  Zeitalter  überhaupt  groß,  wie  alle 
Quellen  beweisen,  aber  er  scheint  doch  in  christlichen  Kreisen  besonders 
stark  und  grenzenlos  gewesen  zu  sein  und  l)lendete  mehr  und  mehr  das  Auge 
für  das  Wii-kliche.  Mau  vergleiche  z.  B.  die  apokryphen  Aijostelgeschichten; 
diese  Literaturgattung  gehört  in  ihren  maßgebenden  Anfängen  bereits  dem 
2.  .Jahrhundert  an.  Zu  beachten  ist  auch,  daß  uralte  volkstümliche  Wunder- 
erzählungen, die  umliefen,  nun  eine  christliche  Etikette  erhielten  und  irgend- 
einem christlichen  Apostel  oder  Heros  oder  Frommen  beigelegt  wurden.  Als 
Beispiel  nehme  man  die  bekannten  Erzählungen  von  Leichna.men,  die  sich 
bewegten,  wie  wenn  noch  Gefühl  und  Verstand  in  ihnen  sei.  TertuUian  (de 
auima  51)  berichtet  folgendes:  „Mir  ist  der  Fall  bekannt,  daß  eine  Frau, 
als  Glied  der  Kirche  geboren,  ohne  Gebrechen  an  Form  und  Lebensalter,  nach 
einer  einzigen  und  kurzen  Ehe  in  Frieden  entschlafen  war.  Die  Beerdigung 
verzögerte  sich  noch,  und  die  Person  wurde  unter  den  Gebeten  des  Priesters 
unterdessen  für  die  Bestattung  zurechtgelegt.  Beim  ersten  Tone  des  Gebets 
hob  sie  ihre  Hände  von  den  Seiten  auf,  nahm  die  Haltung  des  Gebets  an 
und  legte  sie  nach  Beendigung  des  Friedensgebets  wiederum  in  ihre  frühere 
Lage  zurück.  Auch  lebt  im  Munde  der  Unsrigen  die  Erzählung,  daß  auf 
dem  Kii'chhofe  ein  Leichnam  einem  anderen,  der  daneben  gelegt  werden 
sollte,  durch  Zurückweichen  Platz  gemacht  habe"  (dies  wird  auch  von  der 
Beerdigung  des  Bischofs  Reticius  von  Autun  am  Anfang  des  4.  Jahrhunderts 
erzählt). 


1  7f)  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

gi'oß  war^  —  trat  am  Anfang,  d.  h.  in  den  ersten  sechzig  Jaliren, 
am  stärksten  hervor:  aber  er  hat  noch  das  ganze  zweite  Jahr- 
hundert hindurch,  wenn  auch  abgeschwächt,  fortgedauert 2.  Irenäus 
bestätigt  uns  das'';  die  montanistische  Bewegung  hat  den  „Geist", 
als  er  zurück/.utreten  anfing,  noch  einmal  belebt.  Aber  seit  dem 
Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  erlahmt  ein  Teil  dieser  Erschei- 
nungen: sie  sind  nun  nicht  mehr  die  Signatur  der  Gesamtkirche 
und  jeder  einzelnen  Gemeinde,  sondern  sie  sind  die  Ausstattungen 


')  3Ian  v>>:l.  den  gegen  manche  Exorzisten  ausgesprocheneu  Tadel,  ferner 
wie  Irenäus  den  christlichen  Schwindler  Marcus  im  ersten  Buch  seines  großen 
Werkes  geschildert  hat.  iSTach  Luciau  wurde  der  Schwindler  Peregriuus,  als 
er  bei  den  Christen  eintrat,  „Prophet"^  und  verschaffte  sich  als  solcher  An- 
sehen und  Gewinn.  Schon  die  „ Apostellehre "  sucht  die  Gemeinden  vor 
solchen  zu  schützen,  die  mit  ihren  geistlichen  Gaben  schwindeln.  Selbst 
christliche  Bänkelsänger  fehlten  nicht;  s.  den  pseudoclementinischen  Brief 
de  virginitate  II,  6:  „Nee  proicimus  sanctum  canibus  nee  margaritas  ante 
porcos,  sed  dei  laudes  celebramus  cum  omuimoda  discipliua  et  cum  omni 
prudentia  et  cum  omni  timore  dei  atque  animi  intentione.  cultum  saerum 
non  exercemus  ibi,  ubi  iuebriantur  gentiles  et  verbis  impuris  in  conviviis 
suis  blasphemant  in  impietate  sua.  propterea  non  psallimus  gentilibus  neque 
scripturas  illis  praelegimus,  ut  ne  tibiciuibus  aut  cantoribus  aut  hariolis 
similes  simus,  sicut  multi,  qui  ita  agunt  et  haec  faciunt,  ut  buccella  pauis 
saturent  sese,  et  propter  modicum  vini  eunt  et  cantant  cautica  domini  in 
terra  aliena  geutilium  ac  faciunt  quod  non  licet."  S.  auch  schon  I,  13:  Gott 
möge  operarios  schicken,  die  nicht  sind  „operarii  mercenarii,  qui  religionem 
et  pietatem  pro  mercibus  liabeaut,  qui  simulent  lucis  filios,  cum  non  sint 
lux,  sed  teuebrae,  qui  operentur  fraudem,  qui  Christum  in  negotio  et  quaestu 
habeant." 

-I  Daß  sich  die  verschiedenen  christlichen  Parteien  im  2.  Jahrhundert 
gegenseitig  den  Geist  imd  die  Kraft  aljsprachen  und  sie  bei  dem  Gegner  für 
Teufelswerk  und  Lüge  erklärten ,  mußte  notwendig  zur  allgemeinen  Dis- 
kreditierung führen. 

*j  Er  behauptet  sogar,  wie  bemerkt,  daß  auch  jetzt  noch  Totenerweckuugen 
in  der  Kirche  vorkommen  (II,  81,  2);  ül)er  die  zurzeit  noch  wirksamen  Charis- 
men s.  II,  32,  4:  A16  y.ai  iv  toj  exeIi-ov  6vö/.iaTi  [im  Namen  Jesu]  ot  d/.tjOwg  avrov 
/iai))]T(u  iTiag'  avrov  }.aßövTeg  ri/v  yäinv  imxt).ovGiv  Itc  eveoyeGia  ri]  tmjv  /.oiTiöiv 
urdooj.-icor,  y.aOöjg  tig  F'y.amog  amöjv  Ttjv  dcooaäv  ci'/jjcfR  .t«o'  avzov.  ot  /ih'  yäg 
daiiiorag  K/.uvrovai  ßFßaiiog  yal  d?.>]&Mg,  ojots  cro/./.dyig  neu  .-TioTsi:£ir  avrovg  ey.ei- 
vovg  zovg  y.udaoiodivTag  m.tÖ  twj'  :tgv}]pojv  ^ivF.vfiäzon'  y.ai  sh'ai  er  rt]  gyyhjoüi.' 
Ol  ()t-  y.ai  jzo6yvo)oir  r/ovct  tmv  fie'/j.örroir  y.ai  d.iTaai'ag  y.ai  ^t'/oeig  TTOoqtjriy.äg. 
li.'ü.oi  b'f  xovg  y.äiivoviag  hm  zT/g  zwv  yfioöJv  F.TiOfciFcog  uorrai  y.ai  vyisTg  dnoy.a- 
dtozämr.  ijöt]  (Yf  y.ai  rFy.noi  yyFoOrjoav  y.ai  :7aotftFn'av  ovv  TJfiu'  lyavoTg  fzfoi. 
y.ai  ri  yuo ;  ovx  fozcv  doiü/iov  fL-zsiv  tmv  yaoicitäziov  d>v  y.ara  navzog  zov  yöofiov 
y  Fy.y.hjoia  Ttarju  deov  ?.aßovaa  fv  r<o  ovö/iazi  'Iijoov  Xoiazov  zov  ozavoüidFViog 
Fm  Ilorziov  Ilthaov  sy.dnzijg  {ji^iFQag  f:z.^  FVFtjyFoia  Tfj  zcor  Fdvibv  ftiizf/.fT.  Aus- 
drücklich lügt  Irenäus  hinzu,  daß  diese  Gaben  umsonst  gegeben  werden.  Er 
und  andere  Ketzerbestreiter  tadehi  es  an  Gnostikern,  daß  sie  sich  Geld  zahlen 
lassen  und  so  mit  Christus  Handel  treiben.  Ein  solcher  Vorgang  findet  sich 
übrigens  schon  Act.  8,  18  ff.  (Simon  Magus)  und  wird  hart  gerügt  Izu  doyvgtdv 
oov  al'v  noi  Fi't]  Fig  d:zoj/.£iar). 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  177 

weniger  bevorzugter  Personen.  Das  Gesamtleben  hat  den  Priester, 
den  Altar,  das  Sakrament,  das  heilige  Buch  und  die  Cllaubensregel, 
aber  nicht  mehr  „den  Geist  und  die  Kraft ^"  Nicht  erst  Eusebius 
blickt  (im  3.  Buch  seiner  Kirchengeschichte)  auf  das  Zeitalter  des 
Geistes  und  der  Kraft  als  auf  das  vergangene  heroische  Zeitalter 
der  Kirche  zurück-,  sondern  schon  Origenes  urteilt  aus  einer 
verarmten  Gegenwart  heraus  ebenso  ^.  Indessen  der  Mission  war 
diese  Verarmung  und  Ernüchterung  kaum  mehr  schädlich;  denn 
sie  wurde  im  dritten  Jahrhundert  auf  eine  andere  Art  beti'ieben 
als  im  ersten  und  zweiten.  Berufsmäßige  Missionare  gab  es  kaum 
mehr  —  wenigstens  wissen  wir  von  solchen  nichts  — ;  die  Propa- 
ganda war  nicht  mehr  eine  gewaltsame,  sondern  gleichsam  ein 
stätiger  Gährungsprozeß.  In  stiller  aber  sicherer  Expansion  ver- 
breitete sich  das  Christentum  von  den  gewonnenen  Mittelpunkten 
aus   ohne   stürmische  Anläufe   und  erschütternde  Bewegungen.  — 


\)  Um  so  höher  wurden  solche  Personen  geschätzt,  welche  als  Geist- 
träger erschienen.  Je  mehr  Geist  und  Kraft  als  Erscheinungen  in  und  au 
der  Gesamtheit  abnahmen,  desto  höher  stieg  der  Kultus  des  Heros  (d.  h.  des 
Asketen,  des  Konfessors,  des  Wundertäters),  der  übrigens  von  Anfang  an  be- 
standen hat.  Sie  alle  tragen  Christum  in  sinnenfälliger  Weise  in  sich  und 
sind  daher  verehrungswürdige  und  autorative  Personen.  Allmählich,  besonders 
in  der  2.  Hälfte  des  'S.  Jahrhunderts,  rücken  sie  in  die  Stellen  der  entthronten 
Götter  ein,  aber  in  der  Regel  erst  nach  dem  Tode.  —  Von  Visionen  und 
Träumen  hat  übrigens  Cyprian  noch  einen  sehr  starken  Gebrauch  gemacht 
(s.  0.  S.  173);  aber  ersuchte  durch  dieselben  lediglich  seine  bischöfliche  Auto- 
rität zu  steigern.  Er  stieß  übrigens  mit  ihnen  bei  manchen  auf  Zweifel  und 
Unglauben,  s.  ep.  66,  10:  „scio  somnia  ridicula  et  visiones  ineptas  quibusdam 
videri."     Das  ist  charakteristisch. 

-)  H.  e.  HI,  37:  „Es  wirkten  in  der  Anfangszeit  durch  die  Apostelschüler 
noch  sehr  viele  wunderbare  Kräfte  des  h.  Geistes,  so  daß  beim  ersten  An- 
hören der  Predigt  plötzlich  ganze  Scharen  mit  der  größten  Bereitwilligkeit 
den  Glauben  an  den  Schö^^fer  des  Alls  in  ihr  Herz  aufnahmen.'' 

^)  In  c.  Geis.  II,  8  behauptet  er  nur,  daß  er  selbst  noch  mehrere  Wunder 
gesehen  habe,  die  eigentliche  Wunderzeit  ist  ihm  also  die  frühere  Zeit. 
L.  11,48  gibt  er  den  Wundern  Jesu  und  der  Apostel  die  Wendung,  daß  sie 
sowohl  gewisse  Wahi-heiten  versinnbildlichen,  als  auch  viele  Herzen  für  die 
wunderbare  Lehre  des  Evangeliums  gewinnen  sollten.  Exorzismen  und  Hei- 
lungen dauern  nach  ihm  noch  fort  (öfters,  z.  B.  I,  6) ;  wie  er  aber  über  die 
Gegenwart  im  Vergleich  zur  Vergangenheit  der  Christenheit  denkt,  zeigt  1,2: 
„Für  unseren  Glauben  gibt  es  einen  besonderen  Beweis,  der  ihm  allein  zu- 
kommt und  göttlicher  ist  als  der  mit  Hilfe  der  griechischen  Dialektik  ge- 
führte. Diesen  göttlicheren  Beweis  nennt  der  Apostel  „den  Beweis  der  Geistes 
und  der  Kraft".  Den  Beweis  des  Geistes  um  der  Weissagungen  willen,  die 
geeignet  sind,  in  dem  Hörer  und  Leser  den  Glauben  zu  erzeugen  .  .  .,  den 
Beweis  der  Kraft  um  der  außerordentlichen  Wunder  willen,  deren  Tat- 
sächlichkeit sich  sowohl  durch  vieles  andere  als  auch  durch  den  Umstand 
erweisen  läßt,  daß  sich  Spuren  davon  noch  bei  solchen  erhalten 
haben,  die  ihr  Leben  nach  dem  Willen  des  Logos  führen." 
Harnack,  ili^si-n.    'j.  Anfl.  12 


1  7S  Pi<?  Mi.^sionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Wenn  die  alten  Christen  die  Beweise  des  Geistes  und  der 
Kraft  ins  Auge  faßten,  so  haben  sie  das  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  sittlichen  und  religiösen  Wirkungen  getan:  um  dieses 
Erfolges  willen  sind  sie  der  Kirche  geschenkt.  Paulus  bezeichnet 
als  den  Erfolg  die  Erbauung  des  Ganzen  der  Kirche^  und.  auf 
den  einzelnen  gesehen,  die  Neuscliaffung  des  Menschen  aus  einem 
Toten  zu  einem  Jjebendigen,  aus  emem  Unwerten  zu  einem  Wert- 
vollen. Die  Erbauung  aber  ist  das  Wachstum  in  allem  Guten 
(s.  Gal.  5,  22;  „Die  Frucht  des  Geistes  ist  Liebe,  Freude. 
Fiiede.  Geduld.  Freundlichkeit.  Gutheit,  Glaube.  Sanftmut.  Ent- 
haltsamkeit''), und  der  Beweis  der  Kraft  ist  es,  daß  Gott  nicht 
viele  Weise  nach  dem  Fleisch  und  nicht  viele  Edle,  sondern 
geringe  und  schwache  Menschen  berufen  und  sie  zu  sittlich 
kräftigen  und  erkennenden  umgeschaffen  hat  (I  Cor.  1 ,  26  f.).  Die 
sittliche  Neugeburt  und  das  sittliche  Leben  ist  dem  Apostel  nicht 
nur  eine  Seite  am  Christentum,  sondern  sie  ist  die  Furcht  des- 
selben und  sein  irdisches  Ziel.  Man  kann  die  ganze  christliche 
Missionstätigkeit  als  sittliche  Arbeit,  als  Erweckung  und  Kräf- 
tigung des  sittlichen  Sinns  bezeichnen,  und  man  verkürzt  sie 
damit  nicht. 

Wie  Paulus  haben  auch  die  Christen  der  nachapostolischen 
Zeit,  die  Apologeten  und  die  großen  Kirchenväter,  wie  Tertul- 
lian'-^  und  Origenes,  geurteilt.  Man  lese  die  „Apostellehre"  und 
die  ersten  Kapitel  des  1.  Clemensbriefes,  den  Schluß  des  Barnabas- 
bricfes,  die  Predigt,  welche  die  Bezeichnung  „zweiter  Clemens- 
brief'' führt,  oder  den  Hirten  des  Hernias,  oder  die  Schlußkapitel 
der  Apologie  des  Aristides,  oder  sogar  Origenes  „de  principiis" 
—  überall  wird  man  finden,  daß  die  sittlichen  Forderungen 
obenan  stehen.  Fast  mit  einer  ermüdenden  Breite  und  mit  einer 
rigoristischen  Härte  sind  sie  in  den  Vordergrund  geschoben. 
Niemand  kann  zweifeln:  diese  christlichen  Gemeinden  wollen  ihre 


^)  Cf.  Pseudoclemen.s,  de  virginit.  I,  11:  „lUo  igitur  charismate,  quod  a 
domino  accepisti,  illo  inservi  fratribus  pueiunaticis,  proplietis,  qui  dignoscant 
dei  esse  verba  ea,  quae  loqueris,  et  enarra  quod  accepisti  charisma  in  eccle- 
siastico  couveutu  ad  aediticationein  fratrum  tuorum  in  Ciu-isto." 

^)  Die  besonders  charakteristische  Stelle  Apol.  45  sei  hierher  gestellt: 
,,Xos  soli  innocentes.  quid  mirum,  si  necesse  estV  euimvero  necesse  est.  in- 
uoceutiam  a  deo  edocti  et  perfecte  eam  novinius,  ut  a  perfecto  magistro 
revelatam,  et  fideliter  custodimus,  ut  ab  incontomptibili  dispectore  inanda- 
taiu.  Vobis  autem  humana  aestimatio  innocentiara  tradidit,  humaua  item 
ilominatio  imperavit,  inde  uec  plenae  nee  adeo  timendae  estis  disciplinae 
ad  innoccntiae  veritateiu.  Tanta  est  prudentia  hominis  ad  demonstrandum 
bouum  quanta  auctoritas  ad  exigendum;  tam  illa  falli  f'acilis  quam  ista  con- 
temni.  Atque  adeo  quid  plenius.  dicere:  Non  occides.  an  docere:  Ne  ira- 
searis  quidemV  etc.'' 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  179 

Gemeinschaft  nach  den  strengsten  sittlichen  Grundsätzen  regehi ; 
sie  dulden  keine  unheiligen  Glieder  in  ihrer  Mitte  ^,  und  sie  wissen, 
daß  sie  in  dem  Augenblick  aufhören  zu  sein,  in  welchem  sie  der 
Unsittlichkeit  Raum  lassen.  Das  furchtbare  Strafgericht,  welches 
Paulus  über  den  Blutschänder  verhängt  (I  Cor.  5),  ist  kein  Aus- 
nahmefall ;  die  groben  Sünder  werden  ausgeschlossen.  Auch  die, 
welche  alle  Religion  und  darum  auch  die  christliche  für  eine 
Idiosynkrasie  halten,  aber  in  dem  sittlichen  Fortschritt  der  Mensch- 
heit den  Fortschritt  überhaupt  sehen,  müßten  anerkemien,  daß  er 
auf  diesen  Gemeinden  damals  beruhte ,  und  daß  die  Geschichte 
einen  ungeheuren  und  paradoxen  Apparat  angewendet  hat,  um 
eine  höhere  Stufe  der  Entwickelung  der  Menschheit  zu  erreichen. 
Unter  der  Seele  und  Leib  erschütternden  Predigt  von  dem  ein- 
brechenden Gericht  und  unter  der  beseligenden  Gewalt  des  Geistes 
Christi  rang  sich  das  Sittliche  zu  reinerer  und  sicherer  Geltung 
empor.  Vor  allem  war  es  der  Kampf  gegen  die  Fleischessünden, 
den  das  Christentum  aufnahm,  gegen  die  Hurerei,  den  Ehebruch 
mid  die  widernatürlichen  Laster.  Schlechterdings  nur  die  Einehe 
galt  in  den  christlichen  Gemeinden  als  erlaubte  Geschlechtsver- 
bindung-. Die  Unauflöslichkeit  der  Ehe  wurde  eingeschärft 
(abgesehen  vom  Falle  des  Ehebruchs^)  und  die  Ehe  auch  durch 
die  Schwierigkeiten  geschützt,  die  der  Eingehung  einer  zweiten 
Ehe  entgegengestellt  wurden'^.  Mit  dem  Kampf  gegen  die 
Fleischessünden  stand  das  strenge  Verbot  der  Fruehtabtreibung 
und  der  Aussetzung  der  Kinder  in  engster  Verbindung^.  Sodann 
bekämpften  die  Christen  die  Habsucht,  den  Geiz  und  die  Unehr- 
lichkeit in  Handel  und  Wandel,  also  den  Mammonismus  in  allen 


^)  Martyr.  Apoll,  26:  , Zwischen  Tod  und  Tod  ist  ein  Unterschied.  Des- 
halb sterben  die  Jünger  Christi  fortwährend,  indem  sie  ihre  Begierden  mar- 
tern und  sie  gemäß  den  göttlichen  Schi-ifteu  foltern;  denn  es  gibt  bei  uns 
überhaupt  kein  schamloses  Begehren  und  keine  schmutzige  Szene,  kein  laster- 
haftes Auge,  kein  der  Bosheit  zugängliches  Ohr,  auf  daß  unsere  Seelen  nicht 
verletzt  werden. " 

-)  Auch  dies  gehörte  zur  Vorbereitung  des  Christentums,  daß  die  Mono- 
gamie zu  der  Zeit,  da  es  sich  verbreitete,  bei  den  Juden  und  im  römischen 
Reiche  als  die  einzige  gesetzliche  Form  der  Geschlechtsverbindung  nahezu 
zum  Siege  gekommen  war.  Das  Christentum  proklamierte  nur  als  göttliche 
Ordnung,  was  sich  bereits  durchgesetzt  hatte.  Was  demgegenüber  noch  als 
Konkubinat  etc.  geduldet  wurde,  war  innerhalb  der  sozialen  Ordnung  von 
geringem  Belaug.  Über  die  ^fornicatio'"  war  freilich  im  Reiche  das  Urteil 
ebenso  lax  geblieben  wie  fi-üher,  und  auch  der  Ehebruch  des  Mannes  wurde 
kaum  verurteilt.    An  diesen  Punkten  mußte  der  Kampf  der  Krrche  einsetzen. 

^)  Von  der  Kasuistik  kann  hier  abgesehen  werden. 

*)  Das  2.  Jahrhundert  ist  mit  Bedenken  und  Erwägungen  über  die  Zu- 
lässigkeit  einer  zweiten  Ehe  angefüllt  gewesen. 

^)  S.  die  Didache,  Athenag.,  Supi^l.  35,  etc.  (vgl.  oben  S.  107). 

12* 


I  ^0  Die  Missionsprecligt  in  Wort  und  Tat. 

seinen  Gestalten  und  mit  der  Unbarmherzigkeit,  die  ihm  folgt. 
Drittens  bekämpften  sie  die  Zweideutigkeit  und  Lüge.  In  diesen 
drei  Riehtimgen  bewegten  sieh  vor  allem  die  Anstrengimgen,  welche 
die  christliche  l'redigt  auf  sittlichem  Gebiete  machte.  Reine  Men- 
schen, die  nicht  am  Besitz  kleben  und  nicht  selbstsüchtig  sind, 
sollten  die  Clii-isten  sein,  dabei  wahre  und  mutige  Menschen. 

Wie  die  nachapostolischen  Väter  urteilten  die  Apologeten. 
Aristides  legt  am  Schluß  seiner  Apologie  dem  heidnischen  Publi- 
kum das  christliche  Leben  in  seiner  Reinheit,  seinem  Ernste 
und  seiner  Liebe  dar  imd  ist  überzeugt,  damit  das  Wichtigste 
und  Eindrucksvollste  auszusprechen.  Justin  macht  es  in  seiner 
großen  Apologie  nicht  anders;  umfangreiche  Abschnitte  derselben 
sind  der  Darstellung  der  sittlichen  Grundsätze  des  Christentums 
gewidmet  und  dem  Nachweise,  daß  sie  bei  den  Christen  ein- 
gehalten werden.  Dabei  verti-auen  alle  Apologeten  darauf,  daß 
auch  ihre  Gegner  das  Gute  für  gut  und  das  Schlechte  für  schlecht 
halten.  Sie  glauben  ihre  Zeit  nicht  darauf  verschwenden  zu 
müssen,  zu  zeigen,  daß  das  Gute  wirklich  das  Gute  sei:  in  dieser 
Hinsicht  sind  sie  der  Zustimmung  sicher:  aber  daß  es  bei  den 
Christen  nicht  nur  kraftlose  Forderung  oder  blasses  Ideal,  sondern 
in  jeder  Riclitiuig  kräftig  ausgebildet  sei  und  wirklich  geübt  werde, 
das  wollen  sie  zeigen  ^.  Ton  besonderer  Wichtigkeit  ist  es  ihnen 
aber,  darauf  hinweisen  zu  können  (vgl.  die  Ausführungen  des 
Apostel  Paulus),  daß  das  Schwache  imd  Geringe  und  Unedle  hier 
zu  Kraft  und  AVert  komme.  „Man  sagt  von  uns,  daß  wir  unter* 
Weibern,  Halbwüchsigen,  Mädchen  und  alten  Weibern  schwatzen  ^ 


')  Daß  die  ethischen  Lehren  des  Christentums  mit  denen  der  Philo- 
sophen übereinstimmen,  räumt  Celsus  ausdrücklich  ein  (Orig.  I,  4);  cf.  Tertull., 
Apolog.  46:  .,eadem,  iuquit,  et  philosophi  monent  atque  profitentur."  —  Auch 
hier  ist  übrigens  eine  comiilexio  oppositorum,  und  zwar  in  doppelter  Hin- 
sicht, zu  erkennen.  Einerseits  gilt  das  Sittliche  seinem  Wesen  nach  als 
selbstverständlich:  eine  allgemeine  Übereinstimmung  herrsche  darüber  (Rein- 
heit in  jeder  Beziehung,  vollkommene  Nächstenliebe  usw.).  Andererseits 
wird  unter  Umständen  doch  gesagt,  daß  die  christliche  Sittlichkeit  von  jeder 
anderen  qualitativ  verschieden  sei  und  ohne  den  Geist  Gottes  weder  erkannt 
noch  geübt  werden  könne.  Diese  Beurteilung  entspricht  der  doppelten  Be- 
schreibung des  Christlich -Sittlichen.  Einerseits  ist  es  das  rechte  Verhalten 
in  bezug  auf  alle  irdischen  Verhältnisse,  andererseits  i.st  es  ein  auf  voll- 
kommener Askese  und  Abtötung  ruhendes  überirdisches,  göttliches  Leben  und 
Verhalten.  Diese  Spannung  in  der  Definition  des  Sittlichen,  die  besonders 
scharf  bei  Tatian  hervortritt,  ist  aber  nicht  erst  vom  Christentum  geschaffen. 
Sie  entstammt  der  philosophischen  Ethik:  die  Christen  haben  sie  nur  rezipiert 
und  modifiziert.  Es  ist  dies  leicht  ersichtlich,  Avenn  man  Philo,  Clemens  und 
Origenes  studiert. 

-)  Celsus  111.44:  .,Die  Christen  müssen  selbst  zugeben,  daß  sie  nur 
Menschen  ohne  Geist,  ohne  Ansehen  und  ohne  Verstand,  daß  sie  nur  Sklaven, 
Weiber  und  Kinder  zur  Annahme  ihres  Glaubens  bewegen  können." 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  181 

—  nein,  unsere  Jungfrauen  ,.philosopliieren"  und  reden  bei  der 
Spindel  von  den  göttlichen  Dingen^."  „Es  philosophieren  l)ei  uns 
nicht  nur  die  Wohlsituierten.  sondern  auch  die  Annen ^."  „Christus 
hat  nicht  wie  Socrates  nur  Philosoplien  und  Philologen  7AI  sinnen 
Jüngern,  sondern  auch  Handwerker  und  ganz  ungebildete  Leute, 
und  sie  verachten  den  Ruhm  und  die  Furcht  und  den  Tod^." 
„Bei  uns  findet  ihr  ungebildete  Leute  und  Handwerker  und  alte 
Weiber,  die  gar  nicht  mit  Worten  den  Wert  unserer  Lehre  dar- 
zulegen verstehen,  aber  ihn  durch  ihre  Taten  beweisen*."  Ahn- 
liches hat  Origenes  dem  Celsus  im  zweiten  Buche  vorgehalten 
und  Lactantius  seinen  Gegnern^. 

Daß  die  Höhe  der  Sittlichkeit  der  christlichen  Vorschriften 
und  die  sittliche  Haltmig  der  christlichen  Vereine  direkt  missio- 
nierend wirken  sollte  **  und  gewirkt  hat.  dafür  haben  wir  eine 
Reihe  von  Belegen.  Mcht  selten  heben  die  Apologeten  dies  her- 
vor''; Tatian  nennt  als  eines  der  Motive  für  seinen  Übertritt  zum 
Christentum  „die  Vorzüglichkeit  der  Sittenlehren"'^:  Justin  sagt, 
daß  die  Standhaftigkeit  der  Christen  ihn  von  ihrer  Reinheit  über- 
zeugt liabe  und  diese  Eindrücke  für  seinen  Übertritt  entscheidend 
gewesen  seien  '-*.  Daß  die  Standhaftigkeit  und  Treue  einen  über- 
wältigenden Eindruck  gemacht  haben,  sodaß  bei  Christen-Verhören 
oder  -Exekutionen  Umstehende  sich  plötzlich  für  das  Christentum 
entschieden,   lesen  wir  öfters  in  Märtvrerakten  und  zwar  auch  in 


1)  Tatian,  Orat.  33.  —  -)  L.  c.  c.  32. 

^)  Justin,  Apol.  II,  10:  er  fügt  hinzu:  övra/it;  saiiv  xov  dt)07jTov  Ttaroo^ 
y.ai  ovyi  drOgconriov  /.öyov  y.azaoy.ev)].  Eben.so  Diognet.  7:  ravTu  dv&odiyrov  ov 
boy-FÄ  ra  sgya,  ravia  8vvaf.tig  iazi  üsou. 

*)  Athenag.,  Sui^p].  10.  Vgl.  dazu  Justin,  Apol.  I,  60:  -Tao'  f]f.üv  olv  iazi 
ravza  dyovoai  y.al  tia&eiv  Traoä  zojv  ovdk  zovg  yaoay.zijQag  ziov  ozor/eioiv  L-riaza- 
(lEvwv,  löicozcör  /ikv  y.ai  ßaQßdocov  z6  (f&äyua,  aocp&r  ö'e  y.al  :iiozcöv  xov  %'ovv 
ovziov,  y.al  jttjoöJv  y.al  yrjoiov  zivän'  zag  oifsig'  a>g  owsTrai  ov  aocpla  dv^Qo^rrfii. 
zavza  ysyovsvai,  d'/.lä  bvväftsi  dsov  leyeo&ai.  TertulL,  Apol.  46:  „Deum  quilibet 
opifex  Christianus  et  iuvenit  et  ostendit  et  exinde  totum  quod  in  deum 
quaeritur  re  quoque  adsignat,  licet  Plato  adfirmet  factitatorem  universitatis 
neque  inveniri  facilem  et  inventum  enarrari  in  ouines  difficilem." 

*)  Instit.  VI.  4. 

^)  Iguat..  ad  Ephes.  10:  i.-zezoiii'az£  avroTg  [seil,  den  Heiden]  y.är  sy.  rwr 
tQyo3v  viilv  /iiadtjzev&iirac'  crgog  zag  ogyäg  a.vzöjv  v^isTg  :zoaETg ,  .-roog  zag  /.leya- 
}.OQor]uoovvag  avzojv  v/iieTg  zajistvöqoovgg ,  Jioog  zag  ß/.aaq?i]fiiag  aincöv  vfieTg  zag 
7TQOosv/dg  ....  ftl]  o.-TovddCovzeg  dvzi/:iif(7]oaodai  avzovg'  dÖE/.rpoi  avxwv  svos^o)- 
fiEv  xfi  E:n£iy.£iq-   iiifDjzal  zov  y.voiov  oaovbd'QoijiEV  Eh'ai. 

')  Vgl.  auch  die  Predigt  II  Clem.  18:  za  Edvrj  dy.ovovza  iy  zov  azö/iazog 
TjfiöJv  zä  löyia  zov  Oeov  ojg  y.a/.d  yal  /^lEvd/.a  &avf.idCEi'  s.-ZEiza  yazafiadövza  zä 
Eoya  »'ifiüjv  ozi  ovy.  eotiv  ä^ia  röiv  §r)f.idzoiv  (bv  ?.syofiEr,  evOev  Eig  ß).aaq.n]i.iiav 
zQEJTOvTai,  ).EyovzEg  Eivai  /iv&öv  ziva  y.al  Ttlävijv.  Also  auch  solche  Fälle  kamen 
vor;  sie  beweisen  indirekt  das  im  Texte  Gesagte. 

«)  Orat.  29.  —  »)  Apol.  II,  12. 


tg2  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

echten  ^  Am  lebendigsten  aber  tritt  uns  in  der  Schrift  des 
Cyprian  ad  Donatum  entgegen,  wie  ihn  nicht  sowohl  die  sittliclie 
Forderung  als  vielmehr  die  sittliche  Kraft,  welche  das  Christen- 
tum darbot,  überzeugt  und  gewonnen  hat.  Das  Ausziehen  des 
alten  und  das  Anziehen  eines  neuen  Menschen  habe  er  für  eine 
Unmöglichkeit  erachtet;  aber  ,,nachdem  ich  himmlischen  Geist  in 
mich  geschöpft  und  die  zweite  Geburt  mich  zu  einem  neuen 
Menschen  umgestaltet  hatte,  da  gewann  plötzlich  auf  wunderbare 
Weise  das  Zweifelhafte  festen  Bestand,  das  Verschlossene  öftnete 
sich,  die  Finsternis  hellte  sich  auf,  ausführbar  wurde,  was  vorher 
schwierig  geschienen,  und  erfüllbar,  was  für  unmöglich  gegolten 
hatte."     Nicht  anders  reden  Tertullian  und  Origenes. 

Aber  nicht  nur  die  Christen  selbst  bezeugen,  daß  sie  in  eine 
neue  Welt  sittlicher  Kräfte,  des  Ernstes  und  der  Heiligkeit  gestellt 
sind,  auch  ihre  Gegner  legen  Zeugnis  für  ihre  Reinheit  ab.  Zwar 
hielten  sich  die  von  den  Juden  in  Kurs  gesetzten  abscheulichen 
Vorwürfe  in  bezug  auf  das  sittliche  Leben  der  Christen  lange 
Zeit  hindurch  und  wurden  vom  Volke  und  von  manchen  Gebildeten^ 
geglaubt,  aber  wer  nachprüfte,  fand  etwas  ganz  anderes.  Plinius 
erklärt  dem  Trajan,  daß  er  nichts  Verbrecherisches  oder  Laster- 
haftes bei  seinen  Verhören  mit  Christen  habe  feststellen  können; 
der  Zweck  dieser  Vereine  sei  vielmehr  der,  sich  in  der  Gewissen- 
haftio-keit  und   Tugend   zu  bestärken^.     Lucian  hat  die  Christen 


-)  Bereits  das  Zweitälteste  Martyrium,  welches  wir  kennen,  das  des 
Zebedäiden  .Jaeobus,  ist  von  Clemens  Alex,  iu  deu  Hypomnematen  so  erzählt 
worden  (s.  Euseb.  II,  9j.  daß  der  Ankläger  sich  bekehrte  und  mit  dem  Apostel 
zusammen  hingerichtet  worden  ist.  —  Während  alle  Christen  im  öffentlichen 
Bekenntnis  des  Glaubens  vor  der  Obrigkeit  den  Höhepunkt  der  christlichen 
Sittlichkeit  erkannten,  trug  der  sektiererische  Christ  Heracleon  eine  andere 
Meinung,  die  ihm  freilich  sehr  übel  genommen  worden  ist,  vor.  Er  behaup- 
tete, daß  jenes  Bekenntnis  mit  dem  Wort  auch  heuchlerisch  sein  könne,  und 
daß  das  stetige  Bekenntnis  in  Werken  und  Handlungen,  die  dem  Glauben 
entsprechen,  das  Entscheidende  sei  (Clemens  Alex.,  Strom.  IV,  9,  71  f.). 

^)  So  wahrscheinlich  von  Fronto,  dem  Lehrer  M.  Aureis  (s.  den  Octavius 
des  Minucius),  auch  von  Apulejus,  wenn  die  Metamorph.  IX,  14  geschilderte 
Fraii  („omnia  j^rorsus  ut  in  quandam  caenosam  latrinam  in  eius  animam 
flagitia  confluxerant")  eine  Christin  war  („spretis  atque  calcatis  divinis  numi- 
nibus  invicem  certae  religionis  meutita  sacrilega  praesumptione  dei,  quem 
praedicaret  unicum").  Ein  Gemisch  von  Demut  und  P'rechheit  hat  der  Rhetor 
Aristides  in  der  christlichen  Lebensweise  gesehen  und  sie  <ler  der  .luden  in 
dieser  Beziehung  gleichgestellt  (Orat.  46).  Das  ist  der  empfindlichste  Vorwurf; 
einen  ähnlichen  hat  Celsus  erhoben;  s.  im  3.  Buch  Kap.  5. 

'■')  „Adfirmabant  autem  [seil,  die  Christen  im  Verhör]  haue  fuisse  summam 
vel  culpae  suae  vel  erroris,  quod  essent  soliti  stato  die  ante  lucem  convenire 
carmeuqne  Christo  quasi  deo  dicere  secum  invicem,  seque  sacramento  non  in 
scelus  aliquod  ob.stringere ,  sed  ne  furta,  ne  latrocinia,  ne  adulteria  com- 
mitterent,  ne  fidem  faJlerent,  ne  depositum  appellati  abnegarent." 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Krait  etc.  [§3 

so  geschildert,  daß  sie  als  leichtg-läubigc  Sehwärmer,  aber  auch 
als  Leiue  von  Reinheit,  Opferwilligkeit  und  von  Todesniut  er- 
scheinen. Epictet  und  M.  Aurel  haben  den  letzteren  anerkannt^. 
Am  wichtigsten  aber  ist  das  Zeugnis  des  scharfblickenden  Arztes 
Galen.  Er  sagt  in  der  Schrift  de  sententiis  politiae  Platonicae  "^ : 
„Homimmi  plerique  orationem  demonstrativam  continuam  mentc 
assequi  nequeunt,  quare  indigent,  ut  instituantur  parabolis.  veluti 
nostro  tempore  videmus  homines  illos,  qui  Christiani  vocantur, 
fidem  suam  e  parabolis  petiissc.  hi  tamen  interdum  talia  faciunt, 
qualia  qui  vere  philosophantur.  nam  quod  mortem  contemnunt, 
id  quidem  omnes  ante  oculos  habemus;  item  quod  verecundia 
(piadani  ducti  ab  usu  rerum  venerearum  abhorrent.  sunt  enini  inter 
eos  et  feminae  et  viri,  qui  per  totam  vitam  a  concubitii  abstinuerint  ^ ; 
sunt  etiam  qui  in  animis  regendis  coercendisque  et  in  acerrimo 
honestatis  studio  eo  progressi  sint,   ut   nihil   eedant   vere   philoso- 


^)  Beide  freilieh  mit  einer  Einschränkung;  Epictet  sagt,  daß  die  Galiläer 
die  d(poßia  vor  den  Tyrannen  ., gewohnheitsmäßig"  hätten  (Arrian. ,  Epictet. 
diss.  IV,  7,  6) ,  M.  Aurel  behauptet,  die  christliche  Todesbereitschaft  stamme 
aus  Ostentation  (Med.  XI,  3\ 

-)  Arabisch  erhalten  in  der  Hist.  anteislam.  Abulfedae  (ed.  Fleischer 
p.  109);  s.  dazu  Kalbfleisch  in  der  Festschrift  für  Gomperz,  1902,  S.  96  f. 
Norden,  Kunstprosa  S.  518  f. 

^)  Von  Justin  au  —  wahrscheinlich  schon  früher  —  haben  die  Christen 
den  Heiden  gegenüber  immer  wieder  auf  die  Gruppe  ihrer  Brüder  und 
Schwestern,  hingewiesen,  die  sich  der  Ehe  ganz  enthielt  oder  nach  einmaliger 
Ehe  nicht  wieder  zur  Ehe  sehritt  oder  innerhalb  der  Ehe  auf  den  Geschlechts- 
verkehr verzichtete.  Augenscheinlich  rechneten  sie  darauf,  daß  eine  solche 
Lebensweise  auch  bei  ihren  Gegnern  Beifall  und  Bewunderung  finden  werde 
(auch  Selbstentmannungen  fehlten  nicht,  s.  das  Beispiel  des  Origenes  und 
den  Versuch,  von  welchem  Justin,  Apol.  I,  29  berichtet).  Schwerlich  haben 
sie  sich  dabei  verrechnet;  denn  die  Keligionsphilosophie  des  Zeitalters  war 
asketisch.  Doch  ungeteilt  war  der  Beifall  auch  der  sittlich  Strengen  nicht. 
Der  Heide  bei  Macarius  Magnes  (Poi-phyrius)  III,  86  führt  dem  Paulus  zu 
Gemüte,  daß  er  I  Tim.  4,  1  die  tadelt,  welche  die  Ehe  verbieten,  selbst  aber 
I  Cor.  7  die  Jungfräulichkeit  empfiehlt,  obgleich  er  bekennen  muß,  kein 
Herniwort  über  die  Jungfrauen  zu  besitzen.  .,Tut  also  nicht  der,  welcher 
wie  eine  Jungfrau  lebt,  unrecht  und  ebenso  der,  welcher  sich  nach  der 
Weisung  irgendeines  schlechten  Menschen  der  Ehe  enthält,  da  sie  doch  von 
Jesus  kein  Gebot  über  das  jungfräuliche  Leben  habenV  Und  wie  dürfen 
einige  Frauen,  welche  jungfräulich  leben,  so  gewaltig  Rühmens  davon  macheu 
und  behaupten,  sie  wären  des  heiligen  Geistes  voll,  wie  die, 
welche  Jesum  gebar?"  —  Die  mißtrauische  Beurteilung  des  Geschlechts- 
verkehrs (auch  des  ehelichen)  bei  den  alten  Christen  zeigt  sich  von  Paulus 
an  auf  der  ganzen  Linie;  besonders  charakteristisch  sind  hier  die  apokryphen 
Apostelgeschichten  (mit  den  Acta  Pauli  beginnend),  die  die  populären  Stim- 
mungen widerspiegeln.     Folgende  Tatsachen   mögen   hier   zusammenstehen: 

(1)  Die  Ehe  wird  als  Konzession  an  die  Schwachheit  gerade  noch  geduldet, 

(2)  die  Einschränkung  oder  gänzliche  Enthaltung  des  Geschlechtsverkehrs  in 
der  Ehe  wird  angeraten   und   dringlich  empfohlen,   (.3)  die  zweite  Ehe  wird 


]  34  Rie  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

phantibus^"  Ein  uubestocheneres  und  glänzenderes  Zeugnis  für 
die  Sittlichkeit  der  Christen  kann  kaum  gedacht  werden.  Übrigens 
hat  auch  Celsus.  der  ihnen  sehr  mißgünstig  ist,  das  sittliche  Leben 
der  Christen  niclit  bemängelt.  Dum])f,  niedrig,  kläglich  ist  zwar 
nach  Celsus  alles  bei  ihnen,  aber  die  Moralität,  die  unter  solchen 
Umständen  möglich  ist,  spricht  er  ihnen  nicht  ab.  — 

Wie  seit  dem  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  der  Beweis  „des 
Geistes  und  der  Kraft"  zurücktritt,  so  hört  auch  die  ungeheuere 
sittliche  Anspannung  auf  und  macht  allmählich  einer  Moralität 
Platz,  die  sich  an  das  Aveltliche  Leben  anschmiegt  und  Ver- 
folgungen nicht  mehr  gewachsen  ist-.  Die  Stadien  dieses  Prozesses, 
der  seine  Anfänge  schon  im  2.  Jahrhundert  hat  und  bei  der  Frage 
einsetzte,  ob  und  welche  Sünden  nach  der  Taufe  vergeljen  werden 
können,  kömien  hier  nicht  dargelegt  werden.  Es  muß  die  Be- 
merkung genügen,  daß  seit  c.  230  in  vielen  Gemeinden  nach  dem 
Vorgang  der  römischen  die  grol)en  Fleischessünden  vergeben 
wurden,  seit  dem  Jahre  251  in  den  meisten  Gemeinden  sowohl 
diese  als  die  Sünden  der  Idololatrie.  Damit  war  der  Kreis  ge- 
schlossen :  nur  in  einigen  Fällen  wurden  Verbrechen  von  besonderer 
Scheußlichkeit  nicht  vergeben,  der  Betreffende  also  in  die  Ge- 
meinde nicht  wieder  aufgenommen.  Daß  die  christlichen  Gemeinden 
samt  ihren  Bischöfen  und  ihrem  Klerus  bereits  um  das  Jahr  220 
in  sittlicher  Hinsicht  das  nicht  mehr  waren,  was  sie  früher  gewesen 
waren  —  obgleich  uns  der  Hirte  des  Hermas  zeigt,  wieviel 
Schlimmes  auch  damals  schon  zu  bekämpfen  war  — ,  geht  aus 
den  letzten  Schriften  TertuUians  („Nostrorum  bonorum  status  iam 
mergitur",  de  pudic.  l)  und  aus  vielen  beißenden  Bemerkungen 
des  Origenes  in  seinen  Kommentaren  klar  hervor.  Dennoch  aber 
hörten  sie  nicht  auf,  sich  durch  ihre  Sittlichkeit  von  den  anderen 
Vereinen  im  Reiche  und  vor  den  städtischen  Bevölkerungen  aus- 
zuzeichnen  (Origenes    betont    das  Celsus   gegenüber  ausdrücklich: 


als  EvjTQemjg  ßoiyeia  bezeichnet,  (4)  die  Jungfrauen  werden  überredet,  in  diesem 
Stande  zu  bleiben,  (5)  an  die  Stelle  der  Ehen  treten  platonische  Bündnisse 
(„virgines  subiutroductae'O  mit  kühnsten  Wagnissen.  S.  dazu  Tertull.,  de 
resuiT.  8:  „virgiuitas  et  viduitas  et  modesta  in  occulto  matrimonii  dissimu- 
hxtio  et  una  uotitia  eius."  Das  sind  in  absteigender  Reihenfolge  die  vier 
Formen  geschlechtlicher  Enthaltsamkeit. 

')  Natürlich  verurteilt  Galen  den  Glauben  der  Christen  als  Hartnäckig- 
keit im  Festhalten  an  völlig  Unbewiesenem;  :jf.qi  diaq>0Qäg  o(]^vy/wJ7•  11,  4: 
Iva  fu'i  rig  svOvg  y.ax  aQyäg ,  ok  ek  Mowoov  y.ai  Xqioxov  Öiazfjißljv  äqnyfdvog, 
rduon'  draTioSsixKov  axov)}.  III,  3:  däziov  äv  rig  roix;  ä:t6  Mowoov  y.ai  XqiotoD 
/(£Ta()idd^£in>  y  rovg  zaig  al'fjsoi  .-TQOOTsrijy.ÖTag  laiijoirg  ts  xal  qnloaöcfovg. 

2)  Die  Zahl  der  Lapsi  in  den  Verfolgungen  unter  Decius  und  Diocletian 
war  außerordentlich  groß:  aber  schon  Tertullian  spricht  (Scorp.  1)  von  „Leuten, 
die  nur  bei  günstigem  Wind,  wenn  es  ihnen  gefällig  ist,  Christen  sind." 


Die  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  etc.  185 

s.  III,  29.  30),  und  die  Bußgesetzgebuiigcn  aus  der  Zeit  von  dem 
Jahre  251  bis  325.  die  uns  in  nicht  ganz  geringer  Zahl  erhalten 
sind,  zeigen  doch  das  ernsteste  Bestreben,  die  Sittlichkeit  und 
Heiligkeit  des  Lebens  aufrechtzuerhalten.  Auf  sittlich  gesinnte 
Menschen  mußten  die  christlichen  Gemeinden  trotz  ilirer  mora- 
lischen Depotenzierung  noch  immer  eine  mächtige  Anziehungskraft 
ausüben. 

Allein  —  und  hier  tritt  uns  ^vieder  die  complexio  oppositorum 
ent2:e2:en  —  auch  auf  die  sittlich  dauernd  Schwachen  und 
Schwächsten  mußten  sie  eben  durch  die  neue  Entwicklung,  die 
sich  um  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  in  ihnen  abschließend  voll- 
zogen hatte,  mächtig  wirken.  Waren  sie  bisher  Gemeinschaften 
gewesen,  welche  die  Sündenbeladenen  aufnahmen,  den  schlimmsten 
Yerbrecher  nicht  von  ihrer  Schwelle  wiesen  und  ihm  Yergebung 
bei  Gott  vermittelten,  dann  aber  von  ihm  verlangten,  daß 
er  nun  rein  und  heilig  bleibe,  so  hatten  sie  sich  jetzt, 
volentes-nolentes,  als  Gemeinschaften  einer  grenzen- 
losen Vergebung  etabliert.  Sie  hatten  neben  und  nach  der 
Taufe  nun  ein  zweites  Sakrament  ausgebildet:  noch  war  es  formlos, 
aber  sie  vertrauten  ihm  als  einem  formierten  und  hielten  sich  für 
berechtigt,  es  fast  in  jedem  Falle  anzuwenden:  das  Bußsakrament. 
Ob  sie  durch  diese  Entwicklung  den  Absichten  des  Stifters  mehr 
entgegengekommen  sind  als  die  Rigoristen  vor  ihnen  oder  sicli 
noch  weiter  von  ihnen  entfernten,  mag  hier  auf  sich  beruhen  — 
gewiß  ist,  daß  die  Anziehungskraft  der  christlichen  Religion  als 
Reliffion  der  Yero-ebuni;:  nun  erst  voll  einsetzte.  Alles  kam  auf 
die  Art  der  Anwendung  an:  aber  es  war  doch  nicht  nur  frivoler 
Spott  von  Julian  dem  Apostaten,  wenn  er  darauf  hinwies,  daß 
die  christlichen  Gemeinden  durch  die  Art,  wie  sie  Vergebung  ver- 
kündigen und  ausspenden,  die  ernste  Moral  schädigen  und  Glieder 
in  ihrer  Mitte  haben,  die  keine  andere  religiöse  Gemeinschaft  bei 
sich  dulden  würde.  Das.  was  Julian  tadelt,  hat  schon  in  der 
2.  Hälfte  des  dritten  Jalirhunderts  reichlich  begonnen.  Wenn, 
wie  z.  Z.  Cyprians  in  Carthago.  Kleriker  derselben  Gemeinde  in 
Streit  miteinander  geraten,  werfen  sie  sich  alsbald  die  sciilimmsten 
Hinge  vor.  Betrug,  Ehebruch,  selbst  Mord.  Erstaunt  und  entrüstet 
fragt  man  sich,  wenn  diese  Vorwürfe  zu  Recht  bestanden  haben, 
warum  hat  man  den  betreffenden  Presbyter  oder  Diakon  nicht 
längst  aus  der  Kirche  entfernt?  Auf  diese  Frage  erhält  man 
keine  Antwort.  Beruhten  aber  alle  diese  fast  stereotj^  wieder- 
holten Anklagen  nicht  auf  Wahrheit,  so  ist  die  Tatsache,  daß  man 
leichtfertig  den  Bruder  der  schlimmsten  Verbrechen  zieh,  nicht 
minder  schlimm.  Man  sieht  hier  in  eine  Verwahrlosung  hinein, 
die  nicht  möglich  gewesen  wäre,  hätte  sich  nicht  schon  die  Kehr- 


lg()  Die  Missionspredigt  in  Wort  nnd  Tat. 

scite  der  Religion  der  Barmherzigkeit  iind  Yergebung  in  ver- 
hängnisvoller Weise  geltend  gemacht. 

Indessen  —  wenn  diese  Vergebung  auch  Unwürdige  traf,  so 
ist  sie  damit  noch  nicht  verurteilt,  und  zum  Eichten  sind  wir  nicht 
berufen.  Es  nuiß  uns  genügen,  festzustellen,  was  wir  festgestellt 
haben,  daß  die  christliche  Religion  im  Laufe  des  3.  Jahrhunderts 
an  ihrem  Charakter,  Religion  der  Sittlichkeit  zu  sein,  Abbruch 
erlitten  hat.  daß  sie  aber  in  ihrer  Anziehungskraft  dadurch  gewiß 
nicht  vermindert  worden  ist;  denn  als  Religion,  die  stetig  Ver- 
gebung vermittelt,  wurde  sie  nun  aufgesucht.  Es  waren  jetzt 
freilich  z.  T.  andere  Kreise   als  bisher,    die   sich   an   sie   wandten. 

Noch  aber  ist  eines  Doppelten  zu  gedenken,  um  die  hier  ge- 
gebenen Grundzüge  nicht  lückenhaft  erscheinen  zu  lassen.  Erstlich, 
die  von  den  meisten  Gnostikern  befolgte  These,  die  Menschen 
seien  ihren  sittlichen  Anlagen  nach  qualitativ  verschieden,  und 
deshalb  müsse  auch  ihr  sittliches  Verhalten  und  die  Moral,  die 
man  ihnen  zumuten  könne,  verschieden  sein,  ist  von  der  Kirche 
nicht  gebilligt  worden^.  Aber  die  Unterscheidung  einer  Sittlichkeit 
der  Vollkommenen  und  einer  noch  ausreichenden  Sittlichkeit  ist 
uralt  und  stets  festgehalten  M^orden.  Selbst  bei  Paulus  finden 
sich  deutliche  Spuren  dieser  Betrachtung  neben  einer  streng  ein- 
heitlichen Auffassung.  Die  katholische  Lehre  von  den  „praecepta'' 
und  „consilia"  hat  in  der  Heidenkirche  fast  von  Anfang  an  ge- 
golten, und  die  Worte  der  Apostellehre  nach  der  Schilderung 
„der  beiden  Wege"  drücken  eine  allgemeine  Überzeugung  aus 
(C.  (>:  ei.  uev  Övvaoai  ßaojdocu  lllov  rov  Qvybv  tov  xvqiov  ,  releiog 
l'or}'  et  Ö"  ov  övvaoai,  o  Övr)]  tovto  ttoIsi).  Die  Unterscheidung 
von  „Kindern"  mid  „Vollkommenen",  die  zunächst  für  das  Gebiet 
der  christlichen  Erkenntnis  gilt,  gilt  auch  für  das  sittliche  Gebiet; 
denn  sie  hängen  aufs  engste  zusammen ".  Christliche  Heroen, 
nämlich  Asketen,  Besitzlose  u.  s.  w.,  hat  es  stets  gegeben,  und  sie 
wurden  besonders  hoch  verehrt  (s.o.);  ja  sie  mußten  schon  im 
nachapostolischen  Zeitalter  gewarnt  werden,  sich  nicht  zu  überheben 


')  E!s  ist  auffallend,  daß  die  Werbekraft  dieser  (gnostischen)  Ideen  nicht 
stärker  war  als  sie  gewesen  zu  sein  seheint.  Allein  als  sie  auf  christlichem 
Hoden  Bürgerrecht  begehrten  oder  eindrangen,  war  die  starke  kirchliche 
Organisation  dort  schon  vorha,nden,  und  der  Gnostizismus  vermochte  es  nicht 
mehr,  sie  zu  brechen  oder  eine  rivalisierende  Einrichtung  zu  schatten. 

'-)  Die  Asketen  sind  nicht  nur  die  „Vollkommenen",  sondern  auch  die 
eigentlichen  ..religiosi"  —  so  schon  Origenes,  s.  Hom.  11  in  Num.  (t.  10  p.  20), 
wo  die  virgines,  contincutes  etc.  als  die  bezeichnet  werden,  „qui  in  professione 
religionis  videntur".  Man  vgl.  hierzu  Hom.  XVII  in  Luc.  (t.  5  p.  151)  zu 
I  Cor.  1,2:  „Memini  cum  iuterpretai-er  I  Cor.  1,  2  dixisse  nie  diversitatem 
ecclesiae  et  eorum  qui  invocant  nomen  domini.  puto  enim  mono- 
gamum  et  virginem  et  eum,  qui  in  castimonia  perseverat,  esse  de  ecclesia 


Die  Religion  des  (4eistes  und  der  Kriift  etc.  187 

oder  zu  prahlen  (s.  Ignat.  iul  Polyc.  5:  n  t/s  dvvaTcu  h  ayvfu'a 
JLiheiv  f/'c  Ttfdjv  tTjc;  oaoxog  tot  xvqIov  ,  h  äxav^^ola  ftEvh(0'  iav 
xcwyj'jOYjTai ,  äTKoXero,  et".  1  Clem.  38:  o  äyvoq  Iv  rfj  oagul  tJTw  xal 
u)]  cdaCovfvfoß(o).  Jn  den  urchristlichen  Asketen  hat  das  Mönch- 
tum  seine  Vorstufe. 

Zweitens  —  die  Wahrhaftigkeit  in  bezug  auf  das  Wirkliche 
leidet  in  jeder  Religion  ebensoleieht  Schaden  wie  die  Gerechtig- 
keit, und  an  jede  Religion  haftet  sich  der  Fanatismus,  die  Kritik- 
losigkeit und  der  Schwindel.  Die  Blätter  der  Kirchengeschichte 
von  den  ältesten  Zeiten  an  wissen  davon  zu  erzählen.  In  den 
meisten  Fällen,  bei  allen  den  Wundern,  die  nicht  geschehen,  den 
Visionen,  die  nicht  gesehen,  den  Stimmen,  die  nicht  gehört,  den 
Büchern,  die  von  den  angeblichen  Verfassern  nicht  geschrieben 
worden  sind,  können  wir  heute  nicht  mehr  entscheiden,  wo  der 
Selbstbetrug  aufhört  und  wo  der  Betrug  anfängt,  wo  die  Schwär- 
merei zur  Methode  wird  und  die  Methode  zur  gewohnheitsmäßigen 
Täuschung;  ebenso  wie  wir  in  der  Regel  nicht  zu  entscheiden 
vermögen,  wo  die  herbe  Exklusivität  zur  Ungerechtigkeit  und  zum 
Fanatismus  wird.  Wir  müssen  uns  begnügen,  festzustellen,  daß 
solche  Fälle  leider  nicht  selten  waren,  und  daß  sie  zugenommen 
haben.  Auch  das  hat  im  3.  Jahrhundert  und  auch  schon  im 
zweiten  nicht  gefehlt,  was  man  Priesterbetrug  und  Wunderschwindel 
nennt.  Nicht  nur  in  einigen  gnostischen  Konventikeln,  wo  man 
Wasser  in  Wein  (Marcosier)  und  Wein  in  Wasser  (Bücher  Jeu) 
verwandelte,  sind  sie  zu  finden,  sondern  auch  in  der  großen 
Kirche. 

Das  Christentum  als  Religion  des  Geistes  und  der  Kraft  barg 
aber  noch  ein  Element  in  sich,  das  von  höchster  Bedeutung  ge- 
worden ist  und  in  besonderer  Weise  die  Originalität  dieser  Religion 
zum  Ausdruck  bringt  —  das  ist  die  Ehrfurcht  vor  Niedrigkeit, 
Schmerz,  Leiden  und  Tod  und  die  heldenhafte  Umbiegung  dieser 
Hemmnisse  in  Sieg  und  Triumph.  Das  Leben  des  Erlösers  und 
sein  Kreuz  waren  die  großen  Kräfte  und  Paradigmen  für  die 
Entstehung  und  Einübung  jener  Ehrfurcht,  die  mit  Geduld  und 
Hoffnung  vermählt,  jeden  äußeren  Widerstand  niederwarf,  in  dem 
Leiden  den  AVeg  zur  Gottheit  verehrte  und  so  inmitten  der  Feinde 
triumphierte.  „Die  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter  uns  ist  —  diese 
ist  ein  Letztes,  wozu  die  Menschheit  gelangen  konnte  und  mußte. 


dei,  eum  vero,  qui  sit  digamus,  licet  bonam  habeat  conversationem  et  ceteris 
virtutibus  polleat,  tarnen  non  esse  de  ecclesia  et  de  numevo,  qui  nou  habent 
rugam  aut  maculam  aut  aliquid  istius  modi,  sed  esse  de  secundo  gradu  et 
de  bis  qui  invocaut  nomen  domini,  et  qui  salvantur  quidem  in  nomine 
lesu  Christi,  nequaquam  tarnen  eoronantur  ab  eo." 


•J  SS  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Aber  was  gehörte  dazu,  die  Erde  nicht  allein  unter  sich  liegen 
zu  lassen  und  sich  auf  einen  höheren  Geburtsort  zu  berufen, 
sondern  auch  Niedrigkeit  und  Armut.  Spott  und  Verachtung, 
Schmach  und  Elend,  Leiden  und  Tod  als  göttlich  anzuerkennen^." 
Das  Tiefste,  was  in  der  Christenheit  nach  Seiten  der  Entwicklung 
des  sittlichen  Gemüts,  voll  Kraft  und  voll  Zartheit,  hervorgebracht 
worden  ist,  hat  hier  seine  Wurzel,  und  es  hebt  sich  als  ein  durch- 
aus Originales  von  ähnlichen  Ansätzen  in  einigen  Philosophen- 
schulen (z.  B.  den  zynischen)  ab.  Worte  freilich  sind  dieser 
Stimmmig  erst  viel  später  —  von  Augustin  ab  —  verliehen 
worden. 

Aber  wie  auch  das  Göttlichste  auf  Erden  seinen  Schatten 
hat,  so  ist  auch  jene  Ehrfurcht  nicht  ohne  einen  solchen.  Nicht 
nur  die  neue  Ästhetik,  die  hier  entstand,  mußte  —  weil  die  Auf- 
gabe unlösbar  war  —  eine  Ästhetik  des  Niedrigen,  des  Todes 
und  seiner  häßlichen  Reliquien  werden,  also  eine  Nicht -Ästhetik, 
bis  endlich  in  sehr  viel  späterer  Zeit  die  Ästhetik  des  Seelen- 
schmerzes und  des  Entzückens  in  dem  Leid  gefunden  war,  sondern 
auch  hier  stellte  sich  Routine  und  Konventionelles  ein.  und  das 
Tiefste  und  Verehrungswürdigste  wurde  durch  Gewohnheit,  profane 
Rede,  mechanische  Überlieferung  und  rituelle  Übung  entgeistet 
und  widerlich-.  Aber  so  stark  man  das  häßliche  Phlegma  dieser 
neuen  Stimmung  empfinden  und  so  empört  man  es  verurteilen 
mag  ■ —  man  soll  nicht  vergessen,  daß  es  der  Schatten  der  tiefsten 
und  zugleich  heldenmütigsten  Erhebung  der  Seele  ist,  ja  der  Re- 
ligion selbst  in  ihrer  reifsten  Entwickluna,'. 


Sechstes  Kapitel. 

Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien 
und  der  transzendentalen  Erkenntnisse. 

1. 

„Einige  Cliristen  [also  nicht  alle]  wollen  nicht  einmal  Rechen- 
schaft geben  noch  nehmen  über  das,  M'as  sie  glauben;  sie  halten 
sich  an  die  Parole:  , Prüfe  nicht,  sondern  glaube*"  und  ,Dein  Glaube 
wird   dich    retteir.     .Ein  Übel  ist   die  Weisheit    in   der  Welt,    ein 

1)  Goethe,  Wander  jähre  Bd.  24  S.  243. 

^)  Auch  hier  hat  Goethe  (a.  a.  0.  S.  255)  das  trett'ende  Wort  gesprochen: 
„Wir  ziehen  einen  Schleier  über  diese  Leiden  (die  Leiden  Christi  vornehm- 
lich), eben  weil  wir  sie  so  hoch  verehren;  wir  halten  es  für  eine  verdanimuags- 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      ]  j^9 

Gutes  aber  die  Torheit.'"  So  hat  Celsns  (I,  9)  von  den  Christen 
geschrieben.  Dieselbe  Charakteristik  hat  er  noch  öfters  in  seiner 
Streitschrift  vorgebracht  und  variiert:  s.  1,  12;  „Wie  sie  gewohnt 
sind,  sprechen  sie:  ,Untersuche  nicht.'"  1,26  f.:  „Jesu  verderb- 
liches Wort  hat  die  Menschen  betrogen:  freilich  bei  seinem 
idiotischen  Charakter  und  seinem  Mangel  an  Beredsamkeit  hat 
er  fast  nur  Idioten  gewonnen ^"  III,  44:  „Folgende  Vorschriften 
gelten  bei  den  Christen,  ja  sogar  bei  den  verständigeren:  ,AVer 
gebildet  ist,  wer  klug,  wer  weise  ist,  der  trete  nicht  zu  uns  hinzAi; 
denn  solche  Eigenschaften  sind  in  unseren  Augen  schlimme  Dinge. 
Die  Unwissenden  aber,  die  jS"arren  und  die  Toren  mögen  herzhaft 
zu  uns  kommen!*"  VI,  lOff. :  „Die  Christen  sagen:  , Glaube  allem 
zuvor,  daß  der,  welchen  ich  dir  verkündige,  der  Sohn  Gottes  ist.' " 
„Alle  sind  mit  der  gleichen  Aufforderung  bei  der  Hand:  , Glaube, 
wenn  du  gerettet  werden  willst,  oder  packe  dich  fort.'  Von  der 
Weisheit  unter  den  Menschen  sagen  sie,  sie  sei  Torheit  bei  Gott. 
Die  Ursache  davon  ist,  daß  sie  durch  solche  Rede  nur  die  Un- 
gebildeten und  Einfältigen  an  sich  ziehen  wollen."  Auch  nach 
Justin  werfen  die  Gegner  den  Christen  vor,  daß  sie  nur  blind  be- 
haupten, aber  nichts  beweisen  (Apol.  1,53),  und  Lucian  (Peregr.  13) 
sagt  von  ihnen:  ävEv  Tivög  äxQißovg  TTiOTSCog  rä  roiavTa  nageöe^uvro. 
Die  Charakteristik  und  der  Vorwurf  sind  nicht  ganz  unbe- 
rechtigt. Innerhalb  einer  bestimmten  Linie  der  Betrachtung  haben 
die  Christen  von  Anfang  an  und  stets  behauptet,  man  habe  seine 
Vernunft  gefangen  zu  nehmen  und  in  Gehorsam  unter  die  evan- 
gelische Botschaft  zu  beugen.  Einige  von  ihnen  sind  noch  weiter 
vorgeschritten  und  haben  überhaupt  blinden  Glauben  dem  Wort 
gegenüber  verlangt.  Vv'enn  der  Apostel  Paulus  das,  was  er  predigt, 
nicht  sowohl  seinem  Inhalte  nach  ins  Auge  faßt,  als  vielmehr  seiner 
Herkunft  nach  —  es  ist  Gottes  Wort  — ,  aber  auch  wenn  er 
auf  den  Kontrast  sieht,  in  welchem  es  zur  Weisheit  dieser  Welt 
steht,  so  fordert  er  entschlossenen  und  festen  Glauben,  nichts 
anderes.  „AVir  nehmen  alle  Vernunft  gefangen  unter  den  Gehor- 
sam gegenüber  Christus"  (II  Cor.  JO,  5)  und:  das  Wort  vom  Kreuz 
verträgt  keine  oocpia  löyov  und  will  als  törichte  Predigt  gepredigt 
und  mit  dem  Glauben  ergriflFen  sein  (I  Cor.  1,17  ff.).  Daher  warnt 
er  auch  vor  den  Verführungen  der  Philosophie  (Coloss.  2,  8).  Sehr 
viel  entschlossener  noch  ist  Tertullian  voro:eo:angan.     Er  verbietet 


würdige  Frechheit,  mit  diesen  tiefen  Geheimnissen,  in  welchen  die  Tiefe  des 
göttlichen  Leidens  verborgen  liegt,  zu  spielen,  zu  tändeln,  zu  verzieren  und 
nicht  eher  zu  ruhen,  als  bis  das  Würdigste  gemein  und  aligeschmackt  er- 
seheint. " 

^)  Doch  fügt  Celsus  hinzu,  es  gebe  auch  etliche  maßvolle,  fromme,  ver- 
ständige und  zu  geistigen  Umdeutungen  geschickte  Leute  unter  den  Christen. 


190  Die  Missionspredigt  in  Wort  uud  Tat. 

es  dorn  Christen  (de  praescr.  S  ft'.).  das  "SVort:  „Suchet  und  ihr 
\verdet  finden'-'  auf  die  Lehre  überhaupt  anzuwenden.  „Was  hat", 
ruft  er  (1.  c  c.  7)  aus,  „Athen  mit  Jerusalem  zu  schaffen,  was 
die  Akademie  mit  der  Kirche,  was  die  Häretiker  mit  den  Christen? 
Unsere  Lehre  stammt  aus  der  Säulenhalle  Salomos,  der  selbst 
gelehrt  hatte,  man  müsse  den  Herrn  in  der  Emfalt  des  Herzens 
suchen.  Zusehen  mögen  die,  welche  ein  stoisches  und  platonisches 
und  dialektisches  Christentum  eingeführt  haben!  Seit  Jesus  Christus 
bedürfen  wir  des  Forschens  nicht  melir,  auch  nicht  des  Unter- 
suchens,  seitdem  das  Evangelium  gepredigt  worden  ist.  Wenn 
wir  olauben,  so  wünschen  wir  über  den  Glauben  hinaus  weiter 
nichts  mehr.  Denn  das  ist  das  Irrste,  daß  wir  glauben,  es  gebe 
nichts  mehr,  was  wir  über  den  Glauben  hinaus  noch  zu  glauben 
haben  .  .  .  Nichts  außerhalb  der  Glaubensregel  wissen  heißt  alle 
Wissenschaft  besitzen^." 

So  mögen  viele  Missionare  gepredigt  haben,  nicht  nur  seit 
dem  schweren  Kampf  mit  dem  Gnostizismus,  sondern  auch  schon 
vorher.  Auf  den  Glauben  kommt  es  an  als  einen  Entschluß  des 
Willens  und  des  Gehorsams:  keine  Yerstandsbedenken  sollen  ihn 
stören! 

So  kann  nur  gepredigt  werden,  wenn  zugleich  eine  mächtige 
Autorität  eingesetzt  wird,  und  sie  wurde  eingesetzt.  Zuerst  und 
vor  allem  —  man  vergleiche  Paulus  —  war  es  die  Autorität  des 
göttlichen  Offonbarungswillens.  wie  sich  derselbe  in  der  Sendung 
des  Sohnes  kund  getan  hat.  Hierbei  aber  lagen  äußere  und  innere 
Autorität  ineinander  und  deckten  sich:  denn  so  gewiß  der  gött- 
liche Wille  an  sich,  nach  Paulus.  Autorität  ist  und  sich  auch  als 
solche  wirksam  zu  machen  vermag,  ohne  daß  man  den  Zweck 
und  das  Recht  dieses  Willens  erkennt  (s.  Rom.  9  ff.),  so  gewiß  ist 
der  Apostel  davon  durchdrungen,  daß  der  Gnadenwille  sich  inner- 
lich verständlich  macht. 

Aber  schon  bei  Paulus  sind  neben  der  in  dem  Kreuz  Christi 
gesetzten  äußeren  und  inneren  Autorität  auch  noch  andere  Autori- 
täten vorhanden,  die  Glaubensgehorsam  verlangen  —  das  ge- 
schriebene Wort  der  lieiligen  Urkunde  und  die  Worte  Jesu.  Auch 
hier  soll  es  keine  Zweifel  und  keine  Widerrede  geben. 

Deinioch  hat  der  große  vVpostel  den  Versuch  gemacht,  alles 
ffcistio;  zu  duichdriny-en.    und    schließlich    handelt  es  sich   bei  ilim 


^)  Vgl.  de  carue  Christi  2:  ,Si  propheta  es,  praenuntia  aliquid:  si 
apostolus,  praedica  publice;  si  apostolieus,  cum  apostolis  senti;  si  tantuin 
Christianus  es,  crede  quod  traditum  est.'"  Das  „Glauben"  wurde  aber  dann 
bei  den  jMassen  (den  ..simpliciores",  den  „simplices  et  idiotae")  manchmal 
handfester  als  es  den  Theologen  —  ja  selbst  einem  Tertullian  —  lieb  war. 
Die  Klagen  darüber  bei  Origenes  sind  zahlreich  (s.  z.B.  de  princip.  IV,  8). 


Die  Religion  der  Autorität  uud  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      t',)I 

an  keiner  8relle  um  ein  sucriticiuin  intellectus  (s.  u.).  Die  Sätze, 
die  anders  lauten,  sind  nur  Schein.  Sofern  er  Glaubensgeliorsam 
fordert  und  das  „Wort"'  oder  das  „Kreuz"  als  Autorität  hinstellt, 
meint  er  den  Glaubensgehorsam,  der  von  jeder  Religion  unzer- 
tr(Mmlicli  ist,  mag  sie  noch  so  frei  und  geistig  ausgestaltet  sein. 
Aber  Celsus  und  Tertullian  belehren  uns  darüber,  wenn  es  hier 
überhaupt  einer  Belehrung  bedarf,  daß  viele  Missionare  und  Lehrer 
ganz  anders  verfahren  sind.  Sie  pflanzten  einfach  die  Autorität 
auf.  in  steigendem  Maße  die  des  Bibelbuchstabens  ^.  bald  auch  die 
der  Glaubensregel  und  der  Kirche  (die  Kirche  als  orvXog  xal 
edoakojiia  tj]?  dh]&eiag  schon  I  Tim.  3.  15).  Es  ist  richtig,  daß  sie 
die  Autorität  beider  Größen,  der  Bibel  und  der  Kirche,  durch 
eine  rationale  Beweisführung  zu  stützen  suchten  (die  der  Bibel 
durch  den  Ts achweis  der  erfüllten  Weissagungen,  die  der  Kirche 
durch  den  IS^achweis  der  lückenlosen  Tradition,  die  auf  Christus 
selbst  zurückführt  und  der  kirchlichen  Lehre  den  Wert  der  Worte 
Christi  verleiht)  und  insofern  im  Grunde  doch  keinen  blinden 
Glauben  verlangten.  Allein  erstlich  waren  zu  solchen  Beweis- 
führungen gewiß  niclit  alle  Missionare  und  Lehrer  fähig  —  es 
sind  die  gebildeten  Apologeten  und  Polemiker,  die  sie  führen  — ; 
zweitens  kami  eine  innere  Autorität  der  betreffenden  Größen 
durch  äußere  Beweise  nicht  herbeigeführt  werden.  Sie  bleiben 
doch  etwas  Heteronomes,  und  der  geforderte  Glaube  bleibt  im 
Grunde  blinder  Glaube. 

Aber  man  würde  sehr  irren,  wollte  man  annehmen,  daß  die 
runde  Forderung,  einfach  den  Autoritäten  zu  glauben  und  die 
Yernunft  zu  verabschieden,  für  die  Mehrzahl  der  Menschen  als 
starkes  Hindernis  bei  der  Annahme  der  christlichen  Religion  ge- 
wirkt har-.  Das  Gegenteil  ist  sicher  der  Fall  gewesen.  Je 
peremptorischer  und  exklusiver  eine  Religion  die  Glaubensforde- 
rung geltend  macht,  desto  zuverlässiger  und  sicherer  scheint  sie 
der  Mehrzahl  zu  sein:  je  mehr  sie  ihnen  die  Pflicht  der  Yerant- 
wortung.  über  ihre  Wahrheit  nachzudenken,  abnimmt,  desto  will- 
kommener  ist    sie.     Jede  kräftio-  eingesetzte  Autorität  wirkt   hier 


'j  Genaueres  über  die  Bedeutung  der  Bibel  für  die  Mission  s.  im  siebenten 
Kapitel. 

-)  Auf  hochgebildete  Männer  wie  Celsus  und  Porphyrius  natürlich  wohl. 
Über  Celsus  s.  oben;  Porphyrius  (der  Heide  bei  Macarius  Magnes  IV,  9) 
schreibt  zu  Matth.  11.25:  „Wenn  die  C4eheimms3e  vor  den  Weisen  verborgen 
sind,  den  Unmündigen  und  vernunftlosen  Säuglingen  aber  hingeworfen  werden 
—  es  müßte  dann  freilich  auch  das  für  die  Unmündigen  und  Unverständigen 
Geschriebene  deutlicher  sein  und  nicht  rätselhaft  — ,  so  ist  es  besser,  nach 
Unvernunft  und  Unbildung  zu  streben.  Das  ist  der  höchste  Glanzpunkt  des 
auf  Erden  wandelnden  Christus,  vor  den  Weisen  den  Strahl  der  Erkenntnis  zu 
verbergen,  den  Unverständigen  aber  und  den  kleinen  Kindern  ihn  zu  enthüllen.'' 


1  92  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

als  Beruhigung:  ferner  aber:  gerade  die  paradoxesten  Glaubens- 
sätze, welche  jeder  Erfahrung  und  vernünftigen  Überlegung  spotten, 
sind  die  willkommensten;  denn  sie  scheinen  die  Gewähr  zu  bieten, 
daß  hier  nicht  nur  Menschliches  und  daher  Unzuverlässiges  dar- 
gereicht wird,  sondern  göttliche  Weisheit.  „Das  Wunder  ist  des 
Glaubens  liebstes  Kind",  gilt  nicht  nur  von  den  Mirakeln,  es  gilt 
auch  von  den  mirakulösen  Lehren,  die  man  nur  in  blindem  Glauben 
und  Gehorsam  sich  anzueignen  vermag. 

Allein  solange  die  Autoritäten  in  Büchern  und  Lehren  be- 
stehen, ist  die  letzte  Beruhigung,  die  gesucht  wird,  noch  nicht 
erreicht.  Der  Sinn  solcher  Lehren  bleibt  immer  mit  einem  Zweifel 
behaftet,  und  ihr  Spielraum  unsicher,  vor  allem  aber:  ihre  An- 
wendung auf  die  Fragen  der  Gegenwart  ist  oft  schwierig  und 
führt  zu  peinlichen  und  erschütternden  Kontroversen.  Die  letzte 
Beruhigung  für  den  „blinden  Glauben"  ist  erst  dann  gegeben, 
wenn  die  Autorität  eine  lob  endige  ist,  leicht  befragt  werden 
kann  und  prompt  antwortet.  Eine  solche  Autorität  gab  es  in  den 
ersten  Generationen  der  Christenheit  nicht;  aber  langsam  bildete 
sie  sich  im  Laufe  des  2.  Jahrhunderts  und  bis  zur  Mitte  des 
dritten  heran:  die  Autorität  der  im  Episkopat  repräsen- 
tierten Kirche.  Sie  verdrängte  die  anderen  Autoritäten  nicht, 
den  Heilswillen  Gottes  und  die  heilige  Schrift;  aber  indem  sie 
sich  neben  sie  stellte,  schob  sie  sie  zurück:  die  auctoritas  inter- 
pretativa  ist  stets  die  höchste  und  eigentliche  Autorität. 
Seit  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  waren  Kirche  und  Episko- 
pat soweit  entwickelt,  daß  sie  wie  heilige  Autoritäten  funktionierten. 
Ei'st  seit  dieser  Zeit  hat  die  Verbreitung  der  Kirche  den  großen 
Aufschwung  genommen:  nunmehr  wurde  sie  Massenkirche.  Zwar 
auch  das  lebendige  Autoritätssystem  der  Kirche  hatte  noch  seine 
Mängel  luid  Lücken  —  unter  Umständen  funktionierte  es  sehr 
langsam  oder  konnte  überhaupt  nicht  in  Wirksamkeit  gesetzt 
werden  — .  aber  für  die  Massen  bestanden  diese  Mängel  nicht. 
Sie  schauten  in  dem  Bischof,  in  dem  Priester,  ja  in  dem  Kirchen- 
gebäudo  und  dem  Kultus  das  Heilige  imd  Autoritative,  dem  sie 
sich  unterwarfen,  unmittelbar  an.  Dieser  Zustand  herrschte  schon 
zwei  (rcsnerationen  lang,  als  Constantin  das  Christentum  anei'kannte 
und  privilegierte.  Diese  Kirche  mit  der  ungeheuren  Autorität, 
die  si(^  über  die  jVrassen  hatte,  privilegierte  er.  und  diese  Christen 
erklärte  er  für  die  Stützen  des  Thrones,  die  in  gehorsamem 
Glauben  den  Bischöfen  anhingen  und  sich  ihrer  gottverordneten 
Autorität  nicht  widersetzten.  Das  Christentum  mit  seinem  blinden 
Glauben,  welches  Celsus  schildert,  ist  das  Christentum,  das  „ge- 
siegt" hat.  Wann  hätte  auch  jemals  ein  Staat  ein  positives  Inter- 
esse füi"  eine  andere  Art  von  Beligion  gezeigt? 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      193 

2. 

Das  Christentum  ist  complexio  oppositorum.  Derselbe  Paulus, 
der  die  Vernunft  gefangen  nehmen  heißt,  verkündigt,  daß  im 
Gegensatz  zum  Polytheismus  das  Christentum  der  „vernünftige 
Gottesdienst"  (Rom.  12,  1:  Xoyixrj  Xargeia)  sei,  und  erklärt,  daß, 
was  den  Heiden  als  Torheit  am  Kreuze  Christi  erscheine,  eben 
nur  ihnen,  die  da  verblendet  seien,  so  erscheine;  in  Wahrheit  sei 
die  christliche  Predigt  die  tiefste  Weisheit.  Ferner  aber  erklärt 
er,  daß  sie  nicht  nur  im  Jenseits  als  Weisheit  uns  aufgehen  werde, 
sondern  daß  sie  schon  jetzt  von  den  Gläubigen  als  solche  erkannt 
werden  könne,  und  das  er  die  „Vollkommenen"  unter  ihnen  in 
sie  einführen  werde  ^.  Diese  Zusage  (z.  B.  I  Cor.  2,  6  f.:  oocp'iav 
laXovfxev  h  To7g  reXeioig)  hat  er  wahr  gemacht  und  doch  den 
Kindern  imd  Schwachen  am  Geiste  die  Weisheit  nicht  vorent- 
halten. Zwar  nicht  alles  kann  und  darf  er  sagen,  was  ihm  an  dem 
Worte  Gottes  und  dem  Kreuze  Christi  aufgegangen  ist  —  X.aXovjuev 
-deov  oocpiav  ev  jnvoTi]Qi(p  t}]v  äjioxexQvujuevi]v  — ,  aber  in  Spe- 
kulation und  Geschichte  hat  er  sich  bewegt  und  aus  der  „Tiefe 
des  Reichtimis  imd  der  AVeisheit  und  Erkenntnis  Gottes"  reichlich 
geschöpft.  Mit  ihm  empfindet  man  die  Freude  des  Denkers,  der 
die  Gedanken  Gottes  nachdenkt  und  gewiß  ist,  daß  er  in,  mit 
und  durch  seinen  Glauben  aus  der  Finsternis  zum  Licht,  aus  dem 
Verworrenen,  Undurchsichtigen  und  Lastenden  zu  befreiender 
Klarheit  gekommen  ist. 

„Wir  sind  aus  der  Finsternis  zum  Licht  empor  gerettet  wor- 
den" —  das  ist  der  Jubelruf  eines  Chors  von  Christen  in  jenen 
ersten  Jahrhunderten  gewesen.  Es  war  die  intellektuelle 
Wahrheit  und  Klarheit,  deren  sie  sich  freuten  und  rühmten. 
Wie  eine  lastende  Nacht  erschien  ihnen  der  Polytheismus;  nun 
war  er  von  ihnen  genommen;  die  helle  Sonne  stand  aniEümmel! 
Wohin  sie  auch  schauten,  alles  empfing  durch  den  geistigen 
Monotheismus,  empfing  von  dem  lebendigen  Gott  Klarheit  und 
Gewißheit.      Man    lese    den    I.  Clemensbrief-    oder    den    Anfano; 


*)  Über  die  „Vollkommenen"  s.  o.  S.  186.  Sie  bilden  für  Paulus  eine 
besondere  Kategorie.  Die  Unterscheidung  ist  dann  namentlich  von  den 
Alexandrinern  scharf  ausgeprägt  und  eine  christliche  Lehre  für  die  Voll- 
kommenen (die  , Wissenden"),  eine  andere  für  die  Gläubigen  ausgebildet 
worden.  Auch  von  Christus  selbst  erzählte  man  in  Alexandrien  fnicht  nur 
bei  den  Gnostikern) .  daß  er  eine  Geheimlehre  für  die  Vollkommenen  seinen 
vertrauten  Aposteln  übergeben  und  für  ihre  Fortpflanzung  gesorgt  habe, 
s.  Clemens  Alex,  bei  Euseb. ,  h.  e.  II,  1 :  'la/iwßoj  ro)  diy.aicp  y.ai  'Icodwi]  xal 
IHtqco  /.lETOL  rtjv  äväoxaoiv  jraoiÖMxev  rr/v  yvcöaiv  6  xvQiog ,  ovxoc  roTg  XoiTcoig 
äjioarö/Mig  :iaoEÖwy.av  y.iX. 
-)  Besonders  c.  19  ff. 
Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  13 


•194  Di^  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

der  clomentiiiisclieii  Predigt^  oder  den  Barnabasbrief -  üdcr  liöre 
die  Apologeten  oder  studiere  den  alexandrinischen  Clemens  und 
Origcnos.  Sie  richten  ihren  Blick  auf  die  IS'atur  und  freuen  sich 
der  gesetzmäßigen  Einheit  ihrer  Bewegung:  Himmel  und  Erde 
sind  ihnen  Zeugen  der  Einheit  und  Allmacht  Gottes.  Sie  blicken 
auf  die  Anlagen  und  die  Ausstattung  des  Menschen  und  schauen 
in  ihnen  die  Züge  des  Schöpfers.  Sie  preisen  in  der  Vernunft 
und  Freiheit  des  Menschen  seine  unermeßliche  Güte.  Sie  ver- 
gleichen die  Offenbarungen  Gottes,  den  göttlichen  ^Yillen.  mit 
dieser  Yernunft  und  Freiheit,  und  siehe  da  —  alles  stimmt  har- 
monisch zAisammen:  nichts  wird  dem  Menschen  auferlegt,  was 
nicht  schon  in  ihm  liegt,  nichts  offenbart,  was  nicht  bereits  in 
seinem  inneren  Bestände  gegeben  ist.  Die  lange  verschüttete 
natürliche  Religion,  die  Religion  jusTa  /jjyov  ist  wieder  aufgedeckt^! 
Sie  blicken  auf  Christus,  und  wie  Schuppen  fällt  es  von  ihren 
Augen:  das  was  in  ihm  tätig  war,  ist  der  Logos,  derselbe  Logos, 
durch  den  die  Welt  geschaffen  ist,  mit  dem  das  geistige  Teil  des 
Menschen  durch  ein  geheimnisvolles  Band  unlöslich  verbunden  ist, 
der  in  der  Geschichte  gewirkt  hat,  in  allen  Guten  und  Edlen,  der 
zuletzt  notwendig  seine  ganze  Kraft  off'enbaren  mußte,  damit  alle 
Hemmungen  und  Störungen  schwänden,  in  die  der  Mensch,  das 
so  herrlich  geschaffene,  aber  so  schwache  Wesen,  geraten  war. 
Sie  blicken  endlich  auf  den  Lauf  der  Geschichte,  auf  den  Anfang, 
die  Mitte  und  das  Ende,  und  alles  strebt  zusammen,  vereinigt 
sich  zu  einem  herrlichen  Aufstieg  und  zu  einem  noch  herrlicheren 
Abschluß.  Die  kreatürliche  Freiheit,  den  Yerlockungen  der  Dä- 
monen vmterliegend,  hat  Störungen  angerichtet,  aber  sie  werden 
allmählich  durch  die  Kraft  des  Logos -Christus  überwunden:  an 
dem  Anfang  der  Geschichte  stand  eine  kindliche  Menschheit,  voll 
guter,  göttlicher  Anlagen,  aber  noch  unerprobt  und  der  Yersuchung 
zugänglich :  an  ihrem  Ende  wird  eine  vollendete  Menschheit  stehen, 
fähig  und  würdig,  in  die  Unsterblichkeit  einzugehen.  Yernunft, 
Freiheit  und  unsterbliches  Wesen  werden  Recht  behalten  gegen- 
über Irrtum,  Yerfehlung  und  Yerderbnis. 

Das  war  das  Christentum  vieler,  eine  helle,  freudige  Sache, 
die  Lehre  der  reinen  Yernunft.  Nicht  Last  für  den  Verstand  war 
die  luuie  Lehre,  sondern  Befreiung.  Nichts  Fremdes  trägt  sie 
der  Yernunft  zu,  sondern  klärt  sie  über  ihren  eigenen  verdunkelten 


^)  II  Cleni.  l,4f!'. :  tÖ  rpöig  {]fuv  gyanlaazo  .  .  .  .T>;oot  ovxFg  zf/  Öiavoia  zrooo- 
y.vvovrre:;  lldovi;  y.al  ^v).a  xal  yQvoov  xai  ägytujoy  xai  ya'/.y.ov ,  roya  m'Oooinov 
.  .  .  afiuvQfoatv  ovv  jtfQiy.gifiFvoi  aal  roiavTij;  Ay'/.voc;  vkiiovifc  h'  t/]  ixjäoFi.  aveßlf:- 
ipaftEv.     Ähnliche  Stellen  sind  sehr  häufig. 

-)  Man  vgl.  das  erste  Ka])itel  und  c.  2,  2  f. 

^)  Vgl.  .Justins  Apologie,  Tertullians  Traktat  de  testimonio  animae  u.  a. 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Älysterieu  etc.      195 

Inhalt  auf.  Das  Christentum  ist  göttliche  Offenbarung, 
aber  es  ist  zugleich  die  reine  Vernunft,  die  wahre  Phi- 
losophie. 

So  liaben  es  die  meisten  Apologeten  erfaßt:  sie  haben  zu 
zeigen  versucht,  daß  der  gesammte  Inhalt  des  Christentums  sich 
diesem  Gedanken  unterordnet.  Was  sich  nicht  fügte,  das  schlössen 
sie  aus,  aber  verwarfen  es  nicht,  sondern  deuteten  es  vermittelst 
der  ,. wissenschaftlichen"  Methode,  nämlich  der  pneumatisch- 
allegorischen, um  oder  stellten  es  in  den  großen  Beweisapparat 
ein  (den  AYeissagungsbeweis).  Was  sachlich  wertlos  oder  an- 
stößig erschien,  -^lu-de  so  ent^\-eder  weggeräumt  oder  erhielt  einen 
formalen  Wert  als  Bestandteil  eines  frappierenden,  die  Göttlich- 
keit des  Christentimis  bestätigenden  Beweises.  Es  ist  hier  nicht 
möglich,  im  einzelnen  die  vernünftige  Philosophie,  die  so  entstand, 
zu  entwickeln  ^ ;  aber  es  genügt  auch  für  unsere  Zwecke ,  zu 
konstatieren,  daß  es  eine  hervorragende  Gruppe  von  christlichen 
Lehrern  bis  zum  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  —  denn  auch  Lac- 
tantius  gehört  zu  ihnen  —  gegeben  hat.  die  das  Christentum  in 
dieser  Weise  gefaßt  haben.  Sie  haben  sich  als  Apologeten  und 
auch  als  Lehrer  vom  Katheder  herab  eifrig  an  der  Mission  be- 
teiligt: Justin  hatte  z.B.  seine  „Schule",  ebenso  Tatian^.  Auch 
die  Hoftheologen  in  der  Umgebung  Constantins  huldigten  dieser 
Denkweise.  Die  Erlasse  des  Kaisers,  wo  sie  auf  das  Christentum 
eingehen,  und  vor  allem  seine  Rede  an  den  Syllogus  der  Heiligen 
sind  von  ihr  getränkt -^  Eusebius.  wenn  er  die  neue  Religion  dem 
großen  Publikum  verständlich  machen  will,  schildert  er  sie  als  die 
Religion  der  Vernunft  und  der  Klarheit:  man  lese  das  erste  Buch 
der  Kirchengeschichte    und    die   Vita   Constantini    samt  Zubehör. 


^)  In  meinem  Lehrbuch  der  Dogniengeschichte  Bd.  I  ^  S.  462 — 507  habe 
ich  versucht,  sie  darzulegen. 

-)  S.  die  Acta  mart.  Justini  und  seine  Apologie.  Von  Tatian  wissen 
wir.  daß  er  den  Rhodon  zum  Schüler  gehabt  hat  (Euseb.  V,  1-3). 

^:  Die  „Rede"  Constantins  ist  vielleicht  —  auch  abgesehen  von  ihrem 
Autor  —  die  eindrucksvollste  Apologie,  die  geschrieben  worden  ist  ( über  ihre 
Echtheit  s.  meine  Chronologie  Bd.  2  S.  116  f.  und  Wendland,  Philol. 
Wochenschr.  1902  Nr.  8),  eindrucksvoll  für  halbgebildete  Leser,  d.  h.  für  das 
gebildete  Publikum,  wie  es  damals  war.  Sehr  wirkungsvoll  ist  es,  wie  als 
SchlußefFekt  die  (gefälschte)  Sibyllenweissagung  und  die  (interpolierte)  Ekloge 
A'ergils  verwendet  und  die  Regierung  des  Kaisers  in  Kontrast  zu  den  fi'üheren 
Regierungen  gesetzt  wii-d.  Das  hier  vorgeführte  Christentum  ist  exklusiv  — 
selbst  Socrates  findet  keine  Gnade,  und  Plato  wird  nicht  nur  gelobt,  sondern 
auch  hart  getadelt  (c.  9)  —  und  ist  doch  mit  dem  Neuplatonismus  vermählt. 
Der  Sohn  Gottes  ist  als  solcher  und  als  Christus  stark  in  den  Vordergrund 
geschoben;  er  ist  Gott,  Gottes  Sohn  und  Held  eines  wahrhaftigen  ^Mythus 
zugleich.  Alles  aber  erscheint  in  einer  gewissen  spekulativen  Schwebe,  der 
eine  echauffierte,  blumenreiche,  aller  Schärfe  enuangelnde  Sprache  entspricht. 


[9()  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

„Supranaturalistische  Rationalisten"  könnte  man  mit  einem  Kunst- 
ausdruck der  modernen  Kirchengeschichte  alle  diese  einflußreichen 
Lehrer  nennen;  sofern  aber  die  Offenbarung  etwas  Stetiges  ist, 
was  mit  der  Schöpfung  begonnen,  niemals  gefehlt  hat  und  sich 
harmonisch  der  menschlichen  Anlage  anschmiegt,  ist  im  Grunde 
der  Ausdruck  „supranaturalistisch"  kaum  am  Platze.  Ein  reiner 
religiöser  Rationalismus  entstand  hier,  begleitet  von  einem  eigen- 
tümlichen Geschichtsbilde,  dessen  letzte  zukünftige  Erscheinvmgen 
freilich  zu  dem  gemessenen  Verlaufe  der  früheren  nicht  recht 
paßten.  Justin,  Commodian  und  Lactantius  belehren  ims,  wie  man 
den  rationalistischen  Moralismus  mit  der  alten  Apokalyptik  zu- 
sammengeschweißt hat,  ohne  an  der  Stilmischung,  die  so  entstand, 
Anstoß  zu  nehmen. 

3. 

Indessen  Autorität  und  Vernunft,  blinder  Glaube  und  helle 
Erkenntnis,  sie  umfassen  noch  nicht  alle  Formen,  in  denen  das 
Christentum  vorgetragen  wurde.  Dieses  Zeitalter,  in  seiner  geisti- 
gen Haltimg  und  seinen  religiösen  Bedürfnissen  so  mannigfaltig  zu- 
sammengesetzt, wollte  auch  im  Christentum  keine  Form  entbehren, 
die  Träger  eines  religiösen  Wertes  zu  sein  vermochte.  Und  die 
komplizierte  Epoche  machte  auch  den  einzelnen  in  seinen  Be- 
dürfnissen kompliziert.  Derselbe  Mann,  der  nach  einer  Autorität 
verlangte,  der  er  sich  blindlings  unterwerfen  wollte,  verlangte  oft 
gleichzeitig  nach  einer  vernünftigen  Religion,  und  wenn  er  beides 
erhalten  hatte,  war  er  noch  nicht  zufrieden,  sondern  begehrte 
Weiteres,  sinnliche  Unterpfänder,  die  ihm  das  Heilige  leibhaftig 
vorstellen  sollten,  und  Symbole  mit  geheimnisvollen  Kräften. 
Doch  —  war  es  nur  damals  so,  waren  es  nur  die  Menschen  jenes 
Zeitalters,  welche  nach  solchen  Dingen  strebten  ? 

Aus  der  Urzeit  der  christlichen  Religion  hatten  zwei  äußere 
heilige  Handlungen,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  die  Verkün- 
digung dieser  Religion  begleitet,  die  Taufe  und  die  Feier  des 
Abendmahls.  Was  sie  ursprünglich  bedeutet  haben  und  bedeuten 
sollten,  das  können  wir  beiseite  lassen.  Sobald  wir  sie  auf  heiden- 
christlichem Boden  sehen,  steht  ihre  Bedeutung  wesentlich  fest: 
es  sind  —  obgleich  der  christliche  Gottesdienst  ein  Dienst  im 
Geist  und  in  der  Wahrheit  sein  soll  —  effektive  heilige  Hand- 
lungen; sie  enthalten  Sündervergebung,  Erkenntnis  und  ewiges 
Lcljcn^  Gewiß,  die  Elemente  Wasser,  Brot  und  Wein  sind 
Symbole,  und  nicht  im  Äußeren  spielen  sich  die  Vorgänge  ab; 
aber  die  Symbole  bringen  der  Seele  das,  was  sie  bedeuten,  wirk- 


')  S.  das  Johanuesevangeliiun,    den  Johannesbrief  und  die  Apostollehre 
(AbcndmahLsgebete). 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      |97 

lieh.  Ein  jedes  Symbol  steht  mit  der  Sache,  die  es  l)odeutet, 
in  einem  mysteriösen,  aber  realen  Zusammenhang. 

Wasser,  Brot  und  Wein  als  heilige  Elemente,  Untertauchen 
in  das  Wasser,  damit  die  Seele  gebadet  und  gereinigt  werde, 
Brot  und  Wein  als  Leib  und  Blut,  als  Leib  und  Blut  Christi, 
als  Nahrung  der  Seele  zur  Unsterblichkeit,  Wasser  und  Blut  — 
diese  Sprache  verstand  das  Zeitalter.  Der  massive  Realist  ver- 
stand sie,  aber  der  sublimste  Spiritualist  verstand  sie  nicht  weniger. 
Die  beiden  sublimsten  Spiritualisten  der  Kirche,  Jo- 
hannes und  Origenes,  sind  die  tiefsinnigsten  Myste- 
rioso phen  gewesen,  und  die  großen  gnostischen  Theologen 
haben  ihre  abstraktesten  Theosopheme  an  realistische  Mysterien 
angeschlossen;  sie  alle  sind  Theologen  der  Sakramente. 
Christus  hat  die  Güter,  die  er  gebracht  hat,  an  Symbole  als  an 
Vehikel  und  Träger  angeschlossen,  ja  in  sie  versenkt:  wem  die 
Weihe  des  heiligen  Symbols  zu  teil  wird,  der  hat  damit  die 
Gnade.  Das  war  eine  von  unzähligen  Mysterien  her  geläufige 
Sache:  in  und  mit  der  körperlichen  Applikation  wird  die  Weihe, 
die  Gnade,  in  die  Seele  gegossen.  Es  ist  wie  eine  prästabilierte 
Harmonie,  nein,  die  Verbindung  ist  noch  inniger.  Der  Satz  der 
späteren  Scholastiker:  „Sacramenta  continent  gratiam",  ist  so  alt 
wie  die  Heidenkirche:  er  ist  noch  älter  als  sie;  er  war  längst 
da,  bevor  sie  existierte. 

Die  christliche  Religion  war  verständlich  und  eindrucksvoll, 
weil  sie  Sakramente  brachte  ^ ;    ohne    die  Mysterien  hätten  es  die 


')  Das  Abendmahl  als  Essen  und  Trinken  von  Fleisch  und  Blut  hat  frei- 
lich auch  manchen  abgestoßen.  Merkwürdig  ist  die  Kritik  des  heidnischen 
Philosophen  (Porphyrius)  bei  Macarius  Magnes  III,  15.  Das  Mysterium  des 
Abendmahls,  wie  es  die  Synoptiker  überliefern,  tastet  er  nicht  an,  aber  zu 
Joh.  6,  54  („Werdet  ihr  nicht  essen  mein  Fleisch  und  trinken  mein  Blut,  so 
habt  ihr  kein  Leben  in  euch")  bemerkt  er: 

,,Ist  denn  dies  nicht  tierisch  und  widersinnig,  ja  vielmehr  widersinniger 
als  aller  Widersinn  und  tierischer  als  tierische  Roheit,  daß  ein  Mensch 
Menschenfleisch  essen  und  seines  Stammesgenossen  und  Verwandten  Blut 
trinken  und  dafür  das  ewige  Leben  bekommen  soll  ?  [Man  erinnere  sich,  daß 
Porphyrius  Gegner  des  Fleisch-  und  Blutgenusses  überhaupt  war].  Denn 
sage  mir:  welch  größere  Roheit  könnt  ihr  noch,  wenn  ihr  dies  tut,  in  das 
Leben  einführen?  Welch  ein  Verbrechen  werdet  ihr  noch  auf))ringen,  das 
fluchbeladener  wäre  als  diese  ekelhafte  Ruchlosigkeit?  Das  Ohr  erträgt  es 
nicht,  ich  meine  noch  gar  nicht  die  Handlung,  sondern  nicht  einmal  den 
Namen  dieses  völlig  unerhörten  fremdartigen  Frevels.  Nicht  einmal  die 
Phantasiegebilde  der  Erinyen  haben  jemals ,  selbst  in  außergewöhnlicher 
Lage,  den  Menschen  solche  Schuld  vorgespiegelt;  nicht  einmal  die  Potidäer 
hätten,  wenn  nicht  unmenschlicher  Hunger  sie  entkräftet  hätte,  dergleichen 
zugelassen.  Von  einem  Thyestesmahl  freilich  weiß  man,  usw.  [es  folgen  ähn- 
liche Beispiele  aus  dem  Altertum].  Alle  diese  haben,  ohne  es  zu  wollen, 
solchen  Frevel  begangen.     Niemand  aber  hat  je,  im  Frieden  lebend,  solchen 


198  r'i*^  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Menschen  schwer  gehabt,  sich  in  sie  zu  finden.  AMe  sie  ge- 
kommen sind,  wer  kann  das  sagen?  Niemand  ist  schnldig  und 
niemand  verantwortlich.  Wäre  zufällig  die  Taufe  nicht  ange- 
ordnet gewesen,  wäre  die  Wiederholung  der  Feier  des  Abend- 
mahls nicht  eingerichtet  worden  —  und  wer  kann  behaupten, 
daß  sie  notwendig  aus  dem  Wesen  des  Evangeliums  flössen?  — , 
so  hätte  man  aus  einem  Gleichnis  Jesu,  aus  einem  Wort,  aus 
irgend  einer  Handlung  ein  Sakrament  gemacht.  Die  Zeit  der 
dinglichen  und  gar  der  blutigen  Opfer  war  zunächst  vorüber,  sie 
vermißte  man  an  den  Religionen  nicht  mehr;  aber  die  Zeit  der 
Sakramente  w-ar  längst  nicht  vorüber,  sondern  stand  in  Kraft  und 
Blüte.  Jede  Hand,  die  sich  nach  der  Religion  ausstreckte,  suchte 
sie  in  der  Form  des  Sakraments  zu  ergreifen:  das  Auge  sah 
Sakramente,  wo  doch  keine  waren,  und  die  Sinne  schufen  sie  ^. 
Wasser  und  Blut,  Brot  und  AVein  —  der  Apostel  Paulus  ist 
gewiß  kein  Sakramentstheologe  gewesen,  aber  ganz  hat  auch  er 
sich  nicht  diesen  Mysterien  zu  entziehen  vermocht:  man  lese  das 
11.  Kapitel  des  I.  Corintherbriefs  und  erwiige,  wie  er  über  das 
Taufbad  spekuliert  hat.  Aber  er  ist  der  erste  und  fast  der  letzte 
Theologe  der  alten  Kirche  gewesen  2,  bei  dem  die  Sakraments- 
theologie wirklich  niedergehalten  wird  durch  klare  Gedanken  und 


Tisch  angerichtet;  niemand  hat  je  von  einem  Lehrer  so  greuliche  Lehre 
empfangen.  Und  wenn  du  mit  deinen  Erkundigungen  bis  nach  Scythien 
kämest  und  zu  den  äthiopischen  Macrobiern,  und  wenn  du  rings  um  den 
Rand  des  Ozeans  reiten  wolltest,  so  wirst  du  Völker  finden,  die  Läuse  und 
Wurzeln  essen,  und  solche,  die  von  Schlangen  leben  und  Mäuse  speisen,  des 
Menschenfleisches  aber  enthalten  sich  alle.  Was  bedeutet  nun  dieses  WortV 
Denn  wenn  es  auch  einen  mehr  allegorisch-mystischen  und  er- 
sprießlichen Sinn  haben  sollte,  so  muß  doch  der  bloße  Klang  des 
Wortes,    wenn   er  au  das  Ohr  dringt,    die  Seele  beleidigen  und  durch  seine 

Widerlichkeit  in   Aufruhr  versetzen Freilich,    viele   Lehrer  suchen 

Xeues  und  Fremdartiges  aufzubringen.  Doch  keiner  unter  ihnen  hat  eine 
so  fremdartige,  schreckliche  Vorschrift  erfunden  wie  diese,  kein  Geschicht- 
schreiber, kein  Philosoph,  keiner  unter  den  Barbaren,  keiner  unter  den 
Hellenen  der  früheren  Zeit.  Seht  nun  her,  was  ist  euch  aiigekoninien ,  daß 
ihr  die  Leichtgläubigen  unverständig  ermahnt,  solchem  Glauben  zu  folgen"? 
Seht  her,  welches  Unheil  nicht  nur  gegen  die  Dörfer,  sondern  auch  gegen 
die  Städte  in  wildem  Zuge  heranstürmt!  Deshalb,  glaube  ich,  hat  dies  auch 
weder  Marcus  noch  Lucas  noch  selbst  Matthäus  erzählt,  weil  sie  eben  der 
Meinung  waren,  daß  dies  Wort  gesitteter  Menschen  nicht  würdig,  sondern 
ganz  fremdartig  und  unpassend  sei  und  von  edler  Lebensgewohnheit  weit 
entfernt." 

^)  Spätestens  seit  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts  ist  dann  die  Arkan- 
disziplin  teils  aus  liädagogischeu  Gründen,  teils  nach  heidnischem  .Muster 
über  die  Sakramente  gezogen  worden;  sie  machte  dieselben  noch  wichtiger 
und  eindrucksvoller. 

-j  Nicht  der  letzte ;  denn  Marcion  und  seine  Schüler  scheinen  keine 
Sakramentstheologen  gewesen  zu  sein. 


Die  Religion  der  Autorität  uiul  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      199 

dui'ch  rein  geistige  Reflexionen.  Xach  ihm  sind  bereits  alle 
Schleusen  geöffnet,  und  die  Mysterien  —  mit  ihnen  die  Mysterio- 
sophie  —  strömten  ein.  Bei  Ignatius,  sechzig  Jahre  nach  Paulus, 
ist  bereits  die  ganze  helle  Theologie  in  sie  hineingezogen  imd 
verschlungen.  Ein  Mann  wie  Pseudobarnabas  glaubt  das  Tiefste 
zu  sagen,  wenn  er  seine  Gedanken  an  das  Wasser,  das  Blut  und 
das  Kreuz  anschließt.  Und  der,  welcher  die  geheimnisvollen 
Worte  geschrieben  hat:  „Drei  sind,  die  da  zeugen,  der  Geist  und 
das  Wasser  und  das  Blut,  und  diese  drei  sind  eins"  (I  Joh.  5,  S), 
lebt  in  seinen  Gedanken  in  Syniibolen  und  Mysterien.  In  der 
„Offenbarung"  sind  die  Symbole  sämtlich  nicht  das,  was  wir 
Symbole  nennen,  sondern  halbe  Realitäten,  das  Lamm  imd  das 
Blut,  das  Waschen  und  das  Besprengen,  das  Siegel  und  die  Ver- 
siegelimg.  Manches  ist  uns  heute  noch  verborgen.  Was  bedeuten 
die  Worte  (I  Joh.  2,  27)  vom  Chrisma  und  zwar  vom  „Chrisma", 
welches  so  vollkommene  Belehrung  über  alles  bringt,  daß  man 
weiterer  Lehre  überhaupt  nicht  bedarf? 

Aber  wie  —  ist  Johannes  nicht  durch  und  durch  Spiritualist, 
ist  es  ürigenes  nicht  auch  und  Yalentin  und  Basilides?  Wie  kann 
man  da  behaupten,  daß  ihre  Realismen  etwas  anderes  für  sie  ge- 
wesen seien  als  pure  Symbole?  Bei  Johannes  kann  man  diese 
Meinung  mit  einem  gewissen  Scheine  verteidigen,  weil  wir  nicht 
den  ganzen  Mann  kennen,  sondern  nur  den  Schriftsteller,  und 
auch  den  nur  einseitig;  denn  unmöglich  kann  Johannes  immer 
nur  so  gesprochen  und  geschrieben  haben,  wie  in  den  uns  er- 
haltenen Schriften;  aber  in  bezug  auf  alle  anderen,  sofern  wir 
sie  von  mancherlei  Seiten  kennen,  ist  die  Meinung  unhaltbar. 
Man  kann  das  an  Clemens  und  Origenes  studieren,  die  uns  aus- 
reichend bekannt  sind.  Die  Vereinigung  des  mysteriösen,  realisti- 
schen Elements  mit  dem  spiritualistischen  ist  ihnen  deshalb  mög- 
lich, weil  sie  überhaupt  keine  Religionsphilosophie,  die  auf  eine 
Fläche  übertragen  werden  kami,  haben,  sondern  eine  solche 
übereinander  liegender  Stockwerke^.  Auf  der  höchsten 
Stufe  verschwindet  allerdings  alles  Realistische,  ja  verschwinden 
selbst  alle  geistigen  Mittelwerte  und  -potenzen.  sogar  der  Logos, 
"Übrig  bleiben  nur  Gott  und  die  ihm  stammverwandten  Seelen, 
die  sich  gegenseitig  in  ihrem  Wiesen  erkennen  imd  lieben  und  so 
in  eins  aufgehen.  Allein  bis  man  zu  diesem  Abschluß  gelangt, 
ist  eine  Stufenleiter  zu  erklimmen.  Jeder  Stufe  entsprechen  be- 
sondere Potenzen  und  daher  auch  eine  eigene  Theologie,  Meta- 
physik und  Ethik.  Auf  der  untersten  Stufe  steht  die  Religion  in 
mythologischer  Form  und  mit  den  Sakramenten,    deren  geistiger 


')  Sie  teilen  diesen  Aufbau  mit  den  idealistischen  Philosophen  ihrer  Zeit. 


200  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Wert  noch  gar  nicht  erkannt  ist.  Aber  auch  sie  ist  ihnen 
nicht  Lüge,  sondern  Wahrheit;  sie  entspricht  einer  ])estimmten 
seelischen  Verfassung  und  genügt  für  diese;  denn  sie  beseligt 
sie.  Die  christliche  Religion  ist  also  bereits  auf  dieser  Stufe 
Wahrheit.  Später  fällt  das  alles  weg  und  fällt  nicht  weg.  Es 
fällt  weg,  weil  es  überholt  ist;  es  fällt  nicht  weg,  weil  es  die 
Brüder  noch  brauchen,  und  weil  die  unterste  Stufe  einer  Leiter 
überhaupt  nicht  entfernt  werden  kann,  ohne  die  ganze  Leiter  zu 
gefährden. 

Nach  dieser  kurzen  Skizze  muß  man  die  Bedeutung  der 
realistischen  Sakramentstheologie  für  die  Spiritualisten  zu  erkennen 
versuchen.  Männer  wie  Origenes  sind,  von  unserem  Standpunkt 
aus,  die  abschreckendsten  Sakraments-,  Blut-  und  Entsühnungs- 
Theologen  gewesen.  Mit  und  in  diesen  Theorien  haben  sie  auch 
einen  großen  Teil  des  Polytheismus  durch  eine  Hintertür  wieder 
in  die  christliche  Theologie  gebracht;  denn  in  den  unteren  und 
mittleren  Stockwerken  waren  Engel  und  Erzengel,  Äonen,  Halb- 
götter und  Nothelfer  aller  Art  nötig '  —  aus  kosmologischen  und 
soteriologischen  Gründen,  denn  diese  entsprechen  sich  wie  der 
Weg  AB  und  der  Weg  BA^.  Vor  allem  aber  konnte  die  Theo- 
logie dabei  jedem  noch  so  leisen  Druck  der  populären  Religion 
folgen,  und  hier  liegt  wohl  die  letzte  Enthüllung  dieses  seltsamen 
Geheimnisses.  Die  Mysterien-  und  Stockwerk-Theologie  bot  das 
bequemste  Mittel,  den  geistigen  Charakter  der  Religion  auf  der 
obersten  Stufe  zu  wahren  und  auf  den  unteren  jeden  erwünschten 
Kompromiß  zu  schließen.  Mit  Bewußtsein  ist  das  schwerlich  ge- 
schehen, es  machte  sich  von  selbst:  deim  mit  dem  ersten  Ansatz, 
mit  der  Aufnahme  von  Sakramenten,  war  keimhaft  schon  alles 
gegeben  ^. 

')  Eine  beträchtliche  Zeit  hindurch  war  es  ein  gegen  die  Juden  ge- 
richteter Vorwurf  der  Christen,  daß  sie  Engeldienst  trieben  (Praedic.  Petri 
bei  Clemens,  Strom.  VI,  5;  Aristides,  Apol.  14;  auch  Celsus  weiß  um  den  Vor- 
wurf; Engeldienst  wohl  auch  bei  den  im  Colosserbrief  bekämpften  Irrlehrern). 
Später  ist  dieser  Vorwurf  gegen  die  Christen  selbst  zu  erheben;  aber  schon 
Justin  hat  unvorsichtigerweise  Apol.  I,  G  geschrieben:  [rdr  &F6r]  y.al  tov  .t«o' 
avrov  vlov  F?.dörta  y.al  Öiöuiarra  yfiä?  xavxa  xal  rov  TÖ)r  a/.lon'  sjro/ih'MV  y.a'i 
tio/icnov/ih'Oiv  äyadöyv  6.yyf?.cov  argaröv,  Ttvsv/id  re  ro  jTQOQiijityöv  [die  letzten 
vier  Worte  werden  von  einigen  für  interpoliert  gehalten]  asßö/isOa  xai  jtqoo- 
y-wov/ier. 

'^)  S.  über  den  „Abstieg"  und  „Aufstieg"  Anz,  Zur  Frage  nach  dem 
Urs])rung  des  Gnostizismus,  in  den  Texten  u.  Unters.  Bd.  15  Heft  4,  1897. 

*)  Auch  die  Idee,  daß  es  Opfer  und  Priester  geben  müsse,  ist  von  An- 
fang an  im  Heidenchristeutum  vorhanden  gewesen  —  auch  damals  schon,  als 
man  mit  Paulus  nur  von  geistigen  Opfern  und  dem  allgemeinen  Priestertum 
der  Gläubigen  etwas  wissen  wollte;  s.  Justin,  Dial.  116:  ov  ÖEy/rai.  jratj  ovösvdg 
'övoiag  6  i'Jgög,  el  /li/  Öiä  röjv  isQsiov  avzov. 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      201 

Dies  sind  die  sublimen  Theologen;  bei  den  weniger  sublimen 
fallen  die  Stockwerke  fort,  und  die  sakramentalen  Elemente  werden 
plump  und  ungefüge  einfach  in  die  Religion  eingestellt.  Man  lese 
doch,  wie  schon  Justin,  der  Rationalist,  im  55.  Kapitel  seiner 
Apologie  vom  „Kreuz"  spricht:  eine  stärkere  Superstition  ist  kaum 
denkbar.  Man  erwäge,  wie  Tertullian  (de  bapt.  1)  vom  „Wasser" 
spricht  und  seiner  Affinität  mit  dem  heiligen  Geist.  Man  über- 
zeuge sich,  daß  alle  Christen  einhellig  dem  bloßen  Aussprechen 
des  Namens  Jesu  und  dem  Kreuzeszeichen  eine  magische  Gewalt, 
besonders  über  die  Dämonen,  beilegen;  man  lese,  welche  Ge- 
schichten Dionysius  von  Alexandrien,  ein  Origenesschüler,  vom 
Abendmahl  erzählt,  und  was  Cyprian  über  die  Mirakel  der  Hostie 
zu  berichten  weiß.  Zählt  man  diese  Züge  und  viele  ähnliche  zu- 
sammen, so  glaubt  man  urteilen  zu  müssen,  das  ganze  Christen- 
tum sei  eine  Zauberreligion  und  seine  sakramentalen  Mysterien  die 
Hauptsache  gewesen.  „Ab  initio  sie  non  erat"  wird  man  ein- 
wenden. Das  mag  sein,  aber  es  muß  weit  zurückliegen,  so  weit, 
daß  wir  diese  Periode  von  äußerster  Kürze  gar  nicht  mehr  auf- 
zufinden vermögen. 

Ursprünglich  waren  Wasser,  Brot,  Wein  (Leib  und  Blut),  der 
Name  Jesu  und  das  Kreuz  die  einzigen  Sakramente,  Taufe  und 
Abendmahl  die  einzigen  Mysterien;  aber  dabei  konnte  es  nicht 
bleiben.  Alle  Sakramente  drängen  auf  Yermehrung,  aus  ver- 
schiedenen Gründen,  auch  aus  philosophischen.  So  kamen  schon 
in  unserer  Periode  Sakramentalien  hinzu,  Salbungen  und  Hand- 
auflegungen, heiliges  Öl  usw.  Allein  das  Wichtigste  war,  daß  der 
ganze  Gottesdienst  in  das  Mysterienwesen  allmählich  hineingezogen 
wurde.  Bereits  im  dritten  Jahrhundert  konnte  er  mit  seinem 
feierlichen  und  strengen  Ritual,  seinen  Priestern,  Opfern  und 
heiligen  Zeremonien  mit  dem  pompösesten  heidnischen  Kultus 
rivalisieren. 

Indessen  diese  Erscheinungen  düi'fen  nicht  nur  vom  Stand- 
punkt des  Puritanismus  aus  betrachtet  werden.  Jede  Zeit  muß 
die  Religion  so  fassen  und  aufnehmen,  wie  sie  sie  allein  verstehen 
und  für  sich  lebendig  machen  kann.  Wenn  die  Züge  der  christ- 
lichen Religion,  die  wir  in  den  vorhergehenden  Kapiteln  geschil- 
dert haben,  zu  Recht  bestehen  bleiben,  wenn  sie  die  Religion 
Gottes  des  Vaters,  die  Religion  von  dem  Heilande  und  der  Hei- 
lung, der  Liebe  und  der  Hilfleistung  blieb,  so  war  es  vielleicht 
ein  Schaden,  aber  gewiß  kein  unerträglicher,  daß  sie  die  Formen 
annahm,  welche  die  Religion  damals  überhaupt  hatte.  Religion 
wächst  wie  alles  Lebendige  nur  in  Rinden,  und  destillierte  Reli- 
gion ist  überhaupt  keine;  aber  noch  etwas  anderes  kommt  in 
Betracht. 


2()2  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Wir  liaben  oben  gesehen,  daß  in  einigen  Lehrern  von  hohem 
Einfluß  —  haben  sie  doch  die  ganze  kirchliche  Theologie  be- 
gründet —  der  Trieb  und  das  Absehen  mächtig  gewesen  ist,  die 
christliche  Religion  rational  zu  fassen  und  sie  als  die  vernünf- 
tige Religion  darzustellen.  Für  die  Mission  und  Verbreitung  des 
Christentums  war  das  von  hoher  Bedeutung.  Diese  Lehrer  traten 
sofort  in  den  Kampf  gegen  die  zeitgenössischen  Philosophen  und 
haben,  wie  das  Beispiel  des  Justin  zeigt,  auch  Streitunterredungen 
mit  ihnen  nicht  gescheut.  Sie  stellten  fest,  was  man  mit  Socrates, 
mit  Plato  und  der  Stoa  gemeinsam  habe,  zeigten,  wie  weit  man 
mit  ihnen  gehen  könne,  suchten  die  Übereinstimmungen  geschicht- 
lich zu  erklären  ^  und  begannen  so  die  große  Auseinandersetzung, 
die  unvermeidlich  war,  wollte  man  nicht  eine  kleine  Sekte  bleiben, 
die  sich  um  Kultur  und  Wissenschaft  nicht  kümmerte.  Allein, 
indem  man  bei  diesen  Auseinandersetzungen  rein  rational  verfuhr 
und  sich  in  den  Gedanken,  das  Christentum  sei  wasserklare  Ver- 
nunft, geradezu  verliebte,  gab  man,  ohne  es  zu  wollen,  wichtige 
christliche  Erkenntnisse  preis  oder  schob  sie  doch  zurück.  Man 
wurde  so  ärmer  und  verdünnte  den  christlichen  Glauben  in  be- 
denklicher Weise. 

Diese  Art  von  Erkenntnis  war  sicher  nicht  im  Sinne  des 
Paulus  und  entsprach  auch  nicht  der  Tiefe  der  christlichen  Reli- 
gion. Der  Apostel  hat  wohl  auch  einmal  rationale  Betrachtungen 
stoischer  Art  angewendet,  wenn  er  sie  für  die  Apologetik  brauchen 
konnte  (s,  die  ersten  Ausführungen  im  Römerbrief);  aber  an  sie 
dachte  er  schwerlich,  wenn  er  an  die  christliche  oocpla,  ovveoig, 
imoT)'j/i}j  und  yvwoig  dachte.  Etwas  ganz  anderes  schwebte  ihm 
da  vor  —  Vertiefung  in  das  Wesen  Gottes,  wie  es  in  Christus 
offenbar  geworden  ist,  fortschreitende  Erkenntnis  seines  Heils- 
willens, wie  er  sich  in  Offenbarung  und  Geschichte  kundgetan  hat, 
Einsicht  in  das  Wesen  der  Sünde,  in  die  Macht  der  Dämonen, 
„der  Geister  in  der  Luft",  in  die  Herrschaft  des  Todes,  über- 
schwengliche Erkenntnis  der  Gnade  Gottes  uiul  vorschauendes 
Wissen  um  das  ewige  Leben,  alles  in  allem  eine  Erkenntnis,  die 


')  Darin  waren  die  jüdischen  alexaudriuischen  Philosopben  vorange- 
gangen, und  man  brauchte  sie  eigentlich  nur  abzuschreiben;  aber  sie  boten 
verschiedene  Erklärungsversuche,  zwischen  denen  mau  zu  wählen  hatte.  Alle 
diese  Versuche  bis  auf  einen  Avaren  kindlich.  Angemessen  war  der  Versuch, 
die  Übereinstimmungen  aus  dem  Walten  desselben  Logos  zu  erklären,  der  in 
den  jüdischen  Profjheten  und  in  den  Philosophen  und  Dichtern  gewirkt  habe. 
Naiv  war  der  Versuch,  die  griechischen  Philosophen  und  Dichter  als  Plagia- 
toren zu  entlarven  —  aber  Celsus  hat  denselben  Versuch  inbezug  auf  Christus 
gewagt  — ;  naiv  und  fanatisch  war  das  Unternehmen,  alle  Überemstimmungen 
der  Philosophen  mit  der  christlichen  Lehre  für  Schein  und  Teufelswerk  aus- 
zugeben. 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      203 

hinaufsteigt  über  Throne,  Herrschaften  und  Fürstentümer  bis  zu 
Gott  selbst,  und  die  hinuntersteigt  bis  in  die  Abgründe,  aus  denen 
wir  errettet  sind,  die  der  Menschheitsgeschichte  nachdenkt  von 
Adam  bis  Christus,  und  die  zAigh^ich  zu  sagen  weiß,  was  Ghiube 
ist  und  was  Liebe,  was  Sünde  und  was  Gnade. 

Diese  Erkenntnisse  nun  —  so  paradox  das  zu  sein 
scheint  —  wurden  befruchtet  und  genährt  von  den 
Mysterien.  An  den  Mysterien  hafri^ten  sie  seit  alters;  mit  ihnen 
kamen  sie  herüber  von  dem  heidnisclien  Boden;  an  ihnen  wuchsen 
sie  und  entwickelten  sich  auf  dem  christlichen.  Es  war  damals 
so,  wie  es  später  im  IG.  und  17.  Jahrhundert  mit  den  Mysterien 
stand.  laicht  die  scholastischen  Rationalisten  trotz  allem  ihrem 
Scharfsinn  haben  die  Wissenschaft  gefördert  und  ihre  Neugeburt 
begründet,  sondern  die  Kabbalisten,  die  jS^aturphilosophen,  die 
Alchemisten  und  Astrologen.  Woher  kommt  das?  Wie  kann  sich 
an  den  Mysterien  solches  entwickeln?  Die  Antw^ort  ist  einfach: 
weil  sie  mit  dem  Gefülil  und  der  Phantasie  erfaßt  werden  und 
darum  beide  erregen  und  beleben  können.  Die  großen  Spekula- 
tionen der  synkretistischen  Religionsphilosophie,  deren  Grundzüge 
wir  oben  S.  25 ff.  angedeutet  haben,  waren  auf  dem  Grunde  von 
Mysterien  erbaut  worden  (d.  h.  auf  der  Phantasie  und  dem  Gefühl, 
deren  Hervorbringungen  man  durch  die  Spekulation  gestaltete). 
Die  Gnostiker,  welche  samt  und  sonders  keine  Rationalisten  waren, 
haben  den  Versuch  gemacht,  diese  lebendigen  und  warmen  Spe- 
kulationen auf  den  christlichen  Boden  überzuführen  und  doch  den 
Prinzipat  des  Evangeliums  aufrecht  zu  erhalten.  Dieser  Versuch 
konnte  nicht  glücken:  es  waren-  zuviel  Elemente  in  jenen  Spekula- 
tionen enthalten,  die  dem  christlichen  Geist  fremd  waren,  und  die 
er  sich  nicht  gefallen  lassen  konnte^.  Aber  als  einzelne  Stücke, 
gleichsam  zerschlagen  in  ihre  Elemente  —  indessen  die  einzelnen 
Elemente  sind  hier  vielleicht  das  Prius;  die  Verbindungen  sind 
später  —  konnten  sie  einer  produktiven,  christlichen  Religions- 
philosophie große  Dienste  leisten  und  haben  sie  geleistet.  Was 
an  tieferen  Gedanken  seit  dem  Ende  des  1.  Jahrhunderts  in  der 
Christenheit  produziert  worden  ist,  alle  die  transzendentalen  Er- 
kenntnisse,  alle   die  versuchten  Ideen,   die   doch   wertvoller   sind 

^)  Zu  ihnen  gehörte  die  Trennung  des  Schöpfergottes  (Deniiurgen)  und 
des  Erlösergottes  (die  Erlösung  entspricht  nicht  der  Schöpfung,  sondern  der 
Emanation),  die  Preisgabe  des  Alten  Testaments  und  seines  Gottes,  die  dua- 
listische Entgegensetzung  von  Geist  imd  Leib,  die  Zerspaltung  der  Erlöser- 
persönlichkeit usw.  Vor  allem  aber  —  für  den  Synkretisten  und  den  Gnostiker 
war  die  Erlösung  Auflösung  des  widernatürlich  Verbundenen,  für  den  Christen 
Vei-bindung  des  widernatürlich  Getrennten.  Von  letzterem  Erlösungsbegriif 
konnte  die  Christenheit  nicht  lassen,  wollte  sie  nicht  alles  umstürzen,  und 
er  allein  entsprach  der  Monarchie  Gottes. 


204  Die  Missiouspredigt  in  Wort  uud  Tat. 

als  logische  Deduktionen,  das  stammt  zu  einem  großen  Teile 
aus  dem  Kontakt  mit  der  alten  Mysterienweisheit.  Sie  hat  tiefe 
Gedanken  entbunden  und  zur  Aussprache  gebracht.  Weder  kann 
man  sie  bei  Johannes  verkennen  noch  bei  Ignatius  noch  bei 
Irenäus;  am  deutlichsten  ist  sie  bei  den  großen  Alexandrinern. 
Wertvolles  und  Wertloses,  rein  Phantastisches  und  Bleibendes, 
was  nicht  mehr  verloren  gehen  kann,  wogen  freilich  überall  durch- 
einander; am  wenigsten  bei  Johannes,  der  namentlich  auch  in  der 
Form  hohe  Einheitlichkeit  gefunden  hat.  Wer  im  Empirismus 
oder  in  der  Rationalität  die  auch  nicht  versuchsweise  zu  über- 
schreitenden Grenzen  der  Erkenntnis  sieht,  wird  freilich  diesen 
Ideen  wenig  Geschmack  abgewinnen:  wer  aber  versuchte  Ideen 
für  wertvoller  hält  als  prinzipielle  Ideenlosigkeit,  wird  an  der  an 
den  Mysterien  erwachsenen  Geistesarbeit  der  alten  Lehrer  nicht 
vorübergehen  wollen.  Gewiß  ist  jedenfalls,  daß  diese  Seite  am 
Christentum,  die  auch  fast  von  der  Geburtsstunde  an  entwickelt 
worden  ist,  für  die  Propaganda  von  höchster  Pedeutung  war. 
Daß  es  seine  Geheimnisse  hatte,  in  sie  einzudringen  suchte,  um 
sie  dann  wieder  still  zu  verehren,  daß  es  den  Vollkommenen  noch 
mehr  und  anderes  predigte  als  den  Einfältigen,  gab  ihm  eine 
besondere  Würde.  Mochten  die  Geheimnisse,  was  unverkennbar 
ist,  auf  Tausende  abstumpfend  wirken  und  ihnen  den  Zugang  zu 
der  geistigen  Religion  versperren:  auf  andere  wirkten  sie  belebend 
und  beflügelten  ihren  Aufstieg  in  die  übersinnliche  Welt^. 

Den  Aufstig  in  die  übersinnliche  Welt,  die  Vergottung 
(deoTiohjoiq)  —  das  war  das  letzte  und  höchste  Wort,  und  daß 
die  christliche  Religion  diese  jedem  Gläubigen  verhieß,  war  ihre 
größte  Botschaft.  Man  weiß,  wie  sich  in  der  Zeit  der  antiken 
Götterdämmerung  alles  auf  sie  zugespitzt  hat.  Eben  deshalb  mußte 
eine  Religion,    welche   die  Vergottung  nicht  nur  lehrte,    sondern 

^)  Mit  dieser  relativen  Schätzung  der  Spekulation  ist  das  Äußerste  kon- 
zediert, was  hier  konzediert  werden  kann.  Die  Behauptung  aber,  jene  „christ- 
liche" Metaphysik,  welche  sich  allmählich  aus  unzähligen  fremden  Erkennt- 
nissen gebildet  hat,  die  an  das  Evangelium  herangerückt  worden  sind,  sei 
die  höchste  Blüte  des  Christentums,  ja  sein  eigentlicher  Kern,  —  ist  nur 
durch  ihr  hohes  Alter  ehrwürdig.  Wäre  sie  richtig,  so  wäre  Jesus  Christus 
nicht  der  Stifter  dieser  Religion,  ja  nicht  einmal  der  Vorläufer;  denn  weder 
hat  er  eine  Religionsphilosophie  ottenl>art,  noch  hat  er  auf  solche  Dinge 
Wert  gelegt,  die  auf  diesem  Standimnkte  als  die  Hauptsache  gelten.  Schon 
sehr  frühe  freilich  haben  die  Griechen  das  paulinische  Wort  vergessen:  sx 
fihjovg  ytvo'joHo/iEv  ....  ß?Jjio/m'  ;•«(>  uqti  ÖC  koöjttqov  iv  alriy/iiari ,  sie  haben 
auch  vergessen,  daß  ynootg  und  aot^iia  Charismen  sind,  ihr  Ertrag  also  nicht 
das  Wesen  des  Christentums  bezeichnen  kann.  Unter  den  liervorragenden 
Lehrern  sind  sich  nur  Marciou,  Apelles  uud  z.  T.  auch  Irenäus  der  Schranken 
der  Erkenntnis  bewußt  s^eblieben. 


Die  Religion  der  Autorität  und  der  Vernunft,  der  Mysterien  etc.      205 

bewirkte  —  und  zwar  ohne  Einschränkung,  auch  das  Fleisch  nicht 
ausschließend  —  die  größten  Erfolge  haben.  Die  neuere  Dogmen- 
geschichte hat  gezeigt,  daß  die  christliche  Lehrentwicklung  bis 
zu  Irenäus  unter  dem  Gesichtspunkt  betrachtet  werden  muß,  wie 
in  das  Christentum  der  Vergottimgsgedanke  —  der  älteste  Wunsch 
und  Traum  der  Antike,  dessen  Unerfüllbarkeit  einen  tiefen  Schatten 
auf  ihr  Fühlen  imd  Leben  gelegt  hat  —  eindringt  und  die  Richt- 
linien dieser  Religion  imiändert,  um  dann  alles  zu  beherrschen^. 
Seine  urchristliche  Vorstufe  ist  die  Verheißung  der  Teilnahme  an 
dem  zukünftigen  Grottesreich.  Man  ahnt  auf  dieser  Stufe  noch 
nicht,  was  sich  mit  dieser  Verheißung  verschmelzen  und  sie  trans- 
formieren wird.  Aber  schon  bei  Paulus  tritt  neben  den  Gedanken 
des  Gottesreichs  der  des  ewigen  Lebens  in  der  doppelten 
AVendung,  daß  es  in  der  Rechtfertigung  bez.  im  Geiste  gegeben 
sei  (als  unauflösliche  innere  Verbindung  mit  der  Liebe  Gottes), 
und  daß  es  durch  heilige  Medien  als  neue  Natur  bereits  ein- 
ströme. Der  vierte  Evangelist  hat  diesen  Doppelgedanken  noch 
lebendiger  erfaßt,  souveräner  gestaltet  und  die  geistige  und 
physische  Immanenz  des  ewigen  Lebens  den  Gläubigen  verkündet. 
Aber  noch  überwiegt  für  ihn  in  der  Einheit  der  Gläubigen  mit 
dem  Sohne  und  dem  Vater  das  Moment  der  Liebe  gegenüber 
dem  Moment  einer  naturhaften  Transmutation.  Darum  kommt  er 
auch  nur  bis  an  die  Grenze  des  Gedankens :  „Wir  sind  Götter 
geworden."  Der  Ausdruck  „Kinder  Gottes"  erscheint  ihm  noch 
immer  der  treifendere.  Auch  die  Apologeten  lassen  noch  den 
Vergottimgsgedanken  hinter  dem  der  vollen  Erkenntnis  Gottes 
zurücktreten"^.  Aber  aus  der  großen  Epoche,  in  der  der  „Gnosticis- 
mus"  bekämpft  und  rezipiert  worden  ist,  tritt  die  Kirche  mit  dem 
sicheren  Erwerbe  heraus,  daß  sie  die  Vergottimg  als  den  eigent- 
lichen Ertrag  der  christlichen  Religion  erkennt  und  verkündigt. 
Wenn  sie  von  der  „adoptio"  durch  Gott,  von  der  „participatio 
dei"  usw.  spricht,  meint  sie  zwar  immer  auch  noch  eine  geistige 
Verbindung,  aber  diese  hat  ihre  Unterlage  und  Wirklichkeit  an 
einer  sakramentalen,  physischen  Neuschöpfimg:  „non  ab  initio 
dii  facti  sumus,  sed  primo  quidem  homines,  tunc  demum  dii." 
So  sprach  R-enäus^,  und  so  verkündigten  die  christlichen  Lehrer 
nach  ihm.  „Der  Hölle  wirst  du  entfliehen,  wenn  du  die  Kenntnis 
des  wahren  Gottes  gewonnen  hast;  du  wirst  den  Leib  unsterblich 
haben    und    unvergänglich    zusammen    mit    der    Seele    und    das 


1)  S.  meine  Dogmengesch.  Bd.  l^  naruentlich  S.  516  ff. 
-)  Doch  s.  Justin,  Dial.  124,   welches  die   Parallelstelle   zu  der  großen 
Ausführung  im  Johannes-Ev.  10,  33  ff.  ist. 

3)  S.  IV,  38.  4  und  an  vielen  Stellen. 


206  D^6  Missioiisiiredigt  in  Wort  und  Tat. 

Himmelreich  erlialteii:  du,  der  du  auf  Erden  g-eletjt  und  den 
himmlischen  König  erkannt  hast,  wirst  ein  Freund  Gottes  und  ein 
Miterbe  Christi  sein,  den  Begierden.  Leiden  und  Krankheiten 
nicht  mehr  verhaftet.  Denn  du  l)ist  zum  Gott  geworden  .  .  . 
und  alles,  was  zum  Gott-sein  gehört,  das  hat  Gott  dir  zu  ge- 
währen versprochen,  weil  du.  unsterblich  geworden,  nun  vergottet 
bist^''  Das  ist  die  Botschaft,  die  ein  Jeder  verstand  und  die 
nicht  überboten  werden  konnte. 


Das  Christentum  ist  OflFenbarung.  die  geglaubt  sein  will:  es 
ist  Autorität,  der  man  gehorchen  muß:  es  ist  die  vernünftige 
Religion,  die  man  wissen  und  beweisen  kann:  es  ist  die  Religion 
der  Mysterien,  der  Sakramente:  es  ist  die  Religion  der  trans- 
cendentalen  Erkenntnisse :  es  ist  die  Religion  der  Yergottung  und 
des  ewigen  Lebens :  so  wurde  sie  verkündigt  —  nicht  als  ob  der 
eine  Missionar  nur  diese,  der  andere  nur  jene  Seite  zum  Ausdruck 
gebracht  hätte:  die  Darstellungen  wogten  durcheinander,  wenn 
auch  bald  dies,  bald  jenes  von  dem  einzelnen  })evorzugt  wurde. 
Mit  Erstaunen  vertieft  man  sich  in  eine  solche  Missionspredigt. 
und  doch  waren  die,  welche  sie  verkündigten,  jeden  Augenblick 
bereit,  in  das  Bekenntnis  „Ein  Gott  Himmels  und  der  Erde,  und 
Jesus  der  Herr"  ihren  ganzen  Glauben  zu  legen  mid  alles  andere 
zurückzustellen. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten 

Geschlecht  (das  geschichtliche  und  politische  Bewußtsein 

der  Christenheit). 

1. 
Das  Evangelium  wurde  als  das  vollendete  Judentum,  als  eine 
neue  Religion  und  als  die  wiederhergestellte  und  auf  einen  ab- 
schließenden Ausdruck  gebrachte  Urreligion  zugleich  verkündigt, 
und  zwar  war  es  nicht  nur  ein  einzelner,  dialektisch  vcraidagter 
^fissionar.  der  es  in  dieser  di-eifaehcn  Gestalt  predigte,  sondern 
diese  Darstellung  trat  in  allen  ausführlicheren  Missionspredigten 
mehr  oder  mindei-  deutlich  hervor.  In  der  Überzeugung,  daß 
Jesus,    der    Lehrer    und    l^rophet .    auch    der    Me'ssias    sei.    der 

')  Jlippol.,  Philos.  X,  34.    Vijl.  Pseudo-IIippol^'t ,  Theopli.  8:  f''  uüävnToc 
ytyovfv  6  äi'ßocojzn:;,  mrai  y.al  ßsöc:. 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      207 

demnächst  wiederkomineu  ^vor(lo .  um  sein  Werk  zu  vollenden, 
wandelte  sich  das  ]5cwußtsein,  seine  Schüler  /.u  scnn.  in  das 
andere,  sein  A'olk,  das  Yolk  Gottes,  zu  sein:  vjjieTg  yevo-;  by.hy.röv, 
ßaoileiov  leodTsvjna,  süvog  äyiov,  Xaog  dg  7iEoi7ioh]oiv  (IVeh'.i^S)). 
Sofern  man  sich  aber  als  Yolk  fühlte,  wußte  man  sich  als  das 
^Yahre  Israel,  als  das  neue  Yolk  und  als  das  alte  zugleich. 

Diese  Überzeugung.  Yolk  zu  sein  (d.  h.  die  Überleitung  aller 
Prärogative  und  Ansprüche  des  jüdischen  Yolks  auf  die  neue 
Gemeinde  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Xeuschöpfung .  die  das 
Alte  und  Ursprüngliche  enthüllte  und  in  Kraft  setzte),  gab  den 
Bekennen!  des  neuen  Glaubens  sofort  ein  politisch-historisches 
Bewußtsein  und  zwar  das  umfassendste,  vollkommenste  und  ein- 
drucksvollste, das  sich  denken  läßt.  Oder  läßt  sich  etwas  Höheres 
und  Umfassenderes  vorstellen  als  der  Komplex  der  Momente,  die 
in  der  Selbstschätzung  „Wahres  Israel",  ,,Neues  Yolk".  „Ursprüng- 
liches Yolk".  „Yolk  der  Zukunft  d.  h.  der  Ewigkeit"  gegeben 
waren?  In  dieser  Selbstschätzung  war  man  gegen  alle  Einwürfe 
und  Wendungen  der  Polemik  gesichert  und  konnte  auf  allen 
Linien  zum  Eroberungskampfe  vorschreiten.  Lautete  der  Yor- 
wurf:  „Ihr  seid  abgefallene  Juden",  so  entgegnete  man:  „Y'ir 
sind  die  Gemeinde  des  Messias,  also  die  wahren  Israeliten."  Hieß 
es:  „Ihr  seid  nichts  anders  als  Juden",  so  lautete  die  Antwort: 
„Wir  sind  eine  neue  Schöpfung  und  ein  neues  Yolk."  Warf  man 
ihnen  umgekehrt  ihre  I^euheit  vor  mid  daß  sie  von  gestern  seien, 
so  replizierte  man :  „Wir  sind  nur  scheinbar  das  jüngere  Yolk : 
latent  waren  wir  von  Anfang  an  und  vor  allen  Yölkern  stets  vor- 
handen: wir  sind  das  L^rvolk  Gottes."  Sagte  man  ihnen:  „Ihr 
verdient  nicht  zu  leben",  so  lautete  die  Antwort:  „Y'ir  wollen 
sterben,  um  zu  leben;  denn  wir  sind  Bürger  der  zukünftigen  Y'elt 
und  sind  unsrer  Auferstehung  gewiß." 

Im  besonderen  aber  waren  es  noch  einige  ganz  bestimmte 
Überzeugungen  universaler  Art,  die  bereits  die  ältesten  Christeji 
aus  dem  Schatze  der  judäocentrischen  Geschichtsbeti-achtimg  über- 
nahmen und  auf  sich  anwendeten:  (1)  Unser  Yolk  ist  älter  als 
die  Welt,  (2)  Die  Welt  ist  um  unsertwillen  geschaffen^,  (3)  Die 
Welt  wird  um  unsertwillen  erhalten  —  wir  verzögern  das  Welt- 
gericht — ,  (4)  Alles  in  der  Welt  ist  uns  Untertan  und  muß  uns 
dienen.  (5)  Alles  in  der  Welt  —  Anfang,  Mitte  und  Ende  der 
Geschichte  —  ist  uns  offenbart  und  für  uns  durchsichtig.  (6)  Wir 
werden  am  Weltgericht  beteiligt  sein  und  selbst  ewige  Freude 
genießen.    In  verschiedenen  urchristlichen  Schriften,  noch  vor  der 


')  In  diesen  beiden  Überzeugungen  vindizierten  sich   die  Christen  eine 
überweltliche  Stellung  und  verbanden  Schöpfung  und  Geschichte. 


208  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

Mitte  des  2.  Jahrhunderts,  sind  diese  Überzeugungen  zum  Aus- 
druck gekommen,  in  Predigten,  Apokalypsen.  Briefen  und  Apo- 
logien^, und  Celsus  hat  seine  grimme  Verachtung  der  unver- 
schämten und  lächerlichen  Anmaßungen  der  Christen  an  keinem 
anderen  Punkte  so  schneidend  zum  Ausdruck  gebracht  wie  hier^. 

Wußten  sich  aber  die  Christen  als  das  neue  und  alte  Volk, 
so  genügte  es  nicht,  daß  sie  dieses  Bewußtsein  nur  dem  Juden- 
tum gegenüber  hervorkehrten  und  mit  ihm  über  den  Besitz  der 
Verheißungen  und  des  heiligen  Buches  stritten^;  auf  den  Boden 
des  griechisch-römischen  Reichs  gestellt,  mußten  sie  sich  mit 
diesem  und  seinem  „Volke"  auseinandersetzen.  Dies  hat  bereits 
der  Apostel  Paulus  getan,  und  andere  sind  ihm  gefolgt. 

Paulus,  wenn  er  die  Menschheit  gliedert,  spricht  wohl  ein- 
mal (Rom.  1,  14)  neben  Juden  von  „Griechen  und  Barbaren"  und 
ein  anderesmal  (Col.  3,  11)  von  „Barbaren  und  Skythen"  neben 
Griechen,  aber  als  geborenem  Juden  und  Pharisäer  ist  ihm  die 
Zweiteilung  der  Menschen  am  geläufigsten  —  Beschnittene  und 
Unbeschnittene;    die    letzteren    nennt    er    kurzwea;    „Griechen*." 


^)  Man  vgl.  die  Panlusbriefe,  die  Johannes- Apokalypse,  den  Hirten  des 
Hermas  (Vis.  II,  4, 1),  den  IL  C'lemenslirief  (c.  14),  die  Ai^ologieu  des  Aristides 
und  Justin  (II,  7).    Ähnliche  Ausführungen  früher  in  den  jüdischen  Apokalypsen. 

^)  Er  weiß  sehr  wohl,  daß  diese  Anmaßungen  den  Juden  und  Christen 
gemeinsam  sind,  daß  also  diese  sie  von  jenen  übernommen  haben  und  beide 
sich  um  den  rechtmäßigen  Besitz  streiten.  Mera  zavra  —  so  referiert  Origenes 
C.  Geis.  IV,  23  —  Gvvrydxog  mtnü)  yshov  tu  'lovÖakov  xai  XQianm'cbr  yevog  jiävTag 
jTUQußtßh]XE  rr<>{T8Qidcov  oQfiaÖiö  l)  f^ivQfifj^cv  in  xaXiäg  jiQoeXdovoiv  1}  ßargäy^oig 
negl  Tsk/iia  Gi'veÖQevovatv  i)  axcoXaj^iv  fv  ßogßÖQOu  ycovia  e^oihjaia^ovoi  aal  jrgog 
aV.rjXovg  Siaq^sgofievoig,  rivsg  mnön'  eisr  äfiagrcokörsgot,  xal  qKtaxovan'  ort  Jidvra 
i'jfMV  6  Oeug  jrgoSrjkoT  xai  nQOxarayyfXXei,  xai  xbv  nävxa  xöofiov  xal  rtjv  ovQaviov 
(pOQuv  äjtoXiTicov  xai  trjt'  Tooavxrjv  yrjv  nagidcov  tj/tüv  fiövoig  jioXixsvEzai  xai  jTQog 
rjfiäg  fu'ivovg  iJicxrjgvxevsxai.  xai  jTt/itsT(ov  ov  SiaXeiJiet  xai  ^rjxcöv,  ojtcog  uel  gvvcö- 
fiev  avxfo.  xai  iv  X(o  ärajiXäofiaxi  ye  iavxov  jiagajrXrjotai'g  tj/^iäg  jzoiel  ox(X)Xt]^i, 
(püoxovoiv  oxi  6  {JEog  taxiv ,  sixa  fA.ex.''  exeivov  tjfiEig  vji'  avxov  yFyovÖTeg  Jim'xr] 
ilfioioi  TM  ßsM,  xai  t/fiTv  nuvxa  vjioiießXr]xai,  yrj  xai  vScog  xai  d>/Q  xai  uorga,  xai 
t//j,(öv  fvexa  jiävxa,  xai  rj/iTv  öovXevsiv  xexaxrai.  Xeyotiai  Öe  ri  nag'  avtco  oi  axco- 
XrjXEg,  rj/iFig  h^]Xa<irj,  oxi  vvv,  ijisidtj  xivsg  (sv)  i'jfiTv  jiXijft/nEXovaiv,  dqyi^Exai  ßsog 
■}}  7iE(.iip£i  xov  viöv,  Iva  xaxacpXe^fj  xovg  uöt'xovg  xai  oi  Xoinol  avv  avxü)  Corp' 
aionnov  K-^co/iiet'.  xai  ijiKpigei  ys  Jtäoiv  oxi  xavxa  (^(mXXov)  drfxxh  axcoX/jxcor  xai 
ßuxgäxtov  t}  'Iov(iaio)v  xai  Xgiaxiavtov  ngog  dXXt'jXovg  f^iatptgofiEVoir. 

*)  Dieser  Streit  füllt  die  Geschichte  der  ersten  Generationen  und  reichte 
noch  weit  über  sie  hinaus.  Obgleich  die  Position,  welche  die  Christen  in 
ihm  einzunehmen  hatten,  in  den  Grundzügen  sicher  vorgezeichnet  war,  waren 
doch  noch  verschiedene  Stellungen  möglich,  s.  meine  Abhandlung  in  dem 
o.  Heft  des  1.  Bandes  der  „Texte  u.  Unters."  (1883)  über  die  antijüdische 
Polemik  der  alten  Kirche. 

■*)  Auch  an  der  ColossersteUc  steht  der  geläufige  Ausdruck  ^"E/.Xyr  xai 
'loväaTog,  jiegixoi.u/  xai  dxgoßvGzia'^  voran;  dann  folgen  ßdgßagog,  ^xvüijg,  <)ov- 
Xog,  iXemlsgog  als  rhetorische  Erweiterung. 


Die  Botschaft  von  dorn  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      209 

Diesen  beiden  „Yölkonr'  setzt  er  die  Kirche  Christi  als  neue 
Schöpfung  zur  Seite  bez.  gegenüber  (cf.  z.  ]i.  I  Cor.  10,  32: 
äjTQony.fh-Toi  y.al  "lovöaioig  yiveode  xai  "FAh]oiv  y.al  tTj  ly.xhjola  rov 
-^eov).  Aber  er  begnügt  sich  nicht  mit  der  Gfegenüberstelhing, 
sondern  sofort  faßt  er  die  neue  Schöpfung  als  diejenige  in  das 
Auge,  welche  Juden  und  Griechen  in  sich  aufnehmen,  und  in  der 
der  Unterschied  beider  Völker  in  einer  höheren  Einheit  aufgehoben 
werden  soll.  Das  christliche  Volk  ist  ihm  nicht  ein  drittes  neben 
den  anderen,  sondern  es  ist  die  neue  Stufe  der  Menschheits- 
geschichte an  ihrem  Endpunkte,  die  an  die  Stelle  der  früheren, 
zweigeteilten  Stufe  zn  treten  hat  und  nicht  nur  die  volkstümlichen 
Unterschiede,  sondern  auch  die  sozialen,  ja,  sogar  die  geschlecht- 
lichen, aufhebt  bez.  unwirksam  macht  ^.  Man  vgl.  z.  B.  Gal.  3,  28: 
OVH  EVI  "lovdnlo^  ovöt  "EXh]r,  ovk  f'ri  agoer  y.al  drjXv'  ndvTeq  yäg 
vjueig  elg  iors  iv  Äo(oto)  'Ljoov  ,  oder  Gal.  5,  G:  iv  Xqigtcp  'I)]oov 
ovre  TTegtro/uy  rt  lox^ei  ovxe  axgoßvoTia,  d/JA  tiiotiq  di'  äydjii^g 
ivegyovjuevy  (cf.  G,  15:  olhe  yug  JiegirojU)'j  n  eonv  ovze  äxgoßvoTta, 
äXXd  y.aivij  y.rioig  und  IE  Cor.  5,  17).  I  Cor.  12,  13:  iv  evl  TTv&vjiiaTi 
i]jU€Tg  Tiärxeg  eig  tv  oojua  ißajiTioOijfiev,  ehe  'lovdaToi  etre  "EXhp'eg, 
eize  öovXoi  ehe  eXev'&egoi.  Coloss.  3,  1 1 :  ojtov  ovy.  evl  "E?d>jv  xal 
'lovdaTog,  TregiTOin)  xal  dygoßvoria,  ßugßagog ,  ^y.vd}]g,  öovX^og, 
i/iEvdegog.      Am    eindrucksvollsten  Eph.  2,    1  1  ff. :    jiivi]jiioveveTe   ort 

TIOTE     VUEig      TU     £&V)j    .    .    .      /^Tf     Ujl}]X?i.0Tgi(Ofi£V0l      T/)s      TToXlTElüg      TOV 

'loga/jX  ....  (6  Xgiorog)  eotiv  fj  Eig))vrj  tjjlicov,  6  Tron'joag  rd  d/LKpö- 
TEga  Et'  y.al  rd  fiEOOToiyov  tov  (pgayfiov  Xvoag  ,  .  .  Tva  rohg  dvo 
XTiotj  Ev  avro)  elg  k'va  y.aivbv  dvßgcoTiov  Tzoicdv  Etgt'ivijv,  xal  utio- 
xaTaX.Xd^f]  lovg  djiiq^orEgovg  iv  evI  ocb/iiaTi.  Im  Römerbrief  end- 
lich (c.  9  — 11)  eröffnet  Paulus  eine  geschieh tsphilosophische 
Betrachtung,  nach  welcher  das  neue  Volk,  welches  seine 
Vorgeschichte  in  Israel  gehabt  hat,  nun  nach  der  VerStockung 
Israels  die  Heidenwelt  in  sich  aufnimmt,  am  Ende  der  Dinge 
aber  neben  dem  „jrAj/gw/^a  tcoi'  idvwv"  auch  „:Tng  "loga/]?,"  um- 
fassen wird. 

Griechen  (Heiden),    Juden    und    das    neue    Volk    der 
Christen    (bestimmt   die   beiden   ersten  in  sich  anfzunehmen)  — 


^)  Die  Vorstellung  der  neuen  Menschheit  gegenüber  der  alten  (also  eine 
Zweiteilung)  hat  ihre  kräftigste  Wurzel  an  der  Vorstellung  vom  Christus  als 
dem  zweiten  Adam.  Diese  Konzeption  spielt  bekanntlich  in  der  Gedanken- 
welt des  Paulus  eine  große  Rolle;  sie  ist  aber  nicht  zuerst  von  ihm  vor- 
getragen worden,  sondern  hatte  bereits  in  der  jüdischen  messianischen  Dog- 
matik  eine  Stelle.  Bei  Paulus  und  anderen  kreuzt  sich  die  Vorstellung  von 
einer  Zweiteilung  mit  der  einer  Dreiteilung  der  Menschheit;  beide  Vorstel- 
lungen stimmen  aber  darin  überein,  daß  in  der  neuen  Menschheit  die  ältere 
aufgehoben  sein  soll. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  14 


2[0  Die  ^lissionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

diese  Dreiteilung  ist  fortan  in  der  altchristlichen  Literatur  geläufig. 
Einige  Beispiele  sollen  das  belegen^: 

Der  4.  Evangelist  läßt  Christus  sprechen  (10,  16):  y.al  äXla 
jiQoßara  e'yo)  ä  ovx  eoiiv  Ix  tTj^  avkrjg  ravT)]g'  xäxeTra  del  jue 
äyayelr,  y.al  T)~jg  9  wr/yg  fiov  äxovoovaiv,  xnl  yer)]oovTai  nla  jrolfivr], 
elq  jToiuyjv,  und  in  einer  tiefsinnigen  prophetischen  Wendung  (4,  21  f.): 
eoyejai.  cooa  ote  ovte  ev  rrö  öosi  tovxco  (dem  der  Samaritaner,  die 
hier  als  Repräsentanten  der  Heiden  gelten)  ovre  ev  'hooooXv^ioig 
jiooaxvv/jOHTe  tm  nargi.  v/ueig  Jtooaxvveire  o  ovx  oldaie,  fj/LisTg 
jiQOOXvvov/isv  o  ofdafier,  oti  t)  oMTr]gia  ex  Ton''IovdaiO)v  eoriV  dXkd 
eoyiErai  öjoa  xnl  rvr  eonv,  ore  oi  nh]&ivol  7iQooxvvi]Tal  jiQooxvvtj- 
oovoiv  TCO  tiqtqI  h  nvEVfian  xal  dh]&eia.  Diese  Stelle  ist  deshalb 
so  wichtig,  weil  sie  über  eine  bloß  formale  Einteilung  hinausgeht 
und  die  drei  möglichen  rehgiösen  Standpunkte  sachlich  und  auf 
die  Yölker  verteilt  beschreibt:  Unwissenheit  in  bezug  auf  die 
Gottheit  und  falsche,  weil  äußerliche  Gottesverehrung  =  Heiden 
(Samaritaner);  richtige  Gotteserkenntnis,  aber  falsche,  äußerliche 
Gottesverehrung  =  Juden;  richtige  Gotteserkenntnis  und  richtige, 
weil  innerliche  Gottesverehrung  =  Christen.  Diese  Beti-achtung 
hat  den  Anlaß  zu  vielen  ähnlichen  in  der  alten  Christenheit  ge- 
gegeben   oder    ist    doch    die    älteste    in    einer    Reihe    verwandter, 


')  In  ]>ezu(?  auf  die  Christen  als  das  neue  Volk  s.  den  Hirten  des  Hermas, 
Barnab.  5,  7:  (Xgioiog)  iavtiT}  rov  }m6v  tov  y.aivov  ezoi/idC(ov;  7,  5:  (XgtoTog) 
Vjtsq  dfiaQTiojv  fieXloiv  tov  laov  tov  xaivov  jtooo'peQsiv  ri]v  oägy.a;  lo,  6:  ß/Jjiszs 
....  TOV  Xaov  TovTov  [das  neue,  scheinbar  junge]  sh'ai  jiqojtov.  II  Clem.  ad 
Cor.  2,  3 :  fQr]fio?  iööxst  sivai  djzo  tov  ■&eov  6  Xaöi;  r)/i<x>r,  vvvi  Ss  :iioTEvaaviF.g 
■TAffors?  sysvöfisda  tmv  doy.ovvTwv  e'xeiv  &e6v.  Ignat.  ad  Ephes.  19.  20.  Aristides, 
Apol.  16:  „Wahrlich,  dieses  Volk  ist  ein  neues,  und  eine  göttliche  Mischung 
ist  in  ihm."  .Justin,  Dial.  119:  yftgtg  ov  /^löror  Aaog  äXXä  xal  Xaog  äytög  iofisv 
.  .  .  ovfi  £vxara(pQÖvr}rog  dfjfwg  iofifv  ov6e  ßaQßaoov  cfivXov  oi'dk  ojioTa  Kagwv  i] 
^Qvywv  e&vy].  Orac.  öibyll.  1,388  f.:  ßXaoTog  viog  dv&i^oeiev  i^  s&von:  Neues 
Geschlecht  heißen  die  Christen  auch  bei  Bardesaues.  Clemens,  Paedag.  I,  5,  15 
zu  Sach.  9,  9:  ovx  i'joxEi  t6  jiwX.ov  siQijxh'ai  /lörov,  dXX.ä  xal  tö  rsov  :ioooe&r]XEV 
avTto ,  Typ'  Iv  XoiOTM  veoXaiav  Ttjg  dv&oojjiÖTijTng  ....  hiqmiviov.  I,  5,  20:  vioi 
6  Xaog  6  xaivog  jrQog  dvTiötaoToXJjv  tov  jigsoßvTeoov  Xaov  tol  via  /la&övTsg  dya&d. 
1,7,58:  xal  yäg  fjv  wg  dXrjüwg  diu  f.ii-v  Mwvaicog  Tiaidaycoyog  o  xvQiog  rov  Xaov 
TOV  jialaLOV ,  6C  aviov  Öe  tov  vsov  xadrjysucbv  Xaov,  jiQÖoa>Jiov  Jigog  Ttooawnov. 
Der  Terminus  „Neues  Volk"  ist  im  Altertum  noch  lange  beibehalten  worden, 
s.  z.B.  Constantiu,  Ad  s.  coetum  19:  xazd  XQdvov  tov  Tißegiov  tj  tov  aonrjoog 
f^i/.a/iipe  :iagovo{a  ....  »/  tf.  via  tov  dt'jfiov  biaboyj]  ovvioTi],  xtX.  Andererseits 
Sind  die  Christen  auch  die  „non-gens",  weil  sie  keine  Nation  sind;  s.  Orig. 
Hötü'.'I  in  Psalm.  36  t.  12  p.  155:  „Nos  sumus  ,non  geus'  [Deuter.  32,  21|,  qui 
päuci-'ex  ista  civitate  credimus  et  alii  ex  alia,  et  nusquam  gens  integra  ab 
ißitib  'crödulitatis  videtur  assumpta.  non  enim  sicut  ludaeorum  gens  erat 
tel  Aegyptiorum  gens  ita  etiam  Christianorum  genus  geus  est  una  vel  in- 
tegm,  sed  iiparsim  ex  singulis  gentibus  congregantur."  —  Die  Christen  als 
6in  ' eigenartiges  „genus"  oder  als  das  genus  der  wahrhaft  Frommen:  Mart. 
Polyc.  3:    >)    ycvvuiöztjg    tov    CaocptXovg    xal    Oeooeßovg    yivovg    zwv   XgtoTtavwv, 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      2 1  I 

durch  Avelche  die  altchristliclic  religionsgeschichtliche  Spekulation 
begründet  worden  ist.  Namentlich  die  sogenannten  „Gnostiker" 
sind  es  gewesen,  welche  ihre  Systeme  geradezu  auf  religions- 
geschichtliche Betrachtungen  dieser  Art  auferbaut  haben.  In  den- 
selben erscheinen  bald  die  Griechen  (Heiden),  Juden  und  Christen 
als  die  Stufen,  bald  werden  die  beiden  ersten  zusammengenommen, 
die  Christen  aber  in  psychische  und  pneumatische  gespalten;  end- 
lich erscheint  auch  eine  Yierteilung  in  Griechen  (Heiden),  Juden, 
Kirchenleute  und  Pneumatiker  ^  Religionsgeschichtliche  Speku- 
lationen lagen  damals,  als  die  Religionen  sich  wendeten,  in  der 
Luft,  und  selbst  in  untergeordneten  und  phantastisch  verwilderten 
Religionssystemen  finden  sie  sich  -.  Doch  kehren  wir  zu  den 
Schriftstellern  der  großen  Kirche  und  ihrer  Dreiteilung  zurück. 

In  einer  urchristlichen  Schrift  aus  dem  Anfang  des  2.  Jahr- 
hunderts, von  der  wir  leider  nur  wenige  Bruchstücke  besitzen  — 
der  Praedicatio  Petri  —  (bei  Clemens  Alex.,  Strom.  VI,  5,  41)  werden 
die  Christen  davor  gewarnt,  ihre  Gottesverehrung  nach  dem  Muster 
der  griechischen  oder  der  jüdischen  einzurichten  (f.ü]  y.ard  rov^ 
"EXh]vag  oeßeo&E  rov  &e6v  .  .  .  urjöe  y.arä  'lovdaiovg  oeßeoße).  Dann 
heißt  es:  coote  y.al  v/uElg  öoiojg  y.al  diy.aiojg  /lavddvovrEg  ä  jiaoa- 
diöouEV  vfäv,  ffvldoo£o&£,  y.aivcög  rov  üeov  diä  rov  Xoioiov  OEßo- 
uEvoi.  EVQOi-iEV  ydo  £V  laTg  yoaq)aig  y.a&oog  6  y.vgtog  ksyEi'  idov 
öiaTi&Ejiiat,    vjxTv    y.aivijv    diadi)yi]v   ohi   (hg   diE&£.fX}]v   roig   naxQäoiv 

VUCOV     EV     ÖOEl    XojQ}']ß.        VE  UV    VJUIV     ÖlE&ETO ,     TU     yäo    'EXh'jVOJV    xal 

^lovdaicov    7ia)Mia. ,     vfislg     öe    ol    xaivcög    avxov    roizco    yivei 

1.  c.  14:  Tiäv  zö  yevog  nov  dixaiojv  (Mai't.  Iguatii  Antioch.  2:  rö  züJi'  XoioTiar<Zv 
ßsoosßsg  yevog).  Melito  bei  Euseb.,  h.  e.  IV,  26,  5:  rö  rwv  &£oaeßcöy  yevog. 
Arnob.  1,1:  „C'hristiana  gens."  Pseudo-Josephus,  testim.  de  Christo:  t6  rpvlov 
Tcov  XoiOTiarojv.  Orac  Sibyll.  IV,  336:  evoeßecov  cpv'/.ov,  etc.  Die  Idee  des 
neuen  und  zugleich  universalen  Volkes  konflagrierte  bei  einigen  gebildeten 
Christen  mit  der  stoischen  Idee  des  Kosmopolitismus,  so  bei  Tertullian,  der 
mehr  als  einmal  erklärt  hat,  daß  die  Christen  nur  einen  Staat  anerkennen, 
die  Welt.  Ebenso  schreibt  Tatian  (Orat.  28):  Tr]g  Tiag'  v/uTv  xazsyvcov  vofio- 
üeotag  ■  ui'av  /.lev  yao  t/^ofjv  eivai  xal  xoivljy  djidvzojv  zljv  jio?.izeiav.  Der  demo- 
kratisch-kosmopolitische Zug  des  Christentums  ist  der  Propaganda  in  den 
mittleren  und  untex-en  .'i-chichten,  vor  allem  in  den  Provinzen,  gewiß  höchst 
förderlich  gewesen.  Die  religiöse  Gleichstellung  wurde  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  auch  als  politisch -sozial  empfunden. 

1)  Wie  sich  bei  den  Gnostikern  diese  ethnologisch -religiöse  Einteilung 
der  Menschheit  mit  der  psychologisch- religiösen  (Hyliker.  Psychiker  und 
Pneumatiker)  kreuzt  und  ausgleicht,  darauf  kann  hier  nicht  eingegangen 
werden. 

-)  In  bezug  auf  das  Religionsäystem  der  Anhänger  des  Simon  Magus 
hat  uns  Irenäus  die  abgerissene  und  dunkle  Mitteilung  gemacht  (I,  2),  Simon 
habe  gelehrt,  „semetipsum  esse  qui  inter  Judaeos  quidem  quasi  filius  ap- 
paruerit,  in  Samaria  autem  quasi  pater  desceuderit.  in  reliquis  vero  gentibus 
quasi  Spiritus  sanctus  adventaverit". 

14* 


2l2  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

oeßo/ievoi  XgcoTtavoi^.  Auch  dieser  Verfasser  unterscheidet  alsa 
„Griechen,  Juden,  Christen",  und  er  unterscheidet  sie,  wie  der 
4,  Evangelist,  nach  Maßgabe  der  Gotteserkenntnis  und  der  Gottes- 
verehrung. Das  Bemerkenswerte  ist  aber,  daß  er  ganz  bestimmt 
drei  Arten  feststellt,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  und  das 
Christentum  ausdrücklich  als  das  neue,  dritte  genus  der  Gottes- 
verehrung bezeichnet.  Das  ist  die  älteste  Stelle  unter  einigen 
ähnlichen,  die  uns  noch  beschäftigen  werden;  doch  ist  zu  beachten, 
daß  hier  die  Christen  selbst  noch  nicht  „das  dritte  Geschlecht" 
heißen,  sondern  ihre  Gottesverehrung  als  die  dritte  gilt.  Nicht 
in  drei  Yölker  teilt  unser  Verfasser  die  Menschheit,  sondern  in 
drei  Klassen  von  Gottesverehrern. 

Dasselbe  tut  der  unbekannte  Verfasser  des  Briefs  an  den 
Diognet;  aber  bestimmter  führt  er  bereits  die  Vorstellung  von  drei 
Klassen  von  Gottesverehrern  in  die  von  drei  Völkern  über  (Xgi- 
OTiavol  ovTE  Tovg  vofiii^o/ih'ovg  vno  röyv  "" KXh'ivwv  ßeohg  loyi'QovTnt 
oihe  ri]v  ^lovdnUov  deiotdatjiioviav  cpv?j'woovoi  ....  xnl  tI  dijjxore 
yjuvav  TOVTO  y£vog  i)  £nLTi/)öevf.ia  etofjWev  etg  top  fliov  rvt'  y.al 
ov  TtgoTsgov,  cf.  c.  5:  vtto  'lovÖauov  cog  uXloqvXoi  7iolFf.iovvTai  xal 
V7i6  'EXX})vcov  dtcoxovrm).  Das  zeigt  sich  namentlich  in  dem  Be- 
streben, eine  eigene  Lebensweise  und  politisch  -  soziale  Existenz 
für  die  Christen  nachzuweisen  und  sie  dadurch  als  besonderes 
„Volk"  zu  legitimieren. 

Ganz  deutlich  teilt  aber  Aristides  in  seiner  Apologie  an  den 
Kaiser  Pius  die  Menschheit  in  drei  „Arten"  im  Sinne  von  Völkern; 
denn  er  gibt  für  jede  „Art"  die  Genealogie  d.  h.  den  geschicht- 
lichen Ursprung.  Er  schreibt  (c.  2);  (PavsQÖv  ydg  ionv  fjjtuy,  Co 
ßaoilev ,  öri  igia  yh'i]  eiotv  uvdgcojicov  Iv  rwde  ro)  xooucp'  cov  sioi 
ol  Tiag'  vjiuv  Xeyofihoyv  deöiv  jTgooxvv}]Tal  xnl  'lovöaToi  xal  Xgi- 
onnvoi'  nvTol  d^:  TraXiv  ol  roug  noXXovg  oeßojLievoi  ^eoog  sig  rg'ia 
dimgovvTai  yhn],  XaXdatovg  te  xal"EXX^]vag  xal  Atyvmiovg  (folgt 
der  Nachweis  des  Ursprungs  dieser  Völker;  von  den  Christen  heißt 
es  „yEveaXMyovvTai  und  ' hjoov  Xgioiov")'^. 


')  Der  Ausdruck  „religio  Christiana"  findet  sich  zuerst  bei  Tertnllian, 
wo  er  aber  ganz  geläufig  ist.  Die  Apologeten  sprechen  von  der  besonderen 
§f.ooEßEia  der  Christen. 

^)  In  der  syrischen  und  armenischen  Übersetzung  lautet  der  Passus 
etwas  anders:  „Dieses  ist  offenbar,  o  König,  daß  vier  Geschlechter  der  Men- 
schen in  der  Welt  sind,  Barbaren  und  Griechen,  Juden  und  Christen"  (die  im 
Griechen  folgende  weitere  Einteilung  in  drei  Klassen  fehlt  ganz).  Einige 
Gelehrte  bevorzugen  diese  Fassung  (indessen  ist  zu  beachten,  daß  auch 
Hippolyt,  Philosoph.  X,  ^0  |bis],  ?>l  [bis]  die  Ägypter,  Chaldäer  und  Hellenen 
den  Juden  und  Christen  gegenüberstellt).  Für  unsre  Zwecke  ist  die  Frage 
von  geringem  Pelang.  —  Auch  Justin  (Dial.  123)  leitet  die  Christen  von 
Christus  nicht  als  ihrem  Lehrer  (s.  Orig.,  de  princ.  IV,  1, 1 :  X^iarov  tvv  elotjyrjTtiv 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      213 

Wie  sehr  Irenäus  Ernst  mit  dem  Gedanken  gemacht  hat, 
daß  die  Christen  ein  besonderes  Volk  sind,  zeigt  sich  in  seiner 
Ausführnng  lY.  oO.  Gegenüber  den  Vorwürfen,  die  die  Gnostiker 
den  Juden  und  ihrem  Gotte  machten,  weil  sie  die  goldenen  und 
silbernen  Gefäße  der  Ägypter  an  sich  genommen  hatten,  führt  er 
aus,  daß  man  dann  mit  viel  mehr  Recht  den  Christen  den  Vor- 
wurf des  Diebstahls  zu  machen  habe:  denn  alles,  was  sie  besäßen, 
stamme  von  den  Römern.  ,,Wer  ist  mit  mehr  Recht  in  Besitz 
von  Gold  und  Silber,  die  Juden,  die  es  für  ihre  Arbeit  den 
Ägyptern  nahmen,  oder  wir.  die  wir  das  Gold  von  den  Römern 
und  den  anderen  Völkern  genommen  haben,  obgleich  sie  nicht 
unsere  Schuldner  waren?''  Diese  Reflexion  hat  nur  dann  einen 
Sinn,  wenn  Irenäus  die  Christen  als  ein  Volk  betrachtete,  welches 
von  den  übrigen  Völkern  streng  geschieden  ist  und  nichts  mehr 
mit  ihnen  zu  tun  hat.  In  der  Tat  betrachtete  er  den  Auszug 
Israels  aus  Ägypten  als  Typus  der  „profectio  ecclesiae  e  gentibus" 
(IV,  30,  4).  ^" 

Die  religiöse  Geschichtsphilosophie  des  Clemens  Alexandrinus 
wurzelt  ganz  in  der  Betrachtung  der  beiden  Völker,  der  Griechen 
und  Juden,  die  beide  von  Gott  erzogen  worden  sind,  nun  aber 
(s.  den  Epheserbrief  des  Paulus)  zur  höheren  Einheit  eines  dritten 
Volkes  erhoben  werden  sollen.  Es  mag  genügen,  dafür  drei 
Stellen  anzuführen.  Strom.  III,  10,  70  schreibt  er  (zu  dem  Spruch: 
„Wo  zwei  oder  drei  versammelt  sind"  usw.):  di]  d'  äv  xal  y 
öuovoia  TcTjv  TTollöyv  äno  tcov  TQu7n>  äQr&jLioviuev)]  /(£«?"  chv  6  y.vQiog, 
tj  jiua  iy.yjjjota,  6  elg  av&QCOJiog,  ro  yerog  t6  ev.  t)  jiu]  ri  /Lisrd  juev 
Tov  evög  Tov  'lovdaiov  6  xvgiog  vo/uoßercöv  })v,  jTQorp}]Tevcov  de  ijdrj 
xal  TOV  'legsjuim'  äjiooTeXXcov  elg  Baßvlwva,  äXXa  xal  Tovg  e^  edvcöv 
Sid  rijg  7iQoqTt]Teiag  xa/Myv,  oin'fjye  Xaovg  rovg  ovo,  TQiJog  de  f}v  ex 
TCOV  dvoTv  xriCofievog  elg  xaivov  ävÜQWJiov,  o3  ötj  ejuTteguiarei  re  xal 
xaroixei  ev  avTJj  exxXajoia.  V,  14,  9S  (zu  Plato,  Republ.  3  p.  415): 
ei  fo']  XI.  TQelg  Jivag  vTioxidefievog  cpvoeig,  rgelg  noXneiag,  wg  vnÜMßov 
Tireg,  öiayQacpei,  xal  'lovöakov  fiev  dgyvQav ,  'EXJJjvan'  de  TQir)]v 
[die  Stelle  ist  verdorben:  schon  Eusebius,  Praepar.  XIII,  13  hat 
sie  fehlerhaft  gelesen:  in  marg.  L  lautet  das  Lemma:  'EXd/jvMv 
oidi]ga.v  y  yaX.x/jv ,  Xoionavcbv  yQvofp'],  XQioTiavöJy  de,  olg  6 
XQvoog  6  ßaoiXuxog  eyxaTa/ie^uiXTai ,  rö  äyiov  Tivevfia.  VI,  5,  42 : 
EX  yovv  T)jg  'E/drp'ix}]g  naideiag ,  uXlXm  xal  ex  rijg  vofuxrjg  elg  to 
ev  yevog  tov  ooi^onevov  ovvdyovTai   Xmov  ol  rip'  jiiotcv  Tigooiejuevoc, 


TMv  xarä  •/QioTiariof.iov  oojdjqicov  doy/ndrcov),  sondern  als  ihrem  Stammvater  ab : 
(ö;  djiö  TOV  ivog  'laxojß  exsivov,  tov  xal  'lagaijk  iTiia^.rj&ivTO?,  to  :;iäv  yevog  vfiwv 
jiQoatjyÖQSvzo  'lanwß  y.al  'loonrjX,  ovzco  y.al  tjf.isTg  oltio  tov  ysvvrjoai'Tog  i'j/iäg 
£ig   dsov  Xaiaiov  ....  xal  ^sov  Tsxra  dXtji^irä  xalovue&a  xal  eo/iii'. 


214  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

ov  XQovqj  öintnovutvcor  tcov   tqkov  Acw)v ,    Iva    ng   cfvoeiq    vTioXdßoi 
romaQ,  y.j).  ^. 

Auch  aus  anderen  altchristlichen  Schriftstellern  läßt  sich  die 
Trias  ,.Griechen  (Heiden),  Juden  und  Christen"  als  ürundform 
der  kirchlichen  Geschichtsbetrachtung  belegen'^;  namentlich  bei 
der  Deutung  biblischer  Geschichten  wurde  sie  häufig  benutzt.  So 
zieht  sie  Tertullian  bei  seiner  Auslegung  des  Gleichnisses  vom 
verlorenen  Sohn  (De  pudicit,  &  f.)  heran.  Hippolyt  (Comment,  in 
Daniel.,  ed  Bonwetsch  p.  32)  sieht  in  Susanna  die  Christen,  in 
den  beiden  ihr  nachstellenden  Alten  die  Griechen  und  Juden. 
Pseudocyprian  (De  mont.  Sina  et  Sion  7)  erklärt  die  beiden 
Schacher  als  die  Repräsentanten  der  letzteren.  Doch  kommt 
meines  AVissens  die  runde  Bezeichnung;  „AYir  Christen  sind  das 
dritte  Geschlecht",  in  der  christlichen  Literatur  nach  der  Prae- 
dicatio  Petri  (wo  übrigens  nur  von  der  christlichen  Gottesver- 
ehrung als  der  dritten  die  Rede  ist)  nur  einmal  vor.  nämlich  in 
der  pseudocyprianischen  Schrift  de  pascha  computus  c.  17,  die 
im  Jahr  242,3  verfaßt  ist.  Leider  ist  der  Zusammenhang,  in 
welchem  das  Wort  steht,  nicht  recht  deutlich.  Der  Verfasser 
spricht  vom  Höllenfeuer  und  sagt,  dasselbe  habe  die  Widersacher 
des  Ananias,  Azarias  und  Misael  verzehrt,  „et  ipsos  tres  pueros 
a  dei  filio  protectos  —  in  mysterio  nostro  qui  sumus  tertium 
genushominum  —  non  vexavit".  AVie  sich  der  Verfasser  durch 
die  drei  Knaben  im  Feuerofen,  die  doch  sämtlich  gottwohlgefällig 
waren,  an  die  Christen  als  das  dritte  Geschlecht  erinnert  fühlen 
konnte,  ist  unklar;  indessen  er  ließ  sich  daran  erinnern,  und  jeden- 
falls geht  aus  der  Stelle  hervor,  daß  ihm  die  Bezeichnung  der 
Christen  als  „drittes  Geschlecht"  geläufig  gewesen  sein  muß.  In 
welchem  Sinne,  können  wir  noch  nicht  sicher  sagen.  Zunächst 
müssen  wir  jedoch  nach  unseren  bisherigen  Untersuchungen  an- 
nehmen, daß  ihm  die  Christen  als  das  dritte  Geschlecht  neben 
Griechen  (Heiden)  und  Juden  galten.  Ob  diese  Annahme  richtig 
ist,  darüber  wird  sich  erst  im  2.  Teil  der  Abhandlung  urteilen 
lassen. 


*)  Von  einem  , weisen  Manne"  hat  Clemens  (Strom.  II,  15.  67)  die  Er- 
klärung zu  I's.  1,  1  gehört,  daß  damit  die  Heiden  („Rat  der  Gottlosen"),  die 
Juden  („Weg  der  Sünder")  und  die  Häretiker  („die  Lehrkanzel  der  Spötter") 
gemeint  seien.  Diese  Hinzufügung  der  Häretiker  ist  lediglich  durch  die  zu 
erklärende  Stelle  motiviert. 

^)  Auch  die  epistula  Hadriani  ad  Servianum  (Vopisc,  Saturuin.  8)  gehört 
hierher,  wenn  sie  eine  christliche  Fälschung  ist:  ,huuc  (nunimuiu)  Christiani, 
huuc  Judaei,  hunc  omnes  venerantur  et  geutes". 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      215 

2. 

Das  Bewußtsein,  ein  Volk  zu  sein  und  zwar  das  uralte  und 
neue  Aolk^,  blieb  innerhalb  der  Kirche  nicht  abstrakt  und  un- 
fruchtbar, sondern  wurde  nach  den  verschiedensten  Richtungen 
hin  entfaltet:  überall  war  auch  hier  die  Spiagoge  die  Yorgängerin; 
aber  man  bestritt  ihren  Anspruch,  indem  man  ihn  selbst  übernahm, 
und  erweiterte  ihn  wo  möglich  noch  über  die  Grenzen  hinaus,  die 
jene  innegehalten  hatte. 

Drei  Richtungen  sind  es  vornehmlich  gewesen,  in  denen  die 
Kirche  das  eigentümliche  Bewußtsein,  das  uralte  Yolk  zu  sein, 
zur  Darstellung  brachte:  (l)  sie  wies  nach,  daß  sie,  wie  jedes 
Yolk,  ihre  eigene  Lebensweise  habe,  (2)  sie  suchte  zu  zeigen, 
daß  die  philosophischen  Erkenntnisse,  Kulte  und  Politien  der 
anderen  Yölker,  soweit  sie  beifallswert  seien,  Plagiate  an  der 
christlichen  Religion  seien.  (3)  sie  begann,  wenn  auch  nur  in  ver- 
suchten Ideen,  politische  Erwägungen  anzustellen  über  ihre  eigene 
aktuelle  Bedeutung  innerhalb  des  römischen  Weltstaats  und  über 
das  positive  Yerhältnis  zwischen  diesem  und  ihr  selbst  als  der 
neuen  Weltreligion. 

(Ad  l)  Die  Nachweisungen  der  ältesten  Christenheit  in  bezug 
auf  ihre  yjio/uTsia"''  waren  doppelter  Art.  Das  Thema  für  die  eine 
Gattung  hat  Paulus  im  Philipperbrief  (3,  2(1)  angegeben:  rjfiwv 
To  jzo/urevfia  iv  ovoavoig  vTidg/ei  (cf.  Hebr.  13,  13  f.:  i^eoycujueßa 
E^co  Trjg  Tiageußo/Sjg  .  .  .  ov  ydg  syousr  cböe  uirovoav  Tcöhv,  dAAa. 
T)]v  ueXkovoav  L-n!^i]TovuEv).  Nach  dieser  empfinden  sich  die 
Christen  hier  auf  Erden  als  Pilger  und  als  Paröken;  sie  wandeln 
im  Glauben  und  nicht  im  Schauen,  und  ihre  ganze  Lebensweise 
ist  weltiiüchtig  und  allein  durch  das  jenseitige  Reich,  dem  sie 
zueilen,  bestimmt.  Am  kräftigsten  spricht  sich  diese  Haltung  in 
der  ersten  Similitudo  des  Hermas  aus:  zwei  „Städte"'  stehen  sich 
gegenüber  mit  zwei  Herren;  die  Stadt  des  Diesseits  und  die  des 
Jenseits.  Der  Christ  darf  mit  jener  „Stadt"  und  ihrem  Herrn, 
dem  Teufel,  schlechterdings  nichts  zu  tun  haben,  und  seine  ganze 
Lebensweise  muß  der  Lebensweise,  den  Ordnungen  und  Gesetzen 
der  diesseitigen  Stadt  entgegengesetzt  sein.  So  vermochte  man 
sich  wirklich  als  ein  besonderes  Yolk  mit  besonderer  Lebensweise 
kräftig  zur  Darstellung  zu  bringen,  durfte  sich  aber  auch  nicht 
wundern,  wenn  man  nun  mit  dem  Worte  abgefertigt  wurde:  TidvTsg 
eavTovg  (fovevoavxeg  TcooEveode  Ijd)]  Tiaoä  jov  debv  y.al  fjuiv  7iouyj.iaxa 


^)  Cf.  das  I.Buch  der  Kirchengeschichte  des  Eusebius,  besonders  cap.  4: 
rfjg  fiev  yäo  rov  ocozfjoog  fjuöjv  'Irjoov  Xoioiov  nagovaia;  vscoazl  Tiäoiv  uv d QOiTioig 
i:zt/M/iitpäar]g,  veov  öuokoyov j-iEVog  edvog,  ov  /Liixodv  ovo'  dodsvig  ovo'  Inl 
ycoviag  jiov  yijg  löov/uevoj',  äX'/.a  y.al  tiÜvtcov  xwv  idvcov  :;To}.vavdooi:i6zai6v  ze  y.al 
■deooeßeozazov zö  ijagä  zotg  :zäoi  zfj  zov  Xoioiov  jroocrjyogia  zEziurjuevov. 


216  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

fu]  TraoF/ere  (bei  Justin,  ApoL  II,  4).  Indessen  dies  war  nur  die 
eine  Seite  in  dem  Nachweise  der  eigentümlichen  Lebensweise  und 
der  Ordnungen.  IS^icht  weniger  energisch  suchte  man  zu  zeigen,  daß 
hier  eine  Tolitie  verwirkhcht  sei,  welche  sich  von  der  der  übrigen 
Völker  durch  die  absolute  Moral  unterscheide  ^.  Schon  in  den 
apostolisclion  Briefen  wird  nachdrücklicher  als  auf  irgend  einen 
dogmatischen  Punkt  auf  die  Verpflichtung  zu  einem  heiligen  Leben 
hingewiesen,  durch  welches  die  Christen  wie  Lichter  inmitten  eines 
verderbten  und  verkehrten  Geschlechts  leuchten  sollen.  „Nicht 
wie  die  Heiden",  auch  nicht  wie  die  Juden,  ist  hier  die  Losung, 
sondern  als  das  A'olk  Gottes.  Alle  Gebiete  des  Lebens  bis  zu  den 
intimsten  und  geringsten  werden  unter  die  Zucht  des  Geistes  ge- 
stellt und  neu  geordnet.  Man  lese  die  „Lehre  der  zwölf  Apostel", 
um  zu  erkennen,  wie  ernst  man  es  mit  „dem  Wege  des  Lebens" 
nahm.  Demgemäß  bildete  auch  in  allen  christlichen  Apologien 
die  Darlegung  der  christlichen  Politie  als  der  schlechthin  sittlichen 
einen  Hauptabschnitt.  Das  Interesse  ist  hier  überall  das,  zu  zeigen, 
daß  diese  christliche  Politie  nach  den  höchsten  sittlichen  Maß- 
stäben, die  auch  die  Gegner  als  solche  anerkennen  müssen,  ver- 
läuft, und  daß  sie  eben  deshalb  der  Politie  der  anderen  Völker 
entgegengesetzt  ist.  Die  Apologien  des  Justin  (namentlich  I.  I4tf.), 
Aristides  (c.  15),  Tatian  und  Tertullian  kommen  hier  besonders  in 
Betracht-.  Die  Überzeugung,  eine  besondere  Politie  zu  besitzen, 
kommt  aber  auch  in  der  Vorstelhmg  zum  Ausdruck,  die  militia 
des  wahren  Gottes  und  Christi  zu  sein  (s.  darüber  später). 


')  S.  oben  S.  178  ff. 

^)  Die  vielgepriesene  Darstellung  in  dem  Brief  au  deu  Dioguet  (c.  5.  6) 
ist  eine  schöne  rhetorische  Leistung,  aber  auch  nicht  viel  mehr.  Der  Ver- 
fasser bat  es  fertig  gebracht,  drei  Gesichtspunkte  in  einem  Atem  gleichmäßig 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  christliche  Politie  als  die  höchste  Moral,  die 
Weltferne  des  Christentums  und  —  die  Innerlichkeit,  die  es  dieser  Religion 
gestattet,  mitten  in  der  Welt  zu  stehen  und  sich  unbefleckt  allem  Äußern 
anzuschmiegen.  Wer  diese  Gedanken  so  vollkommen  in  ein  Gewebe  zu  ver- 
spinnen vermag,  der  steht  entweder  auf  der  Höhe  des  4.  Evangeliums  — 
aber  den  Verfasser  des  Briefs  dorthin  zu  versetzen,  ist  nicht  wohl  möglich  — 
oder  verfällt  dem  Verdachte,  daß  es  ihm  mit  keinem  der  Gesichtspunkte 
völlig  ernst  ist. 

')  Eine  sehr  wichtige  Seite  an  der  christlichen  Politie  bebt  Hermas 
(Simil.  IX;  17)  hervor  —  ihre  Kraft,  die  in  Anlage  und  Sitten  so  verschiedenen 
Völker  zur  Einheit  einer  Gesinnung  und  Lebensweise  zusammenzuschließen. 
Die  Steine,  die  aus  den  verschiedenenn  Bergen  [=  Völker]  in  den  Turm 
[=  Kirche]  eingefügt  werden,  sind  zunächst  buntfarbig,  aber  in  dem  Moment 
ihrer  Einfügung  nehmen  sie  alle  dieselbe  weiße  Farbe  an  ()MßövrF?  T>p' 
OfpoayTda  fii'ar  ffnörrjoiv  i'ayov  xal  n>a  vovv,  xai  (da  ::tiaTig  aiirön'  lyh'Sto  xai  fiia 
dyd.Tfj  ....  f)irj.  toTto  ij  oixoSo/a]  rov  nvQyov  /iiä  XQÖa  syh'sro  ).afi7r()a  <hg  6  tj?.to;); 
vgl.  dazu  Iren.  I,  10,  2.  Celsus  (Orig.  c.  Geis.  VIII,  72)  blickte  sehnsüchtig  auf 
eine  solche  Einheitlichkeit   der    in  Völker  zerspaltenen  Menscheit   aus,    aber 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Gosclileeht.      217 

(Ad  2)  Das  streng  Sittliche,  die  monotlieistisclie  AVeltbetrach- 
tung  und  die  Ordnung  des  gesamten  privaten  und  genieinscliaft- 
lic'lien  Lebens  nach  den  Forderungen  der  höchsten  Moral  ist  das 
„qvu)d  ab  initio  fuit".  Indem  die  Kirche  dies  wieder  Ijei  sich 
hergestellt  sieht,  erkennt  sie  auch  darin  die  Gewähr,  daß  sie, 
obgleich  scheinbar  das  jüngste  Volk,  in  Wahrheit  das  älteste  ist. 
Indem  sie  aber  diese  Überzeugung  mit  Hilfe  der  Bücher  Mosis, 
die  sie  für  sich  mit  Beschlag  gelegt  hat,  zu  erweisen  unternimmt 
(s.  Tatian,  Theophilus,  Clemens,  Tertullian,  Julius  Africanus, 
Hippolyt)  ^.  vindiziert  sie  sich  selbst,  das  jüdische  Yolk  entthronend, 
die  IJroffenbanmg.  die  Urweisheit  und  die  genuine  Gottesverehrung. 
Hieraus  gewinnt  sie  die  Erkenntnis  und  den  Mut,  alles,  was  an 
Offenbarung,  Weisheit  und  Gottesvehrung  bei  den  anderen  Völkern 
in  ihren  Gesichtskreis  tritt,  nicht  nur  inhaltlich  an  dem  eigenen 
Besitz  zu  messen,  sondern  auch  so  zu  messen  und  zu  werten,  wie 
Kopien  an  dem  Originale.  Es  ist  bekannt,  welchen  Umfang  in 
den  altchristlichen  Apologien  die  Abschnitte  einnehmen,  in  denen 
nachgewiesen  wird,  daß  die  griechische  Philosophie,  soweit  sie 
beifallswert  und  richtig  ist,  aus  der  den  Christen  zugehörigen, 
uralten  Literatur  zusammengestohlen  ist.  Die  Bemühungen,  dies 
zu  zeigen,  gipfeln  m  dem  Nachweise:  „Was  irgendwo  gut  gesagt 
worden  ist,  das  ist  von  uns  genommen."'  Die  Dreistigkeit  dieser 
Behauptung  verdeckt  uns  heute  die  Großartigkeit  vmd  Kraft  des 
Selbstbewußtseins,  welches  aus  ihr  spricht.  Schon  Justin  hat  jede 
richtige  geistige  Erkenntnis  als  „christlich"  in  Anspruch  genommen, 
mag  sie  sich  bei  Homer,  bei  den  Tragikern  oder  den  Komikern 
oder  bei  den  Philosophen  finden.  Daß  bei  solcher  Erweiterung 
die  ganze  Betrachtvmg  „umschlägt"  und  das  „Christliche"  in  das 
allgemein  Menschliche  umgesetzt  erscheint,  ist  ihm  nicht  aufge- 
gangen, oder  ahnte  er  es  doch?  Clemens  Alexandrinus,  der  ihm 
in  diesen  Betrachtungen  folgt,  ahnte  es  nicht  nur,  sondern  er  hat 
den  Gedanken  mit  Bewußtsein  verfolgt. 

Indem  sich  das  alte  Christentum  mit  der  Philosophie  ver- 
gleicht, faßt  es  sich  selbst  als  eine  „Philosophie",  seine  Bekenner 
als  „Philosophen".  Indes  ist  das  eine  Form  des  Selbstbewußtseins, 
die  man  nicht  überschätzen  darf,  weil  sie  in  diesen  ersten  Jahr- 
hunderten fast  ausschließlich  der  Apologetik  und  Polemik  angehört. 


er  hält  sie  für  eine  Utopie:  El  yao  d>j  olör  ts  si;  sra  ovuqoovi)oat  röiioi'  rovg 
rtji'  'Aoi'av  y.ul  Evoo}:j}jt'  y.ai  Aißinjv  "E/J.tp'dg  ts  y.ai  ßaoßuQOvg  äyoi  :;iEo6.to)v 
ver'Sf^it]/iisvovg.  Dazu  bemerkt  Origenes:  däuvaiov  lovzo  vouloag  eivai  EjfUfeosi 
[seil.  Celsus]  Oll  6  tovzo  oi6i.iEvog  olösv  ovÖsv. 

^)  Daß  hier  die  Anfänge  der  universalgeschichtliclien  Chronographie 
und  damit  der  christlichen  allgemeinen  Weltgeschichte  überhaupt  liegen, 
daran  sei  im  Vorübercrehen  erinnert. 


21 S  Diö  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Die  Christen  haben  doch  nie  daran  gez\N-eifelt,  daß  ihre  Lehre  zwar 
Wahrheit  sei,  also  die  wahre  Philosophie,  aber  doch  unendlich 
viel  mehr  als  Philosophie  —  nämlich  Gottesweisheit  —  und  daß 
sie  selbst  etwas  anderes  seien  als  Philosophen  —  nämlich  das 
A'olk  der  Gottesfreunde.  Aber  in  der  Polemik  war  es  bequem, 
das  Christentum  als  Philosophie  bez.  als  „barbarische"  Philosophie 
und  die  christlichen  Bekenner  als  Philosophen  zu  bezeichnen;  denn 
erstlich  konnte  die  Natur  der  christlichen  Lehre  den  draußen 
Stehenden  nur  so  klar  gemacht  werden  —  eine  Yergleichung  mit 
den  heidnischen  Religionen  zu  positiven  Zwecken  war  be- 
denklich. —  zweitens  durfte  unter  dieser  A'oraussetzung  verlangt 
werden,  daß  der  Staat  das  Christentum  ebenso  liberal  behandle 
wie  die  Philosophie  und  die  Philosöphenschnlen.  In  diesem  Sinne 
hauptsächlich  hat  man  die  beliebte  Parallele  der  Apologeten 
zwisclien  Christentum  und  Philosophie  zu  verstehen,  obschon 
einzelne  christliche  Lehrer,  die  Vorsteher  einer  innerkirchlichen 
oder  freikirchlicken  Schule  (didaoxakelovj  waren,  die  Parallele 
ernsthafter  gemeint  haben  ^;  aber  diese  standen  gewissermaßen 
neben  der  großen  Christenheit-. 

Nicht  nur  die  Philosophie,  soweit  sie  probehaltig  war.  be- 
urteilte man  als  Plagiat,  sondern  auch  solche  Piten  und  Kultus- 
handlungen, die  sich  als  vermeintliche  oder  wirkliche  Parallelen 
zu  christlichen  darstellten.  In  den  offiziellen  römisch-griechischen 
Kulten  war  nicht  viel  dergleichen  zu  finden,  aber  in  den  Myste- 
rien und  den  orientalischen  Kulten  um  so  mehr.  Namentlich  der 
Mithrasdienst  hat  in  dieser  Hinsicht  schon  frühe  die  Aufmerk- 
merksamkeit  christlicher  Apologen  auf  sich  gezogen.  Hier  galt  ein- 
fach das  Urteil,  daß  die  Dämonen  christliche  Riten  in  den  heid- 
nischen Kulten  nachgeäfft  hätten.  Konnte  man  aber  nicht  in 
Abrede  stellen,  daß  jene  heidnischen  Riten  und  Sakramente  älter 
seien  als  die  parallelen  christlichen,  so  war  die  Ausrede  sofort 
bei  der  Hand,  daß  die  Dämonen  das  Christliche,  schon  bevor  es 
in  die  Erscheinung  getreten  war,  kopiert  und  verzerrt  hätten,  um 
es  im  voraus  zu  diskredieren  —  so  die  Taufe,  das  Abendmahl, 
die  Versöhnungshandlungcn,    das   Kreuz  usw.    Die  Dogmatik  ver- 

')  Solehe  Lehrer  mit  ihrer  kleinen  Gruppe  empfanden  sich  schwerlich 
als  das  „Urvolk",  sondern  sie  brachten  ihr  absolutes  Bewußtsein  als  „Begabte" 
und  „Wissende"  zum  Ausdruck.  Über  die  chrislichen  diöaoy.u/.sTa  und  ihre  Be- 
deutung für  die  Propaganda  wird  in  einem  anderen  Zusammenhang  zu  handeln 
sein.  Daß  die  Heiden  den  Anspruch  der  Christen,  „die  Wissenden"  und  ,.die 
Philosophen''  zu  sein,  besonders  lächerlich  und  anmaßend  fanden,  ist  wohl 
verständlich.  Sie  nannten  sie  umgekehrt  Leichtgläubige  oder  verspotteten 
sie  als  jitozoc,  die  fremden  Fabeln  und  Altweibergeschwätz  Glauben  schenken. 

-)  Mit  der  ältesten  Erscheinungsform  des  Christlichen  —  Jesus  als  der 
Lehrer,  die  Jünger  als  die  Schüler  —  haben  sie  nichts  mehr  zu  tun. 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  uml  dem  dritten  Geschlecht.      219 

mag  stets  die  Geschichte  zu  brcclion  und  tut  dies  fort  und  fort. 
Hier  aber  liegen  besonders  instruktive  Fälle  vor,  weil  sich  die 
Ausgestaltung  der  christlichen  Iviten  und  Sakramente  unter  dem 
Einfluß  der  Mysterien-Riten  vollzogen  hat  (freilich  nicht  bestimmter 
Riten  eines  bestimmten  Kultus,  sondern  des  allgemeinen  Typus 
der  Mysterien)  und  somit  die  Dogmatik  die  Folge  zur  Ursache 
machte.  Aber  auch  hier  tritt  das  quid  pro  quo  in  ein  günstigeres 
Licht,  wenn  man  erwägt,  daß  sich  die  Christenheit  als  das  Urvolk 
an  den  Anfang  der  Geschichte  setzt  und  dieses  Selbstbewußtsein 
die  Voraussetzung  für  ihre  gesamte  Betrachtung  der  Geschichte 
ist.  Denn  unter  dieser  Voraussetzung  bedeutet  die  Beschlagnahme 
jener  Riten  und  Sakramente  nichts  anderes  als  die  Behauptung 
ihres  ideal -menschlichen  und  daher  göttlichen  Charakters.  Sie 
werden  den  Grundzügen  jener  Gottesoff'enbarung  und  Gottesver- 
ehrung einverleibt,  von  denen  die  Menschheitsgeschichte  ausge- 
gangen ist,  und  die  ihr  uraltes,  bis  zur  Gegenwart  freilich  verhülltes 
Besitztimi  bilden. 

(Ad  3).  Die  interessanteste,  aber  bisher  noch  am  wenigsten 
erforschte  Seite  an  dem  Bewußtsein  der  alten  Christen,  „A'olk" 
zu  sein,  ist  die  politische  im  engeren  Sinne  des  Worts.  Das 
Material  ist  reichhaltig:  man  hat  aber  bisher  wenig  Blick  dafür 
gehabt;  ich  begnüge  mich  hier  mit  der  Aufdeckung  der  wichtig- 
sten Punkte^. 

Das  politische  Bewußtsein  der  ältesten  Kirche  hat  drei  Elemente 
zu  seiner  Voraussetzung  gehabt,  erstlich  die  Politik  der  jüdischen 
Apokalyptik,  die  der  Forderung  des  Kaiserkultus  und  den  Schrecken 
der  Verfolgungen  gegenüber  als  geboten  erschien,  zweitens  die 
Tatsache  des  so  frühen  Übergangs  des  Evangeliums  von  den  Juden 
zu  den  Hellenen  und  die  unverkennbare  Wahlverwandtschaft 
zwischen  Christentum  und  Hellenismus  sowie  zv>'ischen  Kirche  und 
römischen  AVeltstaat,  drittens  den  Fall  und  Untergang  Jerusalems 
und  des  jüdischen  Staates.  Das  erste  Element  verhält  sich  anti- 
thetisch zu  den  beiden  letzteren,  und  demgemäß  ist  das  politische 
Bewußtsein  der  Kirche  gegensätzlich  bestimmt  gewesen  und  mußte 
sich  aus  Kontradiktionen  herausarbeiten. 

Die  Politik  der  jüdischen  Apokalyptik  kennt  den  Weltstaat 
nur  als  Teufelsstaat  und  nimmt  daher  zu  ihm  eine  reine  negative 
Stellung  ein.  In  der  Johannesapokalypse  ist  diese  Politik  rund 
aufgenommen.  Die  neronische  Verfolgung,  der  geforderte  Kaiser- 
kultus   und    der    domitianische   Schrecken    haben    sie    beglaubigt. 

*)  Tertullians  Satz  (Apol.  38):  „nulla  magis  res  nobis  aliena  quam  pu- 
blica; unam  omnium  rempublicam  agnoscimus,  muudum",  ist  stoisch  gefärbt 
und  darf  höchstens  cum  grano  salis  für  zutreffend  gelten;  außerdem  —  die 
Staatsverächter  haben  zu  allen  Zeiten  eine  sehr  aktive  Politik  getrieben. 


220  I*ie  iMissiousprcdigt  in  Wort  und  Tat. 

Diese  politisclic  Ilalrmig- der  Kirche  ist,  soweit  sie  sich  im  zweiten 
und  dritten  Jalirhnndert  fortsetzt,  verliältnisniäßig  am  besten  von 
den  Forscliern  beachtet  worden:  noch  jüngst  hat  sie  Neumann  in 
seiner  Studie  über  Hippolyt  (1002)  gründlich  erörtert.  Daß  die, 
bis  ül)er  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  noch  wenig  zaUreiche 
Christenheit  sich  auch  in  bezug  auf  die  politische  Geschichte  als 
Mittelpunkt  der  Menschheit  und  als  deren  entscheidenden  Faktor 
eikeimt,  ist  das  Merkwürdige.  Bei  dem  jüdischen  Yolke  ist  dieses 
Selbstbewußtsein  recht  wohl  erklärlich  —  es  war  wirklich  ein 
großes  Volk  und  hatte  eine  geAvaltige  Geschichte  hinter  sich  — ; 
aber  daß  ein  kleiner  Haufe  sich  das  ganze  große  römische  Reich 
gegenüberstellt^,  die  Hauptaktion  dieses  Reiches  in  der  Christen- 
verfolgung erblickt  und  die  ganze  Weltgeschichte  in  diesem 
Kampfe  endigen  läßt,  ist  wahrlich  erstaunlich.  Es  erklärt  sich 
das  nur  aus  der  Tatsache,  daß  sich  die  Kirche  einfach  an  Stelle 
Israels  setzte  und  sich  deshalb  als  Yolk,  also  auch  als  politischen 
Faktor  empfand,  und  zwar  als  den  neben  dem  Weltstaat  aus- 
schlaggebenden und  zuletzt  ihn  besiegenden  Faktor.  Das  große 
Problem  „Kirche  und  Staat"  tritt  schon  hier  in  die  Erscheinung, 
und  die  schroffe  Form,  die  es  hier  empfing,  ist  maßgebend  ge- 
worden für  die  folgenden  Zeiten.  Unter  der  Hülle  anderer  Be- 
ziehungsformen  liegt  diese  noch  immer  verborgen. 

Aber  das  ist  nur  die  eine  Seite.  Die  Tatsache  des  T'bergangs 
des  Evangeliums  von  den  Juden  zu  den  Hellenen,  die  unverkenn- 
bare Wahlverwandtschaft  zwischen  Christentum  und  Hellenismus 
sowie  zwischen  Kirche  und  römischem  Weltstaat,  endlich  der 
Untergang  des  jüdischen  Staats  durch  Rom  —  diese  Faktoren 
schufen  ganz  andere  Vorstellungen  von  den  Beziehungen  zNvischen 
Kirche  und  Reich  als  die  rezipierte  Apokalyptik  sie  wollte.  Eine 
systematische  Behandlung  dieser  A^orstellung  ist  jedoch  nicht  am 
Platze:  sie  würde  ein  falsches  Bild  gebe)i.  Richtiger  wird  es 
sein  —  da  es  sich  nur  um  versuchte  Ideen  handelt  — ,  die  wich- 
tigsten kennen  zu  lernen  und  sie  einzeln  ins  Auge  zu  fassen: 

II  Thess.  2,  5  —  7  ist  die  älteste  Stelle  in  der  christlichen 
Literatur,  in  welcher  des  römischen  Reichs  in  positiver  Bedeu- 
tung gedacht  wird:  es  ist  nicht  das  antichristliche  Reich,  sondern 

')  Mit  der  großen  Menge  der  Christen  vermochte  erst  Tertullian  Apol.  37 
(kurz  vor  dem  Jahre  200)  dem  Staate  zu  drohen;  bis  dahin  suchte  man  mit 
den  Kahimitäten  des  Endes  und  mit  dem  wiederkehrenden  Christus  zu 
schrecken.  Aber  gleichsam  vikarierend  für  die  noch  fehlende  größere  Anzahl 
■wirkte  (von  Anfang  an)  die  Tatsache  der  weiten  Verbreitung  über  das  ganze 
Reich  und  über  die  Grenzen  desselben  hinaus.  Daß  -sie  überall  zu  linden 
waren ,  stärkte  und  formte  das  Selbstbewußtsein  der  Christen  schon  in  den 
ersten   Generationen.     Im   Gegensatz  zu   den   in  bestimmten  Grenzen  einge- 


Die  Botschaft  von  dem  noueu  Volk  und  dem  dritten  (Jesclilecht.      221 

im  Gegenteil  die  lieinnieiule  ^fuclit,  welche  ilen  letzten  Schrecken 
und  das  Kommen  des  Anrieh rists  aufhält;  denn  unter  ,,to  y.areyov" 
(„6  y.aTr/cov")  ist  dieses  Reich  zu  verstehen,  ist  dem  so,  so  folgt, 
daß  Kirclie  und  Weltreich  nicht  nur  als  Gegensätze  betrachtet 
werden  dürfen. 

Rom.  ll].  1  ft'.  zeigt  dies  deutlicli  und  zieht  die  Konsequenz: 
die  Obrigkeit  ist  &eov  didy.ovog,  ist  von  Gott  eingesetzt  zm*  Unter- 
drückung des  Bösen:  wer  sich  ihr  widersetzt,  widersetzt  sieh  der 
göttlichen  Ordnung.  .Man  muß  ihr  daher  nicht  nur  gezwungen, 
sondern  um  des  Gewissens  willen  gehorsam  sein;  selbst  die  Steuer- 
zahlung ist  eine  sittliche  Pflicht.  Ahnlich  spricht  sich  der  Yer- 
fassor  des  I  Petrusbriefs  aus  (c.  2,  lo  ff.)  ^;  aber  er  geht  noch  einen 
Schritt  weiter;  er  schließt  die  Ehrfurcht  vor  dem  Kaiser  unmittel- 
bar der  Furcht  Gottes  an  (Tiünag  riiiijoaTe,  ti]v  äöeAcpOTyjTa  äyanäTi--^ 
Tov  ^eöv  (foßeTode,  rov  ßaoiXia  rijLiäre)  ^.  Das  ist  eine  Konzeption, 
wie  sie  loyaler  nicht  gedacht  werden  kann:  man  beachte,  daß 
der  Verfasser  nach  Kleinasien  schreibt,  in  die  Hauptprovinzen  des 
Kaiserkultus. 

Lucas  beginnt  seine  Erzählung  von  Christus  mit  den  Worten 
(3,  l):  'Eyerero  iv  raig  fjjiieoaig  iy.eivaig  i^ijAÖn'  döyfia  ticxqu  Kal- 
oagog  Avyoi'oTov  äTioyQacpEodai  nnoav  Ti]v  or/iov/A.evf]v,  Yielleicht 
mit  Recht  hat  man  hier  vermutet,  daß  die  Erwähnung  des  Kaisers 
Augustus  keine  müßige  sei.  Daß  mit  Augustus  eine  neue  Zeit 
für  das  Reich  angebrochen,  war  die  offizielle  und  die  populäre 
Vorstellung.  Der  Prinzipat  war  der  Friede,  der  Kaiser  der  Heiland 
(6  ooni)o).     Hinter  dem  irdischen  Heiland  läßt  Lucas  den  himm- 

sehlossenen  Völkern,  seien  es  auch  so  große  wie  die  Parther,  nennt  Tertullian 
(Apolog.  37)  die  Christen  die  ,.gens  totius  orbis'',  also  das  Weltvolk.  So  aber 
empfand  man  sich  schon  lange  vor  Tertullian. 

')  Cf.  Tit.  3.  1.  —  Bei  den  Worten  des  Paulus  im  Römerbrief  kann  man 
sich  erinnern,  eine  wie  ruhige,  glückliche  Zeit  die  ersten  Jahre  unter  Nero 
waren. 

-)  Die  gi-iechischen  Christen  nannten  den  Kaiser  in  der  Regel  ßcwü.evg 
—  das  war  im  Orient  üblich  und  bedeutete  hier  keine  so  große  Schmeichelei, 
wie  wenn  Abendländer  ihn  „rex"  genannt  hätten.  Baodsvg  war  aber  auch 
eine  Bezeichnung  für  den  xvoiog  XQiarög,  -die  man  als  Christ  nicht  vermeiden 
durfte  (nicht  nur  um  der  ßandci'a  rov  deov  willen,  sondern  auch  weil  Jesus 
sich  selbst  so  genannt  hatte,  Joh.  18,  33  tf.).  Daraus  ergab  sich  ein  peinlicher 
Konflikt;  die  besonnenen  Christen  waren  eifrig  bemüht,  den  Schein  des  Hoch- 
verrats, der  hier  entstehen  mußte,  abzulehnen  und  zu  versichern,  daß  sie 
unter  „Reich"  und  , König"  nichts  Irdisches  und  Menschliches  verstehen, 
sondern  etwas  C4öttliches  (so  schon  Justin,  Apol.  I,  11).  Einige  Heißsporne 
freilich  erklärten  vor  dem  Richter,  daß  sie  nur  einen  König,  bezw.  einen 
Kaiser  anerkennen  (Gott  oder  Christus),  und  zogen  sich  damit  die  gerechte 
Strafe  zu.  Doch  waren  diese  Fälle  sehr  selten.  Auch  ,imperator"  ist  Christus 
im  Abendlaude  genannt  worden,  aber  nicht  in  Schriften,  die  für  die  Öffent- 
lichkeit bestimmt  waren. 


222  Die  Mi^sionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

liseheii  auftaiicluMi  —  aucli  er  ist  der  ganzen  Oikumene  gesclienkt, 
und  was  er  briiigt.  isr  der  Friede  (v.  14:  L-rl  yiis  eio/jv)])^.  Schwer- 
lich hat  Lucas  den  Augustus  und  den  Christus  in  feindlichen 
Gegensatz  stellen  wollen:  auch  Augustus  und  sein  Reich  bezeichnen 
die  neue  Zeit.  Das  kann  man  auch  aus  der  Apostelgeschichte 
herauslesen,  die  zwar  ni.  E.  keine,  bewußte  politische  Tendenz  hat, 
die  aber  im  Gegensatz  zum  jüdischen  Volke  in  dem  römischen 
Reich  den  gewiesenen  Boden  für  die  neue  Religion  sieht,  von 
aller  Kaiseri'eindschaft  weit  entfernt  ist  und  solche  Tatsachen  gern 
hervorhebt,  die  in  der  nächsten  Vergangenheit  eine  tolerante  Ge- 
sinnung der  Obrigkeit  gegen  die  Christen  beweisen. 

Justin  schreibt  (Apol.  l,  12)  an  den  Kaiser:  docoyol  vuJy  y.al 
ovuuayoi  rrgog  eigijyyjv  eo^nkv  ndvrcov  f.iäAAov  äv&QujJion'.  Er  er- 
kennt damit  an,  daß  der  Zweck  des  Reiches  ein  guter  ist  (die 
pax  terrena),  und  daß  ihn  die  Kaiser  erreichen  wollen.  Indem 
er  aber  die  Christen  als  diejenige  flacht  bezeichnet,  die  am  besten 
geeignet  ist,  diesen  Zweck  durchzusetzen  —  weil  sie,  vor  allem 
Verbrechen  zurückscheuend,  streng  sittlich  leben  und  strenge 
Sittlichkeit  lehren,  und  weil  sie  die  Dämonen,  diese  größten 
Feinde  des  Menschengeschlechts,  verscheuchen  und  austreiben-  — , 
statuiert  er  gewissermaßen  ein  positives  Verhältnis  zwischen  Kirche 
und  Reich. 

Der  Verfasser  des  Briefes  an  den  Diognet,  indem  er  Christen 
und  Welt  (Staat)  unterscheidet  wie  Seele  und  Leib  (c.  6)  und 
seine  Darstellung  ihres  Verhältnisses  auf  Antithesen  hinausspielt, 
statuiert  doch  eben  dadurch  auch  ein  positives  Verhältnis  zwischen 
beiden  Größen:  iyy.tyJ.eioTai  ftkv  fj  yv/ij  reo  oo^uazi,  ovveyei  6e 
nuT}j  To  oc7)f(a'  y.al  Xotortayol  yare/oriai  uh'  (bg  Iv  qoovoä  t(5 
y.öotuo,  avTol  (5t  ovrfyovoi  tov  y.öouov  (cf.  Ahnliches  bei  Justin, 
Apol."  11,  7).  '  ' 


')  Auch  der  Ausdruck  im  Epbeserbrief  (2,  14):  aviö^  iaiiv  »/  stor'jvt]  y,ucor, 
ist  der  Sprache,  in  welcher  man  in  Asien  von  dem  Kaiser  sprach,  nachge- 
bildet. Wie  sehr  die  lucanische  Sprache  in  dem  betreuenden  Abschnitt  von 
dieser  beeinflußt  ist.  habe  ich  an  einem  anderen  Ort  gezeigt.  Gewiß  hat 
man  auch  Luc.  2,  14  und  Ephes.  2,  14  au  Micha  5,  4  zu  denken;  aber  das  ist 
eben  für  jene  Zeit  und  Anschauung  das  Charakteristische,  daß  verschiedene 
Linien  konvergierten. 

-)  Wo  die  den  Staat  erhaltende  und  die  Menschheit  befreiende  Macht 
des  christlichen  Volkes  verkündigt  wird,  da  sind  es  immer  diese  beiden 
Momente,  die  in  Betracht  kounneu  —  die  strenge  Sittlichkeit  und  die  Macht 
über  die  Dämonen.  Jene  Watte  führen  auch  andere,  wenn  auch  nicht  so  gut; 
diese  aber,  die  Macht  über  die  Dämonen,  steht  nur  den  Christen  zu,  und  des- 
hall)  leisten  sie,  so  wenig  zahlreich  sie  sein  mögen,  dem  Menschengeschlecht 
und  dem  Staat  einen  unvergleichlichen  Dienst.  Von  hier  aus  ist  das  christ- 
liche Selbstbewußtsein,  die  konservative  und  befreiende  Macht  in  der  Welt 
zu  sein,  erwachsen. 


Die  Botschaft  von  dem  nein  n  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      223 

Alles  dieses  ist  bereits  positive  Politik^;  aber  am  weitesten 
in  dieser  Richtung  ist  Melito  gegangen  (bei  Euseb.,  li.  e.  lA',  20). 
Es  ist  nicht  zufällig,  daß  er  in  dem  loyalen  Kleinasien  schreibt. 
Er  hat  den  AVink  dos  Lucas  in  bezug  auf  Augustus  und  alles, 
was  sonst  an  positiven  J5eziehung(Mi  zwischen  Kirche  und  Welt- 
reich bereits  geltend  gemacht  worden  war.  wohl  beachtet  und  ist 
nun  zu  folgender  Darstellung  in  seiner  Apologie  an  Marc  Aurel 
fortgeschritten: 

„Diese  unsre  Philosophie  hat  zwar  zuerst  bei  einem  frem- 
den Yolke  gegrünt.     Als   sie    aber  darauf  unter  der  gewaltigen 
Herrschaft  deines  Yorgängers  Augustus  in  den  Provinzen  deines 
Reichs   zu   blühen  begann,    brachte    sie    deinem  Reiche    in   be- 
sonderer Weise   reichen   Segen.     Denn  es   hat  ja  von  der  Zeit 
an  das  römische  Reich  immer  an  Größe  und  Glanz  zugenommen, 
dessen  erwünschter  Beherrscher  du  bist  und  sein  wirst  zugleich 
mit  deinem  Sohne,   wofern  du  diese  unter  Auo-ustus  beo-onnene 
und  zugleich  mit  dem  Reiche  großgezogene  Philosophie,  welche 
auch  deine  Vorfahren  neben    den  anderen  Religionen   in  Ehren 
gehalten,    beschützen  willst.     Und  zum  stärksten  Beweise,    daß 
unsre  Religion  zugleich  mit  der  so  glücklich  begonnenen  Monar- 
chie zum  Wohle  derselben  aufgeblüht,  dient  der  Umstand,  daß 
diese  seit  der  Regierung  des  Augustus  von  keinem  Unglück  be- 
troffen worden  ist,    sondern  daß   im  Gegenteil  nach  dem  allge- 
meinen Wunsche  alles  nur  deren  Glanz  und  Ruhm  vermehrt  hat." 
Melitos    Gedanken^    brauchen    nicht    analysiert    zu    werden; 
deutlich   und  klar  sind   sie  ausgesprochen:    der  Weltstaat  und  die 
christliche  Religion  sind  Milchschwestern:  sie  gehören  zusammen; 
sie  bilden  die  neue  Stufe  der  Geschichte;  die  christliche  Religion 
bedeutet    den  Segen   und    die  Wohlfahrt   des  Reichs;    sie    ist    das 
Innere    zu    dem   Äußeren;    nur  wenn  sie  beschützt  wird  und   sich 
frei  entfalten  kann,  bleibt  das  Reich  in  Größe  und  Glanz.    Trimmt 
man  nicht  an ,  daß  Melito  lediglich  hat  schmeicheln  wollen  — 
und  es  ist  kein  Grund  zu  dieser  Annhme,  wenn  auch  Schmeichelei 
nicht  fehlt  — ,   so  folgt,    daß  er  wirklich  in  dem  Christentum  die 
zu  dem  Weltstaate  gehörige,    ihm  zugeordnete   und   ihn   tras'ende 


')  Dazu  möchte  ich  es  auch  rechnen,  wenn  Athenagoras  in  seiner  Sup- 
plicatio  an  die  Kaiser  (c.  18)  sagt:  s/ons  dcp'  kaviöjv  xal  Ttjv  ejrovoäviov  ßaoi- 
Xslav  i^erä^etv  w;  yag  viliTv  jiarol  xai  vlco  nävza  HSxeiQcoiai,  ärojßsv  ztjv  ßaoi- 
Xsiav  sU.rjqiöoi  —  ßaotkscog  yao  rpvyj]  sv  xsiol  -d^eov,  q>t]oi  t6  jzQoq^ijrixov  jivEVfj,a  — , 
ovxoog  evi  tm  -Oeco  xal  toj  jtao'  aviov  löyio  vioj  vooi\uiy(o  dfieoiazfo  Tiävra  unoieraxTai. 

-)  Tertullian  urteilte  anders ;  von  einer  Solidarität  von  Christentum  und 
Kaisertum  weiß  er  nichts:  „sed  et  Caesares  credidissent  super  Christo,  si  aut 
Caesares  non  esseut  necessarii  saeculo,  aut  si  et  Christian!  potuissent  esse 
Caesares"  (Apol.  21). 


221  Die  Missioiispredigt  in  Wort  und  Tat. 

innere  ^laclit  erkannt  hat.  Die  spätere  Entwicklung-  der  Dinge 
Init  ihm  Hecht  gegeben,  und  in  diesem  Sinne  ist  er  als  Politiker 
bewunderungswürdig;  aber  noch  bewunderungswürdiger  ist  es, 
daß  er  diesem  zu  seiner  Zeit  noch  geringem  Yolke  der  Christen 
um  ihrer  Religion,  d.  h.  ihres  transzendenten  Guts,  willen,  die 
Kraft  zugetraut  hat.  den  Staat  zu  erhalten^  —  daß  er  überhaupt 
die  Christenheit  als  die  parallele  Größe  zum  Staate  erkannt  hat. 
Es  gibt  noch  einen  altchristlichen  Schriftsteller,  dem  die 
Analogie  von  Weltstaat  und  Christenheit  aufgegangen  ist  (am 
Punkte  der  Okumenizität):  aber  er  hat  sie  in  einer  überraschenden 
Weise  zu  erklären  versucht,  die  eine  große  Feindseligkeit  gegen 
das  Reich  verrät.     Hippolyt  schreibt  (in  Daniel.  lY,  9): 

j.Denn  da  im  12.  Jahre  der  Herr  unter  dem  Kaiser  Augustus 
geboren  wurde,  von  dem  an  das  Reich  der  Römer  sich  ent- 
wickelte, durch  die  Apostel  aber  der  Herr  alle  Nationen  und 
alle  Zungen  hinzurief  und  das  Yolk  der  gläubigen  Christen 
schuf,  das  Herrenvolk  und  das  Yolk  derer,  die  einen  neuen 
Xamen  ti'agen  —  so  ahmte  das  Reich  dieser  Zeit,  das  da 
herrscht  „nach  Kraftwirkung  des  Satans",  dies  genau  nach  und 
sammelt  seinerseits  auch  aus  allen  Yiilkern  die  Edelsten  und 
rüstet  zum  Streit,  sie  Römer  nennend.  Und  deshalb  war  auch 
die  erste  Schätzung  unter  Augustus,  als  der  Herr  in  Bethlehem 
geboren  wurde,  damit  die  Menschen  dieser  AYelt,  für  den  irdi- 
schen König  angeschrieben,  Römer  genannt  würden,  die  an 
den  himmlischen  König  Glaubenden  aber  Christen  hießen,  das 
Zeichen  des  Sieges  über  den  Tod  an  der  Stirne  tragend." 

Die  Okumenizität  des  römischen  Reichs  ist  also  eine  satanische 
Kachäffung  der  Christenheit:  wie  die  Dämonen  die  christliche 
Philosophie  gestohlen,  wie  sie  den  christlichen  Kultus  und  die 
Sakramente  nachgeäfft  haben,  so  haben  sie  auch  durch  Stiftung 
des  großen  kaiserlichen  Römerreichs  ein  Plagiat  an  der  Kirche 
begangen!  Dies  ist  wohl  der  kräftigste,  aber  auch  dreisteste 
Ausdruck  des  christlichen  Selbstbewußtseins,  der  sich  denken 
läßt!  Den  wahren  christlichen  Kosnn)politismus  hat  Octavius 
(^finucius  33)  so  formuliert:  „nos  gentes  nationesque  distinguimus: 
deo  una  donuis  est  mundus  hie  totus." 

Gerechter  politisiert  Origenes,  aber  wie  hochfliegend  sind  seine 
Gedanken!  In  den  caj)]).  (58 — 75  des  8.  Puchs  gegen  Celsus  trägt 
er,    eine   uralte    christliche  Yorstellung  umdeutend   und   eine   pla- 


')  Vgl.  dazu  Orig.  c.  Geis.  VIII,  70:  «/./.'  oi  xaW  vnodeaiv  Ksloov  Tiuvrsg 
clr  rrfioOtrifc;  'Pco/iaToi  evyö^isvoi  Jisouoovzat  tmv  no?.Fiu(ov  tj  ov(^e  t)]V  uQ/jjv 
Tio/.fin'/oovTai,  (f()ov(iovfifvoi  vjio  -Oeiag  övvä/iFCo;,  ryg  dia  ctcvti'jxovtu  öixaiovg 
jiivTE  :jö/.tig  ö'/.ag  i.-cayygi/.afitvr/g  öiaocjaai. 


Die  Botschaft  von  dem  neuen  Volk  und  dem  dritten  Geschlecht.      225 

tonische  benutzend,  die  Idee  vor,  daß  die  Kirche  —  der  y.oojnoi; 
Tov  xoofiov  (in  Joh.  VT,  3S)  —  in  der  Zukunft  der  göttliche  Welt- 
staat sein  werde;  sie  sei  bestimmt,  das  römische  Reich,  ja  die 
Menschheit,  in  sich  aufzunehmen  und  die  Staaten  zu  verbinden 
und  zu  ersetzen.  Cf.  c.  6S:  „Denn  wenn  alle  es  ebenso  machten, 
wie  wir,  um  mit  Celsus  zu  reden,  so  würden,  darüber  kann  kein 
Zweifel  bestehen,  auch  die  Barbaren,  die  das  Wort  Gottes  an- 
nähmen, ganz  gesittet  und  gutartig  werden,  so  würden  alle  Reli- 
gionen ihr  Ende  finden  und  die  christliche  die  allein  herrschende 
sein  —  sie  wird  einst  auch  allein  herrschen,  da  das  Wort 
immer  mehr  Seelen  gewinnt."  Damit  ist  die  urchristliche 
Hoffnung  umgebogen:  die  Kirche  erscheint  als  die  sittigende  und 
vereinigende  Macht,  welche  einen  einheitlichen  Menschheitsstaat 
schon  im  Diesseits  schaffen  wird.  Freilich,  ganz  sicher  ist  es  dem 
Origenes  nicht,  daß  dies  im  Diesseits  wirklich  möglich  ist;  denn 
bereits  c.  72  schreibt  er  in  bezug  auf  die  Frage,  ob  Asien, 
Europa  und  Libyen,  Crriechen  und  Barbaren,  in  der  Anerkennung 
eines  Gesetzes  übereinstimmen  könnten  (Celsus  stellte  das  in  Ab- 
rede): y.al  TOt/a  ah]ßco^  ädvraTOv  ^aev  to  toiovto  roig  eti  ev  ocouaoi, 
ov  jiiev  äövajov  y.al  OLTioXvdEloiv  avTcöv^.  In  II,  30  schreibt  Ori- 
genes: „In  Jesu  Tagen  ging  die  Gerechtigkeit  auf  und  die  Fülle 
des  Friedens;  sie  begann  mit  seiner  Geburt.  Gott  bereitete  die 
Yölker  auf  seine  Lehre  vor  und  machte,  daß  der  römische  Kaiser 
die  ganze  Welt  beherrschte ;  es  sollte  nicht  mehrere  Reiche  geben, 
sonst  wären  ja  die  Yölker  einander  fremd  geblieben  und  der  Voll- 
zug des  Auftrages  Jesu:  „Gehet  hin  und  lehret  alle  Völker",  den 
er  den  Aposteln  gab,  schwieriger  gewesen." 

Aber  der  große  Kirchenvater,  der  auch  ein  großer  und  ein- 
sichtiger Politiker  war,  trägt  in  seinem  Werke  gegen  Celsus 
(III,  29.  30)  noch  eine  politische  Beobachtung  vor,  die  nicht  hoch- 
fliegend sondern  nüchtern  ist,  aber  dafür  den  Vorteil  hat,  zu- 
treffend und  eindrucksvoll  zu  sein.  Obschon  sie  etwas  umfang- 
reich ist.  setze  ich  sie  hierher,  weil  sie  in  der  altchristlichen 
Literatur  nicht  ihresgleichen  hat: 

„Apollo  wollte  nach  Celsus  von  den  Metapontinern,  daß 
sie  den  Aristeas  für  einen  Gott  halten  sollten.  Sie  aber  hielten 
den  Aristeas  für  einen  Menschen  und  vielleicht  nicht  einmal 
für  einen  tüchtigen,  und  diese  ihre  Überzeugung  war  ihnen 
sicherer  als  der  Orakelspruch,  der  ihn  für  einen  Gott  erklärte. 


^)  Die  politische  Kannegießerei,  die  Celsus  (c.  71)  von  einem  Christen 
gehört  haben  will,  verstehe  ich  so  wenig  wie  Origenes  sie  verstanden  hat. 
»Sie  stammt  schwerlich  von  einem  solchen;  was  ihr  zugrunde  liegt,  läßt  sich. 
nicht  mehr  ermitteln.     Ich  lasse  sie  daher  beiseite. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  J5 


226  Rie  Mii^sionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

dem  göttliche  Ehre  zu  erweisen  sei.  Deshalb  wollten  sie  dem 
Apollo  nicht  gehorchen,  und  so  hielt  niemand  den  Aristeas  für 
einen  Gott.  Was  aber  Jesus  betrifft,  so  können  wir  sagen, 
daß  es  dem  Menschengeschlecht  Segen  brachte,  ihn  als  Sohn 
Gottes  anzuerkennen,    als  Gott,    der  in  menschlicher  Seele  und 

mensclilichem  Leibe  erschienen  ist Gott,   der  Jesum 

gesandt  hatte,  vereitelte  alle  Nachstellung  der  Dämonen  und 
verhalf  auf  der  ganzen  Erde  dem  Evangelium  Jesu  zur  Be- 
kehrung und  Besserung  der  Menschen  zum  Siege  und  ließ  überall 
Kirchen  entstehen,  die  eine  andere  Politie  haben  als  die  Kirchen 
dämonenverehrender,  ausschweifender  und  ungerechter  Menschen. 
Denn  so  beschaffen  sind  die  Massen,  welche  überall  die  städtischen 
„Kirchen"  bilden.  Die  Kirchen  Gottes  aber,  die  Christus  geschult, 
sind  —  wenn  man  sie  mit  den  „Kirchen"  der  Volksmassen,  unter 
denen  sie  als  Fremdlinge  wohnen,  vergleicht,  —  „wie  Lichter  in 
der  Welt".  Denn  wer  muß  nicht  bekennen,  daß  selbst  die  ge- 
ringeren Mitglieder  der  Kirche  und  solche,  die  gemessen  an  den 
Yorzüglicheren  tiefer  stehen,  doch  viel  besser  sind  als  die  Mit- 
glieder der  profanen  Kirchen?" 

„Da  ist  die  Kirche  Gottes  zu  Athen;  sie  ist  friedfertig  und 
liebt  die  Ordnung:  denn  sie  will  Gott,  dem  Anherrschenden, 
gefallen.  Die  lürclie  der  Athener  aber  ist  aufsässig  und  kann 
in  keinem  Sinne  mit  der  dort  befindlichen  Kirche  Gottes  ver- 
glichen werden.  Dasselbe  hat  man  betreffs  der  Kirche  Gottes 
in  Corinth  und  der  Kirche  des  Volks  der  Corinther  zu  sagen, 
sowie  betreffs  der  Kirche  Gottes  in  Alexandrien  und  der  Kirche 
des  alexandrinischen  Volkes.  Und  wenn  ein  wohlgesinnter  Mami 
davon  hört  und  mit  Liebe  zur  Wahrheit  den  Sachverhalt  prüft, 
so  wird  er  den  bewundern,  der  den  Gedanken  gefaßt  und  ihn 
zu  verwirklichen  vermocht  hat,  überall  Kirchen  Gottes  einzu- 
richten, die  da  als  Fremdlinge  mitten  unter  den  Kirchen  der 
Volksmassen  jeglicher  Stadt  wohnen.  Ferner,  auch  wenn  man 
den  Rat  der  Kirche  Gottes  mit  dem  Rat  der  Städte,  Stadt  für 
Stadt,  vergleicht,  so  dürfte  man  finden,  daß  manche  Ratsherrn 
der  Kirche  eine  Stadt  Gottes  zu  leiten  verdienen,  wenn  es  eine 
solche  in  der  Welt  gibt;  die  überall  sieh  findenden  [weltlichen] 
Ratsherrn  aber  haben  in  ihrem  Wandel  nichts,  was  die  aus 
ihrer  amtlichen  Stellung  fiießende  Superiorität  rechtfertigte,  in 
der  sie  ihre  Mitbürger  zu  überragen  scheinen.  Und  so  steht 
es  auch  bei  einem  Vorgleich  zwischen  dem  Vorsteher  der  Kirche 
jeder  Stadt  mit  den  l^ürgermeistern;  man  wird  finden,  daß  selbst 
die  Ratsherrn  und  Vorsteher  der  Kirche  Gottes,  welche  weniger 
vollkomm(m  sind  und  ihren  eifrigeren  Kollegen  gegenüber  als 
lässig  gelten  können,  auf  den  Wandel  gesehen,  generell  in  den 


Die  Beurteil,  der  Christen  als  drittes  Geschlecht  seit,  ihrer  Gegner.      227 

Tugenden  weiter  vorg-eschritten   sind,    als   die  städtischen  Ilats- 
lierrn  und  Yorsteher.'-' 

Hier  breche  ich  diesen  Teil  der  Untersuchung  ab.  Das  An- 
geführte wird  genügen,  um  sich  ein  Bild  davon  zu  machen,  wie 
sich  die  Christen  als  das  neue  Volk  und  als  das  dritte  Geschlecht 
gefaßt  und  welche  Konsequenzen  sie  aus  diesen  Vorstellungen 
gezogen  haben.  Wie  aber  beurteilten  die  Griechen  und  Römer 
die  Erscheinung  der  Christenheit  und  ihre  immensen  Ansprüche? 
In  einem  Exkurse  soll  dieser  Frage  Genüge  geschehen. 


Exkurs: 


Die  Beurteilung  der  Christen  als  drittes  Geschlecht 
seitens  ihrer  Gegner. 

Um  die  Beurteilung  der  Christenheit  seitens  der  Griechen  und  Römer 
richtig  zu  würdigen,  muß  man  sich  zunächst  erinnern,  wie  die  Juden  im 
Reiche  angesehen  und  beurteilt  wurden;  denn  es  war  allgemein  bekannt, 
daß  die  Christen  von  den  Juden  ausgegangen  waren. 

Nichts  ist  sicherer,  als  daß  die  Juden  in  dem  Römerreiche  als  ein  be- 
sonderes Volk  gegenüber  allen  anderen  Völkern  unterschieden  wurden.  Ihre 
bildlose  Gottesverehrung  und  ihre  Ablehnung  des  Staatskultus  (äßenit]?)  sowie 
ihre  Exklusivität  (dfii^ia)  hoben  sie  als  einzigartig  aus  allen  Nationen  heraus*. 
Diese  Einzigartigkeit  hatte  Cäsar  durch  seine  Gesetzgebung  zur  öffentlichen 
Anerkennung  gebracht.  Wurde  doch  —  eine  kurze  Epoche  abgerechnet  — 
nicht  einmal  der  Kaiserkult  von  den  Juden  verlangt.  So  standen  sie  allein 
und  für  sich  neben  allen  anderen  Völkern ,  die  das  römische  Reich  umfaßte 
oder  mit  denen  es  Bundesgenossenschaft  geschlossen  hatte.  Die  runde 
Formel:  „Wir  und  die  Juden"  findet  sich  m.  W.  in  der  griechisch-römischen 
Literatur  nicht-,   aber  die  Sache   war  da,    d.  h.  die   Betrachtung  war  ganz 


*)  Dazu  kamen  noch  ihre  besonderen  Sitten  (Beschueidung.  Verbot  des 
Schweinefleisches,  Sabbath  etc.);  aber  diese  wirkten  doch  nicht  so  stark,  um 
den  Charakter  der  Einzigartigkeit  zu  begründen,  wie  a&sön^g  und  dfu^ia. 
Zum  Teil  dieselben,  zum  Teil  ähnliche  Sitten  fanden  sich  ja  auch  bei  anderen 
orientalischen  Völkern.  Zu  ddeoT)]^  (s.  meine  Abhandlung:  Der  Vorwurf  des 
Atheismus  in  den  drei  ersten  Jahrhunderten,  Texte  u.  Unters.  Bd.  28  Heft  4): 
Plinius,  bist.  nat.  XIII,  4,  46:  ,gens  contunielia  uuminum  insignis";  Tacitus, 
hist.  V,  5:  „ludaei  mente  sola  unumque  numen  intellegunt  ....  igitur  nulia 
simulacra  urbibus  suis,  nedum  templis  sistunt;  non  regibus  haec  adulatio, 
non  Caesaribus  honor."  Juvenal,  Satir.  XIV,  97:  „nil  praeter  nubes  et  caeli 
numen  adorant,"  etc.  etc.  Zu  /tiiaai'i^fjcojria  und  d/xi^ia:  Tacitus,  1.  c:  „apud 
ipsos  fides  obstinata,  misericordia  in  promptu,  sed  adversus  omnes  alles 
hostile  odium" ;  schon  früher  Apollonius  Molen  (bei  Josephus,  c.  Apion.  II,  14). 
Schürer,  Geschichte  des  jüd.  Volks  IIP  S.  418. 

^)  Doch  s.  die  epistula  Aristeae  §16  (ed.  Wendland,  1900,  p.  6):  zöv 
^dvTcov  ijiöjTTtjv  xat  xtioxjjv  dsov  ovioi  oißovrai ,  ov  y.al  jiärzsg ,  i'jfisTg  ds  ur.Qoa- 
ovoj-Mi^ovieg  irsQCog  Zf/va  y.al  Aia. 

15* 


228  Die  ]\Ii.ssionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

geläufig,  daß  die  Juden  eine  Volkserscheinung  für  sich  sind,  daß  dagegen 
die  anderen  Völker  gemeinsame  Merkmale  haben,  welche  jenen  fehlen'.  In 
allen  Provinzen  und  Städten  ferner  unterschieden  sich  die  Juden  —  und  nur 
sie  —  durch  ihre  staatsrechtliche  Stellung  und  ihr  bürgerliches  Verhalten 
von  der  Bevölkerung,  unter  welcher  sie  lebten.  Aber  eben  diese  Einzigartig- 
keit wurde  ihnen  als  Mangel  an  Gemeinsinn  und  Patriotismus,  als  Schimpf 
und  Schande  ausgelegt  —  von  Apollonius  Molon  und  Posidonius  an  bis  zu 
Plinius,  Tacitus  und  den  Späteren^,  wenn  auch  einige  Einsiehtigere  den 
„philosophischen"  Charakter  der  Juden  nicht  verkannten'. 

Aus  diesem  jüdischen  Volke  sich  entbindend,  trat  nun  die  Christenheit 
den  Griechen  und  Römern  entgegen.  Einiges,  was  bei  den  Juden  Anstoß 
erregte,  fehlte  hier,  aber  das  Anstößigste  erschien  in  potenzierter  Gestalt  — 
die  udeört]g  und  die  ujui^ia  (juioavdgco.-rta).  Daher  wurde  die  christliche 
Religion  als  „superstitio  nova  et  malefica"  *,  als  „superstitio  prava,  immo- 
dica"  ^  als  „exitiabilis  superstitio"^,  als  ,vana  et  demens  superstitio"",  die 
Christen  selbst  als  „per  flagitia  invisi"  bezeichnet  und  ihnen  das  „odium 
generis  humani"  schuld  gegeben*. 

Wohl  urteilten  im  Laufe  des  2.  Jahrhunderts  und  im  dritten  einige  ver- 
ständige Leute  anders  —  Lucian  sieht  in  den  Christen  halbverrückte,  leicht- 
gläubige Schwärmer,  denen  er  jedoch  seine  Achtung  nicht  ganz  entziehen 
kann,  Galen  erklärt  ihre  Lebensweise  für  philosphisch  und  spricht  mit  hohem 
Respekt  von  ihnen  ^  Porphyrius  behandelt  sie  und  namentlich  ihre  Theologen, 
die  Gnostiker  und  Origenes,  als  respektable  Gegner'",  aber  die  große  Menge 
der  Literaten  blieb  dabei,  daß  es  sich  um  eine  ganz  abscheuliche  Erscheinung 
handle.    ,Latebrosa  et  lucifuga  natio",  ruft  der  Heide  Cäcilius  bei  Minucius 


')  Eine  scharfe  Dreiteilung  (Ägypter,  Hellenen,  Juden)  fand  in  Ägypten 
statt,  s.  Schürer,  1.  c.  IIP  S.  2o. 

'•')  Apollonius  Molon  bei  Josephus,  c.  Apion.  II,  14:  „die  unfähigsten  unter 
den  Barbaren,  äOeoi ,  faaürdoa>:Toi''.  Seneca  bei  Augustin,  de  civit.  VI,  11: 
jSceleratissima  gens".  Tacitus,  bist.  V,  8:  ..despectissima  pars  servientium_ — 
laeterrima  gens".  Plinius,  1.  c.  Marc  Aurel  bei  Ammian  XXII,  5.  Caecilius 
bei  Minucius  Felix  10:  „ludaeorum  misera  gentilitas". 

^)  Aristoteles  nach  Clearch:  q-döao^foi  .-ragä  Zroocg.  Theophrast  nach 
Porj^hyrius:  ärs  (pilöoocfoi  tö  yivoc  ovTFg.  Strabo  XVI,  2,  35  p.  760  f.  Varro 
bei  Augustin,  de  civit.  IV,  31. 

*)  Sueton,  Nero  16.  —  '")  Plinius.  ep.  X,  96  (97). 

«)  Tacitus,  annal.  XV,  44.  —  ')  Minuc.  Felix  9. 

8)  Tacitus,  I.e.,  cf.  Tertull.  Apol.  35:  „publici  hostes" ;  37:  „bestes  ma- 
luistis  vocare  generis  humani  Christianos".  Minucius  c.  10:  ^pravae  religionis 
obscuritas";  c.  8:  ,.homines  deploratae,  inlicitae  ac  desperatae  factionis" ; 
^plebs  profanae  coniurationis" ;  c.  9:  ,sacraria  taeterrima  impiae  coitionis"; 
„eruenda  et  execranda  consensio". 

")  Die  Stelle  ist  nur  im  Arabischen  erhalten  (s.  o.  im  4.  Kap."). 

'")  Über  die  geschichtlichen  Grundlagen  der  christlichen  Religion  und 
ihre  heiligen  Bücher  Neuen  Testaments  haben  Porphyrius  und  die  Neuplato- 
niker  im  allgemeinen  nicht  günstiger  geurteilt  als  Celsus,  und  auch  im  Alten 
Testament  landen  sie  viel  Unsinn  und  Lnge  (darin  mit  den  christlichen 
Gnostikern  übereinstimmend);  ja  niemand,  auch  Celsus  nicht,  hat  die  evan- 
gelische Geschichte  so  scharf  und  abschätzig  kritisiert  wie  Porphyrius.  Allein 
erstlieh  erschien  ihnen  manches,  Avas  in  eleu  Büchern  Mosis  zu  lesen  stand 
und  bei  Johannes,  wertvoll,  sodann  hatten  sie  vor  der  christlichen  Religions- 
philosoi)hie  einen  hohen  Respekt  und  suchten  sich  mit  ihr  ernsthaft  aus- 
einanderzusetzen. Dabei  erkannten  sie,  daß  ihnen  die  kirchliche  Religions- 
philosophie viel  näher  stand  als  die  gnostische;  denn  das  abschätzige  Urteil 
über  die  Welt,   welches  sie  in  dieser  fanden ,   und  der  Dualismus  erschienen 


Die  Beurteil,  der  Christen  als  drittes  Geschlecht  seit,  ihrer  Gegner.     229 

Felix  (c.  8f.)  aus,  „in  j)ublicum  muta,  in  angulis  garrula;  templa  ut  busta 
despiciunt,  deos  despuunt,  rideut  sacra"  .  .  .  „occultis  se  notis  et  insignibus 
no.scunt  et  aniant  mutuo  paeue  antequam  noverint"  .  .  .  ^cur  nullas  aras 
habent,  templa  nulla,  nulla  nota  siraulacra  .  .  .  nisi  illud  quod  coluut  et 
interprimunt,  aut  punienduiii  est  aut  pudendum?  unde  autem  vel  quis  ille 
aut  ubi  deus  unicus,  solitarius,  destitutus,  quem  non  geus  libera,  non 
regna,  non  saltem  Romana  superstitio  uoveruntV  Judaeorum  sola  et  misera 
gentilitas  unum  et  ipsi  deum,  sed  palam,  sed  temi^lis,  aris,  victimis  caeremo- 
niisque  coluerunt,  cuius  adeo  nulla  vis  ac  potestas  est,  ut  sit  Romanis 
numinibus  cum  sua  sibi  natione  captivus.  at  iam  Christiani  quanta  monstra, 
quae  portenta  coufingunt!"  Man  sieht  —  Cäcilius  sieht  eine  absteigende 
Reihe  vor  sich  in  bezug  auf  die  numina  und  den  cultus:  Romani,  Judaei, 
Christiani. 

So  monströs,  so  widerlich  sind  diese  Christen  —  Cäcilius  erzählt  des 
weiteren  die  schlimmsten  Dinge  von  ihrem  Glauben  und  ihrem  Leben  — , 
daß  sie  gleichsam  aus  der  übrigen  Menschheit  herausfallen.  So  nennt  sie 
denn  auch  Cäcilius  eine  „uatio",  obschon  er  weiß,  daß  sie  sich  aus  der  Hefe 
der  Völker  rekrutieren,  also  kein  Volk  im  nationalen  Sinne  sind.  Der  Christ 
Octavius  muß  sie  gegen  diesen  Vorwurf,  eine  unmenschliche  Erscheinung 
zu  sein,  verteidigen,  und  noch  eingehender  tut  das  Tertullian  im  Apologeticus 
und  in  der  Schrift  ad  uationes.  In  beiden  Schriften  ist  die  Abwehr  des  Vor- 
wurfs, die  Christenheit  sei  etwas  ganz  unmenschlich  Eigenartiges,  ein 
Hauptpunkt.  „Alia  nos,  opinor,  natura,  Cynopennae  fCynopaeV]  aut  Scia- 
podes",  heißt  es  Apolog.  8,  „alii  ordines  dentium,  alii  ad  incestam  libidinem 
nervi?  .  .  .  homo  est  enim  et  Christianus  et  quod  et  tu."  Und  Apol.  16  muß 
Tertullian  böse  Lügengeschichten  in  bezug  auf  die  Christen  widerlegen,  die, 
wären  sie  wahr,  die  Christen  wirklich  als  eine  ganz  besondere  Art  von 
Menschen  erscheinen  ließen.  Aber  in  Wahrheit  —  „Christiani  homines  sunt 
vobiscum  degentes,  eiusdem  victus,  habitus,  instructus,  eiusdem  ad  vitam 
necessitatis.  neque  enim  Brachmanae  aut  Indorum  gymnosophistae  sumus, 
silvicolae  et  exules  vitae  .  .  .  si  caeremonias  tuas  non  frequento,  attamen  et 
illa  die  homo  sum"  (Apol.  42).  „Cum  concutitur  Imperium,  concussis  etiam 
ceteris  membris  eins  utique  et  nos,  licet  extranei  a  turbis  aestimemur', 
in  aliquo  loco  casus  invenimur"  (Apol.  31).  Daß  die  Christen  als  etwas  ganz 
Absonderliches  auffielen,  trat  auch  in  den  Spott-  und  Schimpfnamen,  die 
man  ihnen  gab,  hervor  (cf.  z.  B.  Apol.  50). 


ihnen  wie  ein  frivoles  Attentat  an  der  Gottheit.  Dagegen  erklärte  Porphyrius 
von  Origenes:  „Sein  äußeres  Leben  war  das  eines  Christen  und  widergesetz- 
lich; in  bezug  auf  seine  Ansichten  von  den  Dingen  und  von  der 
Gottheit  aber  dachte  er  wie  ein  Hellene,  schob  aber  die  Vorstellungen 
der  Hellenen  fremden  Mythen  unter"  (bei  Euseb  ,  h.  e.  VI,  19).  Über  Plotins 
Stellung  zur  kirchlichen  Gnosis  und  zum  Gnostizismus  vgl.  Karl  Schmidt 
in  den  , Texten  u.  Unters."  N.  F.  Bd.  V  Heft  4. 

')  Daher  die  wohl  verständliche  Aufforderung  an  die  Christen:  „Packt 
euch  aus  der  Welt,  in  die  ihr  nicht  gehört,  und  macht  uns  keine  Beschwerde"; 
vgl.  die  bereits  oben  zitierte  Stelle  aus  Justin.  Apolog.  11,4,  wo  die  Gegner 
zu  den  Christen  sprechen:  nüvzeg  e.avzovg  <povevoavrEQ  sroosveade  tjdt]  ;iaoä  xbv 
dein'  xol  ij/iiTy  :ioäyi.iaia  ///)  jiaosyjrs.  Tertullian  erzählt  (ad  Scapulam  .5), 
Arrius  Antoniuus,  der  Prokonsul  Asiens,  habe  den  Christen,  die  sich  freiwillig 
und  scharenweise  zur  Zeit  einer  Verfolgung  um  sein  Tribunal  drängten ,  zu- 
gerufen:  „Ihr  Unseligen,  wenn  ihr  sterben  wollt,  so  habt  ihr  Abgründe  und 
btricke."  Celsus  (bei  Orig.  c.  Cels.  Vlll.  55)  schreibt:  „Wenn  die  Christen  es 
unter  ihrer  Würde  halten,  sich  an  den  religiösen  Feierlichkeiten  zu  beteiligen 
und  den  Vorstehern  derselben  Verehrung  zu  erweisen,  so  sollen  sie  nicht  zu 


230  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Alles  dies  findet  sich  ebenso  in  den  beiden  gleichzeitig  mit  dem  Apolo- 
jreticus  geschriebenen  Büchern  ad  nationes,  aber  hier  tritt  noch  ein  Moment 
hinzu,  welches  unsere  besondere  Aufmerksamkeit  erregt.  Tertullian  sagt. 
die  Christen  würden  von  ihren  Gegnern  „genus  tertium"  genannt.  Die  Stellen 
sind  folgende: 

„adnat.  I,  8:  ,,Plaue,  tertium  genus  dicimur.  an  Cynopennae  aliqui 
vel  Sciapodes  vel  alic^ui  de  subterraueo  Antipodes?  si  qua  istic  apud  vos 
saltem  ratio  est,  edatis  velim  primum  et  secundum  genus,  ut  ita  de  tertio 
constet.  Psammetichus  quidem  putavit  sibi  se  de  ingenio  exploravisse 
Ijrima  generis.  dicitur  enim  infantes  recenti  e  partu  seorsum  a  comniercio 
hominium  alendos  tradidisse  uutrici,  quam  et  ipsam  propterea  elinguaverat, 
ut  in  totum  exules  vocis  humanae  non  auditu  formarent  loquellam,  sed 
de  suo  promentes  eam  primam  notionem  designarent  cuius  sonum  natura 
dictasset.  prima  vox  „beccos"  renuntiata  est;  interpretatio  eins  „panis" 
apud  Phrygas  nomeu  est;  Phryges  primum  genus  exinde  habentur  .  .  . 
sint  nunc  primi  Phryges,  non  tamen  tertii  Christiani.  quantae  enim  aliae 
gentium  series  post  Phrygas?  verum  reeogitate,  ne  quos  tertium  genus 
dicitis  principem  locum  obtineant,  siquidem  non  uUa  gens  non  Christiana. 
itaque  quaecumque  gens  prima,  nihilominus  Christiana.  ridicula  dementia 
novissimos  dicitis  et  tertios  nominatis.  sed  de  superstitione  tertium 
genus  deputamur,  non  de  natione,  ut  sint  Romani,  Judaei,  de- 
hinc  Christiani.  ubi  autem  Graeci  ?  vel  si  in  Romanorum  superstitioni- 
bus  censentur,  quoniam  quidem  etiam  deos  Graeciae  Roma  soUicitavit, 
ubi  saltem  Aegyptii,  et  ipsi,  quod  sciam,  privatae  curiosaeque  religionis? 
porro  si  tarn  moustruosi,  qui  tertii  loci,  quales  habendi,  qui 
primo  et  secundo  anteceduntV" 

Ferner  ad  nat.  I,  20  [nachdem  gezeigt  worden,  daß  die  den  Christen 
gemachten  Vorwürfe  auf  ihre  Ankläger,  die  Heiden,  zurückfallen]:  .,habe- 
tis  et  vos  tertium  genus  etsi  non  de  tertio  ritu,  attamen  de  tertio 
sexu.    illud  aptius  de  viro  et  femina  viris  et  feminis  iunctum." 


Männern  heranwachsen,  noch  Weiber  nehmen,  noch  Kinder  haben,  noch  mit 
den  Dingen  des  Lebens  sich  irgendwie  befassen,  sondern  sich  vielmehr  von 
hier  in  aller  Eile  fortmachen,  ohne  Nachkommen  zu  hinterlassen,  damit  diese 
Art  Ito  ToiovTov  yevog)  auf  Erden  gänzlich  ausgerottet  werde."  Die  Keichs- 
und  Kaiserfeindschaft  sowie  die  wirtschaftliche  Unfruchtbarkeit  waren  stehende 
Vorwürfe  gegen  die  Christen ,  denen  die  Apologeten  (besonders  Tertullian) 
entgegenzutreten  sich  bemühten.  Celsus  sucht  den  Christen  zu  zeigen,  daß 
sie  den  Ast  abzusägen  suchen,  auf  welchem  doch  auch  sie  sitzen  (VllI,  68): 
„Handelten  alle  wie  du,  so  wäre  der  Kaiser  (ßaadevg)  bald  allein  und  ver- 
einsamt, so  würden  die  Dinge  auf  Erden  in  kurzem  in  die  Hände  der  wil- 
desten und  abscheulichsten  Barbaren  geraten,  und  um  den  Ruhm  deiner 
Gottesverehrung  und  um  den  der  wahren  Weisheit  unter  den  Menschen  wäre 
es  geschehen."  Da  unter  allen  Religionsbekennern  fast  allein  die  Christen 
iür  reichsfeindlich  galten,  so  wurden  sie  bekanntlich  vom  Pöbel  für  die  groJ.^en 
Kalamitäten  verantwortlich  gemacht.  Die  Stellen  bei  Tertullian  sind  bekannt; 
vgl.  aber  auch  die  parallelen  Ausführungen  bei  Origenes,  in  Matth.  comment. 
ser.  39.  Auch  von  hier  aus  erschienen  die  Christen  als  eine  Gruppe  für  sich. 
Maximinus  Daza  spricht  in  seinem  Reskript  an  Sabinus  (Euseb  ,  h.  e.  IX,  9) 
von  dem  „si)voc:"  tmv  XQioziavcTjv.  Daß  es  den  Christon  gelungen  ist,  die 
verschiedenen  Völker  zu  einer  relativen  Einheit  durch  ihre  Gesetze  zu  ver- 
binden, sagt  das  Edikt  des  Galerius  widerwillig  (bei  Euseb.,  h.  e.  Vlll,  17,  7): 
roouvrri  avToi'g  nlforr'^ia  xaT£ayj'jX£i.  xai  ävoia  xazfiXt'jcpsi ,  w?  (xr]  t'jieadni  roLg 
V7TO  Töjv  jtÜ/mi  xutnfiec/^dnaiv  .  .  .  aXla  xaza  if/v  avTtöv  jigö&eotv  xni  mq  fxnoiog 
fßov'/.fio,  ovriog  iavToTg  xal  vöfiovg  TioiTjoai  xnl  rovrorg  :Tuoa(/ v/.urTfiy  xat  ev 
diaf/.ÖQoig  diü(fOiia  Ji/.t'/dtj  avväysiv. 


Die  Beurteil,  der  Christen  als  drittes  Geschlecht  seit,  ihrer  Gegner.     231 

Dazu  eine  Stelle  aus  der  Schrift  Scorpiace  (c.  10:  Anrede  an  die 
martyriumsscheuen  Häretiker):  „Illic  constitues  et  synagogas  Judaeorum, 
fontes  persecutionum,  apud  quas  apostoli  flagella  perpessi  sunt,  et  populos 
nationum  cum  suo  c^uidem  circo,  ubi  facile  conclamant:  ,Usque  quo 
gen  US  tertium'?" 

Aus  diesen  Stellen  geht  folgendes  hervor: 

(1)  Die  Bezeichnung  der  Christen  als  ,genus  tertium"  seitens  der  Heiden 
war  um  das  Jahr  200  in  Carthago  ganz  geläufig;  selbst  im  Zirkus  wurde 
gerufen:   ,,Usque  quo  genus  tertium?" 

(2)  Die  Bezeichnung  bezog  sich  ausschließlich  auf  die  Art  der  Gottes- 
vorstellung und  die  Gottesverehrung:  als  „genus  primum"  galten  Griechen, 
Kömer  und  alle  übrigen  Völker,  sofern  sie  gegenseitig  ihre  Götter  anerkennen, 
bezw.  auch  fremden  Göttern  Ehre  erweisen,  und  Opfer  und  Bilder  haben  und 
sich  dem  Kaiserkultus  unterwerfen;  das  „genus  alterum"  waren  die  Juden 
(Nationalgott,  Exklusivität,  Bildlosigkeit,  aber  Opfer)*;  das  „genus  tertium" 
bildeten  die  Christen  (geistiger  Gott,  Bildlosigkeit,  keine  Opfer,  „contemnere 
deos"  wie  die  Juden)  -. 

(3)  Wenn  Tertullian  so  spricht,  als  könne  sich  die  ganze  Unterscheidung 
auf  die  zeitliche  Aufeinanderfolge  der  Völker  beziehen,  so  ist  das  nur  pole- 
mische Dialektik;  auch  mit  der  Jungfräulichkeit  der  Christen  oder  umgekehrt 
mit  den  ihnen  zur  Last  gelegten  geschlechtlichen  Ausschweifungen  hat  die 
Bezeichnung  „tertium  genus"  nichts  zu  tun  ^. 

Das  was  sich  hier  ergeben  hat*,  ist  von  hoher  Bedeutung  für  den  Ein- 


1)  Cf.  ad  nat.  I,  8. 

-)  Vgl.  den  runden  Satz  ad  nat.  I,  8:  „de  superstitione  tertium  genus 
deputamur,  non  de  natione,  ut  sint  Romani,  Judaei,  dehinc  Christiani";  dazu 
1,20:  „tertium  genus  [dicimur]  de  ritu".  Da(3  sich  Tertullian  in  dieser  Deu- 
tung der  Bezeichnung  geirrt  haben  sollte,  scheint  mir  ganz  ausgeschlossen 
zu  sein. 

^)  Stellen  lassen  sich  wohl  nachweisen,  in  denen  die  Jungfräulichkeit 
(Geschlechtslosigkeit)  oder  die  widernatürliche  Uuzucht  als  „genus  tertium" 
oder  überhaupt  als  „genus"  aufgefaßt  wird  (TertulL,  de  virg.  vel.  7:  „Si  caput 
mulieris  vir  est,  utique  et  virginis,  de  qua  fit  mulier  illa  quae  nupsit,  nisi  si 
virgo  tertium  genus  est  monstruosum  aliquod  sui  capitis");  cf.  1.  c.  c.  5: 
das  weibliche  Geschlecht  als  „genus  secundi  hominis";  Pseudocypr. ,  de 
pudicit.  7:  „virginitas  neutrius  est  sexus" ;  Clemens  Alex.,  Paedag.  II,  10,85: 
ov8s  yäg  atSoTa  f^ei  t)  vcava  afia  ä/nq^w,  äogevog  xai  ßt'j^.eog,  xadcog  vjieih'jffaoi 
riveg,  egfia(poodirovg  reQaroloyovvTFg  xai  ZQirrjv  zavztjv  fisra^v  OrjXsiag  xai 
äggevog  avbgoyvvov  xaivoTOjiiodvz sg  (pvoiv,  cf.  andererseits  1.  C.  1,4,11: 
es  gibt  ein  Drittes.  Gemeinsames  über  den  beiden  Geschlechtern,  das  Mensch- 
seiu  und  der  Kindesstand;  Lampridius,  Alexander  Sev.  23:  „Idem  tertium 
genus  hominum  eunuchos  esse  dicebat" ;  aber  diese  Stellen  gehören  offenbar 
nicht  hierher. 

*)  Merkwürdig  ist,  daß  Tertullian  die  Charakteristik  „tertium  genus" 
für  die  Christen  überhaupt  nur  als  heidnische  Bezeichnung  zu  kennen  scheint 
und  nicht  auch  als  christliche.  Aber  selbst  wenn  er  es  verschwiege,  daß 
auch  die  Christen  selbst  ihre  Religion  „die  dritte  Art"  nennen,  so  müßte 
man  doch  annehmen,  daß  die  Bezeichnung  spontan  sowohl  hei  den  Christen 
als  bei  ihrem  Gegnern  entstanden  ist;  denn  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  wenn 
auch  nicht  unmöglich,  daß  diese  sie  der  christlichen  Literatur  entnommen 
haben.  (Es  müßte  denn  sein,  daß  Fronto  in  einer  verlorenen  Schrift  gegen 
die  Christen  von  dem  „genus  tertium",  das  er  in  christlichen  Schriften  fand, 
polemischen  Gebrauch  gemacht  hat  und  durch  ihn  der  terminus  in  weitere 
heidnische  Kreise  gekommen  ist.  Aber  gerade  bei  Minucius  findet  er  sich 
nicht).    Ich  erinnere  noch  einmal  an  die  chronologische  Aufeinanderfolge  der 


232  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

druck,  den  das  Christentum  (und  das  Judentum)  *  auf  die  Heidenwelt  gemacht 
hat.  Die  Christen  selbst  haben  bereits  am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  ihre 
Gottesverehrung  als  „  die  dritte  Weise "  bezeichnet  (s.  oben  das  aus  der 
Praedicatio  Petri  gewonnene  Zeugnis)  und  um  das  Jahr  240  rund  erklärt: 
,Wir  sind  das  dritte  Geschlecht  der  Menschen"  (s.  das  Zeugnis  der  Schrift 
de  pascha  couiputus-)  —  nun  hat  sich  gezeigt,  daß  die  Heiden  ihrerseits 
diese  Betrachtung  aufgenommen  haben,  auch  sie  haben  (und  zwar  schon  vor 
200)^  die  Juden  als  das  zweite  und  die  Christen  als  das  dritte  Geschlecht 
bezeichnet,  und  zwar  aus  demselben  Grunde  wie  die  Christen  selbst:  um  der 
Art  der  Religion  willen. 

Das  ist  erstaunlich!  Man  ist  doch  nicht  darauf  gefaßt,  daß  sich  für 
das  römisch -griechische  Bewußtsein  die  Juden  so  stark  von  den  übrigen 
Völkern  und  die  Christen  von  beiden  abhoben,  daß  sie  sich  als  selbständige 
j-genera"  darstellten  und  in  einer  runden  Formel  so  bezeichnet  wurden.  Eine 
größere  Anerkennung  konnten  diese  wie  jene  nicht  erwarten*,  so  wenig  die 
Unterscheidung  als  Anerkennung  gemeint  war. 

Eine  Bekräftigung,  daß  die  Trias,  „Römer  usw.,  Juden,  Christen",  wirklich 
den  Gegnern  der  Christen  .stets  vorschwebte,  bieten  die  Streitschriften  gegen 
die  Christen.  Soweit  wir  solche  kennen,  befolgen  sie  sämtlich  das  Schema: 
die  Juden  stechen  bereits  von  allen  anderen  Völkern  und  Religionen  ab  und 
bilden,  nachdem  sie  die  Ägypter  verlassen  haben,  eine  häßliche  Gattung  für 
sich;  von  diesen  Juden  haben  sich  nun  die  Christen  g-etreunt,  das  Schlimmste 


Erscheinungen:  am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  nennt  ein  Christ  (der  Ver- 
fasser der  Praedicatio  Petri)  die  christliche  Gottesverehrung  ,die  dritte  Art", 
im  J.  197  sagt  Tertullian:  „tertium  genus  dicimur";  im  J.  242/3  schreibt  ein 
römischer  oder  africanischer  Christ  (Pseudocyprian) :  „tertium  genus  sumus". 

*)  Auch  das  Judentum;  denn  wir  konnten  oben  nicht  ganz  sicher  fest- 
stellen, daß  eine  Formel  geläufig  war,  welche  die  Juden  von  allen  anderen 
Völkern  in  bezug  auf  ihre  Gottesvorstellung  und  Gottesverehrung  unterschied. 
Nun  sehen  wir  es  klar:  Die  Juden  galten  in  dieser  Beziehung  als  eine  Größe 
für  sich,  als  das  „genus  alterum". 

^)  l'aß  wir  oben  i-ichtig  vermutet  haben,  daß  dem  dritten  Geschlecht 
gegenüber  für  Pseudocyprian  die  Römer  usw.  das  erste  Geschlecht  sind  und 
die  Juden  das  zweite,  ist  nun  klar. 

^)  Wie  lange  vorher,  wissen  wir  nicht  — •  am  Ende  des  2.  Jahrhunderts 
war  jedenfalls  die  Bezeichnung  in  Carthago  geläufig.  Man  kann  daher  schwer- 
lich daraus  ein  Argument  gegen  die  Echtheit  der  Epistula  Hadriaui  ad  Ser- 
vianum  (s.o.)  entnehmen,  daß  sich  hier  die  Dreiteilung  findet:  „hunc  [num- 
mum]  Christiani,  hunc  Judaei,  hunc  omnes  venerantur  et  gentes".  Aber 
die  Bezeichnung  der  Römer,  Griechen  usw.  als  „gentes"  ist  allerdings  sehr 
bedenklich  und  verrät,  wenn  ich  nicht  irre,  eine  christliche  Feder. 

■*)  Durch  Varro,  das  Genie  der  Klassifikation,  war  man  zunächst  in  den 
literarischen  Kreisen  daran  gewöhnt  worden,  auch  die  Götter  und  die  Reli- 
gionen einzuteilen.  Es  mag  sein,  daß  unter  der  Einwirkung  seiner  Schriften 
(mit  denen  sich  auch  Tertullian  in  seinen  Traktaten  ad  nationes  viel  zu 
schauen  macht)  zuerst  bei  deu  Gelehrten  die  Unterscheidung  des  Judentums 
und  des  Christentums  als  ,.zweite  und  dritte  Weise"  aufkam  und  daß  sie 
dann  allmählich  ins  Volk  gedrungen  ist.  Daß  die  bei  den  Ägyptern  vs.  o.) 
geläufige,  ganz  andersartige  Unterscheidung  von  den  drei  yhn]  (Ägypter, 
(iriechen,  Juden)  auf  die  neue  Klassifikation  von  P^influß  gewesen  i.st,  ist 
völlig  unwahrscheinlich.  Einmal  geschaffen,  mußte  jene  mit  eigener  Logik 
weiter  wirken  und  Judentum  und  Christentum  in  ein  Licht  setzen,  welches 
ursprünglich  gewiß  nicht  beabsichtigt  war:  die  drei  Ringe,  die  drei  mög- 
lichen Religionen  I  Merkwürdig,  daß  Tertullian  im  gleichzeitig  geschriebenen 
Apologeticus  nichts  von  dem  „genus  tertium"  sagt.  War  ihm  die  Sache  den 
Statthaltern  gegenüber  nicht  bedeutend  "enugV 


Die  Beurteil,  der  Christen  als  drittes  Geschlecht  seit,  ihrer  Gegner.     233 

des  Judentums  beibehaltend  und  Widerlicheres  und  Abstoßenderes  hinzu- 
fügend. So  sind  Celsus,  Porphyrius  und  Julian  in  ihren  Werken  gegen  die 
Christen  verfahren.  Celsus  spricht  von  dem  yt'ros  der  Juden  und  Christen, 
stellt  beide  ysvi]  in  den  schärfsten  Gegensatz  zu  den  übrigen  Völkern,  um 
dann  zu  zeigen,  daß  sich  die  Christen,  als  abgefallene  Juden,  von  diesem 
ysvo?,  das  doch  wenigstens  ein  Volk  ist,  noch  zu  ihrem  Nachteil  unter- 
scheiden. Er  charakterisiert  die  Christen  (VIII,  2)  als  ajioTsiyi'QovTf.g  savrov<; 
xal  djTooQijyvvvtsg  oltto  twv  louriin'  dvÜQojjicor,  dabei  ist  doch  alles  bei  ihnen 
nur  Plagiat  vom  Plagiat  und  Kopie  von  der  Kopie;  au  sich  haben  sie  kein 
neues  /(nOijfia  (l,  4;  cf.  II,  5;  IV,  14);  nur  weil  sie  von  allem  das  Schlechteste 
zurückbehalten  haben,  stellen  sie  ein  solches  dar  und  infolge  ihrer  Haltung, 
nämlich  des  oxaoiäCfiv  nQog  zo  xoivöv  ^  Porphyrius  —  er  ist  wohl  der  anti- 
christliche Polemiker,  den  Eusebius  in  der  Prae2>aratio  (I,  2)  berücksichtigt^  — 
betrachtet  zunächst  die  Christen  als  etwas  Unmögliches,  weil  sie  weder  zu 
den  Hellenen  noch  zu  den  Barbaren  gehören  wollen  und  gehören.  Dann 
heißt  es:  xal  lurjd'  avuo  reo  Jtagä  'lovdaioi?  zi/io)/isv(p  deo)  xaxa  tu  Jtag''  avioi? 
jTQoaav£)^£iv  vöfiißa,  xaivtjv  8s  riva  xal  eQ-/}^u]v  dvoSiav  savzoig  ovvz£f.isiv  fi/jZE  rä 
'EDJp'Cüv  i^irjze  zä  'lovöaicov  <pv?Mzzovoav.  Also  auch  hier  die  Dreiteilung.  Julian 
endlich  (Neumann  p.  164)  befolgt  ebenfalls  die  Unterscheidung:  "Elkrjveg, 
'lovSaToi,  FakdaloL.  Die  Galiläer  sind  weder  Hellenen  noch  Juden,  sondern 
sind  vom  Judentum  ausgegangen,  haben  sich  aber  auch  von  diesem  losgesagt 
und  einen  Weg  für  sich  eingeschlagen.  „Sie  haben  verworfen,  was  an  schönen 
und  bedeutsamen  Lehren  bei  uns  Hellenen  und  bei  den  auf  Moses  zurück- 
gehenden Hebräern  sich  findet,  von  beiden  aber  für  sich  abgehoben,  was 
diesen  Völkern  wie  ein  unheilvoller  Dämon  sich  angeheftet  hat,  die  Gott- 
losigkeit von  der  Leichtfertigkeit  der  Juden,  ein  leichtsinniges  und  lockeres 
Leben  von  unserer  Sorglosigkeit  und  Gemeinheit." 

Man  sieht  —  durchweg  werden  auf  Grund  der  Religion  Hellenen,  Juden 
und  Christen  unterschieden,  wenn  sich  auch  die  runde  Formel  „das  dritte 
Geschlecht"  nur  im  Abendland  fiudet.  Seit  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts 
lernten  Kaiser  und  Keich  dieses  dritte  Geschlecht  von  Religions Verehrern 
auch  als  „Volk",  als  Staat  im  Staate  kennen  und  fürchten.  Das  instruktivste 
Zeugnis  ist  in  dieser  Hinsicht  das,  was  Cyprian  (ep.  55,  9)  von  Decius  be- 
richtet: „multo  patientius  et  tolerabilius  audivit  levari  adversus  se  aemulum 
principem  quam  constitui  Roniae  dei  sacerdotem".  Das  furchtbare  Verfolgungs- 
edikt dieses  Kaiser-Si  ist  zunächst  die  tatsächliche  Antwort  des  Staats  auf  die 
Ansprüche  des  „neuen  Volks"  und  auf  die  politische  Betrachtung,  welche 
Melito  und  Origenes  empfohlen  hatten.  Die  intensive  Stärke  der  neuen 
Religion  tritt  sowohl  in  der  Selbstbeurteilung  „Neues  Volk",  „Drittes  Ge- 
schlecht" hervor  als  in  dem  den  Gegnern  abgezwungenen  Zeugnis,  daß  hier 
wirklich  ein  neues  genus  religionis  neben  den  Religionen  der  Völker  und 
des  Judentums  in  die  Erscheinung  getreten  ist.  Für  die  extensive  Stärke 
des  Christentums  läßt  sich  hieraus  direkt  wenig  entnehmen;  denn  jene  Be- 
urteilung trat  bereits  zu  einer  Zeit  hervor,  wurde  geltend  gemacht  und  an- 
erkannt, als  die  Christen  noch  eine  numerisch  nicht  sehr  große  Gemeinschaft 
waren  ^.     Aber  für  die  Propaganda  der  christlichen  Religion  mußte  es  von 

')  Das  zqItov  yh'og ,  von  welchem  Celsus  in  ziemlich  unklarer  Weise 
V,  61  spricht,  hat  mit  dem  dritten  Geschlecht  nichts  zu  tun,  das  uns  hier 
beschäftigt;  denn  es  handelt  sich  dort  um  innerchristliche  Unterscheidungen. 

^)  S.  V.  Wilamowitz -Möllendorf  in  der  Zeitschr.  f.  neutestament- 
liche  Wissensch.  I,  2  S.  101  ff. 

^)  Ganz  unbedeutend  können  sie  übrigens  nicht  gewesen  sein;  denn 
sonst  wäre  die  Beurteilung  unverständlich.  Sie  müssen  doch  mit  den  Juden 
an  Zahl  bereits  rivalisiert  haben. 


234  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

höchster  Bedeutung  sein,  daß  sie  sich  so  deutlich  von  allen  anderen  Reli- 
gionen abhob  und  so  ein  hohes  Selbstbewußtsein  zur  Schau  trug'.  Freilich 
wirkte  dies  in  weiten  Kreisen  auch  abstoßend,  aber  es  war  doch  ein  Zeichen 
von  Kraft,  und  der  Kraft  fehlt  der  Erfolg  niemals. 


Achtes  Kapitel. 
Die  Religion  des  Buchs  und  der  erfüllten  Geschichte. 

Religion  des  Buchs  im  eigentlichen  Sinn  des  Worts  wie  der 
Islam  ist  das  Christentum  nie  gewesen  und  nie  geworden  (erst 
in  viel  späterer  Zeit,  im  strengsten  Calvinismus,  drohte  die  kon- 
sequente Ausgestaltung  der  Religion  des  Buchs;  indessen  auch 
hier  blieb  doch  die  Glaubensregel  das  Steuer).  Allein  das  Buch 
d.  h.  zunächst  das  Alte  Testament  übte  doch  eine  Wirkung  aus, 
die  das  Christentum  bis  an  die  Grenze  brachte,  Religion  des  Buchs 
zu  werden.  Paulus,  richtig  verstanden,  wehrte  freilich  dieser 
EntvV'icklung,  und  große  Kreise  in  der  Christenheit  —  Gnostiker 
und  Marcioniten  —  schritten  sogar  dazu  fort,  das  Alte  Testament 
ganz  zu  verwerfen,  bez.  es  einem  anderen  Gott,  sei  es  auch  einem 
gerechten  und  vom  höchsten  Gott  abhängigen,  zuzuschreiben^; 
aber  in  der  großen  Kirche  lehnte  man  mit  Entrüstung  die  Kritik 
der  Gnostiker  ab,  und  die  komplizierte  Stellung  des  A})ostels  Paulus 
zu  dem  Buche  verstand  man  nicht.  Es  blieb,  allegorisch  erklärt, 
bei  diesen  Christen  das  heilige  Buch  wie  bei  den  Juden,  denen 
man  es  entreißen  wollte. 

Diese  Stellung  zu  dem  Alten  Testament  ist  wohl  verständlich. 
Welche  andere  Religionsgemeinschaft  konnte  ein  ähnliches  Buch 
aufweisen  ^ !  Wie  überwältigend  mußte  der  Eindruck  bei  Griechen, 
bei  gebildeten  und  ungebildeten,  sein  und  bleiben,  nachdem  man 
es  kennen  gelernt  hatte !  Mochten  auch  noch  so  viele  Einzel- 
heiten befremdlich   oder  anstößig   sein  —  das,   was  belehrte  und 


')  Schon  das  Judentum  verdankte  seine  Propaganda  zu  einem  nicht 
geringen  Teile  seiner  Apologetik  und  innerhalb  der  Apologetik  der  Selbst- 
.schiltzung,  die  es  entwickelte;  s.  Schürer,  Gesch.  des  Volkes  Israel  IIP 
S.  107  tf. 

^)  S.  l)eispielsweise  den  Brief  des  Ptolemäus  an  die  Flora  und  meine 
Abhandlung  über  ihn  in  den  Sitzungsber.  d.  K.  Pr.  Akad.  d.  Wiss.  1902,  15.  Mai. 

*)  Beides  -war  von  Vorteil,  daß  es  in  griechischer  Sprache  zugänglich 
war,  und  daß  man  von  dem  hinter  der  Übersetzung  liegenden  hebräischen 
Text  wußte.  Über  die  Septuaginta  s.  die  Studien  von  Nestle  und  Üeiß- 
mann,  ferner  vgl.  den  Aristeasbrief  (edid.  Wendland,  1900). 


Die  Religion  des  Ruchs  und  der  erfüllten  Geschichte.  235 

begeisterte,  ■wog-  sie  rciclilicli  auf.  Allein  schon  das  hohe  Alter, 
und  man  steigerte  es  für  einzelne  Teile  um  Jahrtauseiule  \  ent- 
schied für  seinen  unvergänglichen  Wert;  das  aber,  was  man  in 
ihm  las,  erschien  teils  als  eine  AVeit  von  Geheimnissen,  teils  als 
ein  Kompendium  der  tiefsten  AVeisheit.  Durch  den  unerschöpflichen 
Reichtum  des  Stoifs,  seine  Mannigfaltigkeit,  A'ielseitigkeit  und 
Extensität,  erschien  es  wie  ein  literarischer  Kosmos,  eine  zweite 
Schöpfung,  der  Zwilling  der  ersten-.  Das  war  sogar  der  stärkste 
Eindruck:  daß  dieses  Buch  und  das  AVeltganze  zusammengehören 
und  dem  gleichen  Urteil  unterliegen,  war  die  verbreitetste  Meinung 
unter  den  Griechen,  die  von  dem  Alten  Testament  berührt  waren. 
Mochten  sie  über  das  Buch  noch  so  verschieden  denken  —  daß 
es  eine  Parallelschöpfung  zur  AVeit  sei,  so  groß  und  umfassend 
wie  sie,  und  daß  beide  Größen  auf  einen  Urheber  zurückgehen, 
erschien  auch  den  meisten  Gnostikern  und  den  Marcioniten  das 
Sicherste  (die  Großkirchenleute  aber  erkannten  in  diesem  Gott  den 
höchsten  Gott  selbst)  3.  Über  welches  andere  Buch  ist  jemals  in 
der  Geschichte  von  denkenden  Alenschen  ein  ähnliches  Urteil  ge- 
fällt worden*! 

Daß  das  Buch  die  Propaganda  der  Christen  mächtig  verstärkt 
hat,  ist  gewiß;  vergebens  reklamierten  die  Juden ^.  AVir  besitzen 
aber  ein  positives  Zeugnis  dafür,  daß  das  Alte  Testament  die 
eigentliche   Brücke    zum    Christentum    für    manchen   gewesen  ist. 


')  Triumphierend  ruft  Tertullian  in  dem  Traktat  de  pallio  c.  2  aus: 
,Bei  euch  geht  die  tieschiehte  nur  bis  zu  den  Assyriern ;  wir  sind  im  Besitz 
der  Weltgeschichte"  (\,Ferme  apud  vos  ultra  stilus  non  solet.  ab  Assyriis, 
si  forte,  aevi  historiae  patescunt.  c|ui  vero  divmas  lectitamus,  ab  ipsius 
inundi  uatalibus  compotes  sumus'). 

^)  Daher  auch  die  zahlreichen  Namen  für  das  Buch,  die  teils  von  seinem 
Ursprung,  teils  von  seinem  Inhalt  (acor/jQia  yga/ußara)  genommen  sind. 

')  Einige  Gnostiker  unterschieden  —  abgesehen  vom  höchsten  Gott  — 
den  Schöpfergott  und  den  Gott  des  Alten  Testaments.  Diese  Unterscheidung 
trat  überall  dort  ein,  wo  man  die  Natur  noch  ungünstiger  beurteilte  als  die 
religiöse  Kultur,  wie  sie  vor  Christus  bestanden  hat.  Die  Natur  ist  grausam 
und  tötet,  das  Gesetz  ist  relativ  sittlich. 

■*)  Augriffe  der  Gnostiker  und  der  Heiden  fehlten  nicht;  aber  die  der 
letzteren  müssen  im  ganzen  selten  gewesen  sein.  Wenn  sie  sich  gründlicher 
mit  dem  Buch  beschäftigten,  gewannen  sie  fast  alle  Respekt.  „Unde  scis 
illos  libros  (Veteris  Testamenti)  unius  veri  et  veracissimi  dei  spiritu  esse 
humano  generi  ministratos V"  (bei  Augustin,  Confess.  VI,  5,  7)  ist  ein  mani- 
chäischer  bez.  gnostischer  Einwurf. 

•*)  Der  Besitz  des  Buchs  wurde  ihnen  einfach  abgesprochen;  ihr  Unver- 
ständnis des  Buchs  beweist,  daß  es  ihnen  nicht  mehr  gehört:  ja  selbst  die 
Meinung  wurde  laut  (ep.  Barnabae),  daß  es  ihnen  niemals  gehört  habe  und 
daß  sie  es  sich  widerrechtlich  angeeignet  hätten.  „In  Judaeorum  oieastro 
insiti  sumus"  (TertulL,  de  testim.  5  nach  Rom.  11)  —  aber  eben  damit  hat 
der  Oleaster  sein  Existenzrecht  verloren. 


236  Die  Missiouspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Tatian  schreibt  (Orat.  20):  „Als  ich  ernstlich  das,  was  frommt, 
erwog,  fielen  mir  einige  barbarische  Schriften  in  die  Hände,  älter 
als  die  Lehren  der  Griechen  nnd  göttlicher  als  ihr  Irrtum.  Diesen 
gelang  es,  mich  zu  überzeugen,  und  zwar  durch  ihren 
schlichten  xVusdruck  und  die  unstudierte  Einfalt  ihrer  Verfasser, 
durch  die  leichtfaßliche  Darstellung  der  Weltschöpfung,  durch  die 
A  orkenntnis  der  Zukvmft.  durch  die  Yortrefflichkeit  ihrer  Ver- 
ordnungen und  weil  sie  die  alles  beherrschende  Monarchie  Gottes 
lehren.  So  wurde  meine  Seele  von  Gott  unterrichtet,  und  ich 
sah  ein,  daß  die  anderen  Lehren  zur  Verdammnis  führen,  diese 
a1)er  die  in  der  Welt  herrschende  Knechtschaft  lösen  und  uns  den 
vielen  Gewalthabern  und  unzähligen  Tyrannen  entziehen.  Nicht 
bringen  sie  uns  etwas,  was  wir  nicht  schon  empfangen  hätten, 
wohl  aber  etwas,  was  wir,  obgleich  wir  es  empfangen  haben, 
durch  den  Irrtum  verloren  hatten  ^" 

Dieses  Bekenntnis  ist  besonders  ausgezeichnet,  sowohl  durch 
die  Bestimmtheit,  mit  der  es  die  Bedeutung  des  Alten  Testaments 
für  den  Übertritt  zum  Christentum  hervorhebt,  als  durch  die  Voll- 
ständigkeit imd  Klarheit  der  Gründe,  die  es  anführt.  Erstlich 
machte  die  Form  des  Buchs  einen  tiefen  Eindruck;  es  ist  charak- 
teristisch für  den  Griechen  Tatian,  obschon  er  kein  Grieche  mehr 
sein  will,  daß  die  Form  das  Erste  ist,  was  er  hervorhebt.  Die 
mächtige  Sprache  der  Propheten  und  Psalmisten  entzückte  den 
Mann,  der  durch  die  Rlietoren-  und  Philosophenschulen  gegangen 
war.  Kraft  gepaart  mit  Einfachheit  —  das  war  es,  was  ihm  das 
Buch  so  ganz  anders  erscheinen  ließ  als  jene  Traktate  und  un- 
geheuren Rollen,  in  denen  sich  die  Autoren  mühsam  abquälten, 
über  die  höchsten  Fragen  ins  Klare  zu  kommen.  Das  Zweite, 
was  der  Apologet  nennt,  ist  der  Schöpfungsbericht  der  Genesis. 
Auch  das  ist  l)edeutsam  und  wohlverständlich:  alle  griechischen 
Religionsphilosophen  sind  Kosmologen;  hier  war  ein  durchsichtiger 
und  faßlicher  Schöpfungsbericht  gegeben.  Er  schien  nicht  wie 
Philosophie,  und  er  schien  auch  nicht  gewöhnlicher  Mythus  zu 
s(!in;  es  war  eine  ganz  neue  Gattung,  zwischen  und  über  beiden. 
Das  kann  nur  Gott  selbst  gelehrt  haben!  Das  Dritte,  was  Tatian 
imponiert  hat,  waren  die  Weissagungen  des  Buchs :  ein  Blick  auf 


')  S.  auch  .Justin,  Dial.  c.  Tryph.  71'.:  'FJyh'orrö  tlvs;  .too  jto?.Xov  yoövov 
ma-nov  Tovzoyv  töjv  ro/ii^oiih'0}v  (pilooöcpMv  jTa?Mi6Tfoot,  fiaxägioi  xal  biy.aioi  y.ai 
dforptlei?,  dsüo  nvEVuaxi  )Mh)r,avTS<;  xai  ra  [lüjMVTa  dsojiloavTEg ,  a  8!)  vvv  yivs- 
tuf  jtQocpr'jxa?  (ik  amoin;  xa).ovaiv'  ovroi  ftovot  t6  d?,.)]i')i;g  xai  fiSov  xai  e^njrov 
dv{)gcb:joi; ,  /irjx'  Ei)?Mßt]{)h>Ti;g  fu'jrs  dvacojrrjßsvTEg  zirä  ....  d?./.d  fiöva  xama 
f('.Toj'Tfc  «  rjy.ovaar  xai  a  eiäov  dyiro  jT).i]oioßevTEi;  jirsufiaxi.  ovyyd/j-fiaTa  8s  (wtcov 
f'ri  xai  vvv  8tn!thei  xx)..  .  .  .  'Efiov  8s  jraoa/ofj/iia  :!ZVQ  iv  xfj  y>v/_fj  dvr'jq^dij  xai 
sooj;  sr/s  /is  x(7)v  Ttporprjxojv  xai  xwr  dr8ooJi>  ixsivcor,  ol'  slai  Xgioxov   (pü.oi. 


Die  Religion  des  Buchs  und  der  erfüllten  Geschichte.  237 

die  akchrisrliclien  Selirifrstcller.  besonders  die  Aiiulo<^eten,  zeii^'t, 
welche  Rolle  der  AVeissagungsbeweis  gespielt,  ja  wie  er  alles 
beherrscht  hat;  nur  vermittelst  des  Alten  Testaments  konnte  man 
ihn  führen.  Das  vierte  Stück  sind  die  Sittengebote:  Tatiau  hat 
hier  sicherlich  in  erster  Linie  an  den  Dekalog  gedacht,  der  ja 
auch  solchen  Gnostikern,  die  sich  kritisch  zum  Ganzen  des  Buchs 
verhielten,  nur  der  A'ollendung  zu  bedürfen  schien,  den  sie  also 
aus  dem  Übrigen  hervorhoben  '.  Der  Dekalog  hat  den  Heiden- 
christen stets  als  der  Inbegriff  der  Moral  gegolten,  der  nur  durch 
die  Sprüche  der  Bergpredigt  zu  vertiefen  sei  ^.  Das  fünfte  Stück 
endlich,  welches  der  Apologet  nennt,  ist  der  strenge  Monotheismus, 
der  dem  ganzen  Buch  das  Gepräge  gibt. 

Damit  sind  in  der  Tat  die  Elemente  genannt,  die  an  dem 
Buch  besonders  wichtig  erschienen  und  es  zur  göttlichen  Urkunde 
stempelten.  Überschaut  man  aber,  welche  Dienste  es  der  christ- 
lichen Kirche  in  den  zwei  ersten  Jahrhunderten  geleistet  hat,  so 
ist  folgendes  festzustellen: 

(1)  Man  entnahm  dem  Alten  Testament  die  monotheistische 
Kosmologie  und  Xaturbetrachtung.  Die  Evangelien  und  die  pauli- 
nischen  Briefe  setzen  sie  einfach  voraus,  aber  legen  sie  nicht 
ausführlich  dar:  in  den  alttestamentlichen  Büchern  aber  fand  man, 
was  man  brauchte,  zahllose  Stellen,  welche  den  Monotheismus 
verkündigen  und  einschärfen  und  den  Polytheismus  bedräuen,  so- 
dann viele  Stellen,  welche  Gott  als  den  Schöpfer  Himmels  und 
der  Erde  preisen  und  seine  Schöpfung  schildern. 

(2)  Alan  erwies  aus  dem  Buch,  daß  die  Erscheinung  und  die 
ganze  Geschichte  Jesu  bereits  vor  Jahrlumderten,  ja  vor  Jahr- 
tausenden vorausverkündet,  ferner  daß  die  Stiftung  des  neuen 
Volkes,  welches  sich  aus  allen  Nationen  bilden  würde ^,  von  An- 
beginn geweissagt  und  vorbereitet  worden  sei  (s.  o.  S.  206 ff.)*.  Die 
eigene  Religion  erschien  auf  Grund  dieses  Buchs  als  die  Religion 


^)  S.  den  Brief  des  Ptolemäus  au  die  Flora. 

^)  Vgl.  die  „Apostellehre". 

^)  Die  Meinung,  die  jüdischen  Proselyten  seien  dieses  neue  Volk  —  ein 
naheliegender  Einwand  — ,  wird  von  den  Apologeten  widerlegt.  Xur  die 
Christen  haben  Anhänger  ly.  ziavxog  ysvovg  dr&Qcö.-rcov. 

•*!  Man  vergleiche,  um  nur  eine  Stelle  anzuführen,  die  Praedic.  Petri 
(bei  Clemens,  Strom.  VI,  1.5):  Hitelg  avajiTv^avxEg  rag  ßt'ß/.ov;  (ig  sf/ofiev  iwv 
:joo(p>iTwv,  ä  fikv  dtä  niaoaßo/.cöv,  ä  de  6i  airty/jaTOJv,  ä  ds  avdevTiy.iög  y.al  amo- 
/.E^el  Tov  Xqiotov  'Itjaovr  ovoiial^övzwv,  evQoiisr  y.al  rijv  :jaoovöcav  avzov  y.al  xov 
ßdraroi'  y.al  tov  aravgov  y.al  rag  /.oi:iag  y.o'/.äoeig  :jäoag ,  öoag  i:TOi)]aav  avzw  ol 
'lordaioi,  y.al  ri]v  eyeocbv  y.al  tijv  elg  ovgat'ovg  avähpjnv  :iq6  tov  'hoooö'/.vua 
y.oidijvai,  y.adwg  eyeyoa^ro  xavTa  nävta  d  eöei  avTov  n.aßeiv  y.al  /<fr'  avTov  d 
eoraf  Tavza  ovv  i^riyrovreg  i.-iiorevoafiev  reo  dtM  öid  Tcür  yeyoaitixevov  sig  avTÖv. 
Also  auch  dieser  Schriftsteller  erklärt,   daß    er  auf  das  Alte  Testament  hin 


238  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

der  crfüllron  Gcsehichro ;  was  ausstand,  konnte  nur  noch  eine 
Spanne  sein,  und  auch  hier  wird  sich  alles  so  erfüllen,  wie  es 
geweissagt  worden  ist:  dafür  bietet  das,  was  sich  bereits  erfüllt 
hat,  die  sichere  Gewähr.  Mit  Hilfe  des  Alten  Testaments  datier- 
ten die  christlichen  Lehrer  ihre  Religion  bis  zum  Anfang  der 
Dinge  hinauf  und  verbanden  sie  mit  der  Schöpfung.  Das  wurde 
eines  der  eindrucksvollsten  Stücke  der  Misssionspredigt  für  Ge- 
bildetere. Das  Christentum  erhielt  dadurch  einen  Halt,  wie  ihn 
außer  dem  Judentum  keine  andere  Religion  hatte.  Aber  man 
muß  sich  eben  deshalb  hüten,  das  Alte  Testament  im  Sinne  dieser 
Christen  lediglich  als  Weissagung,  dem  die  Erfüllung  noch  fehle, 
aufzAifassen.  Es  ist  allerdings  das  Ruch  der  AVeissao-unjyen.  aber 
eben  deshalb  lehrhaft  bereits  die  vollständige  Offenbarung 
Gottes,  die  irgend  welcher  Zusätze  nicht  bedarf  und  nachträgliche 
Änderungen  ausschließt.  Die  geschichtliche  Erfüllung  —  ,,Lex 
radix  evangeliorum".  Tertull..  Scorp.  2  —  erweist  nur  vor  aller 
Welt  die  Wahrheit  jener  Offenbarungen.  So  stellte  man  denn 
auch  aus  dem  Alten  Testament  das  ganze  Evangelium  zusammen. 
Handbücher  dieser  Art  müssen  in  verschiedenen,  aber  ähnlichen 
Rezensionen  verbreitet  gewesen  sein. 

(3)  Man  belegte  in  steigendem  Maße  Grundsätze  und  Ein- 
richtungen der  christlichen  Gemeinde  (nicht  nur  die  bildlose  geistige 
Gottesverehrung,  die  Aufhebung  der  zeremonialgesetzlichen  Vor- 
schriften, die  Taufe  und  das  Abendmahl,  sondern,  wenn  auch 
zögernd,  das  christliche  Priestertum,  den  Episkopat  und  die  neuen 
kultischen  Einrichtungen)  aus  dem  Alten  Testament. 

(4)  Man  benutzte  das  Buch  zum  Zweck  der  Paränese,  indem 
man  nach  dem  Schema  a  minori  ad  malus  verfuhr:  wenn  Gott 
dies  und  jenes  damals  so  und  so  belohnt  und  bestraft  hat.  wie 
viel  Größeres  haben  wir  zu  erwarten,  die  wir  jetzt  in  der  End- 
zeit stehen  und   „die  Berufung  zur  Verheißung''  empfangen  haben. 

(5)  Man  bewies  aus  dem  Alten  Testament  (aus  den  Schelt- 
reden der  Propheten),  daß  das  Judenvolk  einen  Bund  mit  Gott 
nicht  mehr  besitze  oder  überhaupt  nie  besessen  habe  (s.  o.  S.  58 ff.), 
und  daß  sein  Untergang  als  Volk  geweissagt  sei  ^ 

an  Gott,  deu  Vater  Jesu  Cliristi,  gläubig  geworden  ist.  Tertull.,  Apol.  46: 
„Ostendimus  totum  statum  nostrum,  et  quibu.s  modis  probare  possimus  ita 
e.sse  sicut  ostendimus,  ex  fide  scilicet  et  antiquitate  divinarum 
litterarum,  item  ex  confessione  spiritualium  potestatum''  [d.h.  dem  Zeugnis, 
das  die  von  uns  vertriebenen  Dämonen  ablegen  müssen].  Dies  sind  also  die 
beiden  entscheidenden  Beweise. 

')  Wie  eindrucksvoll  war  das  Argument:  da  seht  ihr  es.  das  jüdische 
Volk  ist  zerstreut,  der  Tempel  ist  zerstört,  die  Opfer  haben  aufgehört,  die 
Fürsten  aus  dem  Stamme  Juda  fehlen!  Man  vergleiche,  in  welchem  Umfange 
Eu.sebius  in  seiner  Kirchengeschichte  von  diesen  Tatsachen  Gebrauch  macht. 


Die  Religion  des  Buchs  und  der  erfüllten  Geschichte.  2'J9 

(6)  Man  erbaute  sich  an  dem  Alten  Testament,  an  den 
Sprüchen  des  Gottesvertrauens  und  der  Gotteshilfe,  der  Demut  und 
des  heiligen  Mutes,  an  seinen  Heldengestalten  und  seinen  Pro- 
pheten, vor  allem  an  seinen  Psalmengesängen. 

Das  hier  kurz  Zusammengefaßte  genügt,  um  die  Bedeutung, 
die  das  Buch  für  die  alte  Christenheit  imd  seine  Mission  hatte, 
zu  erkennen  ^.  Immer  aber  ist  dabei  vorausgesetzt,  daß  ein  großer 
Teil  des  Inhalts  des  Buchs  allegorisiert,  d.  h.  kritisiert  und  um- 
gedeutet wurde.  Ohne  solche  Umdeutungen  war  sehr  vieles  in 
dem  Buch  für  die  Christen  unannehmbar.    ^Yer  sie  also  nicht  an- 


')  Eine  gründliche  Darstellung  der  Bedeutung  und  des  Gebrauchs  des 
Alten  Testaments  in  der  alten  Kirche  besitzen  wir  noch  immer  nicht.  Wie 
eine  solche  anzulegen  und  durchzuführen  sei,  hat  Wrede  in  seinen  „Unter- 
suchungen zum  ersten  Clemensbrief"  (1891)  gezeigt.  Die  Zusammenfassung 
(S.  75  f.)  stimmt  mit  der  von  uns  gegebeneu  übereiu:  „Die  Schriftbeuutzung 
des  Clemens  ruht  ganz  auf  der  geraeinchristlicheu  Voraussetzung,  daß  das 
Alte  Testament  das  eine,  von  Gott  den  Christen,  ja  gerade  und  eigentlich 
den  Christen  gegebene  heilige  Buch  ist,  dessen  Worte  absolute  Autorität 
beanspruchen  können  und  das  erste  und  bedeutendste  Fundament  aller  christ- 
lichen .-Tctoddooig  bilden.  Es  würde  eine  historisch  ganz  ungenügende  Be- 
zeichnung der  Sache  sein,  wollte  man  sagen,  daß  das  Alte  Testament  — 
ganz  oder  teilweise  —  noch  für  den  Christen  in  Geltung  stehe,  als  ob  der 
Anerkennung  erst  irgendeine  Reflexion  vorangegangen  wäre,  und  als  ob  nicht 
der  Besitz  des  wunderbaren  und  unfehlbaren  Buches  in  den  Augen  der 
Christen  einer  der  einleuchtendsten  und  empfehleudsten  Vorzüge  der  neuen 
Religion  gewesen  wäre.  Gar  nicht  kräftig  genug  kann  mau  sich  mit  der 
Vorstellung  durchdringen,  daß  damals  jedwede  Ahnung  fehlte,  daß  sich  einst 
die  Bildung  einer  zweiten  heiligen  Schrift  neben,  ja  über  der  ersten  voll- 
ziehen werde."  —  Im  Gottesdienst  wurde  regelmäßig  aus  dem  Alten  Testa- 
ment vorgelesen,  und  seine  Kenntnis  wurde  außerdem  noch  durch  die  kurzen 
Chrestomathien  und  durch  Schriften  wie  Cyprians  „Tesstimonia"  vermittelt. 
Private  Schriftlektüre  hat  nicht  gefehlt,  wie  die  Akten  der  Märtyrer  von 
Scili,  mehrere  Stellen  bei  TertuUian  und  Urigenes  und  andere  Zeugnisse 
beweisen.  Origenes,  Hom.  11  in  Num.  (t.  10  p.  19),  meint,  daß  ein  bis  zwei 
Stunden  Schriftlektüre  und  Gebet  für  jeden  Christen  das  kaum  ausreichende 
Minimum  seien;  Hom.  in  Levit.  IX,  7  bezeichnet  er  als  ,nutrimeuta  spiritus" 
die  „divina  lectio,  orationes  assiduae  et  sermo  doctrinae".  In  Pseudoclemeus, 
de  virgiuit.  I,  10  ist  von  der  Schriftlektüre  in  kleinen  Erbauungsversamm- 
lungen in  den  Häusern  die  Rede.  Justin  nimmt  in  der  Apologie  an,  daß 
das  A.  T.  leicht  zugänglich  sei  und  die  Kaiser  sich  dasselbe  daher  leicht 
verschaft'en  könnten.  Besonders  instruktiv  aber  ist,  was  von  Pamphilus  in 
Cäsarea  (Hieron.,  adv.  Rufin.  I.  9)  erzählt  wird:  „Scripturas  sanctas  non  ad 
legendum  tantum,  sed  et  ad  habendum  tribuebat  promptissime,  nee  solum 
viris  sed  et  feminis,  quas  vidisset  lectioni  deditas.  unde  et  multos  Codices 
praeparabat,  ut  cum  necessitas  poposcisset,  volentibus  largiretur. "  Auch 
durch  Vorlesen  (in  kleineren  Zirkeln  oder  öffentlich)  verl)reitete  sich  die 
Kenntnis  der  h.  Schriften,  s.  Pseudoclemeus,  de  virginit.  II,  6.  Doch  wird 
Augustin  mit  seiner  Klage  (Confess.  VI,  11,  18)  nicht  allein  geblieben  sein: 
„übi  ipsos  Codices  [seil,  der  h.  Schriften]  quaei-imus?  unde  aut  quomodo  com- 
paramus?   a  quibus  sumimusV" 


•240  Die  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

erkennen   wollte,    der   mußte   das  Buch   ganz   oder   teilweise   ver- 
werfen^. 

Nachdem  das  Xeue  Testament  geschaffen  war  —  die  größte 
und  selbständigste  Leistung  der  ältesten  Kirche,  durch  die  sie  ihren 
Glauben  als  neue  Religion  legitimiert  hat  — ,  trat  das  Alte  auf 
einigen  Linien  zurück,  aber  doch  nur  auf  wenigen;  denn  es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  jenes  Buch  die  Dienste  an  Hauptpunkten  nicht 
zu  übernehmen  vermochte,   welche  dieses  leistete.     Für  die  Dar- 


1)  Daß  der  Buchstabe  in  vielen  Fällen  unannehmbar  sei,  hat  Origenes 
—  vor  ihm  schon  Barnabas  —  mit  aller  Bestimmtheit  ausgesprochen;  man 
vgl.  z.  B.  Hom.  VlI,  5  in  Levit.  (t.  9  p.  306 f.):  .,Si  adsideamus  literae,  et 
secundum  hoc  vel  quod  ludaeis  vel  id  quod  vulgo  videtur  accipiamus,  c[uae 
in  lege  scripta  sunt,  erubesco  dicere  et  confiteri,  quia  tales  leges  dederit 
deus.  videbuntur  enim  magis  elegantes  et  ratiouabiles  hominum  leges,  verbi 
gratia  vel  Romanorum  vel  Atheniensium  vel  Lacedaemoniorum.  si  vero  secun- 
dum haue  intelligentiam,  quam  docet  ecclesia,  accipiatur  dei  lex,  tunc  plane 
omues  humanas  supereminet  leges  et  veri  dei  lex  esse  creditur."  Es  wird 
nicht  überflüssig  sein  daran  zu  erinnern,  daß  jeder  für  autoritativ,  zumal  für 
göttlich -autoritativ  erklärte  Text  die  allegorische  Auslegung  fordert;  denn 
die,  welche  seine  Autorität  erkannten  oder  schufen,  verbanden  in  der  Regel 
dabei  schon  ganz  andre  Vorstellungen  in  bezug  auf  den  Inhalt  des  Textes, 
als  dieser  bei  der  historischen  Erklärung  darbot.  Eben  für  jene  Vor- 
stellungen aber  verlangten  und  schufen  sie  die  Autorität.  Das 
Hohe  Lied  z.  B.  erotisch  verstehen  und  dann  doch  die  Autorität  eines  heiligen 
Textes  aufrechterhalten,  ist  der  Gipfel  des  Widersinus,  und  erst  dies  wird 
zur  unerträglichen  Last.  Aber  selbst  mit  einem  Buch  wie  der  Genesis  steht 
es  nicht  anders.  Die,  welche  dieses  Buch  kanonisiert  haben,  haben  nicht 
einen  jämmerlichen  Jakob  usw.  kanonisieren  wollen,  sondern  sie  hatten  sich 
bereits  alles  zurechtgelegt  und  durch  allegorische  Unideutungen  alles  An- 
stößige weggeräumt.  Ja  in  diesem  Falle  kann  man  sogar  fragen,  ob  nicht 
schon  der  letzte  Redaktor  sich  durch  allegorische  Auslegungen  alles  geglättet 
hat,  so  daß  nur  die  Quellen  des  Buchs  „historisch"  erklärt  werden  dürfen, 
während  das  Buch  selbst  bereits  (ganz  abgesehen  von  seiner  Kanonisierung) 
eine  allegorische  Auslegung  verlangt  —  welche,  das  müßte  aus  der  Zeit 
eben  dieser  letzten  Redaktion  festgestellt  werden.  Ist  aber  ein  Text  für 
göttlich -autoritativ  erkläit,  so  braucht  man  überhaupt  nicht  mehr  ängstlich 
zu  fragen,  wie  ihn  die,  welche  ihn  kanonisierten,  allegorisiert  haben;  denn 
indem  sie  ihn  für  göttlich -inspiriert  erklärten,  boten  sie  ihn  den  Gläubigen 
dar  mit  der  stillschweigenden  Anweisung:  „Lest  ihn  so,  daß  ihr  die  höchste 
Erljauung  aus  ihm  schöpft;  dann  lest  ihr  ihn  recht."  Es  muß  nur  irgend- 
eine Brücke  —  sei  es  auch  die  schmälste  und  willkürlichste  —  vorhanden 
sein  zwischen  dem  Buchstaben  des  Textes  und  den  hohen  Gedanken,  die  man 
an  ihn  anschließt.  Sobald  sie  da  ist,  ist  alles  in  Ordnung,  und  die  Gedanken 
dürfen  als  die  Gedanken  des  Textes  gelten.  Im  Grunde  und  mutatis  mutandis 
ist  es  mit  menschlichen  (iesetzbüchern  nicht  anders.  Sie  verlangen  alle  neben 
der  historischen  Erklärung  (im  Sinne  ihres  Gesetzgebers)  eine  „allegorische" 
Erklärung,  d.  h.  sie  lassen  nicht  nur  zu,  sondern  fordern  es,  daß  jede  Er- 
klärung als  zu  Recht  bestehend  anerkannt  wird,  die  mit  dem  Wortlaut  des 
Buchstabens  —  sei  es  auch  in  gewagtester  Weise  —  grade  noch  verbunden 
werden  kann. 


Die  Religion  des  Buchs  untl  der  erfüllten  Geschichte.  24 1 

Stellung  der  christlichen  Sittlichkeit  waren  allerilings  von  Anfang 
an  die  Sprüche  Jesu  die  Hauptquelle  gewesen,  der  gegenüber  das 
Alte  Testament  zurücktreten  mußte;  aber  sonst  behauptete  dieses 
seine  Stellung.  ]S^ur  in  der  Theorie  trat  ein  leiser  Umschwung 
ein.  Der  Kampf  mit  dem  Gnostizismus  und  die  in  und  mit  dem- 
selben erfolgte  Schöpfung  des  Neuen  Testaments  hat  es  den  groß- 
kirchlichen Theologen  klar  gemacht,  daß  eine  einfache  Identifi- 
zierung des  Alten  Testaments  mit  dem  Evangelium  doch  nicht 
unbedenklich  sei.  Bereits  die  ältesten  altkatholischen  Theologen, 
Irenäus  und  Tertullian,  lösen  die  vollkommene  Identifizierung  auf 
und  kommen  der  Anschauung  des  Apostel  Paulus  wieder  näher, 
daß  das  Alte  Testament  und  der  alte  Bund  eine  andere  Stufe 
bezeichnen  als  der  neue.  Sie  erkennen  die  höhere  Stufe  dieses 
Bundes  und  deshalb  auch  des  Xeuen  Testamentes  an.  In  der 
Theorie  hatte  das  manche  nicht  unwichtige  Folgen,  ^fan  lernte  — 
die  Gnostiker  hatten  energisch  daraufgedrungen  —  die  spezifische 
Bedeutimg  der  christlichen  Religion  gegenüber  dem  Alten  Testa- 
ment besser  schätzen.  Allein  in  der  Praxis,  die  Benutzung  des 
Alten  Testaments  anlangend,  hatte  diese  Änderung  nur  geringe 
Folgen.  Mochte  man  auch  in  der  Theorie  lehren,  daß  vieles  im 
Alten  Testament  durch  den  neuen  Bund  „demutatum,  suppletum, 
impletum,  perfectum'',  ja  sogar  ,.expunctum'''  sei  (Tertull.,  de  orat.  1), 
man  fuhr  doch  im  3.  Jahrhundert  fort,  das  Alte  Testament  zu 
allegorisieren  und  in  dieser  Gestalt  als  direkte  Erkenntnisquelle 
für  die  christlichen  Wahrheiten  zu  gebrauchen.  Ja  man  allegori- 
sierte  es  nicht  einmal  mehr  —  jetzt  erst  und  in  dem  Maße  als 
sich  die  Kirchen  7nit  heiligen  Zeremonien  aller  Art  füllten  und 
den  Priester-.  Opfer-  und  Sakramentsbegriff  scharf  ausbildeten, 
wurde  man  unbekümmert  und  kühn  bei  der  Anwendung  des 
Buchstabens  alttestamentlicher  Zeremonialgebote  auf  die  christ- 
lichen Einrichtungen  in  Verfassung  und  Kultus.  Indem  sich  die 
Kirche  als  Gesetzeskirche  etablierte,  nahm  sie  das  Alte  Testament 
in  einer  Weise  in  Ansnvuch,  die  Paulus  streng  gerügt  hätte,  und 
kehrte  zu  dem  Gesetz  zurück,  dabei  noch  immer  auf  die  Juden 
scheltend  und  ihre  Gesetzesbeobachtung  für  etwas  Unerlaubtes 
erklärend.  In  der  Dogmatik  wurde  man  freier  vom  Alten  Testa- 
ment, als  man  im  2.  Jahrhundert  gewesen  war  —  die  christologischen 
Probleme  traten  in  den  Yordergrvnid,  und  die  theologischen  Inter- 
essen rückten  von  dem  deög  und  loyog  zu  den  trinitarischen  und 
christologischen  Problemen  sowie  zu  christozentrischen  Mysterien 
hinüber  — ,  aber  in  der  Kirchenpraxis  begründete  man  unbe- 
kümmerter als  es  die  Vorfahren  getan  hatten  das,  was  man  nötig 
zu  haben  glaubte,  mit  Hilfe  des  Alten  Testaments:  denn  das 
Neue  Testament  bot  für  solche  Zwecke  wenig. 

Harnack,  ilission.    2.  Aufl.  10 


242  Die  Missionspredigfc  in  Wort  und  Tat. 

Das  Xeue  Testament  als  Ganzes  hat  überhaupt  in  der  Mission 
und  in  der  Kirchenpraxis  nicht  die  Rolle  gespielt  wie  das  Alte 
Testament.  Zwar  die  Evangelien  traten  diesem  ebenbürtig  zur 
Seite,  ja  überstrahlten  es:  hier  schimmerten  und  leuchteten  die 
Worte  Christi,  und  hier  war  sein  Tod  und  seine  Auferstehung 
erzählt.  Aber  die  Briefe  haben  nie  die  Bedeutung  dieser  Schriften 
erlangt,  zumal  da  viele  Ausführungen  in  ihnen,  namentlich  in  den 
paulinischcn,  die  Kirchenväter  in  scliwere  Verlegenheiten  —  be- 
sonders den  Gnostikern  gegenüber  —  brachten  ^  Erst  durch  Augustin 
ist  das  paulinische  Evangelium  im  Abendland  in  den  Vordergrund 
getreten;  im  Morgenland  hat  es  stets  im  Schatten  gestanden.  Die 
johanneische  Theologie  aber  ist  fast  spurlos  an  der  alten  Kirche 
vorübergegangen:  nur  in  einzelnen  Fragmenten  hat  sie  gewirkt; 
als  Ganzes  blieb  sie  ein  verschlossenes  Buch,  was  sich  übrigens 
auch  von  der  paulinischen  Theologie  sagen  läßt'-^. 


Neuntes  Kapitel. 
Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzendienst. 

(1)  Krieg  gegen  den  Polytheismus  führte  die  alte  Kirche, 
indem  sie  die  „Dämonen"  bekämpfte  (s.  o.  S.  Hoff.),  und  indem  sie 
gegen  die  öffentliche  Unsittlichkeit  zu  Felde  zog,  die  mit  dem 
Polytheismus  zusammenliing  (s.  o.  S.  ITSff.).  Aber  sie  hat  sich  mit 
diesem  Kampf  nicht  begnügt.  Die  „  stummen  Götzen "  wurden 
direkt  angegriffen,  waren  sie  doch  noch  eine  Macht,  zumal  in  den 
Kreisen,  aus  denen  sich  die  Mehrzahl  der  Christen  rekrutierte. 
Uns  scheint  heute  die  Polemik  gegen  die  Götter  des  Olymp,  gegen 
die   ägyptischen   Krokodile    und  Katzen,    gegen    die   geschnitzten, 

')  I'arüber  klagt  schon  der  2.  Petrusbrief,  und  aus  dem  großen  Werke 
des  Irenäus  erkennt  man  deutlich,  welche  Schwierigkeiten  die  paulinische 
Prädestinatiouslehre,  seine  Lehre  von  Sünde,  Freiheit  und  Gnade  u.  a.  gemacht 
haben.  Tertullian  hat  diese  Schwierigkeiten  in  noch  höherem  Maße  als 
Irenäus  empfunden,  aber  als  Montani.st  sieht  er  sie  jetzt  durch  Parakleten 
gelöst,  s.  z.  B.  de  resurr.  6:5:  „Deus  pristina  instrumenta  maiiifestis  verborum 
et  sensuum  luminibus  ab  omni  ambiguitatis  oI)scuritate  purgavit"  (seil,  durch 
die  neue  Prophetie). 

^)  Mit  und  neben  der  Bibel,  d.  h.  in  erster  Linie  mit  dem  A.  T.  kam 
auch  eine  beträchtliche  Literatur  von  Apokalypsen  und  verwandten  Schriften 
in  die  christlichen  (Jemeindeu;  sie  enthielten  auch  Kosmologisches  und  Philo- 
sophisches. Tertullian,  der  übrigens  vermutet,  daß  heidnische  Philosophen 
von  ihr  Kenntnis  genommen  haben,  spricht  sich  (de  anima  2)  über  sie  sehr 
abschätzig  aus:    „Quid   autem,   si  philosophi   etiam  illa  iucursaverunt  quae 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzendienst.  243 

gegossenen  und  g(Mneißeltcn  Götzenbilder  billig  und  überflüssig 
gewesen  zu  sein.  Es  ist  auch  richtig,  daß  sie  nicht  schwer  war  — 
Philosophen,  wie  die  Stoiker,  Skeptiker  und  Zyniker,  und  Satiriker, 
wie  Lucian,  lieferten  ein  reiches  Material;  auch  waren  Intellekt 
und  sittlicher  Sinn  jenem  Götterwesen  längst  entwachsen  — ,  allein 
überflüssig  war  sie  gewiß  nicht;  sonst  hätten  nicht  alle  Apologeten 
von  Aristides  an  bis  Arnobius  an  diesem  Punkte  so  ausführlich 
polemisiert,  sonst  hätte  der  Märtyrer  Apollonius  vor  dem  Senat 
sich  seine  lange  Polemik  erspart,  und  Tertullian,  der  Rechts-  und 
Gewohnheitskundige,  hätte  in  seiner  den  Präsides  eingereichten 
Verteidigungsschrift  nicht  eine  so  umfangreiche  Widerleo-uns:  für 
nötig  gehalten.  Allerdings  sieht  man  eben  aus  dieser  \yiderlegung, 
wie  heruntergekommen,  man  kann  fast  sagen  schäbig,  das  öflfent- 
liche  Götter-  und  Opferwesen  bereits  war.  Auf  den  Bühnen  wurde 
es  verspottet;  halbtote  und  wertlose  Tiere  wurden  als  Opfer  ge- 
bracht^; die  Götzenbilder  wurden  verunehrt,  die  Tempel  profaniert  2. 
Eine  Last  von  Überdruß,  Verachtung,  Spott  und  Ekel  lag  auf  dem 
Ganzen.  Aber  man  würde  doch  sehr  irren,  wenn  man  annähme, 
daß  dem  überall  so  war.  Nicht  nur  wurde  offiziell  alles  in  Gang 
erhalten,  sondern  es  hafteten  auch  noch  zahlreiche  Gemüter  an 
diesen  Einrichtungen  und  Zeremonien.  Die  neu  einströmenden 
Religionen  frischten  die  alten  Kulte  auf,  und  selbst  das  Rück- 
ständigste erhielt  manchmal  neue  Bedeutung.  Dazu,  das  öffentliche 
Religionswesen,  mochte  es  nun  in  Flor  stehen  oder  ganz  abgelebt 
sein,  war  nicht  allein  maßgebend.  In  allen  Provinzen  und  in  allen 
Städten,  in  Rom  so  gut  wie  in  Alexandrien,  in  Spanien,  Asien  und 
Ägypten,  gab  et  Haus-  und  Familiengötzen  und  häusliche  religiöse 
Gebräuche,  Superstitionen  und  Zeremonien  aller  Art.  Bis  in  die 
Literatur  sind  sie  selten  aufgestiegen,  aber  die  Steine  und  Grab- 
kammern und  Zauberpapyri  haben  sie  uns  näher  gebracht.  Da 
hatte  jede  häusliche  Funktion  ihren  Schutzgeist,  und  jedes  Wider- 


penes  nos  apocryphorum  confessione  damuantur,  certos  niliil  recipiendum 
quod  non  conspiret  gennanae  et  ipso  iam  aevo  pronatae  propheticae  para- 
turae,  quando  et  pseudoprophetarum  meminerimus  et  multo  prius  aposta- 
tarum  spirituum  etc.";  cf.  de  resurr.  63,  wo  es  von  den  Gnostikern  heißt,  daiä 
sie  ,arcana  apocryphorum  superducunt,  blasphemiae  fabulas". 

')  TertulL,  Apolog.  14:  „Auch  eure  Religionsgebräuclie  will  ich  durch- 
gehen. Ich  verbreite  mich  nicht  über  eure  Verfahrungsweise  beim  Opfern, 
wie  ihr  nämlich  alles,  was  abgerackert,  hinfällig  oder  räudig  ist,  als  Opfer 
schlachtet,  wie  ihr  von  dem  fetten  und  gesunden  Vieh  nur  das  abschneidet, 
was  entbehrlich  ist,  die  Köpfe  und  Klauen,  die  ihr  zu  Hause  wohl  auch 
euren  Kindern  oder  den  Hunden  bestimmt  haben  würdet,  daß  ihr  vom  Zehnten 
des  Hercules  nicht  einmal  den  dritten  Teil  auf  seinen  Altar  legt,  usw." 

^)  TertulL,  Apol.  42:  „Es  schmelzen,  klagt  ihr,  die  Tempelsteuern  täg- 
lich mehr  zusammen:  wie  wenige  zahlen  noch  ihre  Gebühren!"  Cf.  Arnob.  I,  24. 

16* 


244  Die  Missionspredigfc  in  Wort  und  Tat. 

fahrnis  stand  unter  einem  dirio-ierenden  Cfott.  Diese  religiöse  Welt, 
diese  Religion  zweiter  Ordnung-,  war  überall  lebendig  und  wirksam. 

Die  Apologeten  begnügten  sich  in  der  Regel  damit,  die  offi- 
zielle Grötterwelt  zu  bekämpfen  \  und  zwar  taten  sie  es  so,  daß  sie 
erstlich  den  sittlichen  Geist  gegen  sie  zu  erwecken  suchten,  indem 
sie  die  Schandtaten  der  „Götter"  brandmarkten,  zweitens  die  Tor- 
heit und  den  Unsinn  der  Götterlehre  und  Göttergeschichten  ans 
Licht  stellten,  und  drittens  den  Ursprung  derselben  aufdeckten. 
Sie  zeigten,  daß  die  Götzen  ein  IS^ichts  seien  bez.  Blendw^erke  der 
Dämonen,  die  hinter  den  toten  Puppen  lauern  und  sie  eingeführt 
haben,  um  durch  sie  die  Menschen  zu  beherrschen,  oder  sie  zeigten, 
dem  Euhemerus  folgend,  daß  die  vermeintlichen  Götter  nichts 
anderes  als  verstorbene  Menschen  seien ^,  oder  sie  wiesen  nach,  daß 
alles  eitel  Fabel  und  Schwindel,  nicht  selten  aber  eigensüchtiger 
Priesterbetrug  sei.  Witz  und  Ironie,  aber  auch  kraftvollen  Abscheu 
haben  sie  dabei  zum  Ausdruck  gebracht.  Man  weiß  freilich  nicht, 
wieviel  davon  ihr  geistiges  Eigentum  ist;  denn,  wie  bemerkt,  die 
stoischen,  skeptischen  und  zynischen  Philosophen  (aucli  z.  T.  die 
epikureischen)  waren  ihnen  hier  vorangegangen,  und  Verspottungen 
der  Götter  waren  so  billig  wie  Brombeeren.  Es  ist  daher  auch 
nicht  nötig,  sie  durch  Anführung  einzelner  Stellen  zu  illustrieren. 
Die  Durchsicht  der  wenig  umfangreichen  Aj)ologic  des  Aristides 
genügt  bereits,  um  sich  ein  Bild  von  dieser  Polemik  zu  verschaffen; 
auch  die  pscudojustinischo  Oratio  ad  Graecos  mag  man  nachlesen, 
vor  allem  aber  die  betreffenden  Abschnitte  in  Tertnllians  Apolo- 
geticus. 

Die  Pflicht,  sich  von  aller  Befleckung  mit  dem  Polytheismus 
rein  zu  erhalten,  galt  als  die  oberste  Christenpflicht,  die  allen 
anderen  voranging.  Siegalt  als  die  negative  Seite  der  Bekenntnis- 
pflicht, und  es  ist  mit  „der  Sünde  des  Götzendienstes"  in  den 
christlichen  Gemeinden  strenger  genommen  worden  als  mit  irgend 
einer    anderen    Sünde  ^.      Daß    auch    für    diese    Sünde  Yoru-ebuno- 


^)  Jener  häusliche  Aberglaube  schien  ihnen  wohl  zu  unbedeutend,  oder 
sie  rechneten  darauf,  daß  er  von  selbst  dem  Sturz  des  öffentlichen  folgen 
werde.  Dabei  hatten  sie  sich  allerdings  verrechnet.  —  In  der  Apostel- 
geschichte ist  uns  eine  Szene  (aus  Ephesus)  berichtet,  die  man  hierher  ziehen 
kann.^  Auf  die  Predigt  des  Paulus  hin  bringen  Erweckte  die  Zauberbncher, 
die  sie  zu  Hause  hatten,  und  verbrennen  sie  (Act.  19,  19).  Die  Szene  hat 
aber  wenige  Parallelen  in  der  altchristlichen  Literatur. 

'■')  Doch  ist  die  euhemeristische  P]rkliiruiig  Vici  den  christlichen  Lehrern 
weder  die  älteste  noch  die  verbreitetste. 

■*)  S.  Tertull.,  de  idolol.  1:  „Principale  crimen  generis  humani,  snmmus 
saeculi  reains,  tota  causa  iudicii  idololatria."  Tertullian  sucht  in  dem  ersten 
Kapitel  dieser  Schrift  zu  zeigen,  dal.')  alle  llauptsünden  im  fiötzendienst 
stecken,  Ehebruch,  Mord,  usw. 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  uud  Götzendienst.  245 

gespendet  werden  kann,  zu  dieser  Anerkennung  liat  sich  die 
Kirche  sehr  schwer  und  spät  entschlossen,  erst  unter  dem  Druck 
der  furchtbaren  Folgen  des  decianischen  Sturmes  (also  nach  dem 
Jahre  250) ^  Das  ist  wohl  verständlich:  denn  die  Exklusivität 
war  die  Bedingung  der  Existenz  der  Kirche.  Kapitulierte  sie  an 
irgend  einem  Punkte  mit  dem  Polytheismus,  so  war  es  um  ihre 
Eigenart  geschehen.  So  stand  es  wenigstens  bis  gegen  die  Mitte 
des  3.  Jahrhunderts.  Von  da  an  konnte  sie  minder  ängstlich  sein: 
denn  nun  war  das  Kircheninstitut  so  mächtig  gewachsen  und  Lehre, 
Kultus  und  Verfassung  hatten  sich  so  eigentümlich  entwickelt, 
daß  sie  eine  scharf  umrissene  Größe  sui  generis  blieb,  auch  wenn 
sie,  wissend  oder  unwissend,  dem  verkappten  Polytheismus  ent- 
gegenkam, oder  sich  nachsichtiger  gegen  ihn  erwies. 

Wie  aber  die  Bekenntnispflicht  die  Pflicht,  sich  zum  Bekenntnis 
zu  drängen  oder  gar  sich  selbst  zu  denunzieren,  nicht  einschloßt 
(im  Brief  der  Gemeinde  von  Smyrna  an  die  von  Philomelium  wird 
sogar  ausdrücklich  dagegen  protestiert,  und  die  montanistische 
Martyriumssucht  ^  wird  auch  sonst  gerügt)  ^  so  schloß  der  Protest 
gegen  den  Polytheismus  nicht  die  Verpflichtung  ein,  aus  freien 
Stücken  öffentlich  gegen  ihn  zu  protestieren.  Zwar  solche  Fälle, 
in  denen  ein  Christ,  als  Zuschauer  vor  Gericht  stehend,  dem 
Konfessor  Beifall  ausdrückte  und  nun  selbst  gefaßt  wurde,  werden 
lobend  erwähnt:  der  Geist  hatte  ihn  erfaßt.  Aber  öffentliche 
Schmähungen  gegen  den  Kaiser  oder  die  Götzen  wurden  in  der 
Regel  so  wenig  gebilligt  wie  Aufruhr ,  und  gar  die  unprovozierte 
Beschimpfung  oder  das  Herabstürzen  der  Götzenbilder  wurde  ge- 
tadelt^.    Hin  und   her  muß  dergleichen  vora^ekommen  sein;   denn 


')  Vorher  ist  es  nm-  TertuUian  in  seinem  Kampf  gegen  die  kirchliche 
laxe  Behandlung  der  Fleischessünden  aufgedämmert,  daß  unter  Umständen 
eine  unter  Foltern  abgepreßte  Verleugnung  eine  geringere  Sünde  ist  als 
Hurerei  und  Ehebruch.     Bei  Cypriau  findet  sich  dann  ähnliches. 

-)  Selbst  die  rechtzeitige  Flucht  war  nach  Matth.  10  gestattet;  die 
Montanisten  und  TertuUian  erlaubten  sie  nicht;  s.  die  Schrift  des  letzteren 
„de  fuga  in  persecutione".  Sehr  besonnen  hat  hier  Clemens  gesprochen; 
s.  Strom.  IV,  10,  76  u.  77  u.  VII,  11  u.  12. 

*)  Die  Acta  Perpetuae  erzählen  es  ohne  Tadel,  daß  sich  Saturus  frei- 
willig als  Christ  gemeldet  hat;  aber  diese  Akten  sind  montanistisch. 

*)  Etwas  anderes  war  es,  wenn  sich  die  Christen  in  Scharen  zum  Tri- 
bunal drängten,  um  den  Richter  zu  nötigen,  entweder  alle  zu  töten  oder 
keinen:  s.  Tertull.  ad  Scapul.  5:  Arrius  Antoninus  in  Asia  cum  i^ersequeretur 
instanter,  omnes  illius  civitatis  Christiani  ante  tribuualia  eins  se  manu  facta 
obtulerunt.  tum  ille  paucis  duci  iussis  reliquis  ait:  oi  Öedot,  sl  dihis  äjro- 
■&i')'jay.siv,  >cnr]/.irovg  y  ßQü/oug  eyexs.  Ähnlich  ist  der  heidnische  Zuruf  (Justin, 
Apol.  11,4):  JiävTEi;  ovv  iavrovg  (po^'evoavzEg  jioQsvsa&s  ijÖt]  napä  zov  deov  xai 
t]/iiTv  Jigäy/iiaia  fuj  jiaQs/Ezs.    (S.  0.  Seite  229  ^.) 

^)  Doch  gab  es  auch  einige  Christen,  die  darülier  frohlockten  ;  in  einigen, 
freilich  späten  Martyrien  prägt  sich  das  aus.    Mit  Beifall  berichtet  Eusebius 


246  Di*3  Missiunspredigt  in  Wort  und  Tat. 

im  60.  Kanon  von  Elvira  heißt  es:  „Si  quis  idola  fregerit  et  ibidem 
liierit  occisus,  quatenus  in  evangelio  scriptum  non  est  neque  inve- 
nietur  sub  apostolis  umquam  factum,  placuit  in  numerum  eum  non 
recipi  martyrum." 

(2)  Um  den  Polytheismus  \virksam  zu  bekämpfen,  durfte  man 
vor  den  Philosoplien,  auch  vor  den  angesehensten,  nicht  Halt 
maclien;  denn  sie  alle  standen  irgendwie  mit  dem  Götzendienst 
in  Verbindung.  Aber  an  diesem  ]\mkte  gingen  doch  die  Apolo- 
geten in  ihrer  Polemik  stark  auseinander.  Daß  kein  Philosoph 
die  Wahrheit  rein  und  ganz  gefunden  habe,  darüber  zwar  waren 
sie  alle  einig,  ferner  auch  darüber,  daß  keiner  von  ilmen  imstande 
gewesen  ist,  das  Wahre,  was  er  gefunden  hat,  sicher  zu  beweisen, 
allgemein  zu  verbreiten  und  zu  einer  Überzeugung  zu  machen,  für 
die  man  in  den  Tod  geht.  Aber  die  einen  ließen  es  bei  diesen 
starken  Yorbehalten  bewenden  und  fi-euten  sich  im  übrigen  an 
der  Übereinstimmung  des  Christentums  mit  der  Philosophie,  lobten 
wohl  auch  die  Philosophen  um  ihrer  sittlichen  Absichten  und  ihrer 
tiefen  Gedanken  willen,  so  z.  B.  Justin;  ja  die  alexandrinischen 
christlichen  Lehrer  haben  sogar  in  der  hellenischen  Philosophie 
die  Parallelerscheinung  zum  jüdischen  Gesetz  erkannt  \  Dem 
Plato  fand  man  sich  in  der  Gotteslehre  und  Metaphysik  verwandt, 
der  Stoa  in  der  Ethik,  und  in  Philosophen  wie  Seneca  sah  man 
partielle  Gesinnungsgenossen  ^,  in  Socrates  einen  Heros  und  Yor- 
läufer  der  Wahrheit.  Allein  andere  wollten  von  keinem  Philo- 
sophen und  keiner  Philosophie  etwas  wissen  und  meinten  der 
Mission  des  Evangeliums  am  besten  dadurch  dienen  zu  können, 
daß  sie  jene  wie  diese  gröblich  verlästerten.  Tatian  hat  darin 
Unglaubliches  geleistet  und  sich  empörender  Ungerechtigkeit 
schuldig  gemacht;  aber  Theophilus  gibt  ihm  wenig  nach,  und  auch 
Tertullian,  obgleich  er  doch  der  Ötoa  soviel  verdankt,  kommt  dem 
Tatian  ziemlich  nahe.  Diese  Apologeten  täuschten  sich  aber, 
wenn  sie  meinten,  durch  ihre  Verunglimpfungen  viel  zu  erreichen. 
Soviel  wir  zu  urteilen  vermögen,  hat  nicht  die  Methode  jener 
Extremen,  sondern  die  des  Justin,  Clemens  und  Origenes  auf  die 
gebildete  griechische  Welt  Eindruck  gemacht.  Indessen  ist  es 
nicht  unwahrscheinlich,  daß  auch  jene  ihr  Publikum  hatten.  Die 
meisten  Menschen  denken  überhaui)t  nicht,  oder  sie  denken  in  den 
rohesten  Kontrasten.    Auf  solche  Leute  konnten  die  Schmähreden 


(de  mart.  Palaest.  2)  das  Vorgehen  des  Märtyrers  Romanus,  der,  als  er  in 
Antiochien  —  die  diocletianische  Verfolgung  war  eben  angebrochen  —  einen 
Festzug  von  Männern,  Frauen  und  Kindern  zu  den  Götzeuhildern  gehen  sah, 
sie  durch  laute  Warnungen  zurückzuhalten  suchte. 

')  S.  meine  Rede  „Socrates  und  die  alte  Kirche'',  1900. 

^)  Tertull.,  de  anima  20:  „Seneca  saepe  noster." 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzendienst.  247 

Tatians  wohl  Eindruck  machen,  und  ferner,  man  kann  weder  bei 
ihm  noch  bei  Tertullian  verkennen,  daß  sie  ehrlich  waren,  nicht 
bloße  Kalumniatoren.  Wo  sie  noch  irgendwelche  Spuren  von 
Polytheismus  fanden,  da  empörte  sich  ihr  ganzer  sittlicher  Sinn, 
da  waren  sie  überzeugt,  daß  nichts  Gutes  vorhanden  sein  könne, 
da  glaubten  sie  jeder  Yerleumdung,  welche  eine  schlechte  Literatur 
ihnen  zutrug.  Spuren  des  Polytheismus  waren  aber  bei  allen 
Philosophen,  auch  den  sublimsten,  immer  noch  zu  finden.  Hatte 
doch  selbst  Socrates  in  der  letzten  Stunde  die  Anordnung  getroffen, 
man  solle  nach  seinem  Tode  dem  Äsculap  einen  Hahn  schlachten. 
Die  Ironie  dieser  Anweisung  verstand  man  nicht ;  man  sah  in  ihr 
nur  eine  Anerkennung  des  Götzendienstes.  Also  auch  Socrates, 
der  Heros,  w^ar  zu  tadeln! 

Allein  ob  halbe  Freunde,  ob  erbitterte  Gegner  der  Philosojjhie 
—  die  Apologeten  standen  doch  sämtlich  auf  ihrem  Boden,  und 
zwar  auf  dem  Boden  des  Piatonismus.  Obgleich  sie  ihn  be- 
kämpften, zogen  sie  ihn  in  die  Kirche  hinein  und  bauten  die 
kirchliche  Glaubenslehre  nach  dem  Grundriß  des  Piatonismus  und 
mit  seinen  Bausteinen  (Näheres  darüber  s.  i.  d.  „Schlußbetrachtung" 
dieses  Buchs). 

(3)  Praktisch  von  noch  größerer  Wichtigkeit  als  der  Kampf 
gegen  die  Götterwelt  und  den  Götzendienst  war  der  Kampf  gegen 
die  Menschenvergötterung.  Dieser  Kampf,  der  seine  Spitze 
in  der  radikalen  Verwerfung  des  Kaiserkultus  hatte,  bedeutete 
zugleich  den  entschlossenen  Protest  gegen  die  Vermischung 
von  Religion  und  Patriotismus,  also  gegen  jenen  Staatskultus, 
in  welchem  der  Staat  (seine  Repräsentation  im  Kaiser)  selbst 
Gegenstand  des  Kultus  war.  Ein  Hauptzweck  und  ein  Haupterfolg 
der  christlichen  Religion  ist  es  gewesen,  eine  scharfe  Grenze  zu 
ziehen  zwischen  der  Anbetung  Gottes  und  der  Ehrfurcht  gegen  den 
Staat  und  seine  Leiter.  Das  Christentum  hat  die  politische 
Religion  entwurzelt. 

Der  Kaiserkultus  ^  hat  eine  doppelte  Gestalt.  Er  ist  in  beiden 
keine  griechisch-römische,  sondern  eine  orientalische  Erscheinung, 
die  sich  jedoch  ohne  Schwierigkeit,  ja  mit  Notwendigkeit  den 
„caeremoniae  religionis  Romanae"  einfügte,  nachdem  das  Reich 
kaiserlich  geworden  war  —  Kultus  der  verstorbenen  Kaiser  und 
Kultus  des  lebenden  Kaisers  (Verehrung  des  Kaiserbildes).  Jener 
Kultus  hatte  von  Anfang  an  seinen  Hauptsitz  in  Rom  selbst  und 
wurde  als  der  wichtigste  Teil  der  staatlichen  Religion  in  die 
Provinzen  getragen ;  dieser  ist  in  den  östlichen  Provinzen  entstanden, 


')  Zu  der  bekannten  deutschen  Literatur  s.  Beurlier,  Essai  sur  le  culte 
rendu  aux  empereurs  romains,  1890. 


248  Die  MissioDspredigt  in  Wort  und  Tat. 

ist  aber  schon  im  l.  .lahrhundcrt  von  Gajus  und  Domitian  rezipiert 
worden  und  wurde  im  2.  Jahrhundert  (als  Verehrung  des  Kaiser- 
bildes) ganz  geläufig.  Die  Verweigerung  beider  Kulte  fiel  sowohl 
unter  das  Verbrechen  des  Sacrilegiums  wie  der  Majestas.  Die 
Repression  des  Staats  gegen  das  Christentum  ist  fast 
ausschließlich  an  diesem  Punkte  erfolgt,  da  der  Staat  ihm 
die  iX^achsicht  hier  nicht  gewährte,  die  er  dem  Judentum  zubilligte. 
Hätten  sich  die  Christen  nur  gegen  den  Olyni])  gekehrt,  aber 
einen  Kompromiß  mit  dem  Kaiserkultus  gefunden,  so  wären  sie 
höchst  wahrscheinlich  ganz  unbehelligt  geblieben  —  Tertullian 
sagt  das  im  Apologeticus  (c.  28  ff.)  mit  dürren  Worten.  Auch 
sind  fast  alle  Konflikte  einzelner  Christen  mit  den  Ordnungen  des 
Staats  im  Prozeß  auf  die  Majestas  hinausgeführt  worden.  Was 
der  Kaiserkultus  positiv  für  das  Reich  bedeutete,  das  liat  jüngst 
V.  W i  1  a m  o w i  tz  -  M o e  1 1  e n d o  r ff  eindrucksvoll  ausgesprochen  ^ 
Die  Christen  verwarfen  den  Kaiserkult  in  jeder  Form  (bis 
in    das    Leben    des    Tages    hinein,    auch    die    Schwüre    und    die 

')  Geschichte  der  griech.  Religion,  im  Jahrbuch  des  Freien  deutschen 
Hochstifts,  1904,  Souderabdruck  S.  23f.:  „Der  Gedanke,  aus  dem  heraus 
Augustus  die  Welt  erneute,  war  die  Religion  des  Poseidonios,  der  Glaube  au 
die  Weltvernunft  und  die  Einheit  alles  Lebens,  an  den  stoischen  Weltgott, 
Vorsehung  und  Notwendigkeit.  Er  durfte  sich  als  das  Organ,  den  Träger 
dieses  Weltengesetzes  betrachten;  er  durfte  die  persönliche  Fortdauer  seiner 
Seele  als  den  Lohn  seiner  Milde  hoffen:  das  entspricht  genau  der  poseido- 
nischen Lehre;  aus  ihr  folgt  die  Berechtigung  des  Kultus  der  divi.  Es  ver- 
steht niemand  die  Zeit  oder  den  Mann,  der  das  divi  filius  als  leeres  Orna- 
ment oder  als  Lug  betrachtet.  Dem  Tiberius,  der  aller  Mystik  abhold,  aber 
dem  starren  Glauben  an  die  Astrologie  ergeben  war,  lief  das  freilich  wider 
Gefühl  und  Verstand.  Ein  Gajus  ward  durch  den  Glauben  au  seine  Gött- 
lichkeit zum  Narren;  als  Claudius  von  seinen  Mördern  kousekriert  ward,  war 
dies  für  die  Wissenden  eine  Farce;  aber  selbst  sie  werden  den  Kaiserkult 
sehr  ernst  genommen  haben.  Wieder  wie  nach  Alexander  mußte  der  Kultus 
der  Persönlichkeit  sich  wandeln  in  den  der  Institution.  Der  Kaiser  war 
Gott,  weil  er  Kaiser  war,  nicht  Regent  der  Welt,  weil  der  Gott  in  ihm  zur 
Herrschaft  Kraft  und  Recht  besaß.  Seine  Person  war  der  Träger  der  All- 
macht des  Reiches;  diese  machte  sich  auch  dem  geringsten  und  entferntesten 
Untertan  fühlbar;  ihr  iJersönlicher  Träger  war  für  die  Millionen  so  unnahbar 
fern  wie  ein  Weltgott  im  Himmel,  viel  ferner  als  für  jeden  einzelnen  die 
Götter  seines  Dorfes  oder  seiner  Flur.  Und  wenn  er  sich  zu  der  Erkenntnis 
nicht  erheben  konnte,  daß  das  gesamte  Leben  im  Himmel  und  auf  Erden 
eine  Einheit  ist:  auf  Erden  war  die  Einheit  von  Staat,  Kirche,  Gesetz  und 
Sitte  eine  Tatsache,  und  wohl  verdiente  diese  Einheit  das  Prädikat  der  Gött- 
lichkeit; war  sie  göttlich,  so  war  der  Kultus  ihrer  persönlichen  Exponenten 
eine  unabweisbare  religiöse  Forderung.  So  ist  denn  der  Keichskultus,  der 
Kaiserkultus,  das  eigentliche  Hauptstück  der  Religion;  ihn  verneinen  ist  das- 
selbe wie  einst  in  den  kleinen  Städterepubliken  die  Verleugnung  der  jxmfitot. 
deoL  Alle  anderen  Gottheiten,  denen  staatlicher  oder  munizipaler  Kult  zuteil 
wird,  ordnen  sich  dieser  Religion  ein  und  unter;  sie  hal)en  nur  noch  dadurch 
Bedeutung,  daß  ihr  Kult  zu  dian  gehört,   was  der  Staat  ordnet.     Und  wenn 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzendienst.  2  19 

Jxedonsarton,  die  den  Kaiser  als  ein  übermenschliches  Wesen  er- 
scheinen ließen)  und  riM-hneten  ihn  ohne  Schwanken  znm  (iiir/.en- 
dienst.  Sie  deckten  sich  dabei  g'cgen  den  Yorwnrf  der  Jlespekt- 
losigkeit  und  Untreue  durch  den  Hinweis  auf  ihre  Gebete  für 
den  Kaiser  und  den  Staat  ^.  Diese  Gebete  sind  in  der  Tat  von 
Anfang  an  eine  feste  Einrichtung  im  christlichen  Gottesdienst 
gewesen-,  imd  allgemein  bezog*  man  das  Wort  Christi:  „Gebet 
dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist",  nicht  nur  auf  den  Gehorsam 
und  die  pünktliche  Steuerzahlung,  sondern  auch  auf  die  Fürbitten. 
Selbst  die  schärfste  Kritik,  welche  einzelne  christliche  Lehrer  am 
Wesen  des  römischen  Staats  und  des  Kaisertums  übten,  hat  sie 
niemals  bestimmt,  die  Fürbitte  zu  unterlassen  oder  von  ihr  ab- 
zumahnen. Daß  der  Kaiser  als  „a  deo  secundus  ante  omnes  et 
super  omnes  deos"  bei  den  Christen  galt  (Tertull..  Apol.  30),  wird 
durch  zahlreiche  Stellen  bestätigt,  in  denen  gleich  nach  Gott  der 
Kaiser  genannt  wird^.  Tu  der  Tat,  die  Christen  dui'ften  sagen, 
daß   sie   es   an  Lovalität   nicht   fehlen  ließen  in   der  Theorie   und 


die  Fortuna  oder  der  Silvan  oder  die  Matres  Augusti  und  Augustae  werden, 
so  hat  der  Kaiserkult  sell)st  im  Westen  die  alten  Götter  innerlich  aufgesogen. 
Großartig  genug  ist  der  Inhalt  dieses  Glaubens:  denn  alle  Gaben  der  Kultur 
von  der  Sicherheit  des  physischen  Lebens  bis  zu  den  höchsten  Genüssen  des 
Geistes  erscheinen  als  Gaben  der  Gottheit,  die  in  dem  Reiche  immanent  ist 
und  zurzeit  in  dem  Kaiser  oder  seinem  Genius  oder  seiner  Tyche  Persönlich- 
keit gewinnt.  .  .  .  Daher  ist  es  ganz  folgerichtig,  daß  die  Verweigerung,  dem 
Kaiser  zu  opfern,  Hochverrat  ist,  und  die  Christen  verweigern  es  im  vollen 
(iefühle,  damit  der  rzohrsia  rov  y.öonov  abzusagen;  sie  fühlen  sich  ja  als 
Bürger  eines  andei-en  Reichs.  Ebenso  folgerichtig  ist  es,  daß  sie  udroi  sind; 
di-nn  mit  dem  Staatskult  negieren  sie  alle  Götter,  die  eben  von  Gnaden  des 
Staats  noch  existieren." 

^)  Vgl.  die  bekannten  neutestamentlichen  Stellen,  die  aijostoliseheu 
Väter  und  die  Apologeten  (vor  allem  Tert.,  Apol.  c.  28  tf ).  Den  Inhalt  der 
Fürbitte,  wie  sie  in  Carthago  lautete,  gibt  uns  TertuUian  im  Apolog.  an 
(c.  39:  ,.oramus  etiam  pro  imperatoribus,  pro  ministris  eorum  et  potestatibus, 
pro  statu  saeculi,  pro  rerum  quiete,  pro  mora  finis".  c.  oO:  „precantes  sumus 
semper  pro  omnibus  imperatoribus:  vitam  illis  prolisam,  imperium  securum, 
domum  tutam,  exercitus  fortes,  senatum  fidelem,  populum  probum,  orbem 
quietum,  quaecumque  hominis  et  Caesaris  vota  sunt  [a  deo  oramus]"). 

-i  Der  Ursprung  fällt  in  die  allerfrüheste  Zeit;  wir  kennen  die  Erwä- 
gungen nicht,  die  zu  der  Einrichtung  geführt  haben. 

^)  Die  Hochschätzung  des  Kaisers  als  secundi  a  deo  berührt  aber  die 
Überzeugung  nicht  (wenigstens  bei  TertuUian  nicht),  daß  Kaiser  niemals 
Christen  sein  können;  s.  Apol.  21:  „Et  Caesares  credidissent  super  Christo,  si 
aut  Caesares  nou  essent  necessarii  saeculo,  aut  si  et  Christiani  potuissent 
esse  Caesares."  Sechzig  Jahre  später  dachte  man  im  Orient  darüber  anders. 
Xicht  nur  erzählte  mau  sich  in  weiten  Kx-eisen.  Alexander  Severus  und 
Philippus  seien  heimliche  Christen  gewesen,  sondern  sogar  ein  so  hervor- 
ragender Lehrer  wie  Dionysius  Alex,  glaubt  diese  Legende  und  nimmt  keinen 
Anstoß  an  ihr. 


250  Die  Missionsi:)redigt  in  Wort  und  Tat. 

in  der  Praxis,  Sie  haben  es  gelehrt  und  in  die  AYeltgeschichte 
eingeführt,  daß  die  Anbetung  der  Gottheit  und  die  Ehrerbietung 
gegenüber  dem  Herrscher  etwas  ganz  Yersehiedenes  ist,  und  daß 
Anbetung  des  Monarchen  ein  verabscheuungswürdiges  und  er- 
niedrigendes Verbrechen  ist;  aber  sie  haben  dabei  den  Gehorsam 
gegen  die  Obrigkeit  und  die  Pietät  gegen  den  Kaiser  streng 
eingeschärft. 

Die  Haltung  der  Kirche  im  3.  Jahrhundert  hat  sich  in  diesem 
Punkte  im  allgemeinen  nicht  verändert ' :  es  blieb  bei  der  scharfen 
Ablehnung  der  Menschenvergütterung  in  Form  des  Kaiserkultus; 
aber  an  einem  anderen  Punkte  drang  langsam,  aber  mit  elemen- 
tarer Gewalt  die  Menschenvergötterung  doch  ein  —  bei  der  Ver- 
ehrung der  Apostel  und  Märtyrer.  Schon  in  den  um  die  Wende 
des  2.  7Aim  3.  Jahrhundert  geschriebenen  apokryphen  Apostel- 
geschichten erscheinen  die  Apostel  wie  Halbgötter;  ja  bereits  um 
das  Jahr  1 60  befürchten  die  Heiden  in  Smyrna,  die  Christen  würden 
den  gemarterten  Polycarp  göttlich  verehren,  und  spottet  Lucian, 
der  Schwindler  Peregrinus  mit  seinem  billigen  Martyrium  gelte 
bei  ihnen  als  ein  Gott.  Befürchtungen  und  Spott  waren  damals 
wohl  noch  unbegründet,  aber  drei  Menschenalter  später  waren  sie 
es  nicht  mehr,  und  gegen  das  Ende  des  3.  Jahrhunderts  gab  es 
bereits  zahlreiche  Kapellen,  die  Aposteln.  Patriarchen  und  Mär- 
tyrern —  auch  Erzengeln  —  geweiht  waren-,  schlief  man  mit 
A^orliebe  bei  den  Gräbern  der  Heiligen  und  hatte  einen  Heiligen- 
kultus ausgebildet,  der  lokal  sehr  verschieden  gestaltet  war  und 
das  bequeme  Mittel  bot,  alte  Kulte,  die  in  der  Bevölkerung  be- 
liebt waren,  zu  konservieren.  Theoretisch  ist  im  3.  Jahrhundert 
die  Grenze  zwischen  der  Anbetung  Gottes  und  jenem  Nothelfer- 
imd  Fürbitter-Kultus  wohl  noch  scharf  gezogen  worden,  auch  läßt 
sich  eine  christliche  Wurzel  dieses  Kultus  nicht  verkennen  (die 
Gemeinschaft  der  Heiligen)  —  aber  praktisch  verwischen  sich 
erfahrungsgemäß    die    Grenzen    unter    solchen   Umständen    stets '^ 


')  Dionysius  Alex,  hat  allerdings  auf  Gallienus,  der  den  Christen  freund- 
lich war,  Jesaj.  43,  19  augewendet  (bei  Euseb.,  h.  c.  VII,  2o),  aber  das  ist 
Rhetorik. 

•')  Ö.  Euseb.,  Mart.  Tal.  S.  102  (Texte  u.  Unters.  Bd.  15  Heft  41. 

•'')  Schon  Origeucs  polemisiert  nur  noch  gegen  eine  Hälfte  des  polj'- 
thcistischen  Aberglaubens  und  seiner  Manifestationen,  s.  Honi.  VIII,  4  in  Jesum 
Nave  (t.  11  p.  07):  „Uli  qui,  cum  Christiaui  sint,  solenniitates  gentium  cele- 
brant,  anathema  in  ecclesias  introducunt.  qui  de  astrorum  cursibus  vitam 
hominum  et  gesta  perquirunt,  qui  volatus  avium  et  cetera  huiusmodi,  quae 
in  saeculo  prius  observabantur,  inquirunt,  de  Jericho  anathema  inferuut  in 
ecclesiam  et  polluunt  castra  domini  et  vinci  faciunt  populum  dei."  Kr  hätte 
noch  anderes  nennen  küniion  und  müssen,  aber  er  empfand  das  l'olytheistiscbe 
dort  nicht  mehr. 


Der  Kami>f  gegcMi  den  Polytheismus  und  Götzendienst.  25  1 

Am  Ende  des  o.  Jahrliuiulerts  war  die  christliche  Religion  trotz 
ihres  Monotheismus  eine  in  Heiligen,  Engeln,  Nothelfern,  wunder- 
tätigen Reliquien  usw.  ganz  besonders  starke  Religion,  die  es 
darin  mit  jedem  anderen  Kult  aufzunehmen  vermochte.  Porphyrius 
(der  Heide  bei  Macarius  Magnes),  lY,  21  hat  das  wohl  erkannt. 
Er  schreibt:  „Wenn  ihr  nun  behau])tet,  daß  Engel  bei  Gott  stehen, 
die  dem  Leiden  und  Tod  nicht  unterworfen  und  unvergänglich 
seien  in  ihrer  Natur,  welche  wir  Götter  nennen,  da  sie  der 
Göttlichkeit  nahe  stehen:  was  ist  dann,  den  Namen  betreffend, 
der  strittige  Punkt?  Oder  sollen  wir  es  nur  für  eum  Verschieden- 
heit der  Benennungen  halten?  ....  Mag  nun  also  jemand  diese 
Götter  oder  Engel  nennen  —  die  Namen  sind  überhaupt  gleich- 
gültig: eine  und  dieselbe  Göttin  heißt  z.  B.  Athena  und  Minerva 
und  führt  bei  den  Ägyptern  und  Syrern  wieder  andere  Namen  — , 
so  macht  das  keinen  großen  Unterschied,  da  ja  ihre  göttliche 
Natiu-  bezeugt  ist,  auch  bei  euch  durch  Matth.  22,  29.  31  ^" 

(4)  Der  Krieg  gegen  den  Polytheismus^  wurde  ferner  durch 
radikale  Bekämpfung  des  Theaters  und  aller  Spiele  geführt.  Wer 
erwägt,  was  sie  im  antiken  Leben  bedeuteten  und  wie  innig  sie 
mit  dem  Götzendienst  zusammenhingen^,    weiß,    was  die  Polemik 


^)  Porphyrius  fahrt  fort,  —  indem  er  sich  gegen  die  billige  Kritik  der 
Christen  an  dem  Götzendienst  ('s.  o.)  richtet:  „Wenn  demnach  zugestanden 
wird,  daß  die  Engel  teilhaben  an  göttlicher  Natur,  so  glauben  andererseits 
die,  welche  den  Göttern  die  geziemende  Verehrung  erweisen,  nicht,  daß  der 
Gott  aus  dem  Holz,  Stein  oder  Erz  bestehe,  aus  welchem  das  Götterbild 
gearbeitet  ist,  und  meinen  nicht,  wenn  irgendein  Stück  von  dem  Bilde  ab- 
gebrochen ist ,  daß  damit  etwas  von  der  Macht  des  betrefi'euden  Gottes  ge- 
nommen sei.  Denn  um  der  Erinnerung  willen  wurden  Götterbilder  und 
Tempel  von  den  Alten  aufgestellt,  damit  die,  welche  hinzugingen,  dadurch 
des  Gottes  gedächten,  oder  damit  sie,  feiernd  von  der  Arbeit  und  rein  von 
anderen  Dingen,  Gelübde  und  Gebete  an  ihn  richteten,  und  von  ihm  ein 
jeder  das  erbäte ,  dessen  er  bedarf.  Denn  wenn  jemand  das  Bild  eines 
Freundes  anfertigen  läßt,  so  glaubt  er  doch  nicht,  daß  der  Freund  sich  auf 
dem  Bilde  befände,  oder  daß  seine  Glieder  in  Wirklichkeit  durch  die  Teile 
des  Gemäldes  eingeschlossen  würden,  sondern  er  meint  vielmehr,  daß  die 
Ehre,  welche  er  dem  Freunde  zollt,  in  dem  Bilde  ihren  Ausdruck  finde.  Die 
Opfer  aber,  die  man  den  Göttern  darbringt,  bringen  ihnen  nicht  Ehren,  son- 
dern sie  sollen  die  Bezeugung  des  guten  Willens  ihrer  Verehrer  sein  und 
davon,  daß  sich  diese  ihnen  gegenüber  nicht  undankbar  verhalten."  Die 
Älehrzahl  der  Christen  dachte  über  diesen  Punkt  schwerlich  mehr  so  rein 
und  spirituell  wie  dieser  „Götzendiener". 

■-)  Man  vgl.  zu  dem  Folgenden  Bigelmair,  Die  Beteiligung  der  Christen 
am  öfientlichen  Leben  in  vorconstautinischer  Zeit.  1902. 

^)  Tertull.,  de  spect.  4:  „Quid  erit  summum  ac  praecipuum,  in  quo  dia- 
bolus  et  pompae  et  angeli  eins  censeautur,  c^uam  idololatriaV  .  .  .  Igitur  si 
ex  idololatria  universam  spectaculorum  paraturam  constare  constiterit,  indu- 
bitate  praeiudicatum  erit  etiam  ad  spectacula  pertinere  renuntiationis  nostrae 
testimonium  in  lavacro,  quae  diabolo  et  pompae  et  augelis  eius  sint  manci- 


252  i-*ie  Missioiispredigt  in  Wort  uud  Tat. 

g'(\i>-<'ii  sie  sai^-cn  wollte.  Darf  man  doch  behaupten,  daß  sie  für 
rnzählig-e  die  andere  Hälfte  des  Lebens  waren  neben  der  müh- 
samen Arbeit  des  Tages:  „panis  et  circenses".  In  den  christ- 
lichen Gemeinden  war  es  verboten,  Schauspieler  oder  Gladiator 
zu  sein,  die  Schauspielkunst  zu  lehren^  und  die  Schauspiele  zu 
besuchen^.  Die  erste  scharfe  Polemik  findet  sich  bei  Tatian  in 
der  Oratio 3;  es  folgen  andere,  sodann  die  Traktate  Tertullians 
und  Pseudocyprians  (Novatians)  „de  spectaculis'-'  und  die  Aus- 
führungen des  Lactantius*.    Daß  die  Verbote  nicht  überall  respek- 


pata,  seil,  per  idololatriam.  commeinorabimus  origiues  siugulorum,  quibus 
incunabulis  in  saeculo  adoleverint,  exiude  titulos  quorundara,  quibus  nomini- 
bus  nuncupentur,  exinde  apparatus,  quibus  superstitionibus  instruantur.  si 
quid  ex  bis  non  ad  idolum  pertinuerit,  id  neque  ad  idololatriam  neque  ad 
nostram  eierationem  pertinebit."  Novatian,  de  spect.  2:  „Quando  id  quod 
in  honore  alicuius  idoli  ah  ethuicis  agitur  (seil,  die  Schauspiele)  a  fidelibus 
christianis  spectaeulo  frequentatur,  et  idololatria  gentilis  asseritur  et  in  con- 
tumeliam  dei  religio  vera  et  divina  calcatur." 

')  S.  Cyprian,  ep.  2. 

-)  Minucius  Felix  12:  „Vos  vero  suspensi  Interim  atque  soUiciti  honestis 
voluptatibus  abstiuetis,  non  speetacula  visitis,  non  pompis  interestis,  con- 
vivia  publica  absque  vobis,  sacra  certamina." 

■')  Orat.  22.  28. 

^)  Instit.  VI,  20.  21;  s.  auch  Aniob.  IV,  .3.">  f.  —  Mit  den  Schauspieleu 
war  auch  die  Beteiligung  an  öfientlichen  Festfeiern,  die  immer  mit  Poly- 
theistischem verbunden  waren,  verboten;  s.  den  7.  Kanon  von  Ancj'ra:  ITefji 
T(or  nvvForiadh'Ton'  fv  toQTJj  Edvtxfj ,  tr  tÖjto)  drfcoQiafihrp  ToTg  edrixoTg ,  idia 
ßoM/iaTa  ßjTixofuaa/ifvtor  aal  (fayorrmv,  f'So^r  SiFTi'ar  v-rojTFaövTac  öeydiivni.  Vor 
allem  kommt  hier  Tertull.,  de  idol.  1-3 — IB  in  Betracht.  Alle  öftentliehen 
Feste  sind  zu  vermeiden;  denn  man  macht  sie  eirtweder  aus  V^ergnügungs- 
.sucht  oder  aus  Furcht  mit.  „Weim  wir  uns  mit  der  Welt  freuen,  so  ist  zu 
Itefürchten,  daß  wir  auch  mit  der  Welt  trauern  werden."  Man  sieht  freilich 
ciuch  hier,  daß  Tertullian  bereits  zu  einer  Minorität  gehört;  die  Mehrzahl 
der  Christen  in  Carthago  sah  in  der  Beteiligung  an  öffentlichen  und  privaten 
Feiern  nichts  Schlimmes,  ja  hielt  es  für  ein  gefährliches  Frondieren,  sich 
ihnen  zu  entziehen.  „Eure  Werke  sollen  leuchten,"  ruft  Tertullian  klagend 
aus,  „jetzt  aber  strahlen  unsere  Läden  und  Türen  von  Licht.  Bereits  findet 
man  bei  den  Heiden  mehr  Türen  unbeleuchtet  und  unbekränzt  als  bei  den 
Christen.  Welcher  Ansicht  bist  du  betreffs  dieses  Falles?  Soll  es  eine 
l-hrenbezeugung  für  ein  Idol  sein,  so  ist  es  unzweifelhaft,  dati  ein  Idol  ehren 
Idololatrie  ist;  geschieht  es  aber  eines  Menschen  wegen,  so  erinnern  wir  uns, 
•  laß  alle  Idololatrie  eines  Menschen  wegen  geschieht;  denn  alle  Idololatrie 
ist  Menschenverehrung  (die  Götter  der  Heiden  sind  früher  Menschen  gewesen)." 
,. Hs  ist  mir  Ixd^annt,  wie  ein  christlicher  Mitbruder  durch  eine  Vision  noch 
in  derselben  Nacht  schwer  dafür  gezüchtigt  wurde,  daß  seine  Sklaven  bei 
(Jelegenheit  einer  plötzlich  ausgerufenen  öffentlichen  Freudenbezeugung  die 
Haustür  mit  Kränzen  geschmückt  hatten."  Nur  ga.nz  bestimmte  Familien- 
feste, wie  die  Anlegung  der  toga  virilis,  Verlobungen,  Hochzeiten,  Namens- 
tage, nimmt  Tertullian  aus,  da  sie  nicht  notwendig  mit  Götzendienst  befleckt 
seien  und  das  Gebot,  kein  Tagewilhler  zu  sein,  hier  nicht  zutrifft.  „Man  darf 
sich  auch  zu  solchen  Festen  eiidadeu  lassen,  nur  darf  der  Titel  der  geforderten 


Der  Kuiupf  t;'eii'en  den  rolytheismus  und  (Jötzeiulienst.  253 

tiert  wurden,  zeigen  eben  diese  Schriften^.  Die  Lust  war  fast 
unbezwing'licli:  muß  doch  Tertnllian  auf  das  Schauspiel  im  Jenseits 
vertrösten,  um  den  der  Spiele  beraubten  Cliristen  einen  Ersatz  zu 
gewähren  '^.  Aber  erfolglos  war  dov  Kampf  gegen  sie  keineswegs, 
vielmehr  erfolgreicher  als  auf  anderen  (iebieten.  Als  Constuntin 
die  Kirche  ])rivilegierte.  war  die  Sache  so  weit  gediehen,  daß  der 
Staat  sofort  Maßregeln  ergriff,  die  Schauspiele  zu  beschneiden 
und  einzuschränken^*. 

(5)  Auch  gegen  den  Luxus,  sofern  er  zum  Teil  mit  dem 
Polytheismus  verbunden  war,  sicher  aber  eitlen  und  heidnischen 
Sinn  offenbarte,  wurde  scharf  polemisiert;  man  vergleiche  den 
Pädagog  des  Clemens  und  Tertnllians  Schriften  „de  cultu  femi- 
narum''.  Daß  das  auf  Luxus  verwendete  (.Teld  besser  im  Dienst 
der  Armenpflege  angewendet  werde,  wurde  stets  eingeschärft. 
Aber  zur  Herstellung  einer  besonderen  christlichen  Sitte  des 
äußeren  Lebens  ist  es  doch  nicht  gekommen. 

((3)  In  bezug  auf  die  Frage,  wie  weit  man  auf  die  Sitten, 
Gewohnheiten  und  das  Berufsleben  des  Tages  eingehen  kömie, 
ohne  Christus  zu  verleugnen  und  sich  mit  dem  Grötzendienst  zu 
beflecken,  hat  es  sclion  im  apostolischen  Zeitalter  Strenge  und 
Laxe,  Gebundene  imd  Freie  gegeben.  In  jener  Zeit  scheint  aber 
nur  erst  die  Frage  nach  dem  Götzenopferfleisch -Essen,  bez.  ob 
man  an  den  Mahlzeiten  der  Ungläubigen  teilnehmen  kthme, 
brennend  geworden  zu  sein.  Die  große  Mehrzahl  der  Christen 
gehörte  damals  noch  den  untersten  Ständen  an,  hatte  keine  Re- 
präsentationspflichten und  bestand  aus  Handwerkern  niederer  Ord- 


Aufmerksamkeit  nicht  lauten  ^Zur  Teilnahme  am  Opfer",  und  ich  muß  soviel 
tun  dürfen  als  mir  beliebt.  Weil  der  JSatan  die  Welt  einmal  so  ganz  in  die 
Idololatrie  verstrickt  hat,  so  wird  es  erlaubt  sein  müssen,  bei  gewissen  Ver- 
gnügungen zugegen  zu  sein,  wenn  wir  dabei  gegen  einen  Menschen,  nicht 
gegen  ein  Idol,  Verbindlichkeiten  abmachen." 

^)  Novatian,  de  spect.  1:  „Quoniam  non  desunt  vitiorum  assertores 
blandi  et  indulgentes  patroni  cjui  praestant  vitiis  auctoritatem  et  quod  est 
deterius  censuram  scripturarum  caelestium  in  advocationem 
criminum  convertunt,  quasi  sine  culpa  innoeens  spectaculorum  ad  remis- 
sionem  auimi  appetatur  voluptas  —  nam  et  eo  usque  enervatus  est  eccle- 
siasticae  disciplinae  vigor  et  ita  omni  languore  vitiorum  praecipitatur  in 
peius  ut  non  iam  vitiis  excusatio  sed  auctoritas  detur  — ,  placuit  paucis  vos 
non  nunc  iustruere  [seil,  de  spectaculis],  sed  iustructos  admonere." 

-)  De  spect.  30  mit  dem  Schluß:  „Ceterum  qualia  illa  sunt,  quae  nee 
oculus  vidit  uec  auris  audivit  nee  in  cor  hominis  ascenderunt?  credo,  circo 
et  utraque  cavea  et  omni  stadio  gratiora.'"  Die  ganze  Ausführung  gehört  zu 
dem  Empörendsten,  was  Tertnllian  geschrieben  hat,  selbst  als  Entgleisung 
betrachtet  immer  noch  unentschuldbar. 

^)  Gegen  die  Glücksspiele  s.  den  Traktat  Pseudocyprians  adversus  alea- 
tores  uud  manche  verwandte  Stellen  in  anderen  Schriften. 


254  Die  Missionspredigt  iu  Wort  und  Tat. 

nung.  Tagelölmorn.  doron  einfaches  Tagewerk  sie  kaum  in  irgend 
eine  Beziehung  zum  (iffentliclien  Leben  und  darum  auch  in  keinen 
Konflikt  brachte.  ]^)ahl  aber  wurde  es  anders,  und  nun  streunte 
ein  Heer  von  schweren  und  bitteren  Fragen  auf  die  Gemeinden 
ein.  Auch  die  Laxeren  wollten  nichts  tun,  was  dem  göttlichen 
Willen  zuwider  lief;  auch  sie  hatten  ihren  Schriftbeweis  bei  der 
Hand  und  Ableitimgen  aus  dem  christlichen  Grundprinzip.  „Fliehet 
aus  einer  Stadt  in  die  andere",  so  lautet  das  Gebot,  sagten  sie, 
wenn  sie  vorsichtig  der  Verfolgung  auswichen.  „Ich  habe  Macht 
über  alles",  „Man  muß  allen  alles  werden",  sprachen  sie  mit  dem 
Apostel,  wenn  sie  unbefangenen  Yerkehr  mit  den  heidnischen 
Xachl)arn  gepflogen.  Selbst  den  Besuch  der  Schauspiele  wußten 
sie  aus  der  Bibel  zu  verteidigen.  Novatian  (de  spect.  2)  führt 
klagend  ihre  Reden  an:  „L^bi  scripta  sunt  ista?  ubi  prohibita? 
alioquin  et  auriga  est  Hellas  et  ante  arcam  David  ipso  saltavit. 
nabla  cynaras  aera  tympana  tibias  citharas  choros  legimus.  apo- 
stolus  quoque  dimicans  caestus  et  colluctationis  nostrae  adversus 
spiritalia  nequitiae  proponit  certamen.  rursus  cum  de  stadio  sumit 
exempla,  coronae  quoque  collocat  praemia.  cur  ergo  homini 
christiano  fideli  non  liceat  spectare  quod  licuit  divinis  litteris 
scribere?" 

Diese  Verteidigung  des  Besuchs  der  Schauspiele  klingt  fast 
frivol:  aber  es  gab  viel  ernstere  Konflikte;  mit  innerer  Bewegung 
verfolgt  man  sie. 

Schon  die  Beteiligung  an  den  Festen  und  geselligen  Ver- 
einigungen brachte  sie  in  reichem  Maße,  aber  vor  allem  führte 
der  tägliche  Beruf  in  sie  hinein.  Kann  der  Christ  überhaupt 
einen  Beruf  in  der  AVeit  haben,  ohne  sich  mit  dem  Götzendienst 
zu  beflecken?  Die  Strengen  verboten  zwar  kaum  einen  einzigen 
Beruf  prinzipiell,  aber  schränkten  die  Betätigung  in  ihm  so  ein, 
daß  die  Einschränkung  einem  Verbote  nahe  kam.  Tertullian  geht 
in  der  Schrift  „de  idololatria"  eine  Reihe  von  Berufen  durch. 
Das  Ergebnis  ist  fast  immer  dies,  daß  man  den  Beruf  besser 
läßt  oder  ihn  jeden  Augenblick  preiszugeben  bereit  ist,  und  auf 
die  Einwendung  „Ich  habe  nichts  zu  leboi",  erfolgt  die  Antwort: 
„I)(M'  Christ  darf  sich  nicht  vor  dem  Hunger  fürchten"^. 

Allem  zuvor  verbietet  Tertullian  das  Verfertigen  von  Götzen- 
bildern (c.  4tf.)  —  das  ist  verständlich:    al)er  doch  gab  es  christ- 


')  S.  vor  allem  die  herben  Ausführungen  in  c.  12  unter  Berufung  auf 
evangelische  Stellen.  Die  Ausführung  schließt:  3emo  eorum,  quos  dominus 
ullegit.  Non  habeo,  dixit,  quo  vivam.  Fides  famem  non  timet.  Seit  etiam 
famem  non  minus  sibi  contemnendam  propter  deum  quam  omne  mortis  genus; 
didicit  non  respicere  vitam,  quanto  magis  victum?  Quotusquisque  haec  ad- 
iniplevitV  sed  quae  penes  homines  difticilia,  penes  deum  facilia." 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  Götzendienst.  255 

liclie  Handwerker,  die  keine  andere  Kunst  verstanden  und  die 
sich  mit  dem  Sprucli  (f  Cor.  7,  20)  zu  decken  versuchten:  „Wie 
jeder  gefunden  wird,  so  soll  er  bleiben".  Sie  verwiesen  auch 
darauf,  daß  Moses  in  der  Wüste  eine  Schlange  hat  anfertigen 
lassen.  Man  sieht  aus  Tertullians  Klagen  deutlich,  daß  die 
Majorität  in  der  Kirche  ihnen  gegenüber  die  Augen  zudrückte: 
,.A'on  den  Idolen  weg  gehen  Christen  zur  Kirche;  sie  kommen 
aus  der  Werkstätte  des  bösen  Feindes  zum  Hause  Gottes;  sie 
heben  ihre  Hände,  die  Schöpfer  von  Götzenbildern  sind,  zu  Gott 
dem  Yater;  sie  bringen  sie  mit  dem  Leibe  des  Herrn  in  Be- 
rührung, nachdem  sie  den  Dämonen  Leiber  verliehen  haben.  Und 
das  ist  noch  nicht  alles!  Es  ist  ihnen  noch  nicht  genug,  daß  sie 
betlecken,  was  sie  aus  den  Händen  anderer  empfangen;  nein, 
sie  reichen  auch  andern  noch  dar,  was  durch  sie  befleckt  worden 
ist!  Werden  doch  Yerfertiger  von  Götzenbildern  in  den  geistlichen 
Stand  aufgenommen !'' 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Laxen  verbietet  Tertullian  nicht 
nur  die  Anfertigung  von  Bildern  und  Statuen,  sondern  auch  die 
Anfertigung  aller  Dinge,  die  auch  nur  mittelbar  zum  Götzendienst 
gebraucht  werden.  Die  Zimmerleute,  Stukkaturarbeiter,  Tischler, 
Dachdecker,  Blattgoldschläger,  Maler.  Bronzearbeiter,  Graveure  — 
sie  alle  dürfen  schlechterdings  nichts  anfertigen,  was  zum  Tempel- 
dienst nötig  ist,  mid  sich  an  keiner  Arbeit  für  ihn  (z.  B.  keinen 
Ausbesserungen)  beteiligen  (c.  &). 

Die  Profession  von  Astrologen  und  Magiern  auszuüben  ist 
ebenfalls  verboten  —  die  Magier,  auf  die  sich  die  Laxen  beriefen, 
mußten  ja  [Matth.  2,  12]  „auf  einem  anderen  Weg"'  in  ihre  Heimat 
zurückkehren  (c.  9)^  Auch  Schullehrer  und  Lehrer  der  Wissen- 
schaften kann  der  Christ  nicht  sein:  demi  sie  kommen  vielfach  mit 
der  Idololatrie  in  Berührung-.  Sie  müssen  die  Kenntnis  der  heid- 
nischen Götter  verbreiten,  ihre  ]S[amen,  Abstammung,  Mythen 
angeben,  ihre  Feste  und  Feiertage  beobachten,  „weil  sie  nämlich 
an  denselben  ihre  Honorare  zusammenrechnen".  Das  erste  Schul- 
geld der  neuen  Schüler  widmet  der  Lehrer  der  Minerva.  Ist  die 
Befleckung  mit  dem  Götzendienst  darum  geringer,  weil  sie  in  diesem 
Fall  noch  etwas  einbringt?    Aber  wenn  man  die  heidnische  Wlssen- 


*)  TertulL,  de  anima  57:  „Quid  ergo  dicemus  magiam?  quod  omnes 
paeue  —  fallaciainl  sed  ratio  fallaciae  solos  non  fugit  Christianos,  qui 
.spiritalia  nequitiae,  non  quidem  socia  conscientia,  sed  inimica  scieutia  novi- 
mus,  nee  invitatoria  operatione,  sed  expugnatoria  domiuatione  tractauius 
multiformem  luem  mentis  humanae,  totius  erroris  artifieem,  salutis  pariter 
animaequae  vastatorem.   sie  etiam  magiae,  seeundae  scilieet  idololatriae  etc." 

-)  Auch  die  mathematischen  Wissenschaften  waren  verdächtig.  Noch 
am  Anfang  des  4.  .Jahrhunderts  wollte  man  in  Emesa  den  Euseb  nicht  zum 
Bischof,  weil  er  diese  Studien  betrieb  (Socrates,  h.  e.  II,  9). 


25()  I^iL'  ^^issionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Schaft  nicht  loliren  darf,  darf  man  sie  dann  lernen?  Hier  ist 
Tertiillian  znr  Xaclisicht  bereit;  denn  „wie  können  wir  die  welt- 
lichen Studien  verwerfen,  ohne  welche  doch  die  religiösen 
nicht  bestehen  können?^'  Ein  bemerkenswerter  Satz  (c.  10)^. 
Es  folgt  der  Handel.  Tertiillian  ist  sehr  geneigt,  ihn  ganz 
zu  verbieten'-;   d(>nii  der  Handel  entstammt  der  Habsucht  und  ist 


')  Das  Lesen  schlechter  und  verführerischer  Bücher  ist  natürlich  stets 
untersagt  w-orden,  sobald  sich  eine  Gefahr  hier  bemerkbar  gemacht  hat. 
Darf  man  blasphemische  oder  ketzerische  Reden  nicht  einmal  anhören,  so 
darf  man  sich  noch  viel  weniger  mit  Büchern  dieses  Inhalts  beschäftigen. 
Das.  was  Dionysius  Alex,  (bei  Euseb.,  h.  e.  YII,  7)  von  sich  selbst  erzählt, 
bestätigt  nur  die  Regel:  ,Ich  habe  mich",  schreibt  er  dem  römischen  Pres- 
l)yter  Philemou,  , sowohl  mit  den  Schriften  als  auch  mit  den  Überlieferungen 
der  Häretiker  beschäftigt  und  dadurch  zwar  meine  Seele  einige  Zeit  durch 
ihre  verabscheuungswürdigen  Einfälle  befleckt,  aber  doch  daraus  den  Nutzen 
gezogen,  daß  ich  sie  bei  mir  selbst  widerlegt  habe  und  sie  mm  noch  viel 
mehr  verabscheue.  Ein  Bruder  unter  den  Presbytern  wollte  mich  davon  ab- 
halten aus  Furcht,  ich  möchte  mich  von  dem  Schlamme  ihrer  Schlechtigkeit 
fortschwemmen  lassen,  und  wie  ich  selbst  fühlte,  hatte  er  vollkommen  recht, 
daß  ich  dadurch  meine  Seele  befleckte.  Da  schickte  aber  Gott  eine  Ei-schei- 
nung,  die  mich  stärkte.  Und  es  erging  eine  Stimme  an  mich,  welche  mir 
mit  deutlichen  Worten  befahl:  ,Lies  nur  alles,  was  dir  in  die  Hand  kommt; 
denn  du  bist  befähigt,  alles  zu  beurteilen  und  zu  prüfen,  und  dieses  Ist  dir 
vom  Anfange  an  auch  die  Ursache  zum  Glauben  geworden.'  Ich  glaubte  der 
Erscheinung,  da  sie  übereinstimmend  war  mit  jeuer  Aufforderung  des  Apostels, 
die  er  an  die  Stärkeren  richtete:  ,Werdet  geschickte  Geldwechsler'."  S.  Didasc. 
apost.  C.2  (S.  5  ed.  Achelis):  ,Von  allen  Schriften  der  Heiden  halte  dich 
fern;  denn  was  willst  du  mit  den  fremden  Worten  oder  den  Gesetzen  und 
falschen  Prophezeiungen,  die  junge  Leute  sogar  vom  Glauben  abbringen? 
Was  fehlt  dir  denn  an  dem  Worte  Gottes,  daß  du  auf  diese  Geschichten  der 
Heiden  dich  stürzest?  Wenn  du  Geschichtsberichte  lesen  willst,  so  hast  du 
das  Buch  der  Könige,  wenn  aber  die  Weisen  und  Philosophen,  so  hast  du  die 
Propheten,  bei  denen  du  mehr  Weisheit  und  Verstand  findest,  als  bei  den 
Weisen  und  Philosophen;  denn  es  sind  die  Worte  des  einen,  allein  weisen 
Gottes.  Und  wenn  du  Hymnen  liegehrst,  so  hast  du  die  Psalmen  Davids, 
und  wenn  etwas  über  den  Anfang  der  Welt,  so  hast  du  die  Genesis  des 
großen  Moses,  und  wenn  Ge.setze  und  Vorschriften,  so  hast  du  das  Gesetz.  .  .  . 
Aller  jeuer  fremden  Dinge  also,  die  dawider  sind,  enthalte  dich  gänzlich." 
Generelle  Verbote  bestimmter  Bücher  unter  Androhung  von  Strafen  beginnen 
mit  der  Anordnung  Constantins  in  bezug  auf  die  Schriften  des  Arius  und 
anderer  Ketzer  (s.  Eu.seb.,  Vita  Const.  III,  66;  Verbot  der  Bücher  des  Euuo- 
mius,  s.  Philostorg.,  h.  e.  XI,  5).  —  Ob  und  in  welcher  Weise  man  heidnische 
Philosophen  und  Dichter  zu  zitieren  hal)e,  blieb  ein  Problem.  Die  Apologetik 
hat  von  ihnen  bekanntlich  reichen  Gebrauch  gemacht.  Die  profanen  Zitate 
l)ei  Paulus  erschienen  aber  doch  auffallend  (Tit.  1,  12;  I  Cor.  15,  ;>^;  Act.  17,  28); 
sie  sind,  seitdem  Origenes  sich  über  sie  geäußert  hatte,  oft  besprochen  und 
in  liberalem  Sinn  angerufen  worden.  Origenes  meinte  (Hom.  XXXI  in  Lucam 
t.  5  p.  202j:  ,.ldeo  assumit  Paulus  verba  etiam  de  his,  cr.i  foris  sunt,  ut 
sanctificet  eos." 

-)  Tertullian  steht  damit  ziemlich  allein;  selb.st  von  einem  Manne  wie 
Irenäus  wissen  wir,  daß  er  gegen  den  Handel  der  Christen  nichts  einzuwenden 
hatte,  s.  IV,  30, 1. 


Der  Kampf  gegen  den  Polytheismus  und  C4ötzendien.st.  257 

mit  der  rdololame  verknüpft,  wenn  auch  nicht  mit  der  direkten. 
Er  schafft  —  das  genügt  —  die  Mittel  für  den  Tempehlienst. 
„Mögen  immerhin  dieselben  Waren,  ich  meine  den  Weihrauch  imd 
die  übrigen  ausländischen  Waren,  die  zu  Götzenopfern  gehören, 
den  Leuten  auch  7ai  medizinisclien  Salben  und  vor  allem  auch 
uns  Christen  zur  Ausstattung  bei  Begräbnissen  dienen,  du  stehst 
aber  ganz  sicher  als  ein  Förderer  des  Götzendienstes  da,  wenn 
Aufzüge,  Gottesdienste  und  Opfer  für  die  Idole  infolge  von  Ge- 
fahren, Yerlusten,  Unglücksfällen,  Plänen,  Gesprächen  oder  Ge- 
schäftsunternehmungen veranstaltet  w^erden''.  ,3Iit  welcher  Stirn 
kann  ein  christlicher  Spezereihändler,  wenn  er  an  den  Tempeln 
vorbeigeht,  den  Qualm  der  dampfenden  Altäre  verabscheuen  und 
von  sich  wegblasen,  da  er  sie  selber  damit  versorgt  hat?"  (c.  11)^. 
Strikt  verboten  w^urde  das  Zinsnehmen,  welches  von  dem  W^ucher 
nicht  unterschieden  worden  ist.  Allein  das  Verbot  wurde  nicht 
gehalten.  Immer  wieder  mußte  sogar  gegen  Kleriker,  Bischöfe 
und  Gemeindewitwen  geeifert  werden,  welche  Zins  nahmen  oder 
wucherische  Handelsgeschäfte  trieben-. 

Kann  der  Christ  Beamter  sein?  Joseph  und  Daniel  waren 
es  und  haben  sich  vom  Götzendienst  frei  gehalten,  sagen  die 
Freieren.  Tertullian  ist  nicht  überzeugt.  „Geben  wir  zu,  daß  es 
jemand  gelingen  könne,  als  Inhaber  irgend  einer  Ehrenstelle  mit 
dem  bloßen  Titel  derselben  aufzutreten,  ohne  zu  opfern,  oline  die 
Opfer  durch  seine  Anwesenheit  zu  autorisieren,  ohne  Lieferung 
von  Opfervieh  zu  vergeben,  ohne  die  Abgabe  für  die  Tempel  an 
andere  zu  übertragen,  ohne  die  Tempelsteuern  zu  verwalten,  ohne 
selbst  oder  von  Staats  wegen  Spiele  zu  veranstalten  oder  bei  den 
veranstalteten  zu  präsidieren,  ohne  bei  einer  Feierlichkeit  zu 
sprechen  oder  sie  anzusagen,  ja  ohne  auch  nur  zu  schwören, 
ferner,  was  auch  Handlungen  der  Amtsgewalt  sind,  er  spreche 
ein  Urteil  über  Leben  und  Tod  oder  die  bürgerliche  Ehre  eines 
Menschen  .  .  .  und  verurteile  dabei  nicht  und  gebe  keine  Sh'af- 
verordnungen,  er  lasse  niemanden  fesseln,  niemand  einkerkern  oder 
foltern:  wenn  das  glaublich  ist,  dann  könnte  man  nielits  dagegen 
haben,  daß  der  Christ  Beamter  sei."  Dazu  —  die  Abzeichen  der 
Beamten  hängen  alle  mit  dem  Götzendienst  zusammen.  „Wenn  du 
der  Pracht  des  Teufels  abgeschworen  hast,  so  wisse,  es  ist  jedes- 
mal Idololatrie,  weimi  du  etwas  von  ihr  anrührst"  (c.  17.  18). 


')  Aber  selbst  den  Klerikern  konnte  man  das  Hiindeltreiben  nicht  völlig 
untersagen,  sondern  es  nur  einschränken,  s.  den  19.  Kanon  vori  Elvira. 

^)  S.  Funk.  Zins  und  Wucher  im  christlicben  Altertum,  in  der  Tüb. 
Theol.  Quartalscbr.  Bd.  57,  1875,  S.  214fF.  S.  Euseb.,  h.  e.  V,  21 ;  Cypr.,  de 
lapsis  6;  testim.  III,  48.  Commod.,  instruct.  II,  24.  Konzil  von  Elvira, 
can.  20. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  17 


25S  ^-'iö  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

Die  Unmöglichkeit,  daß  der  Christ  Offizier  sei,  ist  damit  schon 
ausgesprochen.  Kann  er  aber  nicht  Gemeiner  sein  und  niedere 
Chargen  liekleiden?  Sie  brauchen  nicht  zu  opfern  und  haben  mit 
Urteilen  über  Leben  und  Tod  nichts  zu  tun.  Indessen  —  „es  fügt  sich 
nicht,  unter  dem  Fahneneid  Gottes  und  der  Menschen,  unter  dem 
Feldzeichen  Christi  und  des  Teufels,  im  Lager  des  Lichts  und  in 
dem  der  Finsternis  zu  stehen,  eine  und  dieselbe  Seele  kann  nicht 
zweien  verpflichtet  sein,  Christus  und  dem  Teufel.^'  Aber  man 
beruft  sieh  auf  die  israelitischen  Krieger,  auf  Moses,  auf  Josua, 
auf  die  Soldaten,  die  zu  Johannes  kamen,  auf  den  Hauptmann, 
der  gläubig  wurde.  „Der  Herr  hat  nachmals  in  der  Entwaffnung 
des  Petrus  jedem  Soldaten  das  Schwert  abgeschnallt.  Selbst  im 
Frieden  soll  man  es  nicht  führen"  (c.  19). 

Es  gibt  noch  vieles  im  Leben  des  Tages,  was  man  ganz  ver- 
meiden muß.  Alle  Redensarten  sind  zu  verbannen,  in  denen  Götter- 
namen  vorkommen;  man  darf  also  nicht  sagen  „Beim  Hercules" 
oder  „Medius  Fidius"  oder  ähnliche  Beteuerungen  aussprechen 
(c.  20).  Auch  soll  man  Schwüre  bei  den  Götzen  nicht  aus  Furcht 
(als  Christ  erkannt  zu  werden)  schweigend  auf  sich  nehmen  ^. 
Jeder  heidnische  Segenswunsch  ist  abzulehnen;  denn  das  heißt 
bei  Gott  verflucht  werden.  „Es  verleugnet  jeder,  der  bei  irgend- 
einer Angelegenheit  sich  verstellt  und  sich  für  einen  Heiden  halten 
läßt.  Jede  Yerleugnimg  ist  natürlicli  ein  Götzendienst,  sowie  jeder 
Götzendienst  eine  Verleugnung,  sei  es  in  Worten,  sei  es  in  Werken" 
(c.  21.22).  Aber  auch  der  Eidschwur,  den  man  sich  bei  Leih- 
geschäften von  dem  Gläubiger  vorsagen  läßt,  um  ihm  Sicherheit 
zu  bieten,  ist  eine  Verleugnung,  auch  wenn  man  selbst  nicht  mit 
dem  Mund  geschworen  hat  (c.  23). 

„Das  sind  die  Klippen,  Untiefen  und  Meerengen  der  Idolo- 
latrio,  zwischen  denen  der  Glaube  hindurchsteuern  muß,  die 
Segel  vom  Hauche  Gottes  geschwellt"  —  die  große  Mehrzahl  der 
Christen  dachte  seit  dem  Ausgang  des  2.  Jahrhunderts  darüber 
anders  und  führte  ihr  Schiff  ohne  diese  Sorgen  über  die  Fähr- 
nisse-.    Die   ü'robe  Tdololatrie  wui'de  verabscheut   und  strenj»-    be- 


')  „Ich  kenne  einen  Christen,  der,  als  ihm  auf  der  Straße  im  Streit  zu- 
gerufen wurde:  ,Juppiters  Zorn  möge  dich  treti'en',  antwoitete:  ,Nein  dich'." 
IIif!r  ist  nach  Tertullian  nicht  nur  die  Verwünschung  unerlaubt,  sondern  vor 
allem  die  Anerkennung  .Tuppitors. 

^)  Man  lese  das  II.  und  III.  Buch  des  Pädag.  des  Clemens;  er  gehört 
gewiß  nicht  zu  den  „Laxen'",  aber  soweit  wie  Tertulliau  geht  er  längst  nicht. 
Andererseits  geißelt  schon  er  (l'aedag.  III,  11,80)  das  Sonntagschristentum: 
„Den  in  der  Kirche  empfangenen  himmlischen  Sinn  streift  man  mit  dem 
Wechsel  des  Orts  ab  und  wird  der  großen  Masse  ähnlich,  mit  der  mau  ver- 
kehrt, oder  viehnehr  es  wird  nach  Ablegung  der  affektierten  und  erheuchelten 
Sittsamkeit  ersichtlich,  daß  man  seine  wahre  Gestalt  nur  maskiert  hat,  und 


Der  Kampf  gegen  den  rolytlieisnius  und  Götzendienst.  259 

fitrafr,  abor  die  feine,  sofern  es  überhaupt  eine  solche  war, 
wenigstens  zu  Tertulliaiis  Zeit  nicht  mehr  viel  beachtet.  TcrtuUian 
selbst  ül)ri<i-ens  rühmt  im  Apologeticus,  da  es  ihm  hier  so  paßt, 
gegenülxn-  dem  Vorwurf  der  sträflichen  Isolierung  der  Christen: 
„Wir  treiben  Schiffahrt  und  tun  Kriegsdienste  mit  euch 
zusammen  und  sind  im  Ackerbau  und  Handel  beschäftigt" 
(c.  42).  Auch  bemerkt  er  triumphierend,  daß  die  Christen  überall 
zu  finden  seien,  auch  in  allen  Staatsstellen  nnd  im  Heere,  selbst 
im  Senat.  „Nur  die  Tempel  haben  wir  euch  überlassen."  So  war 
es;  die  Tatsachen  lehren  uns,  daß  Christen  in  allen  Berufen  zu 
finden  waren  \  und  daß  Konflikte,  die  aus  dem  Berufe  entsprangen, 
im  ganzen  (mit  Ausnahme  des  Soldatenberufs,  s.  darüber  später) 
sehr  selten  gewesen  sein  müssen.  Auch  die  herbe  Kritik  am  Staat 
als  solchem  und  am  Rechtsleben,  wie  sie  Tatian,  Tertullian  und 
Hippolyt,  bez.  auch  (von  anderen  Prämissen  freilich)  Ürigenes 
geübt  haben,  ist  selten  ins  Praktische  übersetzt  worden-.    Mochte 

nachdem  man  dem  Worte  Gottes  ehrfurchtsvoll  gelauscht,  läßt  man  es  dort 
drinnen,  wo  man  es  gehört  hat,  draußen  aber  ergötzt  man  sich  in  Gesell- 
schaft der  Atheisten  mit  Musik  usw." 

')  Doch  —  bemerkt  TertulL,  Apol.  43,  witzig  —  „beklagen  können  sich 
mit  Grund  über  die  Nutzlosigkeit  der  Christen  die  Kuppler,  die  Gelegenheits- 
macher,  die  Meuchelmörder,  Giftmischer  und  Zauberer,  ebenso  die  Opfer- 
beschauer, Wahrsager  und  Sterndeuter".  Schon  in  der  Apostelgeschichte 
(c.  19)  wird  erzählt,  daß  sich  in  Ephesus  die  Handwerker,  welche  vom  Kult 
der  Diana  lebten,  durch  die  Christen  beeinträchtigt  fühlten. 

-)  Doch  sagt  Cäcilius  bei  Minucius  Felix  von  den  Christen  (c.  8):  ,.natio 
in  publico  muta,  in  angulis  garrula"  ....  „honores  et  purpuras  despiciuut". 
Tatian,  Orat.  11:  ßaoileveiv  ov  ßelco,  jr/Mvreir  ov  ßovXo(.iai,  ri/v  oToaT7p/iav  Jiao/j- 
Tr}/w.i  ....  öo^o/iiavi'ag  ajiv]'k'lMyiiai.  Speratus  (Martyr.  Scilit.):  „Ego  imperium 
huius  saeculi  non  cognosco."  Tertullian,  Apolog.  46:  „Christianus  uec  aedili- 
tateni  alFectat."  Kritik  der  römischen  Gesetze  1.  c.  c.  4 — 0.  Zum  Vorwurf 
der  ,infructuositas  in  negotiis"  s.  TertulL,  de  pallio  5  [was  hier  vom  Pallium 
gesagt  ist,  gilt  vom  Christen]:  „Ego,  inquit,  nihil  foro,  nihil  campo,  nihil 
curiae  debeo,  nihil  officio  advigilo,  nulla  rostra  praeoccupo,  nulla  praetoria 
observo,  canales  non  odoro,  cancellos  non  adoro,  subsollia  non  coutundo,  iura 
non  conturbo,  causas  non  elatro,  non  iudico,  non  milito,  non  reguo,  secessi 
de  populo.  in  nie  unicum  negotium  mihi  est;  nisi  aliud  non  curo  quam  ne 
eurem,  vita  meliore  magis  in  secessu  fruare  quam  in  promptu.  sed  iguavam 
iufamabis.  scilicet  patriae  et  imperio  reicjue  vivendum  e.st.  erat  oHjn  ista 
sententia.  nemo  alii  nascitur  moriturus  sibi.  certe  cum  ad  Epicuros  et  Zenones 
ventum  est,  sapieutes  vocas  totum  quietis  magisterium,  qui  eam  summae 
atque  unicae  voluptatis  nomine  consecravere."  S.  auch  das  Folgende. 
Apol.  38  f.:  „nee  ulla  magis  res  aliena  quam  publica"  ....  „una,m  omnium 
rempublicam  agnoscimus,  mundum".  Kein  Heimatsgefühl  bei  den  Chi-isten; 
s.  Dioguet.  5,  5:  naxqibag  oixorair  idi'ag ,  d^Ä'  d)g  jrÜQOixof  /ifTf/ovai  jkxvtwv 
ojg  nollxai ,  y.ai  n6.v&'  vjrofieyovoir  wg  ^sroi  •  jräoa  ^Evrj  jiarQtg  ioziv  avzöjv,  Kai 
jiüoa  TiaToig  |i')'>/.  Clemens,  Paed.  III,  8,  41 :  naTQlÖa  ejiI  yfjv  ovx  f'^ofiev.  Vita 
Polycarpi  6:  ttuviI  8ov}.<o  deou  Jiäg  6  y.öoftog  noXig ,  Tiarglg  de  i)  IjiovQaviog 
'lEQovauh)i.f    erravda   Ss  jiaooixeZv,   älV  ov  xaioiXETv,   ojg  ^eroi  y.al  JzaQEJiidijfioi 

17* 


260  1^'*^  Missionspretligt  in  Wort  and  Tat. 

man  gogon  den  ^vil•klicllcn  Staat  das  Reich  Christi  oder  den 
stoischen  Weltstaat  oder  einen  ])hitonisclien  Staat  der  christlichen 
Philosophen  als  die  höchste  gottgewollte  A'erbindnng  ausspielen  — 
das  Leben.  \v(Miigstens  seit  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts,  blieb 
davon  unberülirt;  der  Pädagog  des  Clemens  gibt  bereits  An- 
weisungen, wie  man  sich  „christlich"  in  der  Welt  einzurichten 
habe.  Am  Ende  unserer  Periode  war  der  Hof,  die  Beamtenschaft, 
das  Heer  von  Christen  angefüllt  K 

Aber  daß  man  den  groben  und  eigentlichen  Götzendienst  bis 
zuletzt  bekämpfte,  bedeutete  etwas,  bedeutete  viel.  Das  Christen- 
tum hat  hier  nicht  praktiert-. 

TSTuyftfOa,  cf.  auch  c.  30.  Celsus  sagt  (bei  Origenes  VIII.  68)  wohl  nicht 
grundlos  seinem  christlichen  Gegner:  ,Wenn  alle  so  handeln  würden  wie  du, 
so  wäre  der  König  liald  allein  und  vereinsamt,  und  es  würden  die  DingO' 
auf  Erden  in  Kürze  in  die  Hände  der  wildesten  und  scheul.Uichsten  Barbaren 
geraten.''  Im  folgenden  weist  er  darauf  hin,  daß  das  Christentum  unter 
solchen  Umständen  gar  nicht  existieren  würde,  daß  also  das  römische  Reich 
es  trägt.     Die  Christen  sagten  umgekehrt:  Wir  stützen  allein  das  R'eich. 

Zwischen  dem  2.  und  3.  Jahrhundert  (die  Grenze  mag  c.  180  liegen)  bestand 
ein  großer  Unterschied.  In  jenem  erschienen  die  Christen  größtenteils  als 
eine  lichtscheue,  vom  öffentlichen  Leben  zurückgezogene,  unzüchtige  und 
ruchlose  Baude  und  hielten  sich  wirklich  vom  Leben  fern;  in  diesem  sah 
das  Heidentum  im  Christentum  erschreckt  einen  Gegner,  der  ihm  auf  allen 
Gebieten,  dem  religiösen,  politischen  und  sozialen,  öffentlich  und  machtvoll 
entgegentrat.  Die  Lehre  war  bereits  elienso  bekannt  wie  der  Kultus,  die  Dis- 
ziplin und  die  Verfassung,  und  wie  .sich  seit  der  Zeit  des  Gallienus  überall 
christliche  Basiliken  erhoben  neben  den  alten  Tempeln,  so  waren  in  allen 
.Staatsämtern  Christen.  In  Ansehung  der  staatliehen  und  gesellschaftlichen. 
Stellung  der  Christenheit  gehört  die  Zeit  von  c.  250  überhaupt  mehr  zum 
4.  Jahrhundert  als  zu  der  vorherliegenden  Periode. 

')  Daß  Origenes  eine  zahlreiche  Klasse  von  Christen  konstatiert,  die 
alles  glaubt,  dem  Priester  gegenüber  devot  ist,  aber  sittlich  jeden  Halt  ent- 
behrt, ist  nicht  auffallend;  aber  auffallend  ist,  daß  er  ihnen  deu  Himmel 
zuspricht,  weil  sie  doch  Gläubige  sind!  (s.  Hom.  X,  1  in  Jesura  Nave  t.  11 
p.  102,  hom.  XXI,  1  p.  182  ff'.).  Bezeichnend  ist  in  dieser  Hinsicht  auch,  daß 
Monica,  die  Mutter  Augustins,  zwar  in  Sorge  ist  um  der  Hurerei  ihres  jugend- 
lichen Sohnes  willen,  aber  ihm  die  Tischgemeinschaft  erst  kündigte,  als  er 
Manichäer  geworden  war  (Confess.,  Buch  3). 

'■')  Auch  die  christlichen  Sekten  wohl  nur  selten;  in  einigen  Fällen  hat 
der  sublimierte  Intellektualismus  der  (inostiker  und  ihr  pneumatisches  Selbst- 
gefühl mit  allem  äußeren  Handeln  auch  die  Berührung  mit  den  Götzen  für 
etwas  Indifferentes,  das  öffentliche  Bekenntnis  für  etwas  Unnützes,  ja  für 
Selbstmord  erklärt  (s.  die  Polemik  bei  Iren.  IV,  33,  9;  Clemens,  Strom.  IV,  4,  IG; 
Tertull.,  Scorpiace  adv,  Gnost.).  Aber  die  Ketzerbestreiter  haben  die  Guostiker 
auch  in  solchen  Fällen  der  prinziiiiellen  Verleugnung  des  Christenstandes 
geziehen,  wo  eine  solche  gar  nicht  vorlag  (s.  das  über  Heracleon  oben  S.  182 
Bemerkte),  und  sie  haben  auch  ihre  freiere  Stellung  zum  Götzenopfertleisch- 
Essen  als  Abfall  l)ezeichnet. 


Die  volle  Ausgestaltung  des  Christentums  als  synkretist.  Religion.     261 


Schlußbotraclituiig. 

Die  volle  Ausgestaltung  des  Christentums 
als  synkretistische  Religion. 

Mit  welch  einem  Reichtum  und  in  welclier  Fülle  von  Be- 
ziehungen stellt  sich  doch  die  christliche  Religion  schon  in  ihren 
frühesten  Anfängen  auf  heidenchristlichem  Boden  dar!  Und  jeder 
Punkt  scheint  die  Hauptsache,  ja  das  Ganze  zu  sein.  Sie  ist  die 
Predigt  von  dem  ßi^og  TraTijQ  jiavjoxQärcoQ,  von  seinem  Sohne 
Jesus  Christus,  dem  Herrn,  und  von  der  Auferstehung.  Sie  ist 
das  Evangelium  vom  Heiland  und  von  der  Heilung,  der  Erlösung 
und  der  Neuscln'ipfung;  sie  ist  die  Botschaft  von  der  Vergottung. 
-Sie  ist  das  Evangelium  der  Liebe  und  Hilfleistung.  Sie  ist  die 
Religion  des  Geistes  und  der  Kraft,  des  sittlichen  Ernsts  und  der 
Heiligkeit.  Sie  ist  die  Religion  der  Autorität  und  des  unbedingten 
Glaubens,  und  wiederum  ist  sie  die  Religion  der  Vernunft  und 
der  hellen  Erkenntnisse;  aber  sie  ist  auch  Mysterienreligion.  Sie 
ist  die  Botschaft  von  der  Entstehung  eines  ganz  neuen  Volkes, 
welches  aber  in  der  Verborgenheit  vom  Anfang  der  Dinge  an 
bestanden  hat.  Sie  ist  die  Religion  eines  heiligen  Buches. 
AVas  nur  immer  als  Religion  gedacht  werden  kann,  das  hat  sie, 
ja  das  ist   sie. 

Schon  hierin  zeigt  sie  sich  als  Synkretismus,  aber  sie  offen- 
bart einen  Synkretismus  besonderer  Art:  es  ist  der  Synkretismus 
der  Universalreligion.  Aller  Kräfte  und  aller  Beziehungen  hat 
sie  sich  bemächtigt  vmd  sie  in  ihren  Dienst  genommen;  wie  arm, 
w'ie  dürftig,  wie  beschränkt  nehmen  sich  die  anderen  Religionen 
im  Reiche  daneben  aus!  Und  doch  hat  sie  von  vielen  gelernt 
und  entlehnt,  ohne  es  zu  wissen,  und  sie  wäre  in  dieser  ihrer 
Fülle  und  Stärke  nicht  denkbar,  wenn  sie  nicht  Saft  und  Kraft 
auch  aus  ihnen  gezogen  hätte.  Jene  Religionen  haben  den  Boden 
für  sie  gedüngt;  auf  dies  Erdreich  ist  das  neue  Samenkorn  ge- 
fallen, hat  seine  Wurzeln  in  dasselbe  gesenkt  und  ist  zum  mäch- 
tigen Baume  geworden.  Was  umschließt  diese  Religion  nicht 
alles,  und  doch  läßt  sie  sich  noch  immer  auf  einen  ganz  einfachen 
Ausdruck  bringen,  und  ein  Name  umfaßt  noch  alles,  der  Name 
Jesu  Christi! 

Der  Synkretismus  dieser  Religion  zeigt  sich  auch  in  der 
Fähigkeit,  die  verschiedensten  A'olker  in  sich  hineinzuziehen, 
Parther  und  Medcr  und  Elamiter,  Griechen  und  Barbaren.  Sie 
spottet  der  Völkerschranken.  Indem  sie  alle  Elemente  an  sich 
gezogen  hat,  hat  sie  nur  eines  abgestreift,  das  jüdisch-nationale. 


262  Die  Missionwpredigt  in  Wort  und  Tat. 

Die  Abstrcifung-  dii^ses  EleiTKMits  bedeutete  den  Univcrsalismiis; 
denn  di(!  jüdische  Religion,  ihres  Nationalismus  entkleidet,  war 
bereits  universal,  nur  dieser  hatte  sie  zwei  Jahrhunderte  hindurch 
noch  in  engen  Grenzen  gebannt  gehalten.  Und  wie  universal 
zeigt  sie  sich  in  bezug  auf  die  Anlagen  und  die  Bildung  der 
Menschen!  Zeitgenosse  des  Ilermas  ist  Valentin,  beide  sind 
Christen;  Zeitgenosse  des  Clemens  Alexandrinus  ist  Tertullian, 
beide  sind  kirchliche  Lehrer;  Zeitgenosse  des  h.  Antonius  ist 
Eusebius,  beide  dienen  derselben  Gemeinschaft. 

Aber  das,  was  man  Synkretismus  im  eigentlichen  Sinn  des 
Wortes  nennt,  ist  mit  dem  allen  noch  nicht  gedockt.  Das  Chri- 
stentum ist  seit  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  als  synkretistische 
Religion  im  vollsten  Sinne  zu  betrachten  ^;  als  solche  steht  es  den 
beiden  anderen  großen  synkretistischen  Schöpfungen  des  Zeitalters, 
der  mit  dem  Sonnendienst  verbundenen  neuplatonischen  Religion 
und  dem  Manichäismus  gegenüber-.  Man  kann  es  jetzt  ebenso 
gut  eine  hellenische  Religion  nennen  wie  eine  orientalische,  eine 
einheimische  wie  eine  ausländische.  Synkretistisch  war  es  von 
Anfang  an  auf  heidenchristlichem  Boden  —  nicht  als  pures  Evan- 
gelium ist  es  erschienen,  sondern  mit  allem  ausgestattet,  was  die 
jüdische   Religion    in    ihrer    langen    Geschichte    an    sich    gezogen 


^)  Einer  meiner  Rezensenten,  de  Grandmaison  (Etndes,  Rev.  par  des 
peres  de  la  comp,  de  Jesus,  T.  96,  [>.  Aug.  1903,  p.  817.  SL-hreibt:  „Comment 
une  religion  syncretiste  peut-elle  rester  exclusive?  C'est  ce  qu'on  ne  voit 
pas."  Aber  wenn  sie  alles,  was  sie  übernommen  und  sich  augeeignet  hat, 
stets  als  ihr  Eigentum  und  ihr  Eigentümliches  ausgibt,  ja  zu  ihrem  Eigen- 
tum macht  —  warum  soll  sie  da  nicht  exklusiv  sein  können? 

-j  Vgl.  mein  Lehrbuch  der  Dogmengesch.  Bd.  1'  S.  76(jlf.  785  ff. :  „Drei 
große  Religionssysteme  haben  seit  dem  Ausgang  des  8.  Jahrhunderts  in  West- 
asien und  Südeuropa  einander  gegenübergestanden:  der  Neupia  tonismus, 
der  Katholizismus  und  der  Manichäismus.  Alle  drei  dürfen  als  die 
Endergebnisse  einer  mehr  als  tausendjährigen  Geschichte  der  religiösen  Ent- 
wicklung der  Kulturvölker  von  Persieu  bis  Italien  bezeichnet  werden.  In 
allen  dreien  ist  der  alte  nationale  und  i^artikulare  Charakter  der  Religionen 
abgestreift;  es  sind  Weltreligionen  mit  universalster  Tendenz  und  mit 
Anforderungen,  die  in  ihrer  Konsequenz  das  gesamte  menschliche  Leben,  das 
öffentliche  und  private,  umgestalten.  An  die  Stelle  des  nationalen  Kultus 
ist  hier  ein  System  getreten,  welches  Gotteslehre,  Weltanschauung  und  Ge- 
schichtsbetrachtung sein  will  und  zugleich  eine  bestimmte  Ethik  und  ein 
gottesdienstliches  Ritual  umfaßt.  Formal  sind  sich  also  die  drei  Religionen 
gleich,  und  auch  darin  sind  sie  sich  ähnlich,  daß  jede  von  ihnen  sich  die 
Elemente  verschiedener  älterer  Religionen  angeeignet  hat.  Ferner  zeigen 
sie  sich  darin  gleichartig,  daß  die  Ideen  der  Offenbarung,  der  Erlösung, 
der  asketischen  Tugend  und  der  Unsterblichkeit  in  allen  dreien  in 
den  A^ordergrund  treten.  Aber  der  Neuplatonismus  ist  die  vergeistigte  Natur- 
religion, der  durch  orientalische  Einflüsse  und  durch  philosophische  Spekula- 
tion verklärte  und  zum  Pantheismus  entwickelte  griechische  Polytheismus; 
tler  Katholizi.smus   ist   die  monotheistische  Weltreligion  auf  dem  Grunde  des 


Die  volle  Ausgestaltung  des  Christentums  als  synkretist.  Religion.      263 

hatte,  und  sofort  auf  alles  das,  was  dort  etwa  noch  fehlte,  ein- 
gehend. Aber  nun  erst,  um  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts,  war 
die  neue  Religion  fertig  als  die  synkretistische  Religion  par 
excellence,  und  dabei  doch  exklusiv!  Ihr  Kirchentum  hatte  alle 
Elemente  in  sich,  die  das  Zeitalter  bot,  einen  mächtigen  Priester- 
stand, einen  Hohenpriester  sowie  dienende  Geistliche,  und  dieser 
Priesterstand  führte  sich  auf  Christus  und  die  Apostel  selbst  zurück; 
die  Bischöfe  rühmten  sich  ihrer  Sukzession  und  ihrer  von  den 
Aposteln  stammenden  Weihe.  Was  der  Begriff  „Priestertum" 
irffend  umfaßte,  das  besaß  sie.  In  ihrem  Grottesdienst  samt  den 
Sakramenten  stellte  sich  wirksames  göttliches  Handeln  dar.  Die 
zukünftige  Welt  und  die  Kräfte  des  ewigen  Lebens  ragten  in  den 
Kultus  und  durch  ihn  in  diese  Welt  hinein  und  konnten  ergriffen 
und  geistleiblich  zur  Vergottimg  angeeignet  werden.  Was  die 
Begriffe  „geoffenbarte  Erkenntnis",  „Mysterien",  „Kultus"  irgend 
umfaßten,  das  eröffnete  sie  ihren  Gläubigen.  In  ihrer  Lehre  hatte 
sie  alles  in  sich  aufgenommen,  was  der  Synkretismus  des  Zeit- 
alters, wie  wir  ihn  S.  21  ff.  kurz  skizziert  haben,  bot;  sie  mußte 
diesem  System  eine  andere  Orientierung  geben  und  es  an  wichtigen 
Punkten  korrigieren,  aber  im  übrigen  hat  sie  es  sich  angeeignet. 
In  dem  Lehrsystem  des  Origenes,  welches  in  der  zweiten  Hälfte 
des  3.  Jahrhunderts  die  denkenden  Christen  des  Orients  beherrschte, 
ist  die  Vereinigung  von  Evangelivmi  und  Synkretismus  perfekt. 
Was  der  Begriff  „Hellenische  Religionsphilosophie"  erhält,  das 
besaß  sie  in  geläuterter,    aber  auch  mit  neuem  Aberglauben  be- 

Alteu  Testaments  und  des  Evangeliums,  alier  auferbaut  mit  den  Mitteln  der 
hellenischen  Spekulation  und  Ethik;  der  Manichäismus  ist  die  dualistische 
Weltreligion  auf  dem  Boden  des  Chaldäismus,  aber  versetzt  mit  christlichen, 
parsistischen  und  vielleicht  buddhistischen  Gedanken.  Dem  Manichäismus 
fehlt  das  hellenische  Element,  dem  Katholizismus  das  chaldäisch -persische 
fast  ganz  (soweit  nicht  schon  das  Spätjudeutum  von  ihm  beeinflußt  war). 
Entwickelt  haben  sich  diese  drei  Weltreligionen  im  Laufe  von  zwei  Jahr- 
hunderten (c.  50 — 250).  Der  Katholizismus  geht  voran,  und  der  Manichäismus 
ist  die  jüngste  Schöpfung.  Überlegen  aber  sind  beide  dem  Neuplatonismus 
schon  deshalb,  weil  dieser  keinen  Stifter  besessen  hat;  er  hat  deshalb  keine 
elementare  Kraft  entfaltet  und  den  Charakter  einer  künstlichen  Schöpfung 
nicht  verloren.  Versuche,  einen  Stifter  für  ihn  zu  erfinden,  die  gemacht 
worden  sind,  sind  natürlich  gescheitert.  Der  Katholizisiuus  aber  ist  wiederum 
—  von  dem  Inhalte  der  Religion  noch  abgesehen  —  dem  Manichäismus 
überlegen,  weil  in  ihm  der  Stifter  nicht  nur  als  Otfenbarungsträger,  sondern 
auch  als  die  persönliche  Erlösung  und  als  Sohn  Gottes  verehrt  wird."  Diese 
drei  synkretistischen  Weltreligionen  stehen  dem  Kaiserkult  gegenüber.  Often- 
kuudig  feindlich  war  ihm  nur  das  Christentum;  die  neuplatonische  Sonnen- 
religion ist  sogar  darauf  bedacht  gewesen,  ihn  zu  stärken.  Allein  in  Wahr- 
heit war  auch  sie  sein  Feind.  Auch  sie  versetzt  die  Religion  in  das  Innen- 
leben, und  damit  ist  der  Kaiserkult  schon  entwurzelt.  Es  war  die  größte 
Täuschung  Juliaus,  daß  er  glaubte,  die  ueuplatonische  Sonnenreligion  mit. 
der  politisclion  Religion  verbinden  zu  können. 


264  Die  MLs.sionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

lastcter  Gestalt ^  trächtig  und  stark,  ihrer  Eigenart  sicher  und 
vor  dem  Zerfließen  in  andere  Religionen  geschützt,  glaubte  sie  nun 
liberaler  und  nachsichtiger  sein  zu  können,  wenn  man  sich  ihr  nur 
unterwarf.  Ihre  Missionsmethoden  änderten  sich  langsam  aber 
bedeutend  im  Laufe  des  2.  Jahrhunderts.  Derselbe  Gregorius 
Thaumaturgus,  der  sich  in  seiner  religionsphilosophischen  Zu- 
sammenfassung des  Christentums  als  ein  Schüler  des  Origenes 
beweist,  der  als  Hellenist  den  Meister  noch  übertrifft,  ist  als 
Bischof  den  heidnischen  Neigungen  der  von  ihm  Bekehrten  in 
überraschender  Weise  entgegengekommen.  Wir  werden  von  ihm 
noch  hören.  Heilige  und  Nothelfer,  also  Halbgötter,  dringen  in 
die  Kirche  ein^;  Lokalkulte  und  lokale  heilige  Stätten  werden 
gegründet;  die  Gebiete  des  Lebens  werden  an  Schutzgeister  aufs 
neue  verteilt;  die  alten  Götter  ziehen  ein,  nur  mit  neuen  Masken; 
rauschende  Jahresfeste  werden  gefeiert;  Amulette  und  Sakramen- 
talien, Reliquien  und  heilige  Knochen  werden  l)egehrenswerte 
Gegenstände^.     Hie    Religion  —  einst,    als   streng   geistige,   jede 


^)  Die  religioiisphilo.soplii.sche  Stufe,  welche  durch  Miiniier  wie  Posido- 
nius  und  Philo  begründet  worden  ist  und  in  dem  Neuplatoui^mus  gipfelte, 
hat  sich  in  der  christlichen  Religionsphilosophie,  wie  sie  sich  bis  zum  Anfang 
des  3.  Jahrhunderts  entwickelt  hat  und  in  Origenes  kulminierte,  vollendet. 
Blindheit  gegenüber  dem  sinnlich  Wirklichen  und  Kritiklosigkeit  haben  dabei 
auf  der  christlichen  Linie  in  erschreckender  Weise  zugenommen;  aber  das 
Innenleben  ist  vertieft  und  die  philosophische  Gotteslehre  durch  die  Ein- 
führung der  Schöpfungslelire  modifiziert  worden,  in  die  Spekulation  ist  die 
Idee  der  Gottmenschheit  eingeführt,  und  noch  heute  meinen  hervorragende 
Denker,  darin  den  eigentlichen  Wert  der  christlichen  Religion  und  ihre  Haupt- 
bedeutung in  der  Geschichte  des  Geistes  sehen  zu  dürfen.  Den  Kampf  gegen 
die  materialistische,  skeptische  und  epicureische  Philosophie  haben  die  Apo- 
logeten, liesonders  aber  Origenes  und  Dionysius  Alex,  geführt. 

^)  Auch  das  Däumehi  (Orakelaufschlagen )  in  der  h.  Schrift  gehört  hier- 
her. Bezeugt  ist  es  m.  W.  erst  für  das  4.  .Jahrhundert,  aber  gewiß  ist  es 
älter;  s.  Augustin,  ep.  5."),  37 :  „hi  qui  de  paginis  evangelicis  sortes  legunt, 
etsi  optandum  est,  ut  hoc  potius  faciant  ciuam  ad  daemonia  concurrant, 
tarnen  etiam  ista  mihi  dLsplicet  consuetudo,  ad  negotia  saecularia  et  ad 
vitae  huius  vanitatem  jiropter  aliam  vitam  loquentia  oracula  divina  velle 
convertere."  Das  ist  doch  laxer  als  sich  Hernias  (Mand.  11)  in  Bezug  auf 
den  Pseudopropheten  geäußert  hat.  ^'gl.  auch  das  „tolle,  lege"  iu  Augustins 
eigner  (beschichte. 

•')  Man  hat  nicht  zu  fragen,  was  die  Kirche  an  Mythologien,  Aber- 
glauben und  Sakramentalien  aufgenommen  hat,  sondern  vielmehr  in  welcher 
Abfolge  sie  es  aufgenommen  und  was  sie  nicht  rezipiert  hat.  In  bezug 
auf  die  erste  Frage  handelt  es  sich  nicht  sowohl  darum,  was  von  Anfang  an 
dort  und  hier  von  dergleichen  Vorstellungen  und  Dingen  in  den  Gemeinden 
vorhanden  war  —  es  war  natürlich  alles  Syrische  vorhanden,  sobald  ein  paar 
Dutzend  Syrer  bekehrt  waren,  und  alles  Hellenische,  sobald  die  Gemeinden 
Hellenen  in  ihrer  Mitte  zählten  usw.  — ,  sondern  darum  handelt  es  sich,  wann 
diese  Vorstellungen  und  Dinge  von  der  Kirche  geheiligt  worden  und  in 
den    öffentlichen  Gebrauch   oder    in    den    öffentlichen    Ausdruck 


Die  volle  Ausgestaltung  des  Christentums  als  synkretist.  Religion.     205 

Materialisienini!,'  verbietend  und  beküinpfeiid  —  materialisiert  sieh 
in  jeder  Bezieliun«^.  Sie  hat  die  Welt  und  Natur  getötet,  nun  aber 
beginnt  sie  sie  wiederzuerwecken,  freilich  nicht  die  ganze,  sondern 
Partikeln  und  Ausscdinitte,  und  zwar  die  abgestorbenen  und  häß- 
lichen. Die  Wunder  in  den  Kirchen  werden  zahlreiclier,  äußer- 
licher und  plumper.  Was  apokryphe  A})Ostelgeschichten  faboliul 
erzählt  haben,  wird  in  die  Gegenwart  hineingezogen  und  von  der 
Gegenwart  behauptet. 

Diese  Kirche,  an  deren  Religion  Porpliyrius  die  unverschämte 
Kritik  an  dem  Weltganzen,    die  Lehre   von  der  Menschwerdung^ 

des  Gebets  und  der  Lehre  (in  der  Stadt,  in  der  Provinz,  in  der  ganzen 
Kirche)  gekommen  sind.  Die  Geschichte  dieser  Rezeptionen  ist  noch  nicht 
geschrieben  worden  und  kann  auch  nur  in  Fragmenten  geschrieben  werden ; 
auch  ist  vieles  von  Anfang  an  nebeneinander  hergegangen.  Aber  eine  Frage, 
wie  die.  wann  bestimmte  heidnische  Mythologumeneu  und  Riten  mit  geän- 
derten Etiketten  in  den  öffentlichen  Ausdruck  der  kirchlichen  Religion  ge- 
kommen sind,  läßt  sich  in  einigen  wichtigen  Fällen  wohl  beantworten.  Nur 
muß  die  Antwort  mit  mehr  Umsicht  und  Skepsis  gesucht  werden,  als  das 
heute  üblich  ist.  Versuche,  wie  die,  die  ur christliche  Feier  des  Sonntags, 
die  urchristliche  Abendmahlsfeier,  die  Vorstellung  von  der  Jungfraueu- 
geburt,  der  Auferstehung  am  dritten  Tage,  der  Himmelfahrt  usw.  auf  den 
Einfluß  eines  bestimmten  (obskuren  oder  publiken)  heidnischen  Kultus 
zurückzuführen,  scheinen  mir  gründlich  verfehlt  und  bisher  an  keinem  Punkte 
geglückt  (eine  andere  Frage  ist,  wie  diese  Einrichtungeu  und  Vorstellungen 
sehr  bald  aufgefaßt  worden  sind).  Im  allgemeinen  wird  man  sagen  dürfen, 
wenn  man  nicht  auf  einzelne  gnostische  Kreise,  sondern  auf  die  großen  Ge- 
meinden sieht  —  aber  das  Recht  dieser  Unterscheidung  wird  zurzeit  auch 
bestritten!  — ,  daß  zuerst  die  Grundgedanken  der  idealistischen  Philosophie 
rezipiert  worden  sind  und  ihnen  die  Rezeption  der  Mythologien  und  Riten 
gefolgt  ist.  Was  die  zweite  Frage  betrifft,  so  ist  es  am  w'iehtigsten  zu  kon- 
statieren, wie  lange  und  wie  kräftig  sich  die  Kirche  gegen  die  Astrologie, 
diesen  Todfeind  der  Moral  und  Freiheit,  gesträubt  hat.  Wer  überschlägt, 
welche  Macht  in  der  Kaiserzeit  —  beim  allgemeinen  Niedergang  der  Natur- 
wissenschaften —  die  Astrologie  gewesen  ist,  wie  sie  sich  in  das  Gewand 
der  Wissenschaft  zu  hüllen  verstanden  hat,  wie  sie  sich  überall  eindrängte, 
und  wie  sehr  sie  der  passiven  und  müden  Stimmung  des  Zeitalters  entgegen- 
kam, wird  den  Widerstand,  den  die  Kirche  —  der  Gno&tizismus  war  auch 
hier  ziemlich  wehrlos  —  geleistet  hat,  zu  würdigen  wissen.  Hier  ist  eine 
Großtat  der  Kirche  zu  verzeichnen!  Jüngst  hat  Schür  er  in  seiner  Abhand- 
lung über  die  siebentägige  Woche  im  Gebrauche  der  christlichen  Kirche  der 
ersten  Jahrhunderte  (Ztschr.  f.  NTliche  Wisseusch.  Bd.  6,  1905,  S.  1  ff.  43  ff.) 
die  Stellung  der  Kirche  zur  Astrologie  sachkundig  eröi'tert.  Im  2.  Jahrhundert 
hört  mau  noch  so  gut  wie  nichts  von  ihr  in  der  Kirche,  d.  h.  sie  wird  als 
heidnische  Afterweisheit,  so  schlimm  und  schlimmer  als  der  Polytheismus, 
bekämpft.  Im  3.  Jahrundert  erhebt  sie  auch  in  der  Kirche  ihr  Haupt;  im 
4.  muß  sie  innerhalb  der  Kirche  aufs  schärfste  zurückgewiesen  werden.  Die 
kirchlichen  Theologen  haben  sie  zu  allen  Zeiten  entrüstet  verurteilt,  aber 
sie  wurden  seit  dem  Ausgang  des  3.  Jahrhunderts  in  den  Gemeinden  ihrer 
nicht  mehr  Herr  und  konnten  es  nicht  verhindern,  daß  sie  eindrang  und 
Gedanken  und  Sprache  durchsetzte. 

')  Der  Heide   bei  Macarius  Magnes  IV,  22:   El  öl   y.ai  la   imv  'Ei.h'ivon' 


266  Pie  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat. 

und  die  Bolianptung  der  Auferstehung  des  Fleisches  zu  tadeln 
fand  ^  hat  in  der  zweiten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  missioniert, 
und  sie  ist  zum  Siege  gekommen;  aber  hätte  man  sie  vor  Gericht 
gefordert  und  sie  gefragt,  mit  welchem  Rechte  sie  die  j^euerungen 
zugelassen  habe,  so  hätte  sie  antworten  können:  Ich  bin  un- 
schuldig;  denn  ich  habe  nur  Keime  zur  Entfaltung  gebracht,  die 
man  in  mich  eingesenkt  hat  von  Beginn  meines  Daseins  an!  Den 
übrigen  Religionen  hat  erst  diese  Religion  den  Boden  entzogen, 
imd  ihre  Religionsphilosophie  hat  als  Kulturmacht  die  antike 
Philosophie  ersetzt^.  Aber  das.  was  der  christlichen  Religion 
damals  den  Sieg  gegeben  hat,  verbürgt  nicht  die  Dauer  dieses 
Siegs  in  der  Geschichte.  Diese  Dauer  ruht  vielmehr  auf  den 
einfachen  Elementen,  auf  der  Predigt  von  dem  lebendigen  Gott 
als  dem  Yater  und  auf  dem  Bilde  Jesu  Christi.  Sie  ruht  eben 
deshalb  auf  der  Fähigkeit,  jenen  gesamten  Synkretismus  auch 
wieder  abzustreifen  und  sich  mit  anderen  Koeffizienten  zu  verbinden. 
Damit  hat  die  Reformation  den  Anfang  o-emacht. 


ovTCO  y.ovcfoi;  ii]v  yvwinp',  cog  tr  roTg  dyükuaoiv  evöov  otKetv  vofii^eii'  rovg  deovg, 
rro/./.(J>  >cadao<!jTeoor  slyer  t!jv  eWoiav  rov  jnoTEVovrog,  ort  eig  rijv  yaarioa  Maotag 
rr)?  Tiaodh'ov  FtaäÖv  rö  {^sTov,  i'ftßox'öv  te  fvsvsto  y.ai  TsyJ)h'  £on:aoyavoji}i],  fisau'n' 
aniaiog  yöoiov  y.al  yo)S]g  y.ai  tcov  etc  jto/./.öj  roinco7'  aTOJicoTsgov. 

')  Schon  die  Übereinstimmungen  zwischen  Celsus  und  Origenes  sind 
frappant  und  lehrreich,  obschon  Celsus  keine  religiöse  Natur  war;  viel  frap- 
panter noch  sind  die  Übereinstimmungen  zwischen  Porphyrius  und  den  orien- 
talischen Kirchenlehrern  seiner  Zeit.  Die  scharfsinnige,  an  vielen  Punkten 
berechtigte  Kritik  des  Porphyrius  an  den  Evangelien  (namentlich  dem  vierten) 
und  an  dem  ihm  so  unsympathischen  Apostel  Paulus  kann  darüber  nicht 
täuschen,  daß  er,  abgesehen  von  jenen  oben  genannten  drei  Punkten,  mit 
den  Christen  wesentlich  einer  Meinung  war  und  in  derselben  religiösen 
Stimmung  lebte.  Der  Hauptj>unkt  der  Ditferenz  war,  daß  er  mit  der  Gottheit 
auch  das  Weltganze  ehrfürchtig  umfaßte  und  die  Gottheit  nicht  von  ihm 
abtrennte,  obgleich  er  „den  befleckten  Piock  des  Fleisches"  ebenso  haßte  wie 
die  christlichen  Lehrer. 

^)  Vgl.  die  von  Heinrici,  Das  Urchristentum  (1902)  S.  3,  aufgeworfene 
Fraj^e. 


Drittes  Buch. 

Die  Missionare; 
Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Erstes   Kapitel. 

Die  christlichen  Missionare  (Apostel,  Evangelisten, 
Propheten,  bez.  Lehrer;  nicht  berufsmäßige  Missionare). 

I. 

Bevor  wir  in  die  eigentliche  Untersuchung  eintreten,  sei  eine 
kurze  Übersicht  über  den  Gebrauch  des  Wortes  „Apostel"'  im 
weiteren  und  engeren  Sinne  in  den  ältesten  christlichen  Schriften 
vorausgestellt  ^ 

(1)  Bei  Matthäus,  Marcus  und  Johannes  ist  „Apostel"  kein 
besonderer  und  auszeichnender  Name  für  den  engeren  Jüngerkreis 
Jesu.  Die  Mitglieder  desselben  heißen  vielmehr  fast  stets  die 
„Zwölf"' ^,  bez.  die  zwölf  Jünger^.  Ihre  Auswahl  erfolgte,  wie 
aus  Matth.  19,  2S  geschlossen  werden   kann,   vielleicht   im   Blick 

')  Nur  um  Apostel  Christi  handelt  es  sich;  indessen  mag  doch  bemerkt 
werden,  daß  Paulus  II  Cor.  8,  23  von  u:i6aTo/.oi  fy.y.bjaion'  gesprochen,  und  daß 
er  den  Epaphroditus,  der  ihm  eine  Spende  der  philippischen  Gemeinde  ge- 
bracht, „Apostel"  der  Philipper  (Phil.  2,  25)  genannt  hat.  Hebr.  3.  1  wird 
Jesus  ,  Apostel*  und  Hohepriester  unseres  Bekenntnisses  genannt.  In  Joh.  13,  16 
ist  „Apostel"*  nur  als  Beispiel  gebraucht:  ovy.  egtiv  öovIoq  fuiCcov  tov  xvqiov 
ai'zov,  ovde  äjtöaTo/.og  fiei'Qoiv  tov  :Tefiy>avzog  avröv. — Literatur:  s.  meine  Aus- 
gabe der  Lehre  der  12  Apostel  in  den  Texten  u.  unters.  Bd.  2,  1884.  Lehr- 
buch der  Dogmengesch.  P,  1894,  S.  153 tt'.  Se ufert.  Der  Ursprung  und  die 
Bedeutung  des  Apostolats  in  d.  christl.  Kirche,  1887.  Weizsäcker,  Apostol. 
Zeitalter,  2.  Aufl.,  1892,  vv.  11.  Zahn.  Skizzen  aus  dem  Leben  der  alten 
Kirche,  2.  Aufl.,  1898,  S.  383.  Haupt.  Zum  Verständnisse  des  Apostolats  im 
N.T.,  1896.  Wernle,  Die  Anfänge  unsrer  Religion,  2.  Aufl.,  1904.  Monnier, 
La  notion  de  TApostolat  des  origines  a  Irenee,  1903. 

•-)  Matth.  10.  5:  20,  17:  2G.  14.  47;  Marc.  (3. 14):  4.  10;  6,  7:  9.35;  10,  32; 
11,11;  14.10.17.20.43:  Joh.  6,  67.  70.  71;  20.24. 

^)  Matth.  10,  1;  11,  1;  26.20.  —  Hierher  sind  auch  die  Fälle  zu  rechnen, 
in  denen  sie  „die  Elf"  Marc.  16,14).  bez.  .die  elf  Jünger"  genannt  werden 
(Matth.  28, 16). 


'2()b      I'i'"  i^iiri^sional•o;  Mud;iiitiiten  und  (iegenwirkungen  der  Mission. 

anf  (lio  zwölf  Stäinnic  Israels  '.  Die  Tatsache  der  Auswahl  selbst  ist 
m.  E.  historisch,  ebenso  wahrscheinlich  die  Überlieferung,  daß 
Jesus  sie  bertMts  bei  seinen  Lebzeiten  einmal  zur  Verkündigung 
des  Evangeliums  ausgesandt  und  mit  unter  diesem  Gesichtspunkt 
erwählt  hat.  Dennoch  sah  man  in  der  Urgemeinde  ihre  besondere 
AVürde  nicht  darin,  daß  sie  Apostel,  soiulern  daß  sie  die  zwölf 
(von  Jesus  erwählten)  Jünger  waren.  J»ei  Johannes  heißen  sie 
niemals  die  Apostel-,  bei  Matthäus  scheinbar  einmal  „die  zwölf 
Ajjostel'"'  (10,2)'';  doch  ist  das  Korrektur;  Hyrus  Sinait.  schreibt 
,. Jünger".  Marens  schi'eibt  einmal  ((>,  130)  „die  Apostel",  aber  im 
Zusammenhang  der  Erzählung  von  ihrer  zeitweisen  Missionstätig- 
keit z.  Z.  Jesu.  Alle  drei  Evangelisten  kennen  also  das  Wort 
„Apostel"  als  Bezeichnung  der  Zwölfe  nicht:  es  gibt  nur  einen 
Fall,  in  welchem  ad  hoc  das  Wort  auf  sie  angewendet  wird'*^. 

(2)  Anders  steht  es  bei  Paulus;  er  braucht  den  Terminus  „die 
Zwölfe"  niemals  —  denn  I  (Joi-.  15,5  gibt  er  eine  Formel  der  Ur- 
gemeinde wieder-'  — ,  sondern  er  braucht  ausschließlich  den  Begriff 
„Apostel";  aber  sein  Sprachgebrauch  ist  hier  nicht  eindeutig: 

(a)  er  nennt  sich  selbst  Apostel  Jesu  Christi  und  legt  darauf, 
daß  er  es  ist,  das  höchste  Gewicht''.    Geworden  ist  er  es  so,  wie 


^j  Ausdrücklich  sagt  dies  Baniabas ;  ep.  8 :  oraiv  öry.advo  clg  /KunfQiov 
Tojy  (jv}.cov  Ötl  iß'  ai  (/i'^.ai  tov  '/öouv//.. 

-)  Eine  merkwürdige  Tatsache!  In  den  Johannesbriefen  komujt  ^Apostel" 
nlierhaupt  nicht  vor.  Indessen  sind  diese  Briefe  von  einem  Manne  geschrieben, 
der  —  wer  es  auch  immer  sei  —  apostolische  Rechte  über  eine  Mehrzahl 
von  Gemeinden  in  Anspruch  nahm  und  ausübte.  Das  ist  namentlich  nach 
dem  o.  Briefe  deutlich  (s.  meine  Abhandlung  in  dem  15.  Bd.  der  , Texte  u. 
Unters.".  Heft  3).     Näheres  darüber  wird  unten  folgen. 

')  Also  -nicht  einfach  „die  Apostel".  Der  Ausdruck  „die  zwölf  Apostel" 
findet  sich  sonst  nur  noch  Apok.  21,  14.  Auch  hier  ist  ^Zwölf''  nicht  mü(5ig; 
denn  die  Apokal^-pse  befolgt  einen  weiteren  Sprachgebrauch  in  bezug  auf 
Apostel  (s.  u.). 

*)  Es  wird  dem  ursprünglichen  Sachverhalt  entsprechen,  wenn  es  Marc.  3, 14 
heißt:  yrrolijöf)'  ÖojÖfy.a  irn  (hnir  iif.t''  avTor  y.al  Iva  ujiootfX?.!/  (vnovg  y.yjQva- 
anv  y(u  l'yj-ty  y^ovaiav  r^ßdllfir  tu  ()a(fi('n'ia.  Die  Aussendung  (innerhalb 
Israels)  wird  von  Anfang  an  ein  Zweck  der  Auswahl  gewesen  sein;  s.  auch 
das  Wort  von  den  „Mensehenfischern"  Marc.  1,  17.  —  Zu  achten  ist  übrigens 
in  diesem  Zusanunenhang  auch  auf  die  Stellen  in  den  Evangelien,  in  denen 
d.-rnnTf7./.Fjv  gebrauclit  wird.  d.  h.  wo  Jesus  es  von  seiner  Sendung  braucht 
mid  von  den  Jüngern.  di((  er  sendet,  s.  besonders  Job.  20,21:  xa&ws  n.TtaTcd- 
yJv  iiF  6  jraTi'jo,  auyd)  jry/ijro)  viiä^. 

*)  Man  könnte  aus  dem  Fehlen  der  ..Zw()lf'  bei  Paulus  scliließcn,  dal.> 
der  ßegritf  überhaupt  erst  jung  sei  (trotz  der  Eviingelien);  aber  eben  I  Cor.  15,  .5 
beweist  das  Gegenteil. 

"/  S.  den  Eingang  aller  Paulusbriefe  außer  1  und  IIThess. ,  Philipp., 
Philem.  Dazu  Höni.  1,5;  11,13;  1  Cor.  4,9:  9,  1  ff. ;  15,9;  llCor.  12,  12; 
(iaiat.  1,  17;  (2,  8).  In  bezug  auf  l  Cor.  4,  9  (()oxlo,  6  Osog  y/iäs  tov:;  d:jooT6- 
).ov;  foy/aov^  d.-rtdfi^yr    d>;   i'.Tiöarari'in'^)   kann    man    schwanken,    ob    taxüroi'g 


Die  cliri.stlithcn  Missionare.  269> 

man  es  allein  McM'deii  kann,  nänilicli  (Ini'cli  Gott  (Ix^z.  (Jhi'istus); 
er  hat  ihn  IxM'iit'en  nnd  ihm  Jon  Apostolat  gegeben^;  erwiesen 
ist  dieser  A])()st<)lat  durch  diisWerk,  wcdches  er  geleistet  Init,  mid 
wie  er  es  geleistet  hat''^. 

(b)  Apostel  sind  auch  seine  Mitmissionare  wie  liarnabas  und 
Silvanus,  nicht  aber  seine  ihn  unterstützenden  Schüler  wie  Timotheus 
und  Sosthenes^. 

(c)  A])ostel  sind  auch  andere,  z.  Ji.  wahrscheinlich  Andronicus 
und  Junias*;  ja  der  Begriff"  läßt  eine  feste  Abgeschlossenheit 
überhaupt  nicht  zu;  denn  wie  Gott  Propheten  und  Lehrer  „in  die 
Kirche  stellt",  so  stellt  er  auch  Apost(d  als  den  ersten  Stand  in 
dieselbe^;  diese  charismatischen  Beruf'sstände  sind  numerisch  unbe- 
schränkt, denn  sie  folgen  dem  Bedürfnis,  wie  Gott  es  erkennt. 
Zum  Apostolat  gehören,  außer  der  Berufung  cUircli  Christus  bez. 
Gott  (s.  0.),   beglaubigende  Wundertaten*^  und   ein  Werk''    (sowie 

attributivisch  zu  a.Too7:o'/.or^-  zu  ziehen  ist  udcr  pnldikativiseh ;  ich  ziehe  jenes 
vor  (s.  I  Cor.  15,  8f. i,  und  es  ist  mir  daher  wahrscheinlich,  dal.^  die  1.  Person 
Flur,  hier  schriftstellerischer  Plural  ist. 

')  Gal.  1,  Iff. ;  Rom.  1,  5  (slaßofiEv  xÜqiv  y.al  cutootoX)']]');  ob  i^iüßofiev 
wirklicher  Plural  ist.  und  welche  Apostel  iu  diesem  Fall  miteingeschlossen 
sind,  ist  schwer  zu  sa,gen. 

■-)  I  Cor.  9,  1.  -J;  15,  9tf.;  II  Cor.  12,  12;  Gal.  1.  2. 

')  Barnabas  als  Apostel  folgt  aus  I  Cor.  9,  4ff.  und  Gal.  2,9,  Silvanus 
sehr  wahrscheinlich  aus  1  Thess.  2,  7.  In  den  Thessalonicherbriefen  (Adresse) 
und  im  Philipperbrief  (Adresse)  nennt  sich  Paulus  selbst  nicht  Apostel,  weil 
er  sich  mit  Timotheus  enge  zusammen  nennt,  der  niemals  , Apostel"  heißt 
(1  Thess.  2,  7  braucht  nicht  auf  ihn  bezogen  zu  werden).  Wenn  diesem 
II  Tim.  4,  5  das  Werk  eines  „Evangelisten"  zugeschrieben  wird,  so  ist  das - 
also  ganz  korrekt.  Auch  Apollo  heißt  niemals  Apostel.  —  Zu  svayyshoi/jg 
ist  zu  bemerken ,  daß  es  außer  im  II.  Timotheusbrief  im  Neuen  Testament 
noch  zweimal  vorkommt,  nämlich  in  der  Wirquelle  der  Apostelgeschichte 
(Act.  21,8  heißt  der  Siebenmann  Philippus  so)  und  Ephes.  4,  11  (hier  sind 
Evangelisten  neben  Aposteln  wohl  deshalb  genannt,  weil  der  Brief  au  solche 
Gemeinden  gerichtet  ist,  die  nicht  von  Paulus,  sondern  von  nicht-aposto- 
lischen Missionaren  gegründet  worden  waren ;  so  ist  auch  im  Hebräerbrief  2,  3 
das  Wort  „Apostel"  vermieden  [dafür  steht  oi  uHovoavTsg  seil,  zöv  xvqiov], 
weil  die  Adressaten  ihren  Christenstand  nicht  von  Aposteln  erhalten  hatten). 

*)  Rom.  16,  7  (i:Ti'a7]/joi  h'  toTs  ajrooT.öXois ,  oi  xal  jtqo  i/iov  yiyovav  tv 
Xoiaxcp);  f'r  ist  wahrscheinlicher  mit  „unter"  als  mit  „bei"  zu  übersetzen  (mit 
Lightfoot  gegen  Zahn),  weil  im  letzteren  Fall  der  Zusatz  ziemlich  müßig 
wäre  und  auch  der  Umfang  des  Begriffs  oi  ujiöoto/.oi  undurchsichtig.  Ist  „er" 
mit  „bei"  zu  übersetzen,  so  ist  unsre  Stelle  den  Zeugnissen  zuzuordnen,  in 
denen  oi  ujiöoto/.oi  die  ürapostel  sind;  denn  das  i>t  in  diesem  Fall  die  ein- 
fachste Deutung  des  Wortes.  Das  o'i  bezieht  sich  jedenfalls  a,uf  Andronicus 
und  Junias  und  nicht  auf  djrooToloig. 

■'}  I  Cor.  12,  28f.;  Ephes.  4,  11.  Auch  Ephes.  2,  20  und  3,  5  können  nicht 
die  sog.  ürapostel  ausschließlich  verstanden  werden;  sonst  v/ürde  sich  Paulus 
hier  ja  selbst  desavouieren. 

«)  II  Cor.  12,  12.  —  ')  I  Cor.  9,  1.  2. 


27()      D't^  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

besondere  Rechte) ^  Wer  dies  aufweisen  kann,  ist  Apostel.  Auch 
die  Polemik  ge^en  rseudoapostel  -  und  „Überapostel'-' ^  beweist, 
daß«  der  Begriti'  ..Apostel"  dem  Paulus  kein  numerisch  abge- 
schlossener ist,  sonst  müßte  die  Polemik  anders  gestaltet  sein. 
Endlich  zeigt  die  Stelle  1  Cor.  1 5,  7  vgl.  mit  v.  5  aufs  klarste,  daß 
Paulus  von  den  Zwölfen  einen  weiteren  Kreis  von  A])osteln  unter- 
scheidet und  zwar  schon  für  die  früheste  Zeit  und  Palästina'^. 

(d)  Aber  Apostel  ist  einer  zunächst  und  im  strengen  Sinn 
nur  für  die,  bei  denen  er  wirkt ■",  und  auch  die  chronologische 
Reihenfolge  der  zum  Apostolat  Berufenen  ist  nicht  gleichgültig''. 
Als  die  ältesten  Apostel  haben  die  von  Jesus  bei  Lebzeiten 
berufenen  Zwölf  zu  gelten'':  sie.  ihre  Qualitäten  und  Funk- 
tionen sind  vorbildlich  und  maßgebend  für  die  späteren  Apostel. 
Also  treten  die  Zwölf  und  zwar  als  Apostel  in  den 
Tordergrund.  Paulus  hat  sie  als  Apostel  in  den  Vordergrund 
geschoben.  Um  die  Würde  seines  eigenen  Amtes  in  das  rechte 
Licht  zu  stellen,  hat  er  jene  unter  den  Gesichtspunkt  des  Ur- 
apostolats  gestellt  (und  die  persönliche  Jüngerschaft  derselben 
terminologisch  zurücktreten  lassen) ;  er  hat  sie  also  damit  erhoben 
über  alle  anderen  Apostel,  aber  doch  nicht  höher  gehoben  als 
auf  die  Stufe,  die  er  selbst  in  Anspruch  nahm.  Daß  die  Zwölfe 
fortan  in  der  Geschichte  als  die  zwölf  Apostel,  ja  als  die  Apostel 
gelten,  das  hat  Paulus  begründet,  und  er  hat  es  begründet  — 
paradox  genug  — ,  um  seine  eigene  Bedeutung  zu  fixieren.  Aber 
sicher  hat  er  es  noch  nicht  herausgearbeitet;  er  konnte  und  wollte 
ja  den  allgemeineren  Begriff  des  Apostolats  nicht  aufheben.  So 
finden  wir  die  Beschränkung  des  Begriffs  „AposteP'  auf  die  Zwölf 


')  Aus  I  Cor.  9.  1  läßt  sich  nicht  —  wenigstens  nicht  mit  höherer  Wahr- 
scheinlichkeit —  schließen,  dal5  man  den  Herrn  gesehen  haben  müsse,  um 
als  Apostel  auftreten  zu  können.  Die  vier  Aussagen  sind  steigernde  (ovh  e^u 
fJ.EvdenoQ;  oi'X  sifii  driöarolog ;  ovyi  ' Ljaovv  rov  y.VQio%'  t]fuüv  eÖQay.a;  ov  r.ö 
e'oyov  ftov  vfiFig  fote  ev  h^<qi(o}  ,  wie  das  Verhältnis  der  zweiten  zur  ersten 
beweist.  Daß  die  dritte  und  vierte  Aussage  die  zweite  beglaubigen 
sollen,  ist  klar;  daß  sie  aber  eine  schlechthin  notwendige  Beglaubigung 
enthalten,  ist  zweifelhaft. 

-)  II  Cor.  11,  13.  -   3)   II  Cor.  11,  5;  12.  11. 

^)  H.  Origen..  Homil.  in  Num.  XKVII,  11  (t.  10  p.  353  Lomm.):  ,In  quo 
ajiostolus  ostendit  [seil.  I  Cor.  15,  7]  esse  et  alios  apostolos  exceptis  illis 
duodecim". 

^)  I  Cor.  9,  2  und  Gal.  2  (Juden-  und  Heidenapostolat),  s.  auch  Rom.  11, 13: 
eOv(j)v  ä.Tooro/.os-  Petrus  hat  (Ual.  2,  )S)  die  (LtooTolij  t.  nsQuo/^iyg.  Ideell  ge- 
nommen gibt  es  nur  einen  Apostolat,  weil  es  nur  eine  Kirche  gibt,  aber 
die  konkreten  .'\ufgaben  der  Apostel  sind  verschieden. 

'■)  Köm.  l(i,  7. 

'•)  Der  Apostolat  ist  der  vornehmste  Stand  (I  Cor.  12,  28);  also  muß 
auch  au  den  Zwölf-Jüngern  das  das  Vornehmste  sein,  daß  sie  Apostel  sind. 


Die  christlichen  Missionare.  271 

auch  nur  zweimal  —  und  selbst  da  nicht  ganz  sicher  —  bei  Paulus^, 
nämlich  im  ersten  Kapitel  des  Galaterbriefs  und  I  Cor.  9,  5. 
Gal.  1.  17  ist  von  ol  jiqo  e^uov  äjiooToloc  die  Rede,  und  darunter 
sind  aller  AVahrscheinlickeit  nach  die  Zwölfe  ausschließlich  zu  ver- 
stehen; doch  zeigt  der  folgende  Satz  (1,  19):  ersoov  tcöv  unoorökov 
ovy.  eidov  ei  uIj  'Idxcoßov  lov  ddelqov  tov  xvoioi\  daß  es  Paulus 
nicht  an  einer  starren  Einschränkung  des  Begriffs  gelegen  ist. 
I  Cor.  9,  5  liest  man:  //>)  ovx  eyojuev  iiovoiav  ädel(f))v  yvvalxa 
TiEQidyeiv,  cOs  y^ox  ol  XoitioI  äjiöoroXoi  xal  oi  ädeXq)ol  tov  xvqiov  xai 
Kr]q)äg;  Die  Zusammenordnung  der  Aoi:iä)v  änooTÖXov  mit  den 
Herrnbrüdern  macht  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  er  hier  bei  den 
„Aposteln^'  ausschließlich  an  die  Zwölfe  und  nicht  an  alle  vor- 
handenen Apostel  gedacht  hat.  Ergebnis:  Paulus  hält  den  weiteren 
Apostelbegriff  fest,  aber  die  zwölf  Jünger  sind  ihm  der  Urstock 
des  Apostolats. 

(3)  Der  Sprachgebrauch  des  Lucas  ist  sowohl  durch  den  der 
ältesten  Zeit  (synoptische  Tradition)  als  durch  den  nachpaulinischen 
bestimmt.  Jenem  folgend  nennt  er  die  vertrauten  Jünger  Jesu 
„die  Zwölf''-  (bez.  ,,die  Elf'')^.  diesem  nachgebend  nennt  er  sie 
in  der  Apostelgeschichte  fast  überall  einfach  „  die  Apostel "'  — 
als  gebe  es  überhaupt  keine  anderen'^  —  und  erzählt  im  Evan- 
gelium. Jesus  selbst  liabe  sie  Apostel  genannt^.  Demgemäß  nennt 
er  sie  auch  im  Evangelium  ein  paarmal  „die  Apostel"'^.  Man  ist 
demnach  geneigt,  den  Satz  aufzustellen,  Lucas  kenne  keine  anderen 
Apostel  als  die  Zwölfe  oder  wolle  keine  anderen  kennen;  allein 
das  wäre  vorschnell;  denn  c.  14.  4.  14  wird  nicht  nur  Paulus,  son- 
dern  auch   Barnabas   als  Apostel   bezeichnet'.     Man   sieht  —  der 


')  Abgesehen  von  1  Cor.  15,  7  vji-l.  mit  v.  .5),  wo  die  Zwölf  als  der 
[Jrstock  der  Apostel  erseheinen,  und  vielleicht  von  Röru.  16.  7  (s.  S.  269  An- 
merk.  4)  und  1.  b. 

2)  Luc.  8,  1;  9,  1.  1-2:  18.  :31 :  22,  ;3.  47.  Act.  6,  2  (also  mir  einmal  in  der 
Apostelgeschichte  werden  sie  so  genannt;  mir  scheint,  daß  Lucas  hier  einer 
ausgezeichneten  Quelle  folgt). 

^)  Luc.  24,  9.  oo  (cf.  Act.  2,  14:  IJhoog  ahv  loT;  evÖsy.a). 

*)  Act.  1,  2;  2,  37.  42.  43;  4,  33.  35.36.  37;  5,  2.  12.  18.  29.  40;  6,  6;  8,  1. 
14.18;  9,27;  11,1;  15,2.4.6.22.23;  16,4.  In  den  späteren  Kapiteln  des 
Buchs  kommt  das  Wort  „Apostel"  überhaupt  nicht  mehr  vor.  Einmal 
(Act.  1,  26)  findet  sich  auch  der  Ausdruck  „oi  evöey.a  ä.-zuoTo/.ot" . 

")  Lue.  6,  13. 

«)  Luc.  9,  10:  17,5:  22.14;  24,10.  Das  Petriisevangelium  ist  vorsich- 
tiger; es  spricht  von  /naOtjTai  (v.  30).  bez.  von  ol  do'jÖsy.a  ttui)7]Tai  (v.  59),  nie- 
mals aber  von  cl-t6ozo/.oi.  Ebenso  schreibt  die  Petrusapokalypse  (v.  5):  7jfieTg 
oi  öcodeaa  fia&ijiai. 

')  Die  Apostelwürde  des  Barnabas  steht  also  nach  Paulus  (s.  o.)  und 
Lucas  fest.  —  In  bezug  auf  die  70  Jünger  hat  Lucas  wohl  von  einem  djio- 
oiekhiv  gesprochen  und  sie  in  Rücksicht  auf  die  zwölf  Apostel  „70  andere", 


272       l'ie  ]\li.-^.sionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkuni^eu  der  Mission. 

Sprachgobraueli  ist  docli  noch  nicht  völlig  fixiei't.  AuffalhMid  bleibt 
CS  immerhin,  daß  Paulus  nur  bei  einer  Gelegenheit  im  ganzen 
Buch  „A])ostel"  genannt  ist.  Unter  die  Beschreibung  der  Qualitäten 
des  Apostülats.  den  Lucas  Act.  I.  2 1  ff '.  im  Auge  hat  —  diese 
Beschreibung  ist  für  die  Folgezeit  mehr  und  mehr  maßgebend 
geworden  —  fällt  Paulus  nicht  ^.    Also  kann  er  für  Lucas  nur  ein 

et 

x\.postel  im  weiteren  Sinn  gewesen  sein. 

(4)  In  der  Johannes-Apokalypse  wird  von  solchen  gesprochen 
(2,  2),  die  sich  selbst  Apostel  nennen  und  es  nicht  sind  '^ ;  vor- 
ausgesetzt also  ist,  daß  sie  es  sein  könnten:  man  sieht,  daß  der 
Yerfasser  den  weiteren  (ursprünglichen)  Apostelbegriff  befolgt. 
Die  Stelle  IS.  20  ist  mindestens  nicht  dagegen^  und  ebensowenig 
die  Stelle  21.  14  (s.  o.),  wenn  auch  die  Zwölfe  hier  als  Apostel 
allein  genannt  sind  und  die  Aussage  mit  ihrem  symbolischen 
Charakter  gewiß  viel  dazu  beigetragen  hat.  dem  engeren  Apostel- 
begriff zum  Siege  zu  verhelfen. 

(5)  Im  I.  und  IL  Petrusbrief  (l.  1)  ist  Peti'us  als  Apostel  Jesu 
Christi  bezeichnet.  Jud.  1 7  und  II  Pet.  o,  2  (tu  g/j^uara  to.  ttoo- 
eio)]jLitra  vno  jö)v  äTTOOJoXoyv  tov  xvgt'ov  tjjtiow  'I.  Xq.,  bez.  xä 
7TQoeiQ}]Ufva  [>i)uara  vtto  tcov  ayiMV  7T00(prjTCi)v  y.ru  fj  tojv  oltiootoIcov 
vjLwrv  hioXi]  TOV  y.voiov  y.al  ocoryjQog)  sind  an  der  zweiten  Stelle 
sicher,  an  der  ersten  sehr  wahrscheinlich  nur  die  zwölf  Jünger 
zu  verstehen. 

(())  Daß  der  I.  Clemensbrief  unter  „Apostel"  nur  die  ürapostet 
und  l'aulus  versteht,  folgt  ganz  deutlich  aus  c.  42,  l  ff.  (die  Apostel 
waren  schon  vor  der  Auferstehung  erwäldt)  und  47.  4  (an  letzterer 
Stelle  wird  Apollo  als  ävvjo  öedoxi/Kaofievog  Tino  dTxomoXon;  von 
diesen  bestimmt  imterschieden);  sonst  siehe  noch  c.  5,  li  und  44,  \. 
Liber  die  Vorstellung  des  Clemens  vom  Apostolat  siehe  später. 
Der  Baruabasbrief  spricht  c.  5,  9  von  der  Erwählung  der  l'dioi  am)- 
oroloi   durch   den   Herrn,    scheint    also    noch    andere    Apostel    zu 


aber  nicht  rund  Apostel  genannt.  Irenäus  (11.21. 1),  TertuUian  (adv.  Marc.  IV, 24), 
Origenes  (zu  liöni.  16,  7;  u.  a.  aljer  haben  sie  als  Apostel  bezeichnet,  und 
Personen,  deren  Zugehörigkeit  zu  den  Siebzig  mau  vermutete,  wurden  auch 
später  noch  Apostel  genannt. 

')  l'er  zu  wählende  Apostel  soll  mit  .Jesus  von  der  .Tohannestaufe  an 
gewandelt  haben  bis  zur  Himmelfahrt  und  Zeuge  der  Auferstehung  sein, 
s.  auch  Luc.  24,  48;  Act.  1,  8.  Dieser  Apostelbegritt'  wird  allmählich  den  ur- 
sprünglichen gänzlich  verdrängen,  Paulus  aber  dennoch  die  A])ostelwürde 
als  eine  Ausnahme  behalten. 

'^j  Vgl.  oben  die  Verurteilung  falscher  Ai)0stel  bei  Paulus. 

^)  Krff  oairar  ovoavk  y.ai  oi  üyiot  y.al  oi  d.-zöoTO/.ot  xal  oi  jTgo(ft~jTai.  Zu- 
sammenstellung mit  den  alttestamentlichen  Propheten  auch  Luc.  11,  49; 
II  Petr.  'S,  2.  Doch  ist  es  sehr  möglich,  daß  an  unserer  Stelle  christliche 
Propheten  gemeint  .sind,  wie   Ephes.  2,  20;  3,  5;  4,  11. 


Die  christlichen  Missionare.  273 

kennen;  e.  S.  15  spricht  er  nur  von  den  Zwcilfen.  ..die  nns  die 
Sündenvergebung-  als  frohe  Botschaft  verkündigt^  und  die  Kom- 
petenz des  Evangeliums,  es  zu  predigen,  erhalten  haben",  ohne 
sie  ausdrücklich  Apostel  zu  nennen'-.  Daß  das  Kerygma  Petri, 
"WO  es  von  den  Aposteln  spricht,  nur  die  Zwölfe  im  Sinne  hat, 
ist,  da  es  sich  als  wirkliehe  Petrusschrift  ausgibt,  selbstver- 
ständlich ^. 

(7)  Die  Stelle  Sim.  IX.  1 7,  I  läßt  es  zweifelhaft,  ob  Hermas 
unter  den  Aposteln  die  Zwölfe  oder  einen  weiteren  Kreis  ver- 
standen hat.  Allein  die  vier  übrigen  Stellen,  an  denen  in  dem 
Buche  Apostel  vorkommen  (Vis.  III,  5,  1:  Sim.  IX,  15,  4;  15,  5; 
25,  2),  machen  es  ganz  deutlich,  daß  der  Verfasser  auschließlich 
einen  weiteren,  wenn  auch,  wie  es  scheint,  festen  Kreis  im  Auge 
hat  und  den  Zwölfen  dabei  keine  besondere  Beachtung  schenkt 
(siehe  darüber  und  über  die  Zusammenordnung  von  Aposteln, 
Bischöfen,  Lehrern  und  Diakonen,  bez.  Apostehi  und  Lehrern, 
später).  Ebenso  hat  die  Didache  ausschließlich  einen  weiteren 
Kreis  von  Aposteln  im  Sinn:  sie  will  zwar  selbst,  wie  die  Auf- 
schrift lehrt,  eine  didayi)  y.voiov  d(u  Ton'  iß'  aTiooTohov  sein,  aber 
eben  diese  Aufschrift  deutet  bereits  durch  die  Ilinzufügung  der 
Zahl  an.  daß  das  Buch  noch  andere  Apostel  kennt,  und  es  handelt 
auch  c.  11,  o  —  ()  ausschließlich  von  Aposteln  im  weiteren  Sinn 
(Xäheres  siehe  später). 

(8)  In  dem  Dutzend  von  Stellen,  an  denen  bei  Ignatius  das 
"Wort  Apostel  vorkommt,  findet  sich  keine  einzige,  die  einen 
weiteren  Gebrauch  des  Worts  wahrscheinlich  macht,  dagegen 
mehrere,  an  denen  nur  die  Beziehung  auf  die  Li'apostel  möglich 
ist.  Also  ist  zu  urteilen,  daß  Ignatius  unter  Apostel  lediglich  die 
Zwölfe  imd  Paulus  (s.  Rom.  4,  3)  verstanden  hat*.  L^nsicherer  ist 
die  Entscheidung  bei  Polycarp  (ep.  6,  3;  S,  1);  doch  wird  es  bei 
ihm  schwerlich  anders  stehen  als  bei  Ignatius.  Seine  Gemeinde 
hat  ihm  aber  das  Prädikat  eines  ,. apostolischen  und  prophetischen 
Lehrers''  beigelegt  (Ep.  Smyrn.  lü,  2). 


')  Ol  oavTiCovzF;  amds;  ol  svayys/uaäfiEvoi  /jfuv  rrjv  äqjEaiv  äfiaoTicov  y.(i.l 
zov  äyviGtwv  T»)c  y.aodiag ,  oig  eSoy.ei'  xov  svayye/.lov  zip'  egovalav  —  ovoiv 
Ssfiaövo  etg  jiuotvoiov  tojv  (^i'/.wr,  an  Ssxa^i'O  (fv'/.ul  tov  Yaoa/j/.  —  slg  t6 
Htjovaaew. 

-)  Das  ist  aber  nach  c.  5,  9  bloßer  Zufall. 

')  S.  Dobschütz  in  den  Texten  u.  Unters.  XI,  1.  Jesus  spricht  in 
diesem  Kerygma:  'Eie/.egdfnjv  i^mö?  6  oj 8 ey.a  /ladtjzäg  y.oirag  d^iovg  ifioü  y.a.t 
djiooTÖ/.oi'g  :rtOTOvg  tjyi]oÜ!,ierog  slvai ,  ^rhctcov  i.-rl  tov  y.öofiov  evayye'/.ioao&ai 
Tovg  y.arä  tijv  oiyovith'tjv  dv&oconovg  xx'/.. 

*)  Ignatius  lehnt  an  mehreren  Stellen  die  apostolische  Würde  von  sich 
ab:  das  ist  immerhin  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Möglichkeit  bestand,  ein 
Nicht-Urapostel  könne  doch  ein  Apostel  sein. 

Harn ack,  Mission.    2.  Anfl.  18 


274        Die  i\Iissionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  ili^sion. 

Diese  Übersieh r  ülxu"  den  ältesten  Gebrauch  des  AVortes 
,. Apostel''  zeigt,  daß  eine  doppelte  Auffassung-  nebeneinander 
gestanden  hat,  daß  aber  die  engere  siegreich  vordrangt. 

2. 

Noch  eine  z^yeite  Voruntersuchung  ist  nötig,  bevor  wir  zu 
dem  Thema  dieses  Kapitels  übergehen  können:  Apostel,  Pro- 
pheten und  Lehrer  werden  wir  als  die  christlichen  Missionare  bez. 
als  die  Prediger  kennen  lernen;  es  fragt  sich,  ob  sich  diese 
Trias  aus  dem  Judentum  erklären  läßt. 

Die  Ableitung  aus  dem  Judentum  hat  jedenfalls  daran  ihre 
Schranke,  daß  die  drei  Stände  dort  keine  Trias  gebildet  haben, 
wälirend  die  feste  Zusammenordnung  für  das  Urchristentum 
charakteristisch  ist.  Im  einzelnen  ist  über  jeden  dieser  Stände 
folgendes  zu  bemerken. 

(1)  Apostel-.  Jüdische  Beamte  unter  diesem  Namen  kennen 
wir  erst  seit  der  Zerstörung  des  Tempels  und  der  Einrichtung  des 
palästinensischen  Patriarchats;  allein  es  ist  ganz  imwahrscheinlich, 
daß  es  voi'her  keine  „Apostel"  gegeben  hat;  nach  dem  Auftreten 
der  christlichen  Apostel  werden  die  Juden  schwerlich  sich  Beamte 
mit  dem  Namen  ..Apostel"  geschaffen  haben.  Die  Sache  —  autori- 
tative Beamte,  welche  die  Geldzahlungen  für  den  Tempel  in  der 
Diaspora  einzogen  mid  die  Beziehungen  der  Gemeinden  mit  Jeru- 
salem und  untereinander  aufrecht  erhielten  —  war  jedenfalls  da, 
und  gewiß  aucli  der  Name'^.  Die  Gegenmaßregeln  gegen  die  christ- 
liche Mission,  die  von  Jerusalem  aus  ganz  systematisch  schon  zur 
Zeit  des  Paulus  betrieben  worden  sind,  sind  nach  Justin  (Dial.  17. 
108.  117)  von  den  Hohenpriestern  imd  Lehrern  ausgegangen;  sie 
haben  Männer  (urSoag  yeiooTrnn'jonvT^g  exhxTovg)  in  alle  Welt  ge- 

')  Daß  andere  Personen  als  die  büdischen  Apostel  oder  die  in  der  Bibel 
, Apostel"  genannten  noch  als  „Apostel"  bezeichnet  werden,  wird  im  Laufe 
des  2.  Jahrhunderts  immer  i^eltener.  Clemens  Romanu.s  ist  von  Clemens  Alex, 
so  genannt  worden  (Strom.  IV,  17,  105; ;  auch  Quadratus  heißt  einmal  Apostel. 

-)  Der  klassische  (attische),  sehr  eingeschränkte  Gebrauch  des  Worts  ist 
bekannt  (Herod.  I,  21,  V.  88:  ein  Abgesandter;  Hesychius:  ä.-rooTokog-  oroanjyö^ 
y.arä  :t}.ovv  .Tf/^.To/<s)'Os).  lu  der  LXX  kommt  das  Wort  nur  I  Kon.  14,  6  vor 
(der  Prophet  Ahia  wird  so  genannt;  im  Hebräischen  steht  mVi).  Justin  muß 
sich  auf  ä-TooTH/leiv  berufen,  um  zu  beweisen,  daß  die  Propheten  im  Alten 
Testament  iL-tooto/.oi  heißen  (Dial.  75).  Josej^hus  nennt  den  Varus,  das  Haupt 
einer  jüdischen  Ge.sandtschaft .  die  nach  Kom  ging,  „oui6azo?.og  nhötv" 
(Antiq.  XVII,  11,  1).  Der  klassische  Sprachgebrauch  erklärt  den  jüdisch- 
christlichen  nicht.  Also  ist  es  wahrscheinlich ,  daß  o..-röoio/.og  auf  jüdischem 
Boden  die  technische  Bedeutung  „der  Gesandte"  erhalten  hat. 

^)  Hätte  Paulus  II  Cor.  8,  23  und  Philipp.  2,  25  von  „Aposteln"  ge- 
sproclien,  wenn  das  Judentum  keine  Apostel  gekannt  hätte? 


Die  christlichen  Missionare.  275 

sandr,  die  den  Mahren  Bericht  über  Jesus  und  seine  Jünger  geben 
sollten,  also  „Apostel'"'  S  bez.  sie  haben  die  den  Verkehr  Jerusalems 
mit  der  Diaspora  aufrecht  erhaltenden  „Apostel"  mit  jener  Auf- 
gabe betraut '■^. 

Daß  wir  die  von  Justin  gekennzeichneten  und  auserwählten 
Männer  mit  den  „Aposteln"  zu  identifizieren  haben,  das  bezeugt 
uns  Eusebius  (in  Jes.  IS,  1  f.).  Die  Stelle  ist  bereits  oben  (S.  51) 
abgedruckt  worden,  mag  hier  aber  um  ihrer  Wichtigkeit  willen 
noch  einmal  stehen:  evoofiev  iv  roi^  tcov  nalaiMv  ovyyguu^uaoiv, 
o3s  Ol  TrjV  'Ie.oovoa/.}jjit  oiy.ovvxeg  rov  T(7n'  'lovöauor  edvov?  leoelg  xai 
Tioeoßvxeooi  yoduuaca  dia'/aouiavreg  eig  jidvia  öieTTeiapavxo  rä  edv}] 
ToJg  aTiavTcr/ov  "lovdaioig  diaßu/J.ovTeg  r7]v  Xotorov  ÖtdaoyJuav  d)g 
ai'oeon'  xairiji'  y.al  äXXorQiav  rov  &eov,  Tiao/jyye/.Äöv  ts  dt  i7noToÄ(7)v 
jiir]  Jiagade^aoüai  avT)]v  .  .  .  .  oi  te  aTiooxoloi  aurcbv  imoro/Mg 
ßißUvag  y.OjUiCojuevoi^  .  .  .  anavxayov  yi]g  öiexos/ov,  xov  Jiegl  rov 
oojxrjoog  yiicov  IvÖiaßdkXovxeg  loyov.  UTioaxakov g  de  erohi  y.al 
vvv  [also  war  es  keine  neue  Institution]  e&og  ioxlv  'lovdaioig  ovo- 
uäQeiv  xoig  lyy.vy.ha  yQaixfxaxa  nuqd  rcbv  äoyovxcov  avxcör  E7iiy.0f.ii- 
QoiiEvovg.  Bei  den  jüdischen  „Aposteln"  seiner  Zeit  hebt  also 
Eusebius  als  Hauptfunktion  diese  hervor,  daß  sie  enzyklische  brief- 
liche Anweisungen  von  der  Zentralstelle  aus  in  die  Diaspora  zu 
tragen  haben.  Es  ist  nicht  verwunderlich,  daß  in  dem  Rechtsbuch 
(Theodosianus  Codex  XVI,  S,  14)  eine  andere  Seite  hervorgehoben 
wird:  „Superstitionis  indignae  est,  ut  archisynagogi  sive  presbyteri 
Judaeorum  vel  qnos  ipsi  apostolos  vocant,  qui  ad  exigendum 
aurura  atque  argentum  a  patriarcha  certo  tempore  diriguntur  etc." 
Dieselbe  Seite  hebt,  wie  der  Zusammenhang  lehrt,  Julian,  ep.  25 
(Hertlein  p.  513)  hervor,  indem  er  von  der  /.EyojtiEV)]  nao^  vijXv 
äiiooxoX))  spricht.  Hieronymus  (ad  Gal.  1,1)  sagt  nur:  „Üsque  hodie 
a  patriarchis  Judaeorum  apostolos  mitti".  Sehr  viel  mehr  erfahren 
wir  von  Epiphanius;  er  spricht  haer.  30,  4  von  einem  gewissen 
Joseph  und  schreibt:  ovxog  jöw  Txao  avxoig  ä^uouaxry.cöv  ävdocöi' 
Evaoiduiog  ijv.  eIo'i  dt  u^xoi  jUExä  xbv  7iaxoido-/j]v  dnooxoXoi  y.aXov- 
jUEvoi,  jxoooEÖQEvovot   ök   xoj  naxoido/j]    y.al   ohv  avxM   Tiolkdxig  y.al 


^)  Die  Stellen  sind  oben  (S.  51)  abgedruckt.  Das  /etooTov/jcim-Te;  weist 
auf  den  .Apostolat",  s.  Act.  13,  3. 

-|  Über  diesen  Verkehr  s.  u.  a.  Act.  28,  21:  ovte  yoäauaia  .isol  aov 
efti'iafteda  0.710  rr];  lovöaiag  —  sagen  die  römischen  Juden  in  bezug  auf 
Paulus  —  OVIS  n:aoayEv6uev6g  Tig  röJv  ade'/.cfon'  djTt'/yyEi/.sv.  Hierher  gehören 
auch  die  II  Cor.  8,  1  erwähnten  E:iioro).ai  ovararixaL 

^)  Bezieht  sich  nuf  Jes.  18,  1.2,  wo  die  LXX  lesen:  oval  .  .  .  6  djro- 
gteV.wv  ev  ■daläoo})  6'/,itjoa  y.al  ijziazo/.äg  ßißUvag  ijidvco  rov  vöato; ,  wo  aber 
Symmachus  für  o/ii7]oa  vielmehr  d.-ToaT6?.ovg  bietet.  Eusebius  bezieht  also 
diese  Stelle  auf  die  falschen  jüdischen  ,  Apostel",  die  Worte  .-tooeioovrai  yäg 
ayy£?.oi  y.ovcpoi  y.i'/..  auf  die  wahren  Apostel. 

18* 


270       Die  Missionare;  Modalitüten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

^'j'  vvy.Ti  y.al  et'  fjfieoa  ovyf/Mg  didyovni,  öia  to  ovfißov/.even'  xal 
avu(f  Eoeiv  avTOj  tu  y.ma  löv  vöfiov,  mul  c.  1  !  erzählt  er,  wann 
(lieser  Joseph  „Apostel"  geworden  sei  (die  evxaojria  rrjg  äjTooToh~]g 
erhalten  habe),  nnd  fährt  dann  fort:  y.al  juct'  ejnoToXöjv  omog 
änooTekkerai  eJg  7i]v  Ktlixarv  yfjr.  ög  ävekdcov  ixelae  unb  ey.nm}]g 
jiuAecog  Tj)s  Ki/uyJag  rä  liridexaTa  xal  rag  äjiaoyug  Tiaga  tcov  h  rfj 
ETiaoyia  'lovdaicov  eloeTioajjev  ....  tTiel  ovr,  oia  ajiooTo/.og  (ovrojg 
yag  nao'  amoTg,  cog  trp7]v,  t6  äiicojna  xakeTrai),  i/ußgiäeoraTog  xal 
y.adaoevcüv  drj{^sv  tu  eig  y.UTuoTuoiv  evvofiiag,  ovToyg  ijinsÄelv 
TiQoßaXlöjxevog,  noXkohg  tojv  xuxojv  xaTUOTa&evTCOv  uoyjovva- 
yc'jycov  xal  legiorv  xal  nQEoßvTeoayv  xal  ä^aviTCÖv  .  .  .  xa^aioöjv  ts 
xal  jusTaxircov  tov  u^icoi^iUTog  vjib  ttoX/mv  Ivsxotsito  xt}.. 

Faßt  man  diese  Fnnktionen  der  „Apostel"  zAisammen^,  so 
ergibt  sich,  (1)  sie  waren  geweihte  Personen  nnd  nahmen  einen 
sehr  hohen  Rang  ein,  (2)  sie  wurden  abgesandt  in  die  Diaspora, 
um  den  Tribut  für  die  Zentralstelle  einzuholen,  (3)  sie  brachten 
enzyklische  Briefe  dorthin,  hielten  den  Zusammenhang  mit  dem 
Mittelpunkt  aufrecht,  berichteten  über  die  Intentionen  der  Zentral- 
stelle bez,  des  Patriarchen,  hatten  Ordre  in  bezug  auf  gefährliche 
Bewegungen  und  sollten  ihre  Bekämpfung  veranlassen,  (4)  sie 
übten  in  der  Diaspora  eine  gewisse  Aufsich ts-  und  Disziplinar- 
gewalt aus,  (5)  sie  bildeten,  in  die  Heimat  zurückgekehrt,  eine 
Art  von  Ratsversammlung  für  den  Patriarchen,  welche  mit  ihm 
über  dem  Gesetze  wachte. 

Pliernach  kann  man  schwerlich  einen  gewissen  Zusammenhang 
der  christlichen  Apostel  mit  diesen  jüdischen  leugnen.  Nicht  nur 
feindlich  hat  Paulus  imd  haben  andere  mit  ihnen  zu  tmi  gehabt^, 
vielmehr  kommt  der  Institution  selbst  etwas  Vorbildliches  für  den 
christlichen  Apostolat  zu,  so  groß  auch  wiederum  die  W^rschieden- 
heiten  sind.  Sind  sie  nicht  zu  groß?  Die  jüdischen  Apostel  sind 
doch  finanzielle  Beamte!  Nun,  in  dem  Moment,  in  welchem  die 
Urapostel  l*aulus  als  A])ostel  anerkennen,  machen  sie  ihm  auch 
eine  finanzielle  /Vuflage  (Gal.  2,  10)  —  er  soll  für  die  jerusalemische 
Gemeinde  überall  in  der  Diaspora  sammeln!  Welche  Bedeutung 
Paulus  dieser  Seite  seiner  Tätigkeit  von  da  an  beigelegt  hat,  ist 
bekannt;    bildete    sie    doch    einen  Hau])tgegenstand   seiner   unauf- 

*)  Inschrif'tlich  wind  die  Apostel  bisher  einmal  nachgewiesen,  nämlich 
zu  Venosa  auf  der  Grabschrift  eines  Hjiihrigen  Mildchens:  „quei  dixerunt 
trenus  duo  apostuli  et  duo  rebbites  (Hirschfeld,  Bullet,  dell  Instit.  di 
corrisp.  archeol.  1867  p.  152). 

-)  Aber  ist  nicht  Paulus  selltst,  bevor  er  (.'hrist  wurde,  ein  jüdischer 
„Apostel"  gewesen V  Er  trug  Briefe  gegen  die  Christen  in  die  Diaspora  und 
hatte  sich  eine  gewisse  Disziplinargewalt  vom  Hohenpriester  und  Synedrium 
übertragen  lassen;  s.  .\ct.  8,2;  22,  4  f. ;  26,  10  f  Diese  Angaben  sind  genau  7,u 
erwägen. 


Die  cliristlicbon  Missionare.  277 

hörlicbcn  Sorge,  trotzdem  sie  ihn  in  die  größten  Wider\Yärtigkeiten 
und  zuletzt  in  den  Tod  geführt  hat.  Es  ist  an  sich  nicht  leicht 
verständlich,  wie  ihm  die  Xlrapostel  gerade  diese  Auflage  machen 
konnten  und  er  sie  ruhig  hinzunehmen  vermochte.  Es  wird  aber 
verständlich,  sobald  man  annimmt,  die  jerusalemische  Gemeinde 
samt  den  üraposteln  habe  sich  als  die  christliche  Zentralstelle 
betrachet  und  zugleich  als  die  Vertretimg  des  wahren  Israel;  eben 
deshalb  habe  sie  den  Aposteln,  die  sie  anerkannte,  eine  ähnliche 
YerpHichtung  auferlegt,  welche  den  jüdischen  „Aposteln"  zukam, 
nämlich  den  „Tribut"  in  der  Diaspora  einzusammeln.  Paulus  wird 
das  selbst  wohl  etwas  anders  aufgefaßt  haben,  aber  daß  die  Ur- 
apostel  es  so  auffaßten,  ist  recht  wahrscheinlich.  Dann  aber  ist 
der  Zusammenhang  zwischen  jüdischem  und  christlichem  Apostolat, 
der  auch  sonst  bei  aller  Yerschiedenheit  schwerlich  zu  leugnen  ist, 
sehr  wahrscheinlich^. 

Diese  x^usführungen  über  die  jüdischen  Apostel  sind  von  Monnier, 
a.  a.  0.  p.  16ft'.  bestritten  worden.  ,Pour  appuyer  sa  theorie,  Harnaek  prend 
uo  texte  de  Justin,  et  il  le  fortifie  par  un  texte  d'Eusebe.  Ainsi,  il  prouve 
Texistence  dune  institution  du  premier  siecle  par  un  texte  du  second,  et  il 
iuterprete  ce  texte  a  l'aide  d"un  ecrivain  du  quatrienie!  C'est  trop  facile." 
Aber  es  ist  noch  leichter,  hinter  solch  einer  blendenden  Abstraktion  die 
Gründe  verschwinden  zu  lassen,  die  es  in  diesem  Falle  gestatten  und  nahe 
legen,  das  Zeugnis  des  Justin  durch  das  des  Eusebius  zu  erläutern  und 
wiederum  mit  jenem  Zeugnis  das  zu  verbinden,  was  wir  über  die  antichrist- 
liche Mission,  die  von  Jerusalem  aus  getrieben  wurde,  und  über  Pseudapostel 
im  Zeitalter  des  Paulus  wissen.  Daß  wir  kein  direktes  Zeugnis  dafür  be- 
sitzen, daß  die  jüdischen  Emissäre,  wie  Saulus  einer  war,  im  1.  Jahrhundert 
tlen  iS'amen  ..Gesandte"  führten,  habe  ich  nicht  verschleiert. 

(2)  Propheten.  Die  vulgäre  Meinung  ist,  Propheten  seien 
im  Zeitalter  Jesu  und  der  Apostel  im  Judentum  längst  ausgestorben 
gewesen;  allein  das  neue  Testament  selbst  protestiert  gegen  diese 
irrige  Ansicht.  Yor  allem  aber  ist  auf  Johannes  den  Täufer  hinzu- 
weisen, der  gewiß  ein  Prophet  war  und  auch  so  bezeichnet  wird, 
ferner  auf  die  Prophetin  Hanna  (Luc.  2,  36),  auf  den  jüdischen 
Propheten  Barjesus  in  Cypern  bei  dem  Proconsul  (Act.  13,  7)  und 
auf  die  \Yarnungen  vor  Pseudopropheten'-.  AYeiter  aber:  von  den 
Essenern  wird  berichtet,  daß  sie  die  Gabe  der  Prophetie  besessen 


')  Ob  auch  die  Johannesjünger  (der  engere  Kreis  des  Täufers,  der  nach 
dem  Bericht  der  Evangelien  durch  Fasten  und  besondre  Gebete  zusammen- 
gehalten war)  „Apostel"  besaßen,  wissen  wir  nicht;  sicher  ist  nur,  daß  sie 
auch  in  der  Diaspora  (vielleicht  in  Alexandrien  Act.  18,  24  tf.,  jedenfalls  in 
Ephesus  Act.  19,  1  ft'.)  Anhänger  hatten.  Apollo  ist  vielleicht  ursprünglich 
ein  berufsmäßiger  Missionar  der  johanneisch-täuferischen  Bewegung  gewesen; 
doch  ist  die  Apostelgeschichte  in  bezug  auf  diese  ganz  besonders  übermalt 
und  unklar. 

-;  S.  Matth.  7,  15;  "24,  11.  25  (Marc,  lo,  22);  I  Joh.  4,  11;  II  Pet.  2,  1. 


27S       r»ie  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mis.-<ion. 

habend  von  Thoiulas  lieißt  es:  ,,7Toorf)'jTrjg  e'Afyev  elvcu'-^-.  ebenso 
vom  „Ägypter'''^:  Joscplius,  der  Goschichtsschreibcr,  npielre  sich 
fVirinlicli  und  mit  Glück  als  Prophet  Yespasian  gegenüber  auf-^; 
J'hilo  nannte  sich  einen  Propheten:  von  jüdischen  Tranmdeutern 
imd  Zanberproi)heten  in  der  Diaspora  hiiren  wir'".  Aber  Avas  mehr 
als  dies  alles  sagen  will  —  die  Fülle  der  jüdischen  Apokalypsen, 
Orakelsprüche  und  dergleichen  aus  jener  Zeit  zeigt,  daß  die  Pro- 
phetie.  weit  entfernt  ausgestorben  zu  sein,  in  üppigster  Blüte  stand, 
und  daß  Propheten  zahlreich  waren  und  Anhänger  und  Leser 
fanden.  Für  sehr  weite  Kreise  im  Judentum  muß  es  gar  nichts 
Auffallendes  geliabt  haben,  daß  ein  Prophet  auftrat:  Johannes  der 
Täufer  und  Jesus  wurden  ohne  weiteres  als  Propheten  begrüßt. 
Auch  an  die  bevorstehende  AViederkehr  alter  Propheten  glaubte 
nian'^.  Der  christliche  Prophetismus,  wie  er  von  Anfang  an  erweckt 
VN'urde,  war  somit,  formal  betrachtet,  nichts  Xeues.  sundern  eine 
Erscheinung,  die  sich  ähnlichen  und  gleichzeitigen  Erscheinungen 
im  Judentum  einfach  zuordnet.  Auch  die  hohe  Schätzung  der 
Propheten  dort  und  hier  ist  etwas  Selbstverständliches;  sie  sind 
ja  Gottes  Stimme;  sind  sie  also  als  echte  Propheten  anerkannt, 
so    ist   die    Autorität   ihrer   Predigt    und   ihrer   Anv>'eisungen   eine 


■)  S.  Josepbus,  Belhim  I.  3.  5;  II,  7,  3;  IJ,  8,  VI;  Antiq.  X!I1,  11,  2; 
XV,  10,5;  XVII,  3,3. 

^)  Joseph..  Antiq.  XX,  5.  1. 

3)  Act.  21,  38;  Joseph.,  1.  c.  XX,  8,  0;  Bellum  II,  Vi.  5. 

*)  Bellum  III.  8,  Jt,  cf.  Sueton,  Vesp.  b  und  Cassius  Dio  LXVI,  1. 

^)  Vgl.  Hadrian.  ep.  ad  Servian.  (Vopisc.,  Saturn.  8).  —  Nicht  berufen 
darf  man  .sich  natürlich  auf  das  Evang.  Pseudo-Matthaei  c.  13  („et  prophetae 
qiii  fuerant  in  Jerusalem  dicehant  haue  stellam  indicare  nativitatem  Christi"'); 
denn  die  Worte  sind  nur  eine  späte  Paraphrase  des  echten  Matthäus. 

")  Gewiß  ist,  daß  die  8adducäer  von  Propheten  nichts  wissen  wollten, 
und  daJ.^  bei  einem  Teile  der  strengen  Gcsetzesheobachter  neben  dem  Gesetz 
nichts  mehr  aufkommen  konnte.  Daß  auch  die  Priester  und  ihre  Partei 
Propheten  nicht  gelten  ließen,  ist  selbstverständlich,  t^ine  halboffizielle  oder 
offizielle  Lehre  muß  es  (nach  dem  Abschluß  des  Kanon)  bei  den  Synedristen 
gewesen  sein,  daß  die  Propheten  abgeschlossen  seien  (s.  Psalm  74,  9:  rä 
orjuda  tjfu'n'  ory.  eI'Öoiiev,  ovx  Iöto'  aV«  :ToorjyT}]g,  xui  i'/ttä.;  ov  yvcoaszac  eri  und 
vgl.  I  Macc.  4,  40;  9,27;  14,41),  und  diese  Überzeugung  kam  auch  in  die 
Kirche  (s.  Murat.  Fragm.:  „prophetae  completo  numero"  u.  a.  St.").  Das  Buch 
Daniel  ist  nicht  mehr  zu  den  Propheten  gestellt  worden,  und  die  späteren 
Apokalypsen  konnten  überhaupt  nicht  mehr  rezipiert  werden.  Die  „Diadoche 
der  Projjheten"  sei  abgerissen,  behauptet  Josephus,  gewiß  eine  verbreitete 
Meinung  wiedergebend  (c.  Apion.  I.  8,  s.  auch  Euseb.,  h.  e.  III.  10,  4:  «.tö  de 
'Aoza^to^ov  in/fji  rov  y.aiT  i'/fiäg  yoüvor  ytyita-rrui  iiiv  inaöTa ,  :TioTFcog  (V  o)'/_ 
ofiocug  y^i'roTd.i  roTg  jr^iö  auröjr ,  ()  i  ä  tu  /i  ij  yeviod  ui  r)]v  röiv  tt  ooff  7]T(Jöv 
(ly.oiß)}  <)t((()o/7'j7').  Julian  c.  Christ.  198  C:  tÖ  Jiao'  'Eßgaioig  [.ynorpijriy.ov 
:Tveviiu]  fny'/.inn'.  Allein  wenn  auch  die  Kette  der  „kanonischen"  Projiheten 
schon  vor  d<'m  Auftreten  Jesu  abgerissen  war.  l)rauchte  deshalb  nicht  die 
Prophetie  in  jedem  Siini  erloschen  zu  sein. 


Die  christlichen  Missionare.  279 

imbedingto.  Solchen  traute  man  auch  nicht  nui-  Wunder  zu, 
sondern  hielt  sie  für  selbstverständlich.  Sof^'ar  daß  ein  l'rophet 
durch  Gottes  Kraft  von  den  Toten  auferstehen  könne,  erschi(;ii 
g-laublich:  so  haben  Herodes  und  ein  T(m1  des  Volkes  <;-enieint, 
Jesus  sei  der  wiedererstandene  Johaiuies  der  Täufer  (vg-l.  auch 
Apoc.  .loh.  II,  11)^ 

{?>)  Lehrer.  Welche  Bedeutung-  die  »Schriftgidehrten  und 
Lehrei"  im  jüdischen  Yolke,  zumal  in  Palästina,  besaßen,  darüber 
braucht  man  kein  Wort  zu  verlieren;  aber  wichtig  ist  es,  um  das 
Ansehen  geschichtlich  zu  erklären,  welches  die  christlichen  Stöd- 
GxaXoi  forderten  und  genossen,  auf  das  Ansehen  der  jüdischen 
Lehrer  zu  verweisen.  „Von  seiten  ihrer  Schüler  forderton  die 
Rabbinen  die  unbedingteste  Ehrerbietung,  welche  selbst  die  Ehr- 
furcht gegen  Vater  und  Mutter  übertreffen  sollte."  „Die  Ehre 
deines  Freundes  grenze  an  die  Achtung  vor  deinem  Lehrer,  und 
die  Achtimg  für  deinen  Lehrer  an  die  Ehrfurcht  vor  Gott."  „Die 
Ehrerbietung  gegen  den  Lehrer  geht  der  Ehrerbietung  gegen  den 
Vater  vor;  denn  Sohn  und  Vater  sind  dem  Lehrer  Ehrerbietung 
schuldig."  „Wenn  jemandes  Vater  und  Lehrer  etwas  verloren 
haben,  so  geht  der  Verlust  des  Lehrers  vor;  denn  sein  Vater  hat 
ihn  nur  in  diese  Welt  gebracht;  sein  Lehrer,  der  ihn  Weisheit 
lehrt,  bringt  ihn  aber  zum  Leben  in  der  zvikünftigen  AVeit.  Tragen 
jemandes  Vater  und  Lelirer  Lasten,  so  muß  er  zuerst  dem  Lehrer 
und  hernach  dem  Vater  abhelfen.  Sind  Vater  und  Lehrer  in  der 
Gefangenschaft,  so  muß  er  zuerst  den  Lehrer  loskaufen."  Über- 
haupt machen  die  Rabbinen  überall  auf  den  ersten  Rang  An- 
spruch. „Sie  lieben  die  ersten  Plätze  bei  den  Gastmählern  und 
die  ersten  Sitze  in  den  Synagogen  und  haben  es  gerne,  daß  sie 
gegrüßt  w^erden  auf  den  Märkten  und  von  den  Menschen  Rabbi 
genannt  werden"  (Matth.  23,  6  f.  cum  parall.).  Auch  ihre  Tvleidung 
war  die  der  Vornehmen-." 

Es  sind  also  die  drei  Elemente  der  christlichen  Trias  „Apostel, 
Propheten,  Lehrer"  im  gleichzeitigen  Judentum  vorhanden  gewesen, 
und  die  Schätzung  jedes  einzelnen  Standes  war  eine  hohe,  aber 
zusammengeordnet  sind  sie  nicht  worden  (wären  sie  es,  so  hätten 
die  Propheten  weit  voran  stehen  müssen).  Die  Zusammenordnung 
und   die   besondere  Ausbildung   des  Apostolats   ist   ein  originales 


')  Sehr  merkwürdig'  ist  das  Wort  Jesu,  daß  alle  Propheten  und  das 
Gesetz  bis  Johannes  geweissagt  haben  (Matth.  11.  13):  er  scheint  also  —  wohi 
um  des  nahen  Endes  willen  —  an  das  Aufhören  der  Prophetie  gedacht  zu 
haben.  Allein  der  Spruch  läßt  auch  eine  Deutung  zu,  nach  welcher  das 
Aufhören  der  Prophetie  nicht  ins  Auge  gefaßt  ist. 

2)  Schürer,  Gesch.  des  jüd.  Volkes  IP  S.  317  f. 


2S0       Die  Missionare ;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Werk  der  christlichen  Gemeinde,  ^yclches  die  größten  Folgen  ge- 
habt hat. 

3. 

Indem  wir  die  Untersuchung  über  die  Missionare  mid  Lehrer 
in  Angriff  nehmen,  setzen  wir  bei  der  Didache  (Apostellehre)  ein^. 

In  dem  4,  Kapitel  der  Didache,  in  welchem  der  Verfasser  die 
besonderen  Pflichten  der  Christen  als  Gflieder  einer  Gemeinde 
zusammengefaßt  hat,  ist  als  erstes  Gebot  die  Ermahnung  voran- 
gestellt; TeKVOV  juov,  Tov  kaXovvTo;;  ooi  rbr  köyov  jov  deoT'  fivi]o&/]ojj 
vvy.Tog  y.nl  yuegag,  Tifi/joeig  de  aviov  cbg  xuqiov  6&ev  yag  y  y.vQiOTi]^ 
hüelrfu,  sxeT  HVQiög  eoTiv^.  Das  ganze  Buch  aber  —  namentlich 
das  c.  15  über  die  Episkopen  und  Diakonen  Gesagte  —  zeigt, 
daß  der  Verfasser  nur  eine  Klasse  von  Gelehrten  in  den  Ge- 
meinden kennt,  nämlich  lediglich  diejenigen,  welche  das  Wort 
Gottes  verkündigen,    in   ihrer  Eigenschaft   als  niinistri  evangelii^. 

Wer  aber  sind  die  XaXovvieg  rör  Aoyov  tov  deov  nach  der 
Didache?  Nicht  ständige,  gewählte  Beamte  einer  Einzelgemeinde, 
sondern  zunächst  freie  Lehrer,  die  auf  ein  göttliches  Mandat  oder 
Charisma  ihren  Beruf  zurückführten.  Unter  ihnen  werden  (l) 
Apostel,  (2)  Propheten,  (o)  Lehrer  unterschieden.  Diese  Prediger 
sind  z.  Z.  des  Verfassers  der  Didache  und  für  den  Kreis  der  Ge- 
meinden, die  er  kennt,  erstens  die  berufsmäßigen  Missionare  des 
Evangeliums  (die  Apostel),  zweitens  die  Träger  der  Erbauung, 
also  die  geistlichen  Stützen  des  Lebens  der  Gemeinden  (die  Pro- 
pheten und  Lehrer)*. 

(1)  Sie  sind  nicht  von  den  Gemeinden  gewählt:  denn 
nur  in  bezug  auf  die  Bischöfe  und  Diakonen  heißt  es  (15,1): 
XeigoTorijoaTi-  favToTg  ijrioy.ojTOvg  y.al  diaxuvovg.  Dagegen  liest 
man  I  Cor.  12,  2b:  xal  ovg  juh  e'Dero  6  deog  h>  ri]  ry.xhjoia  TfQtorov 
änooT(')/.ovg,   Ösvtsqov  jroocfi'jiag,  tqItov  öiÖaayAXovg  (cf.  Ephes,  4,  1  l : 

>)  Im  folgenden  ist  der  Abschnitt  S.  'So  fi".  meiner  großen  Ausgabe  (1884) 
benutzt. 

^)  Man  vgl.  die  Schätzung  der  Lehrer  bei  den  Juden,  wie  sie  oben  an- 
gegeben worden  ist.  Barnabas  (19,  9.  10)  schreibt  an  der  der  Didache  par- 
allelen Stelle:  aya:;i))aEi<;  mc:  y.öqrjv  tov  öqyOa}.(i.ov  oov  jiävTa  tov  hi^.ovvTd  aot 
tüv  h'iyov  y.vQiov,  livrjoO/jO))  {jjiFQav  XQiascag  vvxxog  xal  ij/iega?- 

^)  Auch  der  Verf.  des  Hebräerbriefs  (IB,  7)  charakterisiert  die  „fjyov/isroi" 
durch  die  nähere  Bestimmung:  oaiveg  el6.h]oav  vf-ilv  tov  ?.6yov  tov  OeoP.  Der 
Ausdruck  ,,yyov/(yyoi",  ,,jTQoyyov/isvoi"  (s.  auch  Hebr.  l;i,  17)  —  besonders  in 
der  römischen  Gemeinde  üblich,  aber  auch  sonst  zu  ßnden  —  ist  in  der 
älteren  Zeit  nicht  technisch  gewesen ;  daher  ist  es  im  einzelnen  Fall  oft  nicht 
möglich,  sicher  zu  bestimmen,  wer  unter  ihm  verstanden  werden  soll,  die 
Lehrer  oder  die  Bischöfe. 

^)  In  zweiter  Linie  gehören  nach  c.  lö  auch  die  Bischöfe  und  Diakonen 
hierher,  sofern  sie  an  Stelle  der  l'ropheten  und  Lehrer  durch  das  Wort  die 
Gemeinde  erbauen. 


Die  christlichen  Missionare.  281 

^al  nvTog  edcoy.sr  Tovg  /ih'  änoaroXovs,  Tovg  de  TiQocpifjrac;,  rohg  ök 
evnyyeXiorug,  rohg  ()i-:  Tjoiuivag  xal  diöaoxdXovg).  Wie  diese  gött- 
liche Bestellung"  in  bezug  auf  die  Apostel  zu  denken  ist.  davon 
gibt  die  alte,  in  Act.  lo  aufgenommene  Urkunde  eine  gute  Vor- 
stellung. Dort  heißt  es,  daß  die  in  der  Gemeinde  zu  Antiochien 
Avohnenden  fünf  Propheten  und  Lehrer  (Barnabas,  Simeon,  Lucius, 
Menaen,  Saulus)  nach  Gebet  und  Fasten  die  Weisung  vom  heiligen 
Geist  erlialten  hätten,  den  Barnabas  und  Saulus  als  Missionare 
<l.  h.  als  Apostel  auszusenden^.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  auch 
in  anderen  Fällen  sich  die  Apostel  auf  eine  solche  außerordent- 
liche Berufung  bezogen  haben  ^.  Die  Propheten  hatten  ihre 
Legitimation  an  ihrer  in  der  Form  einer  Botschaft  des  heiligen 
Geistes  vorgetragenen  Verkündigung,  sofern  sich  dieselbe  als 
geisteskräftig  erwies.  AVas  aber  die  Lehrer  betrifft,  so  läßt  sich 
nicht  bestimmt  feststellen,  auf  welche  Weise  man  als  solcher  an- 
erkannt wurde.  Jedoch  scheint  Jacob.  3,  1  einen  Fingerzeig  zu 
geben.  Dort  heißt  es:  Mi]  ttoXXoi  öiÖdoxaXMi  yiveode,  eidoreg  öti 
juelCov  xQifia  k^j/iy^'öfieda.  Hieraus  geht  hervor,  daß  Ijchrer  zu 
werden  Sache  eines  persönlichen  Entschlusses  —  natürlich  auf 
Grund  eines  Charismas,  dessen  man  sich  bewußt  war  —  gewesen 
ist.  Auch  der  Lehrer  galt  als  einer,  der  zu  diesem  Berufe  den 
heiligen  Geist  empfangen  habe^;  ob  er  aber  ein  wahrhaftiger 
Lehrer  sei  (Did.  13,  2),  das  hatten  die  Gemeinden  ebenso  festzu- 
stellen wie  die  Wahrhaftigkeit  der  Propheten  (11,  II  ;  13,1).  Aber 
sie  konstatierten  nur  das  Vorhandensein  eines  göttlichen  Auftrags, 
übertrugen  also  nicht  im  entferntesten  damit  ein  Amt.  Übrigens 
bildeten  die  besonderen  und  schweren  Verpflichtungen,  die  die 
Apostel  und  Propheten  zu  erfüllen  hatten  (s.  u.),  in  der  Pegel  eine 
natürliche  Schranke,  sodaß  nicht  allzuviele  Unberufene  sich  in 
das  Predifft-  und  Missionsamt  eindrän2:ten. 


')  Die  Aussendung  erscheint  ganz  als  ein  Werk  des  h.  Geistes  selbst: 
äqpogiaare  8i)  fioi  xov  BaQvdßav  xal  ^avlov  elg  ro  sgyov  o  jTOoaxexXtjfiai  avxovg, 
spricht  der  Geist.  Die  also  Aufgeforderten  handeln  lediglich  als  ausführende 
Orgaue. 

-)  Timotheus  ist  in  den  Timotheusbriefen  als  „Evangelist"  vorgestellt, 
d.  h.  als  Apostel  zweiter  Ordnung,  aber  deshalb  auch  als  Träger  eines  charisma- 
tischen Amts.  Infolgedessen  heißt  es  —  ganz  wie  in  Act.  13  —  I,  1.  18: 
ravT7]v  zijv  jiagayysXuav  jzagaTi&sfiai  ooi,  texvov  Tifio&ss ,  Piarä  rag  jrgoayovaag 
sjil  as  jiQoqujTEiag ,  und  4,  14:  /lij  ajielfi  rov  ev  ool  yagloi^iaiog,  o  t-8ö&)j  aoi  ()iä 
jTOoq)i]Z£('ag  [/lerä  ijnßsaacog  rcov  yeiQwv  zov  jigsaßviegtov]. 

^)  Das  kann  man  vielleicht  schon  aus  I  Cor.  14,  26  schließen,  wo  öiöayjj 
ueben  a:joxälvifHg  steht ;  ganz  klar  wird  es  aus  dem  Hirten  des  Hermas, 
•erstens  weil  er  ajiöoioloi  und  SidäaxaXoi  überall  zusammenordnet,  zweitens 
weil  er  Sim.  IX.  25.  2  von  den  Aposteln  und  Lehrern  schreibt:  didäiavieg 
ae/.ivüjg  xai  äyröjg  rov  löyov  rou  {ffov  ....  y.aOojg  xal  TrageAaßoi'  ro  jirsv/ita 
ro  äyiov. 


2S2        Die  Missionare;  ^Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

(2)  T)io  l'n  to  rschoi  dunc^  ,.  Aposfel.  Propheten  und 
Lehrer''  ist  eine  uralte  und  in  der  ältesten  Zeit  der 
K i r c h e  all y e m eine  gewesen.  Der  Verfasser  der  Didache  setzt 
voraus,  daß  allen  Gremeinden  Apostel,  Propheten  und  Lehrer  be- 
kannt sind.  C.  11.  17  erwähnt  er  die  Propheten  besonders,  c.  12,  3 f. 
nennt  er  Apostel  und  Propheten,  c.  13,  1.  2  und  15,  1.  2  aber 
Propheten  und  Lehrer  zusammen  (niemals  Apostel  und  Lehrer: 
anders  Hermas).  Hieraus  folgt,  daß  die  Reihenfolge  „Apostel, 
Propheten,  Lehrer"  in  seinem  Sinne  ist.  und  daß  unter  gewissen 
Gesichtspunkten  die  Propheten  eine  Kategorie  mit  den  Aposteln 
gebildet  haben,  während  sie  unter  anderen  Gesichtspunkten  zu 
den  Lehrern  gestellt  werden  mußten  (s.  u.j.  Die  Reihenfolge  ist 
mit  der  von  Paulus  (I  Cor.  12.  2S)  angegebenen  identisch:  somit 
ist  ihr  Ursprung  bis  in  die  fünfziger  Jahre  des  I .  Jalirhunderts 
hinaufzuführen,  ja  mit  Sicherheit  in  eine  noch  frühere  Zeit:  denn 
wenn  Paulus  sagt:  ovg  fdv  l'd^To  6  ßeög  iv  Tfj  iy.x/jjoirt  Tcoänov 
aTiooTo/.ovg  ktI.,  so  hat  er  zweifelsohne  eine  Einrichtung  in  der 
Kirche  im  Auge,  die  für  die  judenchristlichen  Gemeinden,  die 
ohne  sein  Zutun  gestiftet  waren,  ebenso  galt  wie  für  die  Ge- 
meinden Griechenlands  und  Kleinasiens.  Diese  Annahme  aber 
bestätigt  sich  durch  Act.  11.27:  15.22.  32  tmd  13,  If.  An  der 
ersten  Stelle  lesen  wir  von  Propheten,  die  aus  der  jerusale- 
mischen Gemeinde  in  die  antiochenische  hinübergewandert  sind^; 
aus  der  dritten  geht  hervor,  daß  in  Antiochien  fünf  Männer,  die 
als  Propheten  und  Lehrer  bezeichnet  werden,  eine  Sonder- 
stellung in  der  Gemeinde  einnahmen  und  aus  ihrer  3Iitte  nach 
AVeisimg  des  Geistes  zwei  als  Apostel  ausgesondert  haben  (s.  o.)^. 
Der  Apostelberuf  w\ar  also  nicht  sofort  durch  den  Beruf  des  Pro- 
pheten oder  des  Lehrers  gegeben,  sondern  es  bedurfte  noch  einer 
besonderen  Weisung  des  Geistes  für  denselben.  Geht  aber  aus 
Act.  13,  l  fl".  die  Ordnung  „Apostel,  Propheten,  Lehrer'''  indirekt 
aber  deutlich  hervor,  so  ist  sie  damit  —  da  der  Bericht  als  zu- 
verlässig gelten  darf  —  für  die  älteste  heidenchristliche  Gemeinde 
und  für  eine  Zeit  bezeugt,  die  von  dem  Jahre  der  Bekehrung  des 
Paulus  vielleicht  nicht   einmal  durch   ein  Jahrzelint  getrennt  war. 

Zwischen  den  Ereignissen,  von  denen  Act.  13.  If.  berichtet,  und 
der    Schlußredaktion    der    Didache    ma»-    ein   Jahrhundert    liegen. 


')  Zu  zeitweiligem  Aufenthalt;  einer  derselben,  Agabus.  hat  noch  etwa 
15  Jahre  später  seineu  dauernden  Aufenthalt  in  .Judäa  gehabt,  reiste  aber 
dem  Paulus  nach  Cäsarea  entgegen ,  um  ihm  eine  prophetische  Kunde  zu 
bringen  (Act.  21,  10 f.). 

-)  Nach  den  an  der  Stelle  gebrauchten  Partikeln,  ist  es  wahrscheinlich, 
daß  Harnabas,  Simeon  und  Lucius  die  Propheten.  Menäen  und  S)aulus  die 
Lehrer  gewesen   sind.     Ein  Prophet   und  ein  Lehrer  sind  somit  als  Apostel 


Die  christlichen  Zvlissionare.  283 

Mittelglieder  felilon  niclit.  AVir  Imbon  orstlieh  das  Zono'nis  dos 
I.  Corintherbriefs  (12,  2b)^:  wir  besitzen  aber  sodaTin  iiocli  zwei 
Zeugnisse,  nämlich  in  dem  Epheserbrief  (ist  der  Brief  nneciit.  so 
ist  das  Zeugnis  um  so  wichtiger)  und  im  Hirten.  Beide  Zeugnisse 
sind  aber  insofern  nicht  von  vollem  Gewicht,  als  sie  bereits  die 
alte  Ordnung  der  berufsnnißigen  /xüovvTFq  rov  hr/ov  tov  i)eov  als 
Apostel,  Propheten  und  Lehrer  nicht  mehr  ganz  rein  darstellen, 
sondern  zeigen,  wie  dieselbe  durch  die  auf  anderen  Grundlagen 
erwachsene  Organisation  der  geschlossenen  Einzelgemeinde  leise 
modifiziert  worden  ist. 

AVie  Did.  11,3  werden  Ephes.  2.  20  und  3,4  die  Apostel  und 
Propheten  zusammen  genannt  und  ihnen  ein  überaus  hoher  Rang 
zugewiesen.  Alle  Gläubigen,  heißt  es,  sind  erbaut  auf  dem  Grunde 
der  Apostel  und  Propheten,  und  ihnen  ist  zuerst  das  Geheimnis 
offenbart  worden,  daß  die  Heiden  Miterben  der  Verheißung  Christi 
seien.  Daß  hier  nicht  die  alttestamentlichen  Propheten,  sondern 
evangelische  gemeint  sind,  zeigt  sowohl  der  Kontext  als  die  Vor- 
ausstellung der  Apostel.  C.  4.  11  folgt  nun  eine  Aufzählung,  in 
der  zwar  die  Reihenfolge  ,, Apostel,  Propheten,  Lehrer^'  gewahrt 
ist,  jedoch  so,  daß  nach  den  Propheten  ,. Evangelisten"  einge- 
schoben und  zu  den  Lehrern  (und  zwar  vorantretend,  aber  mit 
ihnen  eine  Gruppe  oder  Stufe  bildend)  „Hirten"  gestellt  sind^. 
Aus  diesen  Einschiebungen  geht  ein  Dreifaches  hervor:  erstlich, 
daß  der  Verfasser  (bez.  Paulus)  Missionare  kennt,  die  nicht  die 
Apostelwürde   besitzen^,    daß   er    sie    aber   nicht   sofort  nach   den 

ausgesandt  -worden.  Baruabas  hatte  als  der  ältei-e  zunächst  die  Führung 
(Barnabas'  Prophetengabe  kann  mau  auch  aus  dem  Namen  „Barnabas",  der 
ihm  gegeben  worden  ist  =  vwg  .-raoaxh'jOEtog  [Act.  4,  36]  schließen;  denn 
I  Cor.  14,  3  heißt  es:  o  sioo(f>rjrevo}v  uvdgoj.-ioig  ).aAei  :raoäx/.7jan'). 

^)  Hier  ist  zu  beachten,  daß  Paulus  nach  Aufzählung  der  Apostel,  Pro- 
pheten und  Lehrer  nicht  mehr  Kategorien  von  charismatisch  begabten  Per- 
sonen anführt,  sondern  nur  noch  Charismen,  ferner,  daß  er  innerhalb  dieser 
Charismen  Rangunterschiede  nicht  macht,  sondern  mit  einem  doppelten 
e'jiEira  sie  in  eine  Ordnung  stellt,  während  die  Apostel,  Proj^heten  und 
Lehrer  in  Rangordnung  durch  jigonov,  öevzeoov,  rgizov  aufgezählt  sind.  Hier- 
aus ergibt  sich,  daß  nur  der  Apostolat,  das  Prophetenamt  (nicht  die  Glos- 
solalie)  und  das  Magisterium  die  Träger  dieser  Amter  zu  Personen  von  Rang 
in  den  Gemeinden  erhoben,  während  die  öwdusig ,  iäuuTa,  dvTt/.rjfnfstg  xt'/.. 
keine  sonderliche  Stellung  der  mit  diesen  Charismen  Begabten  begründet 
haben.  Es  konstituiert  also  auch  nach  Paulus  lediglich  die  Verkündigung 
des  Wortes  Gottes  einen  Rang  in  der  Ey.y.h^aia.  rov  ßsov.  Das  stimmt  geuau 
mit  der  Ansicht  des  Verfassers  der  Didache  überein. 

-)  Daß,  weil  rovg  dk  vor  , Lehrer"  fehlt,  diese  als  identisch  mit  den 
„Hirten"  zu  erachten  seien,  folgt  nicht;  wohl  aber,  daß  der  Verfasser  bez. 
Paulus  beide  als  eine  Gruppe  betrachtet. 

^)  Oben  S.  269^  habe  ich  es  zu  erklären  versucht,  warum  gerade  im 
Epheserbrief  Evangelisten  genannt  sind. 


2'5-4        L)ie  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Aposteln  aiiftulii't.  weil  die  Zuf>ainiiienstollung  „Apostel  und  Pro- 
pheten"' ein  Xoli  nie  tangere  war  (nicht  ebenso  die  Zusammen- 
srellung  „rro])heten  und  Lehrer"),  zweitens,  daß  er  die  Leiter  der 
Einzelgemeinde  (jioifih'sg)  in  die  Rangordnung  der  der  ganzen 
Kirche  geschenkten  Prediger  einordnet  —  die  Einzelgemeinde 
machte  sich  also  geltend  — ,  drittens,  daß  er  die  Lehrer  als  einer 
bestimmten  Gemeinde  zugehörige  Personen  ins  Auge  faßt,  wie 
die  enge  Verbindung  derselben  mit  Tioißh'eg  und  die  Nachstellung 
(wenn  auch  Gleichordnung)  beweist.  Der  L^nterschied  zwischen 
dem  Yerfasser  des  Epheserbriefs  und  dem  der  Didache  ist  jedoch 
in  diesen  Punkten  kein  bedeutender,  wenn  man  erwägt,  daß  auch 
dieser  die  jioijLieveg  (emoxojr.oi)  der  Einzelgemeinde  neben  die  Lehrer 
gestellt  hat  und  darum  wie  diese  geehrt  wessen  wollte  (15,  1.2), 
und  wenn  man  ferner  beachtet,  daß  er  die  ständige  Niederlassung 
von  Lehrern  in  einer  Einzelgemeinde  (1^5,  2)  als  das  Regelmäßige 
zum  Gegenstand  einer  besonderen  Anordnung  gemaclit  hat  (beim 
Propheten  scheint  nach  13,  1  die  Niederlassung  der  Ausnahmefall 
zu  sein).  Allerdings  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  Ordnung  der 
Didache  der  von  Paulus  im  Corintherbriefe  befolgten  näher  steht 
als  die  des  Epheserbriefes:  aber  es  wäre  mehr  als  vorschnell, 
aus  dieser  Beobachtung  zu  folgern,  daß  die  Didache  älter  sein 
müsse  als  jener  Brief.  Wir  haben  bereits  gesehen,  daß  die  engere 
Auffassung  des  Apostolats  neben  der  weiteren  sehr  alt  ist  und 
somit  die  weitere  nicht  einfach  abgelöst  hat,  vielmehr  zeitweilig 
neben  ihr  hergegangen  ist;  und  es  ist  ferner  daran  zu  erinnern, 
daß  aus  Act.  lli,  1:  II,  27:  21,  10  u.  a.  St.  hervorgeht,  daß  die 
Propheten,  vor  allem  aber  die  Lehrer,  wenn  sie  auch  der  ganzen 
Kirche  mit  ihrem  Charisma  zu  dienen  hatten,  schon  in  ältester 
Zeit  doch  einen  ständigen  Aufenthalt  besitzen  konnten  und  für 
längere  Zeit  bez.  für  immer  Glieder  einer  bestimmten  Gemeinde 
waren.  Als  solche  koimten  sie  daher  frühe  schon  ins  Auge  ge- 
faßt werden  unbeschadet  ihrer  Eigenschaft  als  der  Kirche  ge- 
schenkte Lehrer. 

Was  den  Hirten  des  Hermas  betrifft,  so  ist  zunächst  die  auf- 
fallendste Beobachtung,  welche  er  bietet,  die,  daß  die  Propheten 
in  seinem  Buche,  so  oft  Klassen  von  Predigern  und  Hütern  in 
dei-  Christenheit  aufgezählt  werden,  ungenannt  bleibend  Infolge 
hiervon  stehen  die  äjiooToloi  und  öiöi'wxaloi  regelmäßig  zusammen'-^. 

1)  Sim.  IX,  15,  4a  sind  die  alttesfcamentlichen  Propheten  gemeint. 

^)  S.  Sim.  IX,  15,4b:  oi  ös  fi  ajroozoloi  y.nl  dtÖäoxaXoi  rov  xi]ovyftaTog  rov 
viov  rov  äeov.  IG,  5:  oi  ujiootoXoi  y.al  oi  hthäoxaloi  ol  xijov^avzE^  zo  oi-Ofia 
Tov  VIOV  Tov  deov.  25,  2:  aTzdozoloi  y.(u  ()ii)äoy.akoi  oi  xrjov^avrsg  ek  ölov  rov 
aöo/inr  y.nl  oi  <)i<)aiarry::  ayiiroj;  yal  ayru)^  rov  köyov  zov  xvQiov.  Auch 
Vi<.  lli.5,1    (s.  u.i    gehört    liierker.     Die   Zusammenstellung   „uTzöoroXog ,   dt- 


Die  christlic'lion  Missionare.  285- 

Da  ncnna.s  selbst  als  Propliot  aut'tritf,  da  sein  T^uch  oiiuMi  <i;r()(5eii 
Abschnitt  (Mand.  XF)  umfaßt,  in  Avelchem  ausführlich  von  den 
falschen  und  von  den  wahren  Propheten  gehandelt  wird,  da  (uid- 
lich  die  Wirksamkeit  des  wiihreu  Propheten  im  „Hirten"  nach- 
drücklicher als  in  irgendeinem  anderen  urchristlichen  Puche 
betont  und  als  eine  universale  vorausgesetzt  wird,  so  darf  vielleicht 
die  Nichterwähnung  des  Propheten  in  der  „Hierarchie"  des  Hermas 
als  eine  absichtliche  aufgefaßt  werden.  Hermas  überging  die  Pro- 
pheten, weil  er  sich  selbst  zu  ihnen  rechnete.  Ist  das  wahrschein- 
lich^, so  haben  wir  ein  Recht,  überall  da,  wo  er  „Apostel"  und 
„Lehrer"  zusammen  nennt,  „Propheten"  zu  suppliereu  und  so  in- 
direkt auch  von  Hermas  die  Trias  „Apostel,  Propheten,  Lehrer" 
bezeugt  sein  zu  lassen-.  Dann  aber  steht  die  Auffassung,  welche 
der  Hirte  in  der  9.  Similitudo  kundgetan  hat,  in  genauer  Parallele 
zu  der  des  Verfassers  der  Didache.  Die  Apostel,  (Propheten)  und 
Lehrer  sind  die  von  Gott  gesetzten,  das  geistliche  Leben  der  Ge- 
meinden begründenden  Prediger,  und  an  sie  schließen  sich  erst 
(s.  c.  25 — 27)  die  Episkopen  und  Diakonen"^.  Dagegen Yis.  HI,  5,  l 
hat  der  Verfasser  die  Reihenfolge  geändert.  Er  schreibt:  ol  juev 
ovv  )d&oi  ol  TSTQäyojvot  xal  Xevy.ol  xal  ov/.i(pcovovvT£g  rmg  aQ/noyalg 
avTcov,  ovTol  eIoiv  ol  änooxoXoi  xal  imoxoJtoi  xal  dibdoxaXoi  xal 
didxovoi  ol  TioQEvdh'TFg  xard  rifv  ofjUJ'SrrjTa  tov  deov  xal  ejiioxojn]- 
oavreg  xal  didd^avieg  xal  Öiaxor/joavreg  äyvcög  xal  nefivojg  xoTg 
ExXexTolg  tov  dsov,  ol  /lev  xexotfirjfievoi,  ol  de  e'zt  övreg.  Auch  nach 
dem  Verfasser  der  Didache  sind  die  sjiioxojioi  und  didxovoi  den 
äjiöoroXoi  imd  öiödoxaXoi  anzureihen;  der  Unterschied  aber  besteht 
hier  darin,    daß  Hermas  die  Episkopen  —  wie  der  Verfasser  des 


däaxaloQ"  findet  sich  sonst  nur  noch  in  den  Pastoralbriefen  (I  Tim.  2,  7. 
II  Tim.  1,  11),  indessen  die  Stellen  dort  beweisen  nichts,  da  Paulus  der 
Sprechende  ist  bez.  sein  soll. 

*)  Lietzmann  (Gott.  Gel.  Anz.  1905  Nr.  6  S.  486)  schlägt  eine  andere 
Erklärung  vor:  „Apostel  und  Lehrer  gehören  nach  Hermas  der  vergangenen 
Generation  an;  ein  Prophetenamt  kennt  er  auch,  aber  nur  im  A.  T. 
(Sim.  IX,  15,  4).  Wenn  er  trotzdem  viel  von  der  Wirksamkeit  des  wahren 
Propheten  handelt  und  sich  sicher  auch  als  solchen  fühlt,  so  faßt  er  das 
TTooqvjTsveiv  als  eine  durch  göttliche  Begabung  ermöglichte  private  Wirk- 
samkeit ohne  Amtscharakter:  genau  wie  sein  Zensor,  der  Muratorische  Frag- 
mentist".  Vielleicht  ist  dies  die  richtige  Erklärung  des  merkwürdigen 
Problems;  aber  soll  Hermas  wirklich  über  Propheten  so  gedacht  haben  wie 
der  Fragmentist  V 

-)  , Evangelisten"  im  Unterschiede  von  „Aposteln"  kennt  Hermas  eben- 
sowenig wie  der  Verf.  der  Didache;  auch  er  braucht  das  Wort  , Apostel" 
im  weiteren  Sinn  (s.  o.  S.  273). 

^)  Die  Reihenfolge  der  letzteren  ist  c.  26.  27  invertiert  infolge  eines 
dem  Gleichnisse  entnommenen  Gesichtspunktes;  die  richtige  Pieihenfolge  s. 
Vis.  III,  5,  1. 


2S6       Die  Missionare;  ]\Iodaiitiiten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Eplieserbriefs  die  rroiiifycg  —  den  Lelirern  vorangestellt  hat. 
Aus  welchen  Gründen  dies  geschehen  ist,  wissen  wir  nicht;  wir 
können  nur  konstatieren,  daß  auch  hier  die  faktische  Organisation 
der  Einzxdgenieiiule  bereits  die  Auffassung  von  der  Organisation 
der  Gesanitkirche.  welclie  Hernias  mit  dem  Verfasser  der  Didache 
teilt,  modifiziert  hat^. 

Also  eine  alle  Quellenschrift  der  Apostelgeschichte,  Paulus, 
llermas  und  der  Verfasser  der  Didache  bezeugen  es,  daß  in  den 
ältesten  christlichen  Gemeinden  die  XalovvTeg  töv  löyov  tou  &eov 
den  höchsten  Rang  einnahmen  -,  und  daß  sie  in  Apostel,  Propheten 
und  Lehrer  zerfielen.  Sie  bezeugen  es  aber  auch,  daß  diese 
Apostel,  Propheten  und  Lehrer  nicht  als  Beamte  einer  Einzel- 
gemeinde  angesehen,  sondern  als  von  Gott  eingesetzte  und  der 
ganzen  Kirche  geschenkte  Prediger  geehrt  wurden.  Die  Vor- 
stellung, daß  die  professionsmäßigen  Prediger  in  der  Kirche  von 
den  Gemeinden  gewählt  worden  seien,  ist  ebenso  unrichtig  wie 
die  andere,  daß  sie  durch  eine  menschliche  Übertragung  ihr  „Amt'' 
erhalten  haben.  Soweit  Menschen  dabei  mitwirkten,  führten  sie 
nur  einen  direkten  Befehl  des  Geistes  aus. 

Es  ist  aber  schließlich  die  Bedeutung  der  Beobachtung,  daß 
die  Apostel,  Propheten  und  Lehrer  nach  der  übereinstimmend ■.m 
Auffassung  der  ältesten  Zeugen  nicht  der  Einzelgemeinde,  sondern 
der  Gesamtkirche  geschenkt  sind  und  angehören,  genauer  zu 
erwägen.  Li  diesem  Besitze  hatte  die  zerstreute  Christenheit  eine 
Verbindung  und  ein  Band  der  Einheit,  welches  oft  unterschätzt 
worden  ist.  Diese  Apostel  und  Propheten,  die  von  Ort  zu  Ort 
wandern  und  in  allen  Gemeinden  mit  dem  höchsten  Respekte  auf- 
genommen werden  mußten,  sie  helfen  es  erklären,  wie  die  Ent- 
wicklung der  Gemeinden  in  den  verschiedenen  Provinzen  unter 
den  so  disparaten  Bedingungen  doch  das  Maß  von  Gleichartigkeit 
bewahren  konnte,  welches  sie  bewahrt  hat.  Sie  haben  auch  ihre 
Spuren  nicht  nur  in  den  wenigen  Urkunden  zurückgelassen,  wo 
nielit  viel  mehr  als  die  ÜS^amen  genannt  sind  und  die  Verehrung 
bezeugt  ist,  sondern  in  weit  höherem  Grade  haben  sie  sich  in 
einer  ganzen  Gattung  der  ältesten  christlichen  Literatur  zum  Aus- 
druck gebracht,  in  den  sog.  katholischen  Briefen  und  Schrift- 


1)  Es  ist  übrigens  zu  beachten,  daß  im  Sim.  IX  von  den  Aposteln  und 
Lehrern  als  von  einer  vergangenen  Generation  die  Rede  ist,  während  Vis.  III 
von  der  ganzen  Gruppe  gesagt  ist,  daß  eiu  Teil  derselben  bereits  entschlafen, 
ein  anderer  noch  am  Leben  sei.  Näher  kann  hier  auf  .''i^  wichtigen  Auf- 
lassungen des  Hirten  nicht  eingegangen  werden. 

'-)  So  auch  der  Verfasser  des  Ilebräerbriefs.  Man  vgl.  aber  auch  I  Pet. 
4,  11 :  «'  zig  ?.a/.eT,  mq  ).6yia  {)eov-  ei  zig  ÖiaxovsT,  d>g  i'f  loyvog  yg  yofjT/^^  "  ^^'^^ 
[diese  Stelle  illustriert  den  Bericht  Act.  6j. 


Die  christlichen  Missionare.  287 

Stücken.  Man  kann  die  Entstehung,  Verbreitung-  und  das  Ansehen 
dieser  eigentüniliclien  und  in  vieler  Hinsicht  so  rätsclliaften  Tiiteratur- 
gattunü'  nur  verstehen,  wenn  man  sie  zusammenhält  mit  dem,  was 
wir  von  den  urchristlichen  „Aposteln,  Propheten  und  Lehrern" 
wissen.  Betrachtet  man,  daß  diese  von  Gott  in  der  Kirche  d.  h.  in 
der  ganzen  Christenheit,  nicht  in  der  Einzelgemeinde,  gesetzt  sind, 
also  den  Beruf  für  die  Gesamtkirehe  gehabt  haben,  so  leuchtet 
ein,  daß  die  sog.  katholischen  Briefe  und  Schriftstücke  mit  ihrer 
Adresse  an  die  ganze  Christenheit  die  hier  entsprechende  lite- 
rarische Gattung  sind,  welche  daher  verhältnismäßig  frülie  auf- 
kommen mußte.  Ein  Brief  wie  der  des  Jacobus  mit  seiner  Adresse 
„an  die  zwölf  Stämme  in  der  Zerstreuung",  mit  seinen  prophetischen 
Ausführimgen  (c.  4.  5),  mit  seinen  Anweisungen  selbst  an  die  Pres- 
byter (5,  14),  mit  seinen  dezidierten  Versicherungen  (5,  15f.)  —  er 
wird,  da  er  von  dem  Apostel  Jacobus  nicht  herrühren  kann,  erst 
verständlich,  wenn  man  an  die  wandernden  Propheten  denkt,  die 
das  Bewußtsein  hatten,  von  Gott  für  die  Christenheit  berufen  zu 
sein,  und  daher  die  Verphichtung  fühlten,  der  ganzen  Kirche  zu 
dienen.  Es  begreift  sich,  wie  katholische  Briefe  ein  hohes  An- 
sehen erlangen  mußten,  auch  wenn  ursprünglich  nicht  der  Name 
eines  der  zwölf  Apostel  sie  auszeichnete  ^.  Hinter  denselben 
standen  die  von  Gott  berufenen  Lehrer,  die  man  zu  ehren  hatte 
wie  den  Herrn.  Es  würde  zu  weit  fülircn,  dem  angedeuteten 
Gesichtspunkte  hier  nachzugehen;  aber  es  mag  noch  darauf  hin- 
gewiesen werden,  welche  Verbreitung  vmd  Bedeutung  gewisse 
„katholische"  Briefe  in  den  Gemeinden  erlangt  haben,  und  wie 
sie  kaum  in  geringerem  Maße  die  Entwicklimg  der  Christenheit 
in  ältester  Zeit  bestimmt  haben  als  die  paulinischen  Briefe.  Hier 
haben  also,  sei  es  Apostel,  sei  es  Propheten  vmd  Lehrer,  in  den 
letzten  Dezennien  des  ersten  und  im  Anfang  des  zweiten  Jahr- 
hunderts ein  bleibendes  Denkmal  ihrer  außerordentlichen  "Wirk- 
samkeit hinterlassen.  Zu  demselben  gesellen  sich  Schriften  wie 
die  des  Hirten,  deren  Verfasser  Hermas  es  nicht  anders  weiß,  als 
daß  seine  Offenbarungen  allen  Gemeinden  mitzuteilen  seien.  Er 
ist  eben  nicht  römischer  Prophet,  sondern  als  Prophet  Lehrer 
der  gesamten  Christenheit. 

Nicht  mit  Unrecht  hat  man  gesagt,  daß  die  Christenheit  erst 
Kirchenämter  —  im  Unterschied  von  Gemeindeämtern  —  erhalten 


^)  Diese  Zeit  war  freilich  damals  vorbei,  als  man  unter  anderen  Vor- 
würfen dem  Montanisten  Themison  auch  den  machte,  er  habe  einen  katho- 
lischen Brief  geschrieben  und  damit  in  die  Prärogative  der  Urapostel  ein- 
gegriffen; s.  Apollonius  bei  Euseb.,  h.  e.  V,  18,  5:  Oe/liiouh'  hö/.utjos,  i^iifiovfievog 
Tov  d:i6oxolov ,  y.adoXiy.}']v  iira.  avviagünei'og  Ejziaro/.ijt'  y.aTijytlv  lov;  äixeivov 
avTOv  :i:E7nazevy6zag. 


28S       Die  Mi.ssionure;  Modalitiiteii  und  Gegenwirkungen  der  ]\Iissiou. 

habe,  naeluleni  der  Episkopat  für  eine  Einrichtung*  erklärt  ■worden 
wai'.  in  der  sicli  das  Apostolat  so  fortsetze,  daß  jeder  einzelne 
Biscliof  nicht  nur  der  Träger  ehies  Gemeindeamtes,  sondern  als 
Bischof  der  katholischen  Kirche  (und  in  diesem  Sinne  als  Nach- 
folger der  A])Ostel)  zu  gelten  habe.  Aber  man  hat  diese  richtige 
Beobachtung  durch  den  Hinweis  darauf  zu  ergänzen,  daß  in  der 
ältesten  Zeit  eigentümliche  Einrichtungen  bestanden  haben,  die 
sich  in  einer  Hinsicht  als  Analogie  zu  dem  späteren  katholischen 
Amte  fassen  lassen.  Die  „Aa/ot'j'Tfs  jov  loyov  tov  Oeou'^  waren 
,.dtddayMÄot  y.a&o/uxol'-''  ^.  In  der  Zeit  aber,  in  der  diese  alten 
Lehrer  sukzessive  verschwanden,  hatte  auch  schon  jene  Entwicklimg 
begonnen,  die  mit  dem  Triumphe  des  monnrchischen  Episkopats, 
nämlicli  mit  der  Anerkennung  seiner  apostolisch-katholischen  Be- 
deutung geendet  hat.  Die  Vorstufen  dieser  Entwicklung  beol)acliteteii 
wir  dort,  wo,  wie  in  dem  Epheserbrief,  im  Hirten  und  in  der 
Didache,  die  ständigen  Beamten  der  Einzelgemeinde  an  die  Ordnung 
„Apostel,  Propheten  und  Lehrer"  herangeschoben  oder  bereits  in 
sie  eingerückt  sind.  Damit  Avar  die  fundamentale  Bedingung  ge- 
schaffen, auf  Grund  deren  die  Bischöfe  schließlich  die  Bedeutung 
der   „Apostel,  Propheten  und  Lehrer''  erliielten.     Faßt   man   die 


*)  Das  Quellenmaterial  über  die  Trias  soll  liier  zusammenstehen: 

(a)  Die  /.a/.of itsc  tov  /.oyor  tov  Oeor,  und  ursprünglich  wahrscheinlick 
nur  sie,  d.  h.  die  Apostel,  Propheten  und  Lehrer,  i-iud  die  fjyoi\u£rot  bez.  die 
TETiinjuivoi  in  den  Gemeinden;  dies  ergibt  sich  (a)  aus  Didache  4,  1;  11,  .3 f.; 
13;  15.  1.  2  kombiniert,  (b)  aus  Hebr.  13,  7.  17.  24,  wo  die  tjyovfierot  ausdrück- 
lich als  /.(dovvreg  tuv  /.öyov  rov  Ofov  bezeichnet  werden,  (c)  vielleicht  aus 
I  Clem.  1,  3;  21,  6,  (d)  aus  Act.  15,  22.  32,  wo  dieselben  Männer  erst  ijyorftevoi., 
dann  TiQorpijTai  genannt  sind,  (e)  aus  dem  Hirten  des  Hermas. 

(b)  Apostel,  Propheten  und  Lehrer:  Paulus,  I  Cor.  12,  28 f.  (angereiht 
sind  f)i'vüaEi?,  yaoiofiaTa  iaiiänov ,  dvTc/.i'j/upei? ,  xvßsovi'joeig,  yevij  y/.coaaiöv). 
Die  Väter,  die  in  späteren  Jahrhunderten  sich  dieser  Stelle  erinnern,  tun  so, 
als  be.stünde  die  Trias  noch  zu  Recht,  ja  vergessen  manchmal  neiien  ihr  die 
herrschende  Kirchen  Verfassung  ganz.  Novatian  schreibt,  nachdem  er  von  den 
Aposteln,  die  der  Paraklet  stärkt,  gesprochen  hat  (de  trinit.  29):  „hie  est 
qui  prophetas  in  ecclesia  constituit,  magistros  erudit".  Cyrill.  Hieros.  (catech. 
18,  27)  sieht  in  bezug  auf  die  Kirche  nur  die  an  unsrer  stelle  genannten 
Amter  für  wesentlich  an,  nicht  aber  die  Bischöfe.  Ambro.sius  (Hexaem. 
III,  12,  50)  schreibt:  „Circumdedit  enim  vineam  velut  vallo  quodani  caelestiuni 
praeceptorum  et  angelorum  custodia  ....  posuit  in  ecclesia  velut  turrim 
apostolorum  et  prophetarum  atque  doctorum,  qui  solent  pro  ecclesiae  pace 
praetendere"  (cf.  in  Ps.  118,  sernio  22  c.  15).  "Viucentius  Lerin.  (Comuionit.37.  38) 
spricht  von  Pseudaposteln,  P.scudopropheten,  Pseudolehrern;  in  c.  40  erwartet 
man,  die  Bischöfe  genannt  zu  lesen,  aber  nur  Apostel,  Propheten  und  Lehrer 
werden  genannt.  Paulin  von  Nola  (Opp.  ed.  Harte  I  I  p.  411f.)  richtete  an 
Augustiu  eine  .anfrage  über  Apostel,  Propheten  und  Lehrer,  Evangelisten  und 
Hirten.  Sehr  Inr/.eichuend  .sagt  er:  „in  omnibus  his  diversis  nominibus  simile 
et   prope   unum    doctrinae   ofticium    video   fuis.se  tractatum" ,   und    er   nimmt 


Die  christlichen  Missionare.  289 

Stelle  I  Cor.  12,  2S  oder  Didachc  c.  II  ins  Auge  („die  Propheten 
sind  eure  Hohenpriester" ;  vgl.  dazu  die  Nachricht  des  Polycrates 
von  Ephesus,  daß  „Johannes"  das  nhalov  als  legevg  getragen  habe 
[Euseb.,  h.  e.  V,  24]  und  Tertull.,  adv.  Valent.  37,  der  von  einem 
valentinianischen  Lehrer  sagt:  „insignior  apud  eos  magister,  qui 
et  ponrificali  sua  auctoritate  in  hunc  moduni  censuit")  und  sodann 
solche  Stellen  bei  Cyprian  und  aus  der  nachcyprianischen  Zeit, 
in  denen  die  Bischöfe  als  die  Apostel,  Propheten  und  Lehrer  und 
als  die  Hohenpriester  der  Kirche  gefeiert  werden,  so  hat  man 
die  Anfangs-  und  Endpunkte  einer  der  wichtigsten  Entwicklungen 
vor  sich.  Hervorragende  Bischöfe  wie  Polycarp  von  Smyrna  hatten 
sie  längst  antizipiert;  er  wurde  von  seiner  Gemeinde  und  in  Asien 
als  „apostolischer  und  prophetischer  Lehrer"  gefeiert. 

AVas  den  L^rsprung  der  Trias  betrifft,  so  ist  gezeigt  worden, 
daß  sich  ihre  einzelnen  Elemente  zwar  im  Judentum  fanden,  die 
Zusammenordnung  aber  von  dort  nicht  erklärt  werden  kann.    Man 


richtig    an,    daß   die   Propheten    nicht    die   alttestameutlicheu   sein    können, 
sondern  christliche  Propheten  sein  müssen. 

fc)  Propheten  und  Lehrer,  welche  aus  ihrer  Mitte  Apostel  aussondern: 
Act.  13,  1. 

(d)  Apostel,  Propheten  und  Lehrer:  Didache  (angereiht  werden  Bischöfe 
und  Diakonen). 

(e)  Apostel,  Propheten,  Evangelisten,  Hirten  und  Lehrer:  Ephes.  4,  11. 

(f)  Apostel  und  Lehrer  (aber  Propheten  mit  Absicht  ausgelassen),  an  sie 
sich  anreihend  Bischöfe  und  Diakonen:  Hermas,  Simil.  IX. 

(g)  Apostel  (Propheten),  Bischöfe,  Lehrer,  Diakonen:   Hermas,  Vis.  IIL 
(h)  Apostel,    Lehrer,  Prophet:   Clem.  Hom.  XI,  35:    f(htv)]o&E  u:i6axolov 

r]  Sibäay.alov  i)  .i:oo(p7'jT>]r. 

(i)  Apostel  und  Propheten  (die  enge  Zusammengehörigkeit  beider  er- 
gibt sich  schon  aus  Matth.  10,  41):  Apoc.  18,  20  (2,  2.  20);  Ephes.  2,  20;  3,  5. 
Didache  11,  3.  (Nach  Irenäus  III,  11,  4  ist  der  Täufer  Johannes  Prophet  und 
Apostel  zugleich:  „et  pi-ophetae  et  apostoli  locum  habuif;  nach  Hippol., 
de  antichr.  50  ist  Johannes  der  Jünger  Apostel  und  Prophet  zugleich).  Der 
Gegner  der  Aloger  bei  Epiphan.,  haer.  51,35  etc.,  cf.  Didasc.  de  charism. 
[Lagarde,  Reliq.  p.  4,  ly  sq.]:  oi  jioorftjzm  e(f'  t/iudy  :TQO(j:)jzevoavTsg  ov 
TiaQS^ETEivav  EavrovQ  xoTg  aJiooTÖ'/.oic . 

(k)  Propheten  und  Lehrer:  Act.  13,  1.  (II  Pet.  2,  1).  Didache  13,  1.  2; 
14,  1.  2.  Pseudoclemens,  de  virg.  I,  11:  „Xe  multi  inter  vos  sint  doctores  ne- 
que  omnes  sitis  prophetae"  (1.  c. :  '/.öyo?  diSa/yjg  i)  ziQorf-ijrEiag  i]  fiiay.oviac). 
Man  findet  sie,  bez.  Pseudopropheten  und  Pseudolehrer,  in  den  späteren  Lite- 
ratur noch  häufig  zusammengestellt,  s.  z.  B.  Orig.,  Homil.  2  in  Ezech.  (Lom- 
matzsch  T.  XIV  p.  33.  37);  Vincent.  Lerin.,  I.  c.  c.  15.  23.  In  den  pseudo- 
clementinischen  Homilien  (III,  12)  heißt  Jesus  selbst  „unser  Lehrer  und 
Prophet". 

(1)  Apostel  und  Lehrer:  (Hermas);  I  Tim.  2,  7;  II  Tim.  1,  11;  Clemens 
Strom.  VII,  16,  103:  ol  iiay.6.oioi  ä:i6oto}.oi  te  y.al  bibdoy.aloi,  Eclog.  23. 

(m)  Polycarp  wird  im  Briefe  seiner  Gemeinde  (c.  16,  2)  also  bezeichnet: 
ZV  ToTg  xad'  i'jiiug  yQovoig  Öiöüoy.alog  ajioozoliy.og  nal  :jiQorfrixiy.6g ,  yeröfisvog 
Harnack,  ilission.    2.  A;ifl.  19 


290       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission, 

könnte  geneigt  sein,  sie  auf  Jesus  Christus  selbst  zurückzuführen 
—  seine  Jünger  hat  er  einmal  als  Missionare  (Apostel)  ausgesandt, 
und  von  Propheten,  die  er  erweckt,  und  die  predigend  umherziehen, 
scheint  er  nach  Matth.  10,  41  gesprochen  zu  haben.  Allein  die 
Geschichtlichkeit  der  letzteren  Stelle  ist  zweifelhaft ' :  daß  sich  die 
Jünger  nicht  „Lehrer"  nennen  lassen  sollen,  hat  Jesus  aus- 
drücklich gesagt-,  und  eine  solche  Anweisung,  wie  sie  sich  in  der 
Schöpfung  jener  Trias  darstellt,  fügt  sich  überhaupt  nicht  zu  seiner 
ganzen  Predigt  und  den  übrigen  Anweisungen.  Mithin  muß  man 
annehmen,  daß  die  Trias  und  ihre  Schätzung  in  der  jerusalemischen 
Gemeinde  (und  zwar  schon  in  ältester  Zeit)  entstanden  ist  im  Zu- 
sammenhang mit  dem  „Geist",  der  über  die  Gemeinde  kam.  Auf 
christliche  Propheten  wird  im  Zusammenhang  von  Act.  2  (s.  v.  1  b) 
hingewiesen;  sie  werden  (cf.  Act.  4,  36)  sehr  frühe  aufgetreten  sein. 


f:iiay.onog  Ttji;  ii>  ^/ivov)]  xadohy.ii^  ry.y.h]oia<;  (cf.  Acta  Pion.  1:  u:rooTohy.ög 
dvl]o  tön'  yaä'  tj/^täg  yeröiiFvog).  Hier  sind  die  alten  hohen  Prädikate  sämt- 
lich zusammengefaßt  und  mit  „Bischof"  verbunden.  Aber  augenscheinlich 
gilt  es  als  etwas  ganz  Seltenes,  daß  noch  „zu  unseren  Zeiten"  ein  aposto- 
lischer und  prophetischer  Lehrer  gelebt  hat.  .Sehr  bezeichnend  ist  die  Aus- 
drucksweise des  Eusebius  (Mart.  Pal.  11,  1);  er  sagt  von  einer  Gruiipe  von 
zwölf  Märtyrern,  sie  sei  teilhaft  gewesen  .-rgoqijriyov  xivog  i]  xal  dnoozoXry.ov 
■/aoloi.iaTog  y.al  doidi(ov. 

(n)  Von  dem  Phrygier  Alexander  heißt  es  in  dem  lugdunensischen 
Briefe  (Euseb.  V,  1 ,  49) :  yrcoaiog  ayedöv  -räot  Sid  rrjv  TiQog  -deov  dydjirjv  y.ai 
rraoo-i]oi'av  tov  ).6yov  rjv  yäo  xal  ovx  äuoioog  dnoazohyov  xagtofiazog. 

Ein  sehr  schönes  Zeugnis  dafür,  daß  die  Propheten  der  Gesamtkirche 
und  nicht  einer  Einzelgemeinde  geschenkt  sind  —  bei  den  Aposteln  ist  das 
selbstverständlich  — ,  besitzen  wir  aus  valentinianischen  Kreisen  (Excerpta 
ex  Theodot.  24) :  Xiyovoiv  oi  OvaXn'Tiviavol  ön  o  xaza  tig  xGiv  :iQO(fr]iwv  e'o/FV 
jn'eVf,ia  i^ai'oerov  sig  diaxoviav ,  tovto  iai  .-rüi'Tag  rovg  Tfjg  iyxlrjocag  i^eyvi}»)' 
Sio  xal  TU  nrji^iFla  tov  jtvEVjiaTog  tdoftg  xal  7ioorf}]TsTai  dici  Tr]g  exxXrjaiag  f.T(- 
TflovvTai.  Vgl.  die  Ansprüche  der  montanistischen  Propheten  und  die  Ge- 
schichte des  Hirten  in  der  Kirche. 

Die  sub  (1)  oben  angemerkte  Stelle  aus  den  Eklogen  des  Clemens  lautet : 
"Qo.180  Stä  TOV  oo'juazog  6  aonijg  sXd'/.n  xal  läzo ,  ovzoyg  xal  noörtnov  ,,8id  t(oi> 
71  no'i  t]Z(7)v" ,  rvv  Sk  ,,Sid.  zwv  djzoazöÄcov  xal  8iöaoxd/.iov"  ....  xal  .idvioze 
av&nconor  6  cfi}.äv{}oo}jzog  £vSi'f:iai  {^sög  slg  zijv  dr&QWJZ(ov  oonrjgi'av,  jzgözeoov 
n'fv  zovg  TZQorprjzag ,  vvv  8k  zijv  Exxh]oiav.  Diese  Stelle  ist  lehrreich;  aber 
die  alte  Trias  ist,  wie  man  .sieht,  bereits  gesprengt:  die  Propheten  sind  nur 
noch  als  alttestamentliche  bekannt  und  zugela.ssen.  —  Ob  die  .-zvfvuazty.oi 
des  Origenes  (de  orat.  28)  mit  unsrer  Gruppe  der  Lehrer  zusammenhängen, 
lasse  ich  dahingestellt.  Die  zd^(g  :zoofpr]rcüv  ^laozvgoyv  zs  xal  d.-zooTÖX.Mr  (Hipp., 
de  antichr.  59)  gehört  nicht  hierher. 

M  Nicht  auf  das  Wort  Matth.  11,  1.3  f.^dvTfg  o!  .igoqijzai  xal  6  vd/Aog 
i'o)g  ^Iwdvrov  sjzgorp/jzsvaar)  möchte  ich  mich  berufen  (denn  dieses  Wort 
schließt  vielleicht,  s.  o.  S.  279',  eine  neue  Gattung  von  Propheten  nicht  aus), 
wohl  aber  darauf,  daß  die  Situation,  aus  der  10,  40if.  gesprochen  zu  sein 
scheint,  die  begonnene  und  dauernde  Missionstätigkeit  bereits  voraussetzt. 

2)  Matth.  23,  8. 


Die  christliehen  Missionare.  291 

Näheres  ist  leider  niibekanut,  und  der  wirkliche  Ursprung  der 
enthusiastischen  Trias  „Apostel,  Propheten  und  Lehrer*'  so  dunkel, 
■wie  der  Ursprung-  der  Trias  „Bischöfe,  Presbyter  und  Diakonen" 
und  der  sehr  viel  spätere  des  Komplexes  der  sog.  niederen 
Weihen.  Überall  handelt  es  sich  hier  um  bewußte  Schöpfungen, 
die  von  einem  bestimmten  Punkte  ausgegangen  sind,  sich  aber  aus 
den  tatsächlichen  Verhältnissen  heraus  aufgedrängt  haben  mögen. 

4. 
Die  Didache  faßt  zunächst  (11,  3)  Apostel  und  Propheten 
zusammen,  indem  sie  die  Anweisung  gibt,  daß  für  sie  das  Dogma 
des  Evangeliums  in  Geltung  bleiben  soll.  In  den  späteren 
Kapiteln  dagegen  faßt  sie  vielmehr  Propheten  und  Lehrer  zu- 
sammen und  schweigt  über  die  Apostel.  Hieraus  folgt,  worauf 
bereits  oben  hingewiesen  w^orden  ist,  daß  die  Propheten  einerseits 
mit  den  Aposteln,  andererseits  mit  den  Lehrern  ein  Merkmal 
gemeinsam  hatten.  Jenes  Merkmal  ergibt  sich  aus  dem  Ausdruck 
y.azd  t6  doypa  tov  evayye/uov,  sowie  aus  den  nun  folgenden  Spezial- 
anweisungen  ^  Unter  dem  „  Dogma  des  Evangeliums "  können 
nur  die  Regeln  verstanden  sein,  die  wir  Marc.  6  cum  parall.  lesen'-. 
Diese  Annahme  wird  dadurch  noch  verstärkt,  daß  Matth.  10,  wo 
Gebote  für  die  Apostel  zusammengestellt  sind,  auch  von  wandern- 
den Propheten  die  Rede  ist  (v.  41)  und  sie  als  besitzlos  vorgestellt 
werden.  Die  Besitzlosigkeit  wurde  also  als  ein  notwendiges 
Erfordernis  für  die  Apostel  und  Propheten  erachtet.  Das  sagen 
auch  der  3.  Johannesbrief,  Origenes  und  Eusebius.  Johannes 
bemerkt  über  die  Missionare,  sie  wanderten  predigend,  ohne  etwas 
von  den  Heiden  anzunehmen.  Auf  „Annehmen"'  waren  sie  also 
angewiesen.  Origenes  (c.  Geis.  III,  9)  schreibt:  „Die  Christen 
bieten  alles  auf,  was  sie  können,  den  Glauben  über  die  ganze 
Erde  zu  verbreiten.  Darum  machen  es  sich  einige  förmlich  zu 
ihrer  Lebensaufgabe,  nicht  bloß  von  Stadt  zu  Stadt,  sondern  selbst 


*)  IJäi  6  anöozo'/.oi  eoyoj^iFro:;  rtqo^  vfiäg  dsx&V^'^^  ''-'^  >'-i'oio;-  ov  fisvel 
de  el  /iit]  7]/nioav  fiiav  iav  dk  fj  /osia,  y.al  zt]v  äkhjv  iQeT;  de  iäv  /^sivtj, 
t^>EVÖo:iQO(pt]zrig  soxiv.  i^soyousvog  6s  6  a:;t6oToXog  fA.rj8h>  Xa/.ißavsTCO  et  ixij 
äoTOV  i'wg  ov  ai'}.ioi)f]'    iäv  dk  aoyvQiov  ahf) ,  rpEv8ojtQO(py)rr]g   zoxiv  (c.  11,4 — 6). 

■2)  Lietzmann  (a.  a.  0.  S.  486)  wendet  ein,  die  Worte  könnten  nicht 
besagen,  was  die  Propheten  und  Apostel  tun  müssen,  sondern  wie  die  Ge- 
meinde ihnen  begegnen  soll:  also  sei  au  Stellen  wie  Matth.  10,  40 f.  zu  denken. 
Allein,  so  nahe  dieser  Einwand  liegt,  so  scheint  er  mir  durch  das,  was  v,  4iF. 
in  der  Didache  (c.  11)  folgt,  ausgeschlossen:  gewiß  handelt  es  sich  um  eine 
Anweisung  an  die  Gemeinde,  aber  die  Gemeinde  soll  bei  ihrer  Aufnahme 
jener  Herren  sich  das  „Dogma"  zur  Richtschnur  gereichen  lassen,  was  für 
dieselben  im  Evangelium  aufgestellt  ist,  und  das  findet  sich  in  Marc.  6 
cum  parall. 

19* 


292        Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

von  Flecken  zu  Flocken  und  von  Dorf  zu  Dorf  7A\  gehen,  um  dem 
Herrn  neue  Gläubige  7A\  gewinnen.  Und  man  wird  nicht  sagen 
können,  daß  sie  das  eines  Gewinnes  wegen  tun,  da  sie  oft  nicht 
einmal  soviel  nehmen  wollen,  als  sie  zum  Leben  nötig  haben; 
und  wenn  die  Xot  sie  manchmal  zwingt,  etwas  anzunehmen,  so 
begnügen  sie  sich  mit  der  Befriedigung  der  dringendsten  Bedürf- 
nisse, obgleich  so  manche  bereit  sind,  ihnen  noch  weit  mehr  zu 
geben.  Und  wenn  in  unsern  Tagen  bei  der  großen  Anzahl  derer, 
die  zum  Glauben  übertreten,  einige  reiclie  und  hochgestellte 
Männer  und  zartfühlende  und  edle  Frauen  den  Glaubensboton 
gastliche  Aufnahme  gewähren,  getraut  sich  da  jemand  zu  behaupten, 
daß  einige  aus  Verlangen  nach  Ansehen  deu  christlichen  Glauben 
verkündigen?  In  den  ersten  Zeiten,  wo  gerade  den  Predigern  des 
Glaubens  große  Gefahr  drohte,  konnte  man  einen  solchen  Arg- 
wohn nicht  so  leicht  haben,  heutzutage  aber  ist  die  Gering- 
schätzung, mit  welcher  ihnen  Andersgläubige  begegnen,  größer 
als  die  Ehre,  welche  die  Glaubensgenossen,  und  nicht  alle,  ihnen 
erweisen."  Eusebius  schreibt  (h.  e.  III,  37):  ,,Sehr  viele  von  den 
damaligen  Jüngern  (den  Schülern  der  Apostel),  deren  Herz  das 
göttliche  Wort  zu  einer  brennenden  Liebe  für  die  „Pliilosophiir' 
hingerissen  hatte,  erfüllten  zuerst  das  heilbringende  Gebot  des 
Herrrn  und  verteilten  ihre  Habe  unter  die  Dürftigen.  Dann  aber 
begaben  sie  sich  auf  Reisen  und  verrichteten  das  Amt  der  Evan- 
gelisten, indem  sie  sich  eifrigst  bestrebten,  denjenigen,  welche 
noch  gar  nichts  vom  Worte  des  Glaubens  vernommen  hatten, 
Christum  zu  predigen  und  die  Schrift  der  heiligen  Evangelien 
mitzuteilen.  Sie  legten  aber  in  fremden  Ländern  nur  allein  den 
Grund  des  Glaubens;  dann  stellten  sie  andere  als  Hirten  auf  und 
vertrauten  diesen  die  Pflege  der  neuen  Pflanzung  an;  sie  selbst 
aber  eilten  mit  der  göttlichen  Gnade  und  Mitwirkung  wieder  zu 
andern  Völkern  und  Ländern."  Dazu  h.  c.  V,  10,  2,  wo  es  in  bezug 
auf  das  Ende  des  2.  Jahrhunderts  heißt:  „Es  gab  noch  bis  zu 
dieser  Zeit  mehrere  Evangelisten  des  Wortes  ^^l'vdeov  'Qyjlov  ano- 
oro/.ixor  idjuijjLiaTog  ovveiocpegeiv  ^'-t  av^ijoti  y.ai  ory.odotifj  Ton 
■i%lov  Xoyov  7TOOiiii]ßovuEvoi,    d)v   etg    yi-röfuvog   y.al  ILivTarrog^.  — 

')  Das  Wort  „Evangelist"  kommt  Ephes.  4,  11;  Act.  "21,8  und  IT  Tim.  4,  5 
vor,  sodann  in  der  „Ai)ostol.  Kireheuordnung"  (c.  19).  Hierauf  findet  man  es 
erst  wieder  bei  Tertull.  de  praescr.  4  und  de  Corona  9  (Hippel.,  de  antichr.  .56, 
heij.H  Lucas  Apostel  und  Evangelist).  Das  ist  ein  Beweis,  daß  die  Unter- 
scheidung von  Aposteln  und  Evangelisten  in  ältester  Zeit  selten  gemacht 
worden  ist  (dagegen  werden  die  Apostel  selbst  häufig  als  oi  Evayye/.ioäfteroi 
bezeichnet,  s.  (jal.1,8;  IClem.  42,  1;  Polyc,  ep.  6,  3;  von  Barnabas  c.  8 ,  3 
sogar  die  Zwölf  ohne  die  Bezeichnung  „Apostel").  f]usebius  bezeichnet  die 
Evangelisten  als  Nachahmer  der  Apostel;  in  ältester  Zeit  galten  sie  den 
meisten  einfach  als  Apostel. 


Die  christlichen  Missionare.  293 

Das  zweite  Erforde niis  für  die  Apostel,  welches  die  „Apostellehre" 
neben  der  Besitzlosigkeit  angibt,  >lie  rastlose  Missionstätigkeit 
(keine  Niederlassung),  bestätigen  Origenes  und  Eusebius  ebenfalls^. 

Durch  die  „Apostellehre"  wissen  wir,  daß  diese  wandernden 
Missionare  noch  am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  Apostel  geheißen 
haben.  Origenes  und  Eusebius  bestätigen  uns,  daß  sie  noch  im 
2.  Jahrhundert  existierten  —  Origenes  weiß  sogar  noch  von  solchen 
in  der  Gegenwart  — ,  aber  den  Namen  „Apostel"  führten  sie  nicht 
mehr-.  Nicht  mir  die  gesteigerte  Verehrung  der  L'rapostel  ver- 
bot das,  sondern  auch  die  Theorie,  die  sich  schon  im  Laufe  des 
2.  Jahrhunderts  einbürgerte,  daß  bereits  die  Urapostel  das  Evan- 
gelium auf  der  ganzen  Welt  verkündigt  hätten.  War  dem  so, 
dann  waren  alle  folgenden  Missionare  nicht  mehr  Apostel,  da 
sie  nicht  mehr  die  ersten  waren,  die  das  Evangelium  in  den 
Ländern  verkündigten  ^. 

Wie  es  zu  der  exorbitanten  Hochschätzung  der  Urapostel 
gekommen  ist*,  ist  schon  angedeutet  worden.  Ihre  Tätigkeit  soll 
als  Ersatz  dafür  angesehen  werden,  daß  Jesus  Christus  selbst  nicht 
in  allen  Ländern  missionierend  gewirkt  hat.  Dazu:  der  Glaube 
an  das  nahe  Weltende  erzeugte  mit  einer  gewissen  Notwendigkeit 
die  Yorstellung.  daß  das  Evangelium  schon  überall  verkündigt  sei; 
denn  erst  nach  der  universalen  Terkimdigung  kann  das  Ende  ein- 
treten; den  Aposteln  aber  gebührt  das  Verdienst  dieser  wmider- 
baren  Verbreitung.  Endlich,  das  was  heute  als  christlich  gilt, 
kann  als  solches  nur  durch  den  Rückgang  auf  das  Alteste,  also 
auf  das   Apostolische,   legitimiert  werden-'.     Aus   diesen  Gründen 


^)  Xur  die  Verkündigung  des  Wortes,  schlechterdings  keine  andere 
Tätigkeit  haben  die  Apostel  auszuüben.  Diese  Vorstellung  ist  schon  Act.  6 
ausgeprägt  und  ist  so  lange  festgehalten  worden,  als  das  Gedächtnis  die  Zeit 
wirklicher  Apostel  festhielt.  In  der  Abgar-Quelle,  welche  Eusebius  (h.  e.  1, 13) 
ausgeschrieben  hat,  wird  auch  bestätigt,  daß  der  Apostel  kein  Geld  nehmen 
darf;  außerdem  fügt  sie  noch  einen  wertvollen  Zug  zu  den  Verpflichtungen 
des  Apostolats  hinzu:  Thaddäus  sagt,  als  er  aufgefordert  wurde,  in  kleinem 
Kreise  das  Wort  Gottes  zu  verkündigen :  „Ich  werde  jetzt  schweigen;  da  ich 
aber  abgesandt  bin,  das  Wort  öffentlich  zu  verkündigen  (y.)-iov:ai),  versammle 
mir  morgen  alle  deine  Bürger,  und  ich  werde  zu  ihnen  predigen". 

-)  Es  ist  natürlich  nur  Hohn,  wenn  Cyprian  von  den  Aposteln  Novatians 
spricht  (ep.  55,  24). 

*)  Eusebius  ist  fi-eilich  mit  seiner  eigenen  Darstellung  in  Konflikt  ge- 
raten; man  halte  die  Stellen  II,  3;  III,  1—4  und  III,  37  zusammen. 

■*)  Die  Vorstellung  von  gemeinsamen  Kundgebungen  aller  Apostel  findet 
sich  schon  in  der  Didache  (s.  die  Aufschrift),  in  dem  Judas-  (und  II  Petrus-) 
Brief  und  bei  Justin  (s.  Apol.  I,  62). 

*)  S.  TertulL,  de  carne  2:  „apostolorum  erat  tradere".  Die  Idee  der 
apostolischen  Überlieferung,  an  sich  uralt  und  eines  geschichtlichen  Kerns 
nicht  ermangelnd,  hat  sich  zuerst  in  Rom  —  und  gewiß  nicht  ohne  Einfluß 


294        Die  ^lissionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

ist  das  Ansolioii  der  TTrapostel  so  iin2,-elieucr  gesteigert  worden; 
es  wurde  ihre  Aiissendung  in  alle  AVeit  geradezu  ins  ,, Credo"  auf- 
genommen ^  AVir  sind  heute  nicht  mehr  imstande,  das  —  jeden- 
falls höchst  bescheidene  —  Maß  von  "Wirklichkeit  festzustellen, 
welches  dem  Glauben  an  die  universale  Missionstätigkeit  der 
Apostel  zugrunde  liegt.  Sicher  aber  sind  alle  Vorstellungen  von 
der  universalen  und  einheitlichen  kircheuorganisatorischen  Tätig- 
keit der  zwölf  Apostel  für  die  lleidenkirchen  ins  Reich  der 
Legenden  zu  verweisen-. 

Von  der  Tätigkeit  der  Missionare  (Apostel)  des  2.  Jahrhunderts 
wissen  wir  leider  in  concreto  so  gut  wie  nichts  und  hören,  außer 
dem  Namen  Pantänus  und  der  Mission  dieses  alexandriuischen 
Lehrers  nach  „Indien"  •^,  auch  keine  Namen.    Vielleicht  haben  wir 


des  geuus  loci  et  imperii  —  zu  der  Vorstellung  und  Theorie  der  durch 
Sukzession  sich  vermittelnden  Überlieferung  verdichtet  und  schematisiert. 
Später  ist  diese  Theorie  gemeinchristlich  geworden  und  konstituiert  den 
Begrift'  des  Katholischen.  Origeues  vertritt  sie  mit  derselben  Sicherheit  wie 
Tertullian,  s.  z.B.  de  prineip.  IV,  9:  „Regula  et  discipliua,  quam  ab  Jesu 
Christo  traditam  sibi  apostoli  per  successionem  posteris  quoque  suis  sanctam 
ecclesiam  docentibus  tradiderunt"'. 

')  S.  das  Nähere  in  meinem  Lehrbuch  der  Dogmeugesch.  1  ^  S.  153  —  156; 
unten  im  1.  Kapitel  des  4.  Buches  komme  ich  auf  die  Missionslegende  zurück; 
aber  eine  Erschöpfung  des  unendlichen  Stotfes  ist  nicht  beabsichtigt;  ich 
werde  ihn  nur  streifen.  Das  Höchste  und  Ausschweifendste  iu  bezug  auf  die 
Bedeutung  der  Zwölfapostel  findet  sich  in  der  Pistis  Sophia  e.  7  (Schmidt 
p.  7).  Jesus  spricht  zu  den  Zwölfen:  „Freuet  euch  nun  und  jubelt,  denn  als 
ich  mich  aufmachte  zur  Welt,  führte  ich  von  Anfang  an  zwölf  Kräfte  mit 
mir,  wie  ich  es  euch  von  Anfang  an  gesagt  habe,  welche  ich  von  den  zwölf 
Erlösern  (oioTrjQi'g)  des  Lichtschatzes  gemäß  dem  Befehle  des  ersten  Myste- 
riums genommen  hatte.  Diese  nun  stieß  ich  in  den  Mutterleib  eurer  Mutter, 
während  ich  in  die  Welt  kam,  d.  h.  diese,  die  heute  in  eurem  Körper  sind. 
Denn  es  wurden  euch  diese  Kräfte  vor  den  Augen  der  ganzen  Welt  gegeben, 
■weil  ihr  die  seid,  welche  die  ganze  Welt  retten  werden,  und  damit  ihr  im 
stände  seid,  die  Drohung  der  Archonteu  der  Welt  und  die  Leiden  der  Welt 
und  ihre  Gefahren  und  alle  ihre  Verfolgungen  ....  zu  ertragen\  Vgl.  e.  8  p.9: 
„Freuet  euch  nun  und  jubelt,  denn  ihr  seid  selig  vor  allen  Menschen,  die  auf 
der  Erde,  weil  ihr  es  seid,  die  die  ganze  Welt  retten  werden".  Übrigens 
heißen  auch  iu  den  Eklogen  des  Clemens  (c.  16)  die  Apostel  „ocoTr/of^  riöv 
drß()w:Ton'";  Origenes  nennt  sie  „Könige"  (Hom.  XII,  2  iu  Num.  t.  10  p.  lo2f.), 
und  er  mißbilligt  (De  prineip.  II,  8,  5)  jene  Auslegung  des  Herrnworts:  „Meine 
Seele  ist  betrübt  bis  zum  Tode"  nicht,  nach  welcher  Jesus  unter  seiner  Seele 
die  Apostel  verstanden  habe;  die  multitudo  eredentium  sei  das  corpus  Christi 
und  die  Apostel  seien  die  Seele! 

-)  Beachtenswert  ist,  daß  nach  altchristlicher  Vorstellung  sich  auch  das 
inosaische  Gesetz  über  die  ganze  Welt  verbreitet  hat.  Die  Predigt  der  zwölf 
Apostel  in  der  ganzen  Welt  findet  also  die  Wirkungen  vor,  welche  jenes  Ge- 
setz hervorgerufen  hat  (s.  z.  B.  die  Ausführungen  Eusebs  im  1.  lindi  der 
Kirchenge-schichte). 

3)  Euseb.,  h.  e.  V,  10. 


Die  christlichen  Missionare.  295 

den  Piipylus  in  den  Acta  Carpi  et  Papyli  als  Missionar  zu  betrachten; 
denn  er  sagt  im  Verhöre  (c.  32):  h  Jidof]  Enag^iu  y.al  ttöXh  eloiv 
fwv  Tey.va  xmd  {^eov.  Vielleicht  war  Attahis  in  Lyon  ein  Missionar 
(Euscl).  h.  c.  A*.  l);  aber  beides  ist  unsicher.  Ein  Name  wäre 
freilich  /ai  nennen,  der  der  Thecla  (nach  der  Acta  Pauli),  wenn 
wir  auf  diesen  Roman  etwas  geben  könnten.  Sie  ist  die  einzige 
Frau,  welche  den  Ehrentitel  „>/  djrdaTo/los"  erhalten  hat.  Aber  es 
ist  sehr  zweifelhaft,  ob  ihre  Verehrung  außer  der  Legende  von 
ihr  irgend  eine  tatsächliche  Grundlage  gehabt  hat;  doch  kann  die 
Legende  einen  historischen  Kern  einschließen.  Selbsterlebte  Fälle, 
daß  ein  Missionar  und  Lehrer  später  zum  Bischof  der  von  ihm 
Bekehrten  erwählt  worden  ist,  hat  Origenes  im  Auge  ^ ;  aber  damals 
hatte  sich  schon  der  Unterschied  von  ,,Missionar"  und  „Lehrer" 
verwischt  und  die  alte  Trias  existierte  nicht  mehr. 

Können  wir  auch  von  der  Tätigkeit  der  Apostel  im  2.  Jahr- 
hundert nichts  Bestimmtes  aussagen  —  am  Anfang  des  3.  sind  wohl 
nur  noch  letzte  Nachzügler  dieses  Standes  vorhanden  gewesen; 
daß  die  Kirche  wächst  ovöe  tcöv  didaoy.f'dcov  TtAeovatövjcov,  sagt 
Origenes  de  princ.  IV,  1,  If.  ausdrücklich  — ,  so  ist  doch  die 
Schöpfung  und  Existenz  dieser  heroischen  Institution  an  sich  von 
großem  Interesse.  Ihre  Erfolge  dürfen  freilich  nicht  zu  hoch 
geschätzt  werden;  denn  erstlich  trifft  die  „Apostellehre"  haupt- 
sächlich Bestimmungen,  um  vor  dem  Mißbrauch  des  Amtes  zu 
schützen  —  es  mul.l  schon  am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  der  Ge- 
fahr der  Verwilderung  unterlegen  sein,  was  sehr  begreiflich  ist  — , 
zweitens  hätte  sich  die  stilisierte  Vorstellung  von  der  grundlegenden 
und  eigentlich  schon  abschließenden  Missionstätigkeit  der  Urapostel 
gar  nicht  bilden  und  so  fest  einbürgern  können,  wenn  lebendige 
Apostel  im  2.  Jahrhundert  noch  eine  große  Rolle  gespielt  hätten. 
Vielleicht  ist  es  dalier  nicht  zu  kühn  zu  sagen,  daß  die  Kirche  in 
Wahrheit  nur  zwei  wirkliche  Apostel  besessen  hat,  einen  großen 
und  einen  kleinen,  den  Paulus  und  Petrus,  dazu  etwa  noch  den 
ephesinischen  Johannes.  Schwerlich  haben  jene  anderen  berufs- 
mäßigen Apostel,  die  besitzlosen  und  rastlos  wandernden,  das 
Hauptverdienst  an  der  Ausbreitung  des  Christentums  —  wir  müßten 
sonst  von  ihnen  hören  oder  doch  ihre  Namen  kennen :  aber  schon 
Eusebius  war  über  sie  so  unwissend  wie  wir.  Das  Hauptverdienst 
der  Ausbreitung  wird  den  nicht  berufsmäßigen  Aposteln  gebühren 
und  dazu  den  „Lehrern". 


')  S.  Hom.  XI,  4  iu  Num.  t.  10  p.  113:  ,Sicut  in  aliqua,  verbi  gratia, 
civitate,  ubi  nondum  Christiani  nati  sunt,  si  accedat  aliquis  et  docere  in- 
cipiat,  laboret,  instruat,  adducat  ad  fidem,  et  ipse  postmodum  iis,  quos  docuit, 
princeps  et  episcopus  fiat". 


296       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

5. 

Die  Propheten^,  obschon  sie  nach  der  „Apostellehre"  und 
anderen  Zeugnissen  aucli  besitzlos  sein  sollten  wie  die  Apostel, 
sind  doch  nicht  zu  den  l)erufsmäßigen  Missionaren  zu  rechnen; 
aber  sie  haben  wie  die  Lehrer  indirekt  für  die  Mission  eine 
Bedeutung-  gehabt.  Ihr  charismatisches  Amt  befähigte  sie  zur 
Verkündigung  des  Wortes  Grottes  und  wies  sie  dazu  an:  ihre  be- 
geisterten Reden  wurden  auch  von  Heiden  gehört,  und  Paulus 
setzt  (I  Cor.  14.  24)  gewiß  mit  Grund  voraus,  daß  die  prophetische 
Rede  und  die  prophetische  Herzenskündigung  auf  diese  einen  be- 
sonderen Eindruck  machen.  Bis  gegen  Ende  des  2.  Jahrhunderts 
haben  sich  die  Propheten  als  Stand  in  der  Kirche  erhalten;  ein 
Prophet  war  noch  der  Bischof  Melito  von  Sardes-;  die  monta- 
nistische Bewegung  hat  den  urchristlichen  Prophetismus  gesteigert 
und  zu  Ende  geführt.  Yereinzelte  Zeugnisse  sind  auch  später  noch 
vorhanden^:  aber  für  die  Kirche  bedeuten  solche  I'ropheten  nichts 
mehr,  ja  sie  wurden  vom  Klerus  wohl  kurzerhand  als  falsche  Pro- 
pheten beurteilt.  Wie  die  Apostel,  so  waren  auch  die  Propheten 
in  einer  gefährlicJien  Lage  und  konnten  leicht  verwildern.  Die 
Bestimmungen  der  „Apostellehre"  (c.  II)  lehren,  welche  Vorsichts- 
maßregeln man  schon  am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  gebrauchen 
mußte,  um  die  Gemeinden  vor  Schwindelpropheten  zu  schützen. 
Lucian  zeigt  in  Peregrinus  Proteus  einen  solchen:  auch  das  stimmt 
mit  der  „Apostellehre"  überein,  daß  Peregrinus  als  Prophet  sich 
bald  in  einer  Gemeinde  niederläßt,  bald  umherzieht  in  Begleitung 
von    ihn    besonders   verehrenden   Christen:    die    Propheten    waren 


*)  Sie  wurden  in  der  Heideukirche  stets  von  den  Wahrsagern  ifu'a-TFi;) 
unterschieden  (s.  Hermas,  Mand.  11;  Iren,  fragm.  2o  [ed.  Harvey]:  oüro^ 
oiy.hi  c/jc  :jooq^}jT>]g  «/./.'  oj;  närrig  /.oytad/jOETat),  aber  nicht  immer  werden  die 
unterscheidenden  Merkmale  deutlich  gewesen  sein.  Das  „aliquid  praenun- 
tiare"  gehört  z.  B.  nach  Tertulliau  (de  carne  2)  auch  zum  Beruf  des  Propheten. 

-)  Tertullian  (de  praescr.  3)  zählt  die  Propheten  als  besonderen  Stand 
nicht  mehr  mit:  „Quid  ergo,  si  episcopus.  si  diaconus,  si  vidua,  si  virgo,  si 
doctor,  si  etiam  martyr  lapsus  a  regula  fuerit."  In  einem  sehr  alten  christ- 
lichen Stück,  das  uns  Grenfell  und  Hunt  geschenkt  haben  (The  Oxyrhyn- 
chus  Papyri  I,  1898,  Nr.  V  ]>.  8f.,  s.  Sitzungsber.  der  Preuß.  Akad.  1898 
S.  ölGff. ).  linden  sich  die  Worte:  rö  -TQfx/  tjroidr  jrvevfia  id  oco/iaTFiöv  egtiv  zfjg 
:roor/r]Tix)ig  ra|«w?,  o  Forir  ro  atoua  tTjc  aagy-o?  'hjoov  Xqiotov  tÖ  fttyn-  ri] 
avlhjomcnqTi  Siä  Mania?.  Leider  ist  das  Fragment,  welches  vielleicht  aus  der 
verlorenen  Schrift  Melitos  Tiftn  .-rnocpipeUn  stammt,  so  kurz  und  abgerissen, 
daß  ein  sicheres  Urteil  nicht  möglich  ist.  Aber  zu  dem  Ausdruck  i)  :TQO(pr]- 
TiyJj  tück;  ist  Serapion  v.  Antiochia,  ep.  ad  Caricum  et  l-'ontium  (Euseb.,  h.  e. 
^^  19,  2)  zu  vergleichen:  >}  h'Fnyfta  jiji  y>Fv8ovg  tavttjg  lä^EW?  rfjg  L-Tthyofih'r]g 
vm;  ntjo'fijTfiag.  Der  Ausdruck  »y  nQOfj  ijrty.t]  rä^tg  war  also  noch  um  das 
J.  200  ein  geläufiger. 

*)  S.  Firmilian  bei  Cyiir.,  ep.  75,  10. 


Die  christlichen  Missionare.  297 

iiichr  an  eine  bestimmte  Gemeinde  gebunden.  Auch  Proitlierinneii 
haben  niclit  gefehlt;  man  findet  sie  sowohl  in  der  großen  Kirche 
als  namentlich  bei  den  Gnostikern^. 

Unser  Quellenmaterial  in  bezug  auf  die  urchristliciien  l'ro- 
pheten  ist  sehr  umfangreich,  und  viele  noch  unerledigte  Fi-agen 
knüpfen  sich  an  dasselbe;  so  ist  z.  B.  das  Yerhältnis  der  christ- 
lichen Propheten  zu  den  zahlreichen  Kategorien  heidnischer 
Propheten  (ägyptischer,  syrischer,  griechischer),  die  Avir  aus  der 
liiteratur  und  den  Inschriften  kennen,  noch  niemals  untersucht 
worden -:  ebenso  fehlt  noch  eine  gründliche  Untersuchung  über 
die  Idee  der  prophetischen  Sukzession.  Aber  für  die  Zwecke, 
die  wir  hier  verfolgen,  bietet  das  Material  nichts;  denn  über  die 
Missionstätigkeit  der  Propheten  erhalten  wir  keine  Kunde. 

^)  Aus  der  kojitischen  Übersetzung  der  Acta  Pauli  (Briefwechsel  des 
Paulus  mit  der  coriuthischen  Gemeinde)  haben  wir  gelernt,  daß  der  dort 
genannte  corinthische  (jemeindeprophet  nicht  ein  Mann,  sondern  eine  Frau 
gewesen  ist  (Name:  Theonoe.  nicht  Theouas).  Noch  eine  zweite  Proiihetin, 
Namens  Myrte,  kommt  in  diesen  Akten  vor.  Origenes  schreibt  (Hom.  V,  2 
in  Judic.  t.  11  p.  250):  „Cum  plurimi  iudices  viri  in  Israel  fuisse  referuntur, 
de  nullo  eorum  dicitur,  quia  propheta  fuerit,  nisi  de  Debbora  muliere.  prae- 
stat  et  in  hoc  non  minimam  consolationem  mulierum  sexui  etiara  prima 
ipsius  literae  facies  et  j^rovocat  eaa,  ut  nequaquam  pro  infirmitate  sexus 
desperent,  etiam  prophetiae  gratiae  capaces  se  fieri  posse,  sed  intelligant  et 
credant,   quod  meretur  hanc  gratiam  puritas  mentis,  non   diversitas  sexus." 

^)  Sofern  sich  hier  und  dort  Schwindler  unter  die  Propheten  mischten, 
hat  ein  Unterschied  überhaupt  nicht  bestanden.  Eine  interessante  Charak- 
teristik hat  Celsus  von  den  Propheten  gegeben  (Orig.  c.  Cels.  VII,  9.  11):  „Es 
gibt  viele,  die,  obgleich  sie  Leute  ohne  Ruf  und  Namen  sind,  mit  der 
größten  Leichtigkeit  und  bei  dem  nächsten  besten  Anlaß  sowohl  innerhalb 
der  Heiligtümer  als  außerhalb  derselben  sich  gebärden,  als  wären  sie  von 
prophetischer  Ekstase  ergriflen:  andere  als  Bettler  umherschweifend  und 
Städte  und  Kriegslager  umziehend  geben  dasselbe  Schauspiel.  Einem  jeden 
sind  die  Worte  geläufig,  ein  jeder  ist  damit  sofort  bei  der  Hand:  .Ich  bin 
Gott'  oder  (und)  , Gottessohn'  (.-raT;  dsov)  oder  , Geist  Gottes'.  ,Ich  bin  ge- 
kommen, weil  der  Untergang  der  Welt  schon  im  Anzug  ist,  und  ihr,  Menschen, 
fahret  wegen  eurer  Ungerechtigkeiten  ins  Verderben !  Aber  ich  will  euch 
retten,  und  ihr  werdet  mich  bald  wiederkommen  sehen  mit  himmlischer 
Macht!  Selig  der,  welcher  mich  jetzt  ehrt!  Alle  übrigen  werde  ich  dem 
ewigen  Feuer  übergeben,  die  Städte  sowohl  als  die  Länder  und  die  Menschen. 
Diejenigen,  welche  jetzt  die  ihnen  bevorstehenden  Strafgerichte  nicht  erkennen 
wollen,  werden  dereinst  vergeblich  anderen  Sinnes  werden  und  seufzen!  Die 
aber,  welche  an  mich  geglaubt,  die  werde  ich  ewiglich  bewahren!'  .... 
Diesen  großartigen  Drohungen  mischen  sie  dann  noch  seltsame,  halbver- 
rückte und  absolut  unverständliche  Worte  bei,  deren  Sinn  kein  noch  so  ver- 
ständiger Mensch  herauszubringen  vennag,  so  dunkel  und  nichtssagend  sind 
sie;  aber  der  erste  beste  Schwachkopf  oder  Gaukler  vermag  sie  zu  deuten, 
wie  es  ihm  beliebt  ....  Diese  angeblichen  Propheten,  die  ich  selbst  mehr 
als  einmal  mit  meinen  Ohren  gehört,  haben,  nachdem  ich  sie  überführt,  mir 
ihre  Schwächen  bekannt  und  eingestanden,  daß  sie  ihre  unfaßbaren  Worte 
selbst  erfunden  hätten.'' 


29S       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

6. 

Die  „Apostellehre''  erwähnt  die  Lehrer  an  zwei  Stellen  (13,  2: 
15,  1.  2).  und  zwar  als  einen  besonderen  Stand  in  den  Gemeinden. 
Sie  leisten  ihnen  denselben  Dienst  wie  die  Propheten,  nämlich 
den  Dienst  am  Wort,  gehören  deshalb  zu  den  „Geehrten"  und 
können,  wie  die  Propheten,  Anspruch  auf  Unterhalt  erheben. 
Dagegen  sind  sie  augenscheinlich  nicht  zu  Besitzlosigkeit  ver- 
pflichtet^, auch  wandern  sie  nicht  pflichtmäßig,  sondern  bleiben 
in  der  Regel  in  der  Gemeinde  seßhaft. 

Diese  Angaben  empfangen  erstlich  eine  Bestätigung  aus  jenen 
Quellenstellen,  in  welchen  Apostel,  Propheten  imd  Lehrer  zu- 
sammengenannt sind  (s.  o.  S.  288  0".),  sodann  aus  einer  Reihe  von 
einzelnen  Zeugnissen,  die  da  zeigen,  daß  die  l^ehrer  ein  Stand  in 
der  Christenheit  waren,  und  daß  sie  hohes  Ansehen  im  2.  Jahr- 
hundert und  zum  Teil,  wie  wir  sehen  werden,  auch  noch  in  der 
Folgezeit  genossen  haben.  Zunächst  beweist  schon  die  niclit  selten 
begegnende  Versicherung  eines  Schriftstellers,  daß  er  nicht  in  der 
Eigenschaft  eines  Lehrers  schreibe,  resp.  Vorschriften  gebe,  ein 
wie  bedeutendes  Ansehen  der  wahrhaftige  Lehrer  genoß,  und  wie 
man  ihm  das  Recht  zusprach,  allgemein  gültige,  verpflichtende 
Anweisungen  zu  geben.  So  versichert  Barnabas  zweimal  (1,  8; 
4,  9):  eyo)  Öl  ovy  cbg  öiödoxalog  (Vd'  (bg  eig  e^  v/licöv  vnodei^co, 
und  Jioklu  de  i')£?,(ov  yodrpeiv  ovy  Mg  dtddoxa?Mg'^.  Ignatius  er- 
klärt (ad  Eph.  3,  1):  ov  öiaTuooofiai  vfuv  cog  Cbv  Jig  .  .  .  7tooo?mAco 
v/üv  cbg  ovrdiöaoyMh'jaig  jiioi<'-\  und  noch  im  3.  Jahrhundert  schreibt 
Dionysius  von  Alexandrien  (ep.  ad  Basil.):  eyoj  de  ov-/,  <^'^^  öiÖd- 
oxalog,  uir  cbg  juercl  7iäot]g  aTrXcjTijTog  Ttgoorjxov  fjjudg  äXltjAoig 
StriXeyeodai^.  Die  Warnung  des  Jacobusbriefes  (3,  l);  fit]  noXlol 
öiödoxaloi  yiveode,  beweist,  wie  gesucht  dieser  Stand  in  der  Ge- 
meinde war,  von  dem  Hermas  (Sim.  IX,  25,  2)  ausdrücklich  sagt, 
daß  seine  Vertreter  den  heiligen  Geist  für  denselben  empfangen 
hätten^.     Derselbe  Ilermas  beruft  sich  (Mand.  IV,  3,  I)  auf  einen 

')  Wenn  von  Origenes  erzählt  wird  (Euseb.,  h.  e.  YT,  3),  daß  er  den 
evangelischen  Spruch,  nicht  zwei  Stöcke  usw.  zu  haben,  befolgt  hat,  so  ist 
das  ein  freier  Entschluß  von  ihm  gewesen.  Kurz  vorher  wird  erzählt,  daß 
er  sich  durch  Verkauf  seiner  Bücher  eine  Leibrente  verschafft  habe,  um  ganz 
sorgenfrei  zu  sein. 

^)  Aber  andererseits  sagt  er  c.  9,  9:  oiöev  ö  r}]v  I'ikj'vxov  bioQtav  rf/g 
öii)ayjj?  aviov  -Of/ifvog  ir  tj/iiv. 

^)  Man  beachte  hier  „diardaaofua",  welches  Ignatius  (Trall.  ■'>,  3;  llöni.  4,  3) 
von  den  Aposteln  braucht;  s.  Trall.  7,  1 :  tü  öiaräyfiara  xihv  änooTolMr. 

*)  Vgl.  auch  noch  Counuodian,  Instruct.  11,22,15;  „Non  sum  ego  doctor, 
sed  lex  docet" ;  11,  16,  1:  „Si  quidem  doctores,  dum  exspectant  munera  vestra 
aut  tinient  personas,  laxant  singula  vobis;  et  ego  non  doceo." 

'')  Atöüaxakoi  Ol  diSä^arzsg  asfiröjg  xai  uyviog  rov  /Myov  tot  xiujtov  .... 
xuOöjg  y.al  aaoi'/.ußov  tu  nrevfia  zu  äyior. 


Die  chfistliehen  Missionare.  2',)0 

von  ihiii  g-ohörten  Ausspruch  einiger  Ijelirer  betreffs  der  Buße, 
der  dann  von  dem  Engel  finsdrücklich  bestätigt  wird.  Diese  Stelle 
zeigt,  daß  es  zur  Zeit  des  Hernias  in  Rom  diönoxaloi  gab,  die  in 
hohem  Ansehen  standen.  Eine  ganze  Reihe  von  Lehrern  nennt 
uns  Clemens  Alex.  (Strom.!,  I,  11).  Die  Stelle  zeigt  zugleich, 
wie  international  sie  waren:  „^lein  Werk  soll  ein  einfaches  Rild 
und  Gremälde  jener  klaren  und  lebendigen  Lehren,  sowie  jener 
seligen  und  wahrhaft  verehrungswürdigen  Männer  sein,  welche  ich 
zu  li(tren  gewürdigt  worden  bin.  Der  eine  von  ihnen,  der  lonier, 
war  in  Griechenland,  zwei  andere  in  Großgrieehenland  —  der  eine 
von  ihnen  stammte  aus  Coelesyrien,  der  andere  aus  Ägypten  — , 
wieder  andere  traf  ich  im  Orient,  und  zwar  einen  aus  dem  Lande 
der  Assyrer,  einen  anderen,  einen  geborenen  Hebräer,  in  Palästina. 
Bei  dem  letzten  aber,  den  ich  traf  (seiner  Bedeutung  nach  war  er 
wohl  der  erste)  ließ  ich  mich  nieder.  Ich  hatte  ihn  in  Ägypten,  wo 
er  verborgen  war,  aufges])ürt,  die  sicilische  Biene  (Pantänus).^' 
Eine  ausfülirliche  Anweisung  über  Lehrer  besitzen  wir  in  den 
pseudoclementinischen  Briefen  de  virginitate  (I,  II):  „Doctores 
esse  volunt  et  disertos  sese  ostendere  .  .  .  neque  adtendunt  ad  id 
quod  dicit  [Scriptura]:  ,Ne  multi  inter  vos  sint  doctores,  fratres, 
neque  omnes  sitis  prophetae'  .  .  .  Timeamus  ergo  iudicium  quod 
imminet  doctoribus;  grave  enim  vero  iudicium  subituri  sunt  doc- 
tores illi ,  qui  docent  et  non  faciunt  ^,  et  illi  qui  Christi  nomen 
mendaciter  assumunt  dicuntque  se  docere  veritatem,  at  circum- 
cursant  et  temere  vagantur  seque  exaltant  atque  gloriantur  in 
sententia  carnis  suae  .  .  .  Verumtamen  si  accepisti  sermonem 
scientiae  aut  sermonem  doctrinae  aut  prophetias  aut  ministerii, 
laudetur  deus  .  .  .  illo  igitur  charismate,  quod  a  deo  accepisti  (seil. 
yaQiojuaTi  di6ayj]g)^  illo  inservi  fratribus  pneumaticis,  prophetis,  qui 
dignoscant  dei  esse  verba  ea,  quae  loqueris,  et  enarra  quod  acce- 
pisti Charisma  in  ecclesiastico  conventu  ad  aedificationem  fratrum 
tuorum  in  Christo."  Diese  Stelle  zeigt,  daß  es  in  den  Gemeinden 
noch  Lehrer  und  Propheten  gab,  daß  jene  diesen  nachstanden, 
resp.  sich  eine  Kontrolle  gefallen  lassen  mußten,  und  daß  —  man 
vergleiche  das  ganze  Kapitel  —  schwere  Mißstände  in  diesem 
Stande  zu  bekämpfen  waren.  Naturgemäß  traten  schon  frühe  aus 
dem  Stande  der  freien,  der  ganzen  Gemeinde  dienenden  Lehrer 
einzelne  hervor,  die  sich  eine  besonders  tiefe  Erkenntnis  der 
dixaicoinaTa  rov  ßeov  zutrauten  und  sich  daher  nicht  an  die  Christen 
ohne  Unterschied,  sondern  an  die  Geförderten  oder  Gebildeten 
d.  h.    an    irgend    welche    Auslese    richteten.      Auch    ging    das 


^)  Vgl.  Apostellebre   11,  10:    ngocf/jT»]? ,    et  ä  SiSdoy.ei  ov  noiei,  yevdoJZQo- 


;}()0       Die  Missionare ;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

charismatische  Lehrertum  unvermerkt  in  das  profane 
über,  liier  ist  der  Punkt  gegeben,  von  Avelchem  ans  eine  Vm- 
bihhmg  der  Institution  der  Lehrer  eintreten  mußte  und  eingetreten 
ist;  denn  es  lag  nun  selir  nahe,  auch  in  der  Christenheit  Schulen 
zu  errichten,  wie  solche,  von  griechischen  und  römischen  Philo- 
sophen begrüiulet,  in  jener  Zeit  zahlreich  bestanden.  Diese  Schulen 
konnten  in  der  Gemeinde  sozusagen  eingebettet  bleiben :  sie 
konnten  sich  aber  auch  sehr  leicht  sektiererisch  entwickeln;  denn 
jeder  Schule  haftet  diese  Tendenz  an.  Hierher  gehört  die  Tätig- 
keit der  wandernden  christlichen  Apologeten,  die  wie  Justin^  und 
Tatian-  in  den  großen  Städten  Schulen  stifteten;  hierher  gehören 
Schulgründungen  wie  die  des  Rhodon  und  der  beiden  Thoodoti 
in  Rom  ^;  hierher  gehören  die  Unternehmungen  vieler  sogenannter 
Gnostiker,  hierher  gehört  vor  allem  die  alexandrinische  Katechen- 
schule (und  ihr  Ableger  in  Cäsarea  Pal.),  deren  Ursprung  freilich 
in  tiefes  Dunkel  gehüllt  ist^  und  die  Schule  des  Lucian  in  An- 
tiochien  (hier  hören  wir  von  ^LvXXovxiavioxai^  also  von  einem  Zu- 
sammenschluß ähidieh  denen  in  den  Philosophenschulen).  Aber 
gerade  der  Gefahr  gegenüber,  die  Kirche  Christi  in  Schulen  zu 
zersplittern  und  das  Evangelium  der  weltlichen  Bildung,  dem 
Scharfsinn  und  dem  Ehrgeiz  einzelner  Lehrer  zu  überliefern''', 
erstarkte    schließlich    das    kirchliche   Bewußtsein,    und    das    Wort 

^)  Die  Tätigkeit  des  .Tustin  kennen  wir  am  besten  aus  den  Acta  Justini. 
Mit  seinen  Schülern  steht  er  vor  dem  Kichter  Rusticus.  Der  Richter  tragt: 
Wo  kommt  ihr  zusammen?  Justin  antwortet  erst  ausweichend,  bez.  er  will 
das  Mißverständnis  abwehren,  als  besäßen  die  Christen  einen  heiligen  Ort  für 
den  Kultus.  Auf  die  drängende  Frage:  Wo  versammelst  du  deine  Schüler? 
erwidert  Justin  dann:  fj'w  indro)  /ihro  tivoc:  MuQTtvov  lov  TiinoTirov  ßakareiov 
y.ai  jia()ä  jrävTa  zov  yQÖvor  tovtov  —  t.^eS/jiDjoa  dg  rfj  'Pco/iauor  jtöXsi  tovto 
<)EVTEQ0V  —  ov  ytriony.oi  tilhp'  rirä  ovvD.fvatv  fl  /li/  tijv  gy.Elrov.  Auch  in 
Ephesus  hatte  Justin  eine  Schule. 

-)  Über  die  Schule  des  Tatian,  die  sektiererisch  wurde,  s.  Iren.  1,  28: 
ou'jliaji  öidaay.ülov  kTaQdt'U  ....  l'Öior  yaijay.Tijoa  Scdaoxa/.yi'uv  övyFOTi'/oaTO. 
Tatian  stammte  aus  Justins  Schule. 

^)  Zu  Rliodon  Euseb.,  h.  e.  V,  13  (Rhodon  stammte  selbst  ans  der  Schule 
Tatians),  zu  den  Theodoti,  deren  Schule  sektiererisch  wurde  und  dann  den 
Versuch  machte,  sich  in  eine  Kirche  zu  verwandeln,  s.  Eu.seb,  V,  28.  .Einen 
,.d()ctor''  nennt  Tertullian  den  Praxeas,  der  seine  Lehre  in  Asien,  Rom  und 
Carthago  verbreitete,  vgl.  auch  die  Schule  des  Epigonus,  Cleomenes  und 
Sabellius  in  Rom. 

*)  Cf.  Euseb.  V,  10:  i/ynro  n'  'Ah'^avdQsia  rTjg  tmv  jriazöjr  avröüi  öiaT()ißij<; 
Toiv  d.Tu  jTaiÖKÜxg  uvi/ij  fjiiöo^örarog ,  oi'0/xa  avKo  JlavTaTvog ,  e^  ug^atov  rüong 
<)i<)aoy.a/.fi'()v  t(7jv  igQÖJV  Xöyon'  jiuq'  avroTg  ovvtozwTog.  Hieron.,  de  vir.  iul.  36: 
-Alexandriae  Marco  evangelista  instituente  semper  ecclesiastici  fuere  doctores." 
Clem.,  Strom.  I,  1,  11. 

^')  Hermas  rühmt  von  den  guten  Lehreru  (Sini.  IX,  25,  2),  daß  sie  /ojöh 
(7/.c/>?  trootj  inuvTo  t:tg  i;jridv/uo.v  jrovijfjür;  dagegen  s.  über  solche  Lehrer,  welche 
()idaxui  ^ivai  einfuhren,  Sim.  IX,  19,  2.  3;  Sim.  VIII,  6,  5;  Vis.  HI,  7,  1. 


Die  christlichen  Missionare.  ;{0| 

„Sclmle''  wiirdo  fast  ein  Sclnnäliwort  für  eine  kirrliliclio  HoikUu'- 
gemeindo'.  indosson  desliall)  starbon  die  ^^doctova^'-^  (Siödny.alot) 
—  icli  nioiiio  hier  dio  chai'ismatischon,  die  das  liecht  bosaßeii, 
in  (l(>n  (vofrosdieusttMi  zu  sprechen,  oltg-leich  sie  niclit  Kleriker 
waren  —  in  den  Gemeinden  nicht  sofort  aus,  ja  sie  liaben  sich 
länger  in  ihnen  gehalten  als  die  „Apostel"  und  „Propheten".  Von 
Anfang  an  fehlte  ihnen  das  enthusiastische  Element,  welches  jene 
charakterisiert  und  ihnen  den  Untergang  bereitet  hat.  Ferner: 
die  Unterscheidung  von  „Milch"  und  von  „starker  Speise",  von 
verschiedenen  Grraden  der  christliehen  oocpla,  ovveotg,  ejnoTi'j/i)]  und 
yvMoig  war  zu  allen  Zeiten  nicht  zu  entbehren^.  Deshalb  mußten 
sich  naturgemäß  die  ,^öiddaxaloi'-'  so  lange  in  den  Gemeinden 
halten,  als  die  Verwaltungsbeamten  resp.  die  Priester  noch  niclit 
überall  die  Qualitäten  von  Lehrern  besaßen ,  und  der  Bischof 
(samt  den  Presbytern)  noch  nicht  Beschlag  auf  die  kirchliche  Er- 
ziehung und  Unterweisung  gelegt  hatte.  Dies  aber  ist  in  manchen, 
auch  in  großen  Gemeinden,  erst  spät  d.  h.  erst  in  der  2.  Hälfte 
des  3.  oder  im  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  eingetreten.  So  lange 
aber  haben  sich  nachweisbar  hier  und  dort  „Lehrer"  erhalten  ^. 
Neben  der  neuen  und  straffen  Organisation  der  Gemeinden  (durch 

^)  Die  Kirche  der  Theodotianer  in  Rom  wird  von  ihrem  Gegner  (bei 
Euseb.,  h.  e.  V,  28)  als  eine  Schule  geschildert;  Hippolyt  nennt  die  Kirche 
seines  Gegners  Callist,  sie  schmähend,  ein  ÖibaoKcdeXov  (Philos.  IX,  12  p.  458,  9: 
462,  42);  ebenso  spricht  Rhodon  (Euseb.,  h.  e.  V,  13,  4)  von  einem  marcioniti- 
schen  Si8aoy.a?.ecov.  —  Beachtenswert  ist,  daß  Constantin  in  dem  berühmten 
Schreiben  nach  Alexandrien,  durch  welches  er  den  arianischen  Streit  be- 
schwichtigen wollte  (Euseb.,  Vita  Coust.  II,  71),  den  streitenden  Parteien  die 
Praxis  in  den  Philosophenschulen  vorhält;  aber  die  Weise,  in  der  er  es  tut, 
zeigt  deutlich,  daß  ihm  nichts  ferner  liegt,  als  die  Kirche  für  eine  Philosophen- 
schule zu  halten:  (Va  i^uxqöj  Tzagadsr/fian  rijv  v/neregav  avveoiv  vjio/:iv7'jaatt(i, 
i'aie  Si'j.^ov  xai  rovg  cpdoaotpov?  avrovg  cog  kvl  fih  änavieg  döy^iari  avvridn'Tai, 
jT0?2d}ctg  Öf::  sJiEiduv  fv  Tivi  zöjv  aTrocpäaecov  /lifqsi  öiacpcovcban',  £i  xai  ifj  rT/g 
i,-ziOT)'jfi)]g  üqetij  ;^ft)ß<'cov7:a< ,  xfj  /isvToi  zov  86y/farog  h'föasi  jiüXiv  etg  dlh'iXovg 
orfisTveovaiv.  Interessant  ist  hier  auch  der  Unterschied  von  /}  icoot'Covaa  T7]g 
i.^iazi'j/iitjg  agsTt]  und  »/  rov  ödy/iaiog  ercooig. 

^)  S.  die  paulinischen  Briefe,  den  Hebräer-  und  Barnabasbrief  usw. 
Atd.  XI,  2:  8i8äaxeiv  eig  ro  Ttoooüelvac  diy.aioovvip'  y.ui  yyojoiv  y.VQiov. 

*)  Man  vgl.  die  Bemerkungen  von  Bonwetsch  zu  Methodius'  Schrift 
„Vom  Aussatz"  (Festschrift  f.  Oettingen,  1898,  S.  51):  „Neben  dem  Bischof 
nehmen  die  Lehrer  noch  eine  hervorragende  Stellung  in  der  Gemeinde  ein. 
Sie  bilden  mit  dem  Bischof  zusammen  die  feste  Ordnung  der  Kirche.  Beiden 
gilt  jene  Mahnung,  sich  mit  heiligen  Erkenntnissen  zu  nähreu  und  himmlisch 
gesinnt  zu  sein.  Die  Lehrer  sind  mit  als  die  Schriftkuudigen  und  Inhaber 
des  Lehrstuhls  bezeichnet,  welchen  eben  hierdurch  die  Gefahr  der  Selbst- 
überhebung droht.  Zwar  auch  die  Bischöfe  sind,  wie  dieselben  Stellen  zeigen, 
Inhaber  des  Lehramts,  aber  weil  wohl  offenbar  noch  nicht  alle  Bischöfe  die 
Gabe  der  Lehrhaftigkeit  faktisch  besitzen,  können  neben  ihnen  die  Lehrer 
noch  ihre  eigentümliche  Stellung  behaupten." 


^}(I2        Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

den  Bischof,  das  Presbytorkollegiuin  und  die  Diakonen)  standen 
diese  Lehrer  wie  Säulen  eines  zertrümmerten  Gebäudes,  welche 
der  Sturm  verscliont  hatte.  Sie  paßten  nicht  in  die  neue  Ordnung 
der  Dinge  liinein.  und  es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  man  sie 
von  einer  Stelle  zur  anderen  geschoben  hat.  Tortullian  ordnet 
(de  praescr.  '•)):  „Bischof,  Diakon,  Witwe,  Jungfrau,  Lehrer, 
Märtyrer  ^"  Er  reiht  also  den  Lehrer  nicht  in  den  Klerus  ein, 
sondern  stellt  ihn  in  die  Reihen  der  geistlichen  Heroen,  und  zwar 
weist  er  ihm  —  die  Aufzählung  ist  eine  aufsteigende  —  in  dieser 
Reihe  die  zweite  Stelle  (die  erste  nach  dem  Märtyrer)  an.  In  den 
Acta  Perpet.  et  Folie,  sowie  —  ebenfalls  in  Africa  —  in  den 
Acta  Saturnini  et  Dativi  (Zeit  Diocletians,  s.  Ruinart,  Acta  Mart., 
Ratisb.  IS50,  p.  418)  begegnet  uns  der  Titel  presbyter  doctor,  und 
auch  nach  Cyprian  (ep.  2'J)  muß  man  schließen,  daß  die  l^ehrer 
in  einigen  Gemeinden  in  das  Presbyterkollegium  eingereiht  und 
als  solche  mit  der  Prüfung  der  Lektoren  betraut  worden  sind  ^. 
Dagegen  stehen  sie  in  dem  Bericht  des  Hippolyt  ap.  Epiph.  h.  42,  2 
(der  Bericht  bezieht  sich  auf  Rom  und  auf  die  Zeit  des  Marcion) 
neben  den  Presbytern  (nicht  im  Presbyterkollegium);  ol  ijneiHeig 
7iQEoßvT£Qoi  xal  <)i(VioxaXoi,  und  in  derselben  Stellung  finden  wir 
sie  noch  nach  der  Mitte  des  '.\.  Jahrhunderts  in  ägyptischen  Dörfern ; 
denn  Dionysius  von  Alexandrien  berichtet  von  seinem  Aufenthalt 
in  denselben  (Euseb.,  h.  e.  VIT,  24,  0):  ovvey.dXeoa  rovg  ngea- 
ßvTEQovQ  xal  öidaoxdlovq  tcov  ev  raig  xcojuaig  ddelfföyv.  Da  in 
diesen  Dörfern  keine  Bischöfe  vorhanden  waren,  so  folgt,  daß  die 
Lehrer  neben  den  Presbytern  damals  noch  an  der  Spitze  dieser 
Dorfgemeinden  standen. 

Aus  Ägypten  kommt  uns  diese  Kunde;  wenn  nicht  alles  trügt, 
hat  sich  überhaupt  in  Ägypten,  speziell  auch  in  Alexandrien,  das 
Institut  der  Lehrer  neben  der  episkopalen  Organisation  der  Ge- 
meinden am  längsten  erhalten  (doch  war  ihr  Recht,  in  den  Gottes- 
diensten zu  sprechen,  erloschen:  s.  u.).  In  den  Werken  des 
( )rigones  begegnen  die  Lehrer  noch  häufig  ^ ;  aber  was  mehr  sagen 
will;  nach  ihm   sind  die   „doctores"-'  neben   den  „sacerdotes^'  noch 

')  Auch  de  praescr.  14  wird  der  ^doctor"  genannt. 

-)  Cyprian  spricht  auch  (1.  c.)  von  ,doctores  audieutium" ;  die  Beziehung, 
in  welche  er  die  Lektoren  zu  diesen  setzt,  ist  nicht  zu  bestimmen.  Als  die 
Katecheten  sind  die  Doktoren  hier  und  dort  in  den  Klerus  eingestellt  worden 
und  zwar  in  das  Presbytcrkollegium.  In  den  Honiil.  Clem.  Hl,  71  ist  in  dem 
Satze:  Tt/iurs  ngsaßvitgoii?  p<;«r>;;^?;ras,  (iiaxovovg  yQqnl/^iovg,  j^tjtjac;  fv  ßfßiaixviag, 
nach  7ioi;nßvT^Qor)g  kein  Komma  zu  setzen  (gegen  Lagarde). 

')  Auch  in  denen  des  Clemens.  Nach  Quis  div.  salv.  41  soll  der  Christ 
sich  einen  Lehrer  wählen,  der  wie  ein  Beichtvater  über  ihn  wacht.  Im 
Paedag.  III,  12,  97  hat  Clemens  den  Unterschied  von  Püdagog  und  Lehrer 
uuseinandcrgeietzt;  jener  steht  tiefer. 


Die  christliclieu  Missiouare.  303 

ein  besonderer,  dorn  Stande  der  Pru^stor  paralleler  Stand  in  der 
Kirche.  Er  spricht  von  solchen,  „die  bei  uns  das  Lehramt  weise 
verwalten"  (c.  Geis.  TY;  72),  von  ,,doctores  ecclesiae"  (llom.  XIV 
in  Gen.).  Er  sagt  (llom.  IT,  1  in  Num.  t.  10  p.  19):  „Nam  saepe 
accidit,  ut  is  qui  humilem  sensuni  gerit  et  abiectum  et  qui  terrena 
sapit,  exeelsum  sacerdotii  gradum  vel  cathedram  doctoris 
insideat,  et  ille  qui  spiritalis  est  et  a  terrena  conversatione  tarn 
liber  ut  possit  examinare  omnia  et  ipse  a  nomine  iudicari,  vel 
inferioris  ministerii  ordincm  teneat  vel  etiam  in  plebeia 
multitudine  relinquatur'-' ^  und  llom.  YI,  6  in  Lcvit.  t.  9  p.  284 
liest  man:  „Possunt  enim  et  in  ecclesia  sacerdotes  et  doctores 
filios  generare  sicut  et  ille  qui  dicebat  (Gal.  4,  19)  et  iterum  alibi 
dicit  (I  Cor.  4.  15).  Isti  ergo  doctores  ecclesiae  in  huiusmodi 
generationibus  procreandis  aliquando  constrictis  femoralibus  utuntur 
et  abstinent  a  generando,  cum  tales  invenerint  auditores,  in  quibus" 
sciant  se  fructum  habere  non  posse".  Diese  Stellen,  die  aus  den 
Werken  des  Origenes  vermehrt  werden  könnten  (s.  z.  B.  liom.  II 
in  Ezecli.  und  Hom,  III:  Unterschied  von  magistri  und  presbyteri), 
zeigen,  daß  es  in  Alexandrien  (und  wohl  auch  in  Cäsarea)  im 
ersten  Drittel  des  13.  Jahrhunderts  noch  einen  Stand  von  Lehrern 
neben  dem  Bischof,  den  Presbytern  und  den  Diakonen  gegeben 
hat.  Doch  der  Schriften  des  Origenes  bedarf  es  hier  kaum,  da 
ja  die  Person  des  Origenes  selbst,  sein  Leben  und  sein  Geschick 
das  deutlichste  Zevignis  ablegen.  Was  ist  er  denn  selbst  anders 
gewesen  als  ein  öiddoxa^^og  t?)s  ixxX)]oiag.  als  solcher  auf  unge- 
zählten Reisen  geschäftig,  die  rechte  Lehre  einzuprägen  oder  zu 
schützen,  und  was  war  der  Kampf  seines  Lebens  gegen  den  „ehr- 
geizigen" und  ungebildeten  Bischof  Demetrius  anders  als  der 
Kampf  des  freien  Lehrers  der  Kirche  wider  den  Bischof  der 
Einzel  gemeinde?  L'nd  wenn  in  diesem  Kampfe,  der  mit  dem 
vollen  Sieg  der  Hierarchie  geendet  hat,  unter  anderem  auch  die 
Frage  abschließend  verneint  worden  ist,  ob  „Laien",  d.  h.  Lehrer, 
in  der  Kirche  in  Gegenwart  von  Bischöfen  Yorträge  halten  dürfen; 
wenn  selbst  noch  Bischöfe  wie  Alexander  und  Theoctistus  diese 
Frage  unter  Hinweis  auf  das  Herkommen  bejaht  haben  2,  was  ist 

')  An  dieser  Stelle  ist  auch  der  „spiritalis"'  fyvioorixög,  jzrsvfiaity.ö;)  nicht 
nur  den  Priestern,  sondern  auch  den  Lehrern  ge^^enübergestellt.  Nach  Clemens 
Alex,  ist  der  Pneumatiker  Apostel,  Prophet  und  Lehrer,  und  steht  über  allen 
irdischen  Würdenträgern;  auch  Origenes  huldigt  dieser  Auffassung. 

-)  Euseb.,  h.  e.  VI,  19.  Ihre  Begründung  zeigt  freilich,  daß  das  Recht 
von  „Laien"  —  die  Lehrer  waren  Laien  — ,  in  den  Gottesdiensten  zu  sprechen, 
in  Äg3'pten,  Palästina  und  den  meisten  Provinzen  erloschen  war;  denn  die 
beiden  bischöflichen  Freunde  müssen  ihren  Beweis  für  das  Recht  aus  der 
Ferne  und  aus  verhältnismäßig  abgelegenen  Gemeinden  holen.  Sie  schreiben: 
„Wo  sich  Leute  finden,  die  imstande  sind,  den  Brüdern  nützlich  zu  sein,  da 


304       Die  Missionare;  Modalitäten  nnd  Gegenwirkungen  der  Mission. 

das  anders  als  die  letzte  Reminiszenz  an  eine  Oi'ganisation  der 
Gemeinden,  die  älter  und  ehrwürdiger  war  als  die  bereits  alles 
iimsj)an!UMHle  kl(>rikale  Organisation?  Die  „Lehrer'-'  wurden  im 
Laufe  des  3.  Jahrhunderts  aus  der  Kirche  d.  h.  dem  Gottesdienst 
herausgedrängt^;  ein  Teil  von  ihnen  mag  sich  auch  mit  den 
Lektoren  verschmolzen  haben  -.  Gewiß  ist  der  Stand  der  Lehrer 
derjenige  gewesen,  der  in  besonders  hohem  Maße  und  frühe  der 
Gefahr  der  akuten  Hellenisierung  und  damit  der  Yerweltlichung 
ausgesetzt  war:  die  <)iddo>iaXoi  des  3.  Jahrhunderts  mögen  den 
diddoxaloi,  die  als  Genossen  neben  den  Propheten  gestanden 
hatten,  sehr  unähnlich  gewesen  sein.  Aber  die  Hellenisiei-ung  ist 
schwerlich  die  entscheidende  Ursache  des  Untergangs  des  Standes 
der  Gemeinde-Lehrer  gewesen:  es  war  auch  hier  der  Episkopat, 
der  kein  Amt  zu  dulden  vermochte,  das  sich  ihm  nicht  streng 
unterordnen  und  in  den  einfachen  und  stratfen  Organismus  der 
vom  Bischof  geleiteten  Hierarchie  eingliedern  ließ.  Seit  der  Mitte 
des  3.  Jahrhunderts  sind  nicht  alle,  aber  fast  alle  Lehrer  der 
Kirche  Kleriker  gewesen,  und  die  Unterweisung  der  Katechumenen 
übernahm  entweder  der  Bischof  selbst  oder  ein  Presbyter.  Der 
geordnete  Katechumenat  hat  dem  freien  Lehrertum  allmählich  ein 
Ende  bereitet. 

Die  alten  Lehrer  der  Kirche  waren  auch  Missionare^:  Heiden 
(nicht  nur  Katechumenen)  traten  in  ihre  Schulen  ein  und  hörten 
sie.  Von  Justin  wissen  wir  das  bestimmt  (s.  o.);  Tatian  hält  seine 
„Rode'*,  um  dem  heidnischen  Publikum   mitzuteilen,    daß   er  nun 


werden  sie  auch  von  den  heiligen  Bischöfen  aufgefordert,  Vorträge  an  das 
Volk  (die  (Gemeinde)  zu  halten,  wie  in  Laranda  Euelpis  von  Neon,  in  Iconium 
Paulinus  von  Celsus  und  in  Synnada  Theodorus  von  Atticus,  unsern  seligen 
Brüdern.  Wahrscheinlich  ist  dies  auch  an  anderen  Orten  geschehen,  wir 
wissen  es  aber  nur  nicht."  Die  drei  Genannten  sind  die  letzten  uns  be- 
kannten ,.alten''  Lehrer. 

^)  Vielleicht  darf  man  hier  auch  an  die  wichtige  Nachricht  des  Bischofs 
Alexander  von  Alexandrien  erinnern,  da(.^  Lucian  in  Antiochien  während 
dreier  bischöflicher  Regierungen  außerhalb  der  Kirche  von  Antiochien 
(d::ioorrüycoyoc/  gestanden  hat  (bei  Theodoret.,  h.  e.  1,  oj.  Lucian  war  Haupt 
einer  Schule. 

-)  iS.  über  dieses  ursprünglich  charismatische  .\rat,  welches  unter  Um- 
ständen auch  die  Pflicht  in  sich  schloß,  die  h.  Texte  zu  erklären,  meine 
Nachweise  in  den  Texten  und  Unters.  Bd.  II  Heft  5  S.  57  tf.:  „ÜI)er  den  Ur- 
sprung des  Lektorats  und  der  anderen  niederen  Weihen." 

■'')  TertuUian  beklagt  sich  darüber,  daß  die  häretischen  Lehrer  nicht 
Mission  treiben,  sondern  nur  katholische  Chiüsten  zu  gewinnen  suchen;  s.  de 
praescr.  42:  „De  verbi  autem  adrninistratione  quid  dicam,  cum  hoc  sit  nego- 
tium haereticis,  non  ethnicos  convertendi,  sed  uostros  evertendi  ....  Ita  fit, 
ut  ruinas  facilius  operentur  stantium  aedificiorum  quam  exstructionem  iacen- 
tiuni  ruinarum"  (cf.  adv.  Marc.  II,  1).  Ich  komme  später  auf  diese  Klage 
zurüi'k. 


Die  christlichen  Missionare.  ;]()5 

ein  christlicher  Lehrer  geworden  ist,  und  ebenso  ist  uns  die 
missionierende  Lehrtätigkeit  der  alexandrinischen  Vorsteher  der 
Katechetensehule  überliefert.  Origenes  hatte  auch  heidnische  Zu- 
hörer, unterrichtete  sie  in  den  Elementen  der  christlichen  Glaubens- 
lehre und  bekehrte  sie  nicht  selten  (s.  Euseb.  h.  e.  VI,  3).  Bekannt 
ist,  daß  ihn  sogar  die  Kaiserin  Mutter,  Julia  Mamäa,  nach  Antio- 
chien  kommen  ließ,  um  seine  Vorträge  zu  hören  (Euseb.  VI,  21), 
Auch  Hippolyt  hat  an  diese  einen  Lehrbrief  geschrieben,  von  dem 
sich  Bruchstücke  in  syrischer  Sprache  erhalten  haben.  Als  in 
Rom  eine  vornehme  Frau  des  Christentums  wegen  in  Anklage 
versetzt  wurde,  wurde  sehr  bald  auch  ihr  Lehrer  Ptolemäus  {6idd- 
oy.aÄog  Ixeivi]^  t(ov  Xoioriavcbv  fiaih-jadTCov  yevoue.vog)  gefänglich 
eingezogen  (Justin.,  Apol.  II,  2).  In  den  Akten  Saturnini  et  Dativi 
aus  der  Zeit  Diocletians  (Africa)  liest  man  (Ruinart,  Acta  Mart., 
Ratisb.  1859,  p.  417)  folgende  Anklage  gegen  den  Christen  Dativus, 
die  Fortimatianus  (,,vir  togatus")  in  bezug  auf  seine  zum  Christen- 
tum bekehrte  Schwester  erhob:  ,,Hic  est  qui  per  absentiam  patris 
nostri,  nobis  hie  studentibus,  sororem  nostram  Victoriara  seducens, 
hinc  de  splendidissima  Carthaginis  civitate  una  cum  Secunda  et 
Restituta  ad  Abitinensem  coloniam  secum  usque  perduxit,  quique 
nunquam  domum  nostram  ingressus  est,  nisi  tunc  quando  quibus- 
dam  persuasionibus  puellares  animos  illiciebat."  Auch  die  ganze 
Tätigkeit  der  christlichen  Apologeten  gehört  hierher,  deren  Erfolge 
für  den  inneren  Ausbau  des  Christentums  wir  sehr  hoch  veran- 
sehagen  dürfen^,  während  wir  über  das  Maß  ihrer  "Wirksamkeit 
bei   den  Heiden   nichts   wissen.     Keine  Kunde  verrät  uns,    ob  die 


^)  Aufgabe  des  Apologeten  und  Lehrers  war  es,  das  Christentum  stufeu- 
mäßig  darzulegen  und  zu  beweisen.  Von  dem  Gnostiker  Apelles  sagt  Rhodon 
(bei  Euseb.  V,  13) :  ^i^äc>>ia).og  eivui  /.eycov  ohy.  jjdei  t6  öiSaoy.öiiei'ov  v:z'  avrov 
y.oarvveiv.  „Non  difficile  est  doctori",  schreibt  Cyprian  ep.  73,  3,  ,vera  et 
legitima  insiuuare  ei  qui  haeretica  pravitate  damuata  et  ecclesiastica  veri- 
tate  couperta  ad  hoc  venit  ut  discat,  ad  hoc  discit  ut  vivat."  Welche  Be- 
deutung die  Apologetik  für  die  Propaganda  des  .Judentums  hatte,  ist  bekannt; 
die  Christen  haben  auch  hier  ein  großes  Erbe  angeti-eten.  indem  ihre  Lehrer 
die  Grundzüge  und  das  Material  der  jüdischen  Apologetik  übernehmen  konnten. 
Wahrscheinlich  die  meisten  christlichen  Apologeten  sind  direkt  oder  indirekt 
von  Philo  abhängig  und  von  den  apologetischen  Chrestomathien  der  alexan- 
drinischen .Juden,  dazu  von  philosophischen  Kompendien,  in  denen  die 
Mythologie  kritisiert  war.  —  Was  die  Vei-breitung  der  Apologien  in  der 
Kirche  betrifit,  so  gilt  wenigstens  von  der  des  Justin,  daß  sie  sehr  bald  in 
den  verschiedensten  Teilen  der  Christenheit  gelesen  worden  ist.  Irenäus 
kennt  sie  in  Lyon,  TertuUian  in  Carthago,  wahrscheinlich  Athenagoras  in 
Athen  und  Theophilus  in  Antiochien.  Dem  Tertulliau  war  am  Ende  des 
2.  Jahrhunderts  ein  ganzes  Coii^us  apologetischer  Schriften  zur  Hand;  s.  de 
testim.  1:  „Nonnulli  quidem,  quibus  de  pristina  litteratura  et  curiositatis 
labor  et  memoriae  tenor  perseveravit,  ad  eum  modum  opuscula  penes  nos 
condiderunt,  commemorantes  et  contestificantes  in  singula  rationem  et  originem 
Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  20 


',]{)()       Die  Missionaro;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Adressaten  der  meisten  Apologien,  nämlich  die  Kaiser,  diese 
Schriften  wirklich  in  die  Hand  bekommen  haben,  niemand  sagt 
uns.  ob  das  gebildete  Publikmii  von  ihnen  N^otiz  genommen  hat. 
.Ad  nostras  litteras  nemo  venit  nisi  iam  Christianus'-',  klagt  Ter- 
tullian  (de  testim.  I),  und  das  wird  auch  in  der  Regel  von  den 
Apologien  gegolten  haben.  Celsus  berücksichtigt  sie,  soviel  ich 
sehe,  gar  nicht,  obgleich  zu  seiner  Zeit  schon  mehrere  Apologien 
vorlagen.  Nur  den  Dialog  des  Aristo  von  Pella  nennt  er;  aber 
er  war  schwerlich  für  die  ganze  Gattung  charakteristisch,  denn 
sonst  wäre  er  uns  erhalten. 

Die  Apologeten  haben  sich  in  ihren  Schriften  eine  ganze 
Reihe  von  Aufgaben  gestellt,  bald  die  eine,  bald  die  andere  stärker 
betonend  und  ausführlicher  lösend.  Sie  kritisieren  das  Rechts- 
verfahren des  Staates  gegen  die  Christen:  sie  widerlegen  die  em- 
pörenden Vorwürfe,  die  man  ihnen  zuschleuderte,  die  sittlichen 
und  die  politischen;  sie  kritisieren  die  heidnischen  Mythologien 
und  den  Staatskultus;  sie  nehmen  —  in  sehr  verschiedener  Weise  — 
Stellung  zur  griechischen  Philosophie  und  suchen  sich  teils  mit 
und  neben  ihr,  teils  wider  sie  zu  behaupten^;  sie  unterziehen  das 
Leben,  das  öffentliche  und  das  private,  wie  es  gelebt  wird,  einer 
Prüfung;  sie  kritisieren  die  Kulturerrungenschaften  und  die  kon- 
ventionelle Bildung,  ihre  Ursprünge  und  ihre  Erfolge.  Aber  weiter, 
wie  stellen  das  Wesen  des  Christentums  dar,  seine  Gottes-,  Vor- 
sehungs-,  Tugend-,  Sünden-  und  Vergeltungslehre,  das  Recht 
dieser  Religion,  sich  auf  Offenbarung  zu  berufen  und  sich  als  die 
einzige  zu  behaupten;  sie  entwickeln  die  Logoslehre  und  setzen 
sie  mit  Jesus  Christus  in  Verbindung,  dessen  Ethik,  Wahrheits- 
predigt und  Sieg  über  die  Dämonen  sie  schildern.  Endlich,  sie 
suchen  den  Beweis  für  den  metaphysischen  und  ethischen  Inhalt 
dieser  Religion  zu  erbringen,  sie  von  der  Stufe  einer  blolk^i 
Äfeinung  auf  die  Stufe  einer  sicheren  Erkenntnis  zu  erheben,  und 
zugleich  —  durch  das  Mittel  des  Alten  Testaments  —  gegenüber 
dem  Vorwurf  der  Neuheit  als  die  uralte,  als  die  Menschheits- 
religion zu  erweisen"-.     Unter   den  Beweisen  sind  die  aus  der  er- 


et  traditionem  et  argumenta  sententiarum,  per  quae  recognosci  possit  nihil 
nos  aut  novum  aut  portentosum  suscepisse,  de  quo  non  etiam  comniunes  et 
publieae  litterae  ad  sutt'ragium  nobis  patrocineutur ,  si  quid  aut  erruris 
eiecimus  aut  aequitatis  admisimus." 

')  Drei  verschiedene  Stellungen  zur  griechischen  Philosophie  ergaben 
sich  dal)ei:  es  sind  wirkliche  Wahrheitserkenntnisse  in  ihr,  die  aus  Logos- 
wirkungen stannnen,  oder  es  sind  wirkliche  Wahrheitserkenutnisse  in  ihr, 
aber  es  sind  Plagiate  aus  dem  A.  T.,  oder  es  sind  in  ihr  nur  dämonische 
Nachäffungen  der  Wahrheit  zu  finden,  wie  in  der  Mythologie. 

*)  Literarische  Fälschungen  spielen  dabei  auch  eine  Rolle  —  sie  fehlen 
auch  sonst   nicht   ganz   (das  falsche  Josephuszeugnis  und  anderes)  — ,    aber 


L'ie  christlichen  ^lissionare.  ;}()7 

füllren  AVois.sa<;-u]ig.  aus  der  Kmft,  ein  sittliches  Leben  herzusrellon, 
aus  der  einleuchtenden  Yernünftigkeit  und  aus  der  Tatsache  der 
Dänienenbezwingung-  ihnen  die  wichtig-sten. 

Auch  auf  (»Henrliche  Disputationen  mit  Heiden  (Justin.  Apol.  11 : 
der  zynische  Philosoph  Crescens;  Minucius  Felix,  (^ctavius)  und 
Juden  (Justin.  Dial.  mit  Trypho;  Tertull.,  adv.  Jud.  1)  ließen  sicli 
die  Apologeten  ein.  In  ihren  Schriften  nehmen  einige  von  ihnen  das 
Recht  in  Anspruch,  ausdrücklich  im  Xamen  Gottes  und  der  Wahr- 
heit zu  sprechen:  „von  Gott  Belehrte''  nennen  sie  sich'-,  obgleich 
sie  im  strengen  Sinn  nicht  zu  den  charismatischen  Lehrern  gehörten. 

Die  Schulen,  welche  diese  Lehrer  einrichteten,  konnten  vou 
dem  Publikum  und  der  Polizei  nur  als  Philosophenschulen  be- 
trachtet werden,  ja  einige  Apologeten  haben  sich  selbst  als  Philo- 
sophen gegeben-  und  ihre  Lehre  als  Philoso])hie-'.  Sie  werden 
infolgedessen  hier  und  dort  an  den  Vorteilen  leilgenonnuen  haben, 
welche  die  Philosophenschulen  genossen,  d.  h.  vor  allem  an  der 
Freiheit  der  Bewegung,  die  diese  besaßen.  Allein  das  kann  immer 
nur  vorübergehend  gewesen  sein.  Die  Obrigkeit  mußte  bald  ein- 
sehen, daß  in  ihnen  doch  nicht  der  wissenschaftliche  Charakter 
überwog,  sondern  daß  sie  Ilervorbringungen  der  religio  Christiana 
waren,  die  nicht  zu  den  erlaubten  ü'ehörte*. 


die  im  2.  Jahrhundert  erscheinenden  Fälschungen  scheinen  mir  größtenteils 
iüdischen  Ursprungs:  im  o.  Jahrhunderfc  steht  es  anders. 

M  Vgl.  z.  B.  Aristides.  Apol.  2:  „Von  Gott  selbst  wurde  mir  verliehen, 
weise  über  ihn  zu  reden."  Diognet..  ep.  1:  zoD  dsoü  rov  y.al  tö  /Jyeir  y.al  rö 
d.y.ovEtv  yiuy  yon^yovvrog  ahoviiai  Sodrjvai  hiol  iiiv  el.Tfh'  oinoig  xt/.. 

-)  Einige  von  ihnen  behielten  selbst  den  Philosophenmantel  bei:  Justin 
heißt  schon  frühe  in  der  Kirche  „der  Philosoph  und  Märtyrer". 

')  Tl  yüo:  —  läßt  Justin,  Dial.  c.  Tryph.  1,  von  der  zeitgenössischen 
Philosophie  den  Tryphon  sagen  —  ovy  ol  qü.ooocpoi  jreol  dsou  t6v  anavTa 
noiovvTai  /.öyor,  y.al  :tsoi  fiovagylag  avroi-;  y.al  jcgovoiag  at  C^jzt'joei';  yiyvoviat 
hy.äoTOTE ;  y  ov  tovto  eoyov  ioTi  ffiloooffiag,  e^siäCsiv  ttsoI  xod  dfi'ov;  Melito: 
j'l  y.aO'  fjiiäg  (füooorfia,  ähnlich  andere. 

*)  Die  Apologeten  beklagen  sich  einerseits,  daß  die  Heiden  im  besten 
Fall  das  Christentum  für  eine  menschliche  Philosophie  halten,  und  fordern 
andererseits,  daß  —  da  das  Christentum  als  Philosophie  betrachtet  wird  — 
ihm  auch  die  Freiheit  derselben  gewährt  werde.  Tertullian  hat  sich  Apol. 46 ft". 
hierüber  sehr  ausführlich  verbreitet;  augenscheinlich  handelte  es  sich  um 
eine  praktische  Frage,  und  hin  und  her  mag  wohl  ein  christlicher  Apologet 
daran  gedacht  haben,  wenn  man  nicht  die  volle  Anerkennung  durchzusetzen 
vermöge .  wenigstens  eine  gewisse  Freiheit  als  Philosophenschule  für  sich 
und  seine  Brüder  zu  erhalten.  „Wer  zwingt  denn  einen  Philosophen  zu 
opfern  oder  zu  schwören  oder  mitten  am  Tage  zwecklos  Lampen  heraus- 
hängen? Niemand.  Vielmehr  bekämpfen  sie  öffentlich  eure  Götter  und 
klagen  in  ihren  Schriften  eure  Religionsgebräuche  an  —  und  ihr  lobt  sie. 
Sehr  viele  kläffen  auch  gegen  die  Kaiser"'  (c.  46).  Auch  die  vielen  christ- 
lichen Sekten  konnten  wohlwollende  Gegner  in  der  Annahme  bestärken,  es 
handle  sich  um  Philosophenschulen  (c.  47). 

20* 


;}08       Die  Missionare;  ^Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

7. 

,.1'hiros  cfficinnir  qnotioiis  metimur  a  vobis;  semcn  est  san- 
guis  Christiaiioriini  ....  illa  ipsa  obstinario,  quam  ex{)robatis. 
magistra  est"  —  ruft  Tertullian  den  Präsides  zu  (Apol.  50).  Die 
zahlreichsten  und  erfolgreichsten  Missionare  der  christlichen  Religion 
waren  nicht  die  berufsmäßigen  Ijehrer,  sondern  die  Christen  selbst, 
sofern  sie  treu  und  stark  waren.  Wie  wenig  hören  wir  von  den 
Erfolgen  jener  und  wie  viel  von  den  Wirkungen  dieser!  Vor 
alhnn  war  der  Konfessor  und  Märtyrer  ein  Missionar:  er  stärkte 
nicht  nur  die  schon  Gewonnenen,  sondern  er  warb  durch  sein 
Zeugnis  und  seinen  Tod  neue  Mitglieder.  Zahlreich  sind  die 
Berichte  in  den  Märtyrerakten,  die  dies  erzählen;  es  würde  viel 
zu  weit  führen,  sie  hier  wiederzugeben.  Während  sie  in  den 
Gefängnissen  saßen,  während  sie  vor  dem  Richter  standen,  auf 
dem  Wege  zum  Richtplatz  und  durch  die  Exekution  gewannen 
sie  Gläubige;  sogar  noch  nach  ihrem  Tode:  von  Potamiäna,  der 
alexandrinischen  Märtyrerin  zur  Zeit  des  Septimius  Severus,  wird 
in  einer  zeitgenössischen  Quelle  berichtet  (bei  Euseb.  VI,  5),  sie 
sei  gleich  nach  ihrem  Tod  auch  Nicht- Christen  in  der  Stadt  er- 
schienen, und  diese  seien  dadurch  zum  Übertritt  bewogen  worden. 
Das  ist  keineswegs  unglaublich;  denn  die  Märtyrerexekutionen  — 
man  lebte  doch  in  einem  Rechtsstaat  —  mußten  auf  weite  Kreise 
einen  erschütternden  und  aufregenden  Eindruck  machen  und  sie 
vor  die  Frage  stellen,  wer  hier  der  Schuldige  sei,  der  Gerichtete 
oder  der  Richter^.  Sahen  sie  aber  den  Ernst,  den  Opfermut  und 
die  Standhaftigkeit  dieser  Christen,  so  war  es  schwer,  sie  für  die 
Schuldigen  zu  halten.  Sicher  ist  also  die  Behauptung,  die  sich 
übrigens  nicht  nur  bei  Tertullian  findet,  keine  Phrase,  daß  das 
Blut  der  Christen  ein  Same  sei. 

lndess(>n  waren  nicht  nur  die  Konfessoren  und  Märtyrer 
Missionare  —  dieser  Religion  war  es  eigentümlich,  daß  jeder 
(n-nste  Bekennor  auch  der  l^ropaganda  diente  -.  Die  Christen 
sollten    „ihr  Licht  leuchten  lassen,    damit   die  Heiden   ihre   guten 


')  Schon  in  dem  alten  Briefe  der  Gemeinde  von  tSmyrnii  ülier  den  Tod 
Polycarps  heißt  es,  daß  die  Heiden  überall  von  ihm  reden.  In  der  Vita 
Gypriani  liest  man  c.  1  in  Ijezug  auf  diesen:  „Non  (|uo  aliquem  gentilium 
lateat  tanti  viri  vita." 

-)  fiehr  bezeichnend  sagt  Tertulian,  Apol.  4(5:  „Honum  huius  sectae  usu 
iani  et  de  commercio  innotuit" ;  de  pallio  6:  ,,Elinguis  philosphia  vita  contenta 
est."  Was  Tertullian  das  ralllum  sagen  läßt  (c.  5),  gilt  von  den  Christen: 
„ich  ])tiegc  an  jeder  Schwelle  und  bei  jedem  Ilausaltar  zu  stehen  und  Heil- 
mittel für  die  Sittlichkeit  anzugeben,  welche  den  Staaten,  den  Städten,  den 
Länderu  mit  mehr  Erfolg  die  Gesundheit  verschatfen  würden  als  die  An- 
strengungen der  Toga."  Vgl.  auch,  was  im  2.  Buch  Kap.  4  ausgeführt 
worden  ist  u)id  was  unten  im  4.  Kap.  dargelegt  werden  wird. 


Die  christlichen  Missionare.  309 

Werke  sehen  und  den  Vater  im  Himmel  jireiscn".  Waren  sie 
vuii  ihrer  Sache  durchdrungen  und  lebten  sie  nach  den  Vorschriften 
ilirer  Religion,  so  koimten  sie  gar  nicht  verborgen  bleiben:  ihr 
Wandel  mußte  eine  deutliche  und  laute  Missionspredigt  sein^ 
Die  Überzeugung,  daß  der  Gerichtstag  bevorstehe,  und  daß  man 
ein  Schuldner  der  Heiden  sei,  kam  dazu.  Ferner,  die  Exklusivität, 
weit  entfernt  das  Christentum  abzuschließen,  war  durch  das  ent- 
schiedene Entweder-Oder,  welches  sie  in  sich  schloß,  ein  kräftiges 
Mittel  der  Mission. 

Wir  können  nicht  zweifeln,  daß  die  große  Mission  dieser 
Religion  sich  ganz  wesentlich  durch  die  nicht -berufsmäßigen 
Missionare  vollzogen  hat.  Justin  und  Tatian  sagen  uns  das  auch 
mit  deutlichen  Worten.  Was  sie  zum  Übertritt  bewogen  hat,  war 
der  Eindruck  des  sittlichen  Lebens,  den  sie  von  den  Christen  über- 
haupt empfangen  hatten.  Wie  sich  dieses  Leben  auch  im  gewöhn- 
lichen Gang  des  Tages  von  dem  der  l^icht-Christen  abheben,  wie 
es  eine  fortwährende  Predigt  sein  sollte,  das  hat  uns  Tertullian 
lebhaft  geschildert  dort,  wo  er  seine  Frau  beschwört,  nach  seinem 
Tode  keinen  heidnischen  Mann  zu  heiraten  (ad  uxor.  II,  4 — 6). 
Wir  dürfen  auch  mit  Sicherheit  annehmen,  daß  gerade  die  Frauen 
eine  sehr  bedeutende  Rolle  bei  der  Ausbreitung  dieser  Religion 
gespielt  haben  (s.  u.  Buch  4,  Kap.  2).  In  einem  besonderen  Stande 
innerhalb  der  Gesellschaft  aber  einen  Hauptträger  der  Propaganda 
zu  erkennen  vermögen  wir  nicht.  Speziell  das  Heer  darf  hier 
nicht  genannt  werden.  Wohl  gab  es  auch  im  Heere  Christen; 
aber  das  Soldatenhandwerk  und  die  christliche  Religion  waren 
nicht  leicht  zu  verbinden.  Das  Christentum  kann  in  der  vorcon- 
stantinischen  Zeit  unmöglich  Lagerreligion  gewesen  sein  wie  der 
Mithraskult  und  andere  Kulte'-. 


')  Von  den  Gemeindewitwen  hören  wir  in  der  Didascalia  apostolorum, 
daß  sie  Proselyten  machen,  s.  Achelis  in  den  Texten  u.  Unters.  Bd.  25  Heft  2 
S.  276.  S.  bO.  76 f. 

-)  Nur  in  bezug  auf  Africa  kann  man  geneigt  sein,  eine  etwas  engere 
Beziehung  zwischen  dem  Christentum  und  dem  Heere  anzunehmen. 


310       Die  Missionare;  ^Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Exkurs. 
Reisen,  brieflicher  und  literarischer  Austauscht 

Die  ,. Apostel"  und  auch  viele  Propheten  wanderten  rastlos 
im  Interesse  der  Mission.  Die  Reisen  des  Apostel  Paulus  von 
Antiochien  bis  Rom,  ja  wahrscheinlich  bis  Spanien,  stehen  im  Licht 
der  0 esellichte;  aber  auch  seine  Mitarbeiter  und  Regleiter  sind 
nach  seinen  Briefen  teils  mit  ihm,  teils  neben  ihm  auf  beständiger 
AVanderschaft-.  Man  eriimere  sich  hier  vor  allein  des  missionieren- 
den Ehepaars  Prisca  und  Aquila.  Tm  einzelnen  die  Reisen  des 
Paulus  und  aller  dieser  Missionare  zu  untersuchen  mul  darzulegen. 


V)  Vgl.  Zahn,  Weltverkehr  und  Kirche  während  der  drei  ersten  Jahr- 
hunderte, 1S77.  B-amsay,  Travel  and  correspondence  aiuong  the  early 
Christians,  im  Expositor  VIII,  1908  Decmb.  p.  401tf.  Derselbe,  The  Church 
in  the  Roman  Kmpire  p.  o64  ff.  und  in  Hastings'  Diction.  of  the  Bible 
T.  V  („Travel").  „It  is  the  simple  truth  that  travelling,  whether  for  business 
er  of  pleasure.  was  contemplated  and  perfornied  under  the  Empire  with  an 
indiÖereuce ,  confidence,  and,  above  all,  certainty,  whieh  were  unknown  in 
after  centuries  until  the  introduction  of  steamers  and  the  consequent  inerease 
in  ease  and  sureness  of  communication."  Man  vgl.  die  ausdrücklichen  oder 
indirekten  Zeugnisse  des  Philo,  der  Apostelgeschichte,  i'linius,  Appian, 
Plutarch,  Epictet,  Aristides  usw.  Irenaeus  IV,  ;')0,  8:  „Mundus  pacem  habet  per 
Romanos,  et  nos  sine  timore  in  viis  ambulamus  et  navigamus  quocumcjue 
voluerimus."  Auf  einem  Grabstein  in  Hierapolis  in  Phrygien  rühmt  sich  ein 
Kaufmann,  die  Reise  von  Kleinasien  nach  Rom  zweiundsiebzigmal  gemacht 
zu  haben  (GIG  3920).  Die  Reise  des  Paulus  von  p]phesus  nach  Jerusalem 
und  wieder  zurück  auf  dem  Landwege  behandelt  der  Verfasser  der  Apostel- 
geschichte (18,  21—82)  wie  einen  Abstecher.  Die  Überwindung  der  Ent- 
fernungen forderte  nicht  übermäßig  viel  Zeit.  Man  konnte  in  12  Tagen  von 
Neapel  in  Alexandrien,  in  7  Tagen  von  Corinth  ebendort  sein.  Bei  günstigem 
Wind  dauerte  die  Fahrt  von  Narbo  in  8üdfraukreich  nach  Africa  nur  5  Tage 
(Sulp.  Sev.,  Dial.  I,  8),  von  den  Syrten  nach  Alexandrien  6  Tage  (1.  c.  I,  G). 
Die  Landreise  von  Ephesus  nach  Antiochien  Syr.  kostete  allerdings  etwa 
einen  Monat  (s.  Evagr.,  Hist.  eccl.  1,8);  aber  es  gab  auch  Schnellboten,  die 
das  Reich  in  unglaublich  kurzer  Zeit  durchmaßen;  von  einem  solchen  sagte 
man  (Socrat.  VII,  19):  ovro?  6  naX/Mbiog  fifycorrjv  ovaar  tön'  'Pio/i.aia>r  UQXW 
/(ty.oav  FÖFt^g  ifi  rayvT7)Ti.  Vgl.  Friedländer,  Sittengesch.  Bd.  2  (init.).  Zu 
den  „Briefen"  s.  Deißmann,  Bilielstudien ,  1895,  und  Neue  Bibelstudien, 
1S97.  Wehofer,  Unters,  zur  altchristl.  Epistolograj)hie  (Wiener  akad. 
Sitzungsber.,  Philos.-Hist.  Klasse  Bd.  148,  1901),  s.  besonders  S.  102ff.  Norden, 
Antike  Kunstpro.sa  S.  492:  „Die  Briefliteratur,  selbst  die  kunstlose,  hat  nach 
den  An.schauungen  der  damaligen  Welt  doch  eine  viel  größere  literarische 
Existenzberechtigung  gehabt,  als  wir  heute  nachempfinden  können:  der  Brief 
war  allmählich  eine  literarische  Form  geworden,  in  der  man  alle  mög- 
lichen Stolfe,  gerade  auch  wissenschaftliche,  in  zwangloser  Art  niederlegen 
konnte." 

'^  ]\Ian  lese  vor  alhin  das  l(i.  Kaidtel  des  Römerbriefs;  wie  viele  per- 
sönliche  i'ekaniite  des  Pauhjs  sind  in   Kuni! 


Reisen,  brieflicher  und  literarisclier  Austausch.  ',]  \  \ 

würde  hier  zu  weit  führen  und  ist  für  unsere  Zwecke  niclit  nötig. 
l*auhis  ist  sich  bewußt  gewesen,  d;iß  der  Geist  Gottes  ihn  treibe 
und  ihm  die  Ziele  und  Straßen  weise;  aber  das  schloß  verständige 
eigene  Erwägungen  nicht  aus.  Solclie  lassen  sich  in  bezug  auf 
seine  Reisen  an  melireren  Stellen  nachweisen.  Auch  Petrus  ist 
als  Missionar  gereist  und  nach  Rom  gekommen. 

Indessen  hier  interessieren  uns  nicht  sowohl  die  Reisen  der 
berufsmäßigen  Missionare  als  vielmehr  die  Reisen  anderer  hervor- 
ragender Christen;  denn  sie  lehren  uns,  wie  lebendig  der  persön- 
liche Austausch  und  Yerkehr  in  den  ersten  Jahrhunderten  gewesen 
ist.  Dabei  tritt  die  römische  Gemeinde  in  überraschender  Weise 
in  den  Vordergrund :  sie  ist  der  Zielpunkt  der  meisten  Christen, 
die  wir  als  Reisende  kennen^. 

Christliche  Lehrer,  die  besonders  viel  gereist  sind,  bez.  sich 
in  einem  großen  Teil  der  Kirchen  nmgesehen  haben,  waren  Justin, 
Hegesipp,  Julius  Africanns  und  Origenes.  Justin,  aus  Samarien 
stammend,  war  in  Ephesus  und  Rom  zu  Hause;  Hegesi])p  hat  um 
die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  vom  Orient  aus  eine  mehr- 
jährige Reise  angetreten,  in  der  er  viele  Kirchen  besucht  hat  und 
zuletzt  über  Corinth  nach  Rom  gekommen  ist;  Julius  Africanus 
ist  von  Emmaus  in  Palästina  ans  in  Edessa,  Rom  und  Alexandrien 
gewesen;  die  meisten  Reisen  aber  hat  Origenes  gemacht:  er  ist 
teils  von  Alexandrien,  teils  von  Cäsarea  (Pal.)  aus  in  Sidon,  Tyrus, 
Bostra,  Antiocliien,  Cäsarea  (Capp.),  Nicomedien,  Athen,  Nicopolis, 
Rom  nnd  in  anderen  Städten  (zum  Teil  wiederholt)  gewesen'-^. 

Nach  Rom  sind  von  auswärts  folgende  berühmte  Christen 
gereist  ^ : 

Polycarp,  Bischof  von  Smyrna  (Euseb.,  h.  e.  IV,  14;  V,  24). 

Valentin,  Gnostiker,  aus  Ägypten  (Iren.  III,  4.  3). 

Cerdo,  Gnostiker,  aus  Syrien  (Iren.  I,  27,  1 ;  III,  4,  o). 

Marcion,  Häretiker,  aus  Sinope  (Hippel,  bei  Epiphan,,  liaer.  42 
c.  1  f.). 

Marcellina,  Häretikerin  (Iren.  I,  25,  G). 

Justin,  Apologet,  aus  Samarien  (s.  die  Apologie  u.  Euseb.  h.  e. 

IV,  n). 

Tatian,  Assyrer  (Orat.  35). 


')  Vgl.  Caspari,  Quellen  z.  Taufsymbol,  Bd.  III  (187.5). 

")  Auch  Abercius  ist  von  Hieropolis  in  Phrygien  aus  in  Rom  und  am 
Euphrat  gewesen. 

^}  Vom  apostolischen  Zeitalter  sehe  ich  ab.  Daß  auch  Simon  Magus 
wirklich  nach  Rom  gekommen  ist,  ist  mir  sehr  wahrscheinlich.  Iguatius 
wurde  unfreiwillig  von  Antiochien  nach  Rom  gebi'acht;  aber  es  begleiteten 
ihn  freiwillig  mehrere  Christen.  Nach  einer  wenig  glaubwürdigen,  aber  alten 
Legende  soll  auch  der  ephesinische  Johannes  nach  Rom  gekommen  sein. 


312       Die  I\ii»sionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Hegesipj).  aus  dorn  Orient  (Euseb.,  h.  e.  lY,  22  nach  Hegesipps 

Hypomnem.). 
Euelpistus,  Schüler  Justin«,  aus  Cappadocien  (Acta  Justini). 
Hierax.  Schüler  Justins,  aus  Iconium  (Acta  Justini)  ^. 
Rhodon,  aus  Asien  (Euseb.,  h.  e.  V,  1.3). 

Trenäus,  aus  Asien  (Euseb.,  h.  c.  V,  l — 4:  [Mart.  Polyc.  Append.]). 
Apelles,  Schüler  Marcions,  aus  ?  (Tertull.,  de  praescr.  30:  doch 

kann  Apelles  ein  geborener  Römer  gewesen  sein). 
Florinus,  aus  Asien  (Euseb.,  h.  e.  V,  15.  20). 
Procius  und  andere  Montanisten  aus  Phrygien  oder  Asien  (Euseb., 

h.  e.  II,  25;  III,  31;  VI,  20;  Tertull.  adv.  Prax.  1). 
[Tertullian,  aus  Carthago  (de  cultu  fem.  I,  7;  Euseb.,  h.  e.  II,  2)j. 
Theodotus,  aus  Byzanz  (Epiphan.,  haer.  54  c.  1). 
Praxeas,  aus  Asien  (Tertull.,  adv.  Prax.  1). 
Abercius,  aus  Hieropolis  (die  Inschrift). 
Julius  Africanus,  aus  Emmaus  (KsotoiJ. 
Alcibiades,  aus  Apamea  in  Syrien  (Hipp.,  Philos.  IX,  1 3). 
[Prepon,  Marcionit,  Assyrer  (Hipp.,  Philos.  VII,  31  )j. 
Epigonus,  aus  Asien  (Hippel.,  Philos.  IX,  7). 
Sabellius,  aus  der  Pentapolis  (Theodoret.,  haer.  fab.  II,  0). 
Origenes,  aus  Alexandrien  (Euseb.,  h.  e.  VI,  14). 
Viele  Africaner  um  das  J.  250  (Cypriani  epp.)'-. 

Melito  von  Sardcs  ist  bald  nach  der  Mitte  des  zweiten  Jahr- 
hunderts nach  Palästina  gereist  (Euseb.,  h.  e.  IV,  26),  ebendorthin 
Alexander  aus  Cappadocien  (Euseb.,  h.  e.  VI.  II)  und  Pionius  aus 
Smyrna  (um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts,  Acta  Pionii); 
Julius  Africanus  reiste  nach  Alexandrien  (Euseb.,  h.  e.  VI,  31); 
Hermogenes,  ein  Häretiker,  siedelte  aus  dem  Orient  nach  Carthago 
über  (Thcophilus  von  Antiochien  hat  ihn  bekämpft  und  Tertullian); 
Apelles  ging  von  Rom  nach  Alexandrien  (Tertull.,  de  praescr.  30); 
römische  Christen  werden  z.  Z.  der  decianischen  Verfolgung  und 
nach  derselben  nach  Carthago  gesandt  (Cypr.  epp.);  mehrere 
römische  Brüder  waren  in  Alexandrien  anwesend  zur  Zeit  der 
VcM'folgung  des  Valerian  (Dionys.  Alex,  bei  Euseb.,  h.  e.  VII,  11); 
Cl(>mons  Alex,  ging  nach  Cappadocien  (Euseb.,  h.  e.  VI,  1 1).  Diese 
Liste   ist   nicht  vollständig,    aber   sie  wird   ein  Bild   davon   geben. 


^)  Diese  beiden  sind  aV^er  wahrscheinlich  unfreiwillige  Reisende;  sie 
scheinen  als  Sklaven  nach  Rom  gekommen  zu  sein. 

^)  Mau  reiste  nach  Rom  aus  verschiedenen  Motiven:  um  dort  eine  Wirk- 
samkeit als  Lehrer  zu  entfalten,  um  auf  die  dortige  Kirche  Einfluß  zu  ge- 
winnen, um  diese  berühmte  Kirche  zu  sehen  usw.  Der  Zug  nach  den  großen 
iStädten.  oer  alle  neuen  Religionsunternehmuugen  auszeichnet,  führt  allem 
zuvor  in  d;e  Iluuptstadt.     Wie  hat  Paulus  gestrebt,  nach  Rom  zu  kommen! 


Reisen,  brieflicher  und  literarischer  Austausch.  313 

wie  groß  der  AuHtaiiscli  durch  ]\eison  hcrvorragciKlcr  lichrin-  go- 
weson  ist. 

Was  (Ion  brieflichen  Verkehr  betrifft  ^  so  beschränke  i(;h  mich 
darauf,  das  Wichtigste  anzuführen.  Auch  hier  steht  die  römische 
Gemeinde  im  Vordergrund.  Wir  wissen  von  folgenden  Briefen  und 
Übersendungen  dieser  Gemeinde : 

Das  Gemeindeschreiben  nach  Corinth  (=  I.  Clemensbrief)  um 
das  J.  96. 

Das  Buch  des  Hermas,  das  nach  Vis.  11,  4  an  die  auswärtigen 
Gemeinden  geschickt  worden  ist. 

Das  Gemeindeschreiben  nach  Corinth  von  dem  Bischof  Soter 
(d.  h.  seine  dorthin  gesandte  Predigt  :=  II.  Clemensbrief).  Das 
Antwortschreiben  des  Dionysius  von  Corinth  zeigt,  daß  Rom  da- 
mals und  seit  Jahrzehnten  an  viele  Gemeinden  Briefe  gerichtet 
und  Unterstützungen  gesandt  hat. 

Im  montanistischen  Streit  sind  unter  (Soter),  Eleutherus  und 
Yictor  Briefe  nach  Asien,  Phrygien  und  Gallien  gegangen. 

Im  Osterstreit  hat  Victor  Briefe  an  alle  auswärtigen  Gemeinden 
gerichtet. 

Pontian  hat  nach  Alexandrien  geschrieben  und  der  Verurteilung 
des  Origenes  zugestimmt. 

In  der  Zeit  der  Sedisvakanz  nach  dem  Tode  des  Bischofs 
Fabian  sind  Briefe  nach  Carthago,  an  andere  africanische  Ge- 
meinden und  nach  Sicilien  gegangen;  auch  schrieben  die  römischen 
Märtyrer  an  die  carthaginiensischen. 

Der  Bischof  Cornelius  hat  nach  Africa  zahlreiche  Briefe  ge- 
schrieben, ferner  nach  Antiochien  und  Alexandrien. 

Der  Bischof  Stephanus  hat  nach  Africa,  Alexandrien,  Spanien 
und  Gallien  geschrieben,  sowie  im  Ketzertaufstreit  an  alle  aus- 
wärtigen Kirchen. 

Derselbe  Stephanus  hat  Briefe  und  Unterstützungen  nach 
Syrien  und  Arabien  gesandt,  und  bereits  seine  Vorgänger  haben 
dasselbe  getan. 

Briefe  des  Bischofs  Xystus  IL  nach  Alexandrien. 

Briefe  des  Bischofs  Dionysius  nach  Alexandrien. 

Brief  des  Bischofs  Dionysius  nach  Cappadocien  und  Unter- 
stützungen. 

Brief  des  Bischofs  Felix  nach  Alexandrien. 

Briefe  nach  Antiochien  z.  Z.  der  Wirren  des  Paul  v.  Somosata. 

Unter  den  nicht -römischen  Briefen  seien  hervorgehoben:  die 
Briefe  des  Ignatius  an  asiatische  Gemeinden  und  nach  Rom,   der 

^)  Die  Gemeinden  sandten  sich  auch  untereinander  die  Eucharistie  zu. 
Das  älteste  Zeugnis  steht  bei  Irenäus  in  dem  Brief  an  Yictor  von  Rom 
(Euseb.  V,  24,  15). 


;;i4       l'ie  Missionare;  Modaütäteu  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

"Brief  des  Polycarp  von  Smvrna  nach  Philip])]  sowie  an  andere 
benachbarte  Gemeinden,  die  große  Briefsaminlnng  des  Dionysius 
von  Corinth  (nach  Athen.  Lacedämon.  jS^icomedien,  Greta,  Pontus, 
Rom),  die  großen  IJriefsammkmgen  des  Origenes  (nicht  erhalten), 
des  Cyprian  (an  africanische  Kirchen,  nach  Rom,  Spanien,  Gallien, 
Cappadocien).  des  Novatian  (nicht  erhalten,  an  sehr  viele  Gemeinden 
in  der  ganzen  Christenheit),  des  Dionysius  von  Alexandrien  (bruch- 
stückweise erhalten;  sogar  an  die  Brüder  in  Armenien  hat  er  ge- 
schrieben). Von  Cappadocien,  Spanien,  Gallien  aus  wurde  an 
Cyprian,  bez.  auch  nach  Rom  geschrieben;  die  in  Antiochien  gegen 
Paul  V.  Saniosata  versammelte  Synode  schrieb  an  alle  Gemeinden 
der  Christenheit;  Alexander  von  Alexandrien  und  Arius  schrieben 
Briefe   an   sehr  viele  Gemeinden   der   Osthälfte    des   Reichs   usw.^ 

Überraschend  schnell  verbreiteten  sich  auch  die  bedeutenderen 
christlichen  Schriften-.  Aus  der  Fülle  des  Materials  sei  folgendes 
hervorgehoben: 

Die  vier  Evangelien  scheinen  noch  vor  Ablauf  der  ersten 
Hälfte  des  zweiten  Jahrhimderts  in  die  meisten,  jedenfalls  in  sehr 
viele  Gemeinden  des  ganzen  Reichs  gekommen  zu  sein. 

Eine  Sammlung  von  Paulusbriefen  kennen  schon  Clemens 
Romanus.    Ignatius,   Polycarp  und  alle  hervorragenden  Gnostiker. 

Der  I.  Clemensbrief  (nacli  Corinth  gerichtet)  ist  in  Polycarps 
Händen  (in  Smyrna)  und  ist  dem  Irenäus  in  Lyon  bekannt,  ebenso 
dem  Clemens  Alexandrinus. 

Die  Tgnatiusbriefe  sind  wenige  AVochen  oder  Monate  nach 
ihrer  Abfassung  gesammelt  und  nach  Philipp!  gesandt  worden; 
Irenäus  in  Lyon  und  Origenes  in  Alexandrien  kennen  sie. 

Die  Schrift  „Apostellehre"  verbreitete  sich  im  2.  Jahrhundert 
in  Ost  und  AVcst. 

Das  ganze  Buch  des  „Hirten''  ist  schon  im  2.  Jahrhundert 
in  Lyon.  Alexandrien  und  Carthago  bekannt  gewesen. 

Justins  Apologie  (nnd  andere  Schriften)  war  dem  Irenäus  in 
Lyon  bekannt,  dem  Tertullian  in  Carthago  usw.:  Tatian  wurde  in 
Alexandrien  gelesen. 

Werke  des  Melito,  Bischofs  von  Sardes  (z.  Z.  Marc  Aureis), 
las  man  am  Ende  des  2.  .Jahrhunderts  in  Ephesus,  in  Alexandrien, 
in  Rom  und  in  Carthago. 


')  Die  Nachweise  für  alle  diese  Hriefo  findet  man  in  meiner  Geschichte 
der  altchristliohen  Literatur,  Bd.  J. 

■-/  Ich  darf  auch  hierfür  auf  meine  Literaturgeschichte  verweisen,  in 
der  die  alten  Testimouia  für  jede  Schrift  genau  verzeichnet  sind.  Die  Zahl 
der  christlichen  Schriften,  wenn  man  von  den  häretischen  absieht,  war  etwa 
bis  ■/..  Z.  des  Commodus  nicht  sehr  bedeutend,  mit  jenen  zusammen  genommen 
aber  sehr  grol.'>.     Sie  müssen  aber  mitgerechnet  werden. 


Reisen,  brieflicher  und  literarischer  Austausch.  315 

"Werke  de^  Trcnüu^;  von  T.yon.  der  um  100  schrieb,  las  man 
bereits  um  das  ,Iahr  2(H>  in  Koni,  in  Carthago  und  in  Alexandrien; 
später  kennt  ihn  aucli  (ebenso  wie  den  Justin)  Methodius  in  Lycien. 

Die  Werke  mehrerer  klcinasiatischer  Schriftsteller  aus  der  Zeit 
31.  Aureis  las  man  in  Alexandrien,  in  Carthago  und  in  Rom. 

Marcions,  des  Häretikers.  ,.Antithesen'''  waren  am  Ende  des 
2.  Jahrhunderts  in  allen  größeren  Gemeinden  in  Ost  und  West 
bekannt. 

Die  apokryplie  Schrift  ,.Acta  Pauli",  die  von  Asien  ausge- 
gangen ist.  wurde  am  Ende  des  2.  Jahrhunderts  wahrscheinlicli  in 
den  meisten  Hauptgemeinden,  gewiß  aber  in  Rom,  Carthago  und 
Alexandrien  gelesen. 

Hippolyts,  des  Römers,  zahlreiche  Werke  haben  sich  im  Orient 
weit  verbreitet.  Wieviele  christliche  Werke  aus  allen  Weltgegenden 
in  die  Bibliothek  nach  Cäsarea  (Pal.)  gekommen  sind,  lehrt  uns 
die  Kirchengeschichte  des  Eusebius.  die  auf  Grund  dieser  Werke 
verfaßt  worden  ist.  Dieser  Bibliothek,  in  ihrer  Art  gewiß  einem 
Seitenstück  zur  alexandrinischen.  verdanken  wir  es  in  erster  Linie, 
daß  wir  heute  eine  zusammenhängende  Kenntnis  des  christlichen 
Altertums,  wenn  auch  in  bescheidenen  Grenzen,  besitzend  Aber 
auch  schon  vorher:  wenn  man  aus  den  Werken  des  Celsus,  Ter- 
tullian,  Hippolyt,  Clemens  Alex,  und  Origenes  ihre  christliche 
Bibliothek  zusammenstellt  —  es  ist  das  eine  leichte  Mühe  — , 
gewahrt  man,  daß  sie  über  einen  umfangreichen  Bestand  christ- 
licher Bücher  aus  allen  Teilen  der  Kirche  verfügt  haben. 

Diese  Daten  sollen  nur  eine  annähernde  Vorstellung  davon 
geben,  wie  stark  der  persönliche,  der  briefliche  und  der  literarische 
Verkehr  sowohl  der  Gemeinden  untereinander  als  der  hervor- 
ragenden Lehrer  gewesen  ist.  Die  Bedeutung,  die  diese  Tatsache 
für  die  Mission  und  die  Propaganda  des  Christentums  gehabt  hat, 
kann  nicht  leicht  überschätzt  werden:  die  Teilnahme  und  Brüder- 


Vj  Hier  sind  auch  die  beiden  Tabellen  zu  vergleichen,  welche  ich  in  der 
Literatur- Gesch.  Bd.  I  S.  883  —  886  gegeben  habe:  -Alte  lateinische  Über- 
setzungen altchristlieher  griechischer  Schriften";  „Alte  syrische  Übersetzungen 
altchristlicher  griechischer  Schriften".  In  eine  fremde  Sprache  wird  eine 
Schrift  erst  übersetzt,  wenn  sie  für  die  Erbauung  oder  Bildung  unentbehrlich 
scheint.  Nun  vergleiche  man,  welche  außerordentlich  große  Anzahl  altchrist- 
licher Schriften  in  das  Lateinische  oder  Syrische  frühe  übersetzt  worden 
sind,  ^samentlich  interessant  ist  es  aber,  festzustellen,  welche  Schriften  so- 
wohl in  das  Lateinische  als  auch  in  das  Syrische  übertragen  worden  sind. 
Auch  ihre  Zahl  ist  nicht  klein,  und  sie  ist  ein  sicherer  Wegweiser  in  bezug 
auf  die  Beantwortung  der  Frage,  welche  altehristiichen  Schriften  die  ver- 
breitetsten  und  einflußreichsten  waren.  In  das  Griechische  aus  dem  Latei- 
nischen ist  in  der  vorconstantinischen  Zeit  nur  sehr  weniges  übersetzt  worden 
(Tertullians  Apolog.,  Briefe  Cyprians}. 


*^  I  5       l)ie  Mi>sioiiiire;  ]\Iüda!itäten  und  Gegenwirknugen  der  Mission. 

liehkcit  und  wiederum  die  geistige  Regsamkeit  der  Christen  springt 
hier  in  die  Augen;  sie  waren  starke  Hebel  der  Yerbreituuff;  sie 
mußten  den  außen  Stehenden  mächtig  imponieren:  sie  sicherten 
auch  (une  gewisse  Einlieitliclikeit  der  Entwicklung  und  bewirkten 
es.  daß  ein  Ohrist,  wenn  er  aus  dem  Osten  in  den  Westen  oder 
aus  einer  entfernten  Gemeinde  in  eine  andere  kam,  sich  nicht  als 
ein  Fremdling  fühlte.  In  der  Tat  siml  bis  zur  Zeit  Constantins, 
jedenfalls  bis  gegen  die  Mitte  des  o.  Jahrhunderts  die  centripetalen 
Strebungen  stärker  gewesen  als  die  centrifugalen;  Rom  aber  war 
der  Mittelpunkt  jener  Strebungen;  die  römische  Gemeinde  war 
die  katholische;  sie  war  nicht  nur  das  Symbol  und  die  Repräsen- 
tantin der  Einheit,  sondern  ihr  vor  allem  verdankt  man  die  Einheit. 
Untersuciiungen  über  die  technische  Art  der  Verbreitung  der 
christlichen  Schriften  sind  m.  W.  bisher  nicht  angestellt  worden 
imd  werden  leider  auch  nur  geringe  Ergebnisse  erzielend  Man 
muß  sich  aber  vergegenwärtigen,  daß  ein  großer  Teil  dieser 
Schriften  —  unter  ihnen  die  ältesten  und  wichtigsten  und  ferner 
fast  die  gesamte  Briefliteratur  —  in  technischem  Sinn  niemals 
oder  erst  nach  Generationen  ediert  worden  ist.  Editionen  des 
Neuen  Testaments  (und  des  Alten?)  hat  es  vor  Origenes  bez.  den 
Theodütianern  in  der  großen  Kirche  überhaupt  nicht  gegeben  (doch 
muß  man  Marcions  Treues  Testament  eine  kritische  Rezension  und 
Edition  nennen,  und  wenn  sich  die  Kirchenväter  über  Ver- 
fälschungen der  Bibeltexte  durch  die  Gnostiker  beklagen,  so 
haben  sie  rezensierte  Editionen  im  Auge),  und  für  den  größten 
Teil  der  altchristlichen  Schriften  haben  erst  die  Exemplare,  die 
zu  Cäsarea  lagen,  die  Unterlagen  für  Editionen  (seit  dem  4.  und 
5.  Jahrhundert),  bez.  für  Abschriften  abgegeben.    Aber  auch  nach- 

')  Doch  mag  hier  stehen,  was  Öulpicius  Severus  (Dial.  T,  23;  zu  ergänzen 
ist  die  Stelle  durch  III,  17)  von  seinem  eigeuen  Büchlein  ,Vita  S.  Martini" 
erzählt.  Der  Interlocutor  Postumianus  sagt:  ^Numquam  a  dextera  mea  liber 
iste  discedit.  nam  si  agnoscis,  ecce  —  et  aperit  librum,  qui  veste  latebat  — 
eu  ipsuni!  hie  mihi,  inquit,  terra  ac  mari  comes,  hie  in  peregrinatioue  tota 
•socius  et  cousolator  fuit.  sed  referam  tibi  saue,  quo  liber  iste  penetrarit,  et 
»juam  nullus  fere  in  orlje  terrarum  locus  sit,  ubi  non  materia  tarn  felicis 
historiae  jicrvulgata  teueatur.  primus  eum  Romanae  urbi  vir  studiosissimus 
tui  Paulinus  invexit;  deinde  cum  tota  certatim  urbe  rapei'etur,  exultantes 
librarios  vidi ,  quod  nihil  ab  bis  quaestiosius  haberetur,  siquidem  nihil  illo 
promptius,  nihil  carius  venderetur.  hie  navigationis  meae  cursum  longe  ante 
praegressus ,  cum  ad  Af'ricam  veni,  iani  per  totam  Carthaginem  legebatur. 
solus  eum  C.'yrenensis  ille  presbytcr  non  habebat,  sed  me  laigiente  descripsit. 
nam  quid  ego  de  Alexandria  loquarV  ubi  paene  omnibus  magis  quam  tibi 
notus  est.  hie  Aegyptum,  Nitriani,  Thebaidam  ac  tota  Memphitica  regua 
transivit.  liunc  ego  in  cremo  a  quodam  sene  legi  vidi  elc."  Hier  handelt 
es  sich  allerdings  um  ein  um  das  J.  400  erschienenes  christliches  Buch ;  aber 
die  Schilderung  ist,  wenn  man  einiges  abzieht,  doch  au(h  für  die  frühere 
Zeit  lehrreich. 


Reisen,  brieflicher  uinl  literarischer  Auj^tausch.  ;{ ]  7 

dem  es  Editionen  der  li.  ScliriftcMi  g-e^'eben  hat,  wurden  sie  viel- 
fach M-illkürlieh  nach  diesem  odei-  jenem  verwilderten  Exem])lar 
abgeschriel)en.  Ediert  worden  sind  von  vornherein  die  Apolon-ien, 
die  gnostischen  Werke,  welche  für  Gelelirte  bestimmt  waren,  und 
jene  kirchlichen  Werke,  weiclu^  die  Kirchenväter  seit  Frenäus  für 
das  gebildete  cliristliche  I*ublikum  bestimmt  haben.  Das  erste 
Beispiel,  daß  ein  Bisclu)f  seine  Briid'e  selbst  gesammelt  und  als 
Sammlung  ediert  hat,  bietet  uns,  in  der  Zeit  ]\rarc  Aureis,  Dioiiysiiis 
von  Corinth  (s.  Euseb.,  h.  e.  lY,  21)). 

Xicht  edierte  Schriftstücke  unterlagen  natürlicli  den  Gefahren 
der  Verfälschung  in  besonderem  Maße.  Die  Kirchenväter  sind 
voll  von  Klagen  darüber.  Aber  auch  die  edierten  waren  nicht 
hinreichend  zai  schützen^. 

AVie  weit  die  christliche  Literatur  in  die  Hände  der  Gegner 
gekommen  ist,  darüber  wissen  wir  fast  nichts;  Tertullian  hat  sich 
ganz  pessimistisch  darüber  ausgesprochen  (detestim.  I),  und  Norden 
(Kunstprosa  S.  517 f.)  hat  mit  dem  Urteil  gewiß  Recht:  „Man  kann 
sich  den  Kreis  derjenigen  Heiden,  welche  das  N.  T.  überhaupt 
lasen,  gar  nicht  kloin  genug  denken  ....  ich  glaube  nicht  zu 
irren,  wenn  ich  behaupte,  daß  Heiden  nur  dann  das  N.  T.  gelesen 
haben,  wenn  sie  es  widerlegen  wollten."  Celsus  hat  sich,  wie 
bemerkt,  eine  recht  beträchtliche  christliche  Bibliothek  angeschafft 
oder  von   einer  solchen  Kenntnis  genommen,    bevor   er  gegen  die 

')  Nur  ein  paar  Zeugnisse:  Dionysius  Cor.  erlebte  es,  daß  bei  seineu 
Lebzeiten  seine  Briete  verfälscht  zirkulierten  (1.  c.);  er  tröstet  sicli  uiit  dem 
leidigen  Trost,  daß  das  auch  den  h.  Schriften  passiere  (derselbe  Trost  iu 
bezug  auf  die  , Verfälschung"  der  Schriften  des  Origenes  bei  Sulp.  Sev., 
Dial.  1,  7).  Irenäus  beschwört  die  zukünftigen  Abschreiber  seines  Werks, 
dasselbe  nicht  zu  verfälschen  und  diese  Beschwörung  mit  abzuschreiben  (bei 
Euseb.  V,  20).  Das  stärkste  Beispiel  aber  für  die  herrschende  Unsicherheit 
ist,  daß  mau  150  Jahre  nach  Cyprian  es  in  der  Kirche  wagen  konnte,  alle 
seine  über  die  Ketzertaufe  geschriebenen  Briefe  für  Fälschungen  zu  erklären. 
Wie  sich  Augustin  dazu  äußert,  ist  ebenso  charakteristisch  (ep.  9o,  38).  Er 
hält  die  Hypothese  für  sehr  wohl  möglich,  obgleich  er  ihr  nicht  beipflichtet: 
„non  desunt,  qui  hoc  Cyprianum  prorsus  non  sensisse  contendant,  sed  sub 
eins  nomine  a  i^raesumptoribus  atque  meudacibus  fuisse  confictum.  neque 
enim  sie  potuit  integritas  atque  notitia  litterarum  unius  quamlibet  inlustris 
episcopi  custodiri  quemadmodum  scriptura  canonica  tot  linguarum  litteris 
et  ordine  ac  successione  celebrationis  ecclesiasticae  custoditur,  contra  cj^uam 
tamen  non  defuerunt  qui  sub  nominibus  apostolorum  multa  confingerent 
frustra  quidem,  quia  illa  sie  commendata,  sie  celebrata,  sie  nota  est."  — 
Wie  es  Tertullian  mit  seiner  zweiten  Ausgabe  des  iVnti- Marcion  ergangen 
ist,  erzählt  er  uns  selbst:  „hanc  eompositionem  non  dum  exemplariis 
suffectam  fraude  tunc  fratris,  dehinc  apostatae,  amisi,  qui  forte  descri- 
pserat  quaedam  mendosissime  et  exhibuit  frequentiae."  —  Von  den  Werken, 
Predigten  und  Briefen  des  Polycarp  behauptet  der  Verfasser  seiner  „Vita-*, 
daß  sie  durch  Raub  der  Ungläubigen  bei  der  Verfolgung  entwendet  worden 
seien. 


;{15       Die  Missionare;  Mcdalitäteu  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

(Miristen  schrieb.  Athenagoras  setzt  (Suppl.  9)  voraus,  daß  die 
Kaiser  das  Alte  Testament  kennen  —  das  ist  doeli  wohl  nur  eine 
Ivcdensart.  Das  Verfahren  der  Apologeten  in  bezug  auf  die 
h.  Schriften  —  mögen  sie  nun  zitieren  oder  nicht  zitier(>n  —  zeigt, 
daß  sie  Kenntnis  derselben  nicht  voraussetzen  (Norden,  a.a.O.). 
Des  Origenes  Werke  aber  wurden  —  wenigstens  teilweise  —  von 
neuj)latonischen  Philosophen  gelesen,  und  in  ihren  Händen  waren 
auch  die  Schriften  des  alten  Testaments,  die  Evangelien  und  die 
Paulusbüclier.  Aon  Porphyrius  und  Amelius  wissen  wir  das  (s.  u.). 
Die  kunstlose,  z.  T.  stilistisch  anstößige  Form  der  griechischen 
Bibel  war  für  ihre  Verbreitung  ein  nicht  geringes  Hindernis  ^.  In 
noch  größerem  Maße  galt  es  aber  von  der  altlateinischen  l^Der- 
setzung,  die  in  vielen  Abschnitten  einfach  ungenießbar  war.  Wie 
abstoßend  mußte  es  wirken,  wenn  man  las  (Barucli  2,  2VI):  ,,Dicens: 
si  non  audieritis  vocis  meae,  si  sonos  magnos  hagminis  iste  avertatur 
in  minima  in  gentibus.  hubi  dispergani  ibi-."  Auch  Schriftsteller 
hatte  die  christliche  Religion  im  Abendland  nicht  aufzuweisen, 
deren  Werke  tiefer  in  die  allgemeine  Literatur  eindrangen,  während 
sich  Origenes  und  seine  Schüler  den  Eintritt  erzwangen.  Lactantius, 
ein  unverdächtiger  Zeuge  •',  berichtet  (Inst.  V,  \  ff.),  daß  die  Christen 
in  der  lateinischen  Gesellschaft  noch  immer  als  die  „stulti"  gelten'*, 


')  Daß  die  Propheten  ..scliniueklos"  geschrieben  haben,  suchen  fast  alle 
Apologeten  (s.  auch  Clemens  Alex.,  Protrept.  8,  77)  zu  rechtfertigen,  gesteheu 
also  den  Mangel  ein.  Orig.,  Hom.  VIII,  1  in  lesu  Nave  t.  11  p.  74:  „Depre- 
camur  vos.  o  auditores  sacrorum  volmninum,  non  cum  taedio  vel  fastidio  ea. 
quae  leguntur.  audire  pro  eo  quod  minus  delectabilis  eorum  videtur  esse 
uarratio",  vgl.  Hom.  VIII,  1  in  Levit.  t.  9  p.  313:  de  princip.  IV.  1,  7;  IV.  26 
[die  Göttlichkeit  der  Bibel  springt  aus  ihrem  dürftigen  Stilgewand  um  .so 
deutlicher  hervor]:  Cohortat.  ad  (-ir.  35.  36.  38. 

-)  Der  griechische  Text  ist  freilich  auch  nicht  anmutig:  Aiyov  f(U'  /uj 
ay.ovr))]Xf  ri]^  (/  corTj^  iinv,  Fi  iiijv  ))  ßoftßijoig  ij  fifyäXtj  //  .to/JJj  ai'T7j  djToazQsysi 
.'(V  luy.oäv  h'  ToT;  Pdvhciv  ov  ()taajTfo(7>  avrol'.;  f>cFT.  Vgl.  über  die  Sprache 
des  Neuen  Testaments  Norden,  Die  antike  Kuustiirosa,  1898,  S.  516  ff.  („die 
gebildeten  Kreise  mußten  die  religiösen  Urkunden  der  Christen  als  stilistische 
Monstra  betrachten").  —  Arnobius  sciireibt  I,  58  von  den  h.  Schriften:  „ab 
indoctis  liominibus  et  rudibus  scripta  sunt  et  idcirco  non  sunt  facili  auditione 
credenda".  Er  gibt  heidnische  Urteile  über  die  Bibel  wieder,  wenn  er  I,  59 
i-chreibt:  „Barbarismis,  soloecisniis  obsitae  sunt  res  ve.strae  et  vitiorum  de- 
formitate  pollutae."  Vgl.  die  Bemerkungen  des  Sulp.  Severus  und  die  Motive, 
die  ihn  zur  Abfassung  seiner  Weltchronik  für  die  gebildeten  Südgailier  ge- 
führt hal)en ,  ferner  Augustin,  Confess.  III,  5  (9).  Der  Briefwechsel  zwischen 
Paulus  und  Seneca  ist  zu  dem  Zweck  gefälscht  worden,  um  die  Anstöl.V^  zu 
beseitigen,  welche  der  schlechte  Stil  der  Paulusln-iefe  in  lateinischer  Über- 
setzung bot  {s.  meine  Litt.  Gesch.  I  S.  765). 

■'j  Allerdings  will  er  seine  eigene  Leistung  ins  Licht  sl'  llen. 

■*)  Dazu  vgl.  man  die  sehr  lehrreiche  Abhandlung  ,,Ad  p.  ",anos"  in  den 
Iiseudo-augustinischen    Quaest.  in  Vet.    et  Nov.  Test.  nr.  114.     Ihr   liegt   der 


Missionsmethoden;  Katechese  u.  Taufe;  Eingriffe  in  das  liäusl.  Leben.     319 

und  konstatiert  selbst,  daß  es  an  geeigneten  und  erialironen  Jiclirern 
und  Schriftstellern  feidc:  Minucius  Felix  und  Tertullian  konnten 
,,satis  eelebritatis^'  nicht  finden:  Cyprian.  bei  allen  seinen  vortreff- 
lichen Eigenschaften  als  Iledner  und  Schriftsteller:  „placere  ultra 
verba  sacramentum  ignorantibus  non  potest.  quoniani  mystica  sunt 
quae  locutus  est  et  ad  id  praeparata.  ut  a  solis  fidelibus  audiantur: 
denique  a  doctis  huius  saeculi.  quibus  forte  scripta  eins  innotuerant, 
derideri  solet.  audivi  ego  quendani  hominem  sane  disertum,  qui 
eum  immutata  una  littera  ,,Coprianum-'  vocaret,  quasi  quod  elegans 
ingenium  et  melioribus  rebus  aptum  ad  aniles  fabulas  contulisset."' 
Die  christliche  Literatur  hat  im  lateinischen  Abendland,  ob- 
gleich Minucius  Felix  und  Cyprian  (ad  Donatum)  weltmännisch 
geschrieben  haben,  doch  an  der  Verbreitung  der  christliehen  Religion 
nur  sehr  geringen  Anteil  gehabt:  im  Morgenland  dagegen  hat  sie 
eine  große  Bedeutung  seit  der  2.  Käute  des  3.  Jahrhunderts  ge- 
wonnen. 


Zweites  Kapitel. 

Missionsniethoden;  Katechese  und  Taufe; 
Eingriffe  in  das  häusliche  Leben. 

Fragt  man  im  allgemeinen  nach  den  Missionsmethoden,  so 
ist  auf  das  zu  verweisen,  was  im  zweiten  Buche  dargelegt  worden 
ist:  in  der  Missionsp redig t  ist  auch  die  Missionsmethode  ent- 
halten. Der  eine  Gott.  Jesus  Christus  der  Sohn  und  der  Herr 
nach  der  apostolischen  Überlieferung,  das  zukünftige  Gericht  und 
die  Auferstehung  wurden  gepredigt.  Das  Evangelium  vom  Heiland 
und  von  der  Heilung,  von  der  Liebe  und  Hilfleistung  wurde  ver- 
kündigt. Als  Geist  und  Kraft  wurde  die  neue  Religion  dargelegt 
und  bewährt,  als  Kraft  auch  eines  neuen  sittlichen  Lebens  und 
als  Kraft  der  Enthaltung.  Kunde  wurde  gebracht  von  der  Offen- 
barung Gottes,  der  sich  die  Menschheit  im  Glauben  zu  unterwerfen 
habe.  Von  dem  neuen  Volk  wurde  gepredigt,  das  nun  erschienen 
sei  und  alle  Yölker  umfassen  solle,  mid  das  uralte,  heilige  Buch 
wurde  überliefert,  in  welchem  die  Geschichte  von  den  Tagen  des 
Anfangs  bis  zum  Ende  der  Welt  aufgezeichnet  war. 

Im  Corintherbrief  (I  c.  l  und  2)  sagt  Paulus  ausdrücklich, 
daß  er  die  Yerkündiffimo-  des  s^ekreuzio'ten  Christus  in  den  Mittei- 


gegen die  Christen  erhobene  Vorwurf  zugrunde,  sie  seien  die  Dummen  („stulti'' 
kommt  c.  dreißigmal  in  der  Schrift  vor).  Natürlich  sucht  der  Verf.  zu 
zeigen,  die  Heiden  seien  die  Dummen. 


:}20       Die  Missioniu-e;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

punkt  gestellt  und  alles  in  diese  Predigt  7Aisaramengeschlossen 
habe,  d.  h.  er  hat  Christus  als  den  Heiland,  der  die  Sünde  ge- 
tilgt habe,  verkündigt.  Diese  Verkündigung  setzt  aber  voraus, 
daß  er  den  Iltirern  ihre  Gottlosigkeit  und  Ungerechtigkeit  (aoeßeia 
xal  aöiy.la)  zuerst  aufgedeckt  und  zu  Geinüte  geführt  hat;  denn 
nur  unter  dieser  Voraussetzung  konnte  die  Predigt  von  der  Er- 
lösung wirksam  werden  und  eine  Stätte  finden.  Als  den  schlagenden 
Beweis  der  Gottlosigkeit  und  Ungerechtigkeit  hat  er  dabei  die 
selbstverschuldete  Unwissenheit  in  bezug  auf  Gott  und  somit  den 
Götzendienst  hingestellt.  Bei  dem  Nachweise  der  Verschuldung 
hat  er  an  das  Gewissen  der  Hörer  und  an  einen  Rest  von  Gottes- 
erkemitnis,  der  ihnen  geblieben,  appelliert.  Der  Aufriß  des  Römer- 
briefs (c.  1  —  3)  darf  daher  als  Aufriß  der  paulinischen  Missions- 
predigt in  Anspruch  genommen  werden.  Paulus  hat  seine  Hörer 
zuerst  zur  Anerkennung:  „Wir  sind  allzumal  Sünder"  gebracht; 
er  hat  sie  dann  zum  Kreuze  Christi  geführt  und  hat  darauf  das 
Kreuz  Christi  als  göttliche  Kraft  und  Weisheit  entwickelt.  Eigen- 
tümlich verflochten  mit  diesem  Gang  waren  Auseinandersetzungen 
über  Fleisch   und  Geist   und   der  Hinweis   auf  das   nahe   Gericht. 

Die  Erlösungsbedeutung  Jesu  Christi  ist,  soviel  wir  zu  urteilen 
vermögen,  erst  von  Paulus  so  entscheidend  in  den  Vordergrund 
geschoben  und  zum  Mittelpunkt  der  Predigt  gemacht  worden, 
obgleich  auch  die  älteren  Missionare  verkündigten,  daß  Christus 
für  die  Sünden  gestorben  sei  (I  Cor.  15.  ;>).  Aber  es  lag  für  sie 
(sofern  sie  zu  Juden  sprachen  oder  zu  solchen,  die  mit  dem 
Judentum  längst  in  Berührung  getreten  waren)  nahe,  sich  auf  die 
Predigt  vom  Gericht,  das  denuiächst  eintreten  wird,  zu  beschränken 
sowie  auf  den  aus  dem  Alten  Testament  zu  führenden  Nachweis, 
daß  der  gekreuzigte  Jesus  als  der  Richter  und  als  der  Herr  des 
messianischen  Reichs  wiederkommen  werde.  Die  Aufforderung 
ergab  sich  dann  ganz  von  selbst:  Erkennt  ihn  an,  tretet  zu  seiner 
Gemeinde  hinzu  und  haltet  seine  Gebote. 

Wir  brauchen  nicht  zu  zweifeln,  daß  so  im  Anfang  und  zwar 
auch  zu  vielen  eingeborenen  Heiden  gepredigt  worden  ist,  sofern 
sie  das  Alte  Testament  in  gewissen  Grundzügen  seines  Inhalts 
schon  kannten.  Die  petrinischen  Reden  in  der  Apostelgeschichte 
zeigen  uns  das;  die  dem  Paulus  beigelegte  Missionsrede  in  c.  ]'.\ 
stellt  sich  als  eine  Mischung  dieser  vulgären .  Missionsweise  mit 
der  paulinischen  dar.  In  c.  17  aber,  wo  das  i\ruster  einer  Missions- 
rede  an  (i ('bildete  (in  Athen)  gegeben  wird,  ist  trotz  einer  schein- 
bar stai-kcn  Dilf'ei'enz  die  paulinische  Weise  der  Missionspredigt 
ganz  deutlich  ^     liier  wird  mit  dei"  Darlegung  der  richtigen  Gottes- 

')  Verwandt  ist  die  Trodigt  Act.  14,  15  tf. 


Missionsmethoden;  Katechese  u. Taufe;  Eingrifl'e  in  das  häusl.  Leben.     ;52  l 

lehre  begonnen  und  diese  nacli  ihren  Ilauptseiten  vorgeführt  (Mono- 
theismus, Geistigkeit,  Allgegenwart  und  Allwirksanikeit,  religiöse 
Anlage,  geistige  Gottesverchrung).  Der  bisherige  Zustand  der 
Menschheit  wird  als  „Unwissenheit"  und  deshalb  als  etwas  zu 
Bereuendes  bezeichnet:  Gott  will  ihn  übersehen.  Nun  setzt  die 
neue  Zeit  ein:  Buße  und  Gericht,  daher  Glaube  an  Jesus  Christus, 
den  Gott  gesandt  und  auferweckt  hat,  und  der  der  Erlöser  und 
der  Richter  zugleich  ist^  In  diesem  Sinne  haben  gewiß  manche 
gebildetere  Missionare,  vor  allem  Lucas  selbst  gesprochen;  die 
christlichen  Apologien  und  Schriften  wie  das  Kerygma  Petri  be- 
weisen es.  Die  christliche  Predigt  hat  sowohl  bei  dem  zu 
erweckenden  Gefühle  der  Gottlosigkeit  und  Ungerechtigkeit,  als 
auch  bei  dem  natürlichen  Gottesbewußtsein  eingesetzt:  immer  aber 
war  sie  begleitet  von  dem  Hinweis  auf  das  nahe  Gericht. 

1)  Wie  immer  die  Predigt  Act.  17,  22 — 31  und  der  ganze  Bericht  über 
die  Predigt  des  Paulus  in  Athen  entstanden  sein  mag  —  er  ist  das  wunder- 
vollste Stück  der  Apostelgeschichte  und  ist  in  höherem  Sinn  (vielleicht  auch 
an  wichtigen  Punkten  in  streng  geschichtlichem  Sinn)  voll  Wahrheit.  Vor 
allem  hätte  man  nicht  verkennen  sollen,  daß  er  sich  streng  an  das  anschließt, 
was  wir  aus  I  Cor.  1  f.  und  Rom.  1  f.  über  die  paulinische  Missionspredigt 
festzustellen  vermögen.     Folgende  Punkte  seien  hervorgehoben: 

(a)  Nach  dem  Bericht  (c.  17,  18)  waren  in  der  Predigt  des  Paulus  , Jesus 
und  die  Anastasis''  entscheidend  hervorgetreten;  das  entspricht  dem,  was  wir 
I  Cor.  1  f.  entnehmen  können. 

(b)  Die  r>arlegung  der  natürlichen  Gotteserkenntnis  muß.  wie  Rom.  1, 19if. 
und  2, 14f.  beweisen,  ein  Hauptstück  der  paulinischen  Missionspredigt  gebildet 
haben.     In  der  Predigt  zu  Athen  nimmt  sie  den  breitesten  Raum  ein. 

(c)  In  eben  dieser  Predigt  ist  die  Verkündigung  von  Jesus  als  dem 
Richter  unmittelbar  an  die  „Unwissenheit"  angeknüpft,  die  an  Stelle  der 
ursprünglichen  Gotteserkenntnis  getreten  ist  (y.adöii  eaujasv  tj/iigav  iv  f] 
fte/J.ei  y.Qiren'  rljv  oiy.ovuivtjv  h'  biy.aioavvj]  h>  uvdol  o)  ö'jQtoer).  Genau  so  folgt 
im  Römerbrief  auf  2,  14 f.  der  16.  Vers  (iv  yiiiioa  öte  y.otvsi  6  ßsog  tu  y.nvn^rä 
T<üv  ävdodj:i<jjv  bia  Xgiozov  'Irjoov/. 

(d)  Gemäß  der  Predigt  liegt  zwischen  der  Zeit  der  „Unwissenheit"  und 
dem  Gericht  die  Gegenwart,  die  dadurch  charakterisiert  ist,  daß  in  ihr  der 
rettende  Glaube  angeboten  wird  (v.  31).  Das  echt  Paulinische  dieses  Ge- 
dankens bedarf  keiner  Bestätigung. 

(e)  Dieser  rettende  Glaube  hat  sein  Objekt  am  auferstandenen  Christus 
(1.  c);  auch  dieser  Gedanke  bedarf  keiner  Bestätigung. 

Der  eiuzige  Unterschied  zwischen  der  aus  den  paulinischen  Briefen  fest- 
zustellenden Missionspredigt  und  der  Rede  in  Athen  liegt  darin,  daß  in  dieser 
die  Verschul  düng  der  Menschen  nicht  stark  hervortritt;  aber  implicite  ist 
die  „Unwissenheit"  deutlich  genug  als  Verschuldung  bezeichnet,  und  der 
Ausgangspunkt  der  Rede  (o  dyroovi're;  evosßsTze,  tovto  «/w  yaTayyE/./.cj  v/nv) 
machte  es  nicht  wohl  möglich,  die  negative  Seite  stärker  zu  betonen.  — 

Wie  Paulus  als  grundlegender  Missionar  gewirkt  hat,  läßt  sich  in 
einigen  wichtigen  Zügen  auch  aus  dem  I.  Thessalonicherbi-ief  (vgl.  mit  Act. 
20,  18  ff.)  erkennen.  Doch  liegt  eine  genauere  Darstellung  des  Details  nicht 
im  Plane  dieses  Werks. 

H  arnack,  ilission.    2.  Aufl.  21 


322       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Eigentümlich  und  ganz  unpaulinisch  (doch  s.  die  Predigt  des 
Paulus  vor  Nero)  ist  die  Predigt,  welche  in  den  „Acta  Pauli*-'  dem 
Paulus  in  den  Mund  gelegt  ist  (Acta  Theclae  5.  6):  sie  ist  auch 
keine  Missionspredigt  im  strengen  Sinn.  Der  Apostel  spricht  in 
Seligpreisungen,  die  denen  Jesu  nachgebildet,  aber  ins  Asketische 
gesteigert  sind.  Wichtiger  ist,  daß  der  Inhalt  der  christlichen 
Predigt  als  6idnoxa?Ja  Ti/g  te  yervj'jOECog  xal  T)~jg  ävamäoeoK  tov  fiyanr]- 
jusvov  und  als  Xöyog  Trjg  syxgaTeiag  xal  ävaoräoECog  bezeichnet  ist  ^. 

Die  Wirkung  zusammenhängender  Predigten  in  bezug  auf 
die  Mission  darf  nicht  überschätzt  werden :  eine  erschütternde, 
das  Herz  bewegende  Einzelheit  ist  zu  allen  Zeiten  ein  stärkerer 
Hebel  gewesen  als  eine  lange  Predigt.  Die  Apostelgeschichte 
berichtet  uns  von  Bekehrungen  vieler  auf  einmal  gleichsam  im 
Sturme;  das  wird  nicht  unhistorisch  sein.  Paulus  ist  ohne  einen 
Missionar  bekehrt  worden  durch  eine  Vision.  Der  Kämmerer  aus 
dem  Mohrenland  ist  durch  Jes.  5o  zum  Glauben  an  Jesus  gebracht 
worden.  Wie  vielen  mag  dieses  Kapitel  die  Brücke  geworden 
seini  Thecla,  die  Heidin,  ist  durch  den  Xoyog  Tijg  Tiagdsviag  xal 
jrig  JiQooevxrj?  gewonnen  worden  (c.  7)  —  die  apokryphen  Apostel- 
geschichten berichten  Gleichartiges  so  häufig,  daß  man  an  der 
Tatsächlichkeit  und  Bedeutung  dieses  Motives  nicht  zweifeln  kann; 
Askese,  namentlich  geschlechtliche,  entband  sich  damals  aus  dem 
religiösen  Synkretismus  für  weite  Kreise.  Daß  die  von  den  Christen 
geübten  Exorzismen  auf  viele  einen  tiefen  Eindruck  machten  und 
sie  zum  Übertritt  bewogen,  wird  von  den  Apologeten  gewiß  nicht 
ohne  Grund  behauptet.  Daß  die  erschütternde  Predigt  vom  Gericht 
und  seiner  Nähe  Tausende  dem  Christentum  zugeführt  hat,  dürfen 

')  Ein  kurze,  inhaltsreiche  Missionspredigt  eines  gebildeten  Christen  ist 
in  den  Akten  des  Apollonius  (v.  36  tf.)  enthalten  (der  Richter  hatte  ihn  auf- 
gefordert, kurz  das  Christentum  auseinanderzusetzen):  Ovrog  6  oonijQ  jj/nön' 
Irjoovg  Xoiazdg  (bg  ävOQwi^og  yevöfifi'og  iv  rf]  'lovdaia  y.arh  ^ärra  dixaiog  y.ai 
jTfjT^rjncofiivog  'ÖF.ia  oo<fin ,  rpilav&QOiJicog  edida^sv  ij/iiäg  iig  o  r<üv  (V.cov  Oeog  xai 
T<  T^'Ao?  aQF.rr}g  sttI  os/ivijv  jioXiiEiav  agfiö^oj'  jiQog  rag  rcör  avÜQO)j:<ov  rjwxdg' 
og  diä  rov  jtaßeTv  mavoev  Tag  agycig  röJv  d/Aagncör.  Nun  folgt  der  ganze 
Tugendkatalog;  hier  findet  sich  auch  die  schuldige  Ehrerbietung  gegenüber 
dem  Kaiser,  der  Glaube  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  und  die  Vergeltung; 
dies  alles  habe  Jesus  fiezä  noXkrjg  djiod8i^ea>g  gelehrt.  Dann  wurde  er  „von 
den  Ungebildeten",  wie  die  Gerechten  und  Philosophen  vor  ihm,  verfolgt  und 
getötet;  hat  doch  auch  einer  von  den  Hellenen  gesagt,  der  Gerechte  werde 
gegeißelt,  verspieen,  gebunden  und  zuletzt  gekreuzigt  werden.  Und  wie 
Socrates  von  den  athenieusischen  Sycophanten  ungerecht  verurteilt  worden 
ist,  so  haben  auch  einige  Böse  unseren  Lehrer  und  Heiland  geschmäht  und 
verurteilt.  Dasselbe  haben  sie  früher  den  Propheten  angetan,  die  sein 
Kommen  und  sein  Tun  und  seine  Lehre  vorausgesagt  haben  (:tQoeTjtov  oti 
roioviög  Tig  dcpi^erai  yiävza  öixawg  xal  h'ÜQsrog ,  og  elg  Jidvrag  ev  jroirjoag 
dvi')Qo'):jovg  fji  doftf/  tifioei  ofßeiv  tov  :nrdvTO}V  üeöv,  ov  i'jfJEig  (p&doaviEg  Tifidj/nsv, 
Oll  t/iuOo/{Ev  Oi/irug  ivToldg  dg  ovy.   >jSst/ii£v,  xal  ov  :if.-TXavij/teOaj. 


Missionsmethoden-  Katechese  u. Taufe;  Eingriffe  in  das  hiiusl. Leben.     ,'323 

^vil•  iinnohmon.  Wie  viele  mcigen  sich  auch  einfacli  unter  die 
Autoritär  des  Alten  Testaments  in  christlicher  Beleuchtvuig  i>ei)eugt 
haben  I  \\'o  Beweise  verlangt  wurden,  da  war  dieses  Buch  zur  Stelle  ^. 
Der  Wandel  der  Christen  und  Christinnen  unterstützte  die 
^rission  und  wirkte  geradezu  missionierend.  Paulus  spricht  öfters 
davon,  und  im  I.  Petrusbrief  (c.  o,  I)  heißt  es.  daß  die,  so  da  nicht 
glauben  an  das  Wort,  durch  der  Weiber  Wandel  ohne  Wort  ge- 
wonnen werden  sollen-.  Zu  Justin  hat  das  sittliche  Leben  der 
Christen  mit  besonderer  Eindringlichkeit  gesprochen.  Die  Martyrien 
wirkten  auf  weite  Kreise.  Nicht  selten  wurden  Außenstehende 
so  erfaßt,  daß  sie  sich  plötzlich  und  ohne  Besinnen  dem  Christen- 

')  Missionsschrifteu  im  strengen  Sinn  de.s  Worts  sind  uns  außer  den 
Bruchstücken  des  Kerygma  Petri  und  den  Apologien  (die  aber  auch  apologe- 
tische Zwecke  in  bezug  auf  die  schon  gewonnenen  Christen  verfolgen)  nicht 
erhalten.  Speziell  im  Neuen  Testament  findet  sich  keine  einzige  Missions- 
schrift ;  denn  die  synoptischen  Evangelien  dürfen  nicht  unter  diesem  Gesichts- 
punkt betrachtet  werden.  Sie  sind  katechetische  Schriften,  dienen  also  der 
Unterweisung  solcher,  die  die  Gründzüge  der  Lehre  schon  gehört  haben  und 
in  ihr  bereichert  und  befestigt  werden  sollen  (s.  Luc.  1.  4).  Mit  dem  meisten 
Recht  könnte  man  das  4.  Evangelium  als  eine  Missionschrift  bezeichnen 
(namentlich  der  Prolog  legt  das  nahe):  aber  auch  hier  wäre  dieser  Titel  doch 
nicht  zutreffend.  Mindestens  in  erster  Linie  ist  auch  hier  an  christliche 
Leser  gedacht:  denn  die,  welche  c.  20,  31  angeredet  werden,  sind  gewiß 
keine  Heiden,  sondern  Christen.  Eine  Missionsgeschichte  stellt  die  Apostel- 
geschichte dar,  und  zwar  mit  Absicht  des  Verfassers.  Der  8.  Vers  des 
1.  Kapitels  gibt  zwar  nicht  das  einzige,  wohl  aber  das  Hauptthema  des 
Buches  an. 

'-)  Xäheres  über  die  christlichen  Frauen  s.  im  2.  Kapitel  des  4.  Buchs: 
doch  sei  hier  die  lehrreiche  Schilderung  des  täglichen  Lebens  einer  christ- 
lichen Frau  mitgeteilt,  die  Tertullian  (ad  uxor.  II,  4ff.)  bietet.  Daß  sie  in 
bezug  auf  eine  Frau,  die  einen  heidnischen  Mann  neben  sich  hat,  gegeben 
wird,  erhöht  ihren  Wert: 

„Wenn  ein  Stationsfasten  zu  halten  ist,  bestellt  der  Mann  am  frühen 
Morgen  ein  Bad.  wenn  ein  Fasttag,  richtet  er  für  denselben  Tag  ein  Gast- 
mahl an,  und  wenn  sie  ausgehen  sollte,  dann  grade  kommen  die  dringensten 
häuslichen  Geschäfte  in  den  Weg.  Denn  wer  möchte  seiner  Gattin  erlauben, 
straßenweise  in  die  fremden  und  gerade  in  die  ärmsten  Hütten  einzutreten, 
um  die  Brüder  zu  besuchen?  Wer  wird  es  gerne  sehen,  daß  sie,  wenn  es 
so  erfordert  wird,  sich  zu  nächtlichen  Zusammenkünften  von  seiner  Seite 
wegbegebe V  Wer  wird  zur  Zeit  der  Osterfeierlichkeiten  ruhig  dulden,  daß 
sie  die  ganze  Nacht  wegbleibt?  Wer  wird  sie  zu  dem  bekannten  Mahle 
des  HeiTn,  das  sie  so  in  Verruf  bringen,  ohne  Argwohn  gehen  lassen?  Wer 
wird  sie  in  die  Kerker  schleichen  lassen ,  um  die  Ketten  eines  Märtyrers  zu 
küssen?  oder  gar  erst  sich  irgend  einem  Bruder  zum  Friedenskuß  zu  nahen? 
oder  Waschwasser  für  die  Füße  der  Heiligen  zu  bringen?  ....  Wenn  ein  Mit- 
bruder aus  der  Fremde  kommt,  welche  Bewirtung  wird  er  in  einem  solchen 
Hause  finden,  wenn  ihm,  dem  man  die  ganze  Vorratskammer  anbieten  müßte, 
selbst  die  Brotschränke  verschlossen  sind!"  ....  ,Wird  es  wohl  unbemerkt 
bleiben,  wemi  du  dein  Bett  und  dich  selbst  mit  dem  Kreuze  bezeichnest? 
wenn  du  etwas  Unreines  von  dir  wegbläst?  wenn  du  sogar  nachts  aufstehst, 

21* 


324       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

tum  7Anvandten.  Beispiele  aber,  daß  die  Christen  durch  die  Unter- 
stützungen, welche  sie  gewährten,  Proselyten  fangen  wollten  und 
gefangen  haben,  sind  uns  nicht  bekannt.  Wohl  wissen  wir,  dal5 
Schwindler,  die  die  christliche  Ih'üderlichkcit  ausbeuten  wollten, 
sich  eingeschlichen  haben:  aber  selbst  die  Heiden  haben  den 
Vorwurf  nicht  erhoben,  daß  die  Christen  mit  Plilfe  des  Geldes 
missionieren.  Daß  sie  mit  Schreckreden  die  Leichtgläubigen  für 
sich  gewinnen,  daß  sie  den  Beladenen  und  Schuldigen  leere  Hilfe 
und  unerlaubte  Vergebung  versprechen,  das  haben  sie  behauptet. 
Im  3.  Jahrhundert  haben  sich  die  Kanäle,  durch  welche  das 
Christentum  in  die  Massen  eindrang,  vervielfältigt.  Zwar  schien 
es  auf  dem  Höhepunkt  des  Streits  mit  dem  Gnostizismus  einen 
Augenblick  so,  als  könne  die  Kirche  nur  bestehen,  wenn  sie  jede 
Berührung  mit  der  Teufelsbuhlerin,  der  Philosophie,  verbiete:  die 
„simplices  et  idiotae"  wollten  von  Wissenschaft  schlechterdings 
nichts  hören  ^  Allein  selbst  ein  Tertullian  sah  sich  genötigt,  gegen 
diesen  Standpunkt  zu  kämpfen,  und  die  pseudoclementinischen 
Homilien  richten  einen  scharfen  Angriff  gegen  die  Methode,  durch 
Träume  und  Visionen  Unterweisung  und  Lehre  ersetzen  zu  wollen; 
das  sei  die  Methode  des  Simon  Magus'-^.  Vor  allem  aber  hat  die 
alexandrinische  Katechetenschule,  haben  Clemens  und  Origenes 
in  geduldiger  und  unermüdlicher  Arbeit  das  Recht  der  AVissen- 
schaft  in  der  Kirche  erkämpft.  Von  nun  an  missionierte  das 
Christentum  auch  durch  seine  Wissenschaft  in  Wort  und  Schrift 
(im  Orient:  im  Occident  spürt  man  davon  wenig).  Das  stärkste 
Mittel  der  Mission  aber  im  3.  Jahrhundert  aber  wurde  die  Kirche 


um  zu  beten?  Wird  es  da  nicht  scheinen,  als  wolltest  du  eine  magische 
Handlung  vornehmen?  Dein  Mann  wird  nicht  wissen,  was  das  ist,  was 
du  vor  jeder  andern  »Speise  heimlich  genießest."  Die  Schilderung  zeigt,  wie 
das  ganze  Leben  des  Tages  ein  Bekenntnis  des  Christentums  und  in  diesem 
Sinn  auch  eine  Missionspredigt  sein  sollte. 

*)  Tertull.,  adv.  Prax.  3:  „Simplices  quique,  ne  dixerim  iniprudentes  et 
idiotae,  quae  maior  semper  credeutium  pars  est.  cf.  de  resurr.  2.  Am  Anfang 
des  'i.  Jahrhunderts  bezeichnet  Hippolyt  sogar  den  römischen  Bischof  Zephyrin 
als  einen  ISionijg  und  dynufifiaTog  (Philos.  IX,  11).  Origenes  führt  öfters  Klage 
über  die  große  Anzahl  unwissender  Christen. 

*)  S.  Hom.  XVII,  14  —  19.  Getadelt  wird  der  Satz,  daß  es  sicherer  sei 
f:7Ö  ojiTuaiag  uxovfiv  i)  Trag'  uvTi]g  iraoyEiag  (14).  o  djizaot'a  Tiiaxfvcov,  heißt 
es,  t)  oQUfiaTi  xuL  kvvjivUo  ayvon  rivi  TTiorevet ,  et'.  17:  xai  noFßeTg  ogciiiaTa  xal 
fvvjTVM  dlijdtj  ßltnovoiv  ....  xoj  svofßn  FfUfi'tqj  aal  xaditfio)  uvaßXvC^i  t(J> 
v(o  tö  üÄrjO/g ,  ovh  dvFioro  ojiovSal^oi^iEvov ,  aXld  avvsast  dyaüoTg  Siöotirvor. 
18:  Petrus  erklärt,  daß  sein  eigenes  Bekenntnis  (Matth.  16)  für  ihn  selbst 
erst  dadurch  wertvoll  geworden  sei,  daß  Jesus  ihm  gesagt  habe,  der  Vater 
sei  es  gewesen,  der  ihm  diese  Offenbarung  habe  zuteil  werden  lassen.  To 
F^foßfv  hl'  d.7Tnnit~jj'  xai  tvvjTin'cov  8r]?M)ßrjvai  ii  ovx  f.miv  d7ioy.alm^^E(X>g  u)J.ä 
oQyyg.  In  5;  lU  wird  die  Frage,  d'  zig  (5«'  djiraaim'  jiQog  diöaoxcdiav  aoc/  lodf/vai 
(irrarui,  verneint. 


Missionsmethoden;  Katechese  u.Tiiuf'e;  Eiugrift'e  in  das  häusl.  Leben.     325 

selbst  in  ihrer  Totalität.  Indem  sie  sich  als  große  synkretistisehe 
Religion  ausgestaltete  und  eine  Wandlung  vollzog,  die  ihr  der 
Gnostizismus  im  8turin  aufnötigen  wollte,  wirkte  ihr  bloßes  Dasein 
und  die  Macht  ihi'er  Erscheinung  anziehend  und  hinreißend. 

Bei  der  Aufnahme  in  die  christliche  Gemeinde  wurde  der 
Zugelassene  getauft.  Der  Ritus  (,,])urifici  roris  perfusio",  Lactant. 
lY.  15;  viel  wertvolles  Detail  bei  Tertull.,  de  bapt.),  dessen  Urge- 
schichte für  uns  im  Dunklen  liegt,  ist  gewiß  nicht  eingeführt 
worden,  um  der  heidnischen  Mysteriensucht  entgegenzukommen, 
aber  tatsächlich  kann  keine  Handlung  gedacht  werden,  die  bei 
aller  ergreifenden  Einfachheit  jenem  Begehren  willkommener  sein 
konnte.  Daß  überhaupt  ein  solcher  Ritus  da  war,  war  bereits  ein 
hoher  Trost  —  in  den  reinen  religiösen  Spiritualismus  vermochten 
sich  doch  nur  w^enige  zu  finden  — ;  die  Zeremonie  des  Unter- 
taucliens  und  Wiederauftauchens  gab  die  Bürgschaft,  daß  nun  das 
Alte  abgewaschen  und  vergangen  und  der  Mensch  ein  neuer  sei; 
die  Aussprechung  des  Xamens  Jesu  oder  der  drei  Namen  während 
des  Aktes  setzte  den  Täufling  in  die  innigste  Gemeinschaft  mit 
ihnen  und  erhob  ihn  zu  Gott  hinauf.  Mysterienspekulationen  haben 
sofort  begonnen^;  das  Untertauchen  ein  Sterben;  das  Untertauchen 
mit  der  Beziehung  auf  Christus  ein  Sterben  mit  ihm,  ein  Yer- 
senktwerden  in  seinen  Tod;  das  Wasser  das  Symbol  seines  Blutes. 
Paulus  hat  bereits  so  gelehrt,  aber  er  hat  die  in  Corinth  ver- 
suchten Spekulationen,  den  Täufling  auch  mit  dem  Täufer  in 
geheimnisvolle  Beziehungen  zu  bringen,  abgelehnt  (I  Cor.  1,  13  ff.). 
Merkwürdig,  er  dankt  Gott,  daß  er  in  Corinth  nur  wenige  Personen 
eigenhändig  getauft  hat.  Als  eine  Nichtachtung  der  Taufe  ist  das 
natürlich  nicht  zu  verstehen  —  Paulus  sah  wie  die  anderen  in 
der  Taufe  etwas  schlechthin  Notw^endiges  — ,  sondern  er  erinnert 
sich,  und  zwar  in  diesem  Falle  mit  Freude,  an  die  Schranke  des 
Apostelberufs.  Dieser  Beruf  legt  ihm  nur  das  Predigen  des 
Wortes  Gottes  auf;  das  Taufen  gehört  strenggenommen  nicht  zu 
seiner  Kompetenz;  er  kann  es  ausüben,  aber  in  der  Regel  ist  es 
Sache  anderer;  denn  es  setzt  bei  den  meisten  eine  längere  Unter- 
weisung und  Prüfungszeit  voraus.  Soviel  Zeit  aber  hat  der  Apostel 
nicht;  er  soll  nur  den  Grund  legen.  Die  Taufe  ist  somit  nicht 
eigentlicher  Initiationsakt,  sondern  Abschluß  der  Initiation. 

„Fiunt,  non  nascuntur  Christiani''  —  dieses  Wort  Tertullians 
(Apol.  IS,  cf.  de  testim.  1 :   ,,fieri  non  nasci  solet  Christiana  anima"; 


^)  Magische  Yorstellimgen  waren  von  Anfang  an  mit  der  Handlung  ver- 
bunden; man  vergleiche  das  Taufen  ?^Tfo  tmv  vey.oöjv  in  Corinth,  und  wie 
sich  Paulus  dazu  gestellt  hat  (I  Cor.  15.  29j. 


'52B       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegouwirknngen  der  Mission. 

die  in  clirisrliehor  Familie  Geborenen  hießen  ,,vernacnli  ecclesiae". 
s.  de  anima  51)  mag  noch  bis  über  die  Mitte  des  2.  Jalirhnnderts 
überwiegend  gegolten  haben;  aber  dann  trat  ihm  die  natürliche 
Ausbreitnng  des  Christentums  dnrch  Eltern  anf  Kinder  zur  Seite. 
Seit  dieser  Zeit  beginnt  auch  die  Praxis  der  Ivindertaufe,  wenig- 
stens vermögen  wir  sie  früher  nicht  sicher  zu  belegend  Aber 
ob  nun  Erwachsenen-  oder  Kindertaufe  —  als  ein  Mysterium  mit 
natürlich-übernatürlichen  Folgen  zwingender  Art  galt  sie  in  beiden 
Fällen.  Daß  sie,  ohne  Rücksicht  auf  die  gr()ßere  oder  geringere 
Empfänglichkeit  der  Täuflinge,  alle  vergangenen  Sünden  sicher 
tilge  und  daher  der  aus  dem  Taufliade  auftauchende  Mensch  ganz 
rein  und  ganz  heilig  sei,  stand  allgemein  fest.  Das  Sakrament 
der  Taufe  hat  innerhalb  der  Mission  eine  sehr  bedeutende  Rolle 
gespielt.  Es  war  eine  ebenso  verständliche  wie  trostreiche  Hand- 
lung; die  Zeremonie  war  nicht  so  ungewöhnlich,  daß  sie  Befremden 
und  Anstoß  erregen  konnte  wie  die  Beschneidung  oder  die  Tauro- 
bolien,  und  sie  war  doch  etwas  Greifbares,  an  das  man  sich  zu 
halten  vermochte"-^.  Nahm  man  aber  noch  den  Bericht  von  der 
Taufe  Christi    durch    Johannes   liin:ai  —  er  war   überall    bekannt. 


')  Daß  hier  das  Wort  gilt:   ..ab  initio  .sie  non  erat",  scheint  mir  sieher. 

-)  Zartere  Emfindungen  verletzte  freilich  auch  die  Taufe  mit  der  an 
sie  geknüpften  Behauptung,  nun  seien  alle  Sünden  getilgt.  Porphyrius,  dem 
Julian  in  dieser  Beurteilung  gefolgt  ist,  sehreibt  bei  Macarius  Magnes  (IV,  19): 
„Wir  müssen  uns  darüber  wundern  und  sind  wirklieh  in  Not  um  unsere  Seele, 
wenn  ein  Mensch  von  so  vieler  Schande  und  Befleckung  durch  eine  einmalige 
Waschung  rein  dastehen  sollte,  wenn  einer,  der  vom  Schmutze  so  vieler 
Schwelgerei  in  seinem  Lehen  befleckt  ist,  von  Hurerei,  Ehebruch,  Trunken- 
heit, Diebstahl,  Knabenliebe,  Giftmischerei  und  von  vielen  anderen  schand- 
baren und  abscheulichen  Dingen,  wenn  ein  solcher  Mensch  dadurch,  daß  er 
einfach  getauft  wird  und  den  Namen  Christi  anruft,  leichtlich  davon  befreit 
wird  und  die  ganze  Schuld  von  sich  wirft,  wie  eine  Schlange  die  alte  Sehuppen- 
haut  abwirft.  Wer  wird  sich  da  nicht  an  nennbare  und  unnennbare  Schand- 
taten machen  und  Dinge  tun,  die  man  weder  in  Worten  ausdrücken  noch  in 
der  Tat  ertragen  kann,  wenn  er  erfährt,  daß  er  von  so  vielen  schuldvollen 
W^erken  Losspreehnng  erlangen  wird,  falls  er  nur  glaubt  und  getauft  wird 
und  die  Hoffnung  hegt,  daß  er  hiernach  bei  dem  Verzeihung  finden  wird, 
welcher  richten  wird  über  die  Lebendigen  und  die  Toten  V  Diese  Worte 
müssen  ja  den,  welcher  sie  vernimmt,  zum  Sihidigen  anleiten;  sie  lehren 
immerdar  unrecht  tun;  sie  verstehen  es,  auch  die  Zucht  des  Gesetzes  zu  ver- 
bannen und  die  Gerechtigkeit  selbst,  so  daß  sie  überhaupt  keine  Macht  mehr 
gegen  die  Ungerechtigkeit  hat;  sie  führen  ein  gesetzloses  Leben  in  die  ge- 
ordnete Welt  ein;  sie  erheben  es  zum  Grundsatz,  sich  vor  der  Gottlo.sigkeit 
überhaupt  nicht  mehr  zu  scheuen,  wenn  der  Mensch  durch  die  einfache  Taufe 
einen  Haufen  unzähliger  Sünden  von  sich  tut.  —  So  also  steht  es  mit  dieser 
großsprecherischen  Erdichtung."  Ob  Porphyrius  hier  ganz  aufrichtig  gewesen 
ist,  sowohl  bei  seinem  Abscheu  vor  heil  wirkenden  Sakramenten  überhaupt 
als  bei  .seiner  Schilderung  der  die  Sittlichkeit  verheerenden  Wirkung  der 
Taufe?    In   l'/tzterer  Hinsicht  ist  freilieh  zu  sa<jren,  dal.*!  die  Praxis,  die  Taufe 


Missionsmethoclen ;  Katechese  u. Taufe;  Eingriffe  in  das  hilusl.  Leben.     327 

denn  das  Evangelium  begann  mit  ihm  — ,  so  war  nicht  nur  ein 
neues  Fehl  für  tiefsinnige  Kombinationen  und  Spekulationen  er- 
öffnet, sondern  jener  Vorgang  gab  auch  der  Taufe,  der  man  sich 
unterzog,  eine  neue  Weihe  und  einen  vertieften  Inhalt.  Der  Geist 
war  bei  jener  Taufe  auf  Jesus  herabgekommen:  der  Geist  Gottes 
schwebt  bei  jeder  Taufe  über  dem  Wasser  und  macht  sie  zu 
einem  Bad  der  Wiedergeburt  und  Erneueruno;.  Was  hat  nicht 
schon  Tertullian  alles  in  seinem  Traktat  ,.De  baptismo"  von  der 
Taufe  ausgesagt;  aber  auch  der  einfältige  Christ  Hernias,  sechzig 
Jahre  früher,  kann  sich  nicht  genugtvm,  wenn  er  von  der  Taufe 
redet:  die  Apostel  sind  in  die  Unterwelt  herabgestiegen  und  haben 
die  längst  Entschlafenen  getauft. 

Als  Mysterium  ist  die  Taufe  von  Anfang  an  in  der  Heiden- 
kirche empfunden  worden^;  das  zeigt  auch  die  Geschichte  ihrer 
Ausgestaltung:  mit  dem  einfaclien  Tauf  bade  begnügte  man  sich 
nicht  melir.  Der  Ritus  ist  vermehrt,  neue  Zeremonien  sind  an- 
gefügt worden;  die  Handlung  wuchs  wie  alle  Mysterien.  Die 
neuen  Zeremonien  verselbständigten  sich  allmählich;  auch  dies 
ist  ein  bekannter  Prozeß.  Tertullian  in  der  eben  genannten  Schrift 
zeigt  uns  diese  Entwicklung  bereits  auf  einer  hohen  Stufe-;  aber 
im   Kerne   verändert   sich   wenig   oder   nichts:    die   Taufe   ist   die 


zu  verschieben,  schon  im  2.  Jahrhundert  und  fort  und  fort  geübt  worden  ist, 
um  den  vollen  Ernst  des  Christenlebens  nicht  übernehmen  zu  müssen  und 
noch  ungescheut  sündigen  zu  können  (s.  z.  B.  TertulL,  de  poenit.  6).  Selbst 
strenge  christliche  Lehrer  rieten  dazu  oder  rieten  nicht  ab,  weil  ihnen  die 
Verantwortung,  welche  die  Taufe  auferlegte,  als  eine  furchtbare  erschien 
und  weil  sie  kein  sicheres  Mittel  sahen,  um  die  nach  der  Taufe  begangenen 
Sünden  zu  tilgen.  Sie  kamen  aber  dadurch  in  ein  schweres,  von  ihnen 
selbst  empfundenes  Dilemma,  d.  h.  sie  mußten  dem  Leichtfertigen  Recht 
geben.  Man  vgl.  TertulL,  1.  c.  u.  de  baptismo;  aus  späterer  Zeit  s.  das 
2.  Buch  der  Konfessionen  Augustins.  Übrigens  sagt  schon  Justin,  die  Taufe 
soll  nur  der  erhalten,  der  zu  sündigen  wirklich  aufgehört  hat  (Apol.  1,61  f.). 

^)  Doch  wurde  am  Anfang  und  auch  noch  längere  Zeit  hindurch  der 
Vollzug  nicht  geheimgehalten  ;  erst  seit  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts  kommt 
die  Geheimhaltung  auf,  teils  aus  pädagogischen  Gründen,  teils  weil  sich  der 
Mysteriencharakter  stärker  geltend  machte.  Die  Bedeutung,  die  dem  Ritus 
als  solchem  zukommt,  ergibt  sich  aus  der  „Apostellehre"  c.  7.  In  erster 
Linie,  so  heißt  es  dort ,  soll  man  fließendes  Wasser  bei  der  Taufe  brauchen ; 
findet  man  solches  nicht,  so  stehendes  kaltes  Wasser;  hat  man  auch  dieses 
nicht,  warmes  Wasser  (Badebassin);  ist  auch  dieses  nicht  in  genügender  Menge 
vorhanden,  so  ist  die  bloße  Besprenguug  erlaubt.  Die  relative  Freiheit,  die 
hier  noch  waltet,  ist  in  späterer  Zeit  nicht  ganz  aufgehoben,  aber  ängstlich 
eingeschränkt  worden.  Viele  müssen  die  volle  Gültigkeit  der  Besprengungs- 
taufe  bezweifelt  oder  sie  doch  für  ergänzungsbedürftig  gehalten  haben. 

-)  Über  die  Auffassung  und  Ausgestaltung  der  Taufe  als  Mysterium  s. 
Anrieh,  Das  antike  Mysterienwesen  in  seinem  Einfluß  auf  das  Christentum 
(lb94j  S.  84tf.  168 ff.  179ff.  und  Wobbermin,   Religionsgesch.  Studien  z.  Frage 


32S       i^ie  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Handlung,  durch  Avelclie  die  vergangenen  Sünden  sämtlicli  getilgt 
werden. 

Sie  ist  mysteriuni  salutare,  aber  auch  mysterium  tremendum; 
denn  die  Kirche  besaß  kein  zweites  Mittel  wie  dieses.  Wer  ge- 
tauft war,  mußte  rein  bleiben  („das  Siegel  rein  und  unverletzt 
bewahren",  nannte  man  das,  s.  z.  B.  den  IL  Clemensbrief).  Sekten, 
z.  B.  die  Marcioniten,  haben  versucht,  wiederholte  Taufen  einzu- 
führen, aber  sie  sind  nicht  durchgedrungen;  die  Unwiederholbarkeit 
der  Taufe  wurde  festgehalten.  Doch  schuf  man  sich  allmählich 
das  Bußsakrament,  welches  die  nach  der  Taufe  verlorene  Gnade 
wiederherstellte.  Trotzdem  gab  man  die  Gewohnheit,  die  Taufe 
zu  verschieben,  um  sich  erst  kurz  vor  der  Todesstunde  dieses 
Universalmittels  zu  bedienen,  nicht  auf. 

Nicht  minder  wichtig  als  die  Taufe  selbst  war  die  Vorbereitung 
für  sie:  hier  kam  die  geistige  Art  dieser  Religion  zum  vollen 
Ausdruck,  und  hier  hat  sie  ihre  sittlich -soziale  Kraft  offenbart. 
AVas  wir  schon  früher  wußten,  aber  unsicher,  hat  uns  die  „Apostel- 
lehre" bestätigt  und  zur  Klarheit  gebracht.  Der  Heide ,  welcher 
Christ  werden  wollte,  wurde  nicht  sofort  getauft.  Wenn  ihm  in 
großen  Zügen  der  eine  Gott  und  der  Herr  Jesus  Christus,  der  Hei- 
land und  Erlöser,  gepredigt  waren  und  das  Herz  bewegt  hatten, 
dann  wurde  ihm  gezeigt,  was  der  Wille  und  das  Gesetz  Gottes  sei 
und  was  es  heiße,  den  Götzendienst  abzutun.  Nicht  summarische 
Lehren  wurden  da  geboten,  sondern  in  umfassendster  und  ein- 
gehender Weise  wurden  ihm  „die  beiden  Wege"  vorgeführt;  die 
Sünde  wurde  in  ihre  Schlupfwinkel  verfolgt.  Ihr  mußte  er  ent- 
sagen und  dem  Gesetz  Gottes  zustimmen,  und  getauft  wurde  er 
nach  dieser  Bußerziehung  nur,  wenn  sich  die  Gemeinde,  bez.  der 
Bisehof  überzeugt  hatte,  daß  er  die  Sittenlehre  kenne  und  sie 
befolgen  wolle  (Justin,  Apol.  I,  65:  lovom  tov  jiFJxaofierov  xal 
ovyy.araTeßttjtieroi')^.  Schon  die  Synagoge  hatte  einen  Proselyten- 
katechismus  aufgestellt  und  die  Sittlichkeit  zur  Bedingung  der 
Religion  gemacht;  schon  sie  hatte  für  die  Religion  erzogen.    Die 


(I.  Beeinflussung  des  üreliristentums  durch  das  antike  M3^sterienwesen  (1896) 
IS.  143  ff.  Wobbermin  bespricht  die  Tauftermini  orpQayig,  oq^QayiCstv,  (pontoiuk, 
<j  foTi^gir,  avfißolov.  Die  ausgeführtesten  Mysterien  bietet  die  Pistis  Sophia. 
')  Vgl.  Origenes  c.  Gels.  III,  51:  „Die  Christen  prüfen  zuvor,  so  gut  sie 
es  können,  die  Herzen  derer,  die  ihre  Hörer  werden  wollen;  sie  unterrichten 
sie  einzeln,  und  erst  wenn  diese  Hörer  genügende  Proben  dafür  abgelegt 
haben,  daß  sie  ein  gutes  Leben  führen  wollen,  werden  sie  in  die  Gemein- 
schaft eingelassen Elinige   bei  den  Christen   sind  damit  betraut,    das 

Leben  und  den  Wandel  derer  zu  überwachen  und  zu  prüfen,  welche  herzu- 
treten, damit  sie  denen  die  Aufnahme  in  die  Gemeinschaft  versagen,  welche 
sich  sclilechter  Handlungen  schuldig  gemacht  haben,  die  anderen  aber  mit 
voller  Freudigkeit  aufnehmen  und  sie  Tag  um  Tag  besser  machen." 


Missiousmethoden:  Katechese  u.  Taufe;  Eingriffe  in  das  häusl.  Leben.     329 

Christenheit  nahm  das  anf  uiui  vertiefte  es.  Die  stärksten  Motive 
bestimmten  sie  hier:  nur  so  konnte  sie  den  „Götzendienst"  in 
allen  seinen  Gestalten  abwehren,  und  nur  so  vermochte  sie  das 
zu  verwirklichen,  was  sie  sein  sollte,  die  heilige  Gemeinde  Gottes. 
Mehr  als  hundertundfünfzig  Jahre  lang  hat  sie  neben  ihrer  sitt- 
lichen Auffassung  alles  andere  fast  wie  ein  Zweites  behandelt. 
Sie  kannte  keinen  Glauben  und  keine  Vergebung,  die  als  Ruhe- 
kissen dienen  konnten,  und  daß  sie  des  Gnostizismus  nicht  früher 
Herr  geworden  ist,  kam  zum  Teil  daher,  daß  sie  Leute,  welche 
Christum  als  Herrn  anerkannten  und  ein  strenges  Leben  führten, 
nicht  ausschließen  mochte.  In  ihrem  Taufunterricht  als  einer 
großen  und  bindenden  Sittenlehre,  durch  welche  sie  zugleich  in 
die  h.  Schrift  einführte  \  lag  ihre  Stcärke,  und  man  half  und  stützte 
den  Bruder,  damit  er  Kraft  behalte,  zu  tun,  w^as  er  versprochen. 
Seit  dem  großen  Kampf  mit  dem  Gnostizismus  und  Marcionitismus 
kam  auch  eine  Unterweisung  in  der  Glaubensregel  hinzu.  Man 
begnügte  sich  nicht  mehr  mit  einigen  grundlegenden  Sätzen  in 
bezug  auf  Gott  und  Christus,  sondern  man  gab  auch  eine  aus- 
führliche, polemisch  und  apologetisch  gefärbte  Darlegung  des 
dogmatischen  Glaubensbekenntnisses  auf  der  Grundlage  der  Tauf- 
formel. Doch  besitzen  wir  aus  der  vorconstantinischen  Zeit  wohl 
Ansprachen  an  Katechumenen  (bez.  jüngst  Getaufte),  aber  keine 
Katechesen  do2rmatischer  Art"^. 


Schmerzlich  vermissen  wir  es,   daß  wir  Biographien  aus  den 
drei  ersten  Jahrlumderten.  die  uns  die  Bekehruns;  oder  das  innere 


^)  Man  vgl.  die  Testimonien  Cvprians. 

-)  Daß  die  sittliche  und  intellektuell -religiöse  Erziehung  der  Katechu- 
menen je  nach  den  Bedürfnissen  ihres  Standes  und  ihrer  Erkenntnis  eine 
verschiedene  sei,  sagt  Origenes  ausdrücklieh  (c.  Geis.  III,  53).  Über  die  Päda- 
gogik der  Kirche  hat  nach  Zez schwitz  am  gründlichsten  gehandelt  Holtz- 
mann.  Die  Katechese  der  alten  Kirche  (Abhandlungen  f.  Weizsäcker.  1892, 
S.  59  ff.).  Man  wird  sich  aber  hüten  müssen  zu  meinen,  der  katechetische 
Unterricht  sei  schon  im  .3.  Jahrhundert  überall  so  eingehend  und  umfassend 
gewesen,  wie  etwa  in  Jerusalem  im  4.  (Katechesen  des  Cyrill).  In  der  Mehr- 
zahl der  Gemeinden  fehlten  die  Kleriker,  die  eine  solche  Unterweisung  hätten 
erteilen  können.  Aber  die  Forderung  war  da,  durch  religiös -sittliche  plan- 
mäßige, öffentliche  und  individuelle  Unterweisung  in  die  Religion  einzuführen, 
und  in  dieser  Forderung  schwang  sich  die  christliche  Religion  über  alle 
heidnischen  Religionen  und  Mysterienkulte  empor  und  schloß  sich  mit  der 
Erkenntnis  und  Bildung  zusammen.  Auch  wenn  sie  —  schon  im  3.  Jahr- 
hundert —  einen  Teil  des  Lehrstoffs  mit  dem  Mysterium  umkleidete,  blieb 
sie  doch  eine  öffentliche  und  allen  zugängliche  Botschaft.  Über  die  stufen- 
mäßige Unterweisung  in  der  christlichen  Religion  in  der  valentinir.nischen 
Schule  belehrt  der  Brief  des  Ptolemäus  an  die  Flora. 


;]'.]{)       Die  2>Iisi^ionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

AVacJistum  und  "Werden  einer  christlichen  Persönlichkeit  schildern, 
nicht  besitzen.  Sie  sind  nicht  untergegangen:  denn  sie  sind  nicht 
«reschrieben  worden.  Auch  die  innere  Geschichte  des  Paulus  bis 
zum  Tag  von  Damascus  kennen  wir  nicht:  Avir  kennen  nur  den 
Durchbrucli.  den  Paulus  selbst  als  ein  plötzliches  Ereignis  emp- 
funden hat.  Justin  erzählt  uns  die  A^orgeschichte  seines  Übertritts 
zum  Christentum  (im  Dialog  mit  Trypho  c.  1  ff.),  wie  er  durch  die 
Philosophenschulen  hindurchgegangen  sei  und  zuletzt  die  Wahrheit, 
die  auf  Offenbarung  beruht,  ergriffen  habe.  Die  Darstellung  ist 
augenscheinlich  eine  stilisierte  und  wenig  lehrreich.  Etwas  tiefer 
schauen  wir  bei  Tatian  auf  Grund  seiner  „Oratio"  in  seine  innere 
Entwicklung  hinein,  aber  ein  wirkliches  Bild  vermögen  wir  uns 
auch  nicht  zu  machen.  Am  meisten  bietet  noch  die  kleine  Schrift 
des  Cyprian  „Ad  Donatum":  nach  einer  Kraft,  die  ihn  aus  einem 
unwürdigen  Leben  erretten  sollte,  hat  er  gesuciit  und  hat  sie  im 
christlichen  Glaubeu  gefunden.  — 

Wie  tief  müssen  die  Bekehrungen  in  das  eheliche  und  häus- 
liche Leben  eingegriffen,  wie  viel  Spannung.  Unfriede  und  Zer- 
spaltung  müssen  sie  erzeugt  haben,  wenn  der  eine  Teil  christlich 
wurde,  der  andere  aber  bei  der  alten  Religion  verblieb!  „Es 
wird  aber  ein  Bruder  den  anderen  zum  Tode  überantworten,  und 
der  Yater  den  Sohn,  und  die  Kinder  werden  sich  empciren  wider 
ihre  Eltern  und  ihnen  zum  Tode  helfen."  „Ich  bin  nicht  ge- 
kommen Frieden  zu  senden,  sondern  das  Schwert:  denn  ich  bin 
gekommen,  den  Menschen  zu  erregen  wider  seinen  Yater  und  die 
Tochter  wider  ihre  Mutter,  und  die  Schnur  gegen  ihre  Schwieger, 
und  des  Menschen  Feinde  werden  seine  eigenen  Hausgenossen 
sein.  Wer  Yater  oder  Mutter  mehr  liebt  denn  mich,  der  ist 
meiner  ni(;ht  wert,  und  wer  Sohn  oder  Tochter  mehr  liebt  denn 
mich,  der  ist  meiner  nicht  wert"  (Matth.  10,  21.  :]A — 37).  Diese 
Weissagungen,  sagt  Tertullian  (Scorp.  D),  sind  an  keinem  Apostel 
erfüllt,  also  gelten  sie  uns;  „nemo  enim  apostolorum  aut  fratrem 
aut  patrem  passus  est  traditorem,  quod  plerique  iam  nostri." 
S.  auch  c.  1  1  :  „Wir  werden  von  unseren  nächsten  Angehörigen 
ausgelicifert."  Dasselbe  hat  schon  Justin  bemerkt  (Dialog  35): 
„Wir  werden  hingemordet  von  unseren  AngeJiörigen."  „Der  Yater, 
der  Nachbar,  der  Sohn,  der  Freund,  der  Bruder,  der  Ehemann, 
das  Eheweib  sind  gefährdet;  suchen  sie  auf  Zucht  zu  halten,  so 
stehen  sie  in  Gefahr,  denunziert  zu  werden"  (Apol.  IT,  1).  „Wenn 
einer  einen  gottlosen  Yater  oder  Bruder  oder  Sohn  hat  und  (>r 
wäre  ein  Hindernis  des  Glaubens  und  ein  Hemmnis  des  höheren 
Ijcbens,  mit  diesem  soll  er  nicht  zusammenstimnum  und  eines 
Sinnes  sein,  sondern  ci'  soll  die  fleischliche  Ilausgenossenschaft 
der  geistigen  Feindschaft  wegen  auflösen",  sclu'oibt  Clemens  (Quis 


Missionsmethoden;  Katechese  u. Taufe;  Einj^riffe  in  das  häusl. Leben.     331 

dives22)^  In  den  Rekognitionen  dos  Clemens  (11,29)  heißt  es; 
,,Tn  nnaquaque  domo,  cum  inter  oredcntem  et  non  credentem 
coeperit  esse  diversitas.  necessario  pugiia  fit,  incredulis  quidem 
contra  fidem  dimicantibus.  fidelibus  vero  in  illis  errorem  veterem 
et  peccatorum  vitia  coniutantibus."  Eusebius  (Theophan.  IV.  12) 
schreibt  zu  Luc.  12,  51  ff.:  ,,Ferner  aber  sehen  wir.  daß  kein  Wort 
der  Menschen,  weder  der  Philosophen  noch  der  Propheten,  weder 
der  Griechen  noch  der  Barbaren,  jemals  wie  diese  Worte  Kraft 
gezeigt  hat.  wie  Christus  auch  hierdurch  die  ganze  Welt  beherrscht, 
alle  Häuser  spaltet,  alle  Geschlechter  durchteilt  und  trennt,  so 
daß  die  einen  das  Seine  denken,  die  anderen  aber  sich  dazu  im 
Gegensatz  befinden."  N^ur  sehr  wenig  aus  diesen  Tragödien  — 
der  Rhetor  Aristides,  Orat.  46,  spielt  auf  sie  an;  die  Stelle  wird 
sp.äter  mitgeteilt  werden  —  ist  uns  überliefert.  Justin  (Apol.  II) 
erzählt  uns  von  einem  vornehmen  Ehepaar  in  Rom,  das  in  Lastern 
lebte;  die  Frau  bekehrt  sich  zum  Christentum,  hält  es  schließlich 
bei  dem  lasterhaften  Mann  nicht  mehr  aus  und  trägt  auf  Scheidung 
an;  er  denunziert  sie-  und  ihren  Lehrer  als  Christen  beim  Stadt- 
präfekten.  Thecla  will  als  Christin  von  ihrem  Bräutigam  nichts 
mehr  wissen  —  das  muß  oft  vorgekommen  sein,  ebenso,  daß  sich 
bekehrte  Frauen  der  ehelichen  Pflicht  entzogen  — :  der  Bräutigam 
denunziert  ihren  Lehrer  dem  Richter;  Thecla  verläßt  das  Eltern- 
haus. Celsus  (Orig.  c.  Cels.  II I,  55)  malt  mit  sehr  drastischen 
Farben  aus,  wie  christliche  Fanatiker  niedersten  Standes  in  den 
unteren  Schichten  Unfrieden  in  den  Familien  säen.  Das  Bild  ist 
jedenfalls  beobachtet  und  soll  deshalb  hier  nicht  fehlen:  ,,Wie  wir 
sehen,  wagen  in  den  Privathäusern  die  Wollarbeiter,  die  Schuster 
und  Walker,  völlig  ungebildete  und  völlig  ungeschliffene  Leute, 
in  Gegenwart  ihrer  durch  Alter  und  Weisheit  hervorragenden 
Herren  den  Mund  nicht  aufzuthun;  sobald  sie  sich  aber  ohne 
Zeugen    mit   jungen    Leuten    und    solchen    Weibspersonen    allein 


';  Er  fährt  fort  (c.  23  :  ^Denke  dir.  die  Sache  sei  ein  Streit.  Es  kommt 
dir  vor,  als  träte  der  Vater  herbei  und  sagte;  Ich  habe  dich  gezeugt  und 
genährt,  folge  mir  und  tue  mit  mir  Unrecht  und  folge  nicht  dem  Gesetze 
Christi  —  und  was  sonst  immer  ein  gotteslästerlicher,  von  Natur  toter  Mensch 
sagen  könnte.  Auf  der  anderen  Seite  aber  höre  den  Erlöser;  Ich  habe  dich 
wiedergeboren,  dich,  der  du  unheilvoll  von  der  Welt  zum  Tode  geboren 
warst;  ich  habe  dich  befreit,  geheilt  ....  Rufe  nicht  für  dich  an  einen 
Vater  auf  Erden:  die  Toten  sollen  ihre  Toten  begraben  usw.  Wenn  du  nun 
von  zwei  Seiten  her  so  reden  hörst,  so  entscheide  ....  zu  deiner  eigenen 
Rettung.  Und  wenn  ein  Bruder  ähnlich  redet,  wenn  ein  Kind,  wenn  Weib, 
wenn  irgendein  anderer,  so  sei  Christus  in  dir  Sieger." 

-)  Daß  heidnische  Männer  ihre  christlichen  Frauen  dadurch  im  Schach 
hielten,  daß  sie  sie  jeden  Augenblick  denunzieren  konnten,  sagt  Tertullian 
(ad  uxor.  II,  5}  ausdrücklich. 


'V.]'2       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

wissen,  clio  ebenso  unverständig  wie  sie  selbst  sind,  dann  sind 
sie  wunderbar  beredt  und  w^eisen  nach,  daß  man  verpflichtet  sei, 
ihnen  zu  folgen,  nicht  aber  dem  eigenen  Vater  und  den  Lehrern; 
diese  seien  verrückte  und  aberwitzige  Leute;  in  eitlen  Vorurteilen 
befangen,  seien  sie  nicht  imstande,  einen  w'ahrhaft  hohen  und 
guten  Gedanken  zu  fassen  und  zu  verwirklichen;  nur  sie  allein 
wüßten  es,  wie  man  leben  müsse:  würden  ihnen  die  jungen  Leute 
folgen,  so  würden  sie  selig  werden  und  das  ganze  Haus  glücklich 
machen.  Sehen  sie  dann,  während  sie  so  reden,  einen  Lehrer 
oder  einen  verständigen  Mann  oder  den  Vater  selbst  kommen, 
so  geraten  die  Furchtsamen  unter  ihnen  in  die  größte  Angst,  die 
Unverschämten  aber  reizen  die  jungen  Ijeute  auf,  das  Joch  abzu- 
werfen und  die  Zügel  abzustreifen,  indem  sie  ihnen  zuflüstern,  daß 
sie  sie,  solange  sie  bei  ihrem  Vater  oder  ihrem  Lehrer  seien, 
etwas  Gutes  wieder  lehren  könnten  noch  wollten;  denn  sie  hätten 
keine  Lust,  sich  der  Torheit  und  Grausamkeit  dieser  ganz  ver- 
dorbenen und  in  die  Sünde  tief  verstrickten  und  versunkenen 
Menschen  auszusetzen,  deren  Verfolgung  und  Rache  sie  zu  fürchten 
hätten;  wollten  sie  etwas  Gutes  lernen,  so  müßten  sie  die  Eltern 
und  Lehrer  verlassen  und  mit  den  Weibern  und  Spielkameraden 
in  das  Frauengemach  oder  in  die  Schusterei  oder  in  die  Walke 
kommen,  um  dort  das  Vollkommenere  zu  vernehmen.  Und  mit 
solchen  Worten  setzen  sie  es  wirklich  durch."  Das  ist  eine 
Schilderung,  wie  sie,  wenn  man  das  Übelwollen  abstreift,  in  der 
Zeit  der  Antonine  gew'iß  zutreffend  war.  Als  Origenes  sie  wider- 
legte, galt  sie  freilich  kaum  noch.  Ganz  empört  ist  er  darüber, 
daß  man  christliche  Lehrer  unter  den  Wollarbeitern,  Schustern 
und  Walkern  suchen  soll.  Aber  daß  die  jungen  Leute  und  Frauen 
ihren  Lehrern  und  Vätern  entzogen  w'erden,  kann  auch  er  nicht 
in  Abrede  stellen.  Er  behauptet  nur,  daß  sie  dadurch  verbessert 
vrerden  (ITT.  ,')()). 

Erschütternd  sind  die  Szenen  zwischen  Perpetua  („honeste 
natu,  libcraliter  institufa.  matronaliter  nupta,  habens  patrem  et 
niatrem  (!t  fratrcs  duos,  alterum  aeque  catechuminum,  et  filium 
infantem  ad  ubera")  und  ihrem  Vater.  Erst  sucht  er  sie  mit 
(jiewalt  zurückzuführen  („tunc  pater  mittit  se  in  me.  ut  oculos 
mihi  erueret,  sed  vexavit  tantum  ....  tunc  paucis  diebus  quod 
caruissem  ])atrem,  domino  gratias  egi  ot  refrigeravi  absentia  illius", 
c.  3),    dann  l)estürmt   er   sie   mit  Tränen    und   Litten  (c.  5)^     Der 


')  ^Su])ervenit  de  fivitate  pater  meus,  consumptus  taedio  et  adscendit 
ad  lue,  ut  nie  deiceret  dicens:  Filia,  miserere  canis  meis,  miserere  patri,  si 
dignus  suni  a  te  pater  vocari;  si  his  te  nianibus  ad  hunc  florem  aetatis  pro- 
vcxi,  si  te  jiraeposui  Omnibus  fratribus  tuis:  ne  nie  dederis  in  dedecus  honü- 
nuni.    aspice  fiatres  tuos,  aspice  niatreni  tuain  et  materteram,  asjnce  tilium 


Missiousmethoden;  Katechese  u. Taute;  Einj^nite  iu  das  häiisl. Leben.     ',V.\'.) 

Märtyrerin  Agathonicc  in  l*orgaiiiuiu  rief  das  Volk  zu:  ,,Erl)annt' 
dich  doch  deines  Sohnes."  Sie  erwiderte:  „Er  hat  Gott,  der  sich 
seiner  zu  erbarmen  vermag."  Mitleidig  rufen  heidnische  Zuschauer 
bei  Christon-Exekutionen  aus:  „et  puto  liberos  habet,  nam  est  illi 
societas  in  penatibus  coniux,  et  tarnen  nee  vinculo  pignerum  cedit 
nee  obsequio  pietatis  abductus  a  proposito  suo  deficit"  ^  „Uxorem 
iam  pudicam  maritus  iani  non  zelotypus,  filium  iam  subiectum  pater 
retro  patiens  abdicavit,  servum  iam  fidelem  dominus  olim  mitis  ab 
oculis  relegavit"  (Tertull..  Apol.  :i).  Manche  Märtyrerakten  bieten 
Ahnliches-.  Genesius  sagt,  daß  er  seine  christlichen  Eltern  und 
Yer\Yandten  verflucht  habe  (Ruinart  p.  312);  aber  auch  das 
Umgekehrte  kam  vor:  der  jugendliche  Origenes,  fest  noch  Knabe, 
schreibt  seinem  des  Glaubens  wegen  gefangen  gesetzten  Yater: 
„Hüte  dich,  unsertwegen  deine  Gesinnung  zu  ändern"  (Euseb., 
h.  e.  YT,  2)^.  AYie  zahlreich  waren  die  Fälle,  in  denen  der  Mann 
Heide    war.    und    die    Frau    Christin    (s.    unten   Buch  4.    Kap.  2)! 

tuum,  qui  post  te  vivere  nou  poterit  ....  haec  dicebat  quasi  pater  pro  sua 
l^ietate,  basians  mihi  nianus,  et  se  ad  pedes  uieos  iactans  et  lacrimaBS  lue 
iam  non  filiam  nominabat,  sed  dominam.-  Cf.  c.  6:  „cum  staret  pater  ad  nie 
deiciendam  iussus  est  ab  Hilariano  [dem  Richter]  proici,  et  virga  percussus 
est.  et  doluit  mihi  casus  patris  mei,  quasi  ego  fuissem  percussa:  sie  dolui 
pro  senecta  eins  misera."  C.  9:  „intrat  ad  me  pater  meus  consumptus  taedio 
et  coepit  barbam  suam  evellere  et  in  terram  mittere  et  prosternere  se  in 
faciem  et  inproperare  annis  suis  et  dicere  tanta  verba  quae  moverent  uni- 
versam  creaturam." 

')  Xovatian,  de  hiude  mart.  15. 

-)  Christliche  Mädchen  aus  guter  Familie  (Thessalonich)  flüchten  sich 
und  irren  ohne  Wissen  ihres  Vaters  wochenlang  im  Gebirge  umher  (Acta 
Agapes,  Chioniae,  Irenes  bei  Ruinart,  Acta  Mart.,  Ratisb.  18-59,  p.  426)  z.  Z. 
der  Verfolgung  Diocletians.  Wie  bitter  beklagt  sich  der  vornehme  Fortuna- 
tianus in  den  africanischen  Akten  des  .^aturuin  und  Dativus  'z.  Z.  Diocletians) 
vor  dem  Richter,  daß  Dativus  sich  in  Abwesenheit  des  Vaters  in  das  Haus 
geschlichen  und  seine  [des  Fortun.]  .Schwester  zum  Christentum  bekehrt,  ja 
sogar  nach  Abitini  mit  sich  genommen  habe  (s.  o.  S.  305).  Vgl.  die  Szene 
zwischen  dem  Christen  Marcianus,  einem  Soldaten,  und  seinem  heidnisch 
gesinnten  Weibe  in  den  Acta  Marciani  et  Xicaudri  (Ruinart,  1.  c.  p.  572); 
das  Weib  spricht,  als  der  Mann  zur  Hinrichtung  geht:  ,Vae  miserae  mihi! 
non  mihi  respondes?  miserator  esto  mei,  domine;  aspice  filium  tuum  dulcissi- 
mum,  convertere  ad  nos,  noli  nos  spernere.  quid  festinasV  quo  tendisV  cur 
nos  odistiV"  Vgl.  dazu  die  Acta  Irenaei  c.  3  (1.  c.  p.  433):  Eltern  und  Gattin 
beschwören  den  jugendlichen  Bischof  von  Sirmium,  sich  nicht  zu  opfern.  — 
Von  der  Märtyrerin  Dionysia  heißt  es:  i)  .To/t'jra«?  iifv,  ovy  v:zko  xov  y.voiov 
8e  dyam'joaoa  iavrrjg  rä  zsy.va  (Euseb.,  h.  e.  VI,  41,  18). 

^)  Vgl.  die  Frau  des  Xicander  in  den  Acta  Marciani  et  aSTicandri  (1.  c), 
namens  Daria;  sie  redet  ihrem  Manne  zu,  fe.st  zu  bleiben;  s.  auch  die  Acta 
Maximiliani  (1.  c.  p.  -340  ff.),  in  denen  der  Vater  dem  Märtyrer  zuspricht  und 
sich  über  den  Märtyrertod  des  Sohnes  freut,  und  die  Acta  Jacobi  et  Mariani 
(1.  c.  p.  273) ,  in  denen  die  Mutter  des  Marianus  über  den  Märtyrertod  ihres 
Sohnes  frohlockt. 


;i34       Die  Missionare:  Modalitäten  uud  Gegenwirkungen  der  Mission. 

()frers  mag  das  Verhältnis  so  leidlich  geblieben  sein,  wie  später 
in  dem  Elternhause  Augustins  ^ :  aber  welche  Summe  von  Kummer 
und  Leid  mögen  in  den  meisten  Fällen  diese  Ehen  umschlossen 
haben!  Vgl.  Arnobius  (II,  5):  „Malunt  solvi  coniuges  matrimoniis, 
exheredari  a  parentibus  liberi  quam  fidem  rumpere  Christianam 
et  salutaris  militiae  sacramenta  deponere." 

Besonderer  „Methoden"  bedarf  ein  lebendiger  Glaube  nicht, 
um  sich  fortzupflanzen:  über  alle  Schwierigkeiten  hinweg  setzt  er 
sieh  durch,  und  auch  die  mächtigsten  Gefühle  der  Natur  vermögen 
ihn  nicht  zu  ersticken.  Aber  diese  ideale  Betrachtung  darf  man 
für  das  3.  Jahrhundert  nur  noch  in  sehr  bescheidenem  Maße  an- 
wenden. Seit  dieser  Zeit  wirkt  das  Christentum  vornehmlich  als 
die  Mysterienreligion  des  Monotheismus  und  als  die  mächtige 
Kirche,  welche  heilige  Personen,  heilige  Bücher,  eine  heilige 
Glaubenslehre  und  einen  heiligenden  Kultus  in  ihrer  Mitte  hat. 
Auch  schmiegt  es  sich  den  Bedürfnissen  der  Massen  in  ganz 
anderer  Weise  an  als  früher  und  nimmt  auf  die  kultischen  Ge- 
wohnheiten und  die  polytheistischen  Neigungen  Rücksicht,  indem 
es  Feste,  Nothelfer.  Heilige,  lokale  heilige  Stätten  nach  ihnen 
schafft  und  einrichtet.  Die  Missionsmethode  des  Gregorius  Thau- 
maturgus  —  wir  haben  bereits  oben  S.  264  seiner  gedacht  —  ist 
hier  charakteristisch:  sie  geht  auf  das  alles  ein,  läßt  sich  einen 
gewissen  Sykretismus  nicht  nur  gefallen,  sondern  befördert  ihn 
und  erzielt  die  glänzendsten  Erfolge,  was  die  Zahl  der  Bekehrten 
betrifft.  In  dem  nächsten  Buche  sind  (Kap.  3,  III.  9  B)  nähere 
Nachweise  hierüber  s-egeben. 


Drittes  Kapitel. 
Die  Namen  der  Christgläubigen. 

Jesus  hat  die.  welche  sich  um  ihn  sammelten,  „Schüler" 
(/iadi]TaiJ.  sich  selbst  den  Lehrer  genannt-  —  das  ist  eine  sichere 
Tatsache  — ,    und   die,   welche   er  gesammelt  hatte,    redeten   ihn 


*)  Confess.  I,  11  (17):  ,Iam  [als  puer]  credebam  et  mater  et  omnis  domus, 
nisi  pater  solus,  qui  tarnen  non  evicit  in  me  ins  maternae  pietatis,  quo- 
niinus  in  Christum  crederem."  Der  Vater  wird  als  gleichgültiger,  schwacher 
und  ganz  oberflächlicher  Mann  von  dem  Sohne  geschildert. 

'^)  Merkwürdig  ist  das  Wort  Matth.  23,  8  an  die  Jünger:  vueig  /itj  xXrj&rjis 
ijaßßfi'  fig  yän  lOTiv  v/iojv  o  diddoxa?.og ,  JiävzFg  St'  vfift';  döe/.(f,oi  kots.  Man 
erwartet  ita&tjral,  doch  das  ist  selbstverständlich;  Jesus  will  aber  die  Gleich- 
artigkeit aller  seiner  Jünger  und  ihre  Verpflichtung  zur  Liebe  untereinander 


Die  Namen  der  Christgläubigeu.  335 

als  den  Lehrer  aii^  und  bezeichneten  sich  selbst  als  Schüler  (wie 
auch  die  Anhänger  Johannes  des  Täufers  Schüler  des  Johannes 
hießen).  Hieraus  folgt,  daß  das  Verhältnis  Jesu  zu  seinen  Jüngern 
bei  seinen  Lebzeiten  nicht  durch  den  Gedanken  des  Messias, 
sondern  durch  den  des  Lehrers  bestimmt  gewesen  ist.  Die  Messias- 
würde Jesu  —  sie  sollte  sich  ja  erst  bei  der  Wiederkunft  ent- 
hüllen —  war  ein  noch  nicht  sicher  erfaßtes  Glaubensgeheimnis, 
Jesus  selbst  hat  diese  Würde  erst  bei  dem  Einzug  in  Jerusalem 
öffentlich  in  Anspruch  genommen. 

Xach  der  Auferstehung  bezeugten  die  Jünger  voll  Zuversicht 
öffentlich,  daß  Jesus  der  Messias  sei:  aber  sie  nannten  sich  auch 
weiter  noch  —  ein  Beweis  für  die  Zähigkeit  einmal  gegebener 
Namen  —  „die  Schüler"',  und  die  zwölf  Vertrauten  hießen  „die 
zwölf  Schüler''  (oder  „die  Zwölf-')-.  Aus  der  Apostelgeschichte 
(s.  c.  \.  6.  U.  11.  13  —  iO.  IS.  21)  erkennt  man.  daß  der  eigentlich 
nicht  mehr  passende  Xame  „Schüler-'  ein  paar  Jahrzehnte  hin- 
durch von  den  Christen,  namentlich  von  den  palästinensischen,  als 
Selbstbezeichnung  festgehalten  worden  ist^.  Aber  Paulus  hnt  ihn 
nie  gebraucht,  und  nun  beobachtet  man,  daß  der  Name  „o<  fiadi}- 
rar^  (mit  dem  Zusatz  tov  y.vgioi')  allmählich  ausschießlich  eine 
Bezeichnung  für  persönliche  Jünger  Jesu  wird,  d.  h.  in  erster 
Linie  für  die  Zwölf,  sodann  auch  für  andere*.  So  finden  wir  es 
bei  Papias,  Irenäus  u.  a.  Es  wird  also  der  Name  ein  Ehrenname 
für  solche,  die  den  Herrn  selbst  noch  gesehen  haben  (ob  auch 
für  palästinensische  Christen  der  ältesten  Zeit  überhaupt?),  und 
die  daher  als  Zeugen  gelten  können  gegenüber  Häretikern,  welche 
die  Person  Jesu  doketisch  auflösen.  Außerdem  wurden  aber 
Konfessoren  und  Märtyrer  im  2.  und  3.  Jahrhundert  mit  dem 
Ehrentitel   „Schüler  des  Herrn-'   beehrt.     Auch   sie  sind   nämlich 


betonen.  —  Übrigens  ist  es  bemerkenswert,  daß  die  Apostel  nicht  oder  nur 
ganz  selten  .die  Lehrer"  genannt  worden  sind  mit  Ausnahme  des  Paulus. 

')  Parallel  ist  die  Bezeichnung  f.Tfordo;,-,  die  sich  mehrmals  bei  Lucas 
findet. 

-)  Ol  i.iad>]zai  ist  keine  exklusive  Bezeichnung  der  Zwölf  in  ältester  Zeit, 
sondern  alle  Christen  hießen  so;  auch  ij  i.m&t)roia  findet  sich;  s.  Act.  9,  36 
und  Petrus-Ev.  v.  50. 

^)  Act.  -21.  16  heißt  ein  gewisser  Mnason  oLoyalog  ija\}i]Tr'ig .  er  soll  da- 
durch wohl  als  persönlicher  Schüler  Jesu,  jedenfalls  als  Schüler  der  ersten 
Generation  bezeichnet  werden.  —  Man  beachte  auch,  daß  nach  der  Quelle 
des  Epiphanius  (haer.  29,  7j  sämtliche  aus  Jerusalem  nach  Pella  übergesiedelte 
Christen  „uadr/Tai"  heißen.  Daß  Lucas  in  der  Apostelgeschichte,  einem 
unberechtigten  Archaismus  folgend,  den  Namen  ,.Jünger''  so  häufig  braucht, 
möchte  ich  nicht  annehmen. 

*)  Kündigt  sich  nicht  schon  eine  Verengung  des  Begriffs  in  Matth.  10.42 
an  (og  äv  noTioij  sva  töjv  /.iixoojv  zoviov  rcoir'joioy  ipvyood  f.i6vov  elg  ovoua 
f.iadt]xov)  i 


;]^()       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkunj^en  der  Mission. 

persönliche  Schüler  des  Herrn  geworden.  Sofern  sie  sich  durch 
ihr  Bekenntnis  zu  ihm  bekannt  haben  und  er  zu  ihnen  (Matth.  1 0,  32), 
rücken  sie  auf  eine  Linie  mit  den  alten  persönlichen  Jüngern 
Jesu:  sie  sind  dem  verklärten  Herrn  so  nahe,  wie  jene  dem  auf 
Erden  Aveilenden  waren  ^ 

Der  Name  „Schüler"  kam  in  AVegfall,  weil  er  das  Verhältnis 
nicht  mehr  ausdrückte,  in  welches  man  sich  gesetzt  fand  —  er 
besagte  zu  wenig,  und  er  besagte  zu  viel.  Dafür  kamen  andere 
Namen  auf,  die  aber  nur  zum  Teil  technisch  geworden  sind. 

Zunächst  gaben  die  Juden  ihren  abgefallenen  Stammesgenossen 
eigene  Namen,  nämlich  „Graliläer",   „Nazoräer"  und  vielleicht  auch 


^)  MaürjTni  ohne    den  Zusatz   tov  xvqiov  (oder  Xqlotov)   ist   in    der  Zeit 
nach  der  Apostelgeschichte  als  Selbstbezeichnnng  aller  Anhänger  Jesu  m.  W. 
nicht  mehr  zu  belegen   (nicht   hierher  gehören   natürlich   solche  Stellen,   in 
denen  das  Wort  nicht  technisch  ist;   sie   sind  nicht  ganz  selten).     Auch  mit 
dem  Zusatz   tov  hvqIov   ist  der  Name   im  2  Jahrhundert   keine  Bezeichnung 
für  die  Christen  im  allgemeinen  mehr.    —    Nicht    täuschen  lassen  darf  man 
sich   durch  späte  apokryphe  Bücher,   auch   nicht  durch  die  Apologeten  des 
2.  Jahrhunderts.     Die    letzteren    bezeichnen    nicht    selten  Christus    als  ihren 
Lehrer  und  sich  selbst  (die  Christen    überhaupt)   als  Schüler.     Das  hat  mit 
der  alten  Terminologie  keinen   oder   höchstens   einen  ganz  losen  Zusammen- 
hang und  ist  —  aus  apologetischen  Gründen  —  der  Terminologie  der  Philo- 
sophenschulen nachgebildet  (aus  denselben  Gründen  sprechen  die  Apologeten 
von  „Dogmen"  der  christlichen  Lehre  und  von  der  „Theologie",  s.  mein  Lehr- 
buch der  Dogmengesch.  1  ä  S.  4S2f.).    Die  Apologeten  wissen  bekanntlich  sehr 
wohl,  daß  Christus  nicht  eigentlich    ein  Lehrer,    vielmehr  TOftodhijg,  röftog, 
loyog,    o(OT)'jQ   und  y.QiTyg  ist.     Deshall)    ist  auch  der  Ausdruck  wie    „xvQiax)i 
öiöaaxaUa"  (Apologg.  und  Clemens,  Strom.  VL  15,  124;  VI,  18,  165;   VII,  10,  57: 
VII,  15,  90;  VII,  18,  165)  nicht  zum  Beweise  dafür  anzuführen,  daß  die  Apolo- 
geten sich  Jesus  wesentlich  als  Lehrer  gedacht  haben.    Etwas  mehr  besagen 
will  „dtönyj]  hvqIov"  (Buchtitel    für   den   bekannten    alten  Katechismus)   und 
Stellen  wie  I  Clem.  13,  1 :  tmv  Xöycov  zod  >tvQiox' 'Iijoov  ov?  flälrjosv  8i8äay.(ov, 
Polyc.  ep.  2:    /nnjfwvEvovTsg    cbv  sLiet'  6  xvQiog  Siädoxcov,    Ptolem.  ad  Floram 
C.5:    ■>)  Öcöaay.alia    roD  amzfjQog ,    Ap.  Kircheuordn.  S.  25    (Texte   u.  Unters. 
Bd.  II  Heft  5):  :rnonQwvT(x?  rovg  hiyovg  tov  didaaxäXov  t)/uov,  S.  28:  Sie  ijn^OEV 
6  b  lÖüoy.aXog  zov  uqtov,  S.  oO:  JTQ0f?,8yev  ots  fÖiÖaa>tFV.     Bei  diesen  Stellen 
hat  man  sich  al)er  zu  erinnern,  daß  die  Ap.  Kirchenordnung  eine  Fiktion  ist, 
welche  die  Apostel  sprechen  läßt  (ebenso  heißt  Jesus  in  der  Gruudschrift  der 
Apost.  Konstitutionen    „6  Scäa.ox:a?.og",    d.  h.   die  Jünger  nennen  ihn  in  dieser 
gefälschten  Schrift  so).  —  Daß  die  Märtyrer  und  Konfessoren  diejenigen  (und 
zwar   die  einzigen)   sind,    denen   auch  noch  in    der  Gegenwart   das  Prädikat 
„Jünger  Jesu"  zukommt,  geht  aus  vielen  Stellen   hervor  (sie  sind  die  wirk- 
lichen Nachahmer  und  Nachfolger  Jesu).     Man  vgl.  z.  B.  Ignat.  ad  Ephes.  1: 
i:ljriC.(0    F.jTizv^^Fiv   iv  'Pihiijj    ■drjQiof/axyoai,    i'va    sjiizi'xsiv    Svvijdto  fiadrjztjg    sivai, 
ad  Rom.  4 :    zöze   l'oo/tai.  /cadrjzi/g  altiOtjg  zov  Xgcazov ,   öze  ovöe  z6  ocofid  /.lov  o 
HÖo/iog  oyezat,  ad  Rom.  5:  iv  zolg  äbiy.rjfiaaiv  nvzwv  fiäXlov  /na&tjzEvofiai,  Mart. 
Polyc.  17:    (zöv  inov  zov  iJeov  jiQooyvvov[i.Fr,)    zovg  Öe  juÜQZVQag  cbg  /iiaß)]Tug  xal 
fiilii7]T<\g   zov  y.vQiov  dya7i(7)fiev.     Als  Novatian  seine  katharische  Kirche  schuf, 
scheint    er  versucht    zu  haben,    den  Begriff  des  Schülers    und   Nachahmers 
Christi  für  jeden  Christen  wieder  zu  beleben. 


Die  Namen  der  Christgläubigen.  337 

„Arme"  (doch  ist  die  letztere  Bezeiclinung-  wahrscheinlich  richtiger 
als  Selbstbezeiehnung  der  Judeneliristen  zu  erklären,  denn  „Ebionim" 
ist  nach  dem  A.  T.  ein  Ehrenname).  Wirklich  durchgedrungen  sind 
diese  Namen  nicht;  nur  „Nazoräer"  hat  eine  größere  Verbreitung 
erlangt  und  hat  sich  lange  erhalten^. 

Die  Christen  selbst  nannten  sich  „Volk  Gottes".  „Israel  y.ajä 
jiv£vua''\     „Samen    Abrahams",     „ Auserwähltes  Volk " ,     „Zwölf 

*)  Die  ersten  Jünger  -Jesu  sind  (s.  Act.  1,11;  '2,7)  als  „Galiläer"  be- 
zeichnet worden  (es  war  zunächst  eine  geographische  Bezeichnung  der  Her- 
kunft, sollte  aber  auch  die  Jünger  verächtlich  macheu  als  halbheidnische 
Leute);  doch  ist  der  Name  selten  technisch  geworden.  Epictet  braucht  ihn 
einmal  für  die  Christen  (Arrian.,  Diss.  IV,  7,  6).  Dann  hat  ihn  Julian  wieder 
ausgegraben  (Gregor  Naz.,  Orat.  4:  y.atvoroiisi  o  'lovhavog  jts(>1  rtjr  jTQooijyoQiar, 

ra'/.UMiox'g   uvTi  XotOTiavtov  oro/iiäoag    te  xal  y.alEiodai  vonodsTtjoag orofia 

[ralü.aiot]  zcjr  ovx  eIw&ötwv)  und  als  Schmähnamen  verwendet.  Vielleicht 
aber  hatte  Julian  auch  hier,  wie  ia  anderer  Hinsicht,  an  Maximinus  Daza, 
bez.  an  dessen  christenfeindlichem  Beamten  Theotecnus,  einen  Vorgängei*. 
Nach  den  Acta  Theodoti  Ancyrani  hat  ein  Theotecnus  [ob  mit  dem  gleich- 
namigen Beamten  des  Daza  identisch V]  den  Theodotus  „TTgooTar)]?  rwr  Fa/u- 
?.aicor"  genannt  (c.  :-'>l).  Die  Akten  sind  aber  nachjulianisch.  Nicht  unwahr- 
scheinlich ist  es  doch,  daß  in  den  christusfeiudlichen  Pamphleten,  die  Daza 
verbreiten  ließ,  die  Christen  als  Galiläer  bezeichnet  waren.  Pseudo-Lucians 
Philopatris  (hier  finden  sich  auch  die  „Galiläer")  kommt  für  die  Frage  über- 
haupt nicht  in  Betracht;  denn  die  Schrift  ist  eine  spätbyzantinische  Fäl- 
schung. Vergleichen  kann  man  zu  der  Bezeichnung  der  Christen  als  „Galiläer" 
die  Bezeichnung  der  Montanisten  als  „Phrygier".  —  Nicht  ganz  erhellt  ist 
der  Name  Arme  („Ebionim").  Es  ist  möglich,  daß  die  jüdischen  Gegner  die 
Christgläubigen  so  genannt  haben,  weil  sie  wirklich  arm  waren,  und  daß 
diese  den  Namen  rezipiert  haben;  es  ist  aber  wahrscheinlicher,  daß  sich  die 
palästinensischen  Christen  in  Hinblick  auf  das  A.  T.  selbst  so  genannt  haben. 
In  neuerer  Zeit  hat  nicht  nur  Hilgenfeld  behauptet,  den  Kirchenvätern 
Tertullian,  Epiphauius  (haer.  30,  18)  und  andern  folgend,  man  müsse  die 
Ebiouiten  auf  einen  Sektenstifter  Namens  Ebion  zurückführen,  sondern  auch 
Dal  mau  hat  diese  Ableitung  empfohlen.  Im  Reiche  haben  die  Christen 
technisch  nie  die  Armen  geheißen;  Minuc,  Oetavius  c.  36  reicht  nicht 
aus,  um  die  Annahme  zu  begründen.  In  der  Heidenkirche  Avurde  „Ebioniten'' 
die  geläufigste  Bezeichnung  für  die  als  Häretiker  erachteten  Judenchristen.  — 
Der  Name  „Nazaräer",  „Nazoräer"  (nach  Hierouymus  Bezeichnung  aller  Juden- 
christen seitens  der  Juden,  ep  112,13;  bei  den  Persern  und  überhaupt  im 
Islam  für  die  Christen  geläufig)  kommt  zuerst  in  der  Apostelgeschichte  (24,  .5) 
vor,  wo  Paulus  von  dem  Ankläger  Tertyllus  als  TTQcoTooTarrjg  Tf/g  xöJv  JVauo- 
Qaiutv  aiQtoecog  bezeichnet  wird.  Da  Jesus  selbst  o  JVuLcoQatog  in  den  Evan- 
gelien heißt,  so  scheint  kein  Zweifel  zu  sein,  daß  seine  Anhänger  hiernach 
den  Namen  von  ihren  Gegnern  empfangen  haben,  xluffallend  ist  das  aller- 
dings, wenn  auch  nicht  beispiellos.  Aber  die  Bezeichnung  Jesu  als  6  Nauo- 
QaTog  ist  selbst  bekanntlich  ein  Problem.  Stammt  der  Name  wirklich  von 
der  Stadt  NaCagh  (NaLaod)  ?  Ferner  bietet  ja  auch  Matth.  2,  23  ein  schweres 
Problem.  Endlich  kennt  Epiphanius  eine  vorchristliche,  jüdische  Sekte  der 
Nazaräer  (liaer.  18;  die  Vorchristlichkeit  wird  haer.  29,  6  noch  einmal  aus- 
drücklich behauptet)  in  der  Galaaditis,  der  Basanitis  und  anderen  trans- 
jordanischen Strichen  mit  bestimmten  Eigentümlichkeiten,  unterscheidet  von 
H am ack.  Mission.    2.  Aiill.  99 


3oS       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegeuwii-kungeu  der  Mission. 

Stämme",  „Erwählte".  „Knechte  Gottes",  „Gläubige",  „Heilige", 
„Brüder".  „Kirche  Gottes"  ^  Von  diesen  Namen  sind  die  sieben 
ersten  (und  ähnliche)  als  einzelne  nicht  technisch  geworden,  wohl 
aber  sozusagen  in  ihrer  Gesamtheit.  Sie  sind  ein  Beweis,  wie 
sich  die  neue  Gemeinde  empfand,  nämlich  als  die  Erbin  aller 
Verheißungen   und    aller   Rechte    des  jüdischen   Volks.     Übrigens 


ihr  die  gleichnamige  judeuchristliche  Sekte  (haer.  29)  und  auch  die  Nasiräer 
(s.  haer.  29.  5)  und  bemerkt  außerdem  (zwischen  haer.  20  und  21  am  Schluß 
des  1.  Buchs),  daß  am  Anfang  alle  Christen  von  den  Juden  Nazoräer  genannt 
worden  seien.  Endlich  teilt  er  mit,  die  Christen  hätten,  bevor  sie  diesen 
Kamen  in  Antiochien  empfingen,  eine  kurze  Zeit  hindurch  auch  Jessäer 
geheißen  und  verbindet  diese  mit  den  Therapeuten  Philos.  Daß  nun  P]pipha- 
uius  gerade  in  bezug  auf  die  ältesten  Sekten  die  größten  Konfusionen  ge- 
macht hat,  ist  bekannt  und  ist  auch  hier  deutlich;  man  könnte  also  über 
seine  vorchristlichen  Nazaräer  schweigend  hinweggehen,  läge  nicht  in  der 
Bezeichnung  Jesu  als  o  NaCogaTog  (und  in  der  seiner  Jünger  als  Nazaräer) 
wirklich  eine  Schwierigkeit.  Sie  ist  längst  empfunden  worden,  aber  erst 
W.  B.  Smith  hat  sie  in  seinem  zu  St.  Louis  gehalteneu  Vortrag  (abgedruckt 
in  der  Ztschr.  ,The  Monist"  1905  Jan.  p.  25 — 45)  durch  eine  kühue  Hypothese 
zu  beseitigen  gesucht.  Er  meint,  Jesus  habe  nichts  mit  Nazareth  zu  tun,  ja 
diese  Stadt  sei  überhaupt  nur  (auf  Grund  der  Mißdeutung  des  Namens  Naza- 
räer) erfunden  und  dann  von  Christen  gegründet  worden;  6  i^ai^aoaiog  sei  als 
Appellativum  zu  verstehen  =  Nazar-ja  (Gott  ist  Hüter),  dem  Sinne  nach 
=  o  oon/jQ,  =  Jesus,  usw.  Zu  einer  Prüfung  dieser  Hypothese,  die  der  „Reli- 
gion.sgeschichte"  willkommen  sein  wird,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Daß  hier 
ein  ungelöstes  Problem  steckt,  ist  sicher;  aber  vielleicht  wird  sich  doch  — 
trotz  Epiphanius  und  Smith  —  die  traditionelle  Lösung  als  die  gebotene 
erweisen,  zumal  da  die  vorchristlichen  Nazaräer  nichts  haben,  was  an  die 
alten  Christen  erinnert.  Epiphanius  charakterisiert  sie  (1.  c.)  also:  sie  sind 
Juden  und  leben  wie  Juden  (Beschneidung,  Sabbat,  Feste;  Ablehnung  des 
Fatums  und  der  Astronomie);  sie  erkennen  die  Väter  von  Adam  bis  Moses 
(Josua)  an,  aber  den  Pentateuch  verwerfen  sie  (!!);  Moses  habe  zwar  ein 
Gesetz  empfangen,  aber  ein  anderes  als  das  bekannte.  Daher  beobachten  sie 
das  Gesetz  mit  Ausnahme  der  Opfervorschriften  und  essen  auch  kein  Fleisch, 
die  Bücher  Mosis  für  gefälscht  erklärend.  Mehr  weil^  Epiphanius  nicht. 
Soll  man  hiernach  wirklich  glauben,  daß  es  vor  Christus  im  Ostjordanland 
eine  jüdische  Sekte  gegeben  hat,  die  sich  Nazaräer  nannte  und  die  Opfer 
und  den  Fleischgenuß  verbot?  Und  —  angenommen,  das  wäre  glaublich  — 
welche  Verbindung  zwischen  Jesus  und  ihnen  kann  bestanden  haben,  da  das 
einzige  Charakteristikum  dieser  jüdischen  Sekte,  welches  Epiphanius  bekannt 
geworden  ist,  das  Fleisch-  und  Opferverbot,  auf  Jesus  und  die  ältesten  Christen 
nicht  zutrifft?  Ist  es  nicht  wahrscheinlicher,  daß  Epiphanius,  der  übrigens 
nur  von  einer  zu  ihm  gekommenen  „Kunde"  sjjricht,  entweder  gnostische 
Judenchristen,  über  die  er  unvollständig  unterrichtet  war,  für  vorchristlich 
gehalten  oder  eine  vorchristliche  jüdische  Sekte,  die  wie  die  Judenchristen 
im  Ostjordanland  lebte,  irrtümlich  Nazaräer  genannt  hat?  Oder  liegt  nicht 
doch  eine  Verwechselung  mit  Nasiräern  vor? 

')  Vom  Namen  „Jesus"  ist  m.  W.  niemals  in  ältester  Zeit  eine  Ableitung 
versucht  worden.  —  Ob  sich  die  Christen  technisch  je  „  Freunde  "■  genannt 
haben,  darüber  s.  den  ersten  Exkurs  am  Schluß  des  Kapitels. 


Die  Namen  der  Christgläubigen.  339 

kamen  die  Bozciclmungen  „Erwählte"^  und  „Knochto  Gottes" ^ 
doch  nalie  an  technisclie  heran. 

Daß  „Gläubige"  (thotoi)  eine  technische  Bezeichnung  ge- 
wesen ist,  folgt  aus  dem  Sprachgebrauch  des  Paulus,  der  Apostel- 
geschichte und  späterer  Schriften^.  Indem  sich  die  Christen 
„Gläubige"  nannten  —  man  darf  vermuten,  daß  der  IS^ame  auf 
heidenchristlichem  Boden  entstanden  ist  — .  empfanden  sie  die 
Botschaft,  die  sie  zu  dem  gemacht  hatte,  was  sie  waren,  als  die 
entscheidende  Hauptsache.  Die  Botschaft  aber  war  die  Predigt  von 
dem  einen  Gott,  von  seinem  Sohne  Jesus  Christus  und  von  dem 
zukünftigen  Leben. 

Die  charakteristischen  Xamen  sind  die  drei  zusammenge- 
hörigen „Heilige".  „Brüder"  und  „Kirche  Gottes".  Indem  diese 
Selbstbezeichnungen*    die   Bezeichnung    „Schüler"    ablösen,    wird 


^)  Vgl.  Minucius  Felix  c.  11.  Den  Erwählten  stehen  die  „oi  nolloi" 
gegenüber.  Deshalb  nennt  Papias  die  falschen  Christen  so  (bei  Euseb.,  h.  e. 
III.  39),  während  umgekehrt  der  Gnostiker  Heracleon  die  gemeinen  Christen 
so  bezeichnet  (bei  Clemens,  Strom.  IV,  9,  73j. 

-)  Vgl.  das  Xeue  Testament  und  vor  allem  den  Hii-teu  Hermas. 

')  Wohl  mit  Recht  hat  v.  Wilamowitz-Moellendorff  auch  Minucius 
Felix  c.  14  herangezogen,  wo  Octavius  von  Cäcilius  ,,pistorum  praecipuus  et 
postremus  philosophorum"  genannt  ist.  Die  ^pistores"  sind  hier  nicht  ..Mühl- 
knechte",  sondern  es  steht  für  „Tiioxoyv".  So  nennt  auch  der  Heide  bei 
Macarius  Magnes  (III,  17)  die  Christen  >;  zwv  jiiaxwv  (poaroia.  Auch  aus 
Celsus  kann  man  schließen,  daß  die  Bezeichnung  moxoi  technisch  war  (Orig. 
c.  Geis.  I,  9).  Die  Heiden  verspotteten  mit  diesem  Namen,  den  die  Christen 
als  Ehrennamen  führten,  ihre  Gegner:  sie  seien,  .statt  Erkennende  und 
Wissende  zu  sein,  eben  nur  „Gläubige",  d.  h.  sowohl  Leichtgläubige  als  auch 
Leute,  die  Unsinniges  glaubten  (s.  Lucians  Urteil  über  die  Christen  im 
Peregriuus  Proteus).  —  In  Noricum  ist  eine  Inschrift  gefunden  worden 
saec.  IV  (CLL.  Vol.  III,  Suppl.  Pars  Poster.  Nr.  13529),  auf  welcher  eine 
Frau  als  „Christiana  fidelis"  bezeichnet  wird.  Das  heißt  wohl,  daß  sie  eine 
getaufte  Christin  war.  In  den  Cauones  von  Elvira  bezeichnet  „fidelis"  den 
getauften  Christen,  „Christianus"  ist  auch  der  Katechumen.  Der  Name 
„Pistus''  wurde  später  auch  als  Eigenname  bei  den  Christen  beliebt;  zwei 
Bischöfe,  die  das  Konzil  von  Nicäa  besucht  haben,  heißen  so.  Dem  „fidelis" 
steht  der  „paganus"  gegenüber  (s.  u.). 

*)  Bei  Paulus  sind  siedle  geläufigen;  aber  keineswegs  hat  er  sie  zuerst 
gebraucht,  vielmehr  muß  er  sie  schon  von  den  judenchristlicheu  Gemeinden 
Palästinas  her  übernommen  haben;  aber  sie  empfingen  allerdings  durch  seine 
Lehre  einen  intensiveren  Inhalt.  Die  Meinung,  daß  die  Christen  zu  Jerusalem 
y.ax  e'Soyjqv  „die  Heiligen"  hießen,  die  man  aus  dem  Neuen  Testament  er- 
schließen wollte,  läßt  sich  m.  E.  nicht  halten.  Ebensowenig  ist  die  Hypo- 
these richtig,  daß  es  innerhalb  der  Christenheit  im  apostolischen  und  nach- 
apostolischen Zeitalter  einen  besonderen  engeren  Kreis  gegeben  hat,  dem  der 
Name  „Heilige"  allein  und  ausschließlieh  zukam;  weder  aus  I  Tim. -5,  10, 
noch  aus  Hebr.  13,  24,  noch  aus  Didache  4,  2,  noch  aus  anderen  Stellen  läßt 
sich  das  erschließen,  wenn  es  auch  einen  Kreis  von  Asketen  und  in  diesem 
Sinn  von   besonders  heiligen  Christen    sehr  frühe  schon  gegeben  hat.     Sehr 

22* 


340       Die  Missionare :  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

der  wichtigste  Fortschritt  bei  den  Jesus  -  Gläubigen  offenbart 
„Heilige-'  nannten  sie  sich,  weil  sie  durch  den  von  Jesus  gesandten 
heiligen  Geist  von  und  für  Gott  geheiligt  waren  und  sich  trotz 
aller  anklebenden  täglichen  Sünde  als  wahrhaftig  heilig  und  der 
zukünftigen  Herrlichkeit  teilhaftig  wußten  2.  Das  Wort  bleibt  die 
technische  Selbstbezeichnung  der  Christen  bis  zur  montanistischen 
Ki'isis  (s.  1  Clemens,  Hermas,  Didache  etc.);  dann  verschwindet  es 
allmählich^:  die  Christen  hattten  nach  allen  Erfahrungen,  die  sie 
an  sich  selbst  gemacht,  nicht  mehr  den  Mut,  sich  „Heilige"  zu 
nennen,  und  als  nun  gar  der  Unterschied  von  Klerus  und  Laien 
(Leitenden  und  Bevormundeten)  der  bestimmende  wurde,  fiel  die 
Bezeichnung  „Heilige"  völlig  dahin  (nur  in  schweren  Yerfolgungs- 
zeiten  erinnerte  man  sich  wieder  an  sie).  Dafür  entstanden 
„heilige  Stände"  (Märtyrer,  Konfessoren,  Asketen,  zuletzt  —  im 
3.  Jahrhundert  —  auch  die  Bischöfe),  und  die  heiligen  Mittel 
(Sakramente),  unter  deren  stoßweisem  Einfluß  die  an  sich  unheiligen 
Christen  stehen,  rückten  noch  stärker  in  den  Vordergrund  als  im 
1.  Jahrhundert.  Man  wußte  sich  selbst  nicht  mehr  als  heiligt,  aber 
man  besaß  heilige  Märtyrer,  heilige  Asketen,  heilige  Priester, 
heilige  Handlungen,  heilige  Schriften  und  eine  heilige  Lehre. 

Enge  verbunden  mit  dem  jN^amen  „Heilige"  war  der  Name 
„Brüder"  (und  „Schwestern");  drückt  jener  das  Verhältnis  zu  Gott 
und  zum  zukünftigen  Leben  (bez.  zur  ßaodeia  xov  '&eov)  aus,  so 
dieser  das  neue  Verhältnis,  in  das  man  sich  zu  den  Mitmenschen, 
vor  allem  zu  den  Glaubensgenossen,  gesetzt  wußte  (vgl.  dazu  die 
nicht  seltene  Formel  „Bruder  im  Herrn").  Der  Name  war  seit 
der  Zeit   des  Paulus  so  geläufig,    daß   er  auch  bald   den  Heiden 


auffallend  sind  „die  heiligen  Apostel"  Ephes.  3,  5;  ich  halte  es  nicht  für 
■wahrscheinlich,  daß  Paulus  so  geschrieben  hat.  —  Man  beachte,  daß  das 
älteste  Prädikat  bei  dem  Wort  „Kirche"  das  Wort  „heilig"  gewesen  ist;  s. 
die  Stelleusammlung  bei  Hahn-Harnack,  Bibliothek  der  Symbole  *  S.  u88, 
vgl.  auch  , heiliges  Volk"  (k'drog  äyior,  /.aog  ii/iog),  „heiliges  Priestertum". 

1)  Vgl.  Weizsäcker,  a.  a.  0.  '  S.  36 ff. 

2)  An  den  heiligen  Mitteln,  den  „Charismen",  und  an  der  Macht,  die 
Dämonen  auszutreiben,  hatten  sie  die  tatsächliche  und  sinnenlallige  Gewähr 
der  Heiligkeit.  Diese  hatten  sowohl  einen  dinglichen  als  einen  persönlich- 
sittlichen Charakter;  zum  ersteren  vgl.  1  Cor.  7, 14:  i)yiaoTm  6  dvijQ  6  ujiiorog 
h>  rf/  yvvaiHL,  xai  yyiafnui  i)  yvvlj  t)  u:tioiog  t:v  lo)  äbehi'io  '  fJTfi  äoa  ta  rexra 
vtiojv  u>iä.daQT<j.  f:oriv,  rvv  Sk  äyid  mriv. 

^)  Doch  nennt  z.  B.  noch  Gregorius  Thaumaturgus  iu  dem  7.  seiner 
Canoues  die  Christen  generell  „die  Heiligen". 

*)  Die  in  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  gebildete  novatianische  Kirche 
nannte  sich  „die  Reinen"  (xaßuQoi).  Ob  diese  Selbstbezeichnung  neu  ge- 
schatlen  war,  oder  ob  diese  Kirche  einen  alten  Namen  wieder  belebt  hat, 
■wissen  wir  nicht.  —  Auf  die  Namen  einzelner  christlicher  Sekten  und  Kreise 
(Gnostiker,  Spiritualen  etc.)  ist  hier  nicht  einzugehen. 


Die  Namen  der  C'hristgläubigen.  341 

bekannt  wurde  —  sie  haben  ilni  verspottet,  in  den  Schmutz  ge- 
zogen, aber  sieh  seinem  Eindruck  doch  nicht  entziehen  können, 
da  das  Verhalten  der  Christen  dem  Namen  entsprach  ^  Nicht 
nur  als  ädelcpoi  bezeichneten  sich  die  Christen,  sondern  auch  als 
adslcpoT}]?  (I  Pet.  2,  17;  5,  9  und  sonst).  Wie  sicher  und  geläufig 
der  Name  war,  und  wie  ihm  wirklich  das  Verhalten  entsprach-, 
muß  man,  abgesehen  von  den  neutestamontlichen  Schriften  (schon 
Jesus  selbst  hat  die  Bezeichnung  gebraucht  und  sie  stark  betont)  ^, 
an  dem  I.  Clemensbrief,  der  Didache  und  den  Schriften  der  Apolo- 
geten studieren*.  Auch  der  Name  „Bruder"  trat  aber,  obschon 
er  sich  länger  hielt  als  die  Bezeichnung  „Heilige",  seit  dem  Ende 
des  H.Jahrhunderts  zurück*'',  oder  vielmehr  —  nur  die  Geistlichen 
nennen  sich  untereinander  wirklich  noch  Brüder^,  und  es  galt  als 
besondere  Ehre,  wenn  ein  Priester  einen  Laien  mit  „Bruder" 
titulierte'^.     Fast   nur    in    der   Predigt   erhielt    sich   das    „fratres", 


^)  S.  die  Urteile  der  Heiden  bei  den  Apologeten,  vor  allem  bei  TertulL, 
Apol.  39  und  Minucius,  Octavius  9;  31;  cf.  Lucian,  Peregi-.  Prot.  Tertullian 
konstatiert,  daß  sich  die  Heiden  über  die  Brüderlichkeit  der  Christen  ei-- 
stamit  haben:  „Sehet,  wie  lieb  sie  sich  untereinander  haben."  —  In  heid- 
nischen Vereinen  findet  man  den  Brudernamen  auch,  doch  ni.  W.  nicht  oft. 
Nach  Act.  22,  5  und  28,21  muß  man  annehmen,  daß  sich  auch  die  Juden 
untereinander  „Brüder"  genannt  haben;  doch  kann  die  Bezeichnung  nicht  von 
der  Bedeutung  gewesen  sein  wie  bei  den  Christen.  Weiter,  wie  der  jüdische 
Lehrer  seine  Schüler  „Kinder"  bez.  Söhne  (und  Töchter),  sie  ihn  „Vater" 
nennen,  so  finden  sich  diese  Bezeichnungen  sehr  häufig  auch  in  dem  Verhält- 
nis der  christlichen  Apostel  und  Lehrer  zu  ihren  Schülern  (s.  die  zahlreichen 
Stellen  bei  Paulus,  Barnabas  etc.). 

-)  Näheres  darüber  und  über  die  Bedeutung  dieser  Tatsache  für  die 
Mission  s.  im  3.  Kapitel  des  2.  Buches. 

*)  Cf.  Matth.  23,  8  (s.  c);  12,  48:  Jesus  spricht  von  den  Jüngern:  Idov  rj 
fit]Tr]Q  fiov  xal  Ol  ä8elq}oi  fiov.  Sie  sind  also  nicht  nur  Brüder,  sondern  auch 
seine  Brüder.  Aber  diese  "Wendung  —  dem  Paulus  geläufig,  s.  Rom.  8,  29: 
jiQwröroyog  iv  nolloT?  aÖelffoTg  —  ist  später  nicht  mehr  häufig.  Doch  nennt 
Tertullian  sogar  das  Fleisch  „Christi  soror",  s.  de  resurr.  9,  vgl.  auch  de 
carne  7  fin. 

*)  Stoisch  gerichtete  Apologeten  wie  TertuUiau  beschränkten  den 
Namen  „Brüder"  nicht  auf  die  Glaubensgenossen,  sondern  bezogen  ihn  auf 
alle  Menschen  (Apol.  39):  „Fratres  etiam  vestri  sumus,  iure  naturae  matris 
unius." 

5)  Im  3.  Jahrhundert  findet  sich  die  Bezeichnung  noch ,  aber  etwas 
spärlicher,  s.  z.  B.  Hippolyt  in  den  Philosoph.,  Acta  Pionii  9.  „Theoretisch" 
bestand  natürlich  der  Name  noch  lange,  s.  z.  B.  Lactant.,  Div.  inst.  V,  15: 
„nee  alia  causa  est  cur  nobis  invicem  fratrum  nomen  impertiamus,  nisi  quia 
pares  esse  nos  credimus."  Augustin,  ep.  23,  1:  „non  te  latet  praeceptum  esse 
nobis  divinitus.  ut  etiam  eis  qui  negant  se  fratres  nostros  esse  dicamus: 
Fratres  nostri  estis." 

*)  Sie  nennen  sich  aber  auch  untereinander  bereits  im  3.  Jahrhundert 
„dominus". 

■')  Mit  besonderer  Freude   berichtet  Eusebius  (Vita  Const.  III,  24) ,   daß 


342       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

aber  Konfessoren   durften  Geistliche,    selbst   Bischöfe,    als  Brüder 
anreden  (s.  Cypr.  ep.  53)^. 

Weil  sich  die  Christen  im  apostolischen  Zeitalter  als  „Heilige'' 
und  als  „Brüder"  und  in  diesem  Sinn  als  das  wahre  Israel  und 
zugleich  als  Neuschöpfung  Gottes  wußten^,  so  bedurften  sie  einer 
solennen  Bezeichnung,  in  welcher  ihre  geschlossene,  gottgesetzte 
Natur  mid  Einheit  hervortrat.  „M^eÄ^ioT?;?"  (s.  o.)  reichte  hier 
nicht  aus;  der  JS^ame,  den  man  wählte,  war  ixy.hjoia  (txy.Xijoia  rov 
■&eov).  Es  war  ein  meisterhafter  Griff;  nicht  dem  Apostel  Paulus 
verdankt  man  ihn,  aber  auch  nicht  schon  Jesus  selbst,  sondern 
den  palästinensischen  Gemeinden  (die  sich  also  als  hnj^  bezeichnet 
haben)  •'^.  Das  Wort  ist  vu'sprünglich  gewiß  Gesamtbezeichnung  ge- 
wesen* —  der  feierlichste  Ausdruck,  den  das  Judentum  für  seine 
gottesdienstliche  Gesamtheit  brauchte,  wurde  übernommen^  — ; 
er  ist  aber  sehr  frühe  auf  die  einzelnen  Gemeinden  und  wiederum 
auf  die  gottesdienstliche  Zusammenkunft  der  Gemeinde  übertragen 
worden.  Dieser  vielseitige  Gebrauch  zusammen  mit  der  religiösen 
Färbung  —  „die  von  Gott  berufene  Gemeinde''  —  und  der  Mög- 
lichkeit der  Personifizierung  ließ  den  Begriff"  und  das  Wort  rasch 
in   den  Yordera-rund   treten*'.     Eben  weil   man   diese  Bezeichnunc: 


der  dreimalselige  Kaiser  in  seinen  zahlreichen  Schreiben  au  Bischöfe  und 
an  die  christlichen  Bevölkerungen  sie  mit  „äSEÄgol  xai  ovvdeodjrovTsc"  au- 
geredet habe. 

^)  Die  allmähliche  Einschränkung  des  Brudernameus  auf  den  Klerus 
und  die  Konfessoren  ist  der  sicherste  Gradmesser  für  die  fortschreitende  Ent- 
rechtung der  Gemeinden. 

*)  Über  die  Bezeichnungen  , Neues  Volk"  und  „Drittes  Geschlecht*  s.  das 
6.  Kapitel  des  2.  Buches. 

*)  Paulus  hat  ihn  augenscheinlich  schon  vorgefunden;  bereits  die 
Christengemeinden  in  .Terusalem  und  Judäa  nannten  sich  ty.y.h]aiui  (Gal.  1,  22). 
Jesus  hat  den  Begriff  nicht  geprägt;  nur  Matth.  16,  18  und  18,  17  ist  das 
Wort  als  aus  seinem  Munde  stammend  überliefert,  aber  beide  Stellen  sind 
kritisch  mehr  als  verdächtig  (s.  Holtzmanu  z.  d.  St.).  Dazu  kommt,  daß 
das,  was  wir  von  seiner  Predigt  wissen,  die  Möglichkeit  nahezu  ausschließt, 
er  habe  an  die  Schöpfung  einer  besonderen  fxy.Xi^ala  gedacht  (s.  Matth.  16, 18) 
oder  gar  schon  die  Existenz  mehrerer  fxxX}]o[ai  (so  Matth.  IS,  17)  ins  Auge 
gefaßt. 

*)  Das  kann  man  noch  dem  paulinischen  Sprachgebrauch  entnehmen; 
außerdem  ist  bei  solchen  Worten  die  spezialisierende  Anwendung  immer  das 
Spätere.     Ol  ano  i»)g  saxlrjoiag  =  Christen  findet  sich  zuerst  Act.  12,  1. 

^)  ^Cif  (^"  ^^^'  LXX  in  der  Regel  mit  ty.xXrjoia  übersetzt)  ist  die  Ge- 
meinde in  ihrer  Beziehung  zu  Gott  und  ist  daher  feierlicher  als  das  mehr 
profane  ül"  (welches  von  den  LXX  stets  mit  ovvaywp)  übersetzt  worden 
ist).  Die  Rezeption  von  ExyJ.yjokt  ist  also  ebenso  zu  vorstehen  wie  die  von 
„Israel",  „Samen  Abrahams"  usw.  Im  praktischen  Gebrauch  trat  bei  den 
Juden  fxy/.t]oia  weit  hinter  owaywyi'i  zurück,  und  das  war  für  die  Christen 
sehr  günstig. 

*)  Verwandt    mit    dem  Begriff   „>)  tyxhjoi'a"  ist    die   auch   nicht   .selten 


Die  Namen  der  Christgläubigen.  343 

besaß,  war  es  unnötig-,  das  Wort  „Synagoge"  7A\  übernehmen^. 
Dadurch,  daß  man  es  nicht  übernahm,  hoben  sicli  die  Christen 
auch  terminokigisch  scharf  vom  Judentum  und  seinen  religiösen 
Yersammhmgen  ab,  nachdem  die  innere  Trennung  eingetreten  war. 
Als  „Kirche"  und  als  „Kirchen"  haben  die  Heidenchristen  die  neue 
Religion  von  Anfang  an  kennen  gelernt.  Ein  autoritatives  Element 
war  ursprünglich  damit  nicht  gegeben;  aber  jede  geistige  Größe, 
die  sich  als  ideal -reale  Gemeinschaft  gibt,  birgt  ein  solches  von 
Anfang  an  in  sich:  sie  hat  ihre  Ordnungen  und  Überlieferungen, 
ihre  besonderen  Kräfte  und  (Organisation;  diese  sind  autoritativ; 
dazu:  sie  selbst  trägt  den  einzelnen  und  versichert  ihm  zugleich 
den  Inhalt,  den  sie  bezeugt.  So  lesen  wir  schon  im  T.  Timotheus- 
brief  (3,  15):  olxog  &eov,  fjrig  toxlv  t/ixltjoia  'dsov  QibvTOi;,  oxv'/.og 
xal  idgaico^ua  jfjg  äh]&eiaq.  „Ecclesia  mater"  findet  sich  in  der 
Literatur  des  2.  Jahrhunderts  öfter.  Den  vollen  Ausdruck  braucht 
Tertullian  (ad  mart.  1):  „Doraina  mater  ecclesia."  Am  wichtigsten 
aber  war.  daß  Ey.y.h^oia  nicht  nur  als  eine  irdische,  sondern  in 
erster  Linie  als  eine  himmlische,  transzendente  Größe  gefaßt 
wurde "^.  AVer  zur  iy.y.hjoia  gehörte,  der  hatte  kein  Bürgerrecht 
mehr  auf  Erden  ^,  dafür  aber  ein  sicheres  Bürgerrecht  im  Himmel. 
Diese  transzendente  Bedeutung  des  Wortes  ist  noch  im  2.  Jahr- 
hundert höchst  lebendig  gewesen,  aber  im  3.  trat  sie  mehr  und 
mehr  zurück'^. 


sich  findende  Bezeichnung  „o  Xaog"  (im  Gegensatz  zu  „tä  k'drif');  sie  ist 
natürlich  auch  alttestamentlich  bedingt. 

')  Über  den  Gebrauch  dieses  Wortes  bei  den  Christen  s.  meine  .A.n- 
merkung  zu  Hermas,  Mand.  11.  Man  scheute  das  Wort  nicht  ängstlich  (selbst 
Marcioniten  haben  es  für  ihr  Versammlungsgebäude  gebraucht),  aber  tech- 
nisch ist  es,  ein  paar  Fälle  ausgenommen,  nie  geworden.  Dagegen  heißt  es 
Epiphan.  haer.  80,  18  von  den  Judenchristeu:  i^rgeoßvzsgovg  ovroi  t'/ovoi  y.al 
aoyiovvaycoyovg.  awaycoyt/v  8k  ovrot  y.alovoi  rijv  iavitöv  sxy.Xrjoiav  y.al  ovyi 
exyJ.rjciav  reo  Xoioico  8k  6v6f.iari  jiwvov  oeuvvvovTut.  Ob  die  Judenchristen 
wirklich  den  Namen  br,p  (iy.yJ.rjoia)  verworfen  haben,  darf  man  dennoch  be- 
zweifeln; daß  sie  ihre  Versammlungen  und  Versammlungsorte  owayioyal  ge- 
nannt haben,  ist  anzunehmen. 

'-)  Die  Ekklesia  ist  im  Himmel,  sie  ist  vor  der  Welt  geschaffen,  sie  ist 
die  Eva  des  himmlischen  Adam,  sie  ist  die  Braut  Christi,  sie  ist  gewisser- 
maßen Christus  selbst.  Diese  paulinischen  Gedanken  sind  nicht  vergessen 
worden.  Im  Hermas,  bei  Papias,  im  II.  Clemensbrief,  bei  Clemens  Alex.  etc. 
finden  sie  sich.  Tertullian  schreibt  (de  paenit.  10):  -In  uno  et  altero  Christus 
est,  ecclesia  vero  Christus,  ergo  cum  te  ad  fratrum  genua  protendis,  Christum 
contrectas,  Christum  exoras." 

')  Die  Selbstbezeichnung  der  Christen  als  „Fremdlinge  und  Paröken" 
ist  im  1.  Jahrhundert  nahezu  technisch  geworden  (s.  die  Briefe  des  Paulus, 
I  Pet.  und  Hebräerbrief) ;  wirklich  technisch  aber  wurde  naooiyJa  (und  .-ragoi- 
xeTv)  zur  Bezeichnung  der  einzelnen  in  der  Welt  lebenden  Gemeinden  (zur 
Sache  vgl.  auch  Hermas,  Similit.  I). 

*)  Das  Wort  .secta"  wird   bis  tief  in  das  B.  Jahrhundert  hinein  (s.  den 


344       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Zu  der  Bezeichnung  „«?<xA>;a/a"  trat  im  Laufe  des  2.  Jahr- 
hunderts das  Attribut  „katholisch"  (neben  das  Attribut  „heilig"). 
In  diesem  Prädikat  liegt  an  sich  kein  Moment,  welches  eine  Ver- 
weltlichung der  Kirche  bedeutet.  „Katholisch"  heißt  ursprünglich 
die  Christenlieit  in  ihrer  Gesamtheit  im  Gegensatz  zu  den  einzel- 
nen Gemeinden  (ixxhjoia  xa&ohx}/  =  jtäoa  i)  exxXrjoia).  Somit 
sind  die  Begriffe  „alle  Gemeinden"  und  „die  allgemeine  Kirche" 
identisch.  Ein  dogmatisches  Element  lag  aber  insofern  von  Anfang 
an  in  dem  Begriff  der  allgemeinen  Kirche,  als  man  sich  vorstellte, 
daß  sie  durch  die  Apostel  über  die  ganze  Erde  hin  verbreitet 
worden  sei,  womit  die  Überzeugung  gegeben  war,  daß  nur  das 
wahr  sein  könne,  aber  auch  sicher  wahr  sei,  was  sich  überall  in 
der  Kirche  fände.  Somit  galten  die  Begriffe  „die  ganze  Christen- 
heit", die  „über  den  Erdkreis  verbreitete  Christenheit"  und  „die 
wahre  Kirche'"  schon  frühe  für  identisch.  Dadurch  wurde  der 
Begriff  „kath<>lisch"  zu  einem  prägnanten  und  hat  scliließlich  einen 
dogmatischen  und  politischen  Inhalt  erhalten.  Da  dies  eingetreten 
ist,  so  ist  es  nicht  unzweckmäßig,  von  vorkatholischem  und  katho- 
lischem Christentum  zu  sprechen.  Der  Ausdruck  „katholische 
Kirche"  kommt  zuerst  bei  Ignatius  vor  (Smyrn.  S,  2):  o:nov  av 
(pavfi  6  imoxojTog,  txn  t6  jrlfjiJ^og  torco'  (OOJieg  onov  äv  >'/  Xgiorog 
'I}]oovg,  exFA  i)  xaOohxi]  €xxh]oia,  aber  es  ist  hier  noch  nicht  Be- 
zeichnung eines  neuen  Begriffs  der  Kirche,  in  welchem  sie  als 
empirische  und  autoritative  Gemeinschaft  vorgestellt  ist.  In  dem 
Martyr.  Polyc.  inscr. ;  16,  2:  19,  2  ist  das  Wort  vielleicht  inter- 
poliert (hier  ist  nämlich  katholisch  =  rechtgläubig:  ;;  iv  Zjuvqvij 
xaOohxi)  Exxhjoia).  Aus  Iren.  III,  15,  2  („Valentiniani  eos  qui 
sunt  ab  ecclesia  ,communes''  et  ,ecclesiasticos''  dicunt")  folgt,  daß 
zu  seiner  Zeit  die  Yalentinianer  die  rechtgläubigen  Christen 
„Katholiken"  und  „Ecclesiastiker"  genannt  haben  ^.  Irenäus  selbst 
braucht  das  Wort  noch  nicht;  er  hat  aber  die  Sache  (s.  I,  10,  2; 
11.  9,  l  etc.;  ähidich  Serapion  bei  Euseb.,  h.  e.  V,  19:  näoa  f]  ev 
xoofioj  ädeXq)(')Tt]g).  Als  Bezeichnung  der' rechtgläubigen,  siclitbaren 
Kirche  findet  sich  xnf)ohx6g  —  nach  dem  Mart.  Polycarpi  —  im 


Sprachgebrauch  des  Cyprian)  unbefangen  von  den  Christen  selbst  zur  Be- 
zeichnung ihrer  Gemeinschaft  gebraucht.  Es  ist  aber  natürlich  nicht  tech- 
nisch, sondern  ganz  neutral. 

')  'ExxXrjaiaTiHol.  war  aber  auch  im  3.  Jahrhundert  eine  Selbstbezeich- 
nung der  rechtgläuliigen  Christen  gegenüber  den  Häretikern.  Das  geht  aus 
den  Werken  des  Origenes  hervor;  s.  Hom.  in  Luc.  XVI  t.  5  p.  143:  „ego  quia 
opto  esse  ecclesiasticus  et  non  ab  haeresiarcha  aliquo,  sed  a  Christi  vocabulo 
nuncupari",  cf.  auch  Hom.  in  Jesaj.  VII  t.  13  p.  291;  Hom.  in  Ezech.  II,  2 
t.  14  p.  34:  „dicor  ecclesiasticus";  Hom.  in  Ezech.  III,  4  t.  14  p.  47:  „eccle- 
siastici"  f  im  Gegensatz  zu  Valentinianeru  und  Basilidiauern] ;  Hom.  Ezech.  VI,  8 
t.  14  p.  ÜO,  cf.  120  etc.  etc. 


Die  iSameu  der  Christgläubigen.  ;}45 

Muratorisclien  Fragment  (hier  schon  ..eatholica"  ohne  „ecclesia", 
Avie  später  im  Abendhmd  hänfig).  beim  antimontanisrischen  Ano- 
nymns  (Enseb.,  h.  e.Y,  16,  9),  bei  Tertullian  (z.  B.  de  praescr.  2().  30: 
adv.  Marc.  lY,  4;  III,  22),  Clemens  Alex.  (Sti-om.  YII,  17.  lOlif.), 
Ilippolyt  (Phiios.  IX,  12):  Mart.  Pionii  2.  9.  13.  19),  Cornelius  papa 
(bei  Cypr..  ep.  49.  2),  Cyprian.  Der  Ausdruck  „eatholica  traditio" 
bei  Tertull.,  de  monog.  2,  „fides  eatholica"  bei  Cyprian  ep.  25. 
y.avojv  y.ado/uy.ög  im  Mart.  Polyc.  rec.  Mosq.  fin.  und  Cypr.  ep.  70.  1. 
„eatholica  fides  et  religio"  im  Mart.  Pionii  Is.  Sonst  kommt  das 
AYort  noch  in  verschiedenen  Yerbindungen  in  der  altchristlichen 
Literatur  vor.  Li  abendländische  Symbole  ist  der  Zusatz  „eatholica" 
erst  verhältnismäßig  spät.  d.  h.  frühestens  im  3.  Jahrhundert,  ge- 
drungen: im  alten  römischen  Symbol  fehlt  er.  — 

Wir  kommen  zum  Xamen  „Christen".  Er  ist  der  Hauptname 
geworden.  Ihn  brauchte  die  römische  Obrigkeit  sicher  seit  der 
Zeit  des  Trajan  (Plinius:  „cognitiones  de  Christianis",  Reskripte), 
wahrscheinlich  schon  40 — 50  Jahre  früher  (I  Pet.  4.  16:  Tacitus); 
unter  diesem  Xamen  waren  die  Anhänger  der  neuen  Religion  im 
Yolke  bekannt  (Tacitus;  auch  die  berühmte  Suetonstelie  ist  hierher 
zu  ziehen). 

Lucas  hat  uns  mitgeteilt,  wo  der  Xame  entstanden  ist.  Nach- 
dem er  die  Gründung  der  (heidenchristlichen)  Gemeinde  in  Anti- 
ochien  erzählt  har.  fährt  er  fort  (11.  26):  yoijuaTioai  Troojiojg  Iv 
\Avrtoyeia  rovg  juaß)jTa.g  Xgionavovg  [Xoyjoriavovg] .  Die  Annahme 
ist  nicht  notwendig,  der  Xame  sei  sofort  nach  der  Stiftung  auf- 
gekommen: aber  einen  langen  Zeitraum  zwischen  ihr  und  der 
Xamengebung  wird  man  nicht  annehmen  dürfen^.  Lucas  sagt 
nicht,  wer  den  Xamen  gegeben  hat,  aber  er  deutet  es  doch  hin- 
länglich an-.    Xicht  die  Christen  selbst  haben  ihn  sich  gegeben  — 


M  Die  Zweifel,  die  Baur  und  Lipsius  gegeu  die  Nachricht  der  Apostel- 
geschichte erhoben  haben,  sind  m.  E.  nicht  schwerwiegend.  Allerdings  sind 
die  Adjektivbildungen  auf  „-mj-d,"  lateinische  und  zwar  spätlateinische 
Bildungen  (in  der  Grammatik  von  Kühner- Blaß  werden  sie  gar  nicht 
erwähnt).  Allein  sie  müssen  durch  den  Verkehr  bereits  im  1.  Jahrhundert 
auch  in  die  griechische  Vulgärsprache  gedrungen  sein.  Im  Neuen  Testament 
liest  man  'HgcoSiaroi  (Marc.  3,  6;  12,  13:  Matth.  22,  16),  Justin  schreibt 
Dial.  35  :  Maoy.iavol ,  Ova'/.evjiviavoi,  Baoi/.iÖiaroi,  ^azoovt/.iavoi ,  und  ähnliche 
Bildungen  finden  sich  dann  häufig.  Will  man  sehr  vorsichtig  sein,  so  mag 
man  annehmen,  daß  der  Name  von  römischen  Richtern  in  Antiochien  zuerst 
geprägt  worden  und  dann  ins  Volk  übergegangen  ist.  Daß  die  Christen 
selbst  lange  gezögert  haben,  sich  ,. Christen"  zu  nennen,  ist  doch  nichts 
weniger  als  auffallend  und  kann  daher  nicht  gegen  den  frühen  Ursprung  des 
Wortes  angeführt  werden. 

^)  Daß  er  nicht  deutlicher  mit  der  Sprache  herausrückt,  hat  vielleicht 
darin  seinen  Grund,  daß  der  heidnische  Ursprung  des  Namens  ihm  unbequem 
ist;  doch  ist  diese  Annahme  nicht  notwendig. 


346       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Lucas  hätte  sonst  nicht  /o>//iaT<aat  gesagt  — ;  sie  können  ihn 
sich  aber  auch  nicht  selbst  gegeben  haben:  denn  das  verbietet  die 
saclilicli  unzutreffende  Bildung.  Eben  deshalb  kann  er  auch  nicht 
von  den  Juden  stammen:  nur  bei  Heiden  kann  die  Bezeichnung 
autgekommen  sein.  Sie  haben  gehört,  daß  ein  Mann  namens 
„Christus"  [Chrestus]  der  Herr  und  Meister  der  neuen  Sekte  sei 
und  haben  darnach  —  als  wäre  Christus  ein  Eigenname  —  das 
AVort  gebildet  ^  wie  sie  von  „Herodiani",  „Marciani"usw.  sprachen'^. 
Audi  die  Existenz  einer  Jesus-gläubigen  Gemeinde  aus  den  Heiden 
setzt  der  Name  voraus:  denn  solange  nur  Juden  in  Antiochien 
Jesus -gläubig  waren,  lag  für  die  Heiden  kaum  ein  Grund  vor, 
eine  innerjüdische  Bewegung  mit  einem  besonderen  Namen  zu 
bezeichnen.  „Christian!"  ist  der  Name  der  Heidenchristen-^ 
Die  Christen  haben  zunächst  den  Namen  nicht  adoptiert;  er  fehlt 


')  Daß  sie  von  Anfang  an  gemeint  haben,  der  Name  sei  „Chrestus"  zu 
schreiben  (nicht  Christus),  ist  möglich  —  im  2.  Jahrhundert  ist  diese  falsche 
Meinung  bei  den  Gegnern  der  Christen  allgemein  verbreitet,  s.  Justin, 
Apol.  I,  4;  Theophil,  ad  Autol.  I,  1;  Tertull.,  Apol.  3;  Lactant.,  Inst.  IV,  7,  5; 
auch  Sueton,  Claud.  25  und  Tacitus  (s.  unten)  — ;  aber  notwendig  ist  die 
Annahme  nicht.  Allerdings  besaßen  die  Heiden  einen  ziemlich  gebräuch- 
lichen Eigennamen  „Chrestus"  (aber  keinen  Namen  „Christus")  und  konnten 
daher  von  Anfang  an  meinen,  ein  Mann  dieses  Namens  sei  der  Stifter  der 
Sekte. 

-)  Demgemäß  heißt  „Christiani"  nichts  anderes  als  Zugehörige  zu 
einem  Manu  namens  Christus.  Aristides,  Apol.  2:  oi  XoioTtavol  yevsa/.oyovvzai 
djio  'h]oov  XotoTov.  Anders  ist  der  Name  bei  Eusebius  (Demonstr.  I.  5)  er- 
klärt: „Wie  wir  X^ianavoi  heißen,  so  hießen  im  alten  Bund  die  Freunde 
Gottes  XoiazoL"'  Das  ist  natürlich  unrichtig.  Justin  schreibt  (Dial.  63):  xal 
6'n  ToTg  slg  avrov  Jiiozevovoi^',  wg  oi'Oi  /mä  yv/fj  sv  ;M<ö  ovvaywyij  aal  /niä 
ixiilrjoiq ,  6  ?.6yog  zoii  &sol>  (hg  ßvyazoi,  zi)  iy.y.h]aia  zi]  i^  övöftazog  avzov  yevo- 
fievfi  xai  ^itzaoyovoY]  zov  ovoiiazog  avzov  —  Xoiaziavol  yag  jzävzeg  xakovße&a  — 
[£l'f)r]zai] ,  ouoicog  r/aveowg  oi  löyoi  y.>jovooovoi  y.z)..  Trj'pho  erwidert  (c.  64): 
eaxoj  vf-uv,  zcjv  s^  Idvwv,  y.vQiog  xal  X^iozog  y.ui  deög  yvüigiCoiierog ,  (bg  ai 
ygacfal  G7]f.iaivovoiv,  oi'zivsg  xal  ajio  zov  ovofiazog  avzov  XQioziavoi  xa/.sTa&ac 
jzävzF.g  eoyjixazE-  ^fisTg  di ,  zov  üeov  zov  xat  ainov  zovzov  7ioi))oavzog  /.azgevzai 
ovzeg,  ov  ösö/ns&a  zfjg  öfio/.oylag  avzov  ovdk  zFjg  :joooxvfyo£iog.  Origenes,  Hom. 
in  Luc.  16  t.  5  p.  143:  „Opto  a  Christi  vocabulo  nuncupari  et  habere  nomen 
quod  benedicitur  super  terram,  et  cupio  tarn  opere  quam  sensu  et  esse  et 
dici  Christianus. " 

•■')  Judenchristen  sind  zunächst  und  wahrscheinlich  lange  Zeit  hindurch 
mit  diesem  Namen  niemals  genannt  worden.  Ich  kenne  ein  bisher  nicht 
publiziertes  altchristliches  Fragment,  in  welchem  sich  der  Ausdruck  Xginziavoi 
ZF,  xal  'lovbaToi  Xqlotov  of/oÄoyovvzeg  findet  (Lietzmann,  Gott.  Gel.  Anz. 
Nr.  6  S.  488,  vergleicht  dazu  den  Zauberspruch  bei  Dieter  ich,  Abraxas 
S.  138:  ooxi'Qoy  ae  xaza  zov  iJsov  'EßgaUov  h]oov).  Ob  Aristo  von  Pella  in 
.seinem  Dialog  die  Bezeichnung  für  Jason  „Hebraeus  Christianus"  selbst  ge- 
braucht oder  der  lateinische  Übersetzer  sie  eingeführt  habe,  weiß  man  nicht. 
Auch  im  ersteren  Fall  läge  hier  keine  Instanz  gegen  die  Annahme  vor,  daß 
„Cliristiani"   zunächst  eine  Bezeichnung   für   die  Heidenehristen  gewesen  ist. 


Die  Namen  der  Christgliiubigen.  ',)-\~ 

bei  Paulus  ganz;  er  fehlt  im  Xeueii  Testament  als  Selbstbczeich- 
nmig  der  Christen;  denn  in  den  beiden  einzigen  Fällen,  in  denen 
er  sich  hier  findet,  ist  er  dem  Munde  der  Gegner  entnommen  K 
Vergebens  sucht  man  ihn  aucii  bei  allen  sog.  apostolischen  Vätern, 
mit  Ausnahme  des  Ignatius,  bei  dem  er  ganz  geläufig  ist^.  Das 
ist  eine  schöne  Bestätigung  der  Apostelgeschichte;  denn  Ignatius 
ist  Antiochener^.  In  Antiochien  also  ist  der  Xame  nicht  nur  ent- 
standen, sondern  er  ist  dort  auch  u.  W.  zuerst  zur  Selbstbezeich- 
nung der  Christenheit  geworden.  Wahrscheinlich  aber  hatten  ihn 
z.  Z.  Trajans  auch  die  kleinasiatischen  Christen  schon  seit  längerer 
Zeit  rezipiert.  Allgemeine  Rezeption  ist  erst  seit  dem  Ende  der 
Regierung  Hadrians  und  der  des  Pius  nachweisbar.  Tertullian 
aber  behandelt  den  Xamen  bereits  so,  als  hätten  die  Christen  ihn 
sich  selbst  gegeben'^. 

Schließlich  noch  ein  AVort  zur  Tacitusstelle  (Annal.  XV.  44). 
Daß  die  von  ihm  erwähnte  Verfolgung  wirklich  eine  Christenver- 
folgimg  (keine  Judenverfolgung)  war,  ist  gewiß:  nur  daran  könnte 
man  zweifeln,  ob  nicht  der  Gebrauch  des  Wortes  „Christiani^' 
(„  quos  per  flagitia  invisos  vulgus  Christianos  appellabat'')  ein 
Hysteron-Proteron  ist.  Allein  auch  dieser  Zweifel  scheint  mir 
ungerechtfertigt.  Sind  die  Christen  etwa  um  die  Jahre  40  —  45 
in  Antiochien  so  genannt  worden,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum 
der  Name  nicht  im  Jahre  64  in  Rom  bekannt  gewesen  sein  kann, 
auch  wenn  ihn  die  Christen  nicht  selbst  verbreiteten,  sondern  er 
nur  wie  ein  Schatten  mit  ihnen  ging.  Auch  sagt  Tacitus  (bez. 
seine  Quelle)  nicht,  daß  der  Xame  eine  Selbstbezeichnung  sei, 
sondern  er  sagt  ausdrücklich  das  Gegenteil:  das  Volk  nennt  sie 
so.  Die  Mitteilung  des  Tacitus  schien  aber  insofern  bisher  nicht 
ganz  verständlich,  als  er  zuerst  die  Erfindung  der  Bezeichnung 
„Christiani"  dem  „Volke''  zuschreibt,  dann  aber  selbst  fortfährt 
und  berichtet,  der  „autor  nominis"  sei  Christus.  Ist  dem  so,  dann 
hat  das  „Volk"  doch  etwas  sehr  Selbstverständliches  getan,  indem 
es  die  Anhänger  des  Christus  „Christen"  nannte!  Warum  markiert 
also  Tacitus  die  Bezeichnung  „Christen"  als  eine  appellatio  vulgi? 

')  I  Petr.  4,  16:  /U7j  rig  vfiöJv  :raa%ha)  w?  (povevg  7}  H?J.-TT>jg  ....?('  Sk 
(bg  XQiaziavög ,  also  handelt  es  sich  hier  um  offizielle  tituli  criminum.  Act. 
26,  28  sagt  Agiüj^pa:  h'  d/Jyco  fie  :;Tsid£ig  Xoioziavov  :xoLpjoai. 

■)  Ignatius  braucht  ihn  sogar  als  Adjektiv  (Trall.  6:  xQioziavtj  igocp^) 
und  bildet  das  neue  Wort  Xgcariaviafiög  (Magn.  10;  Rom.  3;  Philad.  6). 

^)  Auch  Lucas  ist  wahrscheinlich  Antiochener  von  Geburt  gewesen 
(s.  d.  alte  Argumentum  zum  Ev.  und  Eusebius);  ebendaher  weiß  er  von  dem 
Ursprung  des  Namens. 

*)  Apol.  3:  ^Quid  novi,  si  aliqua  disciplina  de  magistro  cognomentum 
sectatoribus  suis  inducit?  nonne  philosophi  de  autoribus  suis  nuncupaiitur 
Platonici,  Epicurei,  Pythagorici?" 


348       Die  Missionare ;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Um  das  Rätsel  zu  lösen,  habe  ich  früher  daran  gedacht,  das  Volk 
habe  die  Christen  in  einem  obscönen  oder  verächtlichen  Sinn  so 
genannt  (ich  erinnerte  mich  an  „crista",  bez.  auch  an  das  m.  W. 
nur  einmal  bei  Arnobius  IT,  US  vorkommende  „panchristarii";  „quid 
fullones",  heißt  es  dort,  „lanarios,  phrygioues,  cocos,  panchristarios, 
muliones,  lenones,  lanios,  meretrices?"),  und  dies  habe  Tacitus 
andeuten  wollen,  dabei  aber  selbst  den  wahren  Ursprung  des 
Wortes  aufdeckend.  Allein  diese  Annahme  war  prekär.  Durch 
eine  neue  Yergleichung  der  Tacitus-IIandschrift  (s.  G.  Andresen, 
Wochenschr.  f.  klassische  Philol.,  1902,  Nr.  28,  Kol.  780  f.)  ist  das 
Rätsel  m.  E.  gelöst.  In  der  Handschrift  hat,  wie  ich  mich  selbst 
nach  dem  Faksimile  überzeugt  habe,  ursprünglich  „Chrestianos" 
gestanden  und  erst  nachträglich  ist  das  Wort  korrigiert  worden 
(dagegen  ist  gleich  darauf  „Christus",  nicht  „Chrestus"  geschrieben). 
Nun  ist  alles  klar.  Tacitus  sagt,  das  Volk  nenne  diese  Sekte 
„Clirestiani":  er  aber  —  auf  besseres  Wissen  gestützt,  wie  ja  auch 
Plinius  „Christiani"  schreibt  -  korrigiert  stillschweigend  diese 
Bezeichmmg,  indem  er  den  „autor  nominis"  richtig  „Christus" 
nennt.  Übrigens  hat  Blaß  die  neue  Lesung  in  der  Tacitusstelle 
schon  im  voraus  konjiziert,  und  er  hat  Recht  bekommen.  Schließlich 
ist  noch  darauf  hinzuweisen,  daß  das  „appellabat"  auffallend  ist. 
Warum  schrieb  Tacitus  nicht  „appellat"?  Wollte  er  andeuten, 
daß  man  jetzt  allgemein  über  den  Ursprung  des  Namens  auf- 
geklärt sei  ^  ? 

Noch  ist  eines  Namens  zu  gedenken,  der  freilich  niemals  wirk- 
lich technisch,  aber  sozusagen  halbtechnisch  geworden  ist:  oTon- 
Tiwrrjg  Xqiotov  (miles  Christi)^.  Bereits  dem  Paulus  ist  das  Bild 
so  geläufig  gewesen,  daß  er  es  in  den  verschiedensten  Wendungen 
gebraucht;  man  vergleiche  die  großen  Schilderungen  II  Cor.  10,  3 — 6 
(oTQaTsvojue&n  —  tu  ojiXa  rrjg  orgaTeim;  — ■  Jigog  y.a&algeoiv  oivqo)- 
jiidTO)v  —  koyiojLiovi;  y.aOaioodvTeg  —  aiyjialaniCovTeg)  und  die  aus- 
geführten Bilder  Ephes.  (3,  10  — 18,    ferner  auch  I  Thess.  5,  8  und 


1)  Lietzmann  (Gott.  Gel.  Anz.  1905  Nr.  6  S.  488)  hält  die  oben  ge- 
sehene Erklärung  für  zu  künstlich:  „Tacitus  will  nur  sagen  .Nero  bestrafte 
die  sogenannten  Christiani,  qui  per  flagitia  invisi  erant',  aber  in  seiner 
Manier  zieht  er  das  zu  einem  Satze  zusammen,  wodurch  das  für  , erant' 
richtige  Tempus  auf  das  weniger  geeignete  , appellabat'  übertragen  wird. 
Daran  knüpft  sich  dann  ganz  natürlich  eine  historische  Bemerkung  über 
Herkunft  und  Art  der  erwähnten  Sekte."  Aber  sollte  das  Zusanmieutreffeu 
eines  , weniger  geeigneten"  Tempus  mit  dem  Wechsel  von  „Chrestiani  Christus" 
zufällig  seinV 

■■^)  Nach  dem  Erscheinen  der  1.  Auflage  dieses  Werks  habe  ich  ausführ- 
licher über  dieses  Problem  gehandelt  in  dem  Büchlein:  ,,Militia  Christi. 
Die  christliche  Religion  und  der  Soldatenstand  in  den  ersten  drei  Jabr- 
hundetten",  1905. 


Die  Namen  der  Christgläubigen.  349 

1  Cor.  9,  7;  TI  Cor.  11,S;  man  beachto  weiter,  daß  er  seine  Mit- 
gefangenen „^ritkriegsgefangene"  nennt  (Rom.  16,  7;  Col.  4,  10; 
Philem.  2;>),  seine  Mitarbeiter  „Mitsoldaten"  (Phil.  2,  25;  Philem.  2). 
In  den  Pastoralbriefen  treffen  wir  dasselbe  Bild  wieder  (I  Tim.  1,18: 
Iva  oTQarev}]  i)]v  y.alip'  orgmeiav,  II  Tim.  2,  3f. :  ovvxaxoTiddi^oov 
cos  y.albg  OTQarKÖTijg  Xq.  '/.•  ovÖ8ig  OTQaTsvojiievog  ifi7i?JxFTai  TaTg 
xov  ßiov  nQayjiiazEiaig,  Tra  to>  oioaTaXoyijoavTi  ugeoi].  eäv  dk  ä&h'jo^j 
Tig,  ov  otecparovTni  ear  /<>)  rouiuMg  di^h'jo}],  II  Tim.  3,6:  alyjiaXcoTi- 
CovTeg  ywaiHaoia).  Die  beiden  militärischen  Grnndsätze  waren  schon 
im  1.  Jahrhundert  für  die  Apostel  und  Missionare  festgestellt:  (l)  sie 
haben  Anspruch  ihren  Lebensunterhalt  („Sold")  von  anderen  (den 
Bekehrten,  den  Gemeinden)  zu  empfangen,  (2)  sie  dürfen  sich 
nicht  in  die  bürgerlichen  Geschäfte  verflechten.  Das  Bild  ist  seit- 
dem in  der  Kirche  nicht  mehr  untergegangen'^  und  hat  sich 
namentlich  bei  den  Lateinern  (vor  allem  für  die  Märtyrer,  aber 
auch  für  die  Christen  überhaupt)  so  fest  eingebürgert^,  daß  „milites 
Christi"  als  Selbstbezeichnung  der  Christen  bei  ihnen  fast  technisch 
geworden  ist;  man  vgl.  die  Schriften  Tertullians  und  vor  allem  den 
Briefwechsel  Cyprians  —  es  findet  sich  kaum  ein  Brief  von  ihm, 
der  nicht  die  Christen  als  milites  dei  et  Christi  oder  als  milites 
Christi  bezeichnet.  Hier  heißt  auch  Christus  der  „impenitor"  der 
Christen^.  Daß  die  Abendländer  das  Bild  bevorzugten  und  in 
ihre   festen  Vorstellungen    aufnahmen,    kann   man   aus   dem  mehr 


')  Man  vgl.  z.  B.  Ignat.  ad  Polyc.  9  (wo  auch  die  lateinisch -technischen 
Ausdrücke  sehr  bemerkenswert):  dgecxere  (<>  OTQaTEvea&e,  acp''  ov  xai  rä  (jt^xüria 
y.ouiaeoOE-  fiijn;  v/uov  Öeaeormg  evQEdfj-  ro  ßä:inofia  vficöv  t.i£vhoi  dx;  Öji?m 
[Schild],  7j  aioTig  w?  TiEQixtqiaXaia ,  r)  dyu.i}]  cog  bögv ,  i]  Vjiofiovlj  wg  .lavojiUa- 
rä  ÖE.-TÖatia  v/iojv  tu  k'oya  vucör ,  Iva  xö.  äxxSTiTa  v/iöii'  ä'gia  yoinatjods  (cf.  ad 
Smj'rn.  1 :  Iva  änij  ovaoijfior  Eig  loig  alcdrug). 

-)  Schon  der  I.  Clemensbrief  ist  hier  sehr  charakteristisch.  Nicht  nur 
braucht  er  militärische  Bilder  (z.  B.  c.  21 :  fu)  hnoxaxzETv  tjjuäg  djro  rov  {^e)J]- 
fiaxog  avtov ,  cf.  c.  28:  xiöv  avxofio^.ovrrwr'  dji'  ainov),  sondern  er  stellt  c.  37 
das  römische  Militär  den  Christen  als  Muster  und  Vorbüd  auf:  ZrQarEvow- 
/iiE&a  ovv,  ärdgEg  dÖEkqoi,  fiExu  ndai-jg  ExxEVslag  iv  xoig  dfiojf(Oig  jrQooxdyjiiaoiv 
avxov'  xaravor]ocofM£v  xovg  oxgaxEVO/iiEvovg  xoTg  rjyovfdvoig  rji.icov,  jröjg  EVzÜHXcog, 
7io)g  EVEiHxwg ,  jiwg  v:;ioxexayf(Evcog  ejuxeIovoiv  ra  8iaxaoo6/HEra '  ov  jidvxEg  Etoiv 
EJiaQxoi  ov8e  yüdaQXOi  ov8e  ExaxövxaQXOi  ovöe  7i£VTi]x6vxaQXOc  ovSe  t6  xa^E^T/g, 
«A/'  k'xaoTog  Ev  toj  ISicp  xdyfian  zu  EJKTaaaöiiEva  v.-io  xov  ßaoilscog  xcu  xcov  i/yov- 
J.IEVOJV  e.-iixe/.e7. 

')  Cf.  ep.  1.5,  1  (au  die  Märtyrer  und  Konfessoren):  „nam  cum  omnes 
milites  Christi  custodire  oportet  praecepta  imperatoris  sui  [ebenso  Lactan- 
tius,  Instit.  VI,  8  und  VII,  27],  tunc  vos  magis  praeceptis  eins  obtemperare 
plus  convenit."  Der  Ausdruck  „castra  Christi"  ist  Cyprian  besonders  geläuing; 
vgl.  auch  im  Zusammenhang  mit  dem  militärischen  Bilde  den  Ausdruck 
„unitas  sacramenti"  ep.  -54,  1.  Cf  Pseudoaugustin  (Aug.  Opp.  V  App.  p.  150): 
„Milites  Christi  sumus  et  Stipendium  ab  ipso  donativumque  percepimas."  — 
Es  braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden,   daß  in  der  alten  Christenheit  das 


;>Ö0       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

aggressiven  und  zugleich  aufs  Praktische  gerichteten  Sinn  derselben 
erklären.  Unterstützt  wurde  die  Einbürgerung  durch  den  Umstand, 
daß  im  Abendland  das  Wort  „sacramentum"  (für  jedes  juvar/joiov, 
aber  auch  für  alles  Heilige)  sehr  geläufig  war,  und  daß  speziell 
auch  die  Taufe  bez.  das  Gelöbnis  bei  derselben  „sacramentum" 
hieß.  „Sacramentum"  war  aber  ein  militärisches  Wort  („Fahnen- 
eid"): somit  empfanden  sich  alle  abendländischen  Christen  auf 
Grund  des  Sakraments  notwendig  als  Soldaten  Christi  (man  ver- 
gleiche besonders  Tertullians  Schrift  De  Corona  milit.).  Daß  von 
hier  aus  das  Aufkommen  des  Wortes  „pagani"  für  die  Heiden 
zu  erklären  ist,  ist  jüngst  wahrscheinlich  gemacht  worden  (Zahn, 
Neue  kirchl.  Zeitschrift  1S99  S.  2Sff.).  Man  kann  nämlich  nach- 
weisen, dali)  das  Wort  schon  im  Gebrauch  war  (erste  Jahre  Valen- 
tinians  L,  s.  Theodos.  Cod.  XYI,  2,  Ib),  als  die  Entwicklung  noch 
lange  nicht  so  weit  vorgeschritten  war,  daß  man  alle  Nichtchristen 
als  „Dörfler"  bezeichnen  konnte.  Dann  aber  muß  das  Wort  den 
auch  sonst  nachweisbaren  Sinn  „Zivilisten"  haben  im  Gegensatz 
zu  „milites".  Die  NichtChristen  sind  Leute,  die  Gott  bez.  Christo 
den  Fahneneid  nicht  geleistet,  also  am  Sakrament  nicht  Anteil 
haben  (Lactant.;  „sacramentum  ignorantes"),  d.  h.  Zivilisten,  also 
„pagani"  ^. 


christliche  Kriegertum  stets  ein  Bild  geblieben  ist  (im  stärksten  Unterschied 
zum  Islam).  Nur  Tertullian  hat  im  Apologeticus  mit  dem  Gedanken  gespielt, 
die  Christen  könnten  einmal  gegen  die  Römer  die  Waffen  erheben  wie  die 
Parther  und  Marcomannen.  Aber  eben  nur  gespielt  hat  er  mit  dem  Gedanken; 
er  weiß  sehr  wohl  und  sagt  es,  daß  den  Christen  das  „occidere"  nicht  erlaubt 
sei,  sondern  nur  das  „occidi". 

1)  Auf  Tertull.  de  corona  11  („perpetiendum  pro  deo,  quod  aeque  fides 
pagana  condixit"  ....  „apud  Jesum  tam  miles  est  pagauus  fidelis,  quam 
paganus  est  miles  fidelis",  s.  de  pallio  4)  darf  man  sich  dafür,  daß  paganus 
=  heidnisch  sei,  nicht  berufen;  denn  hier  bedeutet  , fides  pagana"  nicht,  wie 
man  vermuten  könnte,  den  heidnischen  Glauben,  sondern  die  Glaubenspflicht 
derer,  die  nicht  dem  Militärstande  angehören,  also  der  Zivilisten.  Die  gleich- 
folgende  Ausführung  macht  das  klar;  aber  sie  zeigt  auch,  daß  ,, paganus" 
als  „Zivilist"  ganz  geläufig  gewesen  ist.  In  der  Tat  läßt  sich  das  Wort  in 
dieser  Bedeutung  schon  bei  Tacitus  (an  sieben  Stellen)  belegen.  Diese 
Bedeutung  ist  sicherlich  aus  der  Soldatensprache  in  den  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch im  Laufe  des  1.  und  2.  .Jahrhunderts  übergegangen.  Die  gewöhn- 
liche Erklärung  des  Worts  =  Dörfler  stützt  man  (so  noch  Schubert,  Lehr- 
buch der  Kirchengeschichte  I  S.  477)  auf  Ulfilas,  der  entsprechend  das  Wort 
, Heiden"  (von  Heide  =  der  pagus)  geprägt  habe,  ferner  auf  die  späteren 
lateinischen  Kirchenväter,  die  jjagaui  als  Dörfler  erklären  (s.  z.  B.  ürosius, 
adv.  paganos,  praef  c.  9:  „pagani  alieni  a  civitate  dei  ex  locorum  agrestium 
conpitis  et  pagis  pagani  vocantur").  Allein  Wilh.  Schulze  (Berliner  Akad. 
Sitzungsber.  1905,  6.  Juli)  ist  der  Meinung,  daß  das  Wort  , Heiden"  bei  Ulfilas 
nichts  mit  der  „Heide"  zu  tun  hat,  sondern  ein  Fremdwort  ist,  nämlich  = 
yßvo;.  das  damals  auch  nh'og  gesprochen  worden  sei,  wie  die  Wiedergabe  bei 
den    Kopten    und    Armeniern    beweise.     Sollte    diese    Ableitung    aber    auch 


Die  Namen  der  Christgläubigen.  3Ö1 

Die  Heidon  haben  die  christlichen  Selbstbezeichnungen,  wie 
sie  sie  aus  dem  Munde  der  Christen  hörten,  zum  Teil  rezi{)iertK 
aber  natürlich  am  häufigsten  den  von  ihnen  selbst  geprägtem 
iSTamen  „Christen"  gebraucht.  Daneben  finden  sich  Schimpf-  und 
Spottnamen  wie  „ Cxaliläer",  „Eselsanbeter"  (Tertull.,  Apol.  IG, 
cf.  Minucius).  „Magier"  (Acta  Theclae,  Tertull.),  „Drittes  Ge- 
schlecht", „copria"  ^.  „sarmaticii"  und  „semaxii"  ^  (Tertull.,  Apol.  50). 


Zu  den  „Xamen"  der  Christen  gehört  auch  die  Behandlung 
der  Frage,  ob  die  einzelnen  Christen  sich  selbst  als  Christen  neue 
Namen  gegeben  haben  bez.  wie  sich  die  Christen  in  den  ersten  drei 


unrichtig  sein,  so  kann  doch  weder  Ulfilas  noch  einer  der  späteren  Lateiner 
entscheiden,  was  paganus  ursprünglich  bedeutet  hat.  Sie  kannten  eben  den 
ursprünglichen  Sinn  nicht  mehr.  Um  das  Jahr  360  —  von  der  Inschrift 
CIL  X,  2.  7112  sehe  ich  ab  —  können  die  nicht-christlichen  Religionen  noch 
nicht  als  ,  Bauernreligionen "  bezeichnet  worden  sein.  Jeder  Zweifel  wäre 
beseitigt,  wenn  die  Aufschrift  des  sog.  Carmen  apolog.  des  Commodian  (wie 
Gennadius,  de  vir.  inl.  15  nahelegt)  „Adversus  paganos"  gelautet  hätte.  Leider 
entbehrt  das  einzige  uns  erhaltene  Manuskript  des  Titels.  —  Der  Ursprung 
des  militärischen  Bildes  liegt  —  bevor  im  Abendland  das  Wort  „sacrameu- 
tum"  seine  Folgen  geltend  machte  —  in  dem  großen  Kampf,  den  jeder  Christ 
mit  dem  Satan  und  den  Dämonen  zu  kämpfen  hat  (Ephes.  6,  12:  ovx  sonv 
7]fiTv  rj  iiäXr)  Tioog  aiua  y.ai  aäoHa,  aU.ä  jioog  zag  dg/dg,  jiQog  rag  i^ovaiag,  jcgog 
Toi'g  y.oa^ioy.QÜzooag  lov  oxözovg  zovzov,  nQog  za  Jivev[-mziy.a  zfjg  jiovtjQiag  sv  roTg 
EJiovQavLotg).  Nachdem  sich  der  Staat  feindlich  gegen  die  Christen  gestellt 
hatte,  ergab  sich  auch  hier  das  Bild  vom  Soldatenstand  und  Kampf  wie  von 
selbst.  Gott  schaut  auf  seine  Kriegerscharen  herunter:  .in  congressione 
nominis  sui  desujjer  spectans  volentes  conprobat,  adiuvat  dimicantes,  vin- 
centes  corouat  etc."  (Cypr.,  ep.  76,  4).  Ausgeführte  militärische  Bilder  fehlen 
nicht,  vgl.  z.  B.  den  77.  an  Cyprian  gerichteten  Brief  (c.  2) :  „tu  tuba  canens 
dei  milites  caelestibus  armis  instructos  ad  congressionis  proelium  excitasti 
et  in  acie  prima  spiritali  gladio  diabolum  interfecisti,  agmina  quoque  fratrum 
liinc  et  inde  verbis  tuis  composuisti,  ut  insidiae  inimico  undique  tenderentur 
et  cadavera  ipsius  publici  hostis  et  nervi  concisi  calcarentur.'"  Die  africa- 
nischen  Märtyrerakten  sind  angefüllt  von  militärischen  Ausdrücken  und 
Bildern,  s.  z.B.  die  Acta  Saturnini  et  Dativi  c.  15  (Ruinart,  Acta  Mart. 
p.  420).  Daß  die  „milites'-  des  Mithras  auf  die  christlichen  Vorstellungen 
vom  Christenstand  als  einem  Kriegerstand  eingewirkt  haben,  läßt  sich  nicht 
nachweisen  und  ist  auch  nicht  wahrscheinlich  (bei  Mithras  sind  die  ,.milites'' 
ja  nur  eine  der  sieben  Stufen,  und  direkte  Entlehnungen  aus  einem  heidnischen 
Kult,  die  schon  in  ältester  Zeit  universal-kirchlich  geworden  wären,  sind  über- 
haupt nirgends  anzunehmen).  Dagegen  ist  es  wahrscheinlich,  daß  Christen 
im  Heere  für  sich  dieselbe  Behandlung  und  Rücksicht  wünschten,  die  dort 
die  Mithras -Verehrer  genossen.  So  erklärt  sich  auch  die  Handlungsweise 
jenes  Soldaten,  die  Tertullian  in  der  Schrift  De  Corona  besprochen  hat. 

')  Celsus  spricht  z.  B.  von  der  Kirche  bez.  „der  großen  Kirche"  (im 
Unterschied  von  den  kleineren  christlichen  Sekten). 

^)  S.  Commod.,  Carmen  apolog.  612;  Lactant.  V,  1,  27. 

^)  Verhöhnung  der  Todesarten  der  Christen  als  Märtyrer. 


352       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Jahrhunderten  zu  den  gebräuchlichen  heidnischen  Namen  gestellt 
haben.  Der  Exkurs  Ji,  der  diesem  Kapitel  angehängt  ist,  soll  auf 
diese  Fragen  Antwort  geben. 


Exkurs  I. 
Ol   ^PiÄoi,. 


Der  Name  (PIXoi  (oixeioi)  tov  Deov  („amici  dei'^  „cari  deo") 
wurde  von  den  Christen  nicht  selten,  wenn  auch  nicht  eigentlich 
technisch,  als  Selbstbezeichnung  gebraucht.  Er  geht  auf  das 
Prädikat  Abrahams,  der  in  der  jüdischen  ITberlieferung  ,,Freund 
Gottes"  hieß,  zurück^  und  besagte,  daß  jeder  einzelne  Ohrist  — 
später  freilich  wurde  die  Bezeichnung  vornehmlich  auf  die  Märtyrer 
und  Konfessoren  angewendet  —  in  demselben  Verhältnis  zu  Gott 
stehe  wie  Abraham  2.  Nach  zwei  Stellen  in  den  Evangelien  hat 
Jesus  seine  Jünger  seine  „Freunde"  genannt:  aber  diese  Be- 
zeichnung (bez.   o?  yvoxjfuof)    hat   später  nur  selten  nachgewirkt  '■^. 

')  S.  Jacob.  2,  2o  mit  den  Noten  der  Ausleger.  Auch  die  Propheten 
wurden  manchmal  so  genannt,  s.  HippoL,  Philos.  X,  33:  dixatoi  urdoeg  ysys- 
vip'iai  (fÜMi  §Eov-  ovToi  nooffrjxaL  yJy.}.i]yTai.  Justin  nennt  die  Propheten,  die 
Verfasser  der  alttestamentlichen  Schriften,  Xoiotov  qiloi  (Dial.  c.  Tryph.  8). 
Johannes  der  Täufer  als  qllog  7)/oor,  .loh.  3,  2'J.     Cf.  Euseb.,  Demonst.  I,  5. 

-)  Ephes.  2,  19:  ovxhi  eoze  ^iroi  xal  uüooiHoi,  all'  eois  ovi.i7ioiTTai  t&v 
äyUov  xoX  oiy.fini  Tor  Ihov.  Valentin  (bei  Clemens,  Strom.  VI,  6,  52):  Xaög  6 
lov  ■>Y/am]itfvov ,  6  (j  dovnero?  Hat  (/  iltov  avröv.  Clemens,  Protrept.  12,  122:  el 
y.oira  tä  f/  iloiv,  dsocfiUjg  de  6  ävd()cojTog  zco  ßeö)  —  xal  yag  oi-r  (j?i}.og  fisanEV- 
ovtog  Tov  ?.öyov  —  yivsTai  öl]  ovv  zä  mnvza  zrw  uvOqmjtov,  ozi  za  jzdvza  zov  Oeov, 
y.al  y.oiva  afupoTv  zolv  (pü.oiv  zu  mirza,  zov  dsov  xal  zov  dv&Qcojzov.  Paedag.  I,  3: 
(pi/Mg  6  är&QMjiog  zo>  dsM  [um  der  x^rt  der  Schöpfung  willen;  also  sind  alle 
Menschen  Freunde  Gottes].  Origenes,  de  princ.  1,6,  4:  „amici  dei".  Tertull., 
de  poenit.  9:  ,,cari  dei"  [die  Märtyrer];  Cypv.,  ad  Demetr.  12:  ,cari  deo". 
Pseudocleraens,  Recogn.  I,  24:  „Ex  prima  voluntate  iterum  voluutas;  post 
haec  mundus;  ex  mundo  tempus;  ex  hoc  hominum  raultitudo;  ex  multitudine 
electio  amicorum,  ex  (piorum  unaniniitate  pacificum  construitur  dei  regnum." 
Pseudocypr.,  De  singul.  der.  27:  „amici  dei". 

^)  Luc.  12,  4:  Uyoi  v/nh',  zoTg  cplloig  fiov.  Job.  15,1311'.:  vfuTg  cpÜMi  /lov 
iOZE ,  Euv  :zoif/zE  u  EVZEX'/.oitai  vfuv.  ovyJ.zi  ?Jyco  vfiäg  6ov/.ovg  ....  {\näg  öe 
El'Qfjy.u  (pü.ovg ,  özi  jrärza  ä  yxovaa  nagä  zov  jzazQÖg  f(ov  iyrojgioa  viitr.  Daher 
die  Jünger  als  yrojQtfioi  Jesu  (Clemens,  Paedag.  I,  5  init.  Iren.  IV,  13,4:  „In 
eo  quod  aniicos  dei  dicit  suos  discipulos,  manifeste  ostendit,  se  esse  verbum 
dei,  quem  et  Abraham  .  .  .  sequens  amicus  factus  est  dei  .  .  .  quoniam  ami- 
citia  dei  ovyyo)g>jziy.i'i  eoti  zijg  äüaraaiug  zolg  Ejrdaßovan'  avzyv'^).  Ein  apo- 
kryphes Ilerrnwort  sind  vielleicht  die  von  Clemens  (Quis  dives  33)  zitierten 
Worte:  öwom  ov  /wvor  zoTg  rpü.oig,  uU.a  yal  zotgifü.otg  zmv  cpi'hor,  doch  ist  die 
Herkunft  dos  Satzes  nicht  sicher  (s.  Jülicher,  Theol.  Lit.  Ztg.  1894  Nr.  1). 


Ol  ^iloi.  353 

Zu  unterscheiden  von  dem  Ausdruck  „(p'doi  xov  d^eov  (Xqiotov)" 
ist  der  andere  „ol  cpiXot".  Haben  sich  die  Christen  auch  als  „die 
Freunde"  untereinander  bezeichnet?  Man  weiß,  welche  JJedcutung 
die  Freundschaft  in  den  o;riechischen  Philosophenschulen  gewonnen 
hatte.  Niemand  hat  über  sie  edler  und  wärmer  gesprochen  als 
Aristoteles;  nirgendwo  ist  sie  lebendiger  verwirklicht  worden  als 
in  den  Schulen  der  Pythagoreer  und  Epicureer,  und  wenn  jene 
sogar  bis  zur  Gütergemeinschaft  fortschritten ,  so  hat  der  Samier 
sie  noch  übertroffen  durch  die  Anweisung:  juij  xmazideodai  läg 
ovatag  e^g  to  noivbv  UTnoTovvTCov  ya.Q  to  roiourov'  f.i  S  ämoxwv, 
ovöt-  qihov.  An  dem  Verkehr  des  Socrates  mit  seinen  Schülern, 
die  zugleich  seine  Freunde  waren,  besaß  man  ein  fortwirkendes 
Yorbild :  wie  er  mit  ihnen  gelebt  hat,  wie  er  bis  zur  Todesstunde 
aufgeschlossen  und  tätig  für  sie  geblieben  war,  wie  alle  Erkenntnis, 
die  er  sie  lehrte,  sie  als  Freundeswort  ergriffen  hat,  blieb  unver- 
geßlich. Die  auf  die  Bedürfnislosigkeit  des  vollkommenen  Weisen 
gestellte  Ethik  der  Stoa  ließ  zwar  keinen  Raum  für  die  Freund- 
schaft: aber,  wie  so  oft,  durchbrach  auch  hier  der  Stoiker  die 
Theorie  seiner  Schule:  Seneca  ist  nicht  der  einzige  unter  den 
stoischen  Moralisten  gewesen,  der  die  Freundschaft  verherrlicht, 
ihre  sittliche  Notwendigkeit  nachgewiesen  hat.  Kein  Wunder, 
daß  sich  die  Epicureer,  wie  vor  ihnen  schon  die  Pythagoreer, 
einfach  „die  Freunde"  genannt  haben.  Es  war  der  schlichteste 
und  zugleich  tiefste  Ausdruck  für  die  innere  Lebensgemeinschaft, 
in  die  man  sich  durch  den  Eintritt  in  den  Schulverband  versetzt 
wußte.  Mochte  man  an  die  gemeinsame  Verehrung  des  Meisters 
oder  an  die  Gremeinschaft  der  Gesinnung  imd  der  Bestrebungen 
oder  an  die  Hilfeleistung  denken,  die  man  den  Genossen  schul- 
dig war  —  die  Bezeichnung  „die  Freunde"  deckte  alle  diese 
Begriffe. 

Man  sollte  denken,  daß  sich  auch  die  Christen  „die  Freunde" 
genannt  haben;  allein  kaum  ein  Ansatz  findet  sich  dafür.  In 
einem  der  „Wirstücke"  der  Apostelgeschichte  (27,  3)  heißt  es, 
es  sei  dem  gefangenen  Paulus  gestattet  worden  ngog  rorg  (plXovg 
jTOQev&EVTi  ETiLfXEkEiag  Tvxelv.  Wahrscheinlich  bedeutet  hier  ol  rpiloi 
nicht  spezielle  Freunde  des  Apostels,  sondern  Christen  überhaupt 
(die  sonst  in  der  Apostelgesch.  stets  ol  äöeXcpoi  heißen).  Dies  ist 
aber  auch  die  einzige  Stelle  in  der  ältesten  Literatur,  die  ange- 
führt werden  kann  —  der  klassisch  gebildete  Lucas  hat  sich 
einmal  die  klassische  Bezeichnung  zu  wählen  erlaubt.  In 
III  Joh.  15  (dojidCovrai  oe  ol  (pilof  äojid^ov  rovg  (piXovg  xax 
övojiia)  sind  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  nicht  alle  Christen 
in  Ephesus  und  am  Ort  des  Adressaten,  sondern  spezielle  Freunde 
gemeint.     Augenscheinlich  hat  sich  die  naheliegende  Bezeichnung 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  23 


354        Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

ol  (piloi  in  dor  großen  Kirche  nicht  eingebürgert,  weil  man  eine 
noch  innigere  und  wärmere  bevorzugte:  ol  ädeXtpoi  (s.  o. 
S.  340  ff.).  In  gnostischen  Eo-eisen  dagegen,  die  stärker  unter  dem 
Einflüsse  der  griechischen  Philosophie  standen,  scheint  die  Be- 
zeichnung „ol  (piAoi"  im  2.  Jahrhundert  nicht  gefehlt  zu  haben. 
So  hat  Valentin  eine  Homilie  geschrieben  jieqI  (pllwr  (s.  Clemens, 
Strom.  VI,  (),  52),  Epiphanes,  der  Sohn  des  Carpocrates,  gründete 
einen  christlichen  kommunistischen  Verein  nach  dem  Vorbild  der 
Pythagoreer  und  vielleicht  auch  nach  dem  Vorbild  der  epi- 
cureischen  Schulorganisation  (Clemens,  Strom.  III,  5 — 9),  und  in 
der  wahrscheinlich  gnostischen  Abercius  -  Inschrift  heißt  es,  daß 
der  Glaube  überall  den  Fisch  (joTg)  cpikotg  als  Nahrung  darge- 
boten habe.  Clemens  Alex,  würde  auch  nichts  gegen  die  Be- 
zeichnung des  Kreises  der  wahren  Grnostiker  als  „Freunde"  ein- 
gewendet haben.  Von  ihm  stammt  das  schöne  Wort  (Quis  dives  32): 
Ol)  jU7]  ovo'  eItifv  6  y.vQiog  (Luc.  19,  6)  Aög,  ij  Uagcioxeg ,  t) 
EvEQyhi'joov,  i)  Bo})di]oov  <PiXov  dh  Jiolrjoai'  6  dk  (piXog  ovx 
ex  ßiäg  döoecog  ylverai,  dX?,'  i^  öXr]g  ävajiavoecog  y.ai  ovvovoiag 
jnaxgdg. 


Exkurs  II. 

Die  Rufnamen  der  Christen. 

Reichen  die  biblischen  Rufnamen  schon  in  die  drei  ersten 
Jahrhunderte  zurück?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  umschließt 
einige  lehrreiche  Beobachtungen. 

Schlagen  wir  die  ältesten  Synodalakten  auf,  die  wir  besitzen, 
die  Akten  einer  nordafricanischen  Synode  vom  Jahre  256  (in  den 
Werken  Cyprians).  Siebenundachtzig  Bischöfe  haben  hier  ihr 
Votum  abgegeben.  Unter  den  siebenundachtzig  Namen,  von  denen 
die  Mehrzahl  lateinisch,  eine  beträchtliche  Anzahl  griechisch  ist, 
findet  sich  kein  einziger  alttestamentlicher  Name,  und  nur  zwei 
neutcstamentliche,  nämlich  Petrus  (Nr.  72)  und  Paulus  (Nr.  47). 
Man  brauchte  also  in  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  in  Nord- 
africa  noch  ganz  unbefangen  die  alten  heidnischen  Namen;  das 
Bedürfnis,  sich  christliche  Namen  zu  geben,  regte  sich  kaum  noch. 
So  finden  wir  es  auch  in  allen  andern  Gebieten  der  Christenheit: 
Inschriften  und  Schriftwerke  bezeugen  es.  daß  die  Christen  bis 
über  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  in  Ost  und  West  aus- 
schließlich oder  fast  ausschließlich  die  alten  heidnischen  Namen 
ihrer   Gegend   gebraucht    haben,    ja    sehr   häufig  Namen   aus    der 


Die  Rufnamen  der  Christen.  ',]')') 

heidnischen  ^lytlioUtgie  und  dcv  ^Fantik.  Apollinaris.  Ai)()U()nius, 
Heraclius,  Saturninus,  Mercurius.  Bacchyhis,  Bacchylide^,  Serapion, 
Satyrus.  Aplirodisius,  Dionysius,  Hermas,  Origenes  usw.,  ferner 
Faustus,  Felix.  Felicissimus  finden  sich  als  ISTaiuen  von  Christon. 
j.Die  Märtyrer  starl)en.  weil  sie  sich  weigerten,  den  Göttern  zu 
opfern,  deren  Xamen  sie  trugen!"' 

Merkwürdig  —  die  älteste  Kirche  tilgte  in  ilirer  Mitte  alle 
Vielgötterei  aus  und  verbannte  die  heidnische  ^lytliologie  als  teuf- 
lisch, sie  lebte  mit  den  Gestalten  der  Bibel  und  von  ihren  Sprüchen; 
aber  sie  brauchte  unbefangen  die  bisher  üblichen  heidnischen 
Xamenl  Das  Problem  wird  noch  größer,  wenn  man  bedenkt, 
daß  in  der  Bibel  selbst  Beispiele  für  Umnennungen  zu  finden  sind  \ 
daß  Zunamen  und  Xamensänderungen  im  römischen  Reich  häufig 
vorkamen,  ja  von  Kaiser  Caracalla  im  Jahre  212  allen  Freien 
gesetzlich  gestattet  wurden,  und  daß  der  Xame  im  Alterrum  von 
den  meisten  keineswegs  als  etwas  Gleichgültiges  angesehen  wor- 
den ist. 

Man  kann  geneigt  sein,  diese  Gleichgültigkeit  gegen  die 
Namen  bei  den  ältesten  Christen  auf  verschiedene  Gründe  zurück- 
zuführen. Man  kann  darauf  verweisen,  daß  eine  Reihe  heidnischer 
Namen  von  der  frühesten  Zeit  da:durch  gleichsam  geheiligt  sein 
mußte,  daß  sie  von  hervorragenden  Christen  getragen  worden 
waren.  Man  kann  ferner  daran  erinnern,  daß  die  Christen  sehr 
früh  in  die  Lage  gekommen  sind,  energisch  darauf  hinzuweisen, 
daß  Namen  etwas  Indifferentes  sind.  A\"urden  sie  doch  seit  Trajan 
auf  den  bloßen  Namen  ,. Christ"  hin  verurteilt,  ohne  daß  man  eine 
X'ntersuchung  darüber  für  nötig  hielt,  ob  sie  auch  wirklich  etwas 
Schlimmes  getan  hätten.  Demgegenüber  haben  die  christlichen 
Apologeten  Justin,  Athenagoras  und  Tertullian  betont,  daß  der 
Name  ein  hohles  Gefäß  sei,  daß  es  eine  ,,Klage  gegen  Wörter" 
vernünftigerweise  nicht  geben  dürfe,  doch  —  fügt  Tertullian  hinzu 
—  außer  wenn  der  Name  barbarisch  lautet  oder  unglückbedeutend 
ist  oder  einen  Schimpf  oder  eine  Unanständigkeit  enthält.  „Un- 
glück bedeutend"  —  aber  bedeuteten  „dämonische"  Namen  wie 
Saturnin.  Serapion.  Apollonius.  Aplirodisius  im  Sinne  der  Christen 
kein  Unglück,  und  legten  umgekehrt  die  Christen  nicht  selbst  dem 
W'ortlaut  gewisser  Formeln,  ähnlich  wie  die  Heiden,  eine  heil- 
same Kraft  bei,  z.  B.  dem  Aussprechen  des  Jesusnamens  beim 
Exorzismus  und  sonst?     Also  von   hier   aus   läßt    sich  die  Gleich- 


')  So  heißt  es  in  den  Evangelien,  Jesus  habe  den  Simon  „Kephas"  und 
die  Söhne  Zebedäi  „Boanerges"  genannt.  In  der  Apostelgeschichte  (4,  36) 
liest  man.  daß  die  Apostel  einen  Manu  namens  Joseph  ^Barnabas"  genannt 
haben  (nicht  hierher  gehört  Saulus  Paulus). 

23* 


356       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

gültigkeit  der  Cliristen  gogen  mythologische  Rufnamen  doch  nicht 
verständlich  machen?     Aber  wie  ist  sie  dann  zu  erklären? 

Es  gil)t  auf  diese  Frage  schwerlich  eine  andere  Antwort  als 
die,  daß  die  allgemeine  Sitte  der  Welt,  in  der  man  lebte,  zunächst 
stärker  gewesen  ist  als  jede  Reflexion.  Das  Argument  gegen 
neue  Xamen:  „Ist  doch  niemand  in  deiner  Freundschaft,  der  also 
heiße  (Luc.  1.  61)",  ist  zu  allen  Zeiten  eine  Macht  gewesen.  So- 
dann —  man  behielt  die  Namen  bei,  wie  man  vieles  Weltliche 
tragen  und  erti'agen  mußte,  solange  man  noch  in  dieser  Welt  war. 
Es  lohnte  sich  auch  nicht,  den  Namen,  mit  dem  man  sich  vor- 
fand, zu  korrigieren.  Hatte  doch  jeder,  mochte  er  nun  Apollonius 
oder  Serapion  heißen,  durch  die  Taufe,  ja  schon  als  Katechumen, 
bereits  einen  zweiten,  eigentlichen  und  bleibenden  Namen  emp- 
fangen, den  Namen  „Christ".  Ihn  führte  jeder  Gläubige  wie  einen 
Eigennamen.  In  den  Akten  des  Car])us  (zur  Zeit  ]Marc  Aureis) 
fragt  der  Richter  den  Angeklagten:  „Wie  heißt  du?"  Der  Ge- 
fragte erwidert:  „Als  ersten  und  vorzüglichen  Namen  führe  ich 
den  Namen  „Christ",  wenn  du  aber  auch  meinen  weltlichen 
Namen  verlangst  —  ich  heiße  Carpus."  Man  führte  den  „welt- 
lichen" Namen  fort,  aber  er  galt  sozusagen  nicht  als  der  wahre 
Name.  Von  dem  Christen  Sanctus  wird  in  dem  Bericht  über 
die  Märtyrer  in  Lyon  erzählt,  er  habe  dem  Richter  nicht  seinen 
Eigennamen  genannt,  sondern  auf  alle  Fragen  luu'  erwidert:  „Ich 
bin  ein  Christ^." 

Mit  diesem  einen  Namen  hat  man  sich  bis  gegen  die  Mitte 
des  dritten  Jahrhunderts  begnügt  und  daneben  die  weltlichen 
Namen  getragen,  „als  trüge  man  sie  nicht".  Auch  Beinamen  mit 
christlichem  Sinn  sind  höchst  selten.  Es  ist  eine  Ausnahme,  daß 
sich  der  Bischof  Ignatius  am  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts 
als  Christ  auch  Theophorus    nennt-.     Anders  wurde   es  erst  etwa 


')  Ähnlieh  Euseb.,  Mart  Pal.  y.  82  (Vi ölet):  ^Die  Konfessoren  unter- 
ließen es,  auf  die  Frage  des  Richters ,  woher  sie  wären ,  von  ihrer  irdischen 
Heimatsstadt  zu  sprechen,  führten  dagegen  ihre  wahre  Heimat  an  und  sagten, 
sie  wären  aus  dem  oberen  Jerusalem"  (vgl.  dazu  Eugipii  epist.  ad  Pascasium  9, 
wie  sich  der  h.  Severin  über  seine  Herkunft  geäußert  hat).  Daß  ^Christianus" 
wie  ein  Name  betrachtet  wurde,  bezeugt  auch  noch  Augustin.  Auf  seine 
Kindheit  zurückblickend  schreibt  er  (obgleich  er  doch  erst  als  Mann  getauft 
worden  ist):  „In  ecclesia  mihi  nomen  Christi  infanti  est  indituni"  (Confess. 
VI,  4,  5). 

-)  Andere  Beinamen  (nicht  christliche)  kommen  auch  sonst  bei  Christen 
vor,  vgl.  Tertull.  ad  Scapulam  4:  „Proculus  Christianus,  qui  Torpacion 
cogiiominabatur."  Dergleichen  war  damals  gebräuchlich.  Der  christliche 
Soldat  Tarachus  (Acta  Tarachi  bei  Ruinart,  Acta  Mart.,  Ratisb.  1859  p.  452) 
sagt:  „A  parentibus  dicor  Tarachus,  et  cum  militarem,  nominatus  sum  Victor." 
Cyprian  hat  sich  (nach  Hieronymus,  de  vir.  ill.  67)  Caecilius  genannt  nach 
einem  Priester  dieses  Namens,  der  ihn  bekehrt  hatte.     Außerdem  aber  trug 


Die  Rufnamen  dei*  Christen.  357 

kurz  vor  der  Mitte  des  dritten  Jalirhuiiderts.  Und  merkwürdig 
—  der  sich  Langsam  anbahnende  Umschwung  fällt  nicht  in  eine 
Zeit  religiöser  Erhebung,  sondern  vielmehr  in  jene  Periode,  in  der 
die  Kirche  stärker  als  früher  mit  der  Welt  paktiert  hat.  Die 
Scheidelinie  zwischen  Christenheit  und  AVeit  war  in  jenen  Tagen, 
da  die  Christen  nur  heidnische  Namen  führten,  viel  fester,  als  in 
der  Zeit,  da  sie  anfingen,  sich  Petrus  und  Paulus  zu  nennen!  Wie 
so  oft  stellten  sich  auch  hier  Formen  erst  ein,  als  der  Geist  gefähr- 
det war.  Das  Nomen  est  omen  wird  nicht  Lügen  gestraft,  aber 
es  erhält  eine  überraschende  Bedeutung:  der  Name  zeigt  an,  daß 
man  Einrichtungen  treffen  muß,  um  etwas  festzuhalten,  was  zu 
schwinden  droht. 

Mit  Bewußtsein  mag  das  in  vielen  Fällen  nicht  geschehen 
sein,  vielmehr  waren  hier  drei  Ursachen  wirksam.  Die  eine  habe 
ich  schon  genannt,  die  im  ganzen  Reiche  (auch  bei  den  Heiden) 
anzutreffende  Häufigkeit  der  Umncnnungen,  auch  zugelegter  Bei- 
namen seit  dem  Erlaß  Caracallas  (im  Jahre  212).  Die  zweite 
war  in  der  sieh  nun  erst  vollkommen  einbürgernden  Kindertaufe 
gegeben.  Legte  man  bei  diesem  feierlichen  Akte  dem  Kinde 
einen  Namen  bei,  so  mußte  es  sich  empfehlen,  einen  spezifisch 
christlichen  Namen  zu  wählen.  Endlich  drittens  —  und  das  ist 
die  Hauptsache  —  je  mehr  die  Kirche  in  die  Welt  einzog,  um 
so  mehr  zog  auch  die  Welt  in  die  Kirche  ein.  Mit  der  Welt  zog 
aber  auch  der  alte  heidnische  Aberglaube  immer  stärker  ein  — ■ 
das  Nomen  est  omen,  die  8cheu  vor  Worten  und  außerdem  der 
alte  Trieb,  Nothelfer,  Engel,  geistliche  Heroen  für  sich  zu  ge- 
winnen, der  „fromme'"'  Glaube,  sich  einen  Pleiligen  zu  Schutz  und 
Schirm  willig  zu  machen,  indem  man  seinen  Namen  annimmt. 
Ganz  hat  solcher  Aberglaube  in  der  Christenzeit  zu  keiner  Zeit 
gefehlt;  denn  auch  die  ältesten  Christen  waren  nicht  nur  Christen, 
sondern  auch  Juden,  Syrer,  Asiaten,  Griechen  oder  Römer;  aber 
er  war  doch  durch  andere  Stimmungen  zurückgedrängt.  Im  Laufe 
des  dritten  Jahrhunderts  aber  kamen  überall  die  Lokaltöne  wieder 
an    die  Oberfläche.     Jetzt    nannte    man    seine   Kinder   zwar   nicht 


er  den  Beinamen  Thascius,  so  daß  sein  voller  Name  lautete:  „Caecilius 
Cyprianus  qui  et  Tbascius"  (Ep.  66).  Eben  dieser  Brief  ist  an  einen  Christen 
gerichtet  namens  ,.Floreutius  qui  et  Puppianus".  Cumont  (Les  Inscr.  ehret, 
de  l'Asie  min.  y>.  22)  hat  aus  den  Inschriften  eine  Reihe  von  Beispielen  dieser 
Art  gesammelt,  von  denen  einige  sicher  christlich  sind :  Ffqojv  6  xal  KvQiaxög, 
'"ÄTiakog  EJiixhjv  ^Hoatag,  Optatina  Resticia  sive  Pascasia,  M.  Caecilius  Satur- 
ninus  qui  et  Eusebius,  Valentina  Ancilla  quae  et  Stephana,  Ascia  vel  Maria. 
Unter  den  40  Märtj'rern  von  Sebaste  tragen  zwei  solche  doppelte  Namen, 
nämlich  Asövriog  6  xal  Qtöy.xioioi  und  BtxQdrtog  6  xal  Bißiavög.  Im  Martyrium 
des  h.  Conen  findet  sich  ein  NaödMoog  6  xal  'AjTslliii;.  Der  Märtyrer  Achati us 
sayt :  „vocor  Aiiathos-anselus''. 


35S       Die  Missionare:  Modalitäteu  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

mehr  so  gern  Baechylus  oder  Aphrodisius.  aber  man  fing  an, 
sie  in  dem  Sinne  IVtrus  und  l'aul  zu  nennen,  in  welchem 
die  Heiden  ihre  Kinder  Dionysius  und  Serapion  nannten. 

Sehr  langsam  hat  sieh  der  Prozeß  der  Verdrängung  der 
mythologischen  Namen  durch  die  christlichen  vollzogen  und  ist 
nie  völlig  zum  Abschluß  gekommen;  denn  nicht  wenige  jener 
Namen  waren  allmählich  durch  ruhmreiche  Träger  zu  christlichen 
o-eworden  und  hatten  ihren  ursprünglichen  Sinn  vollkommen  ver- 
loren. Einige  Tatsachen  aus  der  Geschichte  dieses  Prozesses 
mögen  hier  angeführt  sein. 

Genau  in  derselben  Zeit,  in  der  wir  die  Liste  von  siebenund- 
achtzig Bischofsnamen  nur  zwei  biblische  (Petrus  und  Paulus) 
fanden,  schreibt  der  Bischof  Dionysius  von  Alexandrien.  daß  die 
Christen  ihre  Kinder  gern  Petrus  und  Paulus  nennen^.  Eben 
damals  begannen  auch  die  christlichen  Umnennungen  häufiger  zu 
werden-.  Daß  Gregorius  Thaumaturgus  den  Namen  Theodor  mit 
Gregor  vertauscht  habe,  wird  berichtet ^  Doch  ist  dieser  Fall 
nicht  durchsichtig*.  Von  einer  Saljina  hören  wir  in  der  Zeit  des 
Decius  (im  Jahre  250),  daß  sie  sich  vor  Gericht,  nach  dem  Namen 
befragt,  Theodota  genannt  habe"'.  In  den  Märtyrerakten  eines 
Balsamus  (vom  Jahre  oW)  sagt  der  Beklagte:  „Nach  dem  väter- 
lichen Namen  heiße  ich  Balsamus,  nach  dem  geistliclien  aber, 
den  ich  in  der  Taufe  empfangen  luibe,  Petrus  •*."  Interessant  ist, 
was  der  Kirchenhistoriker  Eusebius  von  fünf  ägyptischen  Christen, 
die  in  der  diocletianischen  Verfolgung  Märtyrer  wurden,  erzählt". 
Sie  trugen  alle  fünf  ägyptische  Namen.  Als  aber  der  Richter 
den  ersten  fragte,  nannte  sich  dieser  statt  mit  dem  eignen  Namen 


')  Bei  Euseb.,  h.  e.  VII,  25,  14:  i'öo.-tfo  xul  6  IJar/.o^  ttoHq  y.a't  Öi)  xal  6 
ÜFTQog  iv  zoTg  xöjv  ttiotwv  natolv  ovoitüCfrat.  Dies  wird  auch  bestätigt  durch 
die  Inschrift  saec.  III  (de  Rossi  im  Bullett.  di  archeol.  crist.  1867  p.  0): 
DM  M.  ANNEO.  PAVLO.  PETRO.  M.  ANNEVS.  PAVLVS:  FILIO.  CARISSIMO. 
Die  Inschrift  ist  auch  deshalb  interessant,  weil  Seneca  aus  diesem  Geschlecht 
stammte. 

-)  Man  hat  behauptet,  daß  Poniponia  Gräcina  als  Christin  den  Namen 
Lucina  erhalten  oder  angenommen  habe  (De  Rossi,  Roma  sotterr.  I  p.  319; 
II  p.  :!G2ff.,  u.  a.),  aber  das  ist  sein-  zweifelhaft.  —  Umnennungen  waren 
übrigens  auch  bei  den  Juden  in  der  Diaspora  üblich;  s.  Corp.  Inscr.  Gr.  T.  IV 
ur.  iJ905:  „Beturia  Paula  — ,  r^ue  bixit  ann.  LXXXVI  meses  VI  proselyta 
ann.  XVI  nomine  »Sara  mater  synagogarum  Campi  et  Bohimni." 

»)  Euseb.,  h.  e.  VI,  ;'.0. 

■*)  Hat  er  sich  als  „Erweckter"  Gregorius  genannt? 

'')  S.  Acta  Pionii  9;  doch  ist  dieser  Fall  hier  kaum  anzuluhrcn,  da 
Pionius  der  ÖaV)ina  geraten  hatte,  sich  Theodota  zu  nennen,  damit  nicht  ihre 
Identität  konstatiert  werde. 

")  In  Lampsacus  heißen  drei  Märtyrer  Petrus,  Paulus  und  Andreas 
(s.  Ruinart,  Acta  .Mart.  1859  p.  205f.)- 

')  Mart.  Pal.  XI,  7  f. 


Die  Rufnamen  der  Christen.  359 

mit    dem     eines    alttestamentlichen    Propheten.      Dazu    bemerkt 

Eusebius : 

„Das  kam  daher,  weil  sie  an  der  Stelle  der  von  den  Eltern 
ihnen  beigelegten,  wahrscheinlich  von  Götzen  entlehnten  Namen 
solche  Namen  angenommen  hatten.  Daher  konnte  man  denn 
hören,  wie  sie  sich  Elias  \  Jeremias,  Jesajas,  Samuel  und  Daniel 
nannten  und  sich  so  nicht  allein  durch  Werke ,  sondern  schon 
durch  ihre  Namensbezeichmmg  als  Juden  im  Geiste  und  als 
echte  und  wahre  Israeliten  Gottes  kundgaben." 

Man  sieht,  noch  ist  es  nicht  die  Idee  des  Schutzheiligen,  die 
hier  leitet,  sondern  die  Propheten  sind  als  Vorbilder  gewählt; 
auch  ist  die  Umnennung  selbst  noch  etwas  Neues.  Das  bezeugen 
auch  die  Festbrief'e  des  Bischofs  Athanasius  im  vierten  Jahr- 
hundert. Außerordentlich  viele  Namen  von  Christen  kommen 
hier  vor;  aber  fast  alle  sind  sie  die  altbekannten  heidnischen 
(griechischen  oder  ägyptischen).  Biblische  Namen  sind  noch  immer 
selten.  An  einer  Stelle  allerdings  schreibt  Athanasius  von  einem 
gewissen  Gelous  Hieracammon  und  bemerkt:  „er  nannte  sich 
selbst  aus  Scham  über  seinen  Namen  Eulogius"  '\ 

Sehr  bemerkenswert  ist  aber,  daß  bis  zur  Mitte  des  vierten 
Jahrhunderts  von  neutestamentlichen  Namen  fast  nur  die  Namen 
Petrus  und  Paulus  begegnen  und  alttestamentliche  Namen  vollends 
so  selten  sind,  daß  jener  Fall  von  den  fimf  Ägyptern,  die  sich 
Prophetennamen  beigelegt  haben,  als  Ausnahme  zu  betrachten  ist. 
Auch  der  Name  Johannes  kommt  meines  Wissens  erst  im  vierten 
Jahrhundert  langsam  auf.  Dagegen  läßt  sich  eine  bereits  oben 
ins  Auge  gefaßte  Stelle  bei  Dionysius  von  Alexandrien  nicht  an- 
führen; denn  wenn  er  schreibt:  „Nach  meiner  Anschauung  haben 
[im  apostolischen  Zeitalter]  viele  den  gleichen  Namen  mit  dem 
Apostel  Johannes  gehabt:  denn  aus  Liebe  zu  ihm,  aus  Bewunde- 
rung und  Nacheiferung  und  aus  Verlangen,  gleich  ihm  von  dem 
Herrn  geliebt  zu  werden,  nahmen  viele  denselben  Namen  an 
gleichwie  es  ja  auch  viele  Paulus  und  Petrus  unter  den  Kindern 
der  Gläubigen  gibt"  ~  so  ist  das  über  den  Namen  Johannes 
Gesagte  eben  nur  Vermutimg  in  bezug  auf  das  apostolische  Zeit- 
alter, während  Dionysius  indirekt,  aber  deutlich  genug  sagt,  daß 
Christen  zu  seiner  Zeit  zwar  Petrus  und  Paulus,  nicht  aber 
Johannes    genannt  wurden  ^.     Diese  Bevorzugung    der  Namen  der 

')  Cf.  einen  Märtyrer  dieses  Namens  1.  e.  X,  1. 

-)  Festbriefe,  herausgegeben  von  Larsow,  S.  80. 

^)  Es  fehlen  auch  älterere  Zeugnisse  sonst.  Wenn  nach  dem  Papstbuch 
der  Vater  des  römischen  Bischofs  Anicet  „Johannes"  geheißen  haben  soll, 
so  ist  das  kein  Gegenbeweis;  denn  —  abgesehen  von  der  Unzuverlässigkeit 
der  Nachricht  —  er  soll  ein  Syrer  gewesen  sein,  und  er  führte  den  Namen 


360       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

beiden  Apostelfürsten  in  Ost  und  West  ist  lehrreich^;  sie  wird 
bestätigt  durch  eine  Stelle  bei  Eustathius,  einem  Zeitgenossen  des 
Athanasius  und  ]5ischof  von  Antiochien.  Er  schreibt:  „Viele 
Juden  nennen  sich  nach  den  Erzvätern  und  Propheten  und  tun 
doch  Frevelhaftes;  viele  [christliche]  Griechen  heißen  Petrus  und 
Pavdus  und  handeln  doch  höchst  schimpf  lieh."  Xoch  also  über- 
ließ man  in  der  Regel  die  alttestamentlichen  Namen  den  Juden, 
und  von  neutestamentlichen  Namen  scheinen  noch  immer  Petrus 
und  Paulus  allein  wirklich  gebräuchlich  zu  sein.  Erst  seit  der 
zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  oder  vielmehr,  da  die 
Namengebung  der  Kleriker  dieser  Zeit  c.  40  —  50  Jahre  früher 
fällt,  in  der  ersten  Hälfte  änderte  sich  das 2.  Wie  von  dieser 
Zeit  ab  die  „Heiligen",  Propheten,  Erzväter  usw.  an  die  Stelle 
der  entthronten  Götter  traten,  wie  die  Göttergeschichten  zu 
Heiligengeschichten  umgeformt  wurden,  so  begann  eigentlich  erst 

gewiß  nicht  nach  dem  Apostel.  Nach  den  Acta  Johannis  (Prochorus)  nennen 
Basilius  und  Charis  das  ihnen  durch  den  Apostel  Johannes  geschenkte  Kind 
„Johannes" ;  aber  diese  Akten  sind  nachconstantinisch. 

^)  Der  Name  Paulus  —  aber  ob  er  überall,  wo  wir  ihn  bei  Christen 
finden,  auf  den  Apostel  zurückweisen  soll?  —  ist  noch  etwas  häufiger  als 
der  Name  Petrus.  Zum  erstenmal  finden  wir  ihn  als  Namen  eines  christ- 
lichen antiochenischen  Gnostikers,  der  mit  dem  jugendlichen  Origenes  zu- 
sammen bei  einer  wohlhabenden  Frau  in  Alexandrien  wohnte  (Euseb.,  h.  e. 
VI,  2,  14).  Es  sei  sodann  an  Paulus  von  Samosata  und  an  den  Märtyrer 
Paulus  (Mart.  Pal.  !S.  65),  sowie  an  einen  zweiten  Märtyrer  desselben  Namens 
aus  Jamnia  (1.  c.  S.  86)  erinnert. 

^)  Die  Bischöfe,  die  am  Nicänum  teilgenommen  haben,  haben  ihre 
Namen  zwischen  250  und  290  empfangen.  Von  den  2o7  Namen  der  Teil- 
nehmer, die  uns  überliefert  sind,  sind  sechs  Siebentel  die  geläufigen  heidni- 
schen Namen;  selbst  Namen  wie  Aphrodisius,  Orion  usw.  fehlen  nicht.  Etwa 
18  Namen  sind  „fromme",  aber  konfessionell  indifferente  Namen,  wie  Eusebius 
(fünfmal),  Hosius,  Theodorus,  Theodotus,  Diodorus,  Theophilus;  unter  ihnen 
darf  aber  Pistus  (zweimal,  und  zwar  auf  der  Balkanhalbinsel)  mit  einer  ge- 
wissen Wahrscheinlichkeit  als  christlicher  Name  betrachtet  werden.  Die 
ül^rigen  19  Namen  verteilen  sich  so:  sechsmal  Paulus  (in  Palästina.  Cölesyrien, 
Asien  [procons.],  Phrygieu,  Isaurien,  Cappadocieu),  viermal  Petrus  (Palästina 
[zweimal],  Cölesyrien,  Ägyijten;  Petrus  fehlt  also  in  Asien,  was  nicht  ohne 
Interesse  ist),  dreimal  Marcus  (Lydien,  Calabrien,  Achaja  —  es  ist  aber 
mindestens  sehr  fraglich,  ob  der  Name  nach  dem  Evangelisten  gewählt  ist), 
einmal  Johannes  (Persien)  und  einmal  Jacobus  (Nisibis)  —  auch  hier  ist  es 
fraglich,  ob  die  gleichlautenden  Apostelnamen  maßgebend  gewesen  sind; 
denn  dort  im  äui-^ersten  Osten  waren  jüdische  Namen  häufig  — ,  einmal 
Moses  (in  Cilieion,  vielleicht  ein  geborener  Jude;  Juden  waren  dort  zahl- 
reich), zweimal  Stephanus  (in  Cappadocien  und  Isaurien  —  die  Beziehung 
auf  den  biblischen  Stephanus  ist  sehr  ungewiß)  und  einmal  Polycarp  in 
Pisidien  (die  Beziehung  auf  den  großen  Bischof  von  Smyrna  ist  wohl  mög- 
lich; unter  den  87  Bischöfen  der  Synode  zu  Carthago  findet  sich  übrigens 
auch  ein  Polycarp).  Was  die  alttestamentlichen  Namen  anlangt,  so  sind  die 
illtesten    und    immer    noch    sehr    seltenen    Beispiele   für   den   Gebrauch    der- 


Die  Rufnamen  der  Chri.sten.  361 

jetzt  die  kräftige  Zurückdräiigung  der  iiiytliolegisehen  Namen  ^ 
Nun  ersr  begegnen  Namen  wie  Johannes,  Jacobus,  Andreas.  Simon, 
Maria  häufig  und  daneben  aucli  —  doch  viel  seltener  im  Abend- 
lande —  spezifiscii  alttestamentliche  Namen.  Am  Ende  des 
vierten  Jahrhunderts  ermahnte  z.  15.  Chrysostomus  die  Gläubigen, 
sie  sollten  ihren  Kindern  die  Namen  von  Heiligen  geben,  damit 
sie  sich  an  den  Heiligen  ein  Beispiel  der  Tugend  nähmen  (s. 
Hom.  52  in  Matth.,  Migne  Bd.  6(>  Col.  3(35).  Er  hat  aber  damit 
noch  nicht  das  durchschlagende  Motiv  genannt.  Das  nennt  der 
Bischof  von  Cyrus  in  Syrien,  Theodoret,  dreißig  Jahre  später: 
man  soll  den  Kindern  die  Namen  von  Heiligen  und  Märtyrern 
beilegen,  um  ihnen  den  Schutz  und  Schirm  dieser  Heroen  zuzu- 
wenden 2.  Diese  Absicht  beherrschte  damals  und  in  der  Folge- 
zeit die  Namengebung.  Eine  Auswahl,  nach  Ländern  und  Pro- 
vinzen verschieden,  war  die  Folge.  Neben  der  Bibel  kam  der 
provinzielle  Heiligenkalender,  kamen  die  Namen  berühmter  ent- 
schlafener heimischer  Bischöfe  in  Betracht.  In  Antiochien  nannte 
man  schon  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  die  Kinder  gern 
nach  dem  großen  Bischof  Meletius.  Daneben  haben  Zufall  und 
Willkür  in  der  Auswahl  stets  eine  Rolle  gespielt;  auch  vermochte 
sich  nicht  jedes  Ohr  an  den  Klang  barbarischer  semitischer  Namen 


selben  (iu  der  zweiten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  gegeben)  fast  alle  ägyp- 
tisch. Noch  eine  Liste  —  ich  folge  einer  Anregung  Lietzmanns  —  sei 
hier  herbeigezogen.  Hilarius  bietet  in  den  uns  erhaltenen  Fragmenten  seiner 
Dokumeutensammlung  zum  römischen  Streit  (II  u.  III)  für  Sardica  134  (61 
orthodoxe  und  73  semiarianische)  Bischofsnamen,  und  Athanasius  (Apol.  c. 
Arian.  50)  bietet  284  Namen  orthodoxer  Bischöfe  in  bezug  auf  dieselbe 
Synode  (leider  hat  er  die  Bischofssitze  nicht  angegeben).  Alle  diese  Bischöfe 
haben  ihren  Namen  in  der  Zeit  c.  270—310  empfangen.  Unter  den  134  Namen, 
die  Hilarius  bietet,  findet  sich  je  ein  Moses,  Isaak,  Jonas  (V)  und  Paulus  (der 
Moses  im  thessalischen  Theben,  der  Isaak  in  Luetum  [=  Aoveiüd,  Arab. 
Petr.?]).  Alle  übrigen  führen  die  landläufigen,  z.T.  grob  heidni- 
schen Namen  (die  Träger  der  heidnischen  Namen  können  aber  sehr  wohl 
geborene  Juden  sein).  In  bezug  auf  die  284  Namen,  die  Athanasius  über- 
liefert, gilt  von  270  dasselbe!  Die  14  übrigen  (nur  5  %)  verteilen  sich  also: 
Paulus  (fünfmal),  Petrus  (einmal),  Andreas  (einmal,  in  Ägypten;  es  bleibt 
fraglich,  ob  der  Name  sich  auf  den  Apostel  bezieht),  Elias  (dreimal,  iu 
Ägypten),  Jesajas,  Isaak,  Joseph,  Jonas  (je  einmal,  außer  Jonas  sämtlich  in 
Ägypten).  Es  bestätigt  sich  also,  was  oben  bemerkt  worden  ist.  Die  heid- 
nischen Namen  sind  ganz  unerschüttert;  nur  „Paulus"  und  —  schwach  — 
, Petrus"  setzen  ein;  die  alttestamentlichen  Namen  sind  noch  auf  Ägypten 
beschränkt,  aber  auch  noch  selten. 

')  Unecht  und  spät  ist  der  30.  der  arabischen  Cauones  des  Nicänums: 
^Fideles  nomina  gentilium  filiis  suis  nou  impouant;  sed  potius  omnis  uatio 
Christianorum  suis  nominibus  utatur,  ut  gentiles  suis  utuntur,  imponanturque 
nomina  Christianorum  secundum  scripturam  in  baptismo." 

2)  Graec.  affect.  curat.  VIII  p.  923  ed.  Schulze. 


;}(i2        Die  Missionare;  Moualitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

ZU  ^-ew-filincn.  AVic  bemerkt,  den  alttestamentlichen  Namen  gegen- 
über ist  die  abendlihidisclie  Kirche  zurückhaltend  gewesen  —  bis 
der  Calvinismus  aufkam. 


Yiertes  Ka])itel. 
Die  Gemeindebildung  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Mission  \ 

Die  christliche  Predigt  wollte  in  der  ältesten  Zeit  nichts  als 
Seelen  gewinnen  und  die  einzelnen  zu  Gott  führen,  „damit  die 
Zahl  der  Erwählten  voll  werde",  aber  sie  ist  von  Anfang  an  in 
einer  Gemeinschaftsform  wirksam  gewesen  und  hat  sich  eine 
Vereinigung  der  Christgläubigen  zum  Ziele  gesetzt.  Zuerst 
war  es  die  Vereinigung  der  Schüler  Jesu,  aber  —  wie  wir  bereits 
gesehen  haben  —  diese  Schüler  W'ußten  und  faßten  sich  selbst  als 
das  wahre  Israel  und  als  die  Ekklesia  Gottes.  Sie  führten 
damit  die  Form  und  den  engen  Zusammenschluß  der  Judenkirche 
zu  sich  hinüber,  vergeistigten  und  verstärkten  sie  und  waren,  man 
kann  sagen  mit  einem  Schlage,  im  Besitze  einer  festen  und 
exklusiven  Organisation. 

Allein  diese  Organisation,  welche  alle  Christen  auf  Erden 
umfaßte,  bestand  zunächst  doch  nur  in  dem  religiösen  Gedanken. 
Als  rein  ideale  wäre  sie  auf  die  Dauer  schwerlich  wirksam  ge- 
blieben, hätte  sich  nicht  die  lokale  Organisation  zu  ihr  gesellt. 
Diese  hat  das  Christentum  ursprünglich  ebenfalls  von  dem  Juden- 
tum entlehnt,  nämlich  von  der  Synagoge;  die  Urapostel  sowäe 
die  J3rüder  Jesu  haben  den  Grund  gelegt.  In  der  Diaspora  ent- 
wickelten sich  die  christlichen  Gemeinschaften  zunächst  ebenfalls 
aus  den  Synagogen  mit  ihrem  Anhang  von  Proselyten.  Ihrem 
Wesen  n  a  c  h  auf  einen  Bruderbund  angele  g  t  u  n  d  a  u  s 
den  Synagogen  hervorgegangen,  bildeten  die  christ- 
lichen Vereine  die  lokale  0  r  g  a  n  i  s  a  t  i  o  n  m  i  t  doppelte;  r 
Stärke  aus,  fester  noch,  als  es  die  jüdischen  Gemeinschaften 
getan  liattcm'-.  Eine  der  lokalen  Organisation  in  ihrer  Bedeutung 
höchst   f(')rdei'li(!he  Betrachtung   kam    noch    hinzu:    jede  Gemeinde 

')  Vgl.  hierzu  v.  Do b schütz,  Die  urchristlichen  (.iemeinden,  1902. 

-)  Von  dem  Kinüuß,  den  etwa  das  griechisch-römische  Vereinswesen 
ausgeübt  hat,  muß  hier  abgesehen  werden.  Er  kann  sich  immer  nur  auf 
gewisse  Formen  bezogen  haben,  nicht  aber  auf  die  Sache  selbst  und  ihre 
Festigkeit. 


Die  Gemeindebildung  in  ihrer  BeJeutuug  für  die  Mission.  'J\{]'.\ 

ist  in  sich  abgeschlossen  und  ein  Ganzes,  ist  ein  Abbihl  der  ge- 
samten Kirche  Gottes  und  soll  sich  als  solches  wissen  und  betätigen  ^ 

Eine  solche  religiös-soziale  Gemeinschaft  —  ohne  jede  politisch- 
nationale Unterlage,  aber  das  ganze  Privatleben  umspannend  — 
war  auf  griechisch-römischem  Boden  u.  W.  etwas  Unerhörtes  und 
Neues.  Religiös -soziale  Gemeinschaften  gab  es  überhaupt  dort 
nur  in  rudimentären  Formen  —  die  das  ganze  Leben  bestimmende 
Konfession  fehlte  — ;  man  müßte  denn  an  einige  Philosophen- 
schulen und  ihr  gemeinsames  Leben  denken,  welches  auch  ein 
religiöses  war.  Hier  aber  stellte  sich  eine  Verbindung  dar,  welche 
die  Glaubensgenossen  aller  Stände  in  einer  Stadt  auf  das  engste 
zusammenschloß,  lebenslängliche  Zugehörigkeit  als  selbstverständ- 
lich voraussetzte,  ihren  Mitgliedern  nicht  nur  eine  einmalige  oder 
wiederholte  Weihe  gewährte,  sondern  sie  täglich  zusammenband, 
ihnen  Tag  um  Tag  geistige  Güter  zuführte  und  Yerpflichtungen 
auferlegte,  sie  ursprünglich  täglich,  dann  wöchentlich  versammelte, 
sie  gegen  andere  abschloß,  sie  in  einem  Kultverein,  einem  Unter- 
stützungsverein und  einem  (^rden  zu  bestimmter  Lebensführung  ver- 
einigte und  sie  lehrte,  sich  als  die  Gemeinde  Gottes  zu  betrachten. 

An  eine  Gemeinschaft  dieser  Art  mußten  die  Neophyten  natür- 
lich erst  gewöhnt,  bez.  für  sie  erzogen  werden:  widersprach  sie 
doch  allen  Anforderungen,  die  sonst  ein  Kultus  oder  eine  Weihe 
an  die  Geweihten  stellte,  mochte  auch  das  Yereinsleben,  welches 
schon  bestand,  in  mancher  Hinsicht  eine  Vorbereitung  sein.  Daß 
die  gemeinsame  Erbauung  das  Ziel  sei,  daß  die  Gemeinde 
daher  wie    ein   Leib    mit  vielen   Gliedern    sein   solle,    daß  jedes 


*)  Wie  diese  merkwürdige  Überzeugung  entstanden  ist,  wissen  wir  nicht; 
aber  sie  liegt  ganz  deutlich  im  apostolischen  und  nachapostolischen  Zeitalter 
vor.  Aus  dem  Judentum  stammt  sie  nicht;  denn  m.  W.  hat  sich  die  einzelne 
Synagoge  so  nicht  betrachtet.  Mit  einem  Schlage  hat  sich  die  Vorstellung 
nicht  entwickelt.  Noch  bei  Paulus  stehen  zwei  sich  widersprechende  Vor- 
stellungen ungeklärt  nebeneinander.  Einerseits  betrachtet  er  jede  Gemeinde 
sozusagen  als  souverän,  als  selbständige  und  selbstverantwortliche  , Kirche 
Gottes-*,  anderseits  sind  seine  Gemeinden  auch  seine  Schöpfungen,  stehen 
daher  unter  seiner  Aufsicht,  werden  von  ihm  erzogen,  ja  sogar  mit  der  Rute 
droht  er  ihnen.  Er  ist  ihr  V-^ater  und  Pädagog.  Die  apostolischen  Gewalten, 
und  zwar  die  allgemeinen  und  die  speziellen  des  Apostels  als  Stifters,  greifen 
hier  ein  und  begrenzen  die  Gewalt  der  Einzelgemeinde.  Was  der  Apostel  in 
allen  seinen  Gemeinden  als  Richtschnur  vorhält  und  durchführt,  das  soll  auch 
die  einzelne  Gemeinde  respektieren  und  befolgen.  Er  darf  das  verlangen; 
aber  Konflikte  waren  unvermeidlich;  wir  sehen  sie  in  den  Corintherbriefen, 
namentlich  im  zweiten.  Sodann  besitzen  wir  im  '6.  Johanuesbrief  eine  wich- 
tige Urkunde:  hier  hat  sieh  der  Leiter  einer  Lokalgemeinde  gegen  den  kon- 
trollierenden Apostel ,  der  durch  Boten  die  Gemeinde  zu  regieren  versucht, 
offenbar  aufgelehnt  und  will  unabhängig  sein.  Als  Ignatius.  nicht  viel  später, 
nach  Asien  kam,  war  der  Gedanke  der  Souveränität  der  Eiuzelgenieinde  zum 
Siege  gekommen. 


304      Dit^'  Missionare;  Modalitäteu  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

(jlied  sich  dorn  Cianzcn  unterordnen,  ein  Glied  mit  dem  andern 
leiden  und  sich  freuen  solle,  daß  Jesus  Christus  zwar  einzelne, 
jeden  für  sicli.  berufe,  aber  sich  zugleich  eine  Gemeinschaft  erbaue, 
in  der  der  einzelne  seine  Stelle  finde  —  das  alles  mußte  gelehrt 
werden.  Wie  energisch  und  unermüdlich  der  x^postel  Paulus  dies 
getan  hat,  davon  legen  seine  Briefe  Zeugnis  ab.  Es  ist  vielleicht 
die  größte  Erscheinung  wie  an  dieser  Religion  so  an  dem  Wirken 
des  Paulus,  daß  der  hier  so  hoch  gesteigerte  Individualismus  — 
denn  wie  kann  er  stärker  gesteigert  werden,  als  durch  die  alles 
beherrschende  Maxime  „Rette  deine  Seele"?  — ,  weit  entfernt,  den 
Gemeinschaftstrieb  zu  unterdrücken,  ihn  auf  das  stäi'kste  anspannte. 
Die  Bruderliebe  ist  liier  der  Hebel  gewesen,  und  diese  Bruder- 
liebe hat  zugleich  die  reichste  Erbschaft  angetreten  —  die  Erb- 
.schaft  der  fest  verfaßten  jüdischen  Kirche.  Dazu  kam  nun  noch 
die  oben  berührte  wunderbar  ])raktische  Konzeption,  die  Gesamt- 
kirche (als  ideale  Gemeinschaft)  und  die  Einzelgemeinde  in  eine 
solche  Korrespondenz  zu  setzen,  daß,  was  von  jener  galt,  auch 
von  dieser  ausgesagt  werden  durfte:  die  Gemeinde  von  Corinth, 
von  Ephesus  usw.  ist  die  Gemeinde  Gottes.  Von  dem  Inhalte 
der  Schöpfungen  ganz  abgesehen  —  jeder  Staatsmann  und  Politiker 
muß  die  Lösung  aufs  höchste  bewundern,  die  hier  eines  der 
schwierigsten  Probleme  jeder  großen  Organisation  gefunden  hat: 
die  volle  Selbständigkeit  der  lokalen  Gemeinde  aufrecht  zu  er- 
halten und  mit  ihr  eine  starke  und  einheitliche,  das  ganze  Reich 
umspannende  Gesamtordnung,  die  allmählich  auch  zu  einer  Ge- 
.samtverfassung  wurde,  zu  verbinden. 

Welchen  Halt  mußte  eine  solche  Schöpfung  dem  einzelnen 
gewähren!  Welche  Anziehung  mußte  sie  ausüben,  sobald  sie  in 
ihren  Zwecken  verstanden  war!  Sie,  nicht  dieser  oder  jener 
Evangelist,  war  der  kräftigste  Missionar.  In  der  Tat,  wir  dürfen 
als  sicher  annehmen,  daß  die  bloße  Existenz  mid  die  stetige  Wirk- 
samkeit der  einzelnen  Gemeinden  die  Verbreitung  des  Christen- 
tums vor  allem  bewirkt  liat^ 


')  Einen  detaillierten  Bericht  über  die  Ent.steliung  einer  Christengemeinde 
besitzen  wir  nicht;  denn  die  Apostelgeschichte  erzählt  sehr  summarisch  (sie 
hat  kein  Interesse  für  die  Lokalgemeindeu;  sie  kennt  nur  bekehrte  Brüder 
und  spiegelt  so  in  ihrer  Berichterstattung  das  vorwärts  Stürmende  der  christ- 
lichen Mission  wieder,  bis  sie  sich  in  den  Prozeß  des  Paulus  verliert),  und 
die  Briefe  des  Paulus  setzen  die  schon  entstandenen  Gemeinden  voraus.  Die 
a])okryplien  Apostelgeschichten  sind  kaum  brauchbar.  Doch  lassen  sich  aus 
<leni  1.  Thessalouicher-,  dem  I.  Corintherbrief  und  der  Apostelgeschichte  einige 
Züge  gewinnen.  Paulus  knüpft  überall,  wo  Juden  vorhanden  sind,  bei  diesen 
au  und  predigt  in  den  Synagogen.  Der  Erfolg  aber  ist  in  der  Hegel  der,  daß 
die  kleinen  Gemeinden,  welche  entstehen,  sich  zum  größeren  Teil  aus  ,.gottes- 
fürchtigen"  Heiden  und  überhaupt  aus  den  Heiden,  nicht  aber  aus  den  Juden 


Die  Gemeindebildung  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Mission.  ;]{)') 

Dalici-  aber  audi  (li(>  stetig-  wiederholte  Emialinunii,-:  „Lasset 
uns  unsere  Versaiiiinlungeii  nicht  vorlassen";  „wie  etlich(?  pflegen", 
fügt  der  irebräerbrief  (c.  10,  25)  liinzu.  Es  gab  natürlich  von 
Anfang  an  und  zu  allen  Zeiten  soU-he,  die  da  meinten,  man  könne 
die  cliristlichen  "Weihen  und  Güter  empfangen,  wie  man  die  Weihen 
der  Isis  oder  der  Magna  Mater  empfängt,  um  sich  nach  dem 
Empfang  zurückzuziehen.  Oder,  wo  man  so  kurzsichtig  nicht 
war,  w^erden  Leichtsinn  und  Trägheit  oder  I'berdrnß  oft  genug 
geraten  haben,  sich  langsam  oder  schnell  der  Gemeinscliaft  wieder 
zu  entziehen.  Auch  das  eingebildete  Bewußtsein,  auf  der  Höhe 
zu  stehen  und  die  geistliche  Hilfe  der  Gemeinschaft  entbehren 
zu  können,  hat  manchen  bewogen,  sich  von  der  Vereinigung  und 
von  dem  gemeinschafrliehen  Gottesdienst  zurückzuziehen.  Manche 
bestimmte  auch  die  Furcht  vor  der  Obrigkeit;  man  scheute  sich, 
die  Gottesdienste  zu  besuchen,  um  nicht  als  Christ  erkannt  zu 
werden  ^. 

„Trachtet  nach  dem,  was  gemeinschaftlichen  Nutzen  für  alle 
bringt",  schreibt  Clemens  Romanns  (1  c.  4S):  „Zieht  euch  nicht 
auf  euch  selbst  zurück  und  isoliert  euch  nicht,  als  wäret  ihr  schon 
Gerechtfertigte,  sondern  kommt  gemeinsam  zusammen  und  traclitet 
nach  dem,  was  der  Gemeinschaft  nützlich  ist",  mahnt  Barnabas 
(ep.  4,  10).  Ahnliche  Stellen  sind  häufig-.  Der  Sonntagsgottes- 
dienst ist  natürlicli  obligatorisch;  aber  auch  sonst  sollen  die  Brüder 
möglichst  häufig  zusammenkommen.     „Aufsuchen  sollst  du  täglich 


bilden.  Für  die  Organisation  haben  die  Erstbekehrteu  natürlich  Bedeutung 
(I  Clem.  42:  oi  ärrooToloi  xara  '/ojoag  xal  .tö/.fi^  y.tjQvaoovzf^  ....  y.aOiozavov 
tÖ?  äjiao/äg  avTOjr,  doy/udaavzeg  reo  n^rsviiuTi,  sig  grtiay.öjroi'g  >cai  öiay.övovg  rwj' 
fxelXörTcov  jTioTF.veir) ;  eine  Art  von  lokaler  Leitung  ist  in  einigen  Gemeinden 
sofort  eingetreten,  wie  wir  aus  I  Thess.  5,  12  ff.  und  Philii^p.  1,  1  erkennen. 
Aber  was  für  die  macedoniscben  Gemeinden  gilt,  gilt,  wenigstens  anfangs, 
keineswegs  für  alle.  In  Galatien  und  in  Corinth  hat,  wie  es  scheint,  ein 
Jahrzehnt  laug  (vielleicht  auch  länger)  gar  keine  Leitung  bestanden. 
Die  Brüder  ließen  sich  vom  „Geiste"  regieren.  Der  Berieht  der  Apostel- 
geschichte C.  14,  23  fyeiQOTO%'riaavreg  avroTg  yar''  tyy/.rjoiav  croeaßvrsgovg)  mag  in 
bezug  auf  einige  Gemeinden  zutreffend  sein  (vgl.  auch  I  Clem.  44).  aber  in 
bezug  auf  die  Voraussetzung,  daß  ..die  Apcstel"  stets  und  überall  Beamte 
eingesetzt  haben,  und  daß  diese  überall  „Presbyter"  waren,  ist  er  sehr  frag- 
würdig. Erwähnt  wird  in  der  Ai^ostelgeschichte  nur  für  Jerusalem  (c.  15,  4) 
und  für  Ephesus  ein  Gemeindeamt  (Presbyter,  die  als  Bischöfe  eingesetzt 
sind,  c.  20,  28). 

^)  S.  Tertull.,  de  fuga  3:  „Timide  conveniuut  in  ecclesiam;  dicitis  enim, 
quoniam  ineondite  convenimus  et  simul  convenimus  et  complures  concurrimus 
in  ecclesiam,  quaerimur  a  natiouibus  et  timemus,  ne  turbeutur  nationes." 

^)  Hermas,  Simil.  IX.  20:  ovtoi  oi  fv  :jo/.}.aTg  y.al  noiyAlaig  :iqay(.iaTtiaig 
tUTiEtpVQiiivoi  ov  yo/./.ojvrai  loTg  dovloig  rav  deov ,  a/.Ä'  d.TO.T/.arwiTat.  IX,  26 : 
yevöfxsvoi  EQrjfiojdeig,  fit]  y.o/.'/.wfisvoi  loTg  dovloig  zov  deov,  ä/J.a  ((oräLorreg  ä:iol- 
Xvovai  zag  iavzöjv  ipv/dg. 


;}(;6       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

(las  Angesicht  der  Heiligen,  auf  daß  du  durch  ihre  Gespräche 
erquickt  werdest",  heißt  es  in  der  „Apostellehre"  (c.  4,  2).  „Wir 
sind  stets  beieinander",  schreibt  Justin  (Apol.  I,  67)  nach  Schilde- 
rung des  Sonntagsgüttesdienstes,  um  auszudrücken,  daß  er  nicht 
die  einzige  Stätte  für  die  Gemeinsamkeit  ist.  Zu  häufigeren  Zu- 
sammenkünften ermahnt  Ignatius  wiederholt^:  ja  seine  Briefe 
sind  in  erster  Linie  zu  dem  Zwecke  geschrieben,  den  einzelnen 
aufs  strengste  an  die  Gemeinde  zu  fesseln  und  ihn  so  vor  Irrlehre, 
Verführung  und  Abfall  zu  bew^ahren.  Das  Mittel  dazu  ist  die 
Steigerung  der  Bedeutung  der  Gemeinde,.  Nur  in  ihr  sind  alle 
Güter  vorhanden,  und  zwar  nur  in  ihren  Ordnungen  und  Ein- 
richtungen. Nur  die  fest  verfaßte  Gemeinde  mit  dem  Bischof, 
den  Presbytern  und  Diakonen,  mit  ihrem  gemeinsamen  Gottes- 
dienst und  ihren  Sakramenten  ist  die  Schöpfung  Gottes  2.  Daher 
ist  außer  ihr  nichts  Göttliches  zu  finden,  sondern  nur  Irrtum  und 
Sünde.  Eben  deshalb  aber  sind  auch  alle  AVinkelgottesdienste  zu 
verbannen  und  ist  keinem  von  auswärts  kommenden  Lehrer,  wenn 
er  nicht  von  der  Gemeinde  approbiert  ist,  Gehör  zu  schenken. 
Niemals  ist  die  absolute  Unterordnung  unter  die  Lokalgemeinde 
peremptorischer  verlangt  und  die  Lokalgemeinde  rhetorischer  ge- 
feiert worden  als  in  diesen  so  frühen  Schreiben.  Man  erkennt 
aus  den  aufgeregten  Admonitionen  die  Größe  der  Gefahr,  die  dem 
einzelnen  Christen  drohte,  wenn  er  sich  von  der  Gemeinde  auch 
nur  leise  emanzipierte;  er  wurde  eine  Beute  der  „Irrlehrer"  oder 
fflitt  ins  Heidentum  zurück.  Hier  drohte  selbst  den  Heroen  eine 
Gefahr,  die  wohl  bemerkt  worden  ist.  Als  Männern,  die  ein  be- 
sonderes Yerhältnis  zu  Christus  haben  und  zu  denen  dieser  sich 
öffentlich  bekannt  hat,  konnten  ihnen  die  Gemeinden  nicht  wohl 
Yorschriften  machen :  aber  daß  sie,  wenn  sie  „aufgeblasen"  waren 


')  S.  Ephes.  13:  ajiGvöd^eze  :i:vy.v6T£Q0v  avveQXSodm  sh  sir/aniaziar  dsov, 
Polyc.  4:  Jivy.rörgQor  axtrayioyal  yivio&oyoav,  cf.  auch  Magn.  4. 

-)  Der  gemeinsame  Gottesdienst,  und  in  ihm  wiederum  die  Feier  des 
A})endmahls,  steht  im  Mittelpunkt.  Eine  solche  Feier  in  ihrer  Erhabenheit 
und  Weihe,  ihrer  Brüderlichkeit  und  Vielseitigkeit  hatte  schwerlich  ein 
anderer  Kultus  aufzuweisen.  Jede  Empfindung  und  jedes  geistige  Bedürfnis 
fand  hier  seine  Nahrung.  Die  Zusammenstellung  von  Gebet,  Gesang,  Schrift- 
verlesung und  Predigt  war  dem  synagogalen  Gottesdienst  nachgebildet  und 
mußte  bereits  auf  die  Heiden  den  tiefsten  Eindruck  machen;  aber  indem  die 
P'eier  des  Abendmahls  dem  zugesellt  wurde,  war  eine  Handlung  miteingeführt, 
die,  so  einfach  sie  war,  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  betrachtet 
werden  komite  und  betrachtet  worden  ist.  Sie  war  eine  geheimnisvolle,  gött- 
liche Gabe  der  Erkenntnis  und  des  ewigen  Lebens;  sie  diente  der  Sünden- 
vergeltung; sie  war  eine  Dank.sagung,  sie  war  ein  Opfer,  sie  war  eine  Ver- 
gegenwärtigung des  Todes  Christi,  sie  war  ein  Liebesmahl  der  Brüderlichkeit 
und  ein  Band  der  Einheit,  sie  war  eine  Unterstützung  der  Hungernden  und 
Notleidenden;  sie  war  eine  Vorausdarstellung  und  ein  Unterpfand  der  himm- 


Die  Gemeinde] )ilduiig  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Mission.  367 

und  sich  von  der  Gemeinschafr  ontfernten.  leicht  Schaden  nehmen 
konnten,  hat  man  schon  frühe  erkannt.  Als  dann  zuletzt  in 
Cartliago  und  Rom  während  und  nach  der  decianischen  Verfolgung 
die  stolzen  ^lärtyrer  in  den  Gemeinden  Quertreibereien  versuchten 
und  sich  gegen  das  Amt  erhoben,  entschlossen  sich  die  großen 
Bischöfe  endlich,  sie  unter  das  allgemeine  Gemeindegesetz  zu 
beugen. 

Der  einzelne  Christ  hatte  seinen  Halt  an  der  Gemeinde- 
organisation, aber  er  verlor  dabei  ein  Stück  seiner  Selbständigkeit 
nach  dem  andern.  Der  sog.  montanistische  Kampf  ist  im  letzten 
Grunde  nicht  nur  ein  Kampf  für  eine  strengere  Lebensordnung 
gegen  ein  laxere  gewesen,  sondern  aucli  ein  Kampf  einer  selb- 
ständigeren religiösen  Haltung  und  Betätigung  gegen  eine  vorge- 
schriebene und  uniforme.  Die  Hervorragenden,  die  Individualitäten 
mußten  leiden,  damit  die  vielen  nicht  verwilderten  oder  abfielen: 
so  ist  es  in  der  Geschichte  immer  gewesen,  und  so  wird  es  bleiben. 
Erst  nach  dem  montanistischen  Kampf  ist  die  Kirche  als  Einzel- 
und  als  Gesamtkirche  in  ihrer  Entwickung  zum  Abschluß  gelangt : 
nun  war  sie  ein  begehrenswertes  Objekt  für  jeden,  der  sich  nach 
Macht  umschaute,  geworden;  denn  sie  verfügte  über  außerordent- 
liche Gewalten.  Den  Einzelnen  hat  sie  jetzt  fest  an  sich  gekettet, 
hält  ihn.  zügelt  ihn  und  beherrscht  sein  religiöses  Leben  in  jeder 
Richtung.  Allein  bald  begann  die  mönchische  Bewegung,  welche 
diese  Kirche  zwar  in  der  Theorie  anerkannte  — -  eine  Bezweiflung 
war   nicht   mehr  möglich  — .    aber  in   der   Praxis   beiseite   schob. 

Der  Aufstieg  der  rechtlichen  Yerfassuugs- Entwicklung  von 
der  festorsranisierten  Einzelkirche  "■  zur  Provinzialkirche  -.  von  der 


lischeu  Mahlzeit.  Mehr  kann  eine  Handlung  schwerlich  sein,  und  sie  be- 
wahrte diesen  Charakter  noch  lange,  auch  nachdem  sie  ganz  ins  -Mysteriöse 
gerückt  war.  Geweihtes  Brot  brachten  die  Gemeindeglieder  aus  dem  Gottes- 
dienst nach  Hause  und  zehrten  die  Woche  davon.  In  welchem  Maße  die 
Gemeinden  als  gottesdienstliche  auch  ünterstützungsvereine  waren  und  wie 
anziehend  sie  dadurch  wirken  mußten,  darüber  ist  oben  S.  128  tf.  gehandelt 
worden.  —  Daß  die  Predigt,  die  man  sonntäglich  im  Gottesdienst  hörte,  die 
Stärkung  der  Sittlichkeit  in  erster  Linie  zum  Zwecke  hatte,  folgt  aus  einer 
Kette  von  Zeugnissen  vom  Brief  des  Plinius  an  bis  Arnobius  IV,  '66:  „In  con- 
venticulis  summus  oratur  deus,  pax  cunctis  et  venia  postulatur  magistratibus 
exercitibus  regibus  familiaribus  inimicis,  adhuc  vitam  degentibus  et  resolutis 
corporum  vinctione.  in  quibus  aliud  auditur  nihil  nisi  quod  humanos  faciat, 
nisi  quod  mites  verecundos  pudicos  castos.  familiaris  communicatores  rei  et 
cum  Omnibus  vobis  solidae  germanitatis  necessitudine  copulatos." 

*)  Die  Christen  nannten  sich  von  Alters  her  (s.  o.  S.  343)  Traooixovvrs;, 
die  Gemeinde  hieß  technisch  rj  sy.y.ltjoia  rj  TiaQoixovoa  xijv  Ji6?.ir,  aber  sie 
wurde  schnell  ein  sehr  festes  Gebilde  und  erschien  keineswegs  wie  ein  Gebäude 
auf  Abbruch. 

-)  Inwiefern  diesem  Aufstieg  von  anderen,  ebenfalls  wirksamen  Prä- 
missen aus  ein  Abstieg  entsprach,  darüber  s.  den  folgenden  Exkurs. 


368      Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Provinzialkirche  zum  <;-ir)ßorou  Kirclionbunde,  der  auf  Synodon, 
die  viele  Provinzen  umfaßten,  sich  verwirklichte,  zuletzt  zu  der 
allgemeinen  Kirche,  die  sich  als  organisierte  freilich  nie  ganz  ver- 
wirklichte, in  der  Idee  aber  stets  vorhanden  war  —  diese  Ent- 
wicklung trug  auch  dazu  bei,  das  Selbstbewußtsein  der  Christen 
zu  erhöhen  und  ihre  Missionstätigkeit  zu  verstärken^.  Es  bedeutete 
doch  etwas,  wenn  man  verkündigen  durfte,  diese  Kirche  umspanne 
nicht  nur  im  religiösen  Gedanken  die  Menschheit,  sondern  sie 
stelle  sich  auch  sichtbar  als  ein  großer  Bund  dar,  der  von  einer 
Grenze  des  Reichs  bis  zur  anderen  reiche,  ja  diese  Grenzen  noch 
überschreite.  Durch  ein  Zusammenwirken  des  christlichen  Ideals 
mit  dem  Reiche  war  diese  Kirche  entstanden,  und  so  haben  alle 
großen  Gewalten,  die  es  auf  diesem  Gebiet  überhaupt  gab,  an 
dem  Bau  der  Kirche  teilgenommen :  der  universale  christliche 
Gedanke  eines  Menschheitsbundes  (im  Grunde  freilich  nur  der 
zerstreuten  Auserwählten  innerhalb  der  Menschheit),  die  Juden- 
kirclie  und  das  römische  Reich.  Letzteres  hat  sich,  wie  man  mit 
Recht  gesagt  hat,  an  dieser  Kirche  bankerott  gebaut^.  Man 
könnte  dasselbe  von  der  Judenkirche  behaupten.  Ihre  Anziehungs- 
kraft auf  weite  Kreise  hat  aufgehört,  nachdem  die  Kirche,  die 
ihr  das  Wasser  abgrub,  sieh  entwickelt  hatte;  sie  ist  auf  diese 
übergegangen^.  Mochten  aber  die  Gemeinden  so  freie  Bildungen 
sein,  wie  in  dem  ersten  Jahrhunderte,  mochten  sie  sich  so  feste 
äußere  Ordnungen  gegeben  haben  und  in  einem  so  großen  Zu- 
sammenhang stehen ,  wie  im  dritten  Jahrhundert  —  in  beiden 
Formen  ihres  Daseins  haben  diese  Gemeinden  wie  Magneten  auf 
Tausende  gewirkt  und  der  Mission  in  außerordentlicher  Weise 
gedient. 

Innei'lialb  der  Gemeindeverfassung  war  die  bedeutendste  und 
wichtigste  Schöpfung  der  m o  n a r c h i s c he  Episkopat*.  Die 
Bischöfe  haben   recht  eigentlich   die   einzelnen   in   den  Gemeinden 


')  TertulL,  de  praescr.  20:  ,Sie  omnes  [seil,  ecclesiae]  primae  et  omnes 
apostolicae,  dum  una  omnes.  probant  unitatem  conimnnicatio  pacis  et  ap- 
pellatio  fraternitatis  et  contesseratio  hospitalitatis,  quae  iura  non  alia  ratio 
regit  quam  eiusdem  sacramentiuna  traditio." 

-)  Doch  ist  es  in  der  abendländischen  Kirche  wieder  auferstanden! 

-'*)  Aber  auch  mit  Bewußtsein  und  Willen  hat  sich  die  Judenkirche  seit 
dem  Fall  des  Tempels  mehr  und  mehr  auf  sich  seil  ist  zurückgezogen  und 
den  griechischen  Geist  wieder  entlassen. 

*)  Ich  lasse  alle  Vorstufen  beiseite.  Das  Amt  ist  erst  mit  dem  monar- 
chischen Bischof  eine  Macht  in  der  Christenheit  geworden.  Die  Unter- 
suchungen ülier  die  Vor.stufen,  schwierig  bei  der  Lückenhaftigkeit  der  Quellen 
und  ))ei  der  Verschiedenheit  der  ursprünglichen  Organisationen  in  den  ver- 
schiedenen Kirchen,  fallen  nicht  in  diese  Darstellung. 


Die  Gemoindebildung  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Mission.  369 

zusammengehalten;  mit  ihrem  Auftreten  schließt  die  Periode  ab, 
in  der  Charismen  und  Amter  duroheinander  wogten  und  man  sich 
nur  auf  Gott,  sich  selbst  und  den  begeisterten  liruder  ven-ließ. 
Seit  dem  Ausgang  des  zweiten  Jahrhunderts  waren  die  Bischöfe 
die  Lehrer,  die  Oberpriester,  die  llichter.  Schon  Tgnatius  hat 
ihre  Stellung  in  der  Einzelgemeinde  mit  der  Stellung  Gottes  in 
der  Gesamtkirche  verglichen.  Diese  Vergleichung  trat  bald  zurück 
hinter  der  förmlichen  Qualität,  die  sie  seit  dem  gnostischen 
Kampf,  zuerst  in  Rom  und  dem  Abendland,  erhalten  haben,  Träger 
des  apostolischen  Amts  zu  sein.  Nach  Cyprian  sind  sie  „iudices 
vice  Christi",  vmd  bereits  Origenes,  trotz  der  bösen  Erfahrung,  die 
er  mit  Bischöfen  gemacht  hat,  schreibt  (Hom.  XII,  2  in  Num., 
t.  10  p.  133  Lomm.);  „Si  reges  a  regendo  dicuntur,  omnes  utique, 
qui  ecclesias  dei  regunt,  reges  merito  appellabuntur."  Von  dem 
Verhalten  der  Bischöfe  hing  in  der  zw^eiten  Hälfte  des  zweiten 
Jahrhunderts  Wohl  und  Wehe  der  Gemeinden  fast  ganz  ab.  Wie 
dieses  Amt  geworden  ist,  erscheint  es  als  eine  originale  Schöp- 
fung, eben  weil  es  von  allen  Seiten  Kräfte  und  Formen  an  sich 
gezogen  hat. 

Wie  sehr  der  Episkopat  zusammen  mit  den  anderen  Klerikern, 
die  er  kommandierte,  der  Halt  der  Gemeinde  war^,  zeigt  der 
große  Kampf,  den  der  Staat  im  3.  Jahrhundert  (Maximinus  Thrax, 
Decius,  Valerian,  Diocletian,  Daza,  Licinius)  gegen  ihn  geführt 
hat,  und  lehren  viele  einzelne  Tatsachen.  Dionysius  von  Corinth 
schreibt  z.  Z.  Marc  Aureis  (Euseb.,  h.  e.  IV,  23)  an  die  Gemeinde 
von  Athen,  sie  sei  beinahe  vom  Glauben  abgefallen,  seitdem  ihr 
Bischof  Publius  den  Märtyrertod  gefunden  habe,  der  neue  Bischof 
Quadratus  aber  habe  sie  wieder  gesammelt  und  mit  neuem  Eifer 
für  den  Glauben  erfüllt.  Tertullian  (de  fuga  11)  sagt,  die  Herde 
werde,  wemi  die  Hirten  schlecht  sind,  eine  Beute  der  wilden 
Tiere,  „quod  nunquam  magis  fit  quam  cum  in  persecutione  desti- 
tuitur  ecclesia  a  clero."  Cyprian  erzählt  (ep.  55,  11),  in  der  Ver- 
folgung sei  der  Bischof  Trophimus  mit  dem  größten  Teile  der 
Gemeinde  vom  Glauben  abgefallen  und  habe  geopfert;  als  es  aber 


^)  Natürlich  galt  er  auch  mehr  und  mehr  als  der  Gott  wohlgefällige 
und  Gott  näher  stehende  Stand;  das  liegt  schon  in  dem  Terminus  „Priester", 
der  sich  seit  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts  einbürgerte.  Die  Kirche  besaß 
also  neben  dem  höheren  Stand  der  Heroen  (Asketen,  Virgines,  Konfessoren) 
einen  zweiten  höheren  Stand  der  Kleriker.  Das  war  auch  den  Heiden  im 
3.  Jahrhundert  wohl  bekannt.  So  schreibt  der  Heide  bei  Macarius  Magnes 
(III,  17)  zu  der  Stelle  „So  ihr  Glauben  habt  wie  ein  Senfkorn"  (Matth.  17,  20); 
21,  21):  „Wer  solchen  Glauben  nicht  hat,  ist  sicherlich  nicht  wert,  zur  Brüder- 
schaft der  Gläubigen  gerechnet  zu  werden;  also  darf  die  Menge  der  Christen 
den  Gläubigen  nicht  zugezählt  werden,  ja  nicht  einmal  von  den  Bischöfen 
und  Presbytern  ist  irgendeiner  dieses  Namens  würdig." 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  24 


370       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

sich  zurückwandte  und  Buße  tat,  da  folgten  ihm  auch  die  anderen, 
,qui  omnes  regressuri  ad  ecclesiam  non  essent,  nisi  cum  Trofimo 
comitante  venissont".  Als  Cyprian  während  der  Verfolgung  des 
Decius  im  Versteck  weilte,  drohte  die  ganze  Gemeinde  zu  zer- 
fallen. Da  sieht  man  klar  die  Bedeutung,  welche  der  Bischof 
für  die  Gemeinde  hatte:  mit  ihm  fällt  sie,  mit  ihm  steht  sie^ 
Eine  Sedisvakanz  oder  ein  Schisma  ist  in  jenen  Zeiten  stets  eine 
schlimme  Krisis  für  die  Existenz  der  Gemeinde  gewesen.  Das  hat 
auch  noch  Julian  gewußt  und  darnach  seine  Politik  eingerichtet. 
Ohne  eigentlich  Missionar  zu  sein,  übte  der  Bischof  eine  Missions- 
wirkung aus  2.  Er  schützte  vor  allem  die  einzelnen  vor  Rückfall 
in  das  Heidentum,  und  ein  Bischof,  der  seinen  Platz  ausfüllte, 
gewann  viele  neue  Mitglieder,  wie  wir  das  z.  B.  von  Cyprian  und 
Gregorius  Thaumaturgus  wissen.  Eine  Steigerung,  aber  auch  ein 
Gegengewicht  erhielt  die  Würde  des  Bischofs  durch  die  Ein- 
richtung der  Synoden,  die,  in  Asien  und  Griechenland  entstanden 
(wohl  nach  dem  Vorbild  der  Landtage)'^,  sich  seit  dem  Anfang 
des  3.  Jahrhunderts  in  sehr  vielen  Provinzen  einbürgerten.  Durch 
dies  bischöfliche  Kartell  waren  die  Laien  vollends  entmündigt; 
es  nützte  ihnen  nun  bald  nichts  mehr,  ihre  heimatliche  Gemeinde 
zu  verlassen,  um  sich  in  einer  anderen  anzusiedeln.  Aber  doch 
zog  die  Synode  der  Willkür  des  einzelnen  Bischofs  auch  Schranken 
imd  stellte  sich  als  ein  kirchliches  forum  publicum  dar,  welchem 
er  verantwortlich  war.  Die  cyprianische  Briefsammlung  bietet 
mehrere  Beispiele,  daß  auf  Synoden  der  Willkür  mid  Sünde 
einzelner  Bischöfe  gesteuert  worden  ist.  Sehr  bald  (von  Anfang 
an?)  erschien  die  Synode,  diese  „repraesentatio  totius  nominis 
Christiani",  als  ein  besonders  zuverlässiges  Instrument  des  heiligen 


1)  So  sagt  auch  der  heidoisc-he  Richter  zu  dem  Bischof  Achatius,  ,scutum 
quoddam  ac  refugium  Antiochiae  regionis",  (Ruiuart,  Acta  Mart.  Ratisb.  1859 
p.  201) :  „Veniet  tecum  [seil,  wenn  du  zu  den  alten  Göttern  zurückkehrst] 
omuis  populus,  ex  tuo  pendet  arbitrio."  Natürlich  antwortet  der  Bischof: 
,1111  omnes  non  meo  nutu ,  sed  dei  praecepto  reguutur;  audiaut  me  itaque, 
si  iusta  persuadeam,  sin  vero  perversa  et  nocitura,  contemuant."  —  Hermas 
sagt  von  den  „Hirten"  (Sim.  IX,  31):  ,Sin  aliqua  e  pecoribus  dissipata  in- 
venerit  dominus,  vae  erit  pastoribus.  quodsi  ipsi  pastores  dissipati  reperti 
fuerint,  quid  respondebunt  pro  pecoribus  his?  numquid  dicunt,  a  pecore  sc 
vexatosV  non  credetur  illis.  incredibilis  enini  res  est,  pastorem  pati  posse  a 
pecore. " 

^)  Daß  umgekehrt  ein  hervorragender  Missionar  (Lehrer),  der  eine  Ge- 
meinde begründet  hatte,  nun  ihr  Bischof  wurde,  darüber  s.  Origeues,  Hom.  XI,  4 
in  Num.  [die  Stelle  ist  oben  S.  295  mitgeteilt]. 

^)  S.  TertulL,  de  ieiuu.  13:  „Aguutur  per  Graecias  [zu  dem  Plural  vgl. 
Euseb.,  Vita  Const.  111,  19]  illa  certis  in  locis  concilia  ex  universis  ecclesiis,  per 
quae  et  altiora  quaec^ue  in  commune  tractantur  et  ipsa  repraesentatio  totius 
nominis  Christiaui  raa<?na  veneratione  celebratur." 


Die  Gemeindebildunac  in  ihrer  Bedeutuog  für  die  Mission.  371 

Oeistes.  Die  Synoden,  die  sich  aus  Provinzialsynoden  im  Lauf 
des  o.  Jahrhundorts  zu  größeren  Konzilien  erweiterten  und  die 
diocletianische  Reiohseinteihing  im  Orient  antizipiert  zu  liaben 
scheinen,  haben  natürlich  das  Ansehen  und  die  Macht  der  Kirche 
außerordentlich  vermehrt  und  daher  auch  ihre  Anziehungskraft 
gesteigert.  Das  ganze  Synodalwesen  hat  aber  nur  im  Orient 
wirklich  floriert  (und  etwa  noch  in  Africa).  Im  Okzident  ist  es 
ebensowenig  zum  Durchbruch  gekommen  wie  die  Metropolitan- 
verfassung.  Das  ist  für  die  Stellung  Roms  und  seines  Bischofs 
sehr  wichtig  gewesen  ^. 

Es  ist  aber  hier  schließlich  noch  einer  Frage  zu  gedenken, 
die  für  die  kirchliche  Statistik  von  großer  Bedeutimg  ist:  Wie 
stark  war  die  Tendenz  zur  selbständigen  Gemeindebildung,  d.  h. 
zur  Bildung  kompleter  bischöflicher  Gemeinden?  Bezeichnet 
die  Anzahl  der  bischöflich  verfaßten  Gemeinden  im  wesentlichen 
die  Anzahl  der  Gemeinden  überhaupt  oder  gab  es,  sei  es  überall, 
sei  es  in  einer  größeren  Anzahl  von  Provinzen,  zahlreiche  Ge- 
meinden, die  keinen  Bischof  besaßen,  sondern  nur  Presbyter  bez. 
Diakonen,  und  von  einem  auswärtigen  Bischof  abhängig  waren? 
Der  Beantwortung  dieser  wichtigen  Frage  ist  der  folgende  Exkurs 
gewidmet 2.  Er  wird  zeigen,  daß  die  Schöpfung  kompleter  bischöf- 
licher Gemeinden  bis  zur  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  in  den  meisten 
Provinzen  (nicht  in  Ägypten)  die  Regel  gewesen  ist,  so  klein 
auch  die  Zahl  der  Christen,  die  sich  an  einem  Orte  fand,  gewesen 
sein  mag,  und  so  klein  der  Ort  selbst  war.  an  dem  diese  Christen 
wohnten. 

Ebenso  wichtig,  wenn  nicht  noch  wichtiger,  war  es  aber,  daß 
von  Anfang  an  die  Tendenz  darauf  gegangen  ist,  alle  Christen 
an  einem  Ort  zu  einer  Gemeinde  zu  verbinden.    Hausgemeinden 


'■)  Auf  die  Verfassungsentwicklung  im  einzelnen  ist  hier  nicht  einzu- 
gehen, obgleich  sie  in  ihrer  engen  Beziehung  zur  Reichseinteilung  noch 
manche  wichtigen  Beziehungen  zur  Missionsgeschichte  enthält  (s.  Lübeck, 
Keichseiuteilung  und  kii-chliche  Hierarchie  des  Orients  bis  zum  Ausgang  des 
4.  Jahrhunderts,  1901).  Nur  soviel  sei  bemerkt,  daß  die  immer  stärkere  An- 
lehnung der  orientalischen  Kirche  an  die  (nationalen  Abgrenzungen  folgende) 
Reichseinteilung  alimählich  die  kirchliche  Einheit  und  den  christlichen  Uni- 
versalismus bedrohte.  Zunächst  schöpfte  die  Kirche  hier  Ordnung  und  Stärke, 
aber  bald  wurde  sie  von  den  zentrifugalen  Kräften  beeinflußt.  Schon  im 
Osterstreit  um  das  J.  190  zwischen  Rom  und  Asien  spürt  man  etwas  von 
ihnen:  im  Ketzertaufstreit  sind  sie  bereits  lebendiger;  doch  erst  im  4.  und 
ö.  Jahrhundert  treten  sie  desorganisierend  hervor.  Im  Abendland  hat  sie  der 
römische  Bischof  mit  einer  bewunderungswürdigen  zähen  und  zielsicheren 
Energie  zu  bändigen  verstanden. 

-)  Gelesen  in  der  K.  Preuß.  Akad.  der  Wissenschaften  am  28.  Nov.  1901 
(S.  1186  ff.). 

24* 


372       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

hat  man  ursprünglich,  wie  die  paulinischen  Briefe  beweisen,  ge- 
duldet ^ :  aber  sie  standen  augenscheinlich  (entweder  von  Anfang 
an  oder  doch  sehr  bald)  als  Teile  innerhalb  der  örtlichen  Ge- 
samtgemeinde. Das  ursprüngliche  Verhältnis  ist  uns  freilich  ebenso 
dunkel  wie  die  Auflösung  dieser  Hausgemeinden.  Konflikte  mögen 
anfangs  nicht  gefehlt  haben,  auch  Versuche  nicht,  mehrere  selb- 
ständige christliche  -diaooi  in  einer  Stadt  7a\  etablieren:  die 
„Schismen"  in  Corinth,  welche  Paulus  bekämpft  hat,  scheinen 
darauf  hinzudeuten.  Auch  ist  es  nicht  ganz  gewiß,  ob  nicht  noch 
nach  der  Zeit  der  Ausbildung  des  monarchischen  Episkopats  hin 
und  her  in  einer  Stadt  zwei  oder  mehrere  bischöfliche  Ge- 
meinden waren;  aber  wenn  das  auch  in  einigen  Fällen  vorge- 
kommen sein  mag,  so  muß  die  Zahl  dieser  sehr  gering  gewesen 
sein  und  vermag  die  allgemeine  Signatur  der  Verfassungsverhältnisse 
nicht  zu  ändern.  Sie  besteht  darin,  daß  jeder  Ort,  an  welchem 
sich  Christen  befanden,  seine  eigene,  selbständige,  von  Klerikern 
geleitete  Gemeinde  hat,  und  daß  er  nur  eine  Gemeinde  haf^. 
Diese  so  einfache  und  natürliche  Organisation  hat  sich  als  eine 
Organisation  von  außerordentlicher  Stärke  bewährt.  Freilich  nötigte 
sie  die  Gemeinde  bald,  ihre  antiheidnische  Exklusivität  mit  voller 


')  Wie  lange,  ist  nicht  sicher  zu  sagen;  aber  nach  dem  N.T.  hören 
•wir  fast  nichts  mehr  von  ihnen.  Das  ist  auch  ein  Argument  gegen  die  Ver- 
suche, die  paulinischen  Briefe  ins  2.  Jahrhundert  zu  schieben.  S.  über  die 
Hausgemeinde  die  betreffenden  Abschnitte  in  Weizsäckers  Apostol.  Zeit- 
alter, 2.  Aufl.  Der  Hebräerbrief  ist  höchst  wahrscheinlich  an  eine  spezielle 
Gemeinde  in  Rom  gerichtet.  Schiele  hat  jüngst  mit  beachtenswerten 
Gründen  zu  zeigen  versucht  (The  American  Journal  of  Theology  1905  p.  290tt'.), 
daß  sich  diese  spezielle  Gemeinde  aus  und  an  der  iuschrittlich  nachweis- 
baren ^vvaycoyr]  rwv  'Eßgauov  in  Rom  entwickelt  hat.  Ich  habe  sie  (Ztschr. 
f.  NTliche  Wissensch.  I  1900  S.  16  ff.)  mit  Prisca  und  Aquila  in  Verbindung 
gesetzt.     Beides  schließt  sieh  nicht  aus. 

-)  Recht  dunkel  ist  für  uns  auch  das  Verhältnis  christlicher  „dtöaaxahm" 
(k.  0.  S.  300 ff.)  zur  Ortsgemeinde.  Was  wir  wissen  (Justins  „Schule",  Tatians 
Rhodon,  Theodotus'  Praxeas',  Epigonus'  und  Cleomenes'  , Schulen"  in  Rom, 
Übergang  der  tbeodotianischen  Schule  in  eine  Gemeinde  —  das  ist  der  inter- 
essanteste Fall  die.ser  Art,  den  wir  kennen  — ,  Katechetenschule  zu  Alexan- 
drien ;  Hippolyt  nennt  höhnend  die  zu  Callist  in  Rom  haltenden  Christen, 
d.  h.  die  Majorität  der  Gemeinde,  eine  „Schule" ;  die  verschiedenen  gnostischen 
Schulen,  die  Schule  Luciaus  in  Antiochien  neben  der  Kirche),  reicht  keines- 
wegs aus,  um  ein  Bild  zu  gewinnen;  denn  über  die  Tatsache  der  Existenz 
der  Schulen  hinaus  erfahren  wir  sehr  wenig.  Jemand  könnte  versuchen  zu 
zeigen,  daß  in  der  zweiten  Hälfte  des  2.  Jahrhunderts  die  Gefahr  für  die 
Kirche  generell  bestanden  habe,  sich  überhaupt  in  „Schulen"  aufzulösen. 
Ein  anderer  könnte  es  unternehmen  nachzuweisen,  daß  hier  und  dort  absicht- 
lich auch  das  vulgäre  Christentum  den  Charakter  von  philosophischen  Schulen 
angenommen  hat,  um  so  Freiheit  zu  gewinnen  und  sich  gegen  den  Staat  und 
die  feindselige  Gesellschaft  zu  schützen  (daß  einzelne  so  verfahren  sind,  unter- 
liegt schwerlich  einem  Zweifel,  s.  o.  S.  307^     Beide  würden  Beachtenswertes 


Geraeindebildung  und  Bistum  iu  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.      37,'} 

Schärfe  auch  gegen  solche  Bi-üder  zu  richten,  die  sich  aus 
irgendeinem  Grunde  der  Gemeinde  nicht  unterordnen  wollten. 
Die  traurige  Leidenschaft  der  Ketzermacherei  —  schon 
bei  den  Christen  des  2.  Jahrhunderts  —  ist  nicht  nur  eine 
Folge  ihres  Fanatismus  für  die  wahre  Lehre,  sondern 
ebensosehr  eine  Folge  ihrer  geschlossenen  Organisation 
und  der  hohen  Prädikate,  mit  denen  sie  sich  selbst 
als  „Kirche  Gottes"  beehrten.  liier  erkennt  man  die  Kehr- 
seite der  Medaille:  die  Selbstschätzung  der  Gemeinde,  in  sich 
die  exxhjoin  Tod  i^eov  darzustellen  (die  „Kirche  Gottes"  bez.  die 
„katholische  Kirche"  in  Corinth,  in  Ephesus,  usw.),  hatte  die 
Folge,  daß  sie  schlechterdings  kein  Christentum  außerhalb  ihrer 
Grenze  anzuerkennen  und  zu  ertragen  vermochte^. 


Exkurs    I : 


Gemeindebildung  und  Bistum  (Provinzial-,  Stadt-  und  Dorfbistum) 
in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin. 

„Der  Apostel  Paulus  hat  I  Tim.  H  (—  es  sind  hier  nur  Bisehöfe  und 
Diakonen  genannt  — )  die  Presbyter  nicht  vergessen,  sondern  dieselben  Amts- 
personen führten  am  Anfang  sowohl  den  Namen  „Presbj^ter"  als  auch  den 
Namen  „Bischof.  Die  aber,  welche  die  Kompetenz  der  Ordination  hatten 
und  jetzt  „Bischöfe"  heißen,  standen  nicht  einer  Kirche,  sondern  einer  ganzen 
Provinz  vor  und  führten  den  Namen  „Apostel".  So  hat  der  selige  Paulus 
den  Timotheus  über  ganz  Asien  gestellt  und  den  Titus  über  Greta.  Ebenso 
hat  er  offenbar  auch  über  andere  Provinzen  andere  einzeln  aufgestellt:  es 
sollte  ein  jeder  von  ihnen  Sorge  für  die  ganze  Provinz  tragen  und  somit  alle 
Gemeinden  in  ihnen  durchwandern,  die  für  den  kirchlichen  Dienst  nötigen 
Kleriker  ordinieren,  schwierige  Fragen,  die  sich  unter  ihnen  erhoben  hatten, 
lösen,  durch  Lehrreden  sie  berichtigen  und  bessern,  schwere  Sünden  heilend 
behandeln  und  überhaupt  alles  tun,  was  einem  Vorgesetzten  zu  tun  obliegt 
—  während  alle  Städte  damals  die  von  mir  obengenannten  Presbyter  hatten, 


anzuführen  vermögen,  aber  zu  einem  Beweise  würde  es  nicht  reichen.  Soviel 
ist  indes  gewiß,  daß  die  „Schulen"  im  2.  Jahrhundert  und  vielleicht  noch 
sporadisch  im  3.  wirklich  eine  gewisse  Gefahr  für  die  einheitliche,  bischöf- 
liche Gemeiudeorganisation  bedeutet  haben,  daß  es  der  Bischofskirche  aber 
bereits  am  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  gelungen  ist,  die  Haujjtgefahreu  zu 
beschwören.  Die  Frage  verdient  trotz  des  spärlichen  Quellenmaterials  eine 
eigene  Untersuchung. 

')  Die  Ketzermacherei  und  die  Leidenschaft,  mit  der  sich  die  Christen 
untereinander  bekämpften,  hat  schon  Celsus  (V.  63)  scharf  betont:  ßlaaq^rj- 
f.iovoiv  eig  alXr]Xovg  ovxoi  jidrdsiva  gtjia  nai  UQQrjxa ,  xal  oux  uv  sl'Saiev  ov(is 
xad'  oiiovv  sig  ofi-övotav  Jidvir]  äXX>)Xovg  djiooxvyouvTEg . 


374       Di*?  Mist^ionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

die  die  ihnen  zu:^teheuden  Gemeinden  verwalteten.  Somit  wai-en  iu  jener  alten 
Zeit  die,  die  jetzt  Bischöfe  heißen,  damals  aber  Apostel  genannt  wurden,  für 
eine  ganze  Provinz  das,  was  jetzt  für  eine  einzelne  Stadt  und  ein  einzelnes 
Doi-fgebiet  die  [zu  Bischöfen]  Ordinierten  sind.  So  beschauen  war  in  jener 
Zeit  die  kirchliche  Verfassung.  Als  sich  aber  die  Religion  mächtig  aus- 
gebreitet hatte  und  nicht  nur  Städte,  sondern  auch  Dörfer  mit  Gläubigen 
erfüllt',  die  seligen  Apostel  aber  gestorben  waren,  da  kamen  die,  welche 
danach  zur  Leitung  des  Ganzen  [der  ganzen  Provinz]  bestellt  wurden,  jenen 
Früheren  nicht  mehr  gleich;  auch  vermochten  sie  nicht  das  Zeugnis  durch 
"VVundergaben ,  wie  jene,  für  sich  geltend  zu  machen  vind  erschienen  wohl 
auch  in  sehr  vielen  anderen  Beziehungen  geringer  als  sie.  Daher  empfanden 
sie  es  als  eine  Last,  den  Namen  „Apostel''  zu  führen,  die  anderen  [bisher 
identisch  gebrauchten]  Bezeichnungen  aber  verteilten  sie:  den  Namen  „Pres- 
byter" überließen  sie  den  Presbytern,  den  „Bischof"'  wiesen  sie  dem  zu,  der 
zu  ordinieren  befugt  sein  sollte,  so  daß  er  nun  mit  der  Leitung  des  Ganzen 
betraut  wäre.  Es  wurden  ihrer  aber  mehrere,  zuerst  des  Bedürfnisses  wegen, 
sodann  aber  auch  infolge  der  Freigebigkeit  derer,  die  diese  Veranstaltung 
trafen-.  Am  Anfang  waren  in  einer  Provinz  in  der  Eegel  zwei  oder  höchstens 
drei  Bischöfe  —  so  stand  es  vor  nicht  langer  Zeit  im  Abendland  in  den 
meisten  Provinzen;  in  einigen  aber  findet  man  die  Ordnung  auch  jetzt  noch 
bewahrt  — :  im  Laufe  der  Zeit  aber  gab  e.s  Bischöfe  nicht  nur  in  Städten, 
sondern  auch  in  kleinen  Ortschaften,  während  doch  dort  ein  Bedürfnis, 
jemanden  mit  dem  bischöflichen  Amte  zu  betrauen,  nicht  vorlag." 

So  hat  Theodor  von  Mopsvestia  im  Kommentar  zum  ersten  Timotheus- 
brief  geschrieben*.  Die  Behauptung,  daß  in  den  ältesten  Zeiten  die  Be- 
zeichnungen „Presbyter"  und  ., Bischof"  identisch  gewesen  seien,  findet  sieh 
mehrfach  in  der  Zeit  um  das  Jahr  400;  aber  im  übrigen  sind  die  Ausführungen 
Theodors  meines  Wissens  singulär;  sie  stellen  den  Versuch  dar,  die  älteste 
Organisation  der  Kirchen  zu  beschreiben  und  den  wichtigsten  Umschwung  in 
der  Geschichte  der  kirchlichen  Verfassung  zu  erklären.  Theodors  Meinung 
ist  in  Kürze  folgende :  Von  Anfang  an  —  d.  h.  in  der  Zeit  der  Apostel  bez. 
durch  urapostolische  Einsetzung  —  hat  es  in  den  Kirchen  ein  monarchi- 
sches Amt  gegeben,  an  welchem  die  Komjjetenz  der  Ordination 
haftete;  dieses  Amt  war  ein  provinzial- kirchliches  (jede  Provinz  be- 
saß einen  Vorsteher),  und  der  Amtstitel  lautete  „Apostel";  die  einzelnen 
Gemeinden  aber  wurden  von  Bischöfen  (Presbytern)  und  Diakonen  regiert. 
Aber  bereits  nach  dem  Tode  der  Apostel  *  (d.  h.  der  Urapostel)  trat  ein  Um- 
.schwung  ein.  Theodor  motiviert  denselben  doppelt,  nämlich  erstlich  durch 
die  Ausbreitung  der  christlichen  Religion,  zweitens  durch  die  von  der  zweiten 


*)  Gr. :  fxiyiozai  (ih  ov  tiÖIfi;  j-iÖvov  a/j.u  y.al  •/Jh^ui  nur  jiFniOTFi'xnTociv  tjoav, 
Vers.  Lat.:  „repletae  antem  sunt  non  modo  civitates  credentium,  sed  regiones." 
Also  ist  fiEozal  für  fisyiarai  zu  lesen. 

*)  Gr.:  8ia  /uiv  zip'  ygeiav  z6  jiqwiov,  vötfoov  öf  xal  v.-fo  (/  i/.oTiitias  töjv 
noiovvzoiv.  Man  vermutet,  daß  der  Ehrgeiz  als  Triebfeder  genannt  sei ;  aber 
dann  mül.He  rtür  jioiovvzon'  fehlen.  Also  bedeutet  '///.on/iid  „Freigebigkeit", 
und  so  hat  auch  die  Vers.  Lat.  den  Text  verstanden:  „postea  vero  et  illis 
adiecti  sunt  alii  liberalitate  eorum  qui  ordinationes  faciebant." 

*)  S.  Swete,  Theodori  episcopi  Mopsvesteni  in  epj).  b.  Pauli  commen- 
tarii.     Vol.  II  (1882)  p.  121  ff. 

*)  Hier  findet  sich  die  erste  Unklarheit  im  Bericht  Theodors:  „Die 
seligen  Apostel'  sind  nicht  alle  die  Männer,  die  er  unmittelbar  vorher 
, Apostel"  genannt  hat,  sondern  .sind  entweder  die  Apostel  im  engsten  .Sinn 
oder  diese  und  dazu  Männer  wie  Timotheus  und  Titus. 


Gemeindebildung  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.      375 

Generation  der  Apostel  selbst  gefühlte  Schwäche.  Daher  beschlossen  diese 
Apostel  1.  den  Namen  , Apostel"  abzulegen  und  ihn  damit  in  Wegfall  zu 
bringen ',  2.  die  monarchische  Gewalt,  d.  h.  die  ')rdinations-Kompetenz,  meh- 
reren Personen  in  der  Provinz  zu  übertragen.  So  ergab  sich  der  Zustand, 
daß  in  einer  Provinz  zwei  oder  drei  Bischöfe  —  das  Wort  nun  im  Sinne  der 
monarchischen  Gewalt  —  existierten.  Dieser  Zustand  sei  bis  vor  kurzem  in 
den  meisten  Provinzen  des  Abendlandes  die  Regel  gewesen  und  dauere  in 
einigen  Provinzen  dort  jetzt  noch  fort.  Aber  im  Morgenland  sei  es  auch 
dabei  nicht  geblieben.  Teils  das  Bedürfnis  (das  Wachstum  der  Christenheit 
in  den  Provinzen;,  teils  .die  Freigebigkeit"  ^  habe  die  Zahl  der  Bischöfe 
vermehrt,  so  daß  zuletzt  nicht  nur  die  Städte,  sondern  selbst  Dörfer  Bischöfe 
erhalten  hätten,  während  doch  für  eine  solche  Einrichtung  kein  wirkliches 
Bedürfnis  vorhanden  sei. 

Zunächst  ist  es  dem  Theodor  anzurechnen,  daß  er  für  die  universal  ein- 
setzende und  absteigende  Organisation  der  Kirchen  in  ältester  Zeit  einen 
Sinn  besessen  hat.  Es  ist  in  der  Tat  so;  das  Ganze  war  früher  als  der  Teil, 
d.  h.  die  durch  die  Apostel  bewirkte  Organisation  war  zunächst  eine  uni- 
versale und  provinzial-kirchliche.  Judäa,  Samarien,  Syrien,  Cilicien,  Galatien, 
Asien,  Macedouien  usw.  stehen  den  Aposteln  vor  der  Seele  und  figurieren 
in  ihren  Berichten.  Wie  die  heute  missionierenden,  aus  dem  Auslande 
kommenden  Sekten  , Brandenburg",  ,.Sachsen",  ,,Bayeni"  erobern,  indem  sie 
in  Berlin,  Dresden,  München  und  etwa  noch  ein  paar  anderen  namhaften 
Städten  festen  Fuß  fassen,  wie  sie  sofort  in  Gedanken  und  in  einigen  Maß- 
nahmen die  Provinz  umspannen,  so  war  es  auch  damals.  Auch  die  Aus- 
dehnung des  Namens  , Apostel'  ist  an  sich  richtig  beobachtet.  Aber  frei- 
lich schon  hier  beginnen  die  Bedenken.  Daß  die  Apostel,  d.  h.  die  Zwölf 
und  Paulus,  die  anderen  „Apostel'"  —  das  Wort  im  weiteren  Sinn  —  sämt- 
lich , eingesetzt"  haben,  ist  an  sich  unwahrscheinlich,  wird  durch  positive 
Zeugnisse  widerlegt^  und  erklärt  sich  bei  Theodor  sehr  einfach  aus  dem 
Vorurteil,  letztlich  müsse  doch  alles  auf  die  Anordnung  der  Urapostel  zurück- 
gehen. Ferner,  daß  jeder  Provinz  ein  Apostel -Bischof  vorgesetzt  worden 
sei,  ist  eine  Annahme,  die  nicht  auf  wirklicher  Kunde  beruht,  und  die  alles 
gegen  sich  hat.  was  wir  von  der  universal  kirchlichen  Natur  des  Apostel- 
amts wissen.  Endlich,  die  Ausschließlichkeit,  in  welcher  die  Ordinations- 
kompetenz  mit  dem  Apostel-Bischofsamt  verknüpft  wird,  ist  mindestens  nicht 
zu  kontrolieren.  In  allen  diesen  Beziehungen  scheint  Theodor  lediglich 
herrschende  Vorstellungen  und  gewagte  Hypothesen  in  das  Bild  eingetragen 
zu  haben,  welches  er  von  der  ältesten  kirchlichen  Organisation  entworfen 
hat.  Wir  können  übrigens  noch  nachweisen,  auf  welchen  schmalen  Grund- 
lagen seine  Annahmen  beruhen.  Sehe  ich  recht,  so  hat  er  nichts  anderes 
zur  Verfügung  gehabt  als  das  traditionelle  Bild  von  der  kirchlichen  Stellung 
des  Timotheus  und  Titus,  welches  man  aus  den  Pastoralbriefen  abstrahierte, 
sowie  die  kirchlichen  Nachrichten  und  Legenden  über  das  Wirken  des  Johannes 


*)  Dies  muß  man  supplieren  (und  das  ist  die  zweite  Unklarheit);  im 
Text  steht  nur:  ßagv  vouiaavreg  rtjv  läv  ujiootöXcov  s/eiv  jigoorjyootav.  Was 
aus  ihnen  selbst  geworden  ist,  nachdem  sie  den  Namen  und  die  Kompetenz 
abgelegt  haben,  verschweigt  Theodor. 

^)  Hier  ist  die  dritte  Unklarheit  des  Berichts.  Unter  der  „(pi^.ozifua  zöjv 
jioioivzcov"  scheint  die  Freigebigkeit  der  abtretenden  „Apostel"  verstanden 
werden  zu  müssen;  aber  der  Prozeß  setzte  sich  —  auch  nach  der  Meinung 
Theodors  —  noch  fort,  nachdem  die  , Apostel"  längst  abgetreten  waren. 

^)  Man  vergleiche,  was  Paulus  und  die  Didache  über  Apostel,  Pro- 
pheten und  Lehrer  bemerken.     Gott  setzt  die  Apostel  ein,  bez,  der  „Geist". 


376       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

in  Asien  ^  Dies  hat  er  generalisiert  und  daraus  die  Vorstellung  einer  all- 
gemeinen Einsetzung  von  , Aposteln"  =  Provinzbischöfen  geschaifen^ 

„Apostel"  =  Provinzbischöfe  —  dies  Gebilde  Theodors  ist  ein  Phantasie- 
gebilde: aber  vielleicht  birgt  es  doch  ein  Korn  geschichtlicher  Wahrheit  in 
sich.  Wir  werden  sehen;  zunächst  müssen  wir  Theodors  Ausführungen  weiter 
folgen. 

Er  hat  richtig  erkannt,  daß  jede  Orientierung  über  den  Ursprung  der 
kirchlichen  Organisation  bei  den  Aposteln  und  ihrem  Missionswirken  ein- 
zusetzen habe.  Man  wird  hinzufügen  dürfen:  die  in  der  Mission  und  durch 
sie  gesetzte  Organisation  wird  sich  zu  behaupten  versuchen,  auch  nachdem 
lokale  Gewalten  und  Ordnungen  geschaffen  waren,  die  sich  nun  mit  eigenem 
Rechte  geltend  machten.  Aber  das  Eigentümliche  in  Theodors  Auffassung 
besteht  darin,  daß  er  ein  vom  Ursprung  her  bestehendes  eigenes 
Recht  der  lokalen  Gewalten  gar  nicht  kennt.  Alles,  was  die  ueu- 
testamentlichen  und  überhaupt  die  ältesten  christlichen  Schriften  darüber 
enthalten,  sieht  er  nicht;  denn  es  muß  auch  hier  alles  von  urapostolischer 
Anordnung  bez.  Konzession  ausgegangen  sein,  d.h.  von  oben  nach  unten. 
Zwar  die  „Schwäche"  der  „Apostel"  in  der  zweiten  Generation  konstatiert 
er  —  eine  ganz  merkwürdige  Behauptung,  deren  Grundlage  das  Aufhören 
der  Wundergalien  ist*  — ,  aber  die  „Apostel"  sind  kraft  eigenen  Entschlusses 
vom  Schauplatz  abgetreten  und  haben  ihre  Gewalten  auf  andere  verteilt: 
nur  so  konnte  die  lokale  Kirchengewalt  entstehen!  Eine  höchst 
künstliehe  Theorie,  ganz  beherrscht  von  dem  Zauberbegriff  des  Apostolischen. 
Die  lokale  Kirchengewalt  (bez.  der  monarchische  und  souveräne  Episkopat) 
innerhalb  der  Einzelgemeinde  hat  durch  Übertragung  ihren  Ursprung  von 
der  „apostolisch"-provinzialeu  Gewalt  erhalten.  So  lauge  die  Apostel  lebten, 
war  jene  ganz  unselbständig.  Aber  auch  dann  entstand  nicht  sofort  die 
souverän -bischöfliche  Gewalt  innerhalb  jeder  geschlossenen  Einzelgemeinde. 
Vielmehr  —  behauptet  Theodor  —  seien  es  ursprünglich  nur  zwei  oder  drei 
Städte  in  jeder  Provinz  gewesen,  die  einen  Bischof  (nun  im  neuen  Sinn  des 
Worts)  besessen  hätten.  Erst  später  und  nach  und  nach  seien  zu  diesen 
Städten  noch  andere,   ja  auch  Dörfer  hinzugekommen,    während  sich  in  den 


1)  Es  ist  sogar  wahrscheinlich,  daß  ihm  neben  Tit.  1,  5  ff",  und  I  Tim. 
;n  Iff.  vor  allem  die  bekannte  Stelle  bei  Clemens  Alex.,  Quis  dives  salv. 
(s.  Euseb.,  h.  e.  III.  23)  vorgeschwebt  hat;  denn  seine  Schilderung  der  Auf- 
gaben des  Apostel-Bischofs  deckt  sich  in  wesentlichen  Zügen  mit  dem,  was 
dort  von  dem  Wirken  des  Johannes  erzählt  ist  (§  6:  öjioy  fisr  sjiioxö.^ovg 
y.azaazijooiv ,  Öjtov  Öe  o/la?  F.y.xhjolai  dofwooyv,  öxiov  dk  xh)Qq)  sva  ys  rtva  x?.}]0(o- 
OMV  rojv  vjio  rov  m'evfiaToc;  orj/iaivonh'on',  dazu  die  Schilderung,  wie  Johannes 
hier  einen  schweren  Fall  behandelt  hat). 

2)  1  Clem.  ad  Cor.  40  ff.  kann  ihm  nicht  vorgeschwebt  haben,  denn  an 
diesem  Berichte  wäre  seine  merkwürdige  und  künstliche  Vorstellung  von 
„Aposteln"  =  Provinzbischöfen  gescheitert.  Ganz  klar  beißt  es  hier  (c.  42), 
dal.")  die  Apostel  xurä  -/mqu;  xal  Jiöhig  xtjnvaaovrfg  xal  rov?  v.-raxovorTag  zf] 
ßovh'jCFi  ToT>  deov  ßaJiri'QovzFQ  xadlozavov  zag  sjiaQ'/ug  avziöv,  Öoxi/iidaavzFg  z(p 
jirf.vnazi,  Eig  fjiinxöjiovg  xal  Öiaxövovg  zun'  /iF./J.nvz(ov  .riazsvsiv ,  und  in 
c.  44  v/ird  nicht  eine  Sukzession  von  Aposteln  nach  Aposteln,  sondern  von 
Bischöfen  nach  Bischöfen  erzählt. 

')  Theodor  scheint  so  verstanden  werden  zu  müssen,  daß  er  das  Auf- 
hören der  den  Aposteln  bisher  geschenkten  Wundermacht  als  ein  göttliches 
Zeichen  für  sie  betrachtet  hat,  sie  sollten  sich  nun  selbst  quiesziereu.  — 
Das  Aufhören  der  apostolischen  Wund^-rmacht  in  irgendeinem  Moment  der 
Geschichte  war  eine  weitverbreitete  Überzeugung  (s.  darüber  Origenes  an 
mehreren  Stellen,  den  Theodor  fleißig  gelesen  hat).  Wuudermacht  und 
apostolische  Wundermacht  sind  übrigens  nicht  identisch. 


Gemeindebilduug  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  l>is  Constantin.      ;}77 

meisten  Provinzen  des  Abendlandes  der  ältere  Zustand  noch  bis  vor  kurzem 
(und  in  einigen  sojiar  bis  zur  Gegenwart)  erhalten  hal)e'. 

Diese  ganze  Theorie  über  den  Ursprung  des  lokalen,  monarchischen 
Episkopats  ist  an  sich  undiskutierbar  *:  denn  man  darf  unbedenklich  sngen, 
dal.^  Tlieodor  keine  urkundliche  Unterlage  für  sie  besessen  hat.  Während, 
er  für  seine  „Apostel"  =  Provinzbischöfe  wenigstens  den  Schein  historischer 
Beglaubigung  durch  Berufung  auf  Timotheus,  Titus  bez.  Johannes  geltend 
machen  konnte,  fehlt  hier  jede  Beglaubigung.  Man  mul5  fragen,  wer  waren 
denn  jene  abtretenden  Apostel,  woher  weiß  man  von  ihrem  Verzichte,  woher 
weiß  man  von  der  Gewalten-Übertragung,  die  sie  vorgenommen  haben  sollenV 
Auf  diese  Fragen  hätte  Theodor  —  wir  dürfen  das  bestimmt  sagen  —  die 
Antwort  schuldig  bleiben  müssen ;  denn  in  welchen  Urkunden  war  darüber 
etwas  zu  lesen?  Nicht  ohne  Grund  hat  Theodor  daher  auch  den  Moment 
des  Verzichts  verschleiert;  man  kann  nur  ahnen,  daß  er  etwa  um  das  Jahr 
100  eingetreten  sein  soll  ^. 

Dennoch  hat  mau  Grund.  Theodors  Ausführungen  nicht  einfach  bei- 
seite zu  werfen;  denn  sie  regen  einen  Komplex  von  Fragen  an,  dem  die 
Aufmerksamkeit  der  Historiker  bisher  nicht  genügend  zuteil  geworden  ist: 
wie  verhalten  sich  Gemeinde -Bischof,  Territoria]-(Provinz-j  Bischof —  wenn 
es  einen  solchen  gegeben  hat  —  und  Metropolit?  In  bestimmterer  Fassung: 
hat  es  Territorial- (Provinz-) Bischöfe  in  frühester  Zeit  gegeben,  und  ist  der 
Territorial-iProvinz-)Bischof  vielleicht  sogar  älter  als  der  Gemeinde-Bisehof? 
Ferner,  sind  etwa  die  durch  diese  zwei  Ämter  bezeichneten  disparaten  Organi- 
sationen gleichzeitig  erwachsen  und  haben  sich  erst  später  ausgeglichen  ? 
Endlich,  ist  die  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  2.  Jahrhunderts  erkennbare 
Metropolitenwürde  älteren  Ursprungs,  ist  sie  vielleicht  nur  die  Fortsetzung 
eines  früher  bestehenden  provinzial- kirchlich  monarchischen  Amtes?  Diese 
Fragen  haben  für  die  Verbreitungsgeschichte,  ja  für  die  Statistik  der  ältesten 
Christenheit  eine  hohe  Bedeutung;  denn  angenommen,  daß  es  in  zahlreichen 
Provinzen  Generationen  hindurch  die  Regel  gewesen  ist,  es  bei  einem,  zwei 
oder  drei  Bistümern  zu  belassen,  so  könnte  man  aus  der  geringen  Zahl  von 
Bistümern  in  gewissen  Provinzen  nicht  schließen,  daß  das  Christentum  nur 
spärlich  in  ihnen  vorhanden  gewesen  sei.  Die  Untersuchung  dieser  Frage 
ist  aber  um  so  dringlicher,  als  jüngst  Duchesne  sie  gestreift*,  auf  Theodors 
Ausführungen,  wenn  auch  mit  Zurückhaltung,  sich  berufen  und  in  bezug 
auf  die  Organisation  der  Kirche  in  Gallien  weittragende  Schlüsse  gezogen 
hat.  Wir  werden  zunächst  seine  Aufstellungen  (p.  1 — 59)  kennen  zu  lernen 
habend     Ich  gebe  das  Hauptresultat  in  seinen  eigenen  Worten: 


')  Theodor  scheint  diesen  älteren  Zustand  für  den  idealen  zu  halten, 
jedenfalls  gibt  er  seinem  Mißfallen  über  die  Dorf- Bistümer  Ausdruck. 

-)  Um  so  mehr,  als  Theodor  auf  die  Frage,  wie  die  Einzelgemeinde 
am  A n f a n g  regiert  worden  ist  ( kollegial  oder  durch  einen  Presbyter- 
Bischof),  nicht  eingeht.  Wie  es  in  der  Einzelgemeinde  zur  Monarchie  ge- 
kommen ist,  darüber  schweigt  er.  Man  scheint  annehmen  zu  müssen,  daß 
nach  seiner  Meinung  die  Einzelgemeinden  Generationen  hindurch  kollegial 
regiert  worden  sind. 

')  Einen  „Beweis"  bringt  Theodor  lediglich  für  die  Behauptung  bei, 
daß  ursprünglich  nur  zwei  oder  drei  Bistümer  in  jeder  Provinz  gewesen 
seien;  er  verweist  auf  die  abendländischen  Verhältnisse,  wie  sie  jüngst  be- 
standen hätten  und  zum  Teil  noch  bestünden.  Aber  hier  ist  zu  fragen,  ob 
dieser  Zustand  richtig  beobachtet  ist,  und  ob  er  mit  dem,  was  um  das  Jahr 
100  eingetreten  sein  soll,  wirklich  verknüpft  werden  darf. 

*)  Fastes  episcopaux  de  l'ancienne  Gaule  I  (1894j  p.  36  ff'. 

*)  Man  beachte,  daß  Duchesne  diese  Schlüsse  nur  für  Gallien  gezogen, 


378       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

P.  32.  .,Dans  les  piiy.s  situes  a  quelque  distance  de  la  Mediterranee  et 
de  la  basse  vallee  du  Rhone,  il  ne  s'est  fonde  aucune  eglise  (Lyon  exceptee) 
avant  le  milieu  du  III t'  siecle  environ." 

P.  08 f.  tII  en  resulte  que,  dans  Paucienne  Gaule  celtique,  avec  ses 
grandes  subdivisious  en    Belgique,   Lyonnaise,  Aquitaine  et  Geruianie,   une 

seule  eglit-e  existait  au  II e  siecle,  celle  de  Lyon" Ce  que  nos  documents 

nous  apprennent,  c'est  que  Peglise  de  Lyon  etait,  en  dehors  de  la  Narbonnaise, 
non  la  premiere,  mais  la  seule.  Tous  les  chretieus  epars  depuis  le 
Rhin  jusqu'aux  Pyrenees'  ne  forniaient  qu'une  seule  commu- 
naute;  ils  reconnaissaieut  un  chef  unique,  l'eveque  de  Lyon." 

P.  59.  , Avant  la  fin  du  III ^  siecle  —  sauf  toujours  la  region  du  bas 
Rhone  et  de  la  Mediterranee.  —  peu  d'eveches  en  Gaule  et  cela  seulenient 
dans  les  villes  les  plus  importantes.  A  l'origine,  au  premier  siecle  chretien 
pour  notre  pays  (150 — 250),  une  seule  eglise,  celle  de  Lyon,  reunissant  dans 
un  menie  cercle  d'action  et  de  direction  tous  les  groupes  chretiens  epars 
dans  les  diverses  provinces  de  la  Celtique." 

I)uchesne  ist  zu  diesem  Ergebnis  auf  Grund  folgender  Beobachtungen 
gelangt : 

L  Kein  glaubwürdiges  Zeugnis  für  irgend  eines  der  gallischen  Bistümer 
außer  Lyon  reiche  über  die  Mitte  des  o.  Jahrhunderts  hinauf'-.  Die  Bischofs- 
listen, soweit  sie  überhaupt  in  Betracht  kommen,  führen  auch  nicht  weiter; 
so  werde  Verus  von  Vienne,  der  bei  dem  Konzil  von  Arles  im  Jahre  314  zu- 
gegen gewesen  ist,  in  den  Listen  als  der  4.  Bischof  gezählt.  Also  könne  der 
Ursprung  des  Episkopats  daselbst  schwerlich  vor    +    250  angesetzt  werden. 

2.  In  dem  bekannten  Schreiben  von  Vienne  und  Lyon  (Euseb.,  h.  e.  V,  1) 
laute  die  Aufschrift:  ol  h'  Bih'r>j  x(d  AovydovvM  rrj?  FaVaa?  craooixovvreg 
SovXoi  Xqioxov.  Diese  Aufschrift  sei  analog  den  Aufschriften:  ■>)  Fxy.kr^oia  tov 
deov  rj  jiarjotxovan  'Pwftt]v  bez.  KÖQivdov,  ^>iXinjiovg,  Sf-ivQvav  u.  s.  w.  imd  stelle 
somit  nach  der  nächstliegenden  Auffassung  die  beiden  Gemeindtn  als  eine 
Einheit  dar^. 

ö.  In  dem  Schreiben  werde  „der  Diakon  Sauctus  von  Vienne"  erwähnt; 
diese  Formel  erkläre  sich  schwer,  wenn  es  sich  um  einen  der  Diakonen  des 
Bischofs  von  Vienne  gehandelt  hätte,  sie  sei  aber  sehr  natürlich,  wenn  Sanctus 
der  die  unselbständige  (iemeinde  von  Vienne  leitende,  von  dem  Lyoneser 
Bischof  delegierte  Diakon  von  Vienne  gewesen  sei,  Vieime  selbst  also  keinen 
Bischof  gehabt  habe. 

4.  Irenäus  spreche  in  seinem  großen  Werk  von  Kirchen  in  Germanien 
sowie  bei  den  Iberern,  Gelten  und  Libyern;   nun  stehe  es  aber  fest,   daß  es 


und  daß  er  in  bezug  auf  andere  Provinzen  sein  letztes  Wort  noch  nicht 
gesprochen  bat.  Ich  habe  Grund  zu  der  Annahme,  daß  seine  und  meine 
Beurteilung  nicht  sehr  verschieden  sind.  Ich  polemisiere  daher  im  folgenden 
nicht  gegen  ihn,  sondern  gegen  Schlüsse,  die  aus  seinen  Darlegungen  gezogen 
werden  können. 

')  Die  Erwähnung  der  Pyrenäen  macht  es  klar,  daß  Duchesne  in  das 
Gebiet,  in  welchem  Lyon  das  einzige  Bistum  gewesen  sein  soll,  auch  Aqui- 
tanieu  und  den  äußersten  Südwesten  Frankreichs  einschließt. 

-j  Nur  Arles  hat  sicher  vor  dem  Jahre  250  bestanden,  wie  aus  dem 
Briefwechsel  Cyprians  hervorgeht;  aber  es  liegt  in  der  Narbonensis,  und 
diese  Provinz  ist  von  der  hier  schwebenden  Betrachtung  ausgeschlossen. 

^;  Dieses  Argument  ist  allerdings  vorsichtig  gefaßt  (p.  40):  ,Cette  for- 
mule  semble  plutot  designer  un  groupe  ecclesiastique  que  deux  groupes 
ayant  chacun  son  Organisation  distincte;  en  tout  cas,  eile  n"otfre  rien  de 
contraire  ä  l'indistinction  des  deux  eslises." 


Gemeindebildung  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.      37;) 

in  Germanien  (den  römischen  Militärproviuzen  Germanien;  an  das  freie  Ger- 
manien sei  nicht  zu  denken)  damals  organisierte  Kirchen  noch  nicht  gegeben 
hat;  spreche  hier  Ireuäus  doch  von  , Kirchen",  so  meine  er  also  Kirchen,  die 
nicht  Bischofskirchen  waren  ^ 

5.  Theodor  (s.  0.)  bezeuge,  daß  im  Abendland  in  den  meisten  Provinzen 
bis  vor  kurzem  nur  zwei  bis  drei  Bischöfe  gewesen  seien,  und  daß  dieser 
Zustand  noch  eben  in  einigen  andauere;  da  für  Süd-,  Mittel -Italien  und 
Africa  eine  große  Anzahl  von  Bistümern  bezeugt  ist,  so  müsse  man  an  die 
anderen  abendländischen  Länder  denken ;  zwar  decke  das  Zeugnis  Theodors 
streng  genommen  nur  seine  eigene  Zeit,  aber  es  füge  sich  tretflich  zu  den 
Argumenten  1 — 4,  und  es  liege  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die  Bistümer  in 
der  früheren  Zeit  nicht  zahlreicher  waren  als  in  der  späteren. 

6.  Eusebius  (h.  e.  V,  23)  erwähne  einen  Brief  twv  xazä  ra).ltav  nagoi- 
Hicüv  äg  ElQrjvaiog  EJieoxönei.  Allerdings  bezeichne  Jiaooixla  gewöhnlich  die 
bischöfliche  Diözese,  und  Eusebius  habe  das  Wort  in  diesem  Sinn  in  dem- 
selben Kapitel  gebraucht;  aliein  man  müsse  dem  Wort  hier  doch  eine 
andere  Bedeutung  geben.  „Le  verbe  EJiioy.ojinr  ue  saurait  s'enteudre  d'une 
simple  presidence  comme  serait  celle  d'un  metropolitain  ä  la  tete  de  son 
concile.  Cette  derniere  Situation  est  visee  daus  le  meine  passage  d'Eusebe; 
en  parlaut  de  l'eveque  Theöphile,  qui  presida  celui  du  Pont,  il  se  sert  de 
l'expression  jiQovihaxro.'^  Also  bedeuten  in  diesem  Falle  miQoixiai  „grouj)es 
detaches,  disperses,  d'une  meme  grande  eglise"  —  ,plusieurs  groupes  de 
chretiens,  epars  sur  divers  points  du  territoire,  un  seul  eeutre  ecclesiastique, 
un  seul  eveque,  celui  de  Lyon."' 

7.  Auch  in  anderen  großen  Provinzen  fänden  sich  analoge  Erscheinungen 
(daß  zunächst  und  längere  Zeit  hindurch  nur  ein  Bischof  vorhanden  gewesen 
sei);  allein  der  Nachweis  würde  zu  weit  führen^;  Duchesne  begnügt  sich 
daher,  einen  besonders  schlagenden  Beleg  anzuführen.  Der  anonyme  Anti- 
montanist,  der  in  Jahre  192  (193)  geschrieben  hat  (Euseb..  h.  e.  V,  16),  erzählt, 
er  habe,  als  er  nach  Ancyra  in  Galatien  gekommen  sei,  die  pontische 
Kirche  (lijv  xaia  TIövxov  exxlrjolav)  von  der  neuen  Prophetie  angefüllt  und 
verwirrt  gefunden.  Ancyra  liegt  nicht  im  Pontus  und  —  „ce  n'est  pas  des 
nouvelles  de  l'eglise  du  Pont  qu'il  a  eues  ä  Ancyre,  c'est  l'eglise  elle- 
meme,  l'eglise  du  Pont,  qu'il  y  a  rencontree.  Hieraus  folge  mit 
Wahrscheinlichkeit  •\  daß  die  Kirche  des  Pontus  noch  zur  Zeit  des  Septimius 
Severus  um  das  Jahr  200*  ihren  „chef-lieu"  in  Ancyra  hatte. 

8.  Eine  Bestätigung  für  die  äußerst  langsame  Zunahme  der  Bistümer 
in  Gallien  biete  noch  das  Konzil  von  Arles  (314);  daselbst  seien  vier  Pro- 
vinzen (la  Germanie  L,  la  Sequanaise,  les  Alpes  Grees  et  Pennines,  les  Alpes 


*)  So  glaube  ich  Duchesnes  Argumentation  verstehen  zu  müssen  (p.  40  f.); 
ganz  klar  ist  sie  mir  nicht  geworden. 

^)  P.  42:  „D'autres  eglises  que  celle  de  Lyon  ont  eu  d'abord  un  cercle 
de  rayounement  tres  etendu  et  ne  se  sont  en  quelque  sorte  subdivisees 
qu'apres  une  indivision  d'assez  longue  duree.  Je  ne  veux  pas  entrer  ici  dans 
l'histoire  de  l'evangelisation  de  l'empire  romain:  cela  m'entrainerait  beau- 
coup  trop  loin.  11  me  serait  facile  de  trouver  en  Syrie,  en  Egypte  et  ailleurs 
des  termes  de  comparaison  assez  interessants.  Je  les  neglige  pour  me  borner 
a  un  seul  exemple  etc." 

*)  Duchesne  verweist  auch  noch  auf  die  Nachrichten  über  die  Christen 
im  Pontus,  die  wir  bei  Gregorius  Thaumaturgus  besitzen. 

*)  In  diese  Zeit  setzt  also  Duchesne  den  Anonymus;  meines  Erachtens 
etwas  zu  spät. 


SSO       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Maritimes)  nicht  vertreten  gewesen,  also  könne  man  annehmen,  daß  sie 
autonome  Kirchen  überhaupt  noch  nicht  besessen  haben'. 

Zu  diesen  Argumenten  für  die  Annahme  der  Existenz  von  Bischofs- 
kirchen, die  sich  über  weite  Gebiete  und  zahlreiche  Städte,  ja  über  mehrere 
Provinzen  zugleich  erstreckt  hätten,  möclite  ich.  bevor  ich  sie  prüfe,  noch 
eine  Reihe  von  Beobachtungen  stellen,  die  zugunsten  der  Hypothese  zu 
sprechen  scheinen  : 

1*.  Paulus  (II  Cor.  1,  1)  schreibt:  .  .  .  rfi  ixxXijola  tov  Oeov  rfi  oi'o/j  iv 
Kogiv&fi}  orr  roTg  ayiotg  Jiäaiv  röig  ovoiv  ir  ohj   rfi  'Ayjun. 

2*.  In  den  Ignatiusbriefen  (um  das  Jahr  115)  heißt  Antiochien  nicht  nur 
al'solut  ■)]  fV  ^vQin  }HxX}]oia  (Kom.  9,  Magn.  14,  Trall.  18),  sondern  Ignatius 
selbst  nennt  sich  auch  6  sjiioxojjo?  ^vQlag  (Rom.  2). 

3*.  Dionysius  von  Corinth  (Euseb.,  h.  e.  IV,  23.  5)  schreibt  einen  Brief: 
7/7  Exxh]oln  rfj  jiaQoixovo)]  Fofiivrav  a/ia  raTg  /o^7«^c  xarä  Koi'jtijv,  'Pi'/.i.-tjtov 
£jTiaxo:^ov  avrcöv  djrodeyö/iievog. 

4*.  Ebenderselbe  (a.  a.  0.  ^  6)  schreibt  einen  Brief:  ri]  ixxXtjot'n  rfi 
jTnooixot!G)/'AfiaoTQiv  OLfia  raig  xarü  IIöviov,  Baxyvllöov  /tkr  xai  'EX^jicotov  (haäv 
ui'Tüv  ijTi  TU  yQmpai  jTQoz^eij'dvTMr  ftefirr/fdrog  .  .  .  fjiioxojrov  avTcor  drü/iari 
Half  luv  vjTOotjfiah'ior. 

5*.  Euseb.,  h.  e.  111,4,6  heißt  es:  Ttfw&EÖg  ya  fo/)'  tTjc  tr  'Eq^iow 
-innoixiug  laTonsnai  jtowto?  tijv  t.yioxo.-Tijv  sthj/erni ,  wg  xai  Ti'rog  töjv  im 
Ko/jztjg  ixxhjGiwv. 

6*.  Euseb.,  h.  e.  V,  24,  11:  6  EiQtjvaiog  ix  jtpoomjtoi'  lor  i'jytTTo  xard  Ttjf 
Falliav  adFlqHov  imoTslXag  ,  vgl.  VI,  46:  Aiorvoiog  zoig  xaiä  'Agfitri'ar  uösX'i'oTg 
iniGTeXlEi,  (jjv  ijreoxdjisin;  Msoovl^mn^g. 

1*.  Euseb.,  h.  e.  VI,  2,  2:  zöw  Ök  iv  Aiyvjzzo)  :raf>oixtojt'  zijv  i.-Tiaxo.-zi/v 
vKoazl  zöze  fieza  UovXiavov  AtjfujzQiog  imEiXy'jqtEi. 

8*.  Euseb.,  h.  e.  VII,  14:  zijg  fter  'Piofiaicov  ixxXi]olag  .  .  .  Evozog,  zyg  ds 
ijz'  'Ai'zioyEiug  .  .  .  Atj/Djzgiavög ,  'PiQ/.itXiardg  8f.  Katoagsi'ag  rfig  Kajznaöoxöjv, 
y.ai  EJzl  Tovzoig  ziöv  xaTÜJIörzov  i x  x  X  >j  o  i  lo  r  Fgtjyogiog  xai  d  zoinov  d8s/^(p6g 
AdtjvndcoQOg. 

9*.  P]useb.,  h.  e.  VII,  28:  'PigfuXiavdg  [üv  zT/g  Kajzjzadoxwv  Kataagsiag 
i.-zioxojzog  tjv,  Fgi^yögiog  dk  xal'AOtjvoÖcogog  dftfX.q'oi  zöiv  xazäTIövzor  jzagoi- 
X  I  cöv  jzoi/iivsg,  xai  im  rovzotg  "EXerog  zfjg  iv  Tdgoo)  jzagoixiag,  xai  Nixofiäg  Tijg 
iv  Fxovup,  xzX. 

10*.  Euseb.,  h.  e.  Vll  ,  32,  20:  MsXJziog  nor  xazd  Ilürzov  ixxXijouJjv 
i7ilaxo:iog. 

11*.  Eusel>.,  h.  e.  VII,  26.  3:  BaniXu'öijg  6  p^arä  zijv  nevzd.ToXiv  .-ragoixuov 
ijTt'oxojzog. 

12*.  Euseb.,  h.  e.  VIII,  13,4.5:  ^iXßarug  töjv  d/;<)i  zlp-'E/aoav  ixxXijotöJr 
iixioxojzog  ....   ^iXßavdg  inlaxojzog  rojv  dfi(pl  zljv  /«C«''  ixxX)]oia)v. 

13*.  Subscr.  Nicaenae  syuodi  (ed.  Geizer  et  socii) :  KaXaßglag.  Mdgxog 
KaXaßglag.  —  AagÖaviag.  Adxog  MaxsSovi'ag.  —  (-^moaXiag .  KXavÖiardg  (-haoa- 
Xiag,  KX.sdvixog  (•JijßcTjv.  —  llavvoviag.  Aöfi.vog  Tlavvoviag.  —  Eozdiag.  OsüffiXog 
l'ozOiag.    —   Boojzögov.   Kdö/iog  Boö:jdgov. 

')  Ein  Gegenargument  hat  Duchesne  berücksichtigt.  Cypr.  ep.  68  heißt 
es,  Eaustinus,  Bischof  von  Lyon,  habe  an  den  Papst  Stephanus  (um  das 
.hihr  254)  geschrieben,  sowohl  in  seinem  Namen  als  in  dem  der  „ceteri  coepis- 
copi  nostri  in  eadem  provincia  couslituti".  Duchesne  räumt  ein,  daß  die 
fiühesten  Pistümer  (nach  Lyon)  bereits  damals  in  der  Lugdunensis  bestanden 
habim  könnten,  er  meint  aber,  es  liege  näher,  an  die  Bischöfe  an  der  unteren 
Rhone  und  am  Mittelmeer,  also  in  der  l^ruvinz  Narbonensis  zu  denken,  die 
ja  längst  Bischöfe  besessen  habe. 


Gemeindebilduug  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pins  bis  Constantin.      381 

14*.  Apost.  Constit.  VII,  40:  Koiiaxtj:  xwv  xarn  raXarlav  txy.Xrjouov, 
lAxvXa?  Ök  xal  NixtjTt]?  rwr  xaza  'Aatar  TraQoiy.iwv^. 

15*.  Sozomenus  (VII,  19)  sagt,  Scythion  habe  nur  einen  Bischof,  ob- 
gleich viele  Städte  daselbst  seien  (vergl.  dazu  Theodoret,  h.  e.  IV,  .'31,  wo 
Bretanio  der  Hohepriester  aller  Städte  in  Scythien  heißt). 

Ad  1.  Das  erste  Argument  Duehesnes  ist  ein  argumentum  e  .silentio. 
Dazu  kommt,  daß  wir  keine  Schriften  haben,  in  denen  direkte  Angaben  über 
alte  gallische  Bistümer  zu  erwarten  wären;  also  ist  das  argumentum  e  silentio 
kaum  als  Argument  in  Betracht  zu  ziehen.  Es  ist  aber  das  einzige  absolut 
zuverlässige  Zeugnis,  welches  wir  für  die  Geschichte  der  gallischen  Kirche 
aus  der  Mitte  des  3.  .Jahrhunderts  besitzen,  von  Duchesne  zwar  gestreift, 
aber  nicht  gewürdigt  worden  —  Cypr.  ep.  68  -.  Dieser  Brief  Cyprians  an  den 
römischen  Bischof  Stephanus  sucht  diesen  für  die  Absetzung  des  novatianisch 
gesinnten  Bischofs  Marcian  von  Arles  zu  gewinnen  und  beginnt  mit  den 
Worten:  „Faustinus  coUega  noster  Lugduni  consistens  semel  adque  iterum 
mihi  scripsit  significans  ea  quae  etiam  vobis  scio  utique  nuntiata  tam  ab- 
eo  quam  a  ceteris  coepiscopis  uostris  in  eadem  provincia  constitutis."  Daß 
hier  unter  „eadem  provincia"  die  Narbonensis  zu  verstehen  ist,  ist  sehr 
unwahrscheinlich;  denn  (1)  Lyon  lag  nicht  in  der  Narbonensis,  (2)  wenn  die 
Bischöfe  der  Narbonensis  selbst  Gegner  des  Marcian  gewesen  wären  und  ihn 
hätten  abschütteln  wollen,  so  müßte  der  Brief  Cyprians  auders  lauten,  als 
er  lautet,  und  es  wäre  schwerlich  nötig  gewesen,  daß  die  drei  größten 
Bischöfe  des  Abendlandes,  der  von  Lyon,  Carthago  und  Rom,  in  die  An- 
gelegenheit eingi-ift'eu,  (3)  c.  2  schreibt  Cyprian:  „quapropter  faeere  te  oportet 
plenissimas  litteras  ad  coepiscopos  nostros  in  Gallia  constitutos,  ne  ultra 
Marcianum  pervicacem  et  superbum  .  .  .  collegio  nostro  insultare  patiantur" 
und  c.  3;  „dirigautur  in  provinciam  et  ad  plebem  Arelate  consisten- 
tem  a  te  litterae  quibus  abstento  Marciano  alius  in  loco  eins  substituatur". 
Augenscheinlich  handelt  es  sich  hier  um  zwei  (bez.  drei)  Briefe,  nämlich  um 
einen  an  die  Bischöfe  Galliens,  und  einen  zweiten  (bez.  2.  und  3.),  der  nicht 
nur  an  die  plebs  Arelate  consistens,  sondern  auch  an  die  provincia  —  dar- 
unter kann  nur  die  Narbonensis,  in  der  Arles  lag,  verstanden  werden  —  zu 
richten  sei.  Hieraus  folgt,  daß  die  ,coepiscopi  uostri  in  Gallia  constituti" 
(c.  2)  schwerlich  identisch  sind  mit  den  Bischöfen  der  Narbonensis,  und  dar- 
aus ergibt  sich  weiter  —  was  an  sich  bereits  als  die  nächstliegende  Er- 
klärung erscheint  — ,  daß  die  „coepiscopi  nostri  in  eadem  provincia  con- 
stituti" (c.  1)  die  Bischöfe  der  lugdunensischen  Provinz  sind.  Also  besaß 
die  Lugdunensis  zur  Zeit  Cyprians  mehrere  Bischöfe,  die  be- 
reits zu  einer  Synode  zusammengeschlossen  waren^  und  mit 
Rom  korrespondierten.  Wie  alt  die  Bistümer  waren,  können  wir  aus 
der  Stelle  nicht  enträtseln ;  daß  sie  sämtlich  eben  erst  gegründet  gewesen 
sind,  ist  jedenfalls  nicht  das  Wahrscheinliche.  Nun  verweist  aber  Duchesne 
in  diesem  Zusammenhang  darauf,  daß  der  auf  dem  Konzil  zu  Arles  (314)  an- 
wesende Bischof  Verus  von  Vienne  in  einer  alten  Liste  als  der  vierte  Bischof 


^)  Nur  der  Vollständigkeit  wegen  sei  angeführt,  daß  der  liber  Prae- 
destinatus  „Diodorus  episc.  Cretensis"  (c.  12),  „Dioscurus  Cretensis  episc."  (c.  20), 
„Craton  episc.  Syrorum"  (c.  33),  „Aphrodisius  Hellesponti  episc."  (c.  47),  „Basi- 
iius  episc.  Cappadociae"  (e.  48),  „Zeno  Syrorum  episc."  (c.  50),  „Theodotus 
Cyprius  episc."  (e.  56)  anführt. 

-)  Siehe  die  Anmerkung  auf  der  vorigen  Seite. 

^)  So  wird  man  das  ,tam  a  Faustiuo  quam  a  ceteris  coepiscopis  nostris 
in  eadem  provincia  constitutis"  Cyprians  verstehen  müssen. 


3^2       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

von  Vienne  gezählt  werde :  somit  könne  der  Ursprung  des  Bistums  daselbst 
schwerlich  vor  +_  250  fallen.  Allein  die  Liste  selbst  ist  .jung  und  frag- 
würdig; und  selbst  zugestanden,  sie  sei  zuverlässig,  so  ist  es  willkürlich,  eine 
mittlere  Durchschnittszeit  von  18  Jahren  für  die  Dauer  eines  Episkopats 
anzunehmen.  Gesetzt  aber  auch,  dies  wäre  zutreffend,  so  wäre  eben  nur  zu 
folgern,  daß  Yienne  (obschon  in  der  Narbonensis  gelegen,  wo  auch  nach 
Duchesne  Bistümer  in  früher  Zeit  gegründet  worden  sind)  sein  Bistum  erst 
später  erhalteu  hat.  Für  die  Städte  der  Lugdunensis  wäre  aus  dieser  Tat- 
sache nichts  zu  folgern. 

Ad  2.  Duchesne  meint,  die  Aufschrift  des  Briefs  (Euseb.,  h.  e.  V,  1): 
Ol  SV  Bihrij  y.ai  Aovyöovvco  rfjg  FakUag  jzaootxovvteg  dov?.oi  Xqiotov  scheine 
die  Christen  von  Vienne  und  Lyon  als  eine  einheitliche  Gemeinde  zu  be- 
zeichnen. Allein  wenn  dem  so  wäre,  müßte  man  erwarten,  daß  Lyon  voran- 
stünde, da  ja  nur  in  Lyon  ein  Bischof  gewesen  sein  soll,  nicht  aber  in  Vienne. 
Ferner,  nicht  von  iy.y.hjolai  oder  exy.hjoia,  sondern  von  öovloi  Xqiotov  ist  die 
Rede,  wie  ja  auch  in  der  Adresse  o'i  y.axä  Ttp'  'Aaiav  y.al  <Pov)'iav  adelqpoi, 
nicht  aber  „Kirchen"  genannt  werden.  Also  läßt  sich  über  die  Organisation 
der  Christen  aus  dieser  Stelle  überhaupt  nichts  entnehmen.  Vienne  und 
Lyon  lagen,  obgleich  sie  zu  verschiedeneu  Provinzen  gehörten,  sehr  nahe 
bei  einander,  und  die  Christen  daselbst  hatten  dieselbe  Kalamität  erlebt:  so 
erklärt  es  sich,  daß  sie  ad  hoc  einen  gemeinsamen  Bericht  abgestattet  haben. 
Es  kommt  aber  noch  hinzu,  daß  §  13  ausdrücklich  von  den  beiden  Kirchen 
gesprochen  wird  (ovllsyrjvai  ey.  töjv  ovo  tyxhjouov  Jiävzag  rovg  ojtovöaiovg). 

Ad  3.  'EvEoytjipsv  t)  ogyi}  Jiäoa  Fig  Zäyxzov  rov'^  didyorov  utto  Bievv)]g. 
Duchesn es  Erklärung.  Sanctus  sei  hier  als  der  die  unselbständige  Gemeinde 
leitende,  von  dem  Lyoneser  Bischof  delegierte  Diakon  von  Vienne  bezeichnet, 
ist  möglich,  aber  keineswegs  sicher.  'Ajio  ist  in  diesem  Sinn  ungewöhnlich 
(wenn  auch  nicht  unerträglich)-;  man  kann  sehr  wohl  übersetzen:  „der  aus 
Vienne  stammende  Diakon"  [seil,  der  Gemeinde  von  Lyon]^.  Gesetzt  aber 
auch,  Sanctus  sei  hier  als  Diakon  der  Gemeinde  von  Vienne  bezeichnet,  was 
auch  ich  für  das  Wahrscheinlichere  halte,  so  scheint  mir  die  Folgerung  doch 
vorschnell  und  bedenklich,  Vienne  habe  nur  einen  Diakon  und  keinen 
Bischof  (auch  keinen  Presbyter)  besessen.  Da  ist  doch  auf  den  Artikel  vor 
öiö.y.ovov  zu  viel  gebaut!  Indes,  es  mag  dem  so  sein;  wir  kommen  später 
noch  einmal  auf  diese  Stelle  zurück.  Nur  soviel  sei  hier  noch  gesagt,  daß 
die  ausdrückliche  Bezeichnung  des  Pothinus  in  dem  Brief  nicht  als  „unser" 
Bischof,  auch  nicht  als  „der"  Bischof,  sondern  als  7>)v  Ötayoviav  t>)c  l^i- 
oxoTiiig  Tfjg  sv  Aovyöovvco  jismotevfisvog ,  der  Hypothese,  nur  Lyon,  nicht 
aber  Vienne  habe  damals  einen  Bischof  besessen,  wenig  günstig  ist. 

Ad  4.  Die  Stelle  Iren.  I,  10,  2  (yal  oihe  ai  iv  FsQ/naviatg  lögv/iarai  iy.xb}- 
oi'ui  äXlcog  TiEJiioisvxaaiv  i]  ä).loig  nagaöiööaoiv ,  ovzs  ev  xdig  'IßrjQiaig,  oi'rs  h' 
KflzoTg,  ovzs  xazlx  zag  ävazoläg  ovts  iv  Alyvjizo) ,  ovzs  iv  Aißmj  ovzs  ai  xazä 
nson  zov  y.ooitov  iS^v/isvai)  ist  bei  sehr  skeptischer  Auslegung  neutral  —  wie 
die  Kirchen  in  Germanien   und  bei   den  Kelten  organisiert  waren,   geht  aus 


')  So  liest  mit  Recht  Schwartz. 

■^)  Vgl.  Euseb.,  h.  e.  V,  19:  Ailtog  TlovjrXiog  Fov/uog  djTo  Asßshov  y.o/.(ovsiag 
zyg  Soüy.t^g  i:iioxo7Tog.  Die  Parallele  ist  freilich  nicht  schlagend,  da  sich 
Julius"  damals  auf  einer  Versammlung  in  Phrygien  befand,  als  er  selbst  die.se 
Worte  niederschrieb. 

')  Vgl.  das  gleich  folgende  elg  'AzTa?Mv  IIsQynfup-ov  zö>  yivsi,  ferner  §  49: 
'A?J^av()(jög  xig ,  <Pqv'^  /.isv  zo  ysvog ,  iazQog  ds  zijv  ijiiozyfnjv.  Neu  mann  (Der 
römische  Staat  und  die  allg.  Kirche  I  [1890]  S.  30)  schreibt:  „Erscheint  der 
Diakon  Sanctus  von  Vienna  vor  dem  Tribunal  des  Legaten  der  Lugudunensis, 
so  ist  Sanctus  in  Luguduuum  ergriifen  worden." 


Gemeiudebilduug  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.      3S3 

deu  Vv  orten  nicht  hervor  — :  aber  die  nächstliegende  Erklärung  ist  doch  die, 
daß  diese  ,, Kirchen"  ebenso  vollständig  und  in  sich  geschlossen  waren  wie 
die  mit  ihnen  auf  gleicher  Stufe  genannten  Kirchen  des  Orients,  Ägyptens, 
Libyens  und  des  zentralen  Südeuropas.  Jedenfalls  läßt  sich  aus  der  Stelle 
nichts  für  Duch  esn es  Ansicht  folgern;  die  Meinung,  in  Germanien  könnten 
in  sich  geschlossene  Kirchen  nicht  vorhanden  gewesen  sein,  ist  eine  petitio 
principii. 

Ad  5.  Theodors  von  Mopsvestia  Zeugnis  kann  für  die  älteste  Zeit  an 
sich  nicht  ins  Gewicht  fallen;  auch  setzt  er  voraus,  daß  nach  dem  Abtreten 
der  , Apostel"  {^=-  Proviuzbischöfe)  jede  Provinz  zwei  bis  drei  Bischöfe  erhalten 
habe;  Duchesne  will  nachweisen,  daß  die  drei  Gallien  etwa  100  Jahre  hin- 
durch nur  einen  Bischof  besessen  hätten. 

Ad  6.  Dieses  Argument  scheint  auf  den  ersten  Blick  besonders  schlagend, 
erweist  sich  aber  bei  näherer  Prüfung  als  hinfällig,  ja  kehrt  sich  in  sein 
Gegenteil.  Der  Ausdruck:  tüjv  xarä  FaDÄar  naqoixiön'  «s  Etof/raTo;  ejisoxoTisi, 
soll  nicht  von  bischöflichen  Diözesen,  die  Irenäus  als  Metropolit  leitete, 
sondern  nur  von  zerstreuten  christlichen  Gruppen  verstanden  werden  können 
(obgleich  dicht  daneben  ))  Ttaooixia  die  bischöfliche  Diözese  bedeutet),  da 
e.-tiay.07TFh-  nur  von  direkter  bischöflicher  Funktion  verstanden  werden  dürfe; 
allein  h.  e.  VII,  26,  3  bezeichnet  Eusebius  den  Basilides  als  „6  y.arä  tjjv  Uevid- 
^o'/.iv  TtaQoixiüw  tjrtoy.ojTog"  (ad  11*)  und  h.  e.  VII,  82,  26  den  Meletius  als 
„rcöv  y.arä  Jlövror'  iy.y./.t]Oiü)v  ijrlay.OTiog"  (ad  10*).  Es  steht  aber  fest  —  und 
zwar  bezeugt  das  Eusebius  selbst  — ,  daß  es  in  der  Pentapolis  und  im  Pontus 
damals  mehrere  Bistümer  gegeben  hat  ^  Also  bezeichnet  hier  „ejii- 
oyojTog  jraQoi  yiüjv"  die  Met  rop  oliten  würde -.  Ebenso  ist  „naQoixiag 
eTnay.ojisTv"  auch  in  bezug  auf  Irenäus  zu  verstehen:  er  war  im  Sinne  des 
Eusebius  Metropolit  der  gallischen  bischöflichen  Diözesen.  Weit  entfernt 
also,  daß  unsere  Stelle  bezeugt,  es  habe  um  das  Jahr  190  in  Gallien  nur 
einen  Bischof  gegeben,  bezeugt  sie  vielmehr,  daß  es  ihrer  mehrere 
waren*. 

Ad  7.  Dieses  Argument  ist  ganz  unhaltbar:  die  Kirche  des  Pontus  soll 
noch  um  200  ihren  bischöflichen  Mittelpunkt  in  dem  galatischen  Ancyra  be- 
sessen haben !  Aber  um  190  hatte  sie  doch  bereits  einen  eigenen  Metropoliten ; 
denn  im  Osterstreit  führt  Eusebius  (V,  23)  ein  Schreiben  an  rcöv  y.azä  Tlövrov 
i.riayörrcor ,  dn-  IJcV./jag  wg  ägyaiÖTaTog  jioovreray.iol  Daß  Duchesne  diese 
Stelle  übersehen  konnte,  ist  um  so  auffallender,  als  er  kurz  vorher  das  Kai^itel 
zitiert  hat.  Dieser  Palmas  residierte  aber  nicht  etwa  in  Ancyra,  sondern  in 
Amastris,  wie  aus  Dionysius  Cor.  bei  Euseb.,  h.  e.  IV,  23,  6  folgt*.  Ferner 
aber:  an   der  fraglichen  Stelle  kann  nicht  IIövzov,   sondern  mul.^  (trotz  dem 


M  Das  Bistum  Berenice  in  der  Pentapolis  nennt  Eusebius  in  demselben 
Kapitel. 

-)  Über  die  Stelle  Euseb.,  h.  e.  VI,  2,2  s.  unten. 

*)  Von  der  Metropolitenwürde  des  Irenäus  ist  somit  auch  der  Aus- 
druck Euseb.,  h.  e.  V,  24,  11:  o  EigijvaTog  iy.  jzqooo)jiov  wv  tjysizo  xarä  rijv 
ra/liav  abelfpMv  sjitmsü.ag  zu  verstehen,  da  er  mit  dem  obigen  Ausdruck 
(V,  23)  einfach  wechselt.  Propst  (Kirchliche  Disziplin  in  den  drei  ersten 
christlichen  Jahrhunderten  S.  97)  und  andere  gehen  sogar  soweit,  unter  den 
abshpoi  gallische  Bischöfe  zu  verstehen.  Diese  Auslegung  ist  möglich  und 
hat  an  den  „Parochien"  V,  23  eine  starke  Stütze,  aber  sie  ist  nicht  not- 
wendig. —  Aus  den  beiden  auf  Irenäus  und  Gallien  sich  beziehenden  Stellen 
folgt,  daß  sich  nicht  feststellen  läßt,  ob  Meruzanes,  von  dem  es  h.  e.  VI,  46 
heißt,  daß  er  Bischof  der  Brüder  in  Armenien  gewesen  sei,  zur  Zeit  der 
einzige  Bischof  daselbst  gewesen  ist  oder  der  Metropolit  (ad  6*j. 

*)  Über  diese  Stelle  s.  unten. 


384       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

SjTer)  Tfl-roj'  (mit  Schwartz)  gelesen  werden';  denn  IJövrov  ist  sinnlos,  selbst 
wenn  in  Ancyra  der  Territorialbischof  des  Pontus  damals  residiert  hätte. 
Nicht  vom  Pontus  nämlich,  sondern  von  Phrygien  und  Galatien  wissen  wir, 
daß  sie  vom  Montanismus  bewegt  wurden;  dazu  —  die  pontische  Kirche 
konnte  man  unmöglich  in  Ancyra  kennen  lernen,  auch  wenn  sie  dort  ihren 
Chef  gehabt  hätte.  Kann  man  denn  die  heutige  abessynische  Kirche  in 
Alexandrien  kennen  lernen? 

Ad  8.  Das  letzte  Argument  Duchesnes  endlich  beweist  deshalb  nichts, 
weil  es  nicht  sicher  ist,  daß  die  genannten  vier  jungen  Provinzen  im  Jahre 
ol4  noch  keine  Bischöfe  besessen  haben.  Daraus,  daß  sie  zu  Arles  nicht 
vertreten  waren,  läßt  sich  das  nicht  schließen.  Die  Beschickung  der  großen 
Synoden  war  stets  eine  sehr  zufällige.  Aber  auch  angenommen ,  sie  hätten 
noch  keine  gehabt,  so  kann  das  für  die  Lugdunensis  nicht  beweisen. 

Zu  den  Argumenten  Duchesnes  habe  ich  noch  14  andere  Stellen  hin- 
zugefügt, die  für  seine  Hypothese  zu  sprechen  scheinen.  Drei  von  ihnen 
(6*.  10*.  11*)  sind  bereits  oben  unter  6  besprochen  worden,  und  es  hat  sich 
ergeben,  daß  sie  über  Provinzbischöfe  nichts  aussagen,  sondern  vielmehr 
von  Metropoliten  handeln.  Es  erübrigt  noch,  die  anderen  elf  kurz  zu  durch- 
mustern. 

Daß,  als  Paulus  den  2.  Corintherbrief  schrieb,  alle  Christen  Achajas 
zur  corinthischen  Kirche  gehörten  (1*),  darf  man  aus  c.  1,  1  nicht  folgern; 
denn  Rom.  16,  1  f.  wird  eine  gewisse  Phöbe  „Siäxorog  rfjg  ixxh]oiag  t»J?  iv 
KsvxQEaTg"'  genannt,  und  Paulus  rühmt  von  ihr,  sie  sei  TTgooTÜTig  itoXX&v  xal 
t/iov  avTov  gewesen.  Mögen  also  auch  manche  in  Achaja  zerstreute  Christen 
ihre  Kirche  zeitweilig  in  Corintli  gehabt  haben,  so  gab  es  doch  bereits  auch 
eine  , Kirche"  iu  Cenchreä,  und  wir  haben  keinen  Grund  ?a\  der  Annahme, 
daß  sie  eine  „unvollständige"  Gemeinde  gewesen  ist. 

Die  Selbstbezeichuung  des  Ignatius  als  ,, Bischof  Syriens"  und  die  Be- 
zeichnung der  Kirche  von  Antiochien  als  i/  fv  ^vi^ia  ixxXrjoia  scheinen  es 
schlagend  zu  erweisen,  daß  es  damals  in  .Syrien  nur  einen  Bischof,  den 
antiocheuischen,  gegeben  hat  (2*);  aber  Philad.  10  liest  mau,  daß  die  Nachbar- 
gemeinden Antiochiens  teils  Bischöfe,  teils  Presbyter  und  Diakone  gesandt 
haben  (<hg  y.al  ai  eyyiaza  IxxXtjoiai  kTre/iyar  i:iioxö::iovg ,  al  Sk  TiQeoßvzfQOvc 
y.ul  biaxövovgj.  Also  gab  es  in  Syrien ,  und  zwar  in  nächster  Nähe  von 
Antiochien,  um  das  Jahr  115  Bistümer'^;  der  Bischof  von  Antiochien  aber 
nannte  sich  „Bischof  von  Syrien"  um  seiner  metropolitanen  Stellung 
willen. 

Nach  Euseb.,  h.  e.  IV,  23,  5.  6  scheint  es,  daß  es  um  170  iu  Greta  und 
im  Pontus  nur  einen  Bischof  gegeben  hat  (o*.  4*);  denn  Dionysius  Cor.  be- 
zeichnet den  Philippus  als  Bischof  von  Gortyna  und  der  übrigen  Kirchen 
Gretas  und  den  Palmas  als  Bischof  von  Amastris  und  der  pon tischen 
Kirchen.  Allein  mag  der  Ausdruck  dem  Dionysius  selbst  zuzuschreiben 
sein,  mag  er,  was  wahrscheinlicher,  dem  Eusebius  gebühren  —  in  derselben 


')  IjQOO(f(ir(og  yEvöfirrog  ir  'Ayxvoa  rfjg  FaXaTiag  y.al  yaraXaßMV  ti/v  xara 
TÖjTov  (nicht  IIövTov)  fxxXtjniav  vjio  zfjg  veag  iavr/)]g  ....  yjEvdojrQq'rjret'ag  SiaTf- 
■i)QvXi]/ifvj]v.  Auch  an  einer  anderen  Stelle  bei  Eusebius,  nämlich  IV,  15.  2. 
ist  xutä  IIÖVTOV  ein  Fehler  für  xurä  jrävTa  ro.-ror. 

*)  Die  Bistümer  um  Antiochien,  von  denen  Euseb..  h.  e.  VII,  30,  10  ge- 
sprochen wird  (L^ioitojioi.  twv  o/wqmv  uyQöJv  rs  xai  ttöXemv),  waren  also  teil- 
weise schon  um  das  Jahr  115  vorhanden.  —  Daß  in  Philad.  10  der  Ausdruck 
„ui  f-yyiara  Kxx?a]oiai"  auf  Philadelphia  zu  beziehen  sei,  scheint  mir  unmög- 
lich. Auch  J.,ightfoot  bezieht  ihn  auf  Syrien.  Genauer  hätte  er  sagen 
müssi'n  „auf  die  Kirche  in  Antiochien";  denn  diese  ist  vorher  genannt. 


GemeindebilduDg  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin,      385 

Briefsammlung  des  Dionysius  war  auch  ein  Brief  an  die  Gemeinde  von  Cnossus 
auf  Greta,  bez.  an  ihren  Bischof  Pinytus,  enthalten  (a.  a.  0.  §  7),  und 
daß  Palmas  nicht  der  einzige  Bischof  im  Pontus  gewesen  ist,  haben  wir  oben 
(ad  7)  gesehen.  Philippus  und  Palmas  waren  also  nicht  Provinzbischöfe, 
sondern  Metropoliten,  die  andere  Bischöfe  neben  sich  hatten. 

Die  Behauptung  des  Eusebius  (5*),  Titus  sei  Bischof  der  Kirchen  von 
Greta  gewesen,  ist  aus  Tit.  1,  5  unrichtig  abstrahiert  und  ohne  geschicht- 
lichen Wert. 

Nach  dem  konstanten  Sprachgebrauch  des  Eusebius  (7*)  bezeichnet  der 
Satz:  Twv  de  iv  Aiyvjiicp  cragoixiwv  ti)v  sn:ioxo:zr]v  röte  Ar]i.irjzoiog  v3iF.i}J]cpEi,  den 
Demetrius  als  Metropoliten,  aber  nicht  als  Pi-ovinzbischof  (s.  o.  ad  6).  Doch  ist 
es  aus  anderen  Zeugnissen,  über  die  Lightfoot  im  Kommentar  zum  Philipper- 
brief (8.  edit.  p.  228ff.)  gehandelt  hat,  wahrscheinlich,  daß  Demetrius  wirklich 
im  Jahre  188/89  der  einzige  Bischof  (im  monarchischen  Sinne)  in  Ägypten 
gewesen  ist.  Allein  diese  Tatsache  beweist  deshalb  nichts  für  den  alexanch-i- 
nischen  Bisehof  als  „Provinzbischof",  weil  es  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß 
Demetrius  in  Alexandrien  selbst  der  erste  monarchische  Bischof  gewesen  ist, 
indem  bis  dahin  überall  in  Ägypten  nur  Gemeinden  existierten,  die  von 
Presbytern  oder  Diakonen  geleitet  wurden.  Die  Verhältnisse  sind  freilich 
sehr  dunkel;  immerhin  scheint  es,  daß  erst  Demetrius  und  sein  Nachfolger 
Heraclas  Bischöfe  (im  eigentlichen  Sinne  des  Worts)  gewesen  sind  und  solche 
für  Ägypten  ordiniert  haben  (Demetrius  3,  Heraklas  20).  Aber  daß  die  ägyp- 
tischen Gemeinden  gegenüber  der  alexandrinischen  in  jener  Zeit,  da  Alexandria 
selbst  noch  keinen  Bischof  hatte,  unselbständig  gewesen  sind,  ist  zwar  recht 
wohl  möglich,  läßt  sich  aber  nicht  erweisen. 

An  den  beiden  Stellen  (8*.  9*) ,  an  denen  Gregor  und  Atheuodor  als 
Bischöfe  der  pontischen  Kirchen  bezeichnet  werden,  zeigt  schon  die 
Zweiheit,  daß  es  sich  weder  um  Provinzbischöfe  noch  um  Metropoliten 
handelt.  Eusebius  hat  sich  hier  unbestimmt  ausgedrückt,  vielleicht  weil  er 
die  Bistümer  der  beiden  nicht  gekannt  hat. 

In  Euseb.,  h.  e.  VIII,  13,  4.  5  werden  zwei  Bischöfe,  die  zufällig  denselben 
Namen  „Silvanus"  führen,  als  Bischöfe  der  Kirchen  „um  Emesa"  bez.  „um 
Gaza"  bezeichnet  (12*).  Von  Provinzbischöfen  kann  hier  jedoch  keine  Rede 
sein,  da  jene  Gegenden  bekanntlich  sehr  viele  Bistümer  hatten.  Die  Sach- 
lage ist  aus  der  Geschichte  von  Emesa  und  Gaza  zu  verstehen.  Beide  Städte 
blieben,  wie  wir  wissen,  lange  heidnisch  und  duldeten  keine  christlichen 
Bischöfe.  Somit  konnten  diese  dort  nicht  residieren;  aber  —  so  notwendig 
schien  im  Orient  die  bischöfliche  Verfassung  —  die  um  jene  Städte  liegenden 
christlichen  Dörfer  hatten,  jede  Gruppe  für  .sich,  einen  Bischof.  Diese  beiden 
Bischöfe  waren  also  Emesa  und  Gaza  gegenüber  wahrscheinlich  Bischöfe  in 
partibus  infidelium,  sonst  aber  Regionarbischöfe,  jedoch  auf  ganz  beschränktem 
Territorium. 

Auf  die  Subskriptionen  von  Nicäa  (13*)  scheint  man  sich,  Provinz- 
bischöfe anlangend,  berufen  zu  können,  nämlich  auf  die  fünf  Fälle,  in  denen 
der  Name  der  Provinz  bei  dem  Bischof  wiederkehrt.  Es  ist  dies  bei  Calabrien, 
Thessalien,  Pannonien,  Gothien  und  dem  Bosporus  der  FalP.  Allein  bei 
Thessalien  steht  neben  dem  Bischof  Claudianus  von  Thessalien  noch  der 
Bischof  Cleonicus  von  Theben;  also  war  jener  nicht  Provinzbischof,  sondern 
Metropolit.  Ferner  ist  es  sicher,  daß  Calabrien  und  Pannonien  im  Jahre 
325  mehr  als  einen  Bischof  besessen  haben,  wenn  auch  zu  Nicäa  nur  die 
Metropoliten  dieser  Provinzen  zugegen  waren  (wie  ja  auch  aus  Africa  nur 

')  Die  Subscriptio  AugSaviag-  Adxog  MaxeSovla?  ist  undeutlich  und  daher 
beiseite  zu  lassen. 

Harnack,  Mission.    2.  Anfl.  25 


386    ■  Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

der  Metropolit  anwesend  gewesen  ist).  Somit  l)leihen  nur  Gothien  und  der 
Bosporus  übrig.  Da  sie  außerhalb  des  Römischen  Reichs  lagen  und  hier 
gewiß  ganz  singulare  Zustände  obwalteten,  so  können  die  Verhältnisse  dort 
nicht  maßgebend  für  die  Organisation  der  Kii-chen  im  Reiche  sein.  Die 
genannten  Bischöfe  mögen  die  einzigen  daselbst  gewesen  sein. 

Auf  die  Angaben  der  Apost.  Constit.  (14*)  und  des  Liber  Praedestinatus 
ist  gar  nicht.-:;  zu  geben.  Jene  fußen  in  ihrer  ersten  Hälfte  auf  einer  will- 
kürlichen Abstraktion  aus  11.  Tim.  4,  10,  in  ihrer  zweiten  sind  .sie  völlig 
nichtig,  da  daneben  mehrere  asiatische  Stadtbistümer  genannt  sind.  Diese 
bezeichnen,  sofern  sich  der  Fälscher  überhaupt  etwas  gedacht  hat,  Metro- 
politen, wie  zum  Überfluß  die  Eintragung  „Basilius  episcopus  Cappadociae" 
beweist.  Die  Mitteilung  des  Sozomenus  endlich  (15*),  von  ihm  selbst  als  eine 
Kuriosität  bezeichnet,  bezieht  sich  auf  ein  barbarisches  Land. 

Es  hat  sich  somit  ergeben,  daß  die  beigebrachten  Zeugnisse 
für  die  Hypothese  von  Provinzbischöfen  an  Stelle  von  Lokal- 
(Stadt-)Bischöfen  und  Metropoliten  innerhalb  des  Reichs  nichts 
beweisen.  Aus  dem  durchforschten  Material  bleibt  nichts  übrig,  was  für 
diese  Annahme  spricht.  Geblieben  ist  nur  die  belanglose  Möglichkeit,  daß 
Vienne  im  Jahre  178  (und  auch  noch  bis  gegen  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts) 
keinen  selbständigen  Bischof  besessen  hat.  Notwendig  ist,  wie  gezeigt  worden 
ist,  auch  diese  Annahme  nicht,  und  sie  hat  das  bestimmte  Zeugnis  des 
Eusebius  gegen  sich,  der  einen  Brief  der  gallischen  Parochien  aus  der  Zeit 
um  190  kennt ^;  sollte  sie  aber  doch  zutreffend  sein,  so  wäre  anzunehmen, 
daß  die  Christen  in  Vienne  um  das  Jahr  178.  bez.  noch  einige  Jahrzehnte 
später,  nicht  nach  Hunderten,  sondern  nur  nach  Dutzenden  gezählt  haben. 

Daß  in  den  ersten  beiden  Generationen  der  Propaganda  des  Christen- 
tums eine  gewisse  innere  Spannung  zwischen  zwei  Organisationsformen  be- 
standen hat,  ist  gewiß  (s.  o.  S.  363);  die  Gemeinde  als  Missionsgemeinde,  als 
Schöpfung  eines  Missionars  (Apostels),  als  sein  Werk,  und  wiederum  die 
Gemeinde  als  in  sich  geschlossene  Lokalgemeinde  (als  solche  Abbild  und 
Auswirkung  der  himmlischen  Kirche).  Als  Schöpfung  eines  apostolischen 
Missionars  ist  die  Gemeinde  ihrem  Stifter  gegenüber  verantwortlich,  ist  von 
ihm  abhängig  und  verpflichtet,  die  Grundsätze  einzuhalten,  die  er  bei  seiner 
gemeindestiftenden  Tätigkeit  überall  befolgt ;  als  geschlossene  Lokalgemeinde 
trägt  sie  die  Verantwortung  selbst  und  hat  niemanden  über  sich  als  den 
himmlischen  Kyrios.  In  der  Person  ihres  irdischen  Stifters  steht  sie  in  einer 
realen  Verbindung  mit  den  anderen  von   diesem  gestifteten  Gemeinden;  als 


')  Gab  es  um  190  in  Gallien  mehrere  (bischöfliche)  Parochien,  so  wird 
auch  Vienne  eine  solche  gewesen  sein.  Es  erfährt  aber  die  Annahme,  daß 
es  im  mittleren  und  nördlichen  Gallien  zur  Zeit  des  Irenäus  mehrere  Bistümer 
gegeben  hat,  eine  Verstärkung  durch  die  Tatsache,  daß  Irenäus  (I,  10)  —  ich 
kehre  zu  dieser  Stelle  zurück  —  nicht  von  Christen  in  Gennanien.  sondern 
von  „den  in  Germanien  gegründeten  Kirchen"  spricht.  Hätte  er  von 
solchen  gesprochen,  wenn  diese  Kirchen  keine  Bischöfe  besessen  hätten? 
Besaßen  sie  aber  Bischöfe  —  und  nach  111,8,  1  kann  in  jeder  Kirche  die 
auf  die  Apostel  zurückgehende  bischöfliche  Sukzession  erkannt  werden  — , 
wie  sollen  im  mittleren  und  nördlichen  Gallien  noch  keine  Bischöfe  vorhanden 
gewesen  sein?  Die  Stelle  111,3,1  lautet:  „Traditionen!  apostolorum,  in  toto 
mundo  manifestatum,  in  omni  ecclesia  adest  perspicere  omnibus  qui  vera 
velint  videre,  et  habemus  annumerare  eos  qui  ab  aiiostolis  instituti  sunt 
episcopi  in  ecclesiis  et  successiones  eorum  usque  ad  nos  ....  Sed  quoniam 
valde  longum  est,  in  hoc  tali  volumiue  omni  um  ecclesiarum  eniunerare 
successiones  etc." 


Gemeindebilduug  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantiu.     387 

Lokalgemeinde  steht  sie  für  sich,  und  jede  Beziehung  zu  andern  Gemeinden 
liegt  in  der  Sphäre  der  Freiwilligkeit. 

Daß  die  Selbständigkeit  der  Gemeinden  von  den  Stiftern  selbst  gewollt 
war,  ist  in  bezug  auf  den  Apostel  Paulus  ganz  deutlich,  und  wir  wissen 
nicht,  daß  andere  Stifter  es  anders  gehalten  haben  (s.  die  Römer-Gemeinde). 
Wenn  sie  dennoch  die  Gemeinden  pädagogisch  zu  ermahnen  und  partiell  zu 
bevomiunden  fortfuhren,  so  waren  diese  Fälle  nicht  die  E.egel,  sondern  die 
Ausnahme  —  der  , Geist"  trieb  sie,  die  apostolische  Gewalt  berechtigte  sie 
dazu,  und  der  unfertige  Zustand  der  Gemeinden  schien  es  zu  verlangen^. 
In  der  alten  Bestimmung,  wie  lange  sich  ein  Apostel  in  einer  Gemeinde  auf- 
halten sollte,  und  in  ähnlichen  tritt  geradezu  ein  gesetzlicher  Schutz  der 
Gemeinden  zutage.  Wahrscheinlich  ist  die  geschlossene  Organisation  der 
jerusalemischen  Gemeinde  mutatis  mutandis  überall  vorbildlich  gewesen: 
nicht  exxlrjaiai  Ilavlov  oder  IJhoov  waren  die  Gemeinden,  die  da  entstanden, 
sondern  jede  von  ihnen  war  eine  ixyj.tjaia  rov  ■&sov. 

Daß  Konflikte  nicht  gefehlt  haben  zwischen  der  Gemeinde  and  ihrem 
lokalen  Regiment  einerseits  und  dem  „Apostel"  andererseits,  dafür  bietet  der 
dritte  Johannesbrief  einen  sicheren  Beleg.  Derselbe  .Johannes  (oder  ein 
anderer,  wie  viele  meinen)  hat  übrigens  als  Missionssuperintendent  seine 
Mahnungen  an  die  asiatischen  Gemeinden  nicht  direkt  erteilt,  sondern  den 
„Geist"  sie  sprechen  lassen;  er  hat  nicht  sein  strafendes  Kommen,  sondern 
das  Kommen  des  richtenden  HeiTU  angekündigt.  Indessen  auf  diese  Ver- 
hältnisse brauchen  wir  hier  nicht  näher  einzugehen.  Die  apostolische  Ge- 
walt ist  bald  erloschen ;  als  ganze  ist  sie  auch  nicht  transformiert  worden ; 
nur  ein  beschränkter  Teil  von  ihr  ist  auf  den  monarchischen  Episkopat  über- 
gegangen. 

In  der  apostolischen  Gewalt  und  Praxis  war  eine  gewisse  Verbindung 
mehrerer  Gemeinden  zu  einer  Gruppe  gegeben.  Mit  dem  Erlöschen  dieser 
Gewalt  hörte  diese  Gruppenverbindung  einfach  auf.  Eine  andere  Art  Ver- 
bindung aber  lag  für  die  Gemeinden  einer  Provinz  in  dem  provinzialen 
Zusammenhange.  Bereits  die  paulinischen  Briefe  und  die  Apokalypse  des 
Johannes  bieten  dafür  Belege.  Nicht  nur  der  Galaterbrief.  der  an  alle  christ- 
,  liehen  Gemeinden  Galatiens  gerichtet  ist ,  kommt  hier  in  Betracht ,  sondern 
noch  vieles  andere.  Dem  Apostel  Paulus  gliederte  sich  sein  Missionsgebiet 
nach  den  Provinzen:  Asien,  Macedonien,  Achaja  usw.  stehen  ihm  vor  der 
Seele;  das  große  Kollektenwerk  betreibt  er,  indem  er  die  Gemeinden  je 
einer  Provinz  zusammenschließt,  und  der  sogenannte  Epheserbrief  ist  nach 
Meinung  vieler  Gelehrter  an  eine  Mehrzahl  asiatischer  Gemeinden  gerichtet. 
Johannes  schreibt  an  die  Kirchen  Asiens'-.  Schon  früher  ist  von  Jerusalem 
aus  ein  Brief  au  die  Gemeinden  Syriens  und  Ciliciens  ergangen  (Act.  15)  *. 
Die  Gemeinden  von  Judäa  waren  mit  der  von  Jerusalem  so  enge  verbunden, 
daß  man  die  Hypothese  aufgestellt  hat,  die  alte  jerusalemische  Bischofsliste, 
in  der  die  große  Anzahl  von  Namen  auffallend  ist,  sei  eine  verwirrte  Bischofs- 
liste Jerusalems  und  anderer  palästinensischer  Christeugemeinden  *.    Zwischen 

1)  Was  sie  getan  haben,  taten  aber  unter  Umständen  die  Gemeinden 
selbst;  so  hat  die  römische  Gemeinde  die  corinthische  in  einer  schweren 
Krisis  (um  das  Jahr  96)  ermahnt,  ja  bevormundet. 

2)  Sofern  er  sich  auch  an  die  Gemeinde  zu  Laodicea  wendet,  greift  er 
in  das  benachbarte  Phrygien  über;  die  anderen  sechs  Gemeinden  aber  sind 
asiatisch. 

')  Singular  ist  die  Zusammenfassung  der  Christen  mehrerer  großer  Pro- 
vinzen in  dem  I.  Petrusbrief.  Da  die  Adresse  dieses  Briefes  möglicherweise 
eine  künstlich  gemachte  ist,  so  lasse  ich  sie  beiseite. 

*)  Zahn,  Forschungen  VI,  S.  300. 

25* 


388       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

dem  apostolischen  Zeitalter  und  der  Zeit  um  180,  für  die  uns  zuerst  pro- 
vinzialkirchliche  Synoden  bezeugt  sind,  sind  ähnliche  Zeugnisse  eines  pro- 
vinzialkirehlichen  Zusammenschlusses  nicht  selten.  IgTiatius  sorgt  nicht  nur 
für  die  antiochenisehe,  sondern  auch  für  die  syrische  Kirche ;  Dionysius  von 
Corinth  schreibt  an  die  Gemeinden  auf  Greta  und  an  die  Gemeinden  im 
Pontus;  von  Lyon  aus  schreiben  die  Brüder  an  die  Brüder  in  Asien  und 
Phrygien;  die  ägyptischen  Gemeinden  bildeten  ein  in  sich  geschlossenes 
Gebiet,  und  die  Kii-chen  Asiens  stehen  nicht  nur  dem  Irenäus  als  eine  Ein- 
heit vor  Augen. 

Nicht  überall  ist  eine  bestimmte  Stadt,  die  Hauptstadt,  der  beherrschende 
Mittelpunkt  auch  der  kirchlichen  Provinz  gewesen.  Zwar  Jerusalem  —  so- 
lange es  bestand  — ,  Antiochien  \  Corinth  -,  Rom,  Carthago  und  Alexandrien 
waren  nicht  nur  die  Zentren  der  betreffenden  Provinzen,  sondern  griffen 
zum  Teil  noch  über  dieselben  weit  hinaus,  sowohl  kraft  ihrer  Bedeutung  als 
Großstädte,  als  auch  kraft  der  energischen  chi-istlichen  Tätigkeit,  die  sie 
entfalteten '.  Aber  z.  B.  Ephesus  ist  lange  Zeit  hindurch  nicht  die  kirch- 
liche Metropole  Asiens  in  vollem  Sinne  des  Worts  gewesen  —  Smyrna  und 
andere  Städte  rivalisierten  mit  ihm  —  ^ ;  in  Palästina  standen  sich  Alia 
(Jerusalem)  und  Cäsarea  gleich;  gewisse  Provinzen,  so  Galatien  und  ausge- 
dehnte Striche  Cappadocieus,  hatten  überhaupt  keine  hervorragenden  Städte, 


')  Man  vgl.  die  bedeutungsvolle  Adresse  Act.  15,  2o:  oi  aTiöoTokoi  xai 
Ol  cTgeoßvTegoi  dd£^.(fol  roTg  /iaia  lifv  'Ävtiöyeiav  y.al  2volax>  y.al  Küiy.iav 
aÖfXffoig.  Für  unsere  Zwecke  ist  es  gleichgültig,  ob  der  Brief  echt  ist 
oder  nicht. 

-)  Nach  den  Eegesteu  der  Briefsammluug  des  Dionysius  von  Corinth, 
die  Eusebius  (h.  e.  IV,  23)  gegeben  hat,  scheint  der  corinthische  Bischof  zu 
den  Gemeinden  von  Lacedämon  und  Athen  ein  anderes  Verhältnis  als  zu  den 
außerhalb  Griechenlands  gelegenen  Gemeinden  gehabt  zu  haben. 

^)  Für  Rom  braucht  das  nicht  erwiesen  zu  werden.  Die  Gemeinde  von 
Jerusalem  hat  weit  über  Palästina  hinausgegriffen,  dem  Apostel  Paulus  in 
der  Diaspora  viel  zu  schaffen  gemacht  und  seine  Mission  sogar  zu  durch- 
kreuzen gesucht;  im  o.  Jahrhundert  hat  der  Bischof  Firmilian  die  „observa- 
tiones"  des  heidenchristlichen  Jerusalem  denen  von  Rom  gegenübergestellt, 
also  ihnen  zweifellos  em  gewisses  Ausehen  über  Palästina  hinaus  für  die 
Gesamtkirche  beigelegt.  Der  Bischof  von  Antiochien  griff  nach  Cilicien, 
Mesopotamien  und  Persien  über,  der  von  Carthago  nach  Mauretanien,  der 
von  Alexandrien  in  die  Pentapolis.  Man  vgl.  den  2.  Kanon  des  Konzils  von 
Constantinopel  (381),  der  das  Übergreifen  eines  Bischofs  oder  Metropoliten 
in  eine  fremde  Diözese  verbietet,  aber  die  barbarischen  Gebiete  unter  Be- 
rufung auf  die  alte  Praxis  ausdrücklich  ausnimmt:  rag  8s  iv  xoTg  ßaoßaoixolg 
sOvF.ai  Tov  Osov  sxxlrjaiag  oly.ovoi.ieTa{}ai  ygtj  xarä  rtjv  xgart'jaaoav  avvrjdsiav  rcöv 
TiaxEQOiv.  —  Die  alexandrinische  Einflußsphäre  hat  übrigens  schon  vor  Atha- 
nasius,  Cyrill  und  Dioscur  manchmal  nach  Palästina  und  Syrien  hinüber- 
gereicht. Sehr  merkwürdig  ist  z.  B.,  daß  am  Ende  des  3.  Jahrhunderts  und 
am  Anfang  des  4.  drei  .\lexandriner  auf  dem  Stuhl  von  Laodicea  Syr.  gesessen 
haben,  nämlich  P]usebius,  Anatolius  und  Gregorius  (s.  Euseb.,  h.  e.  VII,  32; 
Philostorg.  VIII,  17).  Die  spätere  Patriarchatseinteilung  ist  schon  in  der  Zeit 
vorher  gewohnheitsrechtlich  vorgebildet  gewesen.  Im  Verkehr  der  Kirchen 
vertritt  der  römische  Bischof  bereits  das  ganze  Abendland  (später  auch  Illyrien). 
Sowohl  der  antiochenisehe  als  der  alexandrinische  Bischof  scheinen  gewohn- 
heitsrechtlich die  Befugnis  besessen  zu  haben,  sich  an  das  ganze  Morgenland 
zu  wenden.  Aber  abgesehen  von  dieser  Befugnis  war  die  Machtsphäre  von 
Alexandrien  (Süden),  Antiochien  (Mitte  und  Norden)  abgegrenzt.  Nun  aber 
entwickelte  sich  Cäsarea  Capp.  und  Ephesus  zur  Selbständigkeit. 

*)  Es  hängt  das  freilich  auch  mit  der  politischen  Verfassung  Asiens 
zusammen. 


Gemeindebildung  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constautin.      389 

und  wenn  es  für  die  Provinzen  Pontus,  Numidien  und  Spanien  bezeugt  ist, 
daß  dort  immer  der  älteste  Bischof  den  Vorsitz  in  der  Bischofsversammlung 
führte .  so  folgt  daraus ,  daß  in  kirchlicher  Hinsicht  keine  bestimmte  Stadt 
das  Übergewicht  hat  erlangen  können. 

Es  erhebt  sich  aber  nun  die  Frage,  ob  die  „Metropoliten",  die  bereits 
längst  existierten,  bevor  sie  kircheurechtlich  anerkannt  und  bevor  ihre 
Kompetenzen  bestimmt  waren,  die  Tendenz  auf  die  Vermehrung  selbständiger 
Gemeinden  innerhalb  der  Provinz  etwa  niedergehalten,  ferner,  ob  die  Bischöfe 
im  Interesse  ihi-er  Macht  ebenfalls  die  Organisation  neuer  selbständiger, 
bischöflich  verfaßter  Gemeinden  zu  hindern  gesucht  haben.  An  und  für 
sich  wäre  das  ja  nicht  auffallend;  denn  Ehrgeiz  und  Herrsehsucht  werden 
überall  entfesselt,  wo  sich  Kompetenzen  und  Rechte  entwickeln. 

Um  die  aufgeworfene  Frage  zu  beantworten,  ist  zunächst  zu  behaupten, 
daß  die  Tendenz  der  alten  Christenheit  zur  Bildung  in  sich  geschlossener 
selbständiger,  bischöflich  verfaßter  Gemeinden  eine  sehr  starke  war*. 
Ferner,  es  ist  mir  aus  der  Zeit  vor  Gallienus  schlechterdings 
kein  Beispiel  bekannt,  welches  auf  eine  Tendenz  —  sei  es  der 
Metropoliten,  sei  es  der  Bischöfe  —  schließen  läßt,  die  selb- 
ständige Gemeindebildung  niederzuhalten.  Ei-st  seit  dem  Anfang 
des  4.  Jahrhunderts  beginnt  —  nach  unseren  Quellen  —  der  Kampf  gegen 
den    Chorepiskopat-,    wenigstens    ist    vor  dieser  Zeit    meines  Wissens    auch 


')  Wie  Iguatius  sich  eine  Gemeinde  ohne  Bischof  gar  nicht  vorzustellen 
vermag,  so  urteilt  auch  Cj'prian,  daß  jeder  Gemeinde  ein  Bischof  schlechthin 
notwendig  ist  und  ohne  einen  solchen  ihr  Wesen  aufgelöst  erscheint  (s.  be- 
sonders den  66.  Brief  Kaj).  5).  Die  Tendenzen,  die  Ignatius  in  seinen  Briefen 
zum  Ausdruck  bringt,  forderten,  daß  überall,  sei  die  Christengemeinde  an 
einem  Ort  auch  noch  so  klein,  Bischöfe  gewählt  würden,  und  wir  haben  allen 
Grund  zu  der  Annahme,  daß  die  bereits  bestehende  Praxis  in  Syrien  und 
Asien  seinen  Tendenzen  entsprochen  hat.  Ortsgemeinden  sehen  wir  von 
Anfang  au  überall  entstehen  im  Gegensatz  zu  unsicheren  und  fließenden  Ver- 
bindungen, und  andere  Formen  der  christlichen  Gruppierung  (bloße  Kult- 
vereine und  Schulen)  finden  sich  zwar  wohl,  aber  sie  werden  bekämpft  und 
unterdrückt.  Benachbarte  Städte,  wie  Laodicea,  Colossä  und  Hierapolis, 
haben  von  Anfang  an  ihre  eigenen  Gemeinden.  Die  Hafenstadt  Corinths  hat 
eine  solche  schon  z.  Z.  des  Paulus;  die  .,sehr  nahe"  von  Antiochien  (Syr.) 
gelegenen  Ortschaften  hatten  z.  Z.  Trajans  eigene  Gemeinden  (Ignat.  ad 
Philad.  10),  und  bald  sind  auch  Dorfgemeinden  bezeugt.  Sobald  wir  aber 
vom  monarchischen  Episkopat  hören,  hören  wir-  auch  in  bezug  auf  kleine 
Gemeinden  von  ihm.  Jene  bei  Antiochien  gelegenen  Orte  hatten  ihre  Bischöfe 
(1.  c),  und  ein  paar  Jahrzehnte  später  ist  uns  in  Phiygien  ein  Bischof  für 
das  Dorf  Cumane  bezeugt  (Euseb.,  h.  e.  V,  16).  Auf  dem  nicänischen  Konzil 
waren  syrische,  cilicische,  cappadocische ,  bithyuische  und  isaurische  Dorf- 
bischöfe zugegen  mit  wesentlich  gleichen  Rechten  wie  die  Stadtbischöfe.  In 
der  sog.  apost.  Kirchenordnung  (saec.  II  med.)  lesen  wir:  „Wenn  die  Zahl 
der  Männer  gering  ist  imd  sich  an  einem  Ort  keine  zwölf  Personen  finden, 
die  in  bezug  auf  die  Bischofswahl  stimmfähig  sind,  so  soll  man  an  die 
Nachbarkirchen,  wo  eine  befestigte  ist,  schreiben,  damit  von  dort  drei 
auserwählte  Männer  herbeikommen  und  sorgfältig  den,  der  würdig  ist, 
prüfen  usw."  Es  wird  also  vorausgesetzt,  daß  selbst  in  solchen  Fällen  eine 
komplette  d.  h.  bischöfliche  Gemeinde  bestehen  soll.  Wir  müssen  also  an- 
nehmen, daß  es  mindestens  in  einigen,  wahrscheinlich  in  vielen  Provinzen 
die  Regel  gewesen  ist,  jeder  Gemeinde  einen  Bischof  zu  geben ,  so  daß  .sich 
die  Zahl  der  Gemeinden  dort   mit  der  der  Bistümer  wesentlich  gedeckt  hat. 

^)  Vgl.  Gillmann,  Das  Institut  der  Chorbischöfe  im  Orient,  1903.  Die 
Namen  dieser  Kleriker  sind  yo^oETrioxonoi,  ijiiostojioi  rcöv  dygütv  (iv  raig  y.cofiatg 
rj  rdig  /coQat;),   ovkksizovQyoi  [seil,  der  Stadtbischöfe].     Ursprünglich  standen 


390       Die  Missionare ;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

nicht  eine  Spur  desselben  nachgewiesen,  und  ebenso  beginnt  erst  seit  dieser 
Zeit  —  nach  unseren  Quellen  —  das  Bestreben  der  Bischöfe,  in  den  Dörfern 
die  EiTichtung  von  Bistümern  zu  untersagen  und  die  Bistümer  benachbarter 
kleinerer  Städte  eingehen  zu  lassen,  um  ihre  Diözese  zu  vergrößern.  Da 
wir  aber  für  das  letzte  Drittel  des  3.  Jahrhunderts  Quellen  überhaupt  kaum 
besitzen  und  der  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  (vor  322)  kirchengeschichtlich 
keinen  Einschnitt  darstellt,  so  wird  man  sagen  müssen,  der  Kampf  mit  dem 
Chorepiskopat  hat  wahrscheinlich  seinen  ersten  Anfang  in  jener  Epoche  ge- 
nommen, die  der  constantinischen  mimittelbar  vorherging'. 


sie,  wie  schon  der  Name  ejiiaxonoi  besagt,  den  Stadtbischöfen  gleich;  aber 
wie  von  Anfang  an  ein  tatsächlicher  Unterschied  zwischen  dem  Bischof  der 
Provinzialhauptstadt  und  den  Bischöfen  der  anderen  Städte  in  den  meisten 
Gebieten  bestanden  hat,  so  wird  auch  von  Anfang  an  ein  Landbischof  tat- 
tächlich  etwas  Geringeres  gewesen  sein  als  sein  städtischer  Kollege  und 
häufig  in  einer  faktischen  Abhängigkeit  von  ihm  gestanden  haben  (s.  Gill- 
mann  S.  30ff.). 

')  Die  Hauptstadien  dieses  Kampfes  im  Orient  (erst  wurden  die  Dorf- 
bischöfe durch  eben  diesen  Namen  deklassiert,  dann  wurden  ihnen  gewisse 
Rechte  entzogen,  die  die  Stadtbischöfe  besaßen,  vor  allem  das  Ordinations- 
recht,  dann  wurden  sie  zum  Aussterben  gebracht)  bezeichnen  folgende  Be- 
stimmungen. Konzil  von  Ancyra  (314)  can.  13:  XcoQejiiaxojiovg  [xi]  s^eTvat 
jiQEoßvTEQovg  >)  Öiaxövovg  ;(£«po7:oj'£r»'  xrX.  (Näheres  s.  hierzu  bei  Gillmann 
S.  74ft". ;  er  zeigt,  daß  den  Chorbischöfen  noch  immer  eine  gewisse  Ordina- 
tionsgewalt  damals  gelassen  worden  ist).  Konzil  von  Neu-Cäsarea  can.  13: 
Ol  '/cogs^i'axojzoi  eioi  ßkv  sig  tvjTov  röjj'  f-ßSofirjxovta'  (Lg  8e  oidlsiTOvgyol  öia  zip 
Gaov8i}v  Trjv  slg  rovg  jirco/ovc  7iQoo(pEQovoi  Ti/ico/iievot.  Konzil  von  Antiochien 
(341)  can.  8:  „Priester  auf  dem  Lande  dürfen  keine  Friedensbriefe  a,usstellen; 
nur  an  die  benachbarten  Bischöfe  dürfen  sie  Briefe  schicken ;  tadellose  Chor- 
episkopen  aber  dürfen  Friedensbriefe  erteilen."  A.  a.  0.  can.  10:  „Die  Bischöfe 
in  den  Dörfern  und  Landschaften,  die  sogenannten  Chorbischöfe,  wenn  sie 
auch  die  Weihe  als  Bischöfe  erhalten  haben,  sollen  doch  ihre  Grenzen  kennen 
und  die  ihnen  untergeordneten  Kirchen  verwalten  und  mit  der  Besorgung 
und  Pflege  dieser  sich  begnügen,  wohl  Lektoren  und  Subdiakonen  und  Exor- 
zisten anstellen  und  mit  der  Beförderung  dieser  zufrieden  sein,  nicht  aber 
einen  Priester  oder  Diakon  zu  weihen  wagen  ohne  den  Bischof  der  Stadt, 
zu  welcher  der  Laudbischof  selbst  und  die  Landschaft  gehört.  Wenn  aber 
jemand  diese  Verordnungen  zu  übertreten  wagt,  so  soll  er  auch  der  Würde, 
die  er  besitzt,  beraubt  werden.  Ein  Laudbischof  aber  soll  von  dem  Bischof 
der  Stadt,  zu  der  er  gehört,  bestellt  werden"  (s.  dazu  Gillmann  S.  90ff.). 
Konzil  von  Sardica  (343)  can.  6:  „Licentia  vero  danda  non  est  ordinaudi 
episcopum  aut  in  vico  aliquo  aut  in  modica  civitate,  cui  sufficit  unus  pres- 
byter,  quia  non  est  necesse  ibi  episcopum  fieri,  ne  vilescat  nomen  episcopi 
et  auctoritas.  non  debent  illi  ex  alia  provincia  invitati  facere  episcopum, 
uisi  aut  in  his  civitatibus,  quae  episcopos  habuerunt,  aut  si  qua  talis  aut 
tam  popuIo.sa  est  civitas,  quae  mereatur  habere  episcopum"  (der  griechische 
W^ortlaut,  eine  gleichzeitige  Übersetzung,  deckt  sich  nicht  mit  dem  Original. 
Die  zweite  Hälfte  lautet:  «^A'  oi  n)c  fjiagyjac,  ibg  jTqoeTjtov,  sjiioxozioi  Iv  xavraig 
rmg  ttöXeoi  xadtorav  F.-rioxöjrong  offEtlovaiv,  i'vßa  xal  tiqöteqov  ETi'y/avov  vFyovözEg 
Emaxonoi.  el  fik  euoioxoito  ovho  nlr]{h'n'ovod  zig  ev  jioXX<ö  ugißtioj  Aaov  ::i6hg, 
ojg  d^iav  avztjv  xui  E.TiioKOTrflg  rofilCEO'Sai ,  ÄufißavEzco).  Konzil  von  Laodicea 
can.  57:  ,ln  den  Dörfern  und  auf  dem  Lande  dürfen  keine  Bischöfe  aufgestellt 
werden,  sondern  Visitatoren  (jTEQtoÖEvrai) ;  die  aber  bereits  angestellten  sollen 
nichts  tun  ohne  Zustimmung  des  Stadtbischofs."  Der  Prozeß  war  um  das 
Jahr  430  soweit  gediehen,  daß  Sozomenus,  h.  e.  Vll.  19  als  Kurio.sität  ver- 
merkt hat:  f.v  dXXoig  eOveoiv  eoziv  öjtr)  xai  iv  xwfiatg  ejiioxottoi  iFQOvvxai ,  (og 
Ttagä  'Agaßloig  xal  KvstQoig  syvcov  xai  Jiagä  zoTg  ev  <l>Qvyiaig  NavaziavoTg  xal 
MovzavtazaTg  (nach  Theodor  von  Mopsvestia  war  das  Institut  in  dem  Gebiet, 
welches  er  überschaute,  um  das  Jahr  400  zu  seiner  Unzufriedenheit  noch  in 


Gemeindebildung  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.     391 

Weiter,  nicht  nur  um  ein  argumentum  e  silentio  handelt  es  sich  hier, 
vielmehr  zeigt  die  Übersicht  über  die  um  das  Jahr  325  nachweisbaren 
Christengemeinden,  die  ich  im  4.  Buche  geben  werde,  daß  weitaus  in  den 
meisten  römischen  Provinzen  eine  Tendenz,  die  Bistumsbildung  zu  beschränken 
—  fast  alle  dort  aufgeführten  Gemeinden  sind  nachweislich  bischöfliche  Ge- 
meinden —  gar  nicht  bestanden  haben  kann.  Wir  werden  also  zu  schließen 
haben:  Wo  bischöflich  verfaßte  Gemeinden  spärlich  waren,  da 
waren  die  Christen  überhaupt  spärlich;  hatte  eine  Stadt  keinen 
Bischof,  so  war  die  Zahl  der  Christen  daselbst  unerheblich.  Ge- 
wiß ist  in  manchen  Fällen  der  Gang  der  Mission  der  gewesen ,  daß  Jahr- 
zehnte hindurch  in  einer  Provinz  oder  in  einem  weiten  Gebiet  nur  ein  Bischof 
existierte.  Auch  das  ist  a  priori  anzunehmen,  daß  in  unkultivierteren  oder 
in  städtelosen  Gebieten  —  namentlich  an  den  Grenzen  des  Reichs  und  außer- 
halb desselben  —  eine  Zeitlang  überhaupt  kein  Bischof  vorhanden  gewesen 
ist,  sondern  die  zerstreuten  Christen  daselbst  unter  der  Leitung  des  Bischofs 
der  nächsten,  vielleicht  weit  entfernten  Stadt  gestanden  haben.  Daß  sich 
dieser  Bischof,  auch  nachdem  eine  vollständige  Hierarchie  in  dem  betreffen- 
den exzentrischen  Gebiete  eingerichtet  war,  noch  gewisse  Superintendenten- 
rechte vorbehalten  hat,  ist  glaublich  —  nicht  nur  seine  Herrschsucht,  sondern 
auch  erworbene  Kompetenzen  kommen  hier  in  Betracht.  Für  uns  ist  es  aber 
heute  nahezu  unmöglich,  einen  sicheren  Einblick  in  diese  Verhältnisse  zu 
gewinnen,  weil  die  Fälle  dieser  Art  bereits  seit  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts 
unter  dem  Gesichtswinkel  einer  dogmatisch -kirchenpolitischen  Theorie  be- 
trachtet und  überliefert  worden  sind  —  nämlich  der  Theorie,  daß  die  Kom- 
petenz der  Ordination  ausschließlich  den  Uraposteln  zugestanden  habe  und 
daß  daher  alle  Bistümer  entweder  direkt  auf  sie  oder  auf  die  von  ihnen 
Eingesetzten  zurückzuführen  seien.  Die  tatsächlich  große  Missionswirksam- 
keit, die  von  Antiochien  (in  den  Osten  bis  tief  nach  Persien  hinein),  Alexan- 
drien  (in  die  Thebais,  Libyen,  die  Peutapolis  und  später  Äthiopien)  und  Rom 
ausgegangen  ist,  schien  die  Theorie  zu  bestätigen.  Zu  den  beglaubigten 
älteren  Fällen  —  denn  von  den  Kirchen  des  Bosporus  und  Gothiens  wissen 
wir  nichts  Genaueres  —  mag  man  die  Oi-dinationsgewalt  des  alexandrinischeu 
Bischofs  über  vier  Provinzen  rechnen.  Doch  ist  schon  bemerkt  worden,  daß 
uns  die  ursprünglichen  Verhältnisse  dort  dunkel  sind.  Ferner  gehört  hierher 
die  wohl  glaubwürdige  Überlieferung,  daß  der  erste  (katholische)  Bischof 
von  Edessa  vom  antiochenischen  Bischof  geweiht  worden  ist\  sowie  daß 
die  persische  Kirche  längere  Zeit  hindurch  von  Antiochien  abhängig  ge- 
wesen ist  und  ihren  Metropoliten  von  dort  empfangen  hat-.  Als  sich  dies 
zutrug,    stand    aber    in    der  Reichskirche    die  Theorie  schon  fest,    daß   die 


Kraft  gewesen,  s.  Opp.  ed.  Swete  II,  44).  Dagegen  in  Nordafrica  hat  kein 
Kampf  gegen  die  kleinen  Bischöfe  stattgefunden.  So  hat  noch  Augustin  in 
seiner  Diözese  ein  neues  Bistum  errichtet  (ep.  261),  und  die  Zahl  der  Bis- 
tümer ist  augenscheinlich  in  Nordafrica  auch  noch  über  das  Jahr  400  hinaus 
immer  mehr  gewachsen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  in  den  Provinzen,  in  welchen 
sich  zahlreiche  Dorfbischöfe  befanden  (also  in  der  Mehrzahl  der  kleinasiati- 
schen Provinzen,  ferner  in  Syrien  und  Cyperu),  die  Zahl  der  Bistümer  nach 
dem  Jahre  325  nicht  mehr  wesentlich  gewachsen  ist,  ja  vielleicht  sogar  ab- 
genommen hat. 

>)  Doctr.  Addaei  p.  50. 

*)  Hoffmann,  Auszüge  aus  syrischen  Akten  persischer  Märtyrer,  1880, 
S.  46,  und  Uhlemann.  Ztschr.  f.  d.  bist.  Theol.,  1861,  S.  15.  Doch  liegt  die 
ältere  Geschichte  des  Christentums  in  Persien  völlig  im  Dunkeln,  bez.  sie  ist 
unter  Legenden  begraben. 


392       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

bischöfliche  Ordination    nur    innerhalb    apostolischer   Sukzession   übertragen 
werden  könne. 

Nun  gibt  es  freilich  auch  Beisi>iele,  daß  in  der  zweiten  Hälfte  des 
S.Jahrhunderts  —  aus  älterer  Zeit  sind,  von  Ägypten  abgesehen,  keine  sicheren 
Belege  vorhanden  —  Gemeinden  auf  dem  Lande  bestanden  haben,  die  nicht 
von  einem  Biscliof,  sondern  von  Presbytern  bez.  auch  nur  von  Diakonen  ge- 
leitet worden  sind,  aber  sie  sind  wenig  zahlreich*.  Erst  in  und  nach  der 
diocletianischeu  Zeit  werden  sie  häufig-.  Vorher  gab  es  meines  Wissens  nur 
ein  großes  Gebiet,  in  dem  die  Presbyterial Verfassung  sogar  die  Regel  war,  das 
ist  Ägypten.  Aber  es  ist  schon  bemerkt  worden,  wie  dunkel  für  uns  die 
ägyptischen  Verhältnisse  sind:  es  gab  höchstwahrscheinlich  hier  lange  Zeit 
hindurch  überhaupt  keine  monarchischen  Bischöfe,  sondern  die  einzelnen 
Gemeinden,  gauweise  zusammengeschlossen,  wurden  von  Presbytern  regiert. 
Sukzessive  bereitete  sich  dann  die  bischöfliche  Verfassung  im  Laufe  des  S.Jahr- 
hunderts aus;  doch  gab  es  noch  im  4.  gi'oße  Dorfgemeinden,  die  eines 
Bischofs  entbehrten.  Wir  müssen  uns  aber  hüten,  von  Ägypten  her  Schlüsse 
für  irgend  eine  andere  römische  Provinz  zu  ziehen.  Aus  den  Subski'iptionen 
der  Akten  der  Synode  von  Elvira  ist  geschlossen  worden,  daß  einige  spanische 
Städte,  die  auf  dem  Konzil  nur  durch  Presbyter  vertreten  waren,  keine 
Bischöfe  besessen  haben.  Das  ist  möglich;  indessen  wie  unsicher  der  Schluß 
ist,  geht  aus  den  Akten  der  Synode  von  Arles  hervor.  Auch  hier  haben 
zahlreiche  Presbyter  unterschrieben;  aber  es  kann  in  fast  allen  Fällen  nach- 
gewiesen werden,  daß  die  Stadtgemeinde,  als  deren  Vertreter  sie  fungierten, 
einen  Bischof  besessen  hat:  er  ist  verhindert  gewesen,  die  Synode  persönlich 
zu  besuchen,  und  hat  sich  —  wie  der  römische  Bischof  —  durch  einen  Pres- 
byter bez.  durch  eine  Deputation  von  Klerikern  vertreten  lassen.  Dennoch 
steht  es  für  Spanien  auf  Grund  des  67.  Kanons  von  Ellvira  („Si  quis  diaconus 
regens  plebein  sine  episcopo  vel  presbytero  etc.")  fest,  daß  daselbst  Gemeinden 
ohne  Bischof,  ja  selbst  ohne  Presbyter  existiert  haben.  Aber  über  ihre  An- 
zahl wissen  wir  ebensowenig  wie  über  die  Bedingungen,  unter  denen  es  in 
solchen  Gemeinden  nicht  zur  Anstellung  eines  Bischofs  bez.  eines  Presbj'ters 
gekommen  ist.     Die  Verwaltuno-  einer  Gemeinde  durch  einen  Diakon   kann 


')  Für  Nordafi-ica  ist  in  der  vorconstantinischen  Zeit  meines  Wissens 
kein  Beispiel  bekannt.  Auf  Grund  des  1.  und  58.  Briefs  Cyprians  könnte 
mau  annehmen,  daß  zu  Furni  und  zu  Thibaris  keine  Bischöfe  vorhanden 
waren;  allein  aus  den  Sentent.  episc.  n.  59  und  37  geht  hervor,  daß  auch 
diese  Gemeinden  von  je  einem  Bischof  geleitet  worden  sind.  Wahrscheinlich 
war  der  Bischofssitz  vakant,  als  Cyprian  den  1.  Brief  schrieb;  in  bezug  auf 
den  58.  Brief  ist  diese  Annahme  nicht  notwendig.  Die  Berufung  auf  Cypr. 
ep.  62,  5  ist  höch.st  unsicher.  Auch  für  Mittel-  und  ünteritalien  ist  es  unwahr- 
scheinlich, daß  dort  Gemeinden  ohne  Bischöfe  im  8.  Jahrhundert  bestanden 
liaben.  Aus  c.  4  und  7  des  Briefs  des  Firmilian  von  Iconium  (Cypr.,  ep.  75) 
darf  man  nichts  zugunsten  bischof loser  Gemeinden  schließen,  so  auffallend 
der  Ausdruck  „seniores  et  i)raepositi"  bez.  „praesident  maiores  natu"  an  jenen 
Stellen  ist.  Wohl  findet  sich  eine  bischoflose  Gemeinde  im  Dorf  Malus  bei 
Ancyra  (s.  Acta  Mart.  Theodot.  11.  12),  aber  das  Zeugnis  ist  kaum  von  Wert, 
da  die  Akten  nicht  zeitgenössisch  sind. 

^)  Micht  berufen  darf  man  sich  natürlich  auf  die  Fälle,  in  welchen  zur 
Zeit  einer  bischöflichen  Sedisvakanz  die  Presbyter  bez.  die  Presbyter  und 
Diakonen  die  Gemeinde  geleitet  haben.  Auch  wenn  sie  eine  Sprache  führen, 
die  bischöflich  genannt  werden  muß  (s.  das  von  dem  römischen  Klerus  her- 
rührende 8.  Schreiben  in  der  cyprianischen  Briefsammlung),  sind  sie  doch  nur 
eine  Regentschaft;  vgl.  das  römische  Schreiben  ep.  30,  8 :  „ante  constitutionem 
epiacopi  nihil  inuovandum  putavimus". 


Gemeindebildiing  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.      393 

immer  nur  eine  Ausnahme  gewesen  sein  (vor  allem  ein  Notbehelf  in  Ver- 
folgungszeiten); denn  es  war  unstatthaft,  daß  sie  das  heilige  Opfer  vollzogen 
(s.  den  15.  Kanon  von  Arles).  Ob  unter  den  im  13.  Kanon  von  Neocäsarea 
genannten  ,,i.-iixMQioi  TigsaßvreQoi"  selbständige  Presbyter  in  Landgemeinden 
zu  verstehen  sind,  oder  ob  es  Presbyter  sind,  die  einen  Chorbischof  über  sich 
hatten,  läßt  sich  nicht  entscheiden.  Möglich  ist  das  letztere;  denn  für  das 
benachbarte  Cappadocien  muß  eine  besonders  starke  Entwicklung  des  Chor- 
episkopats angenommen  werden,  da  zu  Nicäa  nicht  weniger  als  fünf  cappa- 
docische  Chorbischöfe  anwesend  waren.  Andererseits  folgt  aus  dem  Testament 
der  vierzig  Märtyrer  von  Sebaste,  daß  im  angrenzenden  Armenien  Gemeinden 
vorhanden  waren,  die  durch  einen  Presbyter  geleitet  wurden;  aber  auch 
Chorbischöfe  haben  dort  nicht  gefehlte  Allerdings  war  Armenien  eine 
Grenzprovinz,  deren  Verhältnisse  nicht  einfach  auf  die  pontischen  und 
cappadocischen  übertragen  werden  können.  Sicher  sind  die  im  8.  Kanon 
von  Antiochien  (341)  genannten  „Priester  auf  dem  Laude"  solche,  die  an 
ihrem  Orte  die  oberste  Leitang  hatten;  aber  die  Synode  von  Antiochien  fällt 
bereits  in  die  nachconstautinische  Zeit,  und  die  Verhältnisse  um  das  Jahr  341 
sind  nicht  ohne  weiteres  für  die  ältere  Zeit  maßgebend.  Nahe  liegt  die 
Annahme,  daß  in  Gallien  die  dortige  Gauverfixssung^  welche  die  Städte- 
entwicklung verzögerte,  auch  ein  Hemmnis  für  die  Durchführung  der  bischöf- 
lichen Verfassung  gebildet  hat,  so  daß  man  vermuten  könnte,  daß  unvoll- 
ständig organisierte  Gemeinden  dort  häufig  gewesen  seien  (ebenso  in  England). 
Allein  uns  ist  darüber  schlechterdings  nichts  bekannt,  und  außerdem  existierte 
doch  bei"eits  im  2.  Jahrhundert  in  den  gallischen  Provinzen  eine  nicht  ganz 
kleine  Anzahl  von  Städten,  in  denen  die  Verhältnisse  wesentlich  ebenso  lagen 
wie  in  den  übrigen  römischen  Städten '. 

Es  läßt  sich  somit  nicht  nachweisen,  daß  es  Jahrzehnte  hindurch  Terri- 
torial-Bischöfe  (Provinz -Bischöfe),  die  mehrere  unselbständige  christliche 
Stadtgemeinden  regiert  haben,  gegeben  hat,  vielmehr  ist  anzunehmen,  daß. 
wenn  Bischöfe  tatsächlich  in  mehreren  Städten  bisehöfliche  Rechte  ausgeübt 
haben,  diese  Städte  nur  verschwindend  wenige  Christen  in  ihren  Mauern 
zählten.  Wer  das  Gegenteil  für  irgend  eine  Provinz  behauptet,  kann  zwar 
nicht  sicher  widerlegt  werden,  aber  er  ist  zum  Beweise  verpflichtet.  Die 
Behauptung  z.  B.,  Autun,  Rheims,  Paris  usw.  hätten  um  240  bereits  ziemlich 
viele  Christen  gehabt,  die  christlichen  Gemeinden  daselbst  aber  hätten  keinen 
Bischof  besessen,  kann  nicht  strikt  als  unrichtig  dargetan  werden;  denn  es 
fehlt  uns  dafür  das  Material.  Aber  nach  aller  Analogie  gilt  auch  hier  der 
Schluß:  wenn  die  Christen  in  Autun,  Rheims,  Paris  usw.  um  240  bereits 
zahlreich  waren,  so  besaßen  sie  Bischöfe;  besaßen  sie  keine  Bischöfe,  so 
■waren    sie    ganz    spärlich.     Meines  Erachtens  ist  zu   sagen:    (1)   es   ist  sehr 


')  S.  Gillmann  S.  36. 

^)  Siehe  Mommsen,  Rom.  Gesch.  V,  S.  81  ff.,  dazu  Marquardt,  Rom. 
Staatsverwaltung  I,  S.  7  ff. 

^)  In  der  Zivilverwaltung  herrschten  zwei  Systeme  in  bezug  auf  die 
Landdistrikte:  entweder  standen  solche  Distrikte  unter  der  Jurisdiktion  der 
Magistrate  einer  benachbarten  Stadt,  oder  sie  hatten  ihre  eigenen  Magistrate 
(s.  Hatch-Harnack.  Gesellschaftsverfassung  der  christlichen  Kirchen,  S.202). 
Dem  letzteren  Fall  entspi-achen  die  Chorbischöfe,  dem  ersteren  die  direkte 
bischöfliche  Jurisdiktion  und  Administration  des  Stadtbischofs.  Aber  das 
gemischte  System  —  mehr  oder  weniger  selbständige  Landpresbyter,  Reservat- 
rechte des  Bischofs  —  ist  das  jüngste  und  in  der  zweiten  Hälfte  des  3.  Jahr- 
hunderts eben  erst  im  Entstehen.  Übrigens  wurden  manchmal  auch  mehrere 
kleine  Ortschaften  zu  einer  Kommune  vereinigt;  der  Ort,  in  welchem  sich 
die  Verwaltung  befand,  hieß  dann  fiTjZQoxco/Ma. 


394       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

wohl  möglich,  ja  sehr  wahrscheinlich  (s.  das  Zeugnis  Cyprians),  daß  es  vor 
der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  bereits  einige  andere  bischöfliche  Kirchen  in 
(lallien,  auch  abgesehen  von  der  „Provinz",  gegeben  hat,  (2)  sollte  Lyon 
wirklich  die  einzige  bischöfliche  Kirche  daselbst  gewesen  sein,  so  gab  es  in 
Gallien  Christen  außerhalb  Lyons  nur  in  verschwindender  Zahl. 

Wir  kehren  zu  einem  Satze  Theodors  zurück.  Er  hatte  geschrieben: 
.,Am  Anfang  waren  in  einer  Provinz  in  der  Regel  zwei  oder  drei  Bischöfe  — 
so  stand  es  vor  nicht  langer  Zeit  im  Abendland  in  den  meisten  Provinzen, 
in  einigen  aber  findet  man  diese  Ordnung  auch  jetzt  noch  bewahrt."  Der 
Satz  bringt  uns  in  keinem  Sinne  Aufschlüsse;  denn  „was  am  Anfange  war", 
darüber  wußte  Theodor  nicht  mehr  als  wir  heute  wissen;  die  Behauptung, 
daß  es  in  den  meisten  abendländischen  Provinzen  „vor  nicht  langer  Zeit* 
nicht  mehr  als  zwei  oder  threi  Bischöfe  gegeben  habe,  ist  positiv  unrichtig 
und  beweist  nur,  daß  Theodor  geringe  historische  Kunde  von  abendländischen 
Kirchen  besessen  hat;  die  Mitteilung  endlich,  daß  einige  abendländische 
Pi'ovinzen  auch  jetzt  noch  nicht  mehr  als  zwei  oder  drei  Bischöfe  besitzen, 
wird  richtig  sein,  aber  sie  ist  unerheblich;  denn  wir  wissen  auch  ohne  das 
Zeugnis  Theodors,  daß  die  Zahl  der  Bistümer  in  den  an  der  langen  Nord- 
grenze des  römischen  Reichs  gelegenen  Provinzen  sowie  in  England  nur  ge- 
ring war.  In  der  Spärlichkeit  der  dortigen  Bistümer  hat  sich  aber  nicht 
ein  alter,  später  beseitigter  Verfassungszustand  der  Kirche  zäh  konserviert, 
sondern  sie  war  eine  Folge  der  Bevölkerungsverhältnisse  daselbst  und  der 
Spärlichkeit  der  Christen  in  jenen  Gegenden.  Freilich,  insofern  waren  die 
Verhältnisse  dort  denen,  in  welchen  sich  das  Christentum  am  Anfang  im 
ganzen  Reich  befand,  ähnlich,  als  die  Christen  jener  Landstriche  noch  immer 
in  der  Diaspora  lebten,  die  Christen  und  —  die  Römer. 

Hier  könnten  wir  schließen,  enthielte  der  merkwürdige  historische  Auf- 
satz Theodors  nicht  ein  Element,  welches  mit  der  Wirklichkeit  der  Dinge 
zusammenhängt.  Wir  haben  im  Verlauf  unserer  Abhandlung  mehrfach  die 
besondere  Stellung  des  Metropoliten,  bez.  eines  führenden  Bischofs  der 
Provinz,  berührt'.  Daß  zu  Eusebius'  Zeit  der  Metropolit  häufig  einfach  als 
,der  Bischof  der  Provinz"  bezeichnet  worden  ist,  geht  aus  mehreren  Stellen 
deutlich  hervor;  aber  auch  schon  zur  Zeit  des  Dionysius  von  Corinth,  ja  zu 
der  des  Ignatius,  ist  der  führende  Bischof  so  genannt  worden.  Für  die  Ver- 
breitungsgeschichte des  Christentums  —  sofern  es  sich  darum  handelt,  die 
Stärke  der  Tendenz  zur  Bildung  selbständiger  Gemeinden  festzustellen  —  ist 
diese  Tatsache  neutral;  aber  nicht  neutral  ist  sie  in  bezug  auf  das  Bild, 
welches  man  sich  von  dem  Gang  der  Verfassungsgeschichte  zu  machen 
hat.  Leider  lassen  hier  jedoch  unsre  Quellen  das  meiste  zu  wünschen  übrig. 
Die  unsicheren  Einblicke,  die  sie  uns  gestatten,  machen  es  nicht  möglich, 
ein  wirkliches  historisches  Bild  zu  gewinnen  oder  gar  eine  Entwicklungs- 
geschichte zu  rekonstruieren.  Wie  alt  ist  der  Metropolit  V  Hängt  seine 
Stellung  mit  einer  ui'sprünglich  nur  einem  Einzelnen  in  der  Provinz  über- 
tragenen Ordinationsgewalt  zusammen?  Reicht  der  Ursprung  der  Metropolitan- 
gewalt  bis  in  die  Zeit  zurück,  da  es  noch  Apostel  gab?  Besteht  hier  irgend 


*)  Was  Augustin  einmal  (ep.  22,  4)  von  der  carthaginiensischen  Kirche 
in  ihrem  Verhältnis  zu  den  Kirchen  der  Provinz  sagt:  „si  ab  una  ecclesia 
inchoauda  est  medicina  [Abstellung  eines  Mißbrauchs],  sicut  videtur  audaciae 
mutare  conari  quod  Carthaginiensis  ecclesia  tenet,  sie  magnae  impudentiae 
est  velle  servare  quod  Carthaginiensis  ecclesia  correxit"  —  das  wird  eine 
weitverbreitete  Meinung  (und  nicht  erst  im  4.  .Jahrhundert)  in  bezug  auf 
die  Autorität  der  Metropolitankirche  gewesen  sein. 


Gemeindebildung  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pins  bis  Constantin.      395 

ein  Zusammenhang?  Ist  zwischen  Bischof  und  Bischof  zu  unterscheiden,  so 
daß  es  in  alter  Zeit  Bischöfe  gegeben  hat,  die  nicht  ordiniert  haben  oder 
nur  als  Vikare  eines  Hauptbischofs  ^  ?  Alle  diese  Fragen  sind  wahrschein- 
lich generell  zu  verneinen,  vielleicht  aber  für  einzehie  Fälle  zu  bejahen. 
Sicherheit  kann  man  nicht  gewinnen,  wenigstens  ist  es  mü-  trotz  wiederholten 
Bemühungen  nicht  gelungen,  etwas  Haltbares  zu  ermitteln.  Öfters  mögen 
die  faktischen  Verhältnisse  so  stark  gewirkt  haben  wie  Rechtsverhältnisse, 
d.  h.  ein  einzelner  Bischof  mag  im  Anfang  und  längere  Zeit  hindurch  Rechte 
ausgeübt  haben  ohne  Rechtstitel ,  vielmehr  als  Ausfluß  einer  persönlich  oder 
durch  das  bürgerliche  Ansehen  und  den  Reichtum  seiner  städtischen  Ge- 
meinde erworbenen  Machtstellung-.  Auch  die  staatliche  Provinzial-Verfassung 
und  -Administration,  sowie  die  Bedeutung,  die  sie  einzelnen  Städten  verlieh, 
mag  schon  früh  hier  und  dort  Einfluß  auf  die  Kompetenzen  einzelner  Bischöfe 
in  einzelnen  Provinzen  ausgeübt  und  dieselben  verstärkt  haben';  aber  wahr- 
scheinlich sind  das  alles  so  zu  sagen  irrationale  Elemente,  die  weder  eine 
Generalisierung,  noch  eine  Verdichtung  zu  rechtlichen  Kompetenzen  für  die 
älteste  Zeit  dulden.  Die  Ausbildung  eines  metropolitanen  Rechts  kann  nicht 
früher  nachgewiesen  werden  als  seit  der  Zeit,  da  sich  die  Synodalverfassung 
gebildet  hatte,  und  dieses  Recht  hat  die  strenge  Selbständigkeit,  die  wesent- 
liche Gleichartigkeit  und  die  feste  Zusammengehörigkeit  aller  Bischöfe  einer 
Provinz  zu  seiner  Voraussetzung.  Alle  „Vorstufen"  sind  mit  Nebel  bedeckt, 
und  die  spärlichen  Lichter,  die  hier  erscheinen,  können  leicht  in  die  Irre 
führen. 

Als  Resultat  dieser  Unter.suchuugeu  in  bezug  auf  die  Fragen  der  Ver- 
breitungsgeschichte des  Christentums  ergibt  sich,  daß  die  Zahl  der  Bis- 
tümer  in   den   einzelnen  Provinzen  des   römischen    Reichs   einen  wesentlich 


')  Auf  diese  Frage  wird  man  geführt,  wenn  man  hört,  daß  seit  dem 
Anfang  des  4.  .lahrbunderts  Bestimmungen  getroflen  worden  sind,  welche  den 
Chorbischöfen  das  Recht  der  Ordination  verschränkten  (s.  0.  S.  390).  Geht 
diese  VerscLränkung  auf  eine  ältere  Zeit  zurück?  Schwerlich  auf  eine  sehr 
viel  ältere;  aber  Gillmann  (a.a.O.  S.  121)  wird  darin  Recht  haben,  daß 
die  Beschlüsse  von  Ancyra  und  Neo-Cäsarea  nicht  aus  der  Pistole  geschossen 
kamen,  sondern  etwas  kodifizierten,  was  vorher  schon  in  weiten  Kreisen 
zum  Teil  in  Übung  war.  Man  wird  also  wohl  bis  in  die  Zeit,  die  mit 
Gallienus'  Edikt  beginnt,  zurückgehen  müssen.  Darüber  aber,  ob  der  Land- 
bischof von  Anfang  an  dem  Stadtbischof  einigermaßen  untergeordnet  war 
(namentlich  als  Ordinator),  wissen  wir  nichts;  a  priori  ist  es  unwahr- 
scheinlich. 

^)  Man  erinnere  sich  hier  z.  B.  des  oben  S.  152  besprochenen  2.  Briefs 
des  Cyprian:  die  carthaginiensische  Gemeinde  ist  bereit,  den  Unterhalt  eines 
ehemaligen  Lehrers  der  Schauspielkunst  zu  übernehmen,  falls  seine  heimische 
Gemeinde  dazu  nicht  imstande  ist.  Daß  die  carthaginiensische  Gemeinde, 
bez.  ihr  Bischof,  wenn  sich  solche  Fälle  wiederholten,  eine  übergeordnete 
Stellung  im  Kreise  der  provinzialen  Schwestergemeinden  erhalten  mußte,  ist 
deutlich.  Man  vergleiche  auch  den  62.  Brief,  in  welchem  die  carthaginien- 
sische Gemeinde  für  die  Loskaufung  von  Christen  Africas,  die  in  die  Gefangen- 
schaft der  Barbaren  geraten  waren,  100000  Sestertien  spendet  und  ihre  Bereit- 
willigkeit erklärt,  im  Bedarfsfalle  noch  mehr  zu  senden.  Daß  das  Ansehen 
der  römischen  Gemeinde  und  ihrer  Bischöfe  durch  solche  Spenden,  die  sie 
oft  und  auch  entfernten  Gemeinden  gewährt  hat,  gewachsen  ist,  ist  bekannt. 

')  Die  lehrreichen  Untersuchungen  von  Lübeck,  , Reichseinteilung  und 
kirchliche  Hierarchie  des  Orients"  (Kirchengeschichtliche  Studien,  herausgeg. 
von  Knöpf  1er,  Schrörs  und  Sdralek,  V.  Bd.  4.  Heft,  1901),  geben  hier 
manche  Fingerzeige. 


396       Die  Missionare;  Modalitätea  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

zuverlässigen  Maßstab  zur  Bestimmung  der  Stärke  der  christlichen  Bewegung 
abgibt.  Ausgenommen  ist  nur  Ägypten;  abgesehen  von  dieser  Provinz,  sind 
in  der  Zeit  von  Antonius  Pius  bis  Constantin  nicht  bischöflich  verfaßte 
Gemeinden  im  Orient  und  Okzident  ganz  spärlich  gewesen  ^  Nicht  nur 
Städtchen,  sondern  auch  Dörfer  besaßen  Bischöfe.    Cyprian  hat  etwas  wesent- 


^)  Vor  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  kenne  ich  überhaupt  kein  einziges 
Beispiel  (außerhalb  Ägyptens).  Alles,  was  man  aus  älterer  Zeit  angeführt 
hat.  beweist  nur,  daß  es  Christen  auf  dem  Lande  gegeben  hat,  oder  daß 
Landbewohner  hin  und  her  in  die  Städte  zum  Gottesdienst  kamen,  also  über- 
haupt keine  heimische  gottesdienstliche  Stätte,  somit  auch  keine  Presbyter 
besaßen.  Dazu  kommt,  daß  die  ursprüngliche  und  bis  in  das  3.  Jahrhundert 
hinein  nachweisbare  Natur  des  presbyterialen  Amtes  eine  Diö'erenzieruug  in 
einzelne  selbständige  presbyteri  gar  nicht  zuließ:  der  einzelne  Presbyter  ist 
nur  als  Mitglied  eines  Kollegiums  das,  was  er  ist  (vgl.  auch  Hatch-Harnack, 
Gesellschaftsverfassung  der  christlichen  Kirchen  S.  76f.  200ff.:  das  Recht  der 
Presbyter,  zu  taufen,  ist  ursprünglich  nur  ein  übertragenes  gewesen.  Hatch 
setzt  den  Beginn  der  Pfarreien  auch  erst  in  spätere  Zeit).  Ich  veiToute,  daß 
die  Organisation  presbyterial  verfaßter  Dortgemeinden  erst  begonnen  hat, 
nachdem  in  den  größeren  Städten  die  Stadtgemeinde  in  diakonal-presbyteriale 
Bezirke  eingeteilt  worden  war  und  der  einzelne  Presbyter  relativ  selbständig 
wurde.  Diese  Einteilung  ist  in  Rom  etwas  älter  als  die  Mitte  des  8.  Jahr- 
hunderts und  ursprünglich  der  Kegionen -Einteilung  (nicht  der  synagogalen) 
angepaßt.  Die  Notwendigkeit,  auf  dem  Lande  —  auch  wo  es  keine  Bischöfe 
gab  —  Kleriker  zu  installieren,  ergab  sich  ferner  im  Orient  überall  da,  wo 
ein  Märtyrergrab  oder  überhauj^t  ein  Kirchhof  zu  besorgen  war  (man  ver- 
gleiche z.  B.  das  Testament  der  40  Märtyrer  von  Sebaste).  Weiter  wissen 
wir  aus  der  Geschichte  des  Gregorius  Thaumaturgus  und  aus  anderen  Quellen 
(Acta  Theodoti  Ancyr.),  daß  nach  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  der  große 
Prozeß  begonnen  hat,  heidnische  heilige  Stätten  und  Kulte  auf  dem  Lande 
in  christliche  umzuweihen  und  für  Reliquien  Kapellen  zu  bauen.  Auch  in 
diesen  Fällen  war  ein  Presbyter  oder  mindestens  ein  Diakon  nötig,  um  das 
Heiligtum  zu  versorgen.  Endlich  haben  die  großen  Verfolgungen  des  Decius, 
des  Valerian,  des  Diocletian  und  Maximinus  Daza  Tausende  von  Christen  zur 
Flucht  auf  das  Land  genötigt;  Maximinus  Daza  hat  außerdem  die  Christen 
aus  den  Städten  zu  verdrängen  versucht  und  Tausende  zur  Zwangsarbeit  auf 
dem  Lande  (in  den  Bergwerken)  verurteilt.  Wir  wissen  —  Dionysius  Alexan- 
drinus  und  Eusebius  sagen  es  uns  — ,  daß  in  diesen  Fällen  gottesdienstliche 
Gemeinden  auf  dem  Lande  entstanden  sind,  die  natürlich  keinen  Bischof 
hatten,  wenn  nicht  zufällig  ein  solcher  vorhanden  war.  Man  darf  annehmen, 
daß  alle  diese  Verhältnisse  zusammen  die  Organisation  presbyterialverfaßter 
Gemeinden  bewirkt  haben,  die  dann,  von  den  Stadtbischöfen  unterstüzt,  in 
eine  siegreiche  Konkurrenz  mit  dem  alten  Chorepiskopat  getreten  ist.  Häufig 
aber  wird  auf  dem  Lande  nicht  die  Gemeinde,  sondern  das  Sacrum  —  solche 
christliche  Sacra  gab  es  auch  schon  vor  den  Um  weihungen  heidnischer,  näm- 
lich die  Märtyrergräber  und  Kirchhöfe  —  das  Frühere  gewesen  sein.  Mit 
diesen  Erwägungen  trete  ich  in  dem  Streit,  der  zwischen  Thomas  sin  und 
Binterim  geführt  worden  ist,  auf  Thomassins  Seite:  die  „ Landpfarrei "  hat 
sich  erst  seit  etwa  250  langsam  entwickelt;  aber  —  gegen  Thomassin  — 
bin  ich  der  Ansicht,  daß  das  „Landbistum"  älter  ist.  Es  kann  ja  mit  Sicher- 
heit für  Phrygien  bis  in  die  Zeit  der  ersten  montanistischen  Kämpfe  hinauf- 
geführt werden.  In  bezug  auf  die  Entstehung  der  Landpfarreien  vgl.  die 
neuen  und  einschneidenden  Untersuchungen  von  Stutz  und  seinem  Schüler 
(Stutz,  Gesch.  des  kirchl.  Benefizialwesens  I,  1895;  Schäfer,  Pfarrkirche 
und  Stift  im  deutschen  Mittelalter,  1903;  Stutz,  Anzeige  von  Imbart  de 
la  Tour,  Les  paroisses  rurales  du  4«  au  ll^  siecle,  1900,  in  den  Gott.  Gel. 
Anz.,  1904,  Nr.  1  p.  1 — 86).  Obschon  die  Untersuchungen  die  Verhältnisse 
der  vorconstantinischen  Zeit  nicht  berühren,  sind  sie  zur  Vergleichung  doch 
jedem  nötig,   der  die  älteste  Verfassungsgeschichte  der  Kirche  erhellen  will. 


GenieindebilduDg  und  Bistum  in  der  Zeit  von  Pius  bis  Constantin.     397 

lieh  Richtiges  behauptet,  wenn  er  (ep.  55,  24)  an  Antonian  schreibt:  „lam 
pridem  per  omnes  provincias  et  per  urbes  singulas  ordinati  sunt  episcopi" ' ; 
und  was  zur  Zeit  des  Sozomenus  (h.  e.  VII,  19)  eine  Singularität  gewesen  ist 

—  daß  in  Scythien  trotz  vieler  Städte  nur  ein  Bischof  regierte^  — ,  das 
wäre  auch  schon  150  Jahre  früher  eine  Singularität  gewesen. 

Erinnert  sei  zum  Schlüsse  noch  daran,  daß  sich  diese  ganze  Unter- 
suchung lediglich  auf  die  Zeit  von  Pius  bis  Constantin  bezieht,  nicht  aber 
auf  die  früheste  Periode,  in  der  sich  der  monarchische  Gemeindeepiskopat 
selbst  erst  entwickelt  hat.  In  dieser  frühesten  Periode  —  in  einigen  Provinzen 
bis  zur  Zeit  Domitiaus  und  Trajans,  in  vielen  anderen  noch  bedeutend  länger 

—  war  die  kollegiale  Regierung  der  Einzelgemeinde  durch  Bischöfe  und 
Diakonen  (bez.  durch  ein  Presbyterkollegium ,  Bischöfe  und  Diakonen)  die 
Regel.  Wie  dieser  Zustand  in  den  andern  (den  der  monarchischen  Regierung) 
übergegangen  ist,  stand  hier  nicht  zur  Frage.  Die  Vermutung  aber,  daß, 
wo  sich  im  dritten  Jahrhundert  nicht-bischöflich  verfaßte  Gemeinden  finden, 
diese  als  solche  zu  betrachten  seien,  welche  die  älteste  Organisation  fest- 
gehalten haben,  ist  nicht  nur  unbeweisbar,  sondern  auch  unrichtig;  denn 
diese  nicht-bischöflich  verfaßten  Dorfgemeinden  sind  augenscheinlich  junge 
Gemeinden,  und  sie  sind  nicht  von  einem  Presbyter-Kollegium,  sondern 
von  einem  oder  zwei  Presbytern  geleitet  worden;  es  sind  „Landpfarreien", 
deren  exponierte  „Presbyter"  mit  den  Mitgliedern  des  uralten  Presbyter- 
Kollegiums  nicht  viel  mehr  als  den  Namen  gemeinsam  haben.  Eine  Aus- 
nahme macht  hier,  wie  ich  nochmals  erinnere,  Ägypten,  sofern  große 
christliche  Gemeinden  in  diesem  Lande  noch  in  der  Mitte  des  dritten  Jahr- 
hunderts kollegial  geleitet  worden  sind.  Hier  steht  nichts  der  Annahme 
entgegen,  daß  diese  Gemeinden  die  älteste  Verfassungsform  zäh  festgehalten 
haben.  Scheinen  doch  in  Ägypten  neben  den  Pi-esbytern  bis  über  die  Mitte 
des  dritten  Jahrhunderts  sogar  noch  „8i8äaxaloi"  zur  Repräsentanz  der  Ge- 
meinden gehört  zu  haben  (Dionys.  Alex,  bei  Euseb.,  h.  e.  VII,  24). 


^)  Dabei  bleibt  vorbehalten,  daß  sich  in  einigen  Provinzen  die  Tendenz 
zur  selbständigen  Gemeindebildung  energischer  geltend  gemacht  hat  als  in 
anderen.  Indessen  können  wir  dies  nur  vermuten,  nicht  streng  beweisen. 
Die  bischöflichen  Gemeinden  sind  im  3.  Jahrhundert  in  Nordafrica,  Palästina, 
Syrien,  Asien  und  Phrygien  am  zahlreichsten  gewesen;  aber  es  spricht  viel 
dafür,  daß  auch  die  Christen  in  diesen  Provinzen  am  zahlreichsten  waren. 
Besondere  Umstände,  die  zu  einer  schnellen  Vermehrung  selbständiger  d.  h. 
bischöflicher  Gemeinden  geführt  haben,  möchte  ich  nur  für  Nordafrica  an- 
nehmen; aber  welche  sie  waren,  weiß  man  nicht. 

^)  Wenn  Sozomenus  fortfahrt :  sv  äXXoig  de  k'&veoiv  iozlv  öjti]  xal  Iv 
}i(ji)[.iaig  EJiioxonoi  legovvrai,  cbg  Jtaga  'Agaßioig  xai  KvjiQiotg  syvcov  xai  jrafja 
TOig  ev  <pQvyiaig  Navatiavolg  xal  Movraviaxmg ,  so  erkennt  man,  daß  Dorf- 
bischöfe zu  seiner  Zeit  (um  das  Jahr  430)  in  den  meisten  Provinzen  nicht 
mehr  existiert  haben.  Daß  sie  früher  häufiger  waren,  lehrt  eben  die  Tat- 
sache, daß  sie  sich  noch  bei  den  phrygischen  Novatianern  und  Montanisten 
fanden;  denn  diese  Sekten  hielten  altertümliche  Einrichtung-en  fest. 


398       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Exkurs  IL 
Die  katholische  Konföderation  und  die  Mission. 

Bevor  es  Generalsynoden  und  Patriarchen  in  der  Kirche  gegeben  hat, 
ja  bevor  noch  das  Metropolitansystem  vollständig  ausgebildet  war,  gab  es 
eine  katholische  Konföderation  der  meisten  christlichen  Gemeinden  in  Ost 
und  West.  Sie  hat  sich  in  den  Kämijfen  mit  den  Gnostikern  gebildet,  hat 
iu  den  montanistischen  Krisen  ihren  relativen  Abschluß  erhalten  und  hatte 
ihren  Mittelpunkt  au  der  Gemeinde  von  Rom.  Sie  war  eine  Tatsache,  ob- 
gleich kein  geschriebeues  Recht  und  auch  nicht  ein  Buchstabe  eines  ge- 
meinsamen Statuts  bestand.  Aber  gemeinsam  war  die  apostolische  Glaubens- 
regel, der  apostolische  Schriftenkanon  und  die  Überzeugung  von  der  aposto- 
lischen Einsetzung  des  Episkopats;  ja  schon  bevor  diese  gemeinsamen  Güter 
überall  als  Besitz  anerkannt  waren ,  wußte  man  sich  durch  die  Behauptung 
derselben  Lehre  als  eine  Einheit.  Äußerlich  trat  diese  Einheit  in  der  Inter- 
kommuuion,  in  der  brüderlichen  Aufnahme  der  Zugereisten  und  Wandernden, 
in  der  regelmäßigen  Anzeige  des  Wechsels  der  Amtspersonen,  hin  und  her 
auch  schon  in  der  Beschickung  der  Synoden  über  den  Kreis  der  eigenen 
Provinz  hinaus  und  in  der  Sendung  von  Unterstützungen  hervor.  Was  von 
Anfang  an  in  fi-eier  Weise,  aber  eben  deshalb  auch  oft  willkürlich  und  Un- 
würdigen gegenüber  geschehen  war,  erhielt  nun  eine  gewohnheitsrechtliche 
Ordnung  und  feste  Formen. 

Für  die  Ausbreitung  der  Kirche  bedeutete  die  Tatsache  dieser  katholi- 
schen Konföderation  sehr  viel.  Überall  war  der  Christ  nun  heimisch  und 
konnte  sich  so  empfinden;  überall  war  er  beschützt  und  überall  kontroliert. 
Die  Kirche  schuf  sozusagen  in  ihren  Kreisen  ein  neues  einheitliches  Reichs- 
bürgerrecht. Eben  in  derselben  Eiooche,  in  welcher  Caracalla  das  römische 
Bürgerrecht  an  die  Pi-ovinzialen  verlieh  —  eine  ziemlich  wirkungslose  Kon- 
zession, die  nicht  erreichte,  was  sie  sollte  — ,  wurde  das  katholische  Bürger- 
recht eine  wichtige  Sache. 


Exkurs  III. 
Der  Primat  Roms  und  die  Mission. 

Die  römische  Gemeinde  besaß  seit  dem  Ende  des  1.  Jahrhunderts  einen 
faktischen  Primat  in  der  Christenheit.  Als  Gemeinde  der  Welthauptstadt,  als 
die  Kirche  des  Petrus  und  Paulus,  als  die  Ekklesia,  welche  das  Meiste  für 
die  Katholi.sierung  und  Unitizierung  der  Kirchen  getan  hat,  endlich  als  die 
Gemeinde,  welche  überallhin  die  Augen  offen  hatte,  aber  auch  stets  bereit 
war,  annen  oder  bedrängten  Gemeinden  im  ganzen  Reich  mit  Gaben  bei- 
zustehen *,  hatte  sie  ihn  erwor})en^     Die  Frage  erhebt  sich,  ob  diese  Kirche 

')  Wir  haben  dafür  ans  dem  2.  und  8.  Jahrhundert  Zeugnisse,  und  zwar 
in  bezug  auf  Coriuth,  Arabien,  Cappadocien  und  Mesopotamien,  s.  darüber 
S.  V)2  if.  und  das  folgende  Buch.  Die  Fälle,  in  denen  sie  mit  dem  Wort  und 
Ratschlägen  eingriff,  sind  noch  zahlreicher. 

■■')  Ein  großer  Teil  des  einschlagenden  Quellenmaterials  ist  in  meinem 
Lehrbuch  der  Dogmengeschichte  Bd.  V  S.  4.55  tf.  zusammengestellt  unter  dem 
Titel:  -Katholisch  und  Römisch". 


Gegenwirkungen.  •  1399 

nicht  auch  für  die  Mission,  sei  es  von  Anfang  au,  sei  es  in  bestimmten 
Epochen  des  vorconstantinischeu  Zeitalters,  besonders  tätig  gewesen  ist.  Die 
Antwort  muß  negativ  hiuteu.  Alles,  was  in  bezug  hierauf  behauptet  worden 
ist,  gehört  offenkundig  der  Teudeuzlegende,  und  zwar  einer  späten  Tendenz- 
legende an.  Alle  die  Berichte  über  Kirchengründungen  des  Petrus  in  West- 
und  Nordeuropa  (durch  abdelegierte  Schüler)  sind  Fabeln;  ebenso  fabelhaft 
ist,  was  von  den  ältesten  römischen  Bischöfen  in  dieser  Hinsicht  erzählt 
worden  ist,  z.  B.  die  Kirchengründung  in  Britannien  durch  Eleutherus.  Was 
übrigbleibt,  ist,  soviel  ich  sehe,  einzig  die  abgerissene,  aber  zuverlässige 
Nachricht,  welche  der  ebenerwähnten  Legende  zugrunde  liegt,  daß  um  das 
J.  200  eine  Beziehung  zwischen  Rom  und  Edessa  bestanden  hat.  Aber  auf 
eine  beabsichtigte  Missionstätigkeit  ist  daraus  nicht  zu  schließen.  Die 
Christianisierung  von  Edessa  ist  spontan  erfolgt.  Wohl  mag  Abgar  bei 
seinem  Aufenthalt  in  Rom  den  dortigen  Bischof  gesprochen  haben,  und  ein 
Brief,  der  schon  vorher  von  Eleutherus  an  Abgar  gei'ichtet  worden  sein  soll, 
wird  auch  historisch  sein,  wohl  mag  der  römische  Bischof  auf  die  Katholi- 
sierung  Edessas  und  der  osroenischen  Bischöfe  eingewirkt  haben,  aber  von 
einer  Missionstätigkeit  in  irgendwelchem  Sinn  kann  nicht  die  Rede  sein. 
Femer,  hätte  Rom  eine  förmliche  Missionstätigkeit  in  bezug  auf  Nordafrica 
(oder  Spanien,  oder  Gallien,  oder  Oberitalien)  je  unternommen,  so  müßten 
wir,  mindestens  Nordafi-ica  anlangend,  davon  hören.  Aber  dort  wußte  man 
zur  Zeit  Tertullians  nur,  daß  die  römische  Kirche  apostolischen  Ursprung 
habe,  die  eigene  nicht,  und  daß  man  sich  deshalb  an  die  „auctoritas"  jener 
Kirche  halten  müsse.  Vielleicht  liegt  darin  auch  eine  Erinnerung,  daß  das 
Christentum  von  dort  nach  Carthago  gekommen  ist,  aber  nicht  einmal  das 
ist  sicher.  Unbekannte  Säemänner  haben  auch  in  Carthago  den  ersten  Samen 
gestreut,  im  Auftrage  Gottes  und  nicht  der  Menschen.  Schon  im  2.  .Jahr- 
hundert kannte  man  in  Africa  selbst  ihre  Namen  nicht  mehr. 

Den  Vorwurf  einer  Pflichtversäumnis  darf  man  der  römischen  Kirche 
deshalb  nicht  machen:  bewußte,  planvolle  Missionsunternehmungeu  seitens 
einzelner  Kirchen  sind  in  den  ersten  Jahrhunderten  überhaupt  nicht  nach- 
weisbar und  lagen  nicht  in  ihrem  Horizonte.  Wohl  aber  war  es  eine  wich- 
tige Pflicht,  „die  Brüder  zu  stärken",  und  das  hat  Rom  in  reichem  Maße 
getan. 


Fünftes    Kapitel. 
Gegenwirkungen. 


Von  der  ersten  systematischen  Gegenwirkung  gegen  das 
Christentum  und  seine  Verbreitung,  der  von  Jerusalem  aus  in 
Szene  gesetzten  jüdischen  Kontramission,  ist  bereits  oben  S.  50 f. 
gehandelt  worden.  Sie  erlosch  mit  dem  Untergang  Jerusalems, 
doch,  wie  es  scheint,  erst  zur  Zeit  Hadrians;  aber  in  den  bösen 
Vorwürfen  gegen  die  Christen,  welche  die  Juden  aufgebracht 
hatten,  wirkte   sie  noch  lange  im  Reiche  nach.     Die  Synagogen 


400       Die  Missionare ;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

und  einzelne  Juden  setzten  den  Kampf  gegen  das  Christentum 
durch  Anfeindungen  und  Aufhetzungen  fort^. 

Die  Gegenwirkungen  des  römischen  Staats,  wie  sie  sich  in 
den  Yerfolgungen  darstellen,  können  im  einzelnen  hier  nicht  ge- 
schildert werden-.  Nur  gewisse  Hauptpunkte  sind  hervorzuheben 
mit  besonderer  Beziehung  auf  die  negative  und  positive  Bedeutung, 
welche  die  Yerfolgungen  für  die  Mission  gehabt  haben. 

Sobald  sich  das  Christentum  für  das  Auge  des  Gesetzes  und 
der  Polizei  als  eine  von  der  jüdischen  Religion  unterschiedene 
Religion  darstellt,  war  auch  sein  Charakter  als  religio  illicita 
zweifellos.  Es  bedurfte  keines  ausdrücklichen  Gesetzes,  um  ihn 
zu  konstatieren;  das  „non  licet"  ist  vielmehr  die  Voraussetzung 
aller  speziellen  kaiserlichen  Reskripte.  Nach  der  wahrscheinlich 
von  den  Juden  (s.  S.  51)  angezettelten^  neronischen  Verfolgung, 
die  sich  auf  Rom  beschränkte  imd  weitere  Folgen  nicht  gehabt  hat, 
hat  Trajan  entschieden,  daß  die  Statthalter  nach  ihrem  Ermessen 
mit  der  Koerzition  gegebenen  Falls  einschreiten*,  nicht  aber  die 
Christen  aufsuchen  sollen  ^.  Hingerichtet  —  und  zwar  aufs  schimpf- 
lichste (s.  die  neronische  Verfolgung,  Hermas  usw.)  —  wurden  sie, 

^)  Man  vgl.  das  Martyrium  des  Polycarp  und  das  des  Pionius.  In  dem 
Mart.  Cononis  sagt  der  Richter  zu  dem  Angeklagten :  tl  Tilaräaüs ,  ävdQcojiov 
■deov  kiyovtf.g ,  nai  zovrov  ßiodavfj;  chg  f'/.iai)ov  Jiagu  'lovöaiMv  dxgißwi; ,  aal  ri 
t6  yivog  avzov  aal  öoa  ivEÖsi^aro  toj  sdvei  aviöjv  nal  jTÖJg  djtsi^avfv  oraiiQW&flg. 
nQOHOt.doavreg  yag  aviov  xa  vTTOfxvt'jjjiaza  ['??]  ijraveyvModv  fioi  (v.  Gebhardt, 
Acta  Mart.  Selecta  p.  131).  Celsus  ließ  in  seiner  Streitschrift  einen  Juden 
gegen  die  Christen  auftreten.  Das  entsprach  der  Tatsache,  daß  die  Heiden, 
wenn  sie  dem  Christentum  kritisch  näher  traten,  zunächst  von  den  Juden 
lernen  mußten.  —  Daß  es  umgekehrt  die  Christen  nicht  an  schärfster  Ver- 
urteilung der  Juden  fehlen  ließen ,  ist  oben  S.  58  ff.  gezeigt  worden.  Der 
von  Hippolyt  (Philos.  IX,  12)  in  bezug  auf  den  römischen  Christen  Callist 
berichtete  Fall  ist  gewiß  singulär,  aber  doch  symptomatisch.  Um  sich  ein 
billiges  Martyrium  zu  verschaffen,  stellt  sich  Callist  am  Sabbat  an  eine 
Synagoge  und  verhöhnt  die  Juden. 

^)  S.  Neu  manu,  Der  römische  Staat  und  die  allg.  Kirche  I,  1890; 
Mommsen,  Der  Religionsfrevel  nach  röm.  Kecht  (Hist.  Ztschr.  Bd.  64  [N.F. 
Bd.  28])  Hefts  S.  389— 429;  Harnack,  „Christenverfolgungen"  in  der  Protest. 
REncykl.  IIP;  Weiß,  Christen  Verfolgungen,  1899;  Linsenmayer,  Die  Be- 
kämpfung des  Christentums  durch  den  römischen  Staat,  1905. 

^)  Ohne  diese  Hypothese  ist  die  Verfolgung  m.  E.  schwer  begreiflich; 
dazu  s.  meine  Abhandlung  in  den  Texten  u.  Unters.  Bd.  28  Heft  2,  1905. 

*)  Trajan  billigt  das  Verfahren  des  Plinius,  angeklagte  Christen,  die  bei 
der  Verweigerung  der  Opfer  verharren,  hinrichten  zu  lassen,  fügt  aber  hinzu: 
„in  Universum  aliquid  quod  quasi  certam  formam  habeat  constitui  non  potest." 

^)  Die  kriminelle  Behandlung  in  gewissen  Fällen  nach  dem  Ermessen 
der  Statthalter  ist  damit  natürlich  nicht  ausgeschlossen;  auch  .sind  im  Laufe 
des  2.  Jahrhunderts  Spezialbestimmungen  in  bezug  auf  die  Behandlung  der 
Christen  erlassen  worden.  Das  Richtige  über  das  koerzitive  und  kriminelle 
Verfahren  bei  Au  gar,  Texte  u.  Unters.  Bd.  28  Heft  4,  1905. 


Gegenwirkungen.  4()1 

wenn  sie,  die  sämtlich  des  Majestätsverbrechen h  bez.  des  Sakri- 
legiums^  verdächtig  waren,  bei  der  Weigerung,  vor  den  Götter- 
bildern und  dem  Kaiserbilde  zu  opfern,  verharrten  und  sich  somit 
jener  Ycrbrechen  offenkundig  schuldig  machten.  Beim  Kaiser- 
kultus,  und  eigentlich  nur  hier,  stießen  Staat  und  Kirche 
aufeinander'-^.  Die  Behauptung  der  christlichen  Apologeten,  das 
„nomen  ipsum"  werde  mit  dem  Tode  bestraft,  ist  im  Grunde  nicht 
richtig  oder  nur  mit  Zufügung  des  auf  Erfahrung  beruhenden 
Satzes,  daß  kein  wirklicher  Anhänger  dieser  Sokt(!  jemals  opfert'', 
also  Atheist  und  hostis  publicus  ist. 

Die  Reskripte  der  Kaiser,  von  denen  wir  wissen,  hatten  bis 
zu  den  letzten  Jahren  M.  Aureis  den  Zweck,  nicht  die  Christen 
zu  schützen,  sondern  die  Rechtspflege  und  Polizei  gegen  Eingriffe 
des  den  Christen  feindlichen  Pöbels*  und  gegen  Übergriffe  der 
Landtage,  die  durch  Christenprozessc  ihre  Loyalität  auf  billige 
Art  beweisen  wollten,  sicher  zu  stellen.  Anonyme  Anklageschriften 
hatte  schon  Trajan  verboten;  die  Versuche  des  asiatischen  Land- 
tags, durch  Massenpetitionen  die  Statthalter  zum  Einschreiten 
gegen  die  Christen  zu  bewegen,  hat  Hadrian  zurückgewiesen; 
Pius  hat  in  mehreren  Reskripten  alle  „Neuerungen"  im  Verfahren 
untersagt:  es  sollte  bei  dem  „quaerendi  non  sunt"  und  der  Straf- 
losigkeit verleugnender  Christen  verbleiben.  Die  Akkusation 
Privater  im  Strafprozeß  ist  in  dieser  Zeit  überhaupt  und  so  auch 
in  Majestätsprozesson  immer  mehr  eingeschränkt  worden  (auch 
die  öffentliche  Meinung  wurde  ihr  in  steigendem  Maße  ungünstig)  ^, 
und  das  kam  den  Christen  zugut;  denn  die  meisten  Statthalter 
sahen  sich  nicht  veranlaßt,  von  sich  aus  einzugreifen,  sondern  sie 


')  „Atheismus":  s.  meine  Abhandlung  hierüber  in  den  Texten  u.  Unters., 
a.  a.  (). 

-)  Tertul].,  Apol.  10:  „Sacrilegii  et  maiestatis  rei  convenimur.  summa 
haec  causa,  immo  tota  est."  Aber  das  „sacrilegium"  wurde  faktisch  kaum 
mehr  von  der  „maiestas"  unterschieden. 

^)  Plinius  (ep.  96,  5):  ,cjuorum  nihil  posse  cogi  dicuutur  qui  sunt  re 
vera  Christiani." 

*)  Man  beobachtet,  daß  die  Gresellschaft  und  das  Volk  bis  etwa  zur  Zeit 
Caracallas  (incl.)  dem  Christentum  höchst  feindlich  sind  und  der  Staat  sie 
sogar  zügeln  muß;  aber  seit  dieser  Zeit  hört  der  Fanatismus  des  Pöbels  und 
die  Abneigung  eines  Teils  der  Gesellschaft  mehr  und  mehr  auf.  Augenschein- 
lich fing  man  an,  sich  an  die  Tatsache  der  Existenz  dieser  Religion  zu  ge- 
wöhnen (Tertullian,  Scorp.  1,  sagt,  die  „ethnici  de  melioribus"  sprächen: 
„siccine  tractari  sectam  nemini  molestam?  perire  homines  sine  causa").  Nun 
aber  mußte  sich  die  Sorge  römisch  empfindender  Kaiser  und  Staatsbeamten 
verdoppeln. 

^)  Tertullian  sagt  freilich  (Apolog.  2):  In  reos  maiestatis  et  publicos 
hostes  omnis  homo  miles  est",  aber  dabei  handelt  es  sich  um  deklarierte 
Verbrecher,  nicht  um  Verdächtige. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  26 


402       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

ließen  die  Christen,  von  ihrer  faktischen  Ungefährlichkeit  über- 
zeugt, gewähren.  Je  höher  eine  Persönhchkeit  im  öffentlichen 
Leben  stand,  nm  so  größer  war  natürlich  die  Gefahr  für  sie,  al8 
Christ  in  Konflikt  mit  der  Staatsordnung  zu  kommen.  Nur  auf 
der  tiefsten  Stufe  der  Gesellschaft  war  die  Gefahr  etwa  gleich 
groß;  denn  das  Leben  dieser  Leute  galt  überhaupt  nicht  viel. 
Christen  aus  dem  mittleren  Bürgerstand  blieben  im  ganzen  un- 
behelligt, sofern  es  nicht  einer  Litrige  gelang,  sie  vor  den  Richter 
zu  zerren.  Märtyrer  aus  dieser  großen  Schicht  hat  es  bis  zur  Mitte 
des  '•].  Jahrhunderts  nur  in  ganz  geringer  Anzahl  gegeben.  Irenäus 
schreibt  um  185:  „Mundus  pacem  habet  per  Romanos,  et  nos 
[Christiani]  sine  timore  in  via  ambulamus  et  navigamus  quocumque 
voluerimus".  Exponiert  waren  die  Soldaten,  sobald  sie  öffentlich 
von  ihrem  Christentum  Gebrauch  machten,  exponiert  auch  alle  die 
Christen,  welche  zu  den  zahlreichen  kaiserlichen  Domänen  gehörten. 

Diese  Haltung  des  Staats  —  von  der  dezidierten  Christen- 
feindlichkeit einiger  weniger  Prokonsuln  und  von  der  strengeren 
Aufsicht  des  Stadtpräfekten  abgesehen  —  hat  bis  zur  Zeit  des 
Decius,  also  bis  zum  Jahre  249,  gedauert.  Lidessen  haben  in 
diesem  langen  Zeitraum  dreimal  Versuche  zu  Yerschärfungen  statt- 
gefunden. Nur  von  Versuchen  kann  man  sprechen;  denn  alle  drei 
haben  verhältnismäßig  schnell  ihre  Kraft  verloren.  Der  Kaiser 
Marcus  hat  den  Statthaltern  schärfere  Überwachung  der  religiösen 
Umtriebe,  und  damit  auch  der  christlichen,  zur  Pflicht  gemacht: 
die  Resultate  dieses  Reskripts  sehen  wir  in  den  Verfolgungen  der 
Jahre  176  bis  180;  aber  unter  Commodus  schlief  die  Verordnung 
ein.  Septimius  Severus  hat  im  Jahre  202  den  Übertritt  zum 
Christentum  verboten  und  damit  natürlich  auch  eine  strengere 
Überwachung  der  Christen  überhaupt  angeordnet:  die  Neophyten- 
und  Katechumenen -Verfolgungen  des  Jalires  202/3  beweisen,  daß 
das  Reskript  nicht  vergeblich  war,  aber  sehr  bald  erlahmte  es. 
]\Iaximinus  Thrax  gebot,  die  Kleriker  hinzurichten  —  das  setzt 
eine  obligatorische  Aufspürung  voraus,  bedeutet  also  eine  grund- 
sätzliche Neuerung  — .  allein  das  Gesetz  ist  außerhalb  Roms  wahr- 
scheinlich nur  in  wenigen  Provinzen  befolgt  worden:  wir  wissen 
nicht,  was  seiner  Durchführung  im  Wege  gestanden  hat.  Die 
Kleriker  scheinen  übrigens  bis  zur  Zeit  des  Maximinus  Thrax  nicht 
sehr  viel  exponierter  gewesen  zu  sein  als  die  Laien,  und  das 
Edikt  des  Maximinus  hat  nicht  viele  getroffen.  Es  war  aber  be- 
deutungsvoll, weil  es  offenbar  machte,  daß  der  Staat  sich  nun 
der  maßgebenden  Stellung  des  christlichen  Klerus  bewußt  ge- 
worden ist. 

Während  die  Verschärfungsversuche  von  kurzer  Dauer  waren, 
hat  die  relative  Christenfreundlichkeit  des  Commodus,    Alexander 


Gegenwirkungen.  403 

Severus  und  IMiilippus  Arabs  die  Lag-c  der  Christen  jahrzehnte- 
lang noch  verbessert. 

Äußerlich  betrachtet  waren  also  die  Verfolgungen  bis  zur 
Mitte  des  3.  Jahrhunderts  nicht  so  schlimm,  wie  sie  landläufig 
vorgestellt  werden,  und  Origenes  bemerkt  ausdrücklich,  daß  die 
Zahl  der  Märtyrer  klein  sei  und  leicht  zu  zählen^.  Ein  Blick  auf 
Carthago  und  Xordafrica  (nach  den  Schriften  Tertullians)  bestätigt 
das.  Vor  dem  Jahre  180  hat  es  dort  überhaupt  keine  Märtyrer 
gegeben,  und  bis  zur  Zeit  des  Todes  Tertullians  schwerlich  mehr 
als  ein  paar  Dutzend  (ISTumidien  und  Mauretanien  cinbegriflFen)  — 
es  sind  stets  nur  Exempel  statuiert  worden.  Dennoch  würde 
man  sehr  irren,  wenn  man  sich  die  Lage  für  die  Christen  ganz 
erträglich  vorstellte.  Gewiß,  sie  haben  sich  fiiktisch  im  Reiche 
einbürgern  können,  allein  über  jedem  Christen  schwebte  das 
Damoclesschwert,  und  jeder  Christ  stand  gegebenenfalls  unter  der 
schweren  Versuchung  zu  verleugnen,  denn  die  A^erleugnung  machte 
ihn  frei.  Die  christlichen  Apologeten  haben  sich  über  dieses  viel 
mehr  beschwert  als  über  jenes,  und  mit  Recht.  Die  Staatsprämie, 
die  auf  die  Verleugnung  gesetzt  war,  dokumentierte  in  ihren 
Augen,  daß  die  Rechtspflege  unter  dem  Einfluß  der  Dämonen  stehe. 

Man  darf  also,  trotz  der  kleinen  Anzahl  der  Martyrien,  den 
Mut  nicht  unterschätzen,  der  dazu  gehörte.  Christ  zu  werden  und 
als  Christ  zu  leben;  man  muß  vor  allem  aber  die  Überzeugungs- 
ti"eue  der  Märtyrer  hoch  schätzen,  die  ein  Wort  oder  eine  Hand- 
lung des  Moments  straflos  machen  konnte,  und  die  den  Tod  der 
Straflosigkeit  vorzogen  '^. 

^)  S.  c.  Geis.  III,  8.  Wichtig  ist  es  auch,  daß  er  (Comment.  ser.  in 
Matth.  39  t.  4  p.  "270  ed.  Lomm.)  ausdrücklich  bemerkt,  generelle  Verfolgungen 
werde  erst  die  Endzeit  bringen,  bisher  habe  es  nur  partielle  gegeben: 
„nunquam  quidem  conseuserunt  oinnes  geutes  adversus  Christianos ;  cum 
autem  contigerint  quae  Christus  praedixit.  tunc  quasi  succendendi  sunt 
omues  a  quibusdam  gentilibus  incipientibus  Chi-istiauos  culpare,  ut  tunc  fiant 
persecutiones  iam  non  ex  parte  sicut  ante,  sed  generaliter  ubique 
adversus  populum  dei"  (s.  auch  p.  271).  Um  das  Zeugnis  des  Origenes,  daß 
die  Zahl  der  Märtyrer  bisher  noch  klein  sei,  nicht  zu  überschätzen,  erinnere 
man  sich  an  Irenäus  IV,  33,  9:  .eccle-sia  omni  in  loco  multitudinem  martyrum 
in  omni  tempore  praemittit  ad  patrem". 

^)  Freilich  wurden  die  Märtyrer  und  Konfessoren  auch  maßlos  in  den 
Gemeinden  gefeiert,  und  der  „ewige"^  Ruhm  mochte  manchen  auch  locken 
(Marc  Aurel  beurteilt  in  seinen  Meditationen  die  Todesbereitschaft  der  Christen 
einfach  als  Fanatismus  und  Prahlsucht;  vgl.  dazu  Luciaus  Peregrinus  Proteus). 
Den  Konfessoren  wurde  ein  besonderes  Verhältnis  zu  Christus  beigelegt; 
hatten  sie  sich  zu  ihm  bekannt,  so  hatte  er  sich  eben  dadurch  auch  zu 
zu  ihnen  bekannt.  Sie  waren  schon  angenommen;  sie  waren  schon  gerettet; 
aus  ihnen  sprach  fortab  Christus.  Ferner  hatten  sie  ein  Anrecht,  in  den 
Klerus  aufgenommen  zu  werden  (älteste  Stelle  de  fuga  11  des  Tertullian), 
und  ihr  Votum  mußte  man   in  wichtigen  Gemeindeangelegenheiten,  nament- 

26* 


404       Die  Missionare;  Modalitäten  nnd  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Für  die  Propaganda  der  christlichen  Religion  bildete  ihre 
Unerlaubtheit  unstreitig  ein  starkes  Hemmnis;  ob  es  aufgewogen 
wurde  durch  den  Reiz  des  Verbotenen  und  durch  das  heroische 
und  zündende  Yerhalten  der  Märtyrer,  ist  schwer  zu  sagen.  Die 
Christen  selbst  sprechen  von  jenem  Hemmnis  der  Propaganda 
nicht  viel,  um  so  mehr  von  dem  Zuwachs,  den  sie  durch  die 
Martyrien  fort  und  fort  erhalten  ^.  In  der  Tat  lehrt  die  Geschichte 
überall,  daß  die  religio  pressa  stets  zunimmt  und  wächst,  daß  also 
die  Verfolgung  ein  gutes  Mittel  der  Verbreitung  ist^. 

Moralisch  war  freilich  der  Zustand,  stets  unter  dem  Schwerte 
zu  stehen,  während  es  doch  selten  herniederfiel,  eine  schwere  Ge- 
fahr. Die  Christen  konnten  sich  dauernd  als  die  verfolgte  Herde 
fühlen  und  waren  es  doch  in  der  Regel  nicht;  sie  konnten  sich 
in   Gedanken    alle    die   Tugenden   des   Heroismus   zubilligen    und 


lieh  in  allen  Bußfragen  (s.  z.B.  Tertull.  ad  mart.  1:  sie  erteilen  den  Ex- 
kommunizierten wieder  die  pax)  entgegennehmen.  Es  war  schwierig,  von 
ihm  abzuweichen.  Das  vergossene  Märtyrerblut  aber  galt  als  sündentilgend 
wie  das  Blut  Christi  (s.  z.  B.  Origenes,  Hom.  XXIV,  1  in  Num.  t.  10  p.  293, 
Hom.  VII,  2  in  ludic.  t.  11  p.  267).  Hymnen  auf  Märtyrer  gab  es  schon  z.  Z. 
Tertullians,  s.  Scorp.  7:  „cantatur  et  exitus  martyrum".  Indessen  darf  man 
als  Kehrseite  zu  dem  allen  nicht  vergessen,  wie  abschätzig  die  Christen 
selbst  die  MartjTien  beurteilt  haben,  wenn  die  Märtyrer  nicht  ihrer  eigenen 
Kirchenpartei  angehört  haben.  Mit  welchen  Verleumdungen  haben  die 
Gegner  der  Montanisten  die  montanistischen  Konfessoren  überschüttet ,  aber 
wie  gemein  hat  sich  auch  andererseits  Tertullian  am  Ende  seines  Lebens 
über  die  katholischen  Märtyrer  geäußert  (s.  z.  B.  de  ieiunio  12)!  Was  hat 
Tertullian  über  den  Konfessor  Praxeas,  Hippolyt  über  den  Konfessor  Callist, 
Cj'prian  über  ihm  unbequeme  Märtyrer  behauptet!  Und  waren  das  alles 
Verleumdungen?     Von  Prahlsucht  sprechen  sie  ebenso  wie  M.  Aurel. 

*)  S.  z.B.  Justin,  Apol.  II,  12  [er  sagt,  daß  er  selbst  durch  die  christ- 
lichen Martyrien  zum  Übertritt  mitbestimmt  worden  sei],  Dial.  110;  Tertj^ill., 
Apol.  50;  Lactant.,  Inst.  V,  19;  Augustin.  ep.  3. 

^)  Man  muß  jedoch  darauf  hinweisen,  daß  es  auch  unter  den  Christen 
einzelne  Kreise  gab,  die  das  offene  Bekenntnis  und  das  Martyrium  aus  guten 
Gründen  scheuten.  Clemens  Alex,  und  Tertullian  (Scorp.  1)  sagen  das  von  den 
Valentinianern  und  einigen  anderen  Gnostikern;  es  hat  aber  augenscheinlich 
auch  in  der  großen  Kirche  solche  gegeben.  „Nesciunt  simplices  animae"  —  so 
sprachen  sie  —  ^quid  quomodo  scriptum  sit,  ubi  et  quando  et  coram  quibus 
confitendum,  nisi  quod  nee  simplicitas  ista,  sed  vanitas,  immo  dementia  pro 
deo  mori,  ut  qui  me  salvum  faciat.  sie  is  occidet,  qui  salvnm  facere  debebit? 
semel  Christus  pro  nobis  obiit,  semel  occisus  est,  ue  occideremur.  si  vicem 
repetit,  num  et  ille  salutem  de  mea  nece  expectat?  an  deus  hominum  san- 
guinem  Hagitat,  maxime  si  taurorum  et  hircorum  recusatV  certe  peccatoris 
paenitentiam  mavult  quam  mortem."  Dazu  c.  15:  sie  sagen,  das  Wort  .Jesu 
von  der  Bekenntnispflicht  beziehe  sich  nicht  auf  das  Forum  irdischer  Menschen 
(,non  in  terris  confitendum  apud  homines,  minus  vero,  ne  deus  humanum 
sanguinem  sitiat  nee  Christus  vicem  passionis,  quasi  et  ipse  de  ea  salutem 
consecuturus,  exposcat"),  sondern  auf  das  Forum  jener  himmlischen  Menschen 
(Äonen),  durch  deren  Bereich  die  Seele  nach  dem  Tode  aufsteigen  muß. 


Gegenwirkungen.  405 

wurden  doch  selten  auf  die  Probe  gestellt;  sie  koimtcn  sich  als 
die  hoch  über  die  Welt  Erhabenen  vorstellen  und  schmiegten  sich 
ihr  doch  faktisch  immer  mehr  an.  Die  christliche  Literatur  zeigt, 
daß  dieser  ungesunde  Zustand  ungünstige  Folgen  gehabt  hat^ 

Er  steigerte  sich  noch  in  den  Jahren  259  bis  303.  Von  der 
Zeit  der  Alleinherrschaft  des  Grallienus  an,  der  den  Christen  sogar 
ihre  Grundstücke  und  Kirchen,  die  von  Yalerian  eingezogen  waren, 
zurückgab,  bis  zum  19.  Jahr  Diocletians  haben  die  Christen  einen 
Frieden  genossen,  der  einer  Toleranzerklärung  fast  gleichkam^. 
Aurelians  Yersuch  blieb  in  den  Anfängen  stecken:  im  übrigen 
hat  niemand  verfolgt:  die  Kaiser  und  die  Statthalter,  sodann  der 
Reformator  Diocletian  hatten  für  andere  Dinge  zu  sorgen.  Die 
große  Ausbreitung  der  Religion  fällt  in  diese  Zeit.  Längst  besaßen 
die  Christen  (wohl  unter  den  Namen  von  Strohmännern)  auch 
Gebäude  und  Grmidstücke;  jetzt  konnten  sie  ungescheut  damit 
an  dio  Öffentlichkeit  treten  ^  als  wären  sie  eine  anerkannte  Kor- 
poration^. 

Aber  zwischen  den  Jahren  249  und  258  liegen  die  beiden 
prinzipiellen  und  schweren  Verfolgungen  des  Decius  und  Yalerian, 
und  im  Februar  303  begann  die  letzte  und  heftigste  Verfolgung. 
Jene  beiden  haben  nur  je  ein  Jahr  gedauert,  aber  das  genügte, 
um  schreckliche  Verwüstungen  anzurichten.  Viel,  sehr  viel  größer 
als  die  Zahl  der  Märtyrer  war  die  Zahl  der  Gefallenen.  Decius' 
Reskript  war  brutal  und  eines  Staatsmanns  nicht  würdig.  Mit 
einem  Schlage  sollten  alle  Christen,  Weiber  und  Kinder  ein- 
geschlossen, zur  alten  Religion  zurückkehren  oder  ihr  Leben  ehi- 

*)  Dabei  sind  die  heimlichen  Abmachungen  mit  den  lokalen  Behörden, 
sowie  die  Durchstechereien  und  Bestechuugeu  noch  nicht  in  Anschlag  ge- 
bracht. Nach  TertuUiaus  Schrift  de  fuga  kam  es  in  Africa  häufig  vor,  daß 
die  christlichen  Gemeinden  der  Ortskasse  d.  h.  wohl  den  Beamten  etwas 
zahlten  und  sich  dafür  zusichern  ließen,  daß  ihre  Mitglieder  unbehelligt 
blieben.  Die  Behörden  selbst  rieten  öfters  dazu;  s.  Tertull.,  Apol.  27:  „Datis 
consilium,  quo  vobis  abutamur" ;  ad  Scapul.  4:  „Cincius  Severus  [proconsnl] 
Thysdri  ipse  dedit  remedium,  quomodo  responderent  Christiaui ,  ut  dimitti 
possent." 

-)  Aus  den  Resten  der  Streitschrift  des  Porphja-ius  und  aus  den  Werken 
dieses  Gegners  überhaupt  sieht  man,  daß  die  Christen  damals  in  der  Gesell- 
schaft wie  eine  anerkannte  Partei  augesehen  wurden,  die  Gewalt  nicht  mehr 
zu  fürchten  hatte. 

')  Unter  welchem  Titel,  wissen  wir  nicht. 

*)  S.  den  Heiden  bei  Macarius  Magnes  lY,  21  (Porphjrius)  oi  Xßioziavol 
(xifiov/iievoi  röi  aaraoxsväc  zcöv  vaöJv  ßeyiozovg  ol'xovg  oty.oöofxovaiv.  Vorher 
schon  Cäcilius  bei  Minuc.  c.  9:  „Per  Universum  orbem  sacraria  ista  taeterrima 
impiae  coitionis  adolescunt."  Näheres  über  Kirchenbau  s.  unten.  —  Das 
Epitheton  „XQioriavög"  findet  sich  m.  W.  zum  erstenmal  im  Jahr  279  ganz 
offen  auf  einem  Grabstein  in  Kleinasien  gesetzt  (s.  Cumont,  Les  Inscr.  ehret, 
de  PAsie  minem-e  p.  11). 


406        Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

büßen.  Staatsmännisch  Avaren  die  Reskripte  Valerians:  sie  betrafen 
nur  die  Kleriker,  die  höheren  Stände  und  die  Caesariani;  den 
übrigen  geschah  nichts,  wenn  sie  die  Gottesdienste  mieden;  Grund- 
stücke und  Kirclicn  wurden  eingezogen^.  Die  tragischen  Ausgänge 
beider  Kaiser  —  mortes  persecutorum !  —  setzten  ihren  Ver- 
folgungen ein  Ziel.  Beide  hatten  es  auf  Ausrottung  der  Kirche 
abgesehen,  der  eine  auf  kürzestem  Wege,  der  andere  durch 
indirekte  Mittel^.  Die  Restauration  der  Kirche  vollzog  sich  in 
beiden  Fällen  rasch  und  glatt,  und  der  nun  aufgestellte  Grundsatz, 
auch  Gefallene  können  wieder  aufgenommen  werden,  füllte  die 
großen  Lücken  schnell  wieder. 

Die  letzte  Verfolgung,  die  sog.  diocietianische.  war  die  schwerste 
und  längste.  Am  heftigsten  und  längsten  wütete  sie  im  Osten  und 
Südosten  im  Gebiet  des  Maximinus  Daza,  gleich  heftig,  aber  nicht 
so  lange  im  Gebiet  des  Galerius;  weniger  stark,  aber  immer  noch 
sehr  empfindlich  im  Reichsteil  des  Maximianus  und  seiner  Nach- 
folger, schwach  im  Westen.  Die  Verfolgvmg  setzte  mit  Reskripten 
ein,  die  den  staatsmännischen  des  Valerian  nachgebildet  waren, 
ja  sie  an  Klugheit  noch  übertrafen,  aber  sie  ging  bald  in  eine 
Form  über,  die  sich  mit  der  von  Decius  vorgeschriebenen  deckte, 
sie  aber  an  Grausamkeit  im  Orient  noch  überbot.  Positive  Gegen- 
maßregeln hat  nur  Daza  versucht:  er  hat  Pilatusakten  erdichten 
und  überall  (vor  allem  in  den  Schulen)  verbreiten  lassen^,  die 
das  Bild  Christi  verzerren  sollten;  er  hat  auf  Grund  erpreßter 
Geständnisse  die  alten  abscheulichen  Vorwürfe  gegen  die  Christen 
erneuert  und  in  allen  Städten  durch  die  Behörden  bekannt  ge- 
macht (Euseb.,  h.  e.  I,  9:  IX,  5.  7);  er  hat  eine  Widerlegungsschrift 
gegen  die  Christen  von  einem  hohen  Staatsbeamten  abfassen 
lassen*;  er  hat  die  Städte  aufgefordert,  ihm  Petitionen  gegen 
die  Christen  einzureichen  ^.  und  er  hat  —  das  war  das  Wichtigste  — 

^)  Die  private  Religion  ist  vom  Staate  niemals  bekämpft  worden;  be- 
kämpft hat  er  die  Verweigerung ,  die  Kultzeremonien  zu  vollziehen  (s.  die 
prägnante  Fassung  in  den  Acta  Cypriani  1:  „sacratissimi  imperatore.s  prae- 
cei)erunt,  eos  qui  Romanam  religionem  non  colunt,  debere  Romanas  caere- 
monias  recognoscere").  Systematisch  haben  dann  Valerian  und  Diocletian 
auch  die  christlichen  Gottesdienste  zu  unterdrücken  versucht. 

-)  Sie  hatten  augenscheinlich  erkannt,  daß  das  bisher  innegehaltene 
Vorfahren  sinnlos  war  und  der  Kirche  nichts  schadete.  Richtig  urteilten  sie, 
daß,  wenn  man  di(!  Christen  nicht  gewähren  lassen  wolle,  man  sie  ausrotten 
müsse:  ,quaerendi  et  punieudi  sunt"'. 

*)  „Auch  die  Schullehrer  sollten  sie  den  Kindern  anstatt  der  gewöhn- 
lichen Schulfächer  eifrigst  vortragen  und  sie  auswendig  lernen  lassen."  ,Die 
Kinder  in  den  Schulen  führten  täglich  den  Namen  Jesus  und  Pilatus,  sowie 
die  zum  Hohne  gegen  uns  erdichteten  Pilatusakten  im  Munde." 

*)  Hinter  Hierocles  steckt  wahrscheinlich  der  Kaiser  selbst. 

'')  Die  Städte  apportierten  diesen  Befehl,  s.  die  Inschrift  von  Arycanda 
und  Euseb.,  h.  e.  IX,  7. 


Gegenwirkungen.  407 

eine  Restauration  und  Neuordnung  aller  Kulte  (natürlich  unter 
dem  Prinzipat  des  Kaiserkults  und  in  Anlehnung  an  die  neue 
Provinzialeinteilung)  versucht,  um  sie  dem  Christentum  gegen- 
über stärker  und  anziehender  zu  machen^;  „er  befahl,  in  allen 
Städten  Tempel  zu  erbauen  und  die  durch  die  Länge  der  Zeit 
verfallenen  mit  allem  Fleiß  wiederherzustellen;  auch  bestellte  er 
Götzenpriester  in  allen  Orten  und  Städten  und  setzte  über  sie 
in  jeder  Provinz  einen  Oberpriester,  der  sich  in  jeglichem  öffent- 
lichen Dienst  in  hervorragender  Weise  ausgezeichnet  haben  mußte; 
diesem  gab  er  eine  militärische  Ehrenwache  bei"  (Euseb.,  h.  e. 
YIII,  14).  Vgl.  Euseb.  IX,  4:  „In  allen  Städten  wurden  nun  Götzen- 
priester und  außerdem  von  Maximinus  selbst  Oberpriester  aufge- 
stellt. Hierzu  nahm  er  solche  Männer,  die  infolge  ihrer  ausge- 
zeichneten Verwaltung  aller  Amter  im  Staate  hohes  Ansehen 
besaßen.  Sie  ließen  sich  auch  die  Besorgung  des  Dienstes  ihrer 
Gottheiten  aufs  eifrigste  angelegen  sein".  —  Das  kirchliche  Synodal- 
institut mit  seinen  Metropoliten  hatte  sich  seit  dem  Ende  des 
2.  Jahrhunderts  als  Nachbildung  der  Provinziallandtage  bez.  in 
Analogie  zu  denselben  gebildet.  Es  hatte  sich  aber  so  viel  kräftiger 
ausgestaltet,  daß  nun,  nach  hundert  Jahren,  der  Staat  dieses 
Synodalinstitut  mit  seinem  fest  zentralisierten  und  sittlich  hervor- 
ragenden Priestertum  zu  kopieren  versuchte.  Das  war  vielleicht 
der  größte,  jedenfalls  der  augenfälligste  Triumph  der  Kirche  vor 
Constantin ! 

Die  Verfolgung  —  der  Umfang  des  Abfalls,  der  zunächst 
eintrat,  ist  uns  nicht  bekannt;  er  muß  aber  sehr  groß  gewesen 
sein  —  endigte  mit  dem  Siege  Constantins  über  Maxentius,  dem 
Siege  Constantins  und  Licinius'  über  Daza,  und  endlich  mit  dem 
Siege  Constantins  über  Licinius  2.  Überall  hatten  sich  die  Ge- 
meinden in  den  letzten  Jahren  der  Verfolgung  von  dem  ersten 
furchtbaren  Schrecken  erholt  und  innerlich  und  äußerlich  gekräftigt. 
Constantin  fand  keine  niedergeworfene   und  verzagte  Kirche,    als 


')  In  allen  diesen  Maßnahmen  bat  ihn  Julian  einfach  kopiert.  Die  Seele 
dieser  Gegeubewegung  ist  Theotecnus  gewesen  (Euseb..  h.  e.  IX,  2ff.j;  dem 
barbarischen,  den  niedrigsten  Ausschweifungen  ergebenen  Kaiser  kann  man 
sie  nicht  zutrauen. 

^)  In  der  Not,  sich  Constantin  gegenüber  zu  halten,  ist  Licinius  zuletzt 
noch  zum  Christeuverfolger  geworden  (s.  den  Schluß  der  Kirchengesch.  und 
lib.  I  fin.,  II  iuit.  der  Vita  Constant.  des  Eusebius).  Unter  seinen  Gesetzen 
gegen  die  Christen  ist  das  in  bezug  auf  die  Ordnung  in  den  Gefängnissen, 
welches  wir  oben  S.  142  besprochen  haben  (h.  e.  X,  8),  bemerkenswert,  sodann 
die  Reskripte  gegen  den  Verkehr  der  Bischöfe  untereinander,  gegen  die  Ab- 
haltung von  Synoden,  gegen  den  gemeinsamen  Besuch  der  Gottesdienste  durch 
Männer  und  Frauen  und  gegen  den  Unterricht  der  letzteren  durch  Bischöfe 
(Vita  Const.  I,  ol.  53). 


408       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

er  ihr  seinen  kaiserlichen  Arm  bot,  sondern  eine  feste  Kirche, 
deren  Priesterstand  sich  in  der  Verfolgung  geläutert  hatte.  Er 
hat  sie  nicht  aus  dem  Staube  erheben  müssen  —  wäre  das  not- 
wendig gewesen,  so  hätte  der  Politiker  schwerlich  einen  Finger 
gerührt:  aus  vielen  Wunden  blutend,  aber  ungebeugt  und  stark 
kam  sie  ihm  entgegen.  Alle  Gegenwirkungen  des  Staats  hatten 
sich  als  machtlos  erwiesen;  sie  waren  freilich  im  Anfange  des 
4.  Jahrhunderts  nicht  mehr  wie  im  zweiten  von  der  öffentlichen 
Meinung  imterstützt.  Damals  hatte  der  Staat  diese  in  ihrem 
Fanatismus  gegen  die  Christen  niederhalten  müssen;  jetzt  sah  er 
nicht  viele  mehr,  die  seine  harten  Maßregeln  billigten.  Daher  hat 
Galerius  selbst  noch  (auf  dem  Totenbett)  die  Yerfolgungsgesetze 
zurücknehmen  müssen.  Sein  unfreundlich  stilisiertes  Reskript 
(Euseb.,  YTII,  17)  hat  Constantin  durch  das  große  und  wohlwollende 
Toleranzedikt  (Euseb.,  X,  5;  Lactant.,  de  mort.  4S)  ersetzt. 

2. 

Wie  die  Christen  im  2.  Jahrhundert  von  der  griechisch- 
lömischen  Gesellschaft  und  vom  Volke  beurteilt  worden  sind, 
haben  wir  oben  (Kap.  4  und  6  des  2.  Buchs)  an  einigen  Beispielen 
gesehen^.  Freundlichere  Stimmen  waren  selten.  Man  hörte  wohl 
auch  solche  Urteile:  „Gajus  Sejus  ist  ein  trefflicher  Mann,  nur 
daß  er  ein  Christ  ist",  oder:  „Ich  wundere  mich,  daß  Lucius  Titus 
—  doch  ein  weiser  Mann  —  plötzlich  Christ  geworden  ist"  (Tert., 
Apol.  3),  oder:  „N.  N.  denkt  über  die  Dinge  und  über  Gott  wie 
wir;  aber  er  schiebt  die  hellenischen  Gedanken  fremden  Fabeln 
unter"    (Euseb.,  VI,  19)^.      Die  Vorwürfe    unbegreiflicher   Leicht- 


^)  Eine  vollständige  Zusammenfassung  s.  in  meiner  Gesch.  der  alt- 
christl.  Litt.  I  S.  865  ff. 

^)  Das  ist  das  Urteil  des  Porphyrius  über  Origenes,  Um  der  Einzig- 
artigkeit dieses  Zeugnisses  willen  soll  es  hier  stehen:  „Einige  [Christen] 
bestrebten  sich,  anstatt  von  der  Erbärmlichkeit  der  jüdischen  Schriften  ab- 
zufallen, eine  Lösung  derselben  zu  suchen.  Sie  nahmen  dazu  ihre  Zuflucht 
zu  unzusammenhängenden  und  dem  Texte  widersprechenden  Erklärungen, 
worin  sie  nicht  so  fast  jene  fremde  Sekte  verteidigten,  als  vielmehr  ihrer 
eigenen  Lehre  Lob  und  Beifall  zu  verschaffen  suchten.  Denn  ihre  Erklärungen 
bestehen  darin,  daß  sie  die  klaren  Worte  Mosis  prahlerisch  für  Rätsel  aus- 
geben, sie  als  Aussprüche  Gottes  voll  verborgener  Geheimnisse  vergöttern 
und  durch  diesen  Dunst  die  Urteilskraft  der  Seele  blenden  .  .  .  Die  Art  dieser 
Ungereimtheit  aber  kann  an  einem  Manne  ersehen  werden,  mit  dem  auch 
ich  in  meiner  frühesten  Jugend  [in  Cäsarea]  zusammengetroffen  bin,  und  der 
sich  damals  einen  großen  Kuhm  erworben  hatte,  sowie  er  auch  jetzt  noch 
durch  die  Schriften,  die  er  hinterließ,  in  hohem  Ansehen  steht  —  ich  meine 
an  Origenes,  dessen  Ruhm  bei  den  Lehrern  dieser  Religion  weit  verbreitet 
ist.  Dieser  Origenes  war  nämlich  ein  Schüler  des  Ammonius,  des  größten 
Philosophen  unsrer  Zeit,   und  hatte,  was  wissenschaftliche  Kenntnisse  anbe- 


Gegenwirkungen.  409 

gläubigkeit  und  totaler  Urteilslosigkeit,  der  „ coiitemptissima  iii- 
ertia"  und  der  „infructuositas  in  negotiis"  ^  waren  noch  die  ge- 
ringsten; man  sagte  überhaupt,  die  christliche  Lehre  und  Ethik 
sei  mit  ihren  Absurditäten  sowie  mit  ihren  barbarischen  und 
fanatischen  Ansprüchen  ^  eines  freien  gebildeten  Mannes  unwürdig 
(so  namentlich  Porphyrius)^.  Die  Masse  der  Gebildeten  und  Unge- 
bildeten war  im  2.  Jahrhundert  noch  feindseliger.  Im  Vordergrund 
standen  die  zwei  bösen  Vorwürfe  (ödipodeische  Laster  und  thye- 
steische  Mahlzeiten),  sowie  der  Vorwurf  der  fremden  ausländischen 
Sitten  und  weiter  des  Atheismus  und  des  Hochverrats.  Daneben 
schwirrten  zahlreiche  andere  Anklagen:  daß  die  Christen  Magier 
seien  und  Zauberei  trieben*,  daß  sie  einen  Götzen  mit  einem 
Eselskopf,    das  Kreuz,    die   Sonne,    die  Genitalien  ihrer  Priester 


langt,  aus  dem  Untemcht  seines  Lehrers  großen  Nutzen  geschöpft,  in  Hin- 
sicht auf  den  richtigen  Lebensweg  aber  eine  dem  Ammonius  gerade  entgegen- 
gesetzte Richtung  eingesehlagen  ....  Als  Grieche  unter  Griechen  erzogen, 
iiTte  er  zur  barbarischen  Hartnäckigkeit  ab.  Dadurch  schändete  er  sich  und 
seine  erlaugten  Kenntnisse :  deuu  sein  äußeres  Leben  war  das  eines  Christen 
und  widergesetzlich:  in  bezug  auf  seine  Ansichten  von  den  Dingen  und  von 
der  Gottheit  aber  helleuisierte  er  und  schob  die  Vorstellungen  der  Griechen 
den  fremden  Mj-theu  unter.  Plato  war  nämlich  sein  immerwälrrender  Gesell- 
schafter, ebenso  hatte  er  die  Schriften  des  Numeuius,  Cronius,  Apollophanes, 
Longinus ,  Moderatus ,  Nicomachus  und  der  berühmtesten  Männer  unter  den 
Pythagoräern  täglich  in  seinen  Händen.  Auch  gebrauchte  er  die  Schriften 
des  Stoikers  Chäremon  und  des  Cornutus.  Von  diesen  lernte  er  die  alle- 
gorische Erklärungsweise  der  Geheimnisse  der  Griechen  und  übertrug  sie 
sodann  auf  die  jüdischen  Schriften." 

')  S.  den  Vorwurf  gegen  den  Konsul  T.  Flavius  Clemens  (bei  Sueton). 
Apolog.  42:  „infructuosi  in  negotiis  dicimur."  Was  TertuUiau  (de  pallio  5) 
das  Pallium  sagen  läßt  (es  kümmere  sich  nicht  um  öffentliche  Angelegen- 
heiten, um  das  Vaterland  und  das  Imperium,  sondern  lebe  besser  in  der 
Zurückgezogenheit),  ist  als  Rede  der  Cliristen  zu  verstehen.  Die  Heiden  er- 
widern darauf,  das  sei  „ignavia". 

^)  S.  Tertull.,  Scorp.  7:  .funesta  religio,  lugubres  ritus,  ara  rogus,  pol- 
linctor  sacerdos." 

^)  Man  gebe  sich  darum  auch  nicht  die  Mühe  —  klagen  die  Apolo- 
geten — ,  festzustellen,  was  das  Christentum  sei  (Tertull.,  Apol.  1  fl'.),  ja  auch 
ein  heidnischer  Denker  werde  bereits  verdächtig,  wenn  er  Lehren  bringe, 
die  mit  den  christlichen  übereinstimmen;  s.  Tertull.,  de  testim.  1:  „Ne  suis 
quidem  magistris  alias  probatissimis  atque  lectissimis  fidem  inclinavit  humana 
de  incredulitate  duritia,  sicubi  in  argumenta  Christianae  defensionis  inipin- 
gunt.  tunc  vani  poetae  .  .  .  tunc  philosophi  duri,  cum  veritates  fores  i^ulsant. 
hactenus  sapiens  et  prudens  habebitur  qui  prope  Christianum  pronuntiaverit, 
cum,  si  quid  prudentiae  aut  sapientiae  afi'ectaverit  seu  caeremonias  despuens 
seu  saeculum  revincens  pro  Christiane  denotetur.*^  Chi'istliche  Schriften 
werden  nicht  gelesen:  „Tanto  abest  ut  nostris  litteris  annuant  homines,  ad 
quas  nemo   venit  nisi   iam  Christianus'-  (1.  c). 

*)  Christus  selbst  galt  als  Magier;  Zeugnisse  dafür  von  Justin  bis  Com- 
modian. 


410       Die  ^Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

anbeten,  erzählte  man  sich  (Tertull.,  Apol.  1 6  und  die  Parallelen  bei 
Minucius)^  Daß  sie  Zauberer  seien,  Wind  und  Wetter  machten, 
Pest,  Hungersnot  und  Erdbeben  herbeiführten,  die  Opfer  beein- 
flußten, glaubte  man  zu  wissen^.  „Christianos  ad  leonem"  —  war 
der  Ruf  des  Pöbels^.  Und  wo  man  vorsichtiger  und  milder  war, 
da  war  die  Sache  doch  auch  entschieden:  Hochmut  und  Wahnsinn 
ist  es,  die  Religion  der  Väter  zu  verlassen  *.  Gegenschriften  gegen 
die  Christen  waren  im  2.  und  auch  im  3.  Jahrhundert  selten:  an 
Streitunterredungen  mag  es  nicht  gefehlt  haben.  Der  Philosoph 
Crescens,  ein  Zyniker,  griff  den  Justin  öffentlich  an,  scheint  aber 
nur  die  Yolksvorwürfe  wiederholt  zu  haben.  Frontos  Angriff  hat 
sich  fast  ausschließlich  auf  demselben  Niveau  bewegt,  wenn  es 
richtig  ist,  daß  der  Heide  Cäcilius  bei  Minucius  Felix  von  ihm 
einen  Teil  seiner  Argumente  geborgt  hat.  Lucian  hat  mit  der 
Christenfrage  nm-  gespielt,  ein  unbekümmerter,  aber  scharfblicken- 
der Journalist.  Mit  grimmer  Verachtung  hat  der  Redner  Aristides 
über  die  Christen  geschrieben^.     Hieroclcs'  Schrift,    die  unterge- 


')  Der  Ursprung  dieser  Verleumdungen  ist  leicht  ersichtlich.  Der  Esels- 
kopf stammt,  wie  schon  Tertullian  wußte,  aus  Tacitus"  Historien  und  bezog 
sich  ursjirünglich  auf  die  Juden;  Honnenanbeter  —  weil  sie  sich  beim  Gebet 
nach  Osten  wandten.  Der  letzte  Vorwurf  stammt  wohl  aus  den  Gebärden 
bei  der  Exhomologese. 

'•*)  Öfters  werden  auch  die  leeren  und  schreckhaften  Einbildungen  betont, 
welche  die  Christen  verbreiten;  Minuc.  c.  5.  Origenes,  Comment.  ser.  in 
Matth.  39  t.  4,  p.  270  (Lomm.):  „scimus  et  apud  nos  terrae  motum  factum 
in  locis  quibusdam  et  factas  fuisse  i^uasdam  ruinas.  ita  ut,  qui  eraut  impii 
extra  fidem,  causam  terrae  motus  dicerent  Cihristianos,  propter  cfuod  et  per- 
secutiones  passae  sunt  eeclesiae  et  incensae  sunt;  non  solum  autem  illi,  sed 
et  qui  videbantur  prudentes,  talia  in  publico  dicerent  quia  propter  Christianos 
iiunt  gravissimi  terrae  motus."  Ähnliches  öfter  bei  Tertullian.  Furcht  vor 
Beeinflussung  der  Opfer  hat  beim  Beginn  der  diocletianischeu  Verfolgung 
feine  Rolle  ge.spielt. 

^)  Nicht  weniger  als  viermal  kommt  Tertullian  auf  diesen  Schreckens- 
ruf, s.  Apol.  40;  De  spectac.  27:  De  exhort.  12;  De  resurr.  23. 

*)  S.  Clemens  Alex.,  Protrept.  10,  89:  uW  ex  jrariQon',  (/azs,  .-raQaSEÖo/jJ,rov 
■i'lfiXv  edog  uvuTOf-.Tsiv  ovh  evXoyov.  Der  Verfasser  der  pseudojustinischen  Cohor- 
tatio  ad  Graecos  geht  besonders  ausführlich  auf  dieses  Argument  ein  (s.  c.  1. 
14.  35.  36). 

^)  Orat.  46.  Aristides  verteidigt  „die  griechische  Nationalität  gegen 
den  christlich -philosophischen  Kosmopolitisnius".  Die  Christen  —  ein  Mann 
wie  Tatian  mu(5  ihn  gereizt  haben  —  sind  ihm  Verächter  des  griechischen 
Wesens  (s.  Bernays,  Ges.  Abhandl.  II  S.  364).  Neumann  (Der  röm.  Staat 
und  die  allg.  Kirche  S.  36)  gibt  den  Angriff  des  Aristides  also  wieder  (nach 
Lightfoot,  Ignatius  I  p.  517,  sollen  hier  aber  die  Zyniker  gemeint  sein): 
.Leute,  die  einfach  gar  nichts  wert  sind,  wagen  es,  einen  Deniosthenes  zu 
lästern,  während  man  in  jedem  ihrer  Worte  mindestens  einen  Solözismus  findet. 
Selbst  verächtlich,  verachten  sie  andere,  rühmen  sich  der  Tugend  und  üben 
•sie  nicht,    predigen  Enthaltsamkeit    und    sind   lüstern.     Berauben  nennen  sie 


Gegenwirkungen.  41[ 

gangen  ist,  war  nach  dem  Zeugnis  des  Eusebius  sehr  unbedeutend. 
Es  bleiben  nur  Celsus  und  Porphyrius,  also  nur  zwei  Streiter^, 
aber  sie  ersetzen  eine  ganze  Armee. 

Beide  sind  sich  ähnlich  in  dem  Ernst,  mit  welchem  sie  die 
Aufgabe  angefaßt,  und  in  dem  Fleißc,  den  sie  aufgewendet  haben, 
ähnlich  auch  in  den  hohen  Anlagen  und  in  der  schriftstellerischen 
Kunst.  In  Ansehung  der  Religion  aber  sind  sie  sehr  verschieden: 
Das  letzte  Interesse  des  Celsus ^  ist  der  römische  Staat;  er  ist  ein 
religiöser  Mann,  weil  der  Staat  die  Religion  braucht,  und  weil  ein 
gebildeter  Mann  auch  für  die  Religion  einti-itt.  Seine  eigene  Welt- 
anschammg  ist  schwer  festzustellen;  sie  schillert  in  vielen  Farben, 
aber  nicht  in  denen  Ciceros  oder  Senecas;  er  ist  vor  allem 
Agnostiker  ^,  und  darum  schätzt  er  das  relative  Recht  des  Idealismus 
ohne    stoische    Versteifung    und    auch    das    relative    Recht   jeder 


Gemeinschaft  üben,  Mißgunst  lieißt  bei  ihnen  Philosophie,  und  die  Armut 
Verachtung  der  Güter.  Dabei  erniedrigen  sie  sich  in  ihrer  Habsucht.  Unver- 
schämtheit heißen  sie  Freiheit,  feindseliges  Gerede  Freimut,  das  Empfangen 
von  Gaben  Humanität.  Wie  die  gottlosen  Leute  in  Palästina  vereinigen  sie 
Kriecherei  und  Dreistigkeit.  Sie  haben  sich  in  bestimmter  Richtung  von 
den  Hellenen  oder  vielmehr  von  allem  Guten  losgesagt.  Unfähig,  zu  irgend- 
einem nützlichen  Zweck  mitzuwirken,  verstehen  sie  es  meisterlich,  ein  Haus 
zu  unterwühlen  und  die  Hausgenossen  auseinander  zu  bringen.  Kein  Wort, 
kein  Gedanke,  keine  Tat  von  ihnen  hat  Frucht  getragen.  Sie  nehmen  nicht 
teil  an  der  Veranstaltung  von  Festen,  und  sie  ehren  die  Götter  nicht.  Sie 
sitzen  nicht  im  Rate  der  Städte,  sie  trösten  nicht  die  Traurigen,  versöhnen 
nicht  die  Streitenden,  sie  fördern  weder  die  Jugend  noch  jemand  anders,  sie 
achten  nicht  auf  die  Form  der  Rede ;  aber  sie  verkriechen  sich  in  die  Winkel 
und  reden  unklug.  Sie  wagen  sich  schon  an  die  Besten  unter  den  Hellenen, 
und  sie  nennen  sich  —  Philosophen,  als  ob  eine  Änderung  des  Namens  für 
sich  allein  etwas  bedeutete  und  einen  Thersites  zu  einem  Hyacinthus  oder 
Narcissus  macheu  könnte." 

')  Lactantius  will  wissen  (Inst.  V,  4),  daß  z.  Z.  Diocletiaus  „plurimi  et 
multi"  lateinisch  und  griechisch  gegen  die  Christen  geschrieben  haben ;  aber 
er  führt  selbst  außer  Hierocles  nur  einen  Anonymus  an.  In  einigen  Fällen 
hat  ein  einzelner,  den  Christen  feindlich  gesinnter  Literat  eine  lokale  Ver- 
folgung heraufbeschworen.  Das  ist  z;  B.  in  bezug  aiif  den  Zyniker  Crescens 
in  Rom  wahrscheinlich.  In  Alexandrien  brach  schon  vor  dem  Edikt  des 
Decius  eine  Verfolgung  aus.  Dionysius  A^lex.  schreibt  (bei  Euseb.,  h.  e. 
VI,  41,  1):  Oi'x  «jrö  tov  ßaoiliy.ov  TiQOOTäyfiajog  6  8uoy/(dg  jrag'  f]fiTv  tJQ^aro, 
äXka  yuQ  olov  eviavxov  nqovXaße,  xal  rf&äoag  6  xaxCiv  Ttj  jiöXsi  ravztj  fidvTig  xat 
Jioitjrrjc,  SoT.tg  ixeivog  ^J',  ixivijoe  xai  jiaQioofirjaE  y.a&'  '/;//wv  t«  Jtlrjdri  röiv  E&vm', 
stg  Tijv  ETir/coQiov  avxovg  Setoidaifwviai'  dvufjgiJiioac. 

-)  Über  seine  Person  und  Lebensumstände  gibt  es  nur  Mutmaßungen. 
Er  war  ein  Vertreter  der  uns  sonst  so  wenig  bekannten  ehrenhaften,  er- 
leuchteten und  patriotischen  römischen  Bureaukratie. 

3)  Etwa  dieselbe  Haltung  nimmt  auch  der  Heide  Cäcilius  bei  Minucius 
Felix  c.  5f.  ein  —  ein  Skeptiker,  der  die  Religion  gelten  läßt,  aber  gegen 
eine  allgemeine  Vorsehung  starke  Zweifel  hegt.  „Bei  dieser  Unsicherheit 
der  Dinere  ist  es   das  Beste  und  Würdigste,    die  Lehre  der  Vorfahren  aufzu- 


412       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

nationalen  Religion,  ja  selbst  den  Mythus.  Porphyrius^  ist  ein 
strenger  Denker,  ein  eminenter  Kritiker  und  nicht  nur  platonischer 
Religionsphilosoph,  sondern  eine  im  tiefsten  religiöse  Natur,  für 
die  alles  Denken  der  Gotteserkenntnis  zustrebt  und  in  ihr  seinen 
Abschluß  findet. 

Celsus  hat  an  der  christlichen  Religion  —  das  ist  der  erste 
Eindruck  —  nichts  Gutes  gelassen;  er  gibt  den  Standpunkt  der 
Gegner  im  2.  Jahrhundert  wieder;  doch  gerecht  und  vornehm 
genug  ist  er,  um  nicht  die  abscheulichen  Vorwürfe  zu  wiederholen. 
Das  Christentum,  dieser  Bastard  der  inferiorsten  nationalen  Religion, 
der  jüdischen ''^,  ist  von  seinem  Ursprung  her  bis  jetzt  eine  absurde, 
jämmerliche  Tragödie.  Celsus  kennt  die  Unterschiede  innerhalb 
der  Christen  sehr  wohl  und  kennt  die  Entwicklungsstadien  der 
Geschichte  dieser  Religion  —  er  braucht  sie  geschickt,  um  die 
Eindrücke  der  Haltlosigkeit  zu  vermehren;  er  spielt  die  Sekten 
gegen  die  große  Kirche  aus,  die  frühere  Zeit  gegen  die  spätere, 
C  hristus  gegen  die  Apostel,  die  Bibelrezensionen  gegen  die  Glaub- 
würdigkeit der  Texte  — ,  aber  schon  von  Anfang  war  eigentlich 
alles  so  schlimm  wie  es  jetzt  ist.  Auch  Christus  selbst  wird  nicht 
verschont;  das  Gute,  was  sich  in  seinen  Reden  findet,  ist  von  den 
Philosophen  geborgt:  das  Übrige,  das,  was  ihm  eigentümlich  ist, 
ist  Irrtum  und  Betrug,  nichtswürdiger  Mythus.  Die  Apostel,  be- 
trogene Betrüger,  haben  das  noch  gesteigert;  auf  dem  Zeugnis 
eines  verrückten  Weibes  beruht  der  Glaube  an  die  Auferstehung. 
Dann  ist  der  Unsinn  bis  heute  immer  mehr  gewachsen;  er  hat 
sich  behauptet  —  die  einmal  hingeworfene  Behauptung,  er  würde 
demnächst  ganz  ausgerottet  sein,  wird  im  Buche  selbst  wieder 
zurückgenommen.  Das  Christentum  ist  anthropomorphistischer 
Mythus  der  schlimmsten  Sorte,  der  christliche  Vorsehungsglaube 
eine  Unverschämtheit  gegenüber  der  Gottheit  —  ein  Chor  von 
Fröschen  sitzt  im  Sumpfe  und  quakt:  „Um  unsretwillen  ist  die 
Welt  geschaff'en." 

Aber  andererseits  —  nicht  nur  bringt  die  Kritik  im  einzelnen 
beherzigenswerte  Wahrheiten,    sondern  wo   der  Kritiker  sich   auf 

nelnnen,  die  überlieferten  religiösen  Bräuche  zu  ehren,  die  Götter,  die  man 
von  den  Eltern  her  vor  allem  fürchten  und  nicht  zuerst  erkennen  gelernt 
hat,  in  Dernut  anzubeten."     Kap.  7  lautet  dann  sehr  fromm. 

')  (Jeboren  zu  Tyrus;  sein  ursijrünglicher  Name  war  Malchus;  er  war 
also  ein  Semit  (Malchus  hieß  auch  ein  Christ  in  der  Umgegend  von  Cäsarea 
Pal.  z.  Z.  Valerian.s,  s.  Euseb.,  h.  e.  VII,  12). 

'-)  Das  Judentum  aber  läßt  Celsus,  weil  es  nationale  Religion  ist,  ebenso 
gelten  wie  später  Porphyrius  und  Julian.  Jener  sagt  bei  Gelegenheit  eines 
Apollo -Orakels  gegen  die  Christen:  „In  his  quidem  inremediabile  .sententiae 
Christianorum  manifestavit  Apollo,  quoniam  ludaei  suscipiunt  deum  magis 
quam  isti"  (bei  Augustin,  de  civit.  dei  XIX,  23). 


Gegenwirkungeu.  413 

die  Religion  besinnt,  da  zieht  sich  eine  Unterströmung  durch  sein 
Buch,  die  zu  der  grimmigen  Verurteihmg  gar  nicht  paßt.  Celsus 
schließt  die  Augen  und  scheint  nicht  sehen  zu  wollen,  daß  das 
Christentum  eine  vernünftige  Behandlung  zuläßt  und  auch  schon 
gefunden  hat;  aber  er  kann  doch  um  diese  Tatsache  nicht  herum- 
kommen; für  den  tiefer  Blickenden  will  er  sie,  wenn  nicht  alles 
trügt,  gar  nicht  verdecken.  Sein  Agnostizismus  leitet  ihn,  wenn 
denn  doch  Religion  sein  soll  und  muß,  zu  einer  Konzession  an, 
die  von  dem  christlichen  Gottesbegriff  nicht  weit  entfernt  ist;  die 
Ethik  Jesu  kann  er  zu  einem  großen  Teile  nicht  mißbilligen  — 
der  Vorwurf  des  Diebstahls  ist  aus  der  Verlegenheit  geboren  — 
und  wenn  die  Christen  behaupten,  der  Logos  sei  der  Sohn  Gottes, 
so  muß  er  sein  Einverständnis  mit  diesem  Satz  aussprechen.  End- 
lich, die  ganze  Schrift  läuft  in  einen  warmen,  aus  der  Sorge  um 
das  Vaterland  stammenden  Appell  an  die  Christen  aus,  sich  der 
allgemeinen  Ordnung  nicht  zu  entziehen,  sondern  zu  helfen,  daß 
der  Kaiser  das  Reich  mit  seinen  idealen  Gütern  in  Kraft  erhalten 
könnet  Es  gilt  der  Rettung  von  Gesetz  und  Frömmigkeit  gegen 
die  äußeren  und  inneren  Feinde!  Deutlich  genug  ist  zwischen 
den  Zeilen  zu  lesen:  maßt  euch  keine  besondere  Stellung  an, 
stellt  euch  nicht  neben  das  Reich,  dann  wollen  wir  euch  und  eure 
Religion  erti-agen.  Celsus'  „Wahres  Wort"  ist  im  letzten  Grunde 
eine  politische  Schrift  und  ein  kaum  versteckter  Friedensvorschlag  ^. 
Hundert  Jahre  später,  als  Porphyrius  gegen  die  Christen 
schrieb,  hatte  sich  vieles  geändert.  Das  Christentum  war  eine 
Macht  geworden  und  hatte  sich  hellenisch  ausgestaltet,  aber  freilich, 
„die  fremden  Mythen"  hatte  es  behalten,  und  bewahrt  hatte  es, 
wenigstens  bei  den  meisten,  seine  scharfe  Trennmig  von  Schöpfer 
und  Geschöpf,  Gott  und  Natur,  seine  Lehre  von  der  Mensch- 
werdung Gottes  und  seine  paradoxe  Behauptimg  des  Weltunter- 
gangs und  der  Auferstehung.  Hier  setzte  der  große  Philosoph 
des  Zeitalters,  Porphyrius,  der  Schüler  Plotins  und  Longins,  ein. 
Jahrelang  hatte  er  in  Rom  mit  Kirchenlehrern  und  Gnostikern 
eifrig  getritten,  mit  dem  vollen  Bewußtsein,  daß  es  sich  um  die 
Sache  der  Gottheit  und  des  Höchsten,  was  der  Menschheit  ge- 
schenkt ist,  der  vernünftigen  religiösen  W^ahrheit  handle.  Politische 
Ideale  kennt  er  nicht;  das  Reich  begeisterte  wenige  mehr;  der 
Restaurator  war  noch  nicht  gekommen,  und  die  Religionsphilosophie 

^)  In  manchen  Christenprozessen  sprechen  die  Richter  die  Sorge  aus, 
daß  die  Christen  durch  ihre  Exklusivität  die  Anarchie  heraufbeschwören;  s. 
z.B.  die  Acta  Fructuosi  Tarrac.  c.  2:  „Qui  audiuntur,  qui  timentur,  qui 
adorantur,  si  dii  non  coluntur  nee  imperatorum  vultus  adorantur?- 

^)  Auch  Cäcilius  ist  letztlich  Politiker  und  Patriot,  indem  er  die  alte 
Religion  verteidigt:  ,Rom  hat  dadurch  die  Welt  gewonnen"  (Minuc.  c.  6). 


414       Die  Missionare:  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

lebte  in  einem  Staat,  den  sie  erst  bauen  wollte.  Porphyrius  zog 
sich  nach  Sicilien  zurück.  Dort  hat  er  seine  15  Bücher  „Gegen 
die  Christen"  geschrieben.  Das  von  vier  hervorragenden  Kirchen- 
lehrern „widerlegte''  Werk^  ist  infolge  des  Sieges  der  Kirche  und 
auf  Befehl  des  Kaisers  mitsamt  seinen  Gegenschriften  unter- 
gegangen; nur  Fragmente  sind  uns  erhalten,  die  meisten  und  wich- 
tigsten bei  Macarius  Magnes;  denn  daß  der  heidnische  Philosoph 
in  dessen  „Apocriticus"   Porphyrius  ist,  ist  mir  nicht  zweifelhaft^. 

Das  AYerk  ist  vielleicht  die  reichste  und  gründlichste  Schrift, 
die  jemals  gegen  das  Christentum  geschrieben  worden  ist;  sie  hat 
ihrem  Verfasser  die  Titel  „ndvTOJv  dvojaevEorajog  xal  noXe/uicßrarog''^ , 
,.hostis  dei,  veritatis  inimicus,  sceleratarum  artium  magister"  usw. 
eingetragen '^  Aber  man  sagt,  obgleich  wir  nur  auf  Grund  von 
Fragmenten  urteilen  können,  nicht  zu  viel,  wenn  man  behauptet: 
Dort,  wohin  Porphyrius  den  Streit  zwischen  religionsphilosophischer 
Wissenschaft  und  Christentum  versetzt  hat,  liegt  er  noch  heute: 
auch  heute  noch  ist  Porphyrius  nicht  widerlegt,  und  er  ist  über- 
haupt nur  zu  widerlegen,  wenn  man  ihm  zunächst  Recht  gibt  und 
demgemäß  das  Christentum  auf  seinen  Kern  zurückführt.  In  dem 
meisten,  was  er  grundsätzlich  behauptet,  hat  er  Recht,  und  in 
seiner  Kritik  an  dem,  was  sich  als  christliche  Lehre  im  3.  Jahr- 
hundert darstellte,  hat  er  gewiß  soviel  Recht  wie  Unrecht.  Im 
einzelnen  zeigt  er  viel  Unverständnis  und  vergißt  Maßstäbe,  die 
ihm  sonst  zu  Gebote  stehen. 

Sein  Werk  ist  deshalb  ein  so  tüchtiges  geworden,  weil  es  auf 
gründlichsten  Bibelstudien  beruhte  und  weil  es  vom  Standpunkt 
der  Religion  entworfen  war.  Es  kam  dazu,  daß  der  Verfasser 
nicht  imponieren,  nicht  überreden  oder  überrumpeln  wollte,  sondern 
ernsthaft  und  pünktlich  widerlegen.  Mit  saurem  Schweiß  hat  er 
gearbeitet,  ein  Idealist,  der  überzeugt  ist,  daß,  was  widerlegt  ist, 
auch  untei'gehen  wird.  Demgemäß  hat  er  sich  auf  die  für  ihn 
entscheidonden  Punkte  beschränkt;  es  sind  folgende  vier:  Zunächst, 
er  wollte  die  cliristlichen  Mythen  zerstih-cn,  d.  h.  nachweisen,  daß 
sie,  sofern  si(;  aus  den  beiden  T(^sta,menten  geschöpft  sind,  geschicht- 
lich unhaltbar  sind:  denn  diese  (Quellen  sind  trübe  und  voll  von 
Widersprüchen.    Weder  verwarf  er  die  Bibel  in  Pauscli  und  Bogen 


^)  Von  Metliodius,  Eusebius,  Apollinarius  und  Philostorgius. 

'^)  Offen  zu  lassen  ist  höchstens,  daß  ein  Plagiat  an  Porphyrius  l)e- 
gangen  ist. 

^)  Doch  Augustin  hat  ihn  ,,philosophus  nobilis,  magnus  gentilium  philo- 
sophus,  doctissinius  philosophorum,  quamvis  Christianorum  acerriraus  inimicus'' 
genannt  (De  civitate  dei  XIX,  22).  Man  vgl.  damit  die  Prädikate,  welche 
Hieronymus  spendet:  „stultus,  impius,  blasphemus,  vesanus,  impudens,  syco- 
phantes,  calunmiator  ecclesiae,  rabidus  adversus  Christum  canis". 


Gegenwirkungen.  415 

als  Lügeiibuch  —  im  (ret^cnteil,  vieles  in  ihr  schätzte  er  als  wahr 
und  göttlich  — ,  noch  identifizierte  er  den  Christus  der  Evangelien 
mit  dem  geschichtlichen  Christus  ^  Für  diesen  hatte  er  vielmehr 
eine  bis  an  das  Religiöse  heranstreifende  Hochschätzung:  aber  mit 
unerbittlicher  Kritik  wies  er  nach,  daß  hundert  Züge  in  den  Evan- 
gelien, wenn  man  sie  als  historische  gelten  lasse,  unmöglich  echt 
sein  können,  und  daß  sie  das  Bild  Christi  verzerren  und  falschen. 
Ebenso  verfuhr  er  mit  dem  großen  Stoff,  den  die  Kirclie  als 
„Weissagung  auf  Christus^'  aus  dem  Alten  Testamente  zusammen- 
getragen hatte.  Das  Interessanteste  aber  ist  unstreitig  seine  Kritik 
des  Paulus.  Wenn  man  noch  zweifeln  wollte,  daß  der  Apostel 
im  letzten  Grunde  nicht  den  hellenistischen  Christen,  sondern  den 
jüdischen  zuzurechnen  ist  —  hier  kann  man  überführt  werden. 
Porphyrius,  dieser  Hellenist  erster  Ordnung,  empfindet  gegen 
niemanden  eine  so  starke  Antipathie  wie  gegen  Paulus.  Seine 
Dialektik  ist  ihm  völlig  verschlossen  und  erscheint  ihm  daher 
sophistisch  und  lügenhaft:  seine  Beweise  lösen  sich  für  ihn  in 
lauter  Widersprüche  auf,  in  seinen  Selbstzeugnissen  erkennt  er 
nur  einen  haltlosen,  barbarischen  und  unaufrichtigen  Rhetor,  den 
Feind  aller  edlen  und  freien  Bildung.  Erst  aus  den  Widerlegungen 
des  Porphyrius  lernt  man.  was  die  Eigenart  des  Paulus  hoch- 
gebildeten Hellenen  zu  tragen  gegeben  hat.  Im  einzelnen  weist 
er  ihm  vieles  Anstößige  nach  —  der  Anstoß  hebt  sich  freilich 
fast  immer,  wenn  man  einen  anderen  Gesichtswinkel  der  Beurtei- 
lung wählt,  aber  Porphyrius  hat  ihn  nicht  gefunden-. 


1)  Als  einen  „Feind"  des  Christentums  kann  man  ihn  daher  nur  bedingt 
bezeichnen.  Sehr  richtig  Wendland,  Christentum  und  Hellenismus  (1902) 
S.  12:  „Die  von  den  Theologen  nicht  beachteten,  schönen  Ausführungen  des 
Porphyrius  im  3.  Buch  UfoI  rrjg  ex  loyicov  (pilcooffiag  (S.  180  ff.  Wolff)  be- 
weisen, wie  man  auch  auf  neuplatonischer  Seite  Verständigung  und  Ver- 
söhnung suchte."  „Praeter  opinionem",  sagt  Porphyrius  (s.  August.,  de  civ. 
dei  XIX,  23),  „profecto  quibusdam  videatur  esse  quod  dicturi  sumus.  Christum 
euim  dii  piissimum  pronuntiaverunt  et  inmortalem  factum  et  cum  bona  prae- 
dicatione  eins  meminerunt,  Christianos  vero  pollutos  et  contaminatos  et  errore 
implicatos  esse  dicunt."  Von  Numenius,  dem  i^ythagoreischen  Philosophen, 
berichtet  Origenes  (e.  Geis.  I,  15.  IV,  51),  daß  er  die  jüdischen  h.  Schriften 
mit  hoher  Achtung  zitiert  (Clemens  Alex.,  Strom.  I,  22,  150.  legt  ihm  sogar 
das  Wort  bei:  r«'  yäo  ion  Tllaron'  t}  Mowafjg  aTTixlCcor,  s.  auch  Hesyeh.  Miles. 
bei  Müller,  Fragm.  bist.  gr.  IV  p.  171;  Suidas  sub  „Novia'jviog" ;  vorsichtiger 
Euseb.,  Praep.  XI.  9,  8— 18.  25)  und  allegorisch  erklärt  habe.  Der  Platoniker 
Amelius,  ein  Zeitgenosse  des  Origenes,  hat  das  Johannes -Evangelium  mit 
Achtung  zitiert  (Euseb.,  Praep.  XL  19,  1\  cf.  Augustin,  de  civit.  dei  X,  29: 
.  Initium  evangelii  secundum  Johannem  quidam  Platonicus  aureis  litteris  cou- 
scribendum  et  per  omnes  ecclesias  in  locis  eminentissimis  proponendum  esse 
dicebat." 

-)  Der  Ajjostel  Paulus  fing  an,  auch  die  Heiden  zu  beschäftigen.  Das 
tritt  z.  B.  bei  dem  ägyptischen  Statthalter  Culcianus  in  seinen  Verhören  (bald 


410       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Die  negative  Kritik  am  historischen  Charakter  der  christ- 
lichen Religion  ist  aber  für  Porphyrius  nur  die  Voraussetzung,  um 
die  Kritik  an  jenen  drei  Lehren  des  Christentums  zu  vollziehen, 
die  ihm  als  die  starken  Irrtümer  gelten.  Es  ist  erstlich  die  christ- 
liche Schöpfungslehre,  welche  die  Welt  von  Gott  trennt,  ihren 
zeitlichen  Ursprung  behauptet  und  keine  ehrfürchtige  religiöse 
Beti-achtung  des  Weltganzen  zuläßt.  Indem  er  diese  verwirft,  ver- 
wirft er  auch  die  Lehre  vom  Weltuntergang  als  unvernünftig  und 
irreligiös  zugleich;  denn  das  gehört  stets  zusammen.  Sodann  richtet 
er  sich  gegen  die  Lehre  von  der  Menschwerdung  —  die  Christen 
trennen  Gott  und  Welt  falsch  (durch  die  Lehre  von  der  zeitlichen 
Schöpfung)  imd  verbinden  sie  falsch  (durch  die  Lehre  von  der 
Menschwerdung).  Endlich  gilt  seine  Bek.ämpfung  der  christlichen 
Auferstehungslehre. 

An  diesen  Punkten  ist  Porphyrius  unerbittlich  und  kämpft 
gegen  das  Christentum  als  gegen  den  schlimmsten  Feind;  aber 
in  allen  übrigen  ist  er  mit  der  christlichen  Religions- 
philosophie einig  gewesen,  und  er  war  sich  dieser  Einig- 
keit bewußt.  Die  christliche  Religionsphilosophie  aber  war  zu 
seiner  Zeit  an  jenen  Punkten  nicht  mehr  ganz  unerbittlich:  sie 
machte  große  Anstrengungen,  teils  ihre  Positionen  abzuschwächen, 
zugunsten  der  neuplatonischeu,  teils  sie  als  die  wissenschaftlichen 
(also  als  die  echt  hellenischen)  zu  erweisen. 

Wie  nahe  haben  sich  doch  bereits  die  Gegner  gestanden^! 
Porphyrius  scheint  sogar  gegen  Ende  seines  Lebens  das,  w^as  ihn 
mit  der  christlichen  Spekulation  verband,   stärker  in  den  Yorder- 

nach  303)  hervor.  In  dieser  Hinsicht  stützen  sich  die  beiden  sonst  ganz 
unabhängigen,  von  ihm  abgehaltenen  Verhöre ,  die  des  Phileas  und  die  des 
Dioscorus  (s.  Quentin,  Passio  S.  Dioscuri,  i.  d.  Anal.  Boll.  T.  25,  1905, 
p.  321  ff.)  gegenseitig.  In  der  letzteren  fragt  Culcianus:  „Paulus  deus  fuit?" 
In  der  ersteren  fragt  er:  „Paulus  non  immolavit?"  Ferner:  , Paulus  nou 
erat  persecutor?"  „Paulus  non  erat  idiota?  Nonne  Syrus  erat?  Nonne 
Syriace  disputabat?"  [Hierauf  antwortet  Phileas:  „Hebraeus  erat,  et  Graece 
disputabat,  et  summam  prae  oninibus  sapientiara  habebat".]  Endlich: 
, Fortasse  dicturus  es,  quod  et  Platonem  praecellebat?"  In  anderen  Ver- 
hören kenne  ich  dergleichen  nicht  und  muß  mit  Quentin  annehmen,  daß 
dieser  Zug  authentisch  ist.  Damals  —  im  Anfang  der  diocletiauischen  Ver- 
folgung —  handelte  es  sich  ja  um  die  Auslieferung  der  h.  Schriften.  Daß 
man  sie  überhaupt  forderte,  zeigt,  daß  der  Staat  ihre  Bedeutung  erkannt 
hatte,  und  dies  setzt  wiederum  eine  gewisse  Kenntnis  derselben  voraus  bez. 
i'ührte  zu  ihr. 

*)  Das  erkennt  man  besonders  deutlich  aus  den  ins  Lateinische  über- 
setzten neuplatonischen  Büchern,  die  dem  Augustin  (Confess.  VII,  9)  in  die 
Hände  fielen,  und  denen  er  soviel  verdankt  (was  er  selbst  freilich  z.  T.  ver- 
schleiert hat).  Ausdrücklich  sagt  er,  daß  die  Gedanken  des  Johannes- 
Evangeliums  c.  1,  1  —  5.  9.  10.  13.  16,  ferner  Philipp.  2,  6  auch  in  jenen 
Büchern  gestanden  hätten. 


Gegenwirkungen.  4jy 

grund  geschoben  zu  habend  Sem  Brief  an  seine  Gemahlin 
Marcella  könnte  fast  von  einem  Christen  geschrieben  sein  2. 

In  dem  Werk  des  Porphyrius  hat  der  Hellenismus  sein  Testa- 
ment in  bezug  auf  das  Christentum  geschrieben  —  Julians  Streit- 
schrift ist  ein  großer  Rückschritt  — ;  die  Kirche  hat  das  Testament 
untergehen  lassen,  doch  erst,  nachdem  sie  es  viermal  widerlegt 
hatte.  Es  ist  ein  unersetzlicher  Verlust,  daß  uns  die  Gegenschriften 
fehlen,  obgleich  es  schwerlich  ein  Yerlust  für  ihre  Verfasser 
sein  wird. 

Über  die  Wirkung  des  Werkes  besitzen  wir  keine  Kunde, 
abgesehen  von  der,  die  sich  im  Entsetzen  der  Kirchenväter  aus- 
spricht. Indessen  hätte  auch  ein  noch  tüchtigeres  literarisches 
Werk  schwerlich  einen  Erfolg  haben  können.  Die  Religion  der 
Kirche  war  schon  eine  Weltreligion  geworden,  als  Porphyrius 
schrieb:  solche  Welti'eligionen  vermag  kein  Professor  mit  Erfolg 
zu  bekämpfen,  es  sei  denn,  daß  er  neben  der  Feder  auch  das 
Schwert  des  Reformators  führt. 

Den  Verkehr  von  Christen  und  Heiden  im  Leben  des  Tages 
darf  man  schon  zur  Zeit  Tertullians  nicht  nach  den  Episoden  der 
Verfolgungen  beurteilen.  Man  braucht  es  nicht  erst  zwischen  den 
Zeilen  seiner  asketischen  Schriften  zu  lesen  —  er  deutet  es  an 
zahlreichen  Stellen,  freilich  widerwillig,  klar  genug  an,  daß  in  der 
Regel  alles  friedlich  zuging:  man  lebt  zusammen,  kauft  und  ver- 
kauft, ladet  sich  ein,  auch  Mischehen  finden  statt.  In  späterer 
Zeit  vollends  war  gewiß  der  Christ  von  dem  Nichtchristen  im 
Leben  des  Tages  nicht  leicht  zu  unterscheiden.  Zahlreiche  Christen 
gehörten  auch  zur  „Gesellschaft"  (s.  Buch  4.  Kap.  2),  und  die 
Zahl  derer  wurde  immer  geringer,  die  an  ihrem  Glauben  Anstoß 
nahmen.  Julius  Africanus  w^ar  der  Freund  des  Alexander  Severus 
und    des    Abgar:     Hippolyt    korrespondierte    mit    der    Kaiserin: 


*)  Das  magisch-theurgische  Element,  welchem  Porpln^rius  neben  seiner 
hellen  Wissenschaft  gehuldigt  hat,  hat  er  wahrscheinlich  in  seiner  Polemik 
gegen  die  Christen  zurücktreten  lassen.  Seine  christlichen  Gegner  haben  es 
wohl  bemerkt.  Lag  doch  hier  ein  Punkt,  wo  sie,  sofern  sie  nicht  schon  in 
den  Reliquien-  und  Knochenkult  versenkt  waren,  die  Aufgeklärteren  gewesen 
sind.  Fein  ist  die  Charakteristik,  die  Augustin  (de  civit.  dei  X,  9)  von  Por- 
phyrius gibt:  „Nam  et  Porphyrius  c_[uandam  quasi  purgationem  animae  per 
theurgian ,  cunctauter  tarnen  et  pudibunda  quodam  modo  disputatione ,  pro- 
mittit,  reversionem  vero  ad  deurn  haue  artem  praestare  cuiquam  negat,  ut 
videas  eum  inter  vitium  sacrilegae  curiositatis  et  philosophiae  professionem 
sententiis  alteruantibus  fluctuare." 

-)  Das.  was  uns  christlich  in  dem  Brief  anmutet,  stammt  aus  der  heid- 
nischen Grundlage  der  in  christlicher  Bearbeitung  uns  erhaltenen  Sextus- 
sprüche,  s.  meine  Chronologie  II,  2  S.  190 ft'. 

Harnack,  Mission.    2.  Aufl.  «' 


418       Die  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

Origenes  stand  in  der  Gelehrtenrepublik  und  genoß  hohes  An- 
sehen; Paul  von  Samosata,  der  Bischof,  war  in  Antiochien  eine 
stadtbekannte,  einflußreiche  Persönlichkeit;  von  Cyprian  erzählt 
sein  Biograph  (c.  14).  daß  die  vornehmsten  Carthaginienser  —  sie 
scheinen  nicht  Christen  gewesen  zu  sein  —  seine  Freunde  waren 
und  ihm  die  Treue  bewahrten,  auch  als  er  im  Gefängnis  lag 
(„conveniebant  Interim  plurcs  egregii  et  clarissimi  ordinis  et  san- 
guinis, sed  et  saeculi  nobilitate  generosi,  qui  propter  amicitiam 
eius  antiquam  secessum  subinde  suaderent  et,  ne  })arum  esset  nuda 
suadela,  etiam  loca  in  quae  secederet  offerebant");  Arnobius, 
Ijactantius  und  manche  andere  waren  Philosophen  mid  angesehene 
Lehrer.  Indessen  das  alles  kann  die  Tatsache  nicht  verdecken, 
daß  das  Christentum  auch  noch  am  Anfang  des  4.  Jahrhunderts 
die  antike  Wissenschaft,  soviel  von  ihr  noch  existierte,  gegen 
sich  hatte.  Eine  Schwalbe  macht  noch  keinen  Sommer,  und  der 
eine  Origenes  mit  seinem  Anhange  vermochte  die  Situation  im 
wesentlichen  nicht  zu  ändern.  Sein  Christentum  wurde  ihm  als 
Idiosynkrasie  nachgesehen:  nur  einem  kleinen  Teil  der  Gelehrten 
vermochte  er  es  zu  empfehlen:  man  lernte  bei  ihm  Kritik,  Gram- 
matik, Philosophie  und  sah  über  seine  Religion  hinweg.  Auch 
bis  zur  Mitte  des  4.  Jahrhunderts  wurde  das  noch  nicht  anders. 
Die  Wissenschaft  blieb  „heidnisch".  Erst  die  großen  cappadocischen 
Theologen  und  in  beschränkterem  Maße  die  antiochenisclien  (ob- 
gleich sie,  nach  modernem  Maße  gemessen,  wissenschaftlicher 
waren  als  Jene),  sodann  Augustin  haben  hier  Wandel  geschafft, 
indessen  doch  nur  in  bescheidenen  Grenzen.  Die  antike  Wissen- 
schaft hat  im  Grunde  niemals  mit  dem  Christentum  im  Orient 
paktiert  —  so  empfand  man  es  auch  noch  am  Anfange  des  5.  Jahr- 
hunderts in  der  Kirche  — ,  sondern  sie  ist  zu  schwach  gewesen, 
um  sich  neben  der  privilegierten  Kirche  behaupten  zu  können,  und 
ist  deshalb  allmählich  untergegangen.  In  den  Besitz  eines  nicht 
unbedeutenden  Teils  der  Wissenschaft  hatte  sich  das  Christentum 
allerdings  gesetzt,  als  diese  selbst  starb. 


Schlußbetrachtung.  419 


S  c  h  ]  u  ß  b  (i  t  r  a  c  li  t  u  ii  g. 

Hergcnrö th  er  (Handbuch  der  allgem.  Kirchengesch.  I 
S.  109  if.)  hat  mit  sorgfältiger  Überlegung  erst  zwanzig  Ursachen 
für  die  Verbreitiuig  des  Christentums  zusammengestellt  und  dann 
ebensoviele  Ursachen,  die  hemmend  wirken  mußten.  Die  Über- 
sicht ist  nicht  wertlos,  aber  doch  nicht  aufklärend.  Umfaßte  die 
christliche  Missionspredigt  in  Wort  und  Tat  das  alles,  was  wir 
im  zweiten  Buch  darzulegen  versucht  haben,  und  wurde  sie  von 
den  Momenten  begleitet,  die  wir  im  dritten  Buch  kennen  gelernt 
haben,  so  ist  es  nicht  wohl  möglich,  die  Ursachen  sämtlich  nam- 
haft zu  machen,  welche  die  Verbreitung  gefördert  (oder  gehemmt) 
haben.  Noch  w^eniger  kann  man  daran  denken,  sie  abzustufen 
und  das  Maß  der  Bedeutung  der  einzelnen  zu  bestimmen.  Endlich 
ist  nicht  nur  an  die  Verschiedenheit  der  Anlagen,  Bedürfnisse  und 
der  Bildmig  der  Menschen  zu  erinnern,  sondern  auch  an  die  Ent- 
wicklmig,  welche  die  christliche  Missionspredigt  selbst  in  ihren 
Anfängen  bis  zum  Ende  des  3.  Jahrhunderts  erlebt  hat. 

Aus  dei-  letztgenamiten  Erwägung,  schärfer  durchdacht,  ergibt 
sich  aber,  daß  die  Frage  falsch  gestellt  ist  und  eine  eindeutige 
Antwort  überhaupt  nicht  zuläßt.  Am  Anfang  missionieren  Paulus 
und  einige  namenlose  Apostel;  sie  predigen  den  einen  Crott  und 
das  nahe  Gericht  und  bringen  die  Kunde  von  dem  jüngst  ge- 
kreuzigten Jesus  Christus,  welcher  der  Sohn  Gottes,  der  Richter 
und  Erlöser  zugleich  ist.  Fast  alles  erscheint  paradox  und  er- 
schütternd. Am  Ende  der  Epoche  missioniert  wahrscheinlich 
kaum"  einer  mehr  berufsmäßig  —  ausdrücklich  sagt  Origenes^, 
daß  die  Lehrer  [Missionare]  abgenommen  haben  — ,  aber  eine 
mächtige  Kirche  mit  einem  eindrucksvollen  Kultus,  mit  Priestern 
mid  Sakramenten  ist  vorhanden,  und  sie  umschließt  eine  Glaubens- 
lehre imd  Religionsphilosophie,  die  mit  jeder  anderen  siegreich 
zu  rivalisieren  vermag.  Diese  Kirche  wirkt  durch  ihr  bloßes 
Dasein  missionierend,  weil  sie  als  der  zusammenfassende 
Abschluß  der  bisherigen  Religionsgeschichte  auf  allen 
Linien  erscheint.  In  diese  Kirche  gehörte  die  Mensch- 
heit am  Mittelmeerbecken  um  das  Jahr  300  einfach 
hinein,  sofern  ihr  Religion,  Sittliches  und  höhere  Er- 
kenntnis überhaupt  Werte  waren.  Das  Paradoxe  vmd  Er- 
schütternde, das  noch  immer  vorhanden  war,  war  umspannt  von 
einem  breiten  Rahmen  des  Bekannten,  Gewünschten,  „Natürlichen" 

^)  De  princip.  IV,  1. 


420       I^ie  Missionare;  Modalitäten  und  Gegenwirkungen  der  Mission. 

und  war  in  eine  Form  von  Mysterien  gekleidet,  in  der  man  alles 
Außorürdentliche  gern  aufnahui  oder  doch  ertrugt. 

Die  Frage  darf  also  —  wenigstens  in  erster  Linie  —  nicht 
so  gestellt  worden:  ,,Wie  hat  das  Christentum  so  viele  Griechen 
und  Römer  gewonnen,  daß  es  zuletzt  die  auch  numerisch  stärkste 
Religion  geworden  ist?",  sondern  so  muß  die  Frage  lauten:  „Wie 
hat  sich  das  Christentum  selbst  so  ausgestaltet,  daß  es  die  Welt- 
religion werden  mußte,  die  übrigen  Religionen  mehr  und  mehr 
verdrängte  und  wie  ein  Magnet  die  Menschen  an  sich  zog?"  Diese 
Frage  wird  auch  durch  die  Dogmen-  und  Kultusgeschichte  be- 
antwortet, fällt  also  niclit  allein  in  den  Rahmen  der  Missionsge- 
schichte. Wir  haben  sie  überall  berücksichtigt,  aber  in  diesem 
Werke  nicht  erschöpfen  können. 

Erst  nachdem  diese  Frage  beantwortet  ist  und  man  ein  Ur- 
teil darüber  gewonnen  hat,  in  welcher  Gestalt  das  Christen- 
tum um  das  Jahr  50,  um  das  Jahr  100,  um  die  Jahre  150.  200, 
250  und  300  als  missionierende  Macht  aufgetreten  ist,  kann  man 
daran  denken,  für  jeden  dieser  sechs  Zeitpunkte  die  weitere  Frage 
aufzuwerfen,  welche  Momente  jedesmal  die  wichtigsten  in  bezug 
auf  die  Propaganda  gewesen  sein  mögen.  Auch  dann  freilich  wird 
man  die  Verschiedenheit  der  Lage  in  Ost  und  West  und  in 
manchen  Gruppen  von  Provinzen  nicht  übersehen  dürfen.  Aber 
selbst  wenn  man  alle  diese  Voraussetzungen  erfüllt  hätte,  wäre 
man  nicht  sowohl  auf  bestimmte  Quellenstellen  angewiesen,  um 
die  Frage  zu  lösen,  sondern  müßte  ganz  wesentlich  mit  allgemeinen 
Erwägungen  operieren.  Sie  anzustellen  —  die  unvermeidlichen 
Unsicherheiten  sind  nicht  schwer  durch  rubrizierende  Pedanterie 
zu  verhüllen  —  überlasse  ich  anderen.  Die  Ergebnisse  werden 
nur  soweit  zuverlässig  sein,  als  sie  auf  Gemeinplätze  hinauslaufen: 
daß  am  Anfang  das  eigentlich  religiöse  Element  stärker  an  der 
Mission  beteiligt  war  als  später,  daß  von  dem  karitativen  und 
dem  wirtschaftliclien  Element  etwas  Ahnliches  gilt,  daß  der  Kampf 
gegen  den  Polytheismus  die  einen  angezogen,  die  anderen  aber 
abgestoßen  hat.  daß  dasselbe  von  der  strengeren  Sittlichkeit  zu 
saii'en  ist  usw. 


')  Neben  der  Kirche  selbst,  wie  sie  geworden  war,  darf  vielleicht  ein 
Mann  genannt  werden,  der  in  bezug  auf  die  Mission  unter  den  Gebildeten 
mehr  geleistet  hat  als  alle  übrigen  zusammen,  schon  bei  seinen  Lebzeiten 
und  vielleicht  noch  mehr  nach  seinem  Tode  —  Origeues.  Er  war  der 
-Syzygos"  der  orientalischen  Kirche  des  3.  Jahrhundorts.  Wie  er  fortgewirkt 
hat,  das  kann  man  noch  —  zwei  Jahrhunderte  später  —  aus  der  Kirchen- 
geschichte des  Socrates  ablesen!  Er  hat  die  Religion  der  Kirche  in  dem 
Hellenismus  (für  die  Denkenden  und  Gel)ildeten)  eingebürgert,  soweit  solch 
eine  Einbürgerung  möglich  war. 


Schlußbetrachtuiiof.  421 

Die  christliche  Religion  ist  von  Anfang  an  mit  einer  Uni- 
versalität auigetreton ,  kraft  deren  sie  das  ganze  Leb  e  n  in 
allen  seinen  Funktionen  mit  seinen  Höhen  und  Tiefen,  seinen 
Gefühlen,  Gedanken  und  Taten  mit  Beschlag  belegte.  Sie  sicherte 
ihr  den  Sieg.  Daß  der  Jesus,  den  sie  verkündigte,  der  Logos  sei, 
das  hat  sie  mit  mid  in  dieser  Universalität  bekannt.  An  ihn  hat  sie 
alles  angeknüpft,  was  als  Wert  mu-  irgend  gedacht  werden  kann: 
von  ihm  hat  sie  ferngehalten,  was  dem  bloß  Naturhaften  ange- 
hört. Von  Anfang  an  umspannte  sie  die  Menschheit,  die  Welt, 
trotz  der  kleinen  Zahl  von  Erwählten,  die  sie  in  Aussicht  nahm. 
Von  hier  aus  empfangen  auch  die  Attraktionen,  mit  denen  sie 
den  ganzen  Hellenismiis  in  sich  hineingezogen  und  sich  unter- 
geordnet hat,  eine  neue  Beleuchtung  und  erscheinen  fast  als 
etwas  Notwendiges.  Sünde  und  Schmutz  hielt  sie  fern;  aber  sonst 
hat  sie  sich  selbst  mit  allem  ausgebaut,  was  des  Lebens  noch 
irgend  fähig  war  (vor  allem  mit  einer  mächtigen  Organisation): 
neben  sich  hat  sie  es  zertreten,  in  sich  hat  sie  es  konserviert. 
Sie  konnte  das,  weil  sie  —  was  keiner  aussprach  und  keiner 
wußte,  aber  jeder  wahrhaft  Fromme  in  sich  zum  Ausdruck 
brachte  — ,  auf  ihren  Kern  gesehen,  etwas  Einfaches  war,  was 
sich  mit  den  verschiedensten  Koeffizienten  verbinden  konnte,  ja 
sie  alle  aufsuchte:  Gott  als  der  Vater,  der  Richter  und  Erlöser, 
durch  und  an  Christus  kund  geworden. 

Und  diese  Religion  hätte  nicht  siegen  sollen?  Neben  anderen 
konnte  sie  auf  die  Dauer  nicht  bestehen,  und  untergehen  konnte 
sie  noch  weniger.  Also  mußte  sie  siegen.  Alle  Motive,  die  zu 
ihrer  Verbreitung  gewirkt  haben,  sind  als  einzelne  kraftlos  ge- 
wesen gegenüber  der  Propaganda,  die  sie  ausübte,  indem  sie 
sich  von  Paulus  zu  Origenes  selbst  entwickelte  und  dabei  doch 
exklusiv  blieb  gegenüber  allem  Polytheismus  und  Götzendienst. 


H am ack,  Mission.    2.  Aufl.  28 


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