■i A. HARNACK
Mission ond Ausbreitung
des Christentums in den
ersten drei Jahrhunderten
Erster Band
XCHinrIchs'sche Buchhandlung in Leipzig
Grundlegende Werke
ZUR GESCHICHTE DES URCHRISTENTUMS
aus dem Verlage der J. C. HiNRicHs'schen Buchhandlung in Leipzig.
AusführUdie Prospekte über die Serienwerke stehen zu Diensten.
Adolf Harnack, Die altchristl. Literatur bis Eusebius.
I. Die Überlieferung und der Bestand. 1893. Jh 35—; geb. Ji 38 —
II. Die Chronologie. 2 Bände. 1897 u. 1904. M 39.40; geb. Jt 45.40
Texte und Untersuchungen zur Geschichte der alt-
christlichen Literatur. Herausgegeben von Oscar von
Gebhardt und Adolf Harnack.
I.Reihe: 15 Bde. 1882—1897. M.380-; in 17 Halbfranzbände geb. y^ 422.50
//. Reihe, auch unter dem Titel :
Archiv für die Ausgabe der alt. christl. Schriftsteller.
Band 1-14. 1897 1906. ./^359 — ; in 15 Halbfranzbände geb. ./<$ 396.50
Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten
drei Jahrhunderte. Herausgegeben von der Kirchenväter-
Kommission der Königl. Preuß. Akademie der Wissensciiaften.
[Mitglieder die Herren: Proff. DD. Harnack, Vorsitzender, Diels, von
Gebhardt, Hirschfeld, Jülicher, Loofs, f Mommsen, von Wila-
movvitz-Möllendorff.] Seit 1897 erschienen: 13 Bände Jl 183 — ;
in 11 Halbfranzbdn. u. 2 Interimsbdn. Jb 211.50
Hoebeii ersdielnl:
Eusebius, Gegen Marcell. — Über die kirchliche Theologie. — Die Frag-
mente Marcells. Herausgegeben von Erich Klostermann. [Eusebius,
Band IV] V^ 9 — ; in Halbfranz geb. J6 11.50
Im Lcmfe des .Tahre.i erscheinen:
Acta Archelai, bearbeitet von C. H. Beeson.
Eusebius, Historia ecclesiastica nebst Rufin's Übersetzung bearbeitet von
jTh. Mommsen. Herausgegeben von E. Sc hwartz. Zweite Hälfte
mit Prolegomena und Registern.
— Der Umfang dieser Sammlung ist auf etwa 50 Bände berechnet. —
Patrum apostolicorum opera. Textum ad fidem codicum
et graecorum et latinorum adhibitis praestantissimis editio-
nibus recensuerunt, commentario exegetico et historico illu-
straverunt, apparatu critico, versione latina passim correcta,
prolegomeniS; indicibus instruxerunt O. d e Gebhardt,
A. Harnack, Th. Zahn. Editio post Dresselianam alteram
tertia. 3 Fascc. in 4 Teilen, gr. 8". 1876-1878. ./^< (24.50) jetzt 16 —
— Editio quinta minor. 8". 1906. J6 1 .60; geh. j( 2 —
Das Neue Testament, Griechisch.
C. V. Tischendorf: Ad antiquissimos testes denuo recensuit,
apparatum criticum omni studio perfectum apposuit, com-
mentationem isagogicam praetexuit, Prolegomena scripsit
C. R. Gregory, additis curis E. Abbot. Editio octava critica.
3 Bände, gr. 8". 1872-1894. y^ 70 - ; geb. in Halbfrz. ./t< 77.50
Ausgabe auf Schreibpapier mit breiten Rändern ./# 90 —
Prolegomena allein .//32— ; geb. ,Ä 34.50
B.Weiß: Berichtigter Text mit kurzer Erläuterung zum Hand-
gebrauch bei der Schriftlektüre. Zweite Auflage.
3 Bände. 8". 1902—1905. ^^24 — ; geb. in Halbfrz. J6 30 —
Adolf Harnack
DIE MISSION UND AUSBREITUNG DES CHRISTENTUMS
IN DEN ERSTEN DREI JAHRHUNDERTEN
ZWEITE NEU DURCHGEARBEITETE AUFLAGE
I. BAND
s*
DIE
Mission und Ausbreitung
DES Christentums
IN DEN
ERSTEN DREI JAHRHUNDERTEN
VON
Adolf Harnack
ZWEITE NEU DURCHGEARBEITETE AUFLAGE
MIT ELF KARTEN
I. Band
Die Mission in Wort und Tat
1^ '
Leipzig
J. C. HiNRicHS'scHE Buchhandlung
1906
HOF-BUCH DBUOKEREI.
Vorrede zur ersten Auflage.
Die Mission und Ausbreitung der christlichen Religion in den
ersten drei Jahrhunderten ist monographisch bisher nicht be-
schrieben worden. AVir besitzen für die älteste Epoche der
Kirchengeschichte Darstellungen der dogmengeschichtlichen Ent-
wicklung imd des Yerhältnisses von Kirche und Staat — unter
den letzteren die vortreffliche von Neumann — , aber die Missions-
geschichte ist vernachlässigt geblieben. Die Schwierigkeit der
Erhebung und der Abgrenzung des Stoffs und die noch größeren
Schwierigkeiten, das geographisch-statistische Material zu sammeln
und zu sichten, mögen abgeschreckt haben. Der auf den folgen-
den Blättern dargebotene erste Versuch bittet um freundliche
Beurteilung. Die Nachfolger — an solchen wird, es nicht fehlen
— werden es besser machen können. Zur Erläuterung habe ich
einige Bemerkungen vorauszuschicken:
Die älteste Missionsgeschichte der Kirche ist unter Legenden
begraben oder vielmehr durch eine tendenziöse Geschichte ersetzt
worden, die sich in w^enigen Jahrzehnten in allen Ländern des
Erdkreises abgespielt haben soll. An dieser Geschichte ist mehr
als tausend Jahre hindurch gearbeitet worden — denn die
Legendenbildung in bezug auf die apostolische Mission beginnt
schon im ersten Jahrhundert und hat noch im Mittelalter, ja bis
in die Neuzeit hinein geblüht: ihre Wertlosigkeit ist jetzt allge-
mein anerkannt. Ich habe diese Geschichte in meiner Darstellung
kaum gestreift: denn die kritische Untersuchung der Quellen ist
durchweg als vollzogen vorausgesetzt. Alles das, was hier aus
den apokrj'phen Apostelgeschichten, den provinzialen und lokalen
Kirchenlegenden, aus den Bischofslisten und den Märtyrerakten
VI Vorrede zur ersten Auflage.
nicht aufgenommen bez. nicht erwähnt ist, ist als unbrauchbar
weggelassen: aber in bezug auf das zuverlässige Material ist Voll-
ständigkeit angestrebt. Wirkliche Schwierigkeiten boten nur die
Märt}Ter- Akten und -Überlieferungen. Eine oder die andere
Stadt ist aus ihnen meinen Listen vielleicht noch hinzuzufügen;
aber ihre Zahl ist sicher eine sehr geringe. Leider versagen die
Inschriften fast ganz; denn datierte christliche Inschriften aus der
vorconstantinischen Zeit sind selten, bei den nicht -datierten aber
ist Sicherheit, daß eine Inschrift dem dritten Jahrhundert angehört
und nicht dem vierten, nui' in wenigen Gruppen von Fällen zu
erreichen. Für eine umfangreiche Klasse ferner kann der christ-
liche LTrsprung nur vermutet, aber zurzeit noch nicht bewiesen
werden.
Da das apostolische Zeitalter der Kirche in seinem ganzen
Umfange unter den Gesichtspunkt der Missionsgeschichte fällt, so
könnte man eine ausführliche Darstellung desselben hier erwarten.
Eine solche ist nicht gegeben; man findet sie in vielen Werken,
vor allem bei Weizsäcker; ich habe nach ihm Paulus als
Missionar nicht noch einmal schildern wollen, sondern mich auf
Grundzüge beschränkt. Was geboten ist, muß sich selbst recht-
fertigen. Der Versuch, in einer Folge von Längsschnitten den
Problemen gerecht zu werden, schien mir hier am Platze, nicht
nur um Wiederholungen zu vermeiden, sondern vor allem um die
Ifauptlinien und die Hauptkräfte der christlichen Religion ein-
heitlich und scharf hervortreten zu lassen. Die einzelnen Kapitel
sind so gefaßt, daß sie für sich gelesen werden können ; aber die
Einheitlichkeit dos Ganzen hat dadurch, hoffe ich, nicht gelitten.
Die füi- diese Darstellung der alten christlichen Missions-
geschichte gewählt(> liasis ist mir so breit, als meine allgemeinen
Geschichts- und Rcdigionskenntnisse reichen, also recht schmal.
Man suche daher in d(;m JJuche nicht Aufschlüsse über die grie-
cliische und römische Ileligionsgeschichte, über uralte Mythen
und ül)er neue Kulte, über Rechtsverhältnisse und Administrationen:
darüber wissen andere besser Bescheid. Ich habe mich seit Jahr-
zehnten lediglich bemüht, die Zäune, die uns trennen, zu ent-
fernen und von den Nachbarn soviel zu lernen als nötis: ist, um
Vorrede zur ersteu Auflage. VII
das richtige Maß der Erscheinungen auf dem Gebiete der Kirchen-
geschichte nicht zu verfehlen und Abgeleitetes nicht für Originales
auszugeben.
Was die antike Geographie und Statistik betrifft, so habe
ich von den einschlagenden Untersuchungen eingehender Kenntnis
genommen, als das Buch es verrät. Leider ergeben die Arbeiten
zur Bevölkerungsstatistik des Altertums so widersprechende und
daher unbrauchbare Resultate, daß ich zuletzt, verzweifelnd,
nahezu alles beiseite gelassen habe. Nur ein kleiner Rest absolu-
ter Statistik ist im ersten Kapitel des ersten Buchs und in den
Schlußausführungen stehen geblieben. Nach den Karten im Corpus
Inscriptionum Latinarum, den Kärtchen im 5. Bande der „Römi-
schen Geschichte" Mommsens, nach Kieperts „Formae orbis
antiqui", soweit dieselben erschienen sind, und einigen anderen
Hilfsmitteln habe ich die Städte und Plätze identifiziert und
keine Ortschaft, die ich dort nicht gefunden habe — von ein
paar vorstädtischen Dörfern abgesehen — , ohne Bemerkung auf-
genommen. Ursprünglich hatte ich die Absicht, dem Buche
Karten beizugeben, und habe nur ungern darauf verzichtet. Aber
ich mußte mich davon überzeugen, daß sie, wie man es auch
anfinge, ein falsches Bild bieten müssen; demi unser Material ist
bis zum Jahre 325 für die verschiedenen Provinzen zu ungleich,
mit der Einti-agung lediglich der Städte, in denen Christen vor
Constantin nachweisbar sind, ist wenig gewonnen, und die Dichtig-
keit der Christen in den verschiedenen Provinzen durch Farben
anzugeben, habe ich nicht gewagt. Erst für das 4. Jahrhundert
lassen sich Karten zeichnen, und dabei kann auf die frühere Ge-
schichte Rücksicht genommen werden. — Auf die Einteilung der
Provinzen und den Wechsel der Einteilungen hatte ich kaum
irgendwo Anlaß, einzugehen. Eine Darstellung der Yerfassungs-
geschichte der Kirche darf sie nicht beiseite lassen, aber ich
habe Fragen der Verfassung nur herbeigezogen, wo es unver-
meidlich war. Überhaupt war mein Absehen darauf gerichtet,
mich so kurz wie möglich zu fassen, die Grenzen der Aufgabe
scharf zu ziehen und längst Erledigtes nicht um der Vollständig-
keit oder um der Bequemlichkeit des Lesers willen noch einmal
VIII Vorrede zur ersten Auflage.
ZU erörtern. Die Ausbreitungsgeschichte des Christentums in den
einzelnen Provinzen ist nur in Umrissen gegeben. Wer hier tiefer
eindringen will, muß mit Ramsay in Phrygien oder mit den
französischen Gelehrten in Africa graben oder sich mitDuchesne
in die alten Bischofslisten versenken, freilich — für die ersten
drei Jahrhunderte wird die Ausbeute über das hier Gebotene
hinaus gering sein.
Die literarischen Quellen, welche uns für die älteste Missions-
geschichte des Christentums zu Gebote stehen, sind lückenhaft,
aber wie umfangreich sind sie, wenn man sie mit dem vergleicht,
was für die Geschichte der anderen Religionen im römischen
Reiche vorhanden ist! Sie ermöglichen den Versuch einer zu-
sammenhängenden und in allen Hauptpunkten geschlossenen Dar-
stellung der Mission und Ausbreitung der christlichen Religion,
und sie gestatten ein begründetes Urteil darüber, warum diese
Religion im Reiche zum Siege gekommen ist und wie dieser Sieg
beschaffen war. Eine Reihe von Fragen freilich bleibt ungelöst;
zu ihnen gehören auch solche, an die jeder zuerst denkt, wenn
er der Missionsgeschichte näher tritt.
Einige früher von mir verfaßte Abhandlungen zur Missions-
geschichte sind in erweiterter und verbesserter Gestalt in dieses
Buch aufgenommen worden. Ich habe sie an ihrem Orte kennt-
lich gemacht.
Meinem verehrten Freunde, Professor Imelmann, spreche
ich herzlichen Dank aus für den wirksamen Anteil, den er während
der Drucklegung an diesen Blättern genommen hat.
Jierlin, den 4. September 1902.
A. H.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die zweite Auflage ist um mehr als zehn Bogen gegenüber
der ersten gewachsen; davon fallen sechs auf das vierte Buch („Die
Verbreitung der christlichen Religion"). Die Zahl neuer Orte, in
denen ich das Christentum vor Constantin nachweisen konnte, ist
verschwindend gering — meine Kritiker haben die Liste nicht zu
vermehren vermocht — ; aber ich habe versucht, der Schilderung
der Ausbreitung der Religion in den einzelnen Provinzen mehr
Farbe zu geben und manche versteckte Stelle herbeigezogen.
Einige neue Abschnitte sind eingefügt worden; den Exkurs aber
zum ersten Buch („Das angebliche Apostelkonzil zu Antiochien")
habe ich, ohne an ihm irre geworden zu sein, gestrichen, weil er
nicht notwendig war. Überraschen wird es, daß trotz dem in der
ersten Auflage ausgesprochenen Verzicht dem Buche nun doch
Karten beigegeben sind. Bestimmend waren von vielen Seiten
an mich gerichtete Bitten, die stets mit dem Hinweise begründet
wurden, daß die Mehrzahl der Leser sich ohne Karten kein Bild
von der Verbreitung zu machen vermöge, die vorhandenen Karten
des orbis antiquus aber nur nach eingehenden Studien für den
besonderen Zweck nutzbar gemacht werden können. So habe
ich meine Bedenken besiegt und selbst die elf Blätter entworfen,
die dem Werke beigegeben sind. Am meisten Wert lege ich auf
den Versuch, der auf dem zweiten Blatte gemacht ist. Er ist
ein Wagnis, aber ohne diese Karte, welche den ganzen Ertrag
der Arbeit zusammenfaßt, sind die Karten III — XI irreführend,
weil sie von zufälliger Kunde mehr oder weniger abhängig sind. —
Die beigegebenen Register sind von mir neu ausgearbeitet worden.
Berlin, den l. Dezember 1905.
A. H.
Inhaltsübersicht.
Erstes Buch:
Einleitung und Grundlegung. ^^H^
I. Bandes
Erstes Kapitel: Das Judentum, seine Verbreitung und Entschränkung 1
Zweites Kapitel: Äußere Bedingungen für die universale Ausbreitung
der christlichen Religion 17
Drittes Kapitel: Innere Bedingungen für die universale Ausbreitung
der christlichen Religion (der religiöse Synkretismus) 21
Viertes Kapitel: Jesus Christus und die Weltmissiou 31
Fünftes Kapitel: Der Übergang von der Juden- zur Heidenniission . 37
Sechstes Kapitel: Die Ergebnisse der Mission des Paulus und der
ersten Missionare 63
Zweites Buch:
Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Einleitung 73
Erstes Kapitel: Religiöse Grundzüge der Missionspredigt 74
Zweites Kapitel: Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung 87
Drittes Kapitel. Fortsetzung: Der Kampf gegen die Dämonen . . 108
Viertes Kapitel: Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung . . . 127
Grundlegendes. — Einleitung S. 127. — (1) Das Almosen überhaupt
und seine Verbindung mit dem Kultus S. 183. — (2) Die Unter-
stützung der Lehrer S. 136. — (3) Die Unterstützung der Witwen
und Waisen S. 137. — (4) Die Unterstützung der Kranken,
Schwachen, Armen und Arbeitsunfähigen S. 139. — (5) Die Sorge
für die Gefangenen und in den Bergwerken Schmachtenden S. 140.
— (6) Die Sorge für die zu begrabenden Armen und die Verstorbe-
nen überhaupt S. 143. — (7) Die Sorge für die Sklaven S. 145. —
XII Inhalt.
Seite
des
I. Bandes
(8) Die Sorge bei großen Kalamitäten S. 148. — (9) Arbeitsnach-
weis und Recht auf Arbeit in den Gemeinden S. 150. — (10) Die
Sorge für zugereiste Brüder (Gastfreundschaft) und für arme oder
gefährdete Gemeinden S. 152.
Fünftes Kapitel: Die Religion des Geistes und der Kraft, des sitt-
lichen Ernstes und der Heiligkeit 172
Sechstes Kapitel: Die Religion der Autorität und der Vernunft, der
Mysterien und der transzendentalen Erkenntnisse 188
Siebentes Kapitel: Die Botschaft von dem neuen Volk und dem
dritten Geschlecht (das geschichtliche und politische Bewußtsein
der Christenheit) 206
Exkurs: Die Beurteilung der Christen als drittes Geschlecht
seitens ihrer Gegner 227
Achtes Kapitel: Die Religion des Buchs und der erfüllten Geschichte 234
Neuntes Kapitel: Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzen-
dienst 242
(1) Der grobe Götzendienst S. 242. — (2) Die mit dem Götzen-
dienst verflochtene Philosophie S. 246. — (3) Die Menschenver-
götterung und der Kaiserkultus, Heroen und Engel S. 247. —
(4) Theater, Spiele und Feste S. 251. — (5) Luxus S. 253. —
(6) Das mit dem Heidentum verflochtene Berufsleben (Handwerker,
Astrologen, Magier und Lehrer der Wissenschaften, Handel,
Beamte, Militär; heidnische Redensarten und Schwüre) S. 253.
Schluß b et räch tung: Die volle Ausgestaltung des Christentums als
svnkretistische Religion 261
Drittes Buch:
Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen
der Mission.
Erstes Kapitel: Die christlichen Missionare (Apostel, Evangelisten,
Propheten, bez. Lehrer; nicht berufsmäßige Missionare) .... 267
(1) Der Begrift' „Apostel" nach den ältesten Schriften S. 267. —
(2) Apostel, Propheten und Lehrer bei den Juden S. 274. —
(3) Apostel, Propheten und Lehrer als Einheit S. 280. — (4) Apo-
stel S. 291. — (5) Propheten S. 296. — (6) Lehrer (charismatische
und nicht chari.smatische) S. 298. — (7) Nicht - berufsmäßige
Missionare S. 308.
Exkurs: Reisen; brieflicher und literarischer Austausch . 310
Zweites Kapitel: Missionsmethoden; Katechese und Taufe; Eingriffe
in das häusliche Leben :U9
Inhalt. XIII
Seite
des
I. Bandes
Drittes Kapitel: Die Namen der Christgläubigen 334
Exkurs I: Oi <Pi}.oi 352
Exkurs 11: Die Rufnamen der Christen 354
Viertes Kapitel: Die Gemeindebildung in ihrer Bedeutung für die
Mission 362
Exkurs I: Gemein debildung und Bistum (Provinzial-, Stadt-
und Dorfbistum) in der Zeit von Pius bis Constantin . 373
Exkurs II: Die katholische Konföderation und die Mission 398
Exkurs III: Der Primat Roms und die Mission .... 398
Fünftes Kapitel: Gegenwirkungen 399
(1) Die Verfolgungen S. 399. — (2) Urteile der Gegner; literarische
Angriffe S. 408.
Schlußbetrachtung: Motive und Gegenmotive für die Annahme
der christlichen Religion 418
Viertes Buch:
Die Verbreitung der ciiristliclien Religion. seite
II. Bandes
Erstes Kapitel: Zeugnisse allgemeiner Art über den Umfang und
die Stärke der Verbreitung des Christentums. Die Hauptstadien
der Missionsgeschichte 5
Zweites Kapitel: Zur intensiven Verbreitung 25
(1) Die gebildeten Stände (Vornehme und Beamte) S. 25. — (2) Der
Kaiserhof S. 32. — (3) Das Militär S. 41. — (4) Die Frauen
S. 51. — Zusatz: Über den Kirchenbau S. 67.
Drittes Kapitel: Die Verbreitung des Christentums bis z. J. .325 . . 70
(I) Orte, in denen christliche Gemeinden bez. Christen bereits im
1. Jahrh. (vor Trajan) nachweisbar sind 72
(II) Orte, in denen christliche Gemeinden vor d. J. 180 (Tod des Marc
Aurel) nachweisbar sind 75
(III) Orte, in denen christliche Gemeinden vor d. J. 325 (Konzil von
Nicäa) nachweisbar sind, nebst einer kurzen Geschichte der Aus-
breitung der christlichen Religion in den einzelnen Provinzen . 77
(1) Palästina 77
(2) Phönizien 98
(3) Cölesjrieu 102
(4) Cypera 116
(5) Edessa (Osroene) und die östlichen Gebiete (Mesopotamien,
Persien, Parthien, Indien) 117
(6) Arabien . . . . , 127
XIV Inhalt.
Seite
des
II. Bandes
(7) Ägypten und die Thebais, Libyen und die Peutapolis . . . 132
(8) Cilicien 151
(9) Kleinasien 153
Allgemeines S. 153. — (A) Cappadocien S. 162. — (B) Arme-
nien, Diospontns, Paphlagonien, Pontus Polemoniacus S. 166.
— (C) Bithynien S. 178. — (D) Galatien, Phrygien und Pisi-
dien mit Lycaouien S. 179. — (E) Asien, Lydien, Mysieu,
Hellespont und Carieu S. 188. — (F) Lycien, Paraphylien
und Isaurien S. 192.
(10) Greta und die Inseln 195
(11) Thracien, Macedonien, Dardanien, Epirus, Thessalien, Achaia 196
(12) Mösien und Pannonien, Noricum und Dalmatien 201
(13) Nord- und Nordwestküste des Schwarzen Meeres .... 203
(14) Rom, Mittel- und Unteritalien, Sizilien und Sardinien . . 204
(15) Oberitalien und die Romagna 220
(16) Gallien, Belgien, Germanien und Rätien 222
(17) Britannien 283
(18) Africa, Numidien, Mauretanien, Tripolitana 234
(19) Spanien 255
Anhang I: Die Verbreitung christlicher häretischer Ge-
meinschaften und schismatischer Kirchen 262
Anhang II: Die Ausprägung provinzialkirchlicher Ver-
schiedenheiten innerhalb der katholischen Kirche . . 266
Anhang III: Die Verbreitung des Christentums und die
Verbreitung anderer Religionen im römischen Reiche,
besonders des Mithrasdienstes 270
Viertes Kapitel: Ergebnisse 276
Sachregister 288
Geographisches Kegister 297
Nachh'äge und Verbesserungen 311
Karten nach 312
I. Die Verltreitung des Christentums bis z. J. 180.
II. Die Verbreitung des Christentums um d. .1. 325.
in — XI. Spozialkarten dazu:
III. Palästina, Phöniee, Arabia. — IV. Syria und Mesopota-
niia. — V. Aegyptus, Heptanomis, Thebais. — VI. Asia,
Phrygia, Cappadocia etc., Armenia. — VII. Thracia, Mace-
donia. Achaia, Moesia, Dalmatia, Pannonia. — VIII. Italia. —
IX. Britannia, Gallia, Germania, Italia Superior. — X. His-
pania, Africa, Cyrenaica. — XI. Numidia. Africa Proconsulai-is,
Zeu"itana.
Erstes Buch.
Einleitung und Grundlegung.
Erstes Kapitel.
Das Judentum, seine Verbreitung und Entschränkung.
, , Die Synagogen in der Diaspora sind nicht nur. wie Tertullian
bezeugt, die „fontes persecutionum" für die jugendliche Christen-
heit ffewesen, sondern zuffleich auch die wichtigsten Voraus-
Setzungen für die Entstehung und das Wachstum christlicher
Gemeinden im Reiche. Das Netzwerk der Synagogen stellt die
Mittelpunkte imd Linien der christlichen Propaganda im voraus
dar. Die Mission der neuen Religion, im jSTamen des Gottes , . ,- .
Abrahams und Moses' imternommen, fand bereits ein füi- sie be- '"
Stentes Feld/'^ '' , i
Eine Übersicht über die Verbreitung des Judentimis in den
Anfängen unserer Zeitrechnung ist öfters gegeben worden, zuletzt
mit besondejt'er Sorgfalt von Schür er ^. Uns interessieren hier
folgende Punkte:
(1) Juden gab es in den meisten, jedenfalls in allen am
Mittelmeer und in dessen Umgebimgen gelegenen Provinzen des
römischen Reichs sowie am schw'arzen Meere, östlich über Syrien
hirikus in kompakten Massen in Mesopotamien, Babylonien und
Medien 2.
1) Geschichte des jüdischen Volks, Bd. III ^, S. 1—38.
-) Die Bekehrung des Königshauses von Adiabene (am Tigris, an der
römisch -parthischen Grenze) zum Judentum in der Zeit des Kaisers Claudius
ist eine besonders merkwürdige Tatsache in der Geschichte der Expansion
des Judentums und wird auch von Josephus gebührend hervorgehoben. Der
Übertritt des edessenischen Königshauses zum Christentum 150 Jahre später
ist eine auffallende Parallele dazu. Renan (Die Apostel, Deutsche Ausgabe
S. 27-5 f.) hat nicht mirecht, wenn er in seiner Weise sagt: „Die königliche
Familie von Adiabene gehört der Geschichte des Christentums an.'' Er meint
das nicht im Sinne des Orosius (VIT, 6) und Moses von Chorene (II, 35) , die
Harnack, Mission. 2- Aufl. 1
2 Kinleitung und Grundlegung.
(2) Am zahlreichsten waren sie in Syrien \ sodann in Ägypten
(in allen Nomen bis nach Ober-Ägypten hinauf)'^, in Rom imd
den kleinasiatischen Provinzen^. Wie stark sie in alle lokalen
Verhältnisse eirt^edrungen wa^-en, zeigen besonders die auf das
letztgenannte Gebiet sich bezielienden Zeugnisse. Hier sowie am
/,>,^ Nordufer des schwarzen Meeres haben sie auch an den Religions-
das Königshaus wirklich christlich werden lassen, sondern „indem sie den
Judaismus annahmen, gehorchten sie dem Gefühl, welches die ganze heid-
nische Welt dem Christentum zufühi-en sollte". Übrigens bietet auch die
Wirksamkeit der Helena, der Mutter Constantins , in Jerusalem eine auf-
fallende Parallele zur Wirksamkeit der adiabenischeu Königin gleichen
Namens daselbst (s. Josephus, Antiq. XX, 2 ff., Bell. Jud. V, 2 — 4; Y, 6, 1;
YI, 6, 3). Vielleicht hat sich die christliche Kaiserin die jüdische Königin
geradezu zum Muster genommen; denn die Wirksamkeit dieser war in Jeru-
salem und bei den Juden unvergessen (s. Euseb., h. e. 11, 12 und die talmu-
dische Überlieferung). — Zusammenfassende Zeugnisse über die Verbreitung
des Judentums im Reich stehen bei Philo (Legat. 36 und Place. 7), in der
Apostelgeschichte (2, 9 tf.) und bei Josephus (Bell. II, 16, 4; VII, 3, 3; Apiou
ü, 39). Die Behauptung des Josephus: ovx mnr LtI t/]? oi.y.oviihi]g dijfiog 6
firj /.loToav i'j/iszsijar ?yiov, ist schon mehr als 200 Jahre früher von einem
jüdischen Sibyllen -Orakel ausgesprochen worden (Orac. 111,271: jtäoa dk yala
os§Ev nh)oj]g xal sräoa dä).aana). Ein bereits im J. 139/138 vor Chr. abgefaßtes
Rundschreiben des römischen Senates zum Schutz der Juden ist an die Könige
von Ägypten, Syrien, Pergamum, Cappadocien und Parthien, ferner nach
Sampsame (Amisusy), Sparta, Sicyon (im Peloponnes), Delos, Saraos, der
Stadt Gortyna, Carlen mit Myndus, Halicarnass und Cnidus, nach Cos und
Rhodus, der Landschaft Lycien mit Phaseiis, Pamphylien mit Side, der
phönicischen Stadt Aradus und nach Cyrene und Cypern gerichtet. Bereits
z. Z. des Sulla hat Strabo geschrieben (bei Josephus, Antiq. XIV, 7, 2): slg
näoav nöliv rjdtj jTaQuhjh'i&ei , y.al tottov ovx e'ari QahUog svQsTr rijg olyov/ievt]';
og ov 7iaoa^£()F.HTai tovto z6 q>v).ov /(>/()' sjTtyijuisTrai vji'' avrov. Für die intensive
Verbreitung des Judentums ist das Zeugnis Senecas besonders lehrreich (bei
Augu.st., de civit. dei YI, 11): „cum Interim usque eo sceleratissimae gentis
consuetudo convaluit, ut per omnes iam terras recepta sit; victi victoribus
leges dederunt." Justin behauptet (Dial. 117): yan tu sdrrj er oig ovÖetico
ovddg v/niöv rnv yhoi>Q [seil, der Juden] o')?<ijO£r, aber die gleich folgende Be-
hauptung, daß es Christen in jedem Volke gel)e, läßt jene Konstatierung
als tendenziös erscheinen.
^) Besonders die große Anzahl dei- Juden in Antioc hien wird hervor-
gehoben.
*) Für die Verbreitung der Juden im südlichen Arabien ist Philostor-
gius (h. e. 111,4) wichtig. Er sagt, daß der dortigen Bevölkerung ovy oUyor
jilfjüog 'lovtSaion' avajrl(fvfnai.
') Philo, Legat. 33: 'lovöaToi y.ad' kxaon]v ttÖXiv nr,i :mi(jihidng 'Anlag te
xal ^vf)iug. Das ^Ey.äoTijv'^ empfängt seine Bestätigung durch zahlreiche
partikulare Zeugnisse, für Cilicien z. B. durch Kpiphanius (haer. 30, 11). Hier
heißt es von dem „.'^.po.stel", der vom jüdischen Patriarchen gesandt war,
um in Cilicien l)ei den Juden die Abgaben zu sammeln: o? drs?.{^6jv sysTas
ajio f:y.aoT.i]g 7i6?.E(»g Tfjg Kü.txlag la LTifif:yaTa xt).. EtatJTQUTTer. — Über die
Verbreitung des Judentums in Phrygien und den Nachbarprovinzen (auch
in dem iniiersten Gebiete) s. die beiden großen Werke von Ramsay, „The
Das Judentum, seine Verbreitung und Entschränkung. 3
luischung-en Teil gonomineii (Kult „des höchsten (xottes" und
des Gottes „Sabbatistes"), und für Syrien ergil^t ^ äichi dasselbe,
wenn auch nicht so deutlich aus direkten Zeugnissen, so doch
indirekt aus der Vorgeschichte des christlichen (inosticismus ^. In
Africa von der Proconsularis bis nach Mauretanien waren sie an
der Küste nicht spärlich'^. In Lyon scheint es zur Zeit des
Trenäus nicht viele Juden gegeben zu haben ^. Doch können sie
im südlichen Gallien, wie spätere Quellen beweisen, nicht spär-
lich gewesen seii^, und in Spanien waren sie zahlreich und mächtig,
wie aus den Beschlüssen der Synode von Elvira um das J. 300
hervorgeht. Endlich werden wir annehmen dürfen, daß sie in
der älteren Kaiserzeit in Italien — abgesehen von Rom und
Süditalien, wo sie sehr verbreitet waren — nicht eben zahlreich
ge\vesen sind (wenn auch einzelne Synagogen selbst in Oberitalien
damals nicht fehlten). Es folgt das aus der Kulturgeschichte
Italiens und wird durch die Tatsache bestätigt, daß alte jüdische
Inschriften außerhalb Roms und Süditaliens selten bez. unsicher
sind. „Die Juden gaben das erste Beispiel jener Art von Pa-
triotismus, welche später die Parsen, die Armenier und bis zu
einem gewissen Grade die neuern Griechen kundgeben sollten,
eines außerordentlich energischen, aber nicht an einem bestimmten
^ Boden haftenden Patriotismus, eines Patriotismus von überall ver-
breiteten und überall sich als Brüder erkennenden Kailfleuten,
eines Patriotismus, der sich nicht die Bildung großer kompakter
cities and bishoprics of Phrygia" und „Historical Geography of Asia Minor",
sowie desselben Aufsatz im „Expositor" 1902 Jan.: „The Jews in the Graeco-
Asiatic cities". Wo in jenen Gegenden Inschriften in größerer Zahl gefunden
worden sind, sind stets jüdische unter ihnen. Welche Rolle das jüdische
Element in dem pisidiseben Antiochieu gespielt bat. zeigt Act. LS, s. beson-
ders V. 44 und V. 50 (oi 'lovöaToi jiaQo'nQvrav rag oeßofth-ac: yvvaTy.a? rag svayj)-
lioi'ag xal rov? jigcörovg Trjg jiöXecoc:). Aus dem Martyrium des Polycarp und
des Pionius gebt die Bedeutung des jüdischen Elements in Sniyrna hervor:
das Straßenbild der Stadt war an jüdischen Feiertagen ein verändertes.
„Von der Ausdehnung und der Bedeutung der Juden Kleinasiens zeugt u. a.
der Versuch, den unter Augustus die joniscben Griecbenstädte. es scheint
nach gemeinschaftlicher Verabredung, machten, ihre jüdischen Gemeinde-
genossen entweder zum Rücktritt von ihrem Glauben oder zur vollen Über-
nahme der bürgerlichen Lasten zu nötigen" (Mommsen, Rom. Gesch. V S. 489 f.).
^) Man vgl. auch, was Epipbanius (baer. 80, 1) von einem Kult des
..UarToxfjäTcofj"' erzählt.
2) S. Monceaux, Les colouies juives dans l'Afrique romaine (Rev. des
Etudes juives, 1902). Leclerq, L'Afrique chretienne, 1904, 1 p. 36 f. Jüdische
Gemeinschaften sind nachgewiesen für Cartbago, Naro, Hadrumetum, Utica,
Hippo, Simittu, Volubilis, Cirta, Auzia, Sitifis, Caesarea, Tipasa, auch in
Oea, usw.
^) Daher kennt er auch allem Anschein nach keine Judenebristen aus
eigener Anschauung.
1*
4 Einleitung und C-irundlegung.
Staaten, sondern kleiner autonomer Gemeinwesen im Schöße an-
derer Staaten zum 'Ziel setzte"
(3) Ziffermäßij? läßt sich die Menge der Juden in der Dia-
spora nur schlecht bestimmen. Was wir an Zahlangaben be-
sitzen, ist folgendes: Von den Juden in Babylonien sagt Josephus,
es seien ,.nicht wenige Myriaden", bez. „unzählige Myriaden" da-
selbst-. Derselbe erzählt^, in Damascus seien zur Zeit des
o-roßen Krieges 1 (10(10 Juden niedergemetzelt worden; an einer
anderen Stelle (in demselben Buch) schreibt er „ISOOO"*. Yon
den fünf Stadtteilen Alexandriens hießen nach Philo ^ zwei „die
jüdischen", weil sie größtenteils von Juden bewohnt waren; doch
fanden sich Juden auch in anderen Stadtteilen. Philo schätzt
ihre Gesamtzahl in Ägypten („bis an die Grenzen Äthiopiens") auf
nicht weniger als 100 Myriaden = eine Million^ Bereits in der
Zeit Sullas bildeten die Juden der Cyrenaica nach Strabo'' eine
der vier Klassen der Bevölkerung (neben Bürgern, Bauern und
Metöken). In dem großen Aufstand unter Trajan sollen sie
220000 Ungläubige daselbst hingeschlachtet habend zur Rache
^\^lrden von Marcus Turbo „viele Myriaden" von ihnen getötet".
Die Juden -Revolution erstreckte sich auch auf Cypern; dort
sollen 240 000 Nicht-Juden von ihnen gemordet worden sein -'^.
In Bezug auf die Anzahl der Juden in Rom finden wir die An-
gaben, daß im J. 4 vor Chr. SOOO römische Juden eine aus
Palästina kommende Judendeputation verstärkt haben ^\ ferner
daß, als Tiberius die ganze Judenschaft aus Rom verwies (J. 19
nach Chr.), 4000 waffenfähige Juden nach Sardinien deportiert
worden seien. Die letztere Notiz ist deshalb besonders be-
achtenswert, weil sie sowohl von Tacitus als auch von Josephus
überliefert wird^-. Tiberius hat den Befehl nach dem Sturze
1) Renan, .,Die Apo.stel^ Deutsche Ausgabe S. 299.
2| Antiq. XV, 3, 1 bez. XI, 5, 2. Nach Antiq. XII, ■), i hat Antiochus
der Große 2000 Familien aus der Zahl dieser Juden in Phrygien und Lydien
angesiedelt.
^) Ben. .Tud. II, 20, 2. — ') A. a. 0. VII, 8, 7. — '') In Flacc. 8.
") In Flacc. G. — ') Bei Josephus, Antiq. XIV, 7, 2.
») Dio Cassius LXVIII, 32. — «) Euseb., h. e. IV, 2.
'") Dio Cassius l! c. Ebenderselbe erzählt (LXIX, 14), in dem Barkochba-
Auistand seien 580000 Juden in Palästina gefallen.
") .Josephus, Antiq. XVII, 11,1; Bell. II, 6, 1.
1-) Eine Differenz ist aber insofern vorhanden, als Josephus (Antiq.
XVIII, 3, .5) nur von Juden spricht. Tacitus (Annal. II, 85) aber schreibt:
„Actum et de sacris Aegyptiis Judaicisque pellendis factumque patrum con-
sultum, ut quattuor milia libertini geueris ea superstitione infecta, quis
idonea aetas, in insulam Sardiuiam veherentur, coercendis illic latrociniis et,
si ob gravitatem caeli interissent, vile damnum; ceteri eederent Italia, nisi
certam ante diem profanos ritns exuissent." Die Ausweisung wird auch von
Das Judentum, seine Verlireitung und PJutscliräukung. 5
Sojiins wieder zurückgeitommeii ^ und die Juden wurden sofurt
wieder zahlreich in Rom'-: aber unter Chiudius im d. 49 wurde
die Ausweisung- erneuert, der Befehl jedoch bald zurückgezogen,
da seine Durchführung- bedenklich erschien, und auf ein Yi^bot
der religiösen Versammlungen beschränkt "\ In Rom wohnten
die Juden besonders in Trastevere, aber auch in anderen Stadt-
teilen waren sie zu finden, wie denn auch jüdische Kirchhöfe an
sehr verschiedenen Stellen in der Stadt aufgedeckt worden sind.
Überblickt man diese Zahlangaben*, so sind nur zwei von
Bedeutung, nämlich erstlich die Philos. daß die ägyptischen
Juden nicht weniger als eine Million stark gewesen sind. Philos
verhältnismäßig genaue Ausdrucksweise (ovx änoömvoi juvQuiöan'
exarov ol nji' ' A?,e^dvdQ€tav y.al t)jv id)Qnv 'lovdaToi yMToixovvrsg
äjiö Tov ngog Äißihp' y.aTaßaßfiov fie^Qi tcTjv öquin' Aißiojiiag),
zusammengehalten mit der Tatsache der pünktlich geführten
Steuerlisten in Ägypten, macht es wahrscheinlich, daß wir es hier
mit keiner phantastischen Zahl zu tun haben. Auch erscheint die
Zahl selbst nicht zu hoch, Avenn man bedenkt, daß die ganze
Judenschaft Alexandriens mit eingeschlossen ist. Da die Be-
völkerung Ägyptens (z. Z. des Vespasian) 7 — S Millionen Seelen
betragen hat, so wird die Judenschaft ein Siebentel oder ein
Achtel (etwa 13 '^/o) ausgemacht haben ^. Nur für Syrien werden
Suetou (Tiber. 06) berichtet: „Exteruas caeremonias, Aegyptios Judaicosque
ritus compescuit, coactis qui .superstitione ea tenebantur religiosas vestes
cum instrumento omni comburere. Judaeorum juventutem per speciem sacra-
menti in provincias gravioris caeli distribuit, reliquos gentis ejusdem vel
similia sectantes nrbe summovit, sub poena perpetuae servitutis nisi obtem-
perassent."
*) Philo. Legat. 24. — -) Die Casi. LX. 6: JT/.eoräaavTS^ arOi^.
*) Die Quellen widersprechen sich hier: Die Apostelgeschichte (18, 2),
Sueton (Claud. 25) und Orosius (VII. 6, 15) — der letztere unter irrtümlicher
Berufung auf Josephus, der über den Vorgang schweigt — sprechen von
einem förmlichen (und durchgeführten) Ausweisungsbefehl, Dio Cassius aber
(LX, 6) schreibt: TOi<g ts 'lovÖaiovg JiXsordoavTag avdi.g, ojots yakejrwg av ävev
Taoa/fjg vjio tov oylov o<pöJv rPjg nöXecog siQ/dfjvai , ovy. iSt'j^.aoe /ier, to) Se 81)
jiaxQcco ßUo xQO}f(svovg exeIevoe /iilj ovi'adijoiCsodai. Zwei so treuliche Zeugen
wie Lucas und Sueton durch Cassius zu beseitigen, geht m. E. nicht an.
Auch Schürers Ausweg (III S. 32), eine bloß beabsichtigte Ausweisung an-
zunehmen, befriedigt noch nicht. Der Befehl muß wirklich ergangen, sehr
bald aber, nachdem die Juden Garantien gegeben hatten , durch das Ver-
sammlungsverbot ersetzt worden sein.
*) Eine Reihe von Zahlen, die Josephus sonst noch angibt, habe ich
beiseite gelassen, da sie ganz unbrauchbar sind.
^) Vgl. Mommsen, Rom. Gesch. V S. 578. Pietschmann in Pauly-
Wissowas Eucyklop. I C'ol. 990 f. Bei och. Die Bevölkerung der griechisch-
römischen Welt S. 258 f, bezweifelt die Angabe des Josephus (Bell. I!, 16,4),
die ägyptische Bevölkerung sei zur Zeit Neros T^/s Millionen Seelen stark
6 Einleitung und Grundlegung.
wir einen noch höheren Prozentsatz jüdischer Bevölkerung an-
nehmen müssen^; in allen anderen Provinzen des römischen Reichs
wird ihre Zahl geriiiger gewesen sein.
Die zweite Stelle von Belang ist die Angabe, daß Tiberius
4()<M) waffenfähige Juden nach Sardinien deportiert hat — Juden,
nicht Juden imd Ägypter, wie Tacitus sagt; denn das bestimmte
Zeugnis des Josephus W'ird hier durch Sueton unterstützt (s. o.),
der zuerst auch von Juden und Ägyptern spricht, dann aber
spezialisierend hinzufügt: „ludaeonmi iuventutem per speciem
sacramenti in provincias gravioris caeli distribuit." Viertausend
waffenfähige Männer entspricht einer Gesamtzahl von mindestens
10 (KM) Menschen^. So groß etwa war damals die Judenschaft
in Rom. Diese Berechnung stimmt freilich schlecht zu der an-
deren Nachricht, 23 Jahre früher hätten 8(WM) römische Juden
eine palästinensische Deputation verstärkt. Josephus hat entweder
die jüdische Kopfzahl hier eingesetzt, oder er hat sehr stark über-
ti-ieben. In Bezug auf die Bevölkerung der Stadt Rom zur Zeit
des Augustus (5 vor Chr.) ist die Zahl von 320 ()()() Plebejern
männlichen Geschlechts über zehn Jahre die zuverlässigste Angabe.
Diese Zahl führt bei der notorischen Minorität der Frauen in Rom
auf etwa 600000 Einwohner (ohne die Sklaven)^. Die etwa
10000 Juden* repräsentierten also ihnen gegenüber etwa den
gewesen, und will nur etwa 5 Millionen gelten lassen. Einen durchschlagenden
Grund gegen .Josephus hat er nicht angeführt. Da er aber auch Philos
Nachricht, die ägyptische Judenschaft sei eine Million Seelen stark gewesen,
für übertrieben hält, so wird auch er gegen die Annahme, die Judenschaft
Ägyptens habe etwa 13% der Gesamtbevölkerung betragen, nichts ein-
wenden. Die Größe der Stadt Alexandrien schätzt Beloch (einschließlich
der Sklaven) auf etwa eine halbe Million. Unter ihnen werden gegen
200000 Juden gewesen sein, da die Judenschaft Alexandriens etwa zwei
Fünftel der Bevölkerung betrug.
^) Josephus, Bell. VII, 3, 3: Td 'lovöauov ysvog noli) (.liv xazh Tiäauv ti)v
olxov(i£Vt]v nagfOTTaiorai toiq sjiixroQioig, Jikeiarov de zfj 2vQin. Beloc h (S. 242 fl.,
507) schätzt die Bevölkerung Syriens z. Z. des Augustus auf etwa 6 Millionen,
z. Z. des Nero auf etwa 7 Millionen, die Antiochiens auf nahe 300000 freie
Einwohner (z. Z. des Augustus). Da der Prozentsatz der Juden in Syrien (und
speziell in Antiochien) größer war als der in Ägypten (etwa 13 "/o), so ist für
Syrien z. Z. Neros sicher mehr als eine Million Juden anzunehmen.
-) Ich setze dabei voraus, daß, wie liei jeder eingewanderten Be-
völkerung, die Zahl der Männer sehr viel größer gewesen ist als die der
Frauen, rechne zu den 4000 waffenfähigen Männern noch 2000 Knaben und
Greise männlichen Geschlechts und nehme ca. 4000 Personen weiblichen
Geschlechts an.
^) Vgl. Beloch S. 292 ff. Seine Zahl 500 000 scheint mir zu niedrig
gegriffen.
••) Renan („Antichrist", Deutsche .\usgabe S. 6) ist geneigt, die Zahl
der römischen Juden mit Frauen und Kindern auf 20 — 30000 zu veranschlagen.
Das Judentum, seine Verbreitung und Entschräukung. 7
()(). Teil der Bevölkerung^. Tibcriiis hat die CJewaltinaßregel, sie
auszuweisen, noch gewagt; (.laudius hat, dreißig Jahre später,
(his Experiment zu wiederholen versucht, aber nicht durchzuführen
verinocht.
Daß die Judenschaft in Rom nach der Zeit der großen Auf-
stände und Kriege unter Yespasian, Titus, Trajan und Hadrian
noch erheblicli gewachsen ist, ist schwerlich anzuuehmeu; demi
in vieleu Provinzen des Reichs waren die Juden dezimiert, und
das mußte einen Rückschlag auf die Judenschaft in Rom ausüben.
Bestimmtes ist jedoch nicht bekannt.
Betrug die Judenschaft in Ägypten etwa eine Million, in
Syrien noch etwas mehr; rechnet man auf Palästina etwa 700000
Juden — heute leben dort etwa 600[()5O]O0O Menschen; s. Ba-
de ck er s Palästina, 1900 S. LYJT — , so wird man jedenfalls
nicht zu hoch greifen, wenn man die Juden in allen übrigen
Gebieten (die kleinasiatischen, griechischen, die in der Cyrenaica,
ferner in Rom. Italien, Africa, Gallien und Spanien etc.) zusammen
auf etwa anderthalb Millionen anschlägt. Es ergiebt sich also
eine Gesamtsumme von etwa 4 — 4^/2 Millionen Juden. Eine sehr
auffallende und auf den ersten Blick alle Bevölkerungsberech-
nungen in Frage stellende Beobachtung ist es nun aber, daß -^
nach Bei och — die Bevölkerung im ganzen römischen Reich
zur Zeit des Todes des Augustus etwa 54 Millionen betragen
haben soll, und daß doch die Juden im Reich um diese Zeit nicht
unter 4— 4\'2 Millionen geschätzt werden können. Selbst wenn
man die Belochsche Ziffer auf 60 Millionen erhöht, wie können
die Juden T^'/o der ganzen Bevölkerung betragen haben? Ent-
weder ist unsere Berechmmg falsch — Irrtümer sind auf diesem
Gebiete fast unvermeidlich — oder die Propaganda des Juden-
tums ist in den Provinzen eine sehr starke gewesen; deiui aus
der Fruchtbarkeit der Juden allein erklärt sich die hohe Zahl
der Diaspora-Juden schlechterdings nicht. Man wird wohl an-
zunehmen haben, daß sehr zahlreiche „Heiden", besonders stamm-
verwandte Semiten niederen Standes scharenweise zur Religion
Jahvehs übergegangen sind^. Die Juden der Diaspora waren
nur teilweise wirkliche Juden. War aber das Judentum im Reich
wirklich so stark, daß es etwa 7 "jo der Bevölkerung zur Zeit des
') Mit den Peregrinen und Sklaven wird die Gesamtzahl auf etwa
8 — 900 000 zu veranschlagen sein (nach Beloch höchstens 800 000).
^) Seit dem Edikt des Pius, welches die Beschneidung von NichtJuden
aufs strengste verboten hatte (vgl. auch schon das Edikt Hadrians) , müssen
die förmlichen Übertritte aufgehört haben oder ganz selten geworden sein;
ef. Orig. c. Gels. II, 13.
3 Einleitung und Grundlegung.
Augustus umfaßte \ so begreift man erst seinen großen Einfluß
und seine soziale Bedeutung. Auch für das Verständnis der Pro-
paganda und Ausl)reitung des Christentums ist es wichtig zu
wissen, daß die Religion, unter deren „umbraculum" es in die
Welt liinaustrat, nicht nur intensiv sehr bedeutend war, sondern
auch extensiv einen beträchtlichen Bruchteil der Bevölkerung
ausmachte.
Unsere llbersicht wäre unvollständig, wenn wir nicht, sei es
auch nur in aller Kürze, auf die Art der Propaganda des Juden-
timis im Reich einen Blick würfen^; denn das Christentum hat
seinen Missionseifer mindestens zum Teil von dem Judentum ge-
erbt. Bei der J'ropaganda des Christentums werde ich überall,
wo die Mittel, welche gebraucht wurden, von den Juden über-
nommen sind, auf die jüdische Mission zurückkommen. Ich l)e-
schränke mich hier daher auf einige allgemeine Bemerkimgen.
Daß eine Religion, welche eine so starke Scheidewand
zwischen sicli und allen anderen Religionen aufrichtete und in
ihrer praktischen Darstellung und in ihren Verheißungen so innig
mit dem Volkstum verbunden war, in der Diaspora, einen so leb-
haften Missionstrieb besessen^ und so große Erfolge erzielt hat,
ist erstaunlich. Jjetztlich ist dies doch nicht aus Herrschsucht
und Ehrgeiz zu erklären, sondern ist ein Beweis, daß das
Judentum als Religion durch äußere Einflüsse und
innere Umbildung bereits entschränkt*, daß es ein Mittel-
ding zwischen einer Volksreligion und einer Weltreligion (Kon-
fession und Kirche) geworden war. Der Jude fühlte stolz, daß
er der Welt etwas zu sagen habe und etwas bringen müsse, was
die ganze Menschheit angehe — den eiueii geistigen Gott,
Schöpfer Himmels und der Erde, und sein heiliges
Sittengesetz — , und aus diesem Bewußtsein heraus (Rom. 2,
U*f.) em|)fand er die Missionsverpflichtung. Die jüdische Pro-
paganda im Reich war ])rimär die Verkündigung des
^) Im deutschen Reich beträgt die Anzahl der Juden zurzeit etwas mehr
als 1% der Bevölkerung, in (3steiTeich- Ungarn aber 4^/:{''/o.
i*) Mau vgl. hier die Darstellung «chürers, a. a. 0. IlT' S. 10211'.
^) Die Verpflichtung zur Mission und die Hoffnung auf .sie ist bereits
in den ältesten jüdischen Sibyllinen ausgesprochen, und fast die gesamte
alexandrinisch -jüdische Literatur hat apologetisch -propagandistische Tendenz.
*) Vgl. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestameutlichen
Zeitalter, 1903. S. besonders die Abschnitte (,S. 1:39— 1X4): „Die Theologen,
Die Kirche und die Laien. Die Frauen, Bekenntnis (Dogma, Glaube), Die
Synagoge als Heilsanstalt", ferner den großen .Abschnitt: „Der individuelle
Glaube und die Theologie". Wird eine Volksreligion zur Konfession und
Kirche, so tritt auch der individuelle Glaube und seine Spannung mit der
Kirche auf. Über die Propiiganda in der Heidenwelt s. S. 77 ff.
Das Judentum, seiue Verbreitung und Entschränlcung. 9
einen Gottes, seines Sittengesetzes und seines Gerichts;
alles übrige trat ihr gegenüber zurück. Mochte es auch in vielen
Fällen auf bloßen Seelenfang abgesehen sein (^Fatth. 23. 15): es
war dem Judentum doch Ernst damit, die stummen Götzen zu
stürzen und die Heiden zur Anerkennung des Schöpfers und
Richters zu bewegen: die Ehre des Gottes Israels war dabei
beteiligt.
Von hier aus ist eine Erscheinung zu beurteilen, welche
mißdeutet wird, wenn man sie aus scheinbaren Analogien er-
klärt — die verschiedenen Stufen und Formen des jüdischen
Proselytismus. In anderen Religionen stammen diese Differen-
zierungen in der Regel aus dem Bestreben, den Proselyten die
sittlichen Ansprüche, welche die Religion stellt, zu erleichtern.
Dieser Grund ist hier nicht, jedenfalls nicht allein, maßgebend
gewesen, vielmehr blieb die sittliche Forderung unverändert.
Entscheidend war. daß man die kultischen und zeremoniellen
Forderungen herabzusetzen vermochte, weil man die Aner-
kennung Gottes und seines Buchs für die Hauptsache
hielt. Die verschiedenen Arten des jüdischen Proselytismus
ergaben sich fast ausschließlich aus dem verschiedenen Maße der
Observation der gesetzlich-zeremoniellen Vorschriften. Erleichtert
wurde freilich diese schöne Weitherzigkeit durch die Tatsache,
daß Jude wurde, wer dieser Religion auch nur den kleinen Finger
gab ^. Aber auch das kommt andererseits in Betracht, daß selbst
der geborene Jude, sobald er den Boden Palästinas verlassen
hatte, eigentlich nur ein Proselyt war: deim nicht nm- der Opfer-
kultus fiel für ihn fort, sondern auch viele andere Gebote keimten
in der Fremde nicht oder doch nur sehr ungenügend beobachtet
werden^. Mit der inneren Neutralisierung. der der Opferkultus
im Judentimi bereits seit Menschenaltern allmählich — auch bei
den Pharisäern — verfiel, traf die historische Situation zusammen,
daß die bei weitem größere Hälfte der Anhänger dieser Religion
unter Bedingungen lebte, die sie dem Opferkultus längst entfremdet
hatten. Dies machte sie dann in der ganzen Peripherie ihres
geistigen Daseins für fremde Kultweisheit und Philosophien zu-
gänglich, und so entstanden die griechisch-jüdischen und die
persischen Mischformen, die freilich in einigen Erscheinungen
auch den Monotheismus in Frage stellten. Die Zerstörung des
Tempels durch die Römer zerstörte in AVahrheit nichts; sie kami
1) Und wurde er es nicht selbst, so wurde es der Sohn.
*j Eine böse Scheidewand blieb fi-eilieh immer die Beschueidung. Die
geboreneu Juden legten auf diese doch noch in der Regel das höchste Ge-
wicht, und die Heiden bequemten sich sehr ungern zu die.ser Operation.
10 Einleituug nntl Grundlegung.
wie ein organisches Ereignis in der Geschichte dieser lieligion
aufgefaßt werden. Die Frommen tauschten sich, w^enn sie die
Wege Gottes an diesem Punkte für unbegreiflich hielten.
im Reiche wußte man es längst nicht anders: die Juden
haben eine bildlose Gottesverehrung, und sie haben keine Tempel.
Mochte beides (als Atheismus) der rohen Masse noch anstößiger
und verächtlicher sein als die Beschneidung, das Sabbathgebot,
das Verbot des Schweinefleisches u. s. w. — auf weite Kreise
von Gebildeten machte es einen tiefen Eindruckt Die jüdische
Religion schien durch diese Züge, zusammen mit dem Monotheis-
mus — für ihn begann die Zeit reif zu w^erden- — , auf die Stufe
der Philosophie erhoben, und da sie doch Religion zugleich
war, stellte sie einen Typus geistig-geistlichen Lebens dar, der
allen verwandten Erscheinungen ül)erlegen war''. Es war im
Grunde nicht künstliche Mache, wenn ein Philo und Josephus
das Judentum als die philosophische Religion darstellten —
diese Art Apologetik entsprach der Sache, wie sie em])funden
werden mußte* — , und als die geoflPenbarte und zugleicli philo-
sophische Religion, ausgestattet mit „dem ältesten Buch der
Welt", hat das Judentum seine große Propaganda entfaltet"'.
^) Die starre Exklusivität freilich iu der Religion schreckte die Mehr-
zahl ab und rief die ehrlichste Entrüstung hervor; denn solche Exklusivität
v/ar etwas ganz Paradoxes und mußte als hartnäckige Inhumanität und
Frechheit empfunden werden. Der Antisemitismus tritt im römischen Reich
schon seit ca. 100 vor Christus deutlich hervor, wächst stetig im ersten Jahr-
hundert nach Christus und entladet sich in schrecklichen Verfolgungen.
-) Reif wurde sie auch für den Gedanken einer individuellen Vergeltung
im Jenseits als Exponent einer gesteigerten Wertung der individuellen Sitt-
lichkeit und der Beurteilung des Individuums nach dieser.
^) Die verwandten p]rscheinuugen sind vor allem die Schulen der idea-
listischen Popularphilosophie, s. Weudland, Philo und die stoisch-kynische
Diatribe, 1895.
*) Vgl. Friedländer, (resch. der jüdischen Apologetik als Vorgeschichte
des Christentums, 190o. In der Apologetik auf ihren Höhepunkten stellte
sich die jüdische Religion als die idealistische Philosophie dar, ruhend auf
Offenbarung (dem heiligen Buche), also als materialer ideologischer Rationalis-
Tous und formaler Suprarationalismus — die „befriedigendste" Religionsfonii,
zumal der Gottesbegriff eine Lebendigkeit, Präzision und Sicherheit behielt,
wie er sie in den verwandten Erscheinungen nicht besaß, und die uralten
„Weissagungen'^ in ihrer überwältigenden Zahl und Bestimmtheit jeden Zweifel
niederschlugen.
'■) „Als philosophische Religion zog das Judentum wohl einzelne Ge-
bildete an, aber als religiöse und soziale Gemeinschaft mit eigentümlichem
Leben die Volksmasse", wendet Axenfeld in der unten S. 15 zu nennenden
Abhandlung ein (S. '44). Allein als religiöse Gemeinschaft mit eigentümlichem
Leben machte sie eben einen philosophischen Eindruck — auch auf die Un-
gebildeten. Übrigens stimme ich Axenfeld bei, daß die Propaganda nicht
Das Judentum, seine Verbreitung und Entschränkujig. 1 1
Was Joseplms^ von den ZnKtändcn in Antiochicn erzählt: „Die
Juden zogen dort fortwährend eine große Menge Griechen zu
ihren Gottesdiensten heran und machten sie in gewissem Sinn zu
einem Bestandteil ihrer selbst" — gilt von der gesamten Mission
des Judentums 2. Die Zugehörigkeit zum Judentum seitens der
Griechen und Römer durchlief alle möglichen Grade der Stärke,
von der abergläubischen Aufnahme einiger Riten an bis zur vollen
[dentität. „Gottesfürchtige" Heiden wurde die Mehrzahl. Pro-
selysten, d. h. beschnittene Juden mit der Verpflichtung, das
ganze Gesetz zu halten, gewiß verhältnismäßig nur wenige ^.
Unerläßlicher als selbst die Beschneidung war für die Aufnahme
das Taufbad*.
Alles dies ist für die der jüdischen Mission nachfolgende
christliche von höchstem Relang gewesen, aber mindestens ebenso
belangreich für sie war die empfindliche Lücke, welche die
jüdische Missionspredigt ließ: ein wahrer Sohn Abrahams kann
doch der Nicht -Jude mindestens in der ersten Generation nicht
werden, sein Rang vor Gott bleibt ein untergeordneter, und
darum bleibt es auch zweifelhaft, in welchem Maße der Proselyt
— von den „Gottesfürchtigen" nicht zu reden — an den herr-
lichen Zukunftsverheißungen teilhaben wird. Die Religion, welche
diese Lücke ausfüllen wird, wird die jüdische Mission aus dem
Felde schlagen'. Und wenn sie vollends verkündigt, die Letzten
der literarischen Tätigkeit eiuzehier jüdischer Hellenisten, sondern der Assimi-
lationskraft ihrer religiös lebendigen, ihre Überzeugung mit der Strenge des
Lebens vertretenden, in der Gewinnung von Proselyten die Ehre Jahves, den
eigenen Vorteil und eine Befriedigung nationalen Stolze» erkennenden Ge-
meinden ihre Erfolge verdankt.
1) Bell. VII, 3, y.
'-) Die Intensität der jüdischen Propaganda im Reiche im 1. Jahrhundert —
„die Zeit, in welcher die christliche Predigt ihren Lauf begann, ist zugleich
die Zeit, in welcher die jüdische Propaganda den Höhepunkt ihres P]rfolgs
erreicht hatte" — zeigt sich auch am Eindringen der jüdischen Woche und
des Sabbaths in das Reich, 8. Schür er, Die siebentägige Woche im Gebrauch
der christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte , in der Ztschr. für NTliche
Wissensch. 1905 S. 40 ft". Viele Heiden feierten den Sabbath, wie jetzt Juden
den Sonntag feiern.
*) Wie sehr die Proselyten mit den geborenen Juden verschmolzen,
darüber s. Euseb., h. e. I, 7.
*) Nicht zu vergessen ist, daß es auch in der Diaspora an Exklusivität
und Fanatismus nicht gefehlt hat. Die erste Verfolgung der Christen ist
von Synagogen der Diaspora-Juden in Jerusalem in Szene gesetzt worden, und
der fanatische Saulus war Diaspora-Jude und Pharisäer.
^) Über die Abnahme und das Zurücktreten der jüdischen Mission im
Reiche nach der zweiten Zerstörung des Tempels sind m. W. zuverlässige
Untersuchungen noch nicht angestellt worden. Daiä auch das Judentum der
Diaspora spätestens seit dieser Zeit seine Verbindung mit dem Griechentum
j2 Einleitung und Grundlegung.
werden die Ersten werden, wenn sie die Freiheit vom „Gesetz"
für das Normale und Höhere erkHirt, die Beobachtung des
Zeremonialgesetzes aber — im günstigsten Fall — für das eben
noch zu Duldende, wird sie Tausende gewiimon, wo die frühere
Missionspredigt nur Hunderte gewannt Der Propaganda der
jüdischen Religion kam aber nicht nur ihr höherer innerer Wert
zu gut, sondern auch die großen sozialen und politischen Vorteile,
welche das Bekenntnis zu derselben brachte. Man vorgleiche,
was Schürer (a. a, O. IIP S. 56 — 90) über die innere Organi-
sation der jüdischen Gemeinden in der Diaspora, ferner über ihre
staatsrechtliche Stellung und bürgerliche „Gleichberechtigung" aus-
geführt hat 2, imd man wird finden, wie vorteilhaft es im römischen
lockert, um sie dann ganz aufzugeben — man vergleiche nur die Kette der
der LXX folgenden griechischen Bibelübersetzungen und ihr Ende — daß
die jüdisch-griechische Literatur plötzlich spärlich wird, um bald ganz auf-
zuhören, scheint mir eine sichere Tatsache. Aber ob hier nur die äußere
Zertrümmerung und innere Versteifung des Judentums in Betracht kommt —
warum aber versteifen sie sich in ihrem Gesetz? — , oder ob auch andere
Gründe, z. B. die wachsende Rivalität des Christentums, darüber wage ich
kein Urteil. Über die Alilehnung des Gi-iechentums seitens des palästinen-
sischen Judentums schon vor der ersten Zersörung des Tempels s. unten S. 15.
1) Eine bemerkenswerte weltgeschichtliche Parallele zu der Predigt
des Paulus im Verhältnis zur Judenpredigt ist die Verkündigung Luthers (im
Verhältnis zur katholischen Predigt), daß nicht der Mönch der wahrhaft
Vollkommene sei, sondern der im tätigen Beruf lebende Christ. Auch Luther
erklärte, daß die Letzten (die im Berufe Tätigen) die Ersten seien. — Die
im Texte gegebene Ausführung ist von Friedländer (Dr. Bloch's Oesterr.
Wochenschrift, Zentralorgan f. d. ges. Interessen des Judentums, 1902,
Nr. 49 f.) bestritten worden: die Proselyten seien den Vollblut- Juden ganz
gleichwertig zur Seite getreten. Allein Friedländer selbst schränkt in der
Ausführung diese liberale Stellung der Juden auf das Judentum der griechischen
Diaspora ein, führt sie auf den Hellenismus zurück und belegt sie lediglich
durch Philo (bez. noch durch Johannes der Täufer). Li dieser Einschränkung
— man beachte übrigens dabei, daß Philo in der Regel sagt, der jüdische
Geburtsadel nütze nichts, wenn man ein schlechter Mensch sei; der geborene
Heide sei dem gegenüber viel besser — ist nichts gegen die These einzu-
wenden. Ich selbst bin ja noch weiter gegangen: unzweifelhaft hat die im
Judentum der Diasjjora längst vor der Entstehung des Christentums geübte
AUegorisierung des Oeremonialgesetzes die gesetzesfreie Kirche aus den
Heiden direkt vorbereitet. Allein darum handelt es sich, (1) ob das strenge
palästinensische Judentum in seinem Geburtsdünkel durch diese Erweichungen
wesentlich lietroft'en worden ist. (2) ob es nicht auch auf das Judentum in
der Diaspora fort und fort starken Einfluß geübt hat, (3; ob das Judentum
in der Diasjjora wirklich auf alle Prärogativen der Geburt verzichtet hat.
Die l)eiden letzten Fragen nml.") ich verneinen (auch in Bezug auf Philo),
die ei'ste aber l>eiahen.
*) Auch in der Diaspora stellten sich die jüdischen Gemeinwesen als
kleine Staaten im Staate, bez. in der Stadt dar; mau denke nur an die
Civilgerichtsbarkeit. die sie ausübten, ja selbst in die Kriminalgerichtsbarkeit
Das Jiuleutiini, seine Verbreitung und Entsehrilnkung. ] ;}
Reiche war, zu einer jüdischen Gemeinde zu gehören. Spott und
Geringschätzung hatte man als Jude unter Umständen allerdings
zu ertragen, aber diese Unbill wnirde wett gemacht durch die
reichen Privilegien, die man als Anhänger dieser religio licita
genoß. Besaß man dazu noch ein städtisches Bürgerrecht — es
war nicht schwer zu erlangen — oder gar das römische, so war
man gesicherter und besser situiert, als die meisten anderen
Reichsangehörigen. Kein Wunder daher, daß in Zeiten der Ver-
folgung Christen zum Judentum abziifallen drohten ^, und daß die
Loslösung von den Synagogen auch wirtschaftlich tief in die
Verhältnisse der geborenen Juden, die Christen wurden, eingrifft
Schließlich noch eine Beobachtimg: alle auf den Wegen des
Verkehrs und Handels importierten Religionen sind zimächst
Städtereligionen und bleiben es eine geraume Zeit. Daß das
Judentum in der Diaspora durchweg Städtereligion war, läßt sich
nicht behaupten und ist auch für einige große Provinzen wider-
legt, in der Hauptsache aber ist es Städtereligion geblieben: von
Juden auf dem Lande wissen wir w^enig.
Solange der Tempel stand, bildete er und die Abgaben, die
man an ihn entrichtete, ein Band, welches die Juden der Diaspora
mit Palästina verband''. Später trat eine rabbinische Behörde an
die Stelle des jerusalemischen Priesterkollegiums, und sie verstand
es, die Abgaben weiter zu erheben und zu nützen. An der Spitze
jener Behörde stand der Patriarch; eingesammelt wurden die
griffen sie über. Für Palästina besitzen wir noch aus dem 3. Jahrhundert
den Berieht des Origenes (ep. ad Afrie. 14) über die Macht des f]thnarchen
(= Patriarchen), die eine so große sei, „daß er sich in nichts von dem Könige
unterscheide"; „es finden auch heimlich Gerichtsverhandlungen statt nach
dem Gesetz, und manche werden zum Tode verurteilt, nicht mit Ermächti-
gung, aber auch nicht so, daß es dem Herrscher verborgen wäre." Ähnliches
wird auch sonst in der Diaspora geschehen sein. Die Zeit des Hadrian und
Pius brachte zwar einen furchtbaren Rückschlag; aber später ist das früher
Gewonnene teilweise wieder zurückerobert worden.
') Doch sind die Zeugnisse dafür nicht zahlreich.
-) Durch ihre religiöse und nationale Eigenart sowie durch die recht-
liche Anerkennung, welche dieselbe im Reiche genoß, hoben sich die Juden
aufs kräftigste von allen Völkern, welche der römische Staat umschloß, ab.
Dies tritt am schlagendsten darin hervor, daß sie sogar als „das zweite Ge-
schlecht" bezeichnet worden sind. Wir werden unten nachweisen, daß die
Christen deshalb das dritte Geschlecht genannt worden sind, weil die Juden
als das zweite galten.
') Dazu kamen Boten und Briefe, die den Zusammenhang der jüdischen
„Heidenkirche" mit Jerusalem aufrecht erhielten; ein gutes Beispiel findet
sich am Schluß der Apostelgeschichte.
)4 Einleitung und Grundlegung.
Gelder durch „Apoistel''. welche er aussandte '^. Diese „Apostel"
scheinen aber auch noch andere Pflichten gehabt zu haben (s. dar-
über später).
Die christliche Mission verdankt der ilir vorangegangenen
jüdischen erstens ein im ganzen Reiche bestelltes Feld, ferner
überall in den Städten schon formierte religiöse Gemeinden, weiter
ein vorbereitetes „Gehülfenmaterial" (Axenfeld), die alttestament-
lichen Vorkenntnisse, dazu ein katechetisches und liturgisches
Material, welches mit wenigen Veränderungen benutzt werden
konnte, ferner die Gewöhnung an regelmäßige Gottesdienste vmd
an eine Kontrolle des privaten Lebens, weiter eine eindrucksvolle
Apologetik für den Monotheismus, die historische Teleologie und
die Ethik, endlich das Gefühl der Verpflichtung zur „Selbst-
ausbreitung". Das ist soviel, daß man wohl sagen darf, die christ-
liche Mission ist eine Fortsetzung der jüdischen Propaganda. „Eine
Generation von Fanatikern hat das Judentum seines Lohnes be-
raubt und es verhindert, die Ernte, die es bereitet hatte, ein-
zusammeln" (Renan).
Inwiefern andrerseits dtis Judentum für das Evangelium vor-
bereitet war, mag man an dem Synkretismus ermessen, zu dem
es sich nicht nur auf Nebenlinien entwickelt hatte. Die Um-
wandlung einer Volksreligion zu einer Weltreligion kann auf
dop})elte Weise geschehen: durch Reduktion auf große Haui)t-
punkte oder durch Aufnahme einer Fülle neuer Elemente aus
anderen Religionen. Beides ist im Judentum gleichzeitig ein-
getreten -. Aber die wichtigste Vorbereitung ist die Reduktion,
und sie ist vor allem jener großen Szene zu entnehmen, die uns
Marcus (12, 28 — IM) aufbewahrt hat — das in seiner Einfachheit
größte religionsgeschichtliche Denkmal, welches wir aus der Zeit
der Religionswende besitzen'^:
„Ein Schriftgolehrter fragte Jesum: Welches ist das erste
von allen Geboten? Jesus antwortete: Das erste ist: „Höre Israel,
1) Über den „Patriarchen" a. Schürer 111^ >S. 77f. Daß der , Patriarch"
sich auch persönlicli in die Diaspora begeben hat, ist für Ägypten durch
Vojnsc. Saturn. 8 l)ezengt. — Ülior die „Apostel" s. Buch III Kapitel 1 sub
Abschnitt 2.
'^) Über den ,.Synkretismus" s. vor allem das letzte Kapitel iuBoussets
Werk S. 448 — 493. Der Synkretismus hat in der jüdischen Religion jeden
ihrer illteren Bestandteile erweicht und eine Fülle ganz neuer Elemente ein-
geführt. Aber der Aiispruch, die allein wahre Religion zu sein, und die
Überzeugung, in „Moses" alles zu besitzen, ist nicht erweicht woi-den.
■^) Man vergleiche dazu als nächste Stufe die dem Paulus beigelegte
Missionsrede auf dem Areopag.
Das Judentiun. seine Ver1)reitung und Entschränkuno-. | 5
der lloiT unser Oott ist ein einiger Gott, und du sollst lieben den
Herrn deinen Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele und
von ganzem Gemüt und mit aller deiner Kraft": das zweite ist:
,,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst": ein größeres
Gebot als dieses gibt es nicht. Und es sprach zu ihm der Schritt-
gelehrte: So isfs, o Lehrer: richtig hast du gesagt, daß Er ein
einiger ist und kein anderer außer ihm, und das ihn Lieben von
ganzem Herzen und mit ganzem Sinn und mit ganzer Kraft und
das Lieben des Nächsten wie sich selber ist viel mehr wert als
alle Ganz- und Schlachtopfer. Und Jesus, da er sähe, daß er
verständig geantwortet hatte, sprach zu ihm: Du bist nicht weit
vom Reiche Gottes."
Zusatz: Was die Stellung des palästinensischen dudcn-
tums zum Missionsgedanken (Universalismus und Pflicht syste-
matischer Propaganda) betrifft, so liegen die Dinge im Zeitalter
Christi und der Apostel so, daß man Pro und Contra zu plädieren
vermag (s. Bertholet, die Stellung der Israeliten und Juden zu
den Fremden, lSi)(): Schürer, a.a.O. IH S. 125 ff.; Bousset,
a.a.O. S. S2flF.: Axenfeld, die jüdische Propaganda als Vor-
läuferin der urchristlichen Mission in den „Missionswiss. Studien",
Festschrift f. War neck, 19(14. S. I 80). Vor jener Epoche
lagen nämlich zwei in ihren Tendenzen grundverschiedene Zeit-
alter. Das ältere, auf Deutero- Jesaias fußende brachte den
Universalismns der jüdischen Religion und eine fast bis zur Huma-
nität gesteigerte religiöse Ethik auch in Palästina stark zum Aus-
druck. Es spiegelt sich in zahlreichen Psalmen, im Jonasbuch
und in der Spruchweisheit. Die Frommen sind sich bewußt, daß
Jahveh über die Völker und über alle Menschenkinder herrscht,
daß er der Gott jedes Einzelnen ist und daß er nichts anderes
als Gottesfurcht verlangt. Eben deshalb hoffen sie auf die end-
gültige Bekehrung aller Heiden, fordern Völker und Könige auf,
sich vor Jahveh niederzuwerfen und ihn zu loben, und verlangen,
daß Jahvehs Name überall in der fEeidenwelt verkündigt und seine
Herrschaft (im Sinne der Bekehrung zu ihm) ausgebreitet werde.
Aber mit der Zeit der Maccabäer setzt die Tendenz auf Absperrung
ein. Die Apokalyptik richtet ihr Auge stärker auf die Unter-
werfung der Heidenvölker als auf ihre Bekehrung; die exklusiven
Tendenzen beginnen wieder deutlicher (zum Schutze der Eigenart
des Volkes) hervorzutreten. „Es ist eine der wichtigsten Folgen
der Gewalttat des Antiochus, daß seitdem eine bedingungslose
Entschränkung des Judentums für alle Zeit diskreditiert und ein
Philhellenentum im Sinne des Jason und Alcimus für Heimat
wie Diaspora unmöglich ist oder wenigstens, falls es sich zeigen
will, scharfe Korrektur erfährt" (Axenfeld, S. 28). Nun wogen
Iß Einleitung und Grundlegung.
im Zeitalter Christi und der Apostel die vorwärtstreibenden Kräfte
und die nationalen, retardierenden durcheinander. Selbst der
Pharisäismus erscheint gespalten. In einigen Psalmen und Lehr-
büchern sowie in der 13. Beracha des Schmone Esre tritt der
Universalismus noch bestimmt hervor, und „der berühmteste Träger
der jüdischen Schriftgelehrsamkeit, Hillel, und seine Schüler haben
die Propaganda ganz besonders gepflegt. „Liebe die Geschöpfe
und leite sie zum Gesetz", ist einer der von ihm überlieferten
Kernsprüche (Pirke Aboth I, 12)." Auch Gamaliel, der Lehrer
des Paulus, ist auf die Seite der Propagandisten zu stellen. Es
war übrigens nicht unmöglich, exklusiv und propagandistisch zu-
gleich zu sein: man verschärfte die Bedingungen der Mission bis
zur Zumutung, das ganze Gesetz zu halten. Irre ich nicht, so
stand Jesus vornehmlich dieser Art Pharisäismus in Jerusalem
gegenüber. Je mehr sich nun in Palästina der Gegensatz zu der
Fremdherrschaft zuspitzte und die große Katastrophe näher kam,
desto mehr wuchs die Abneigung gegen Alles, was fremd war,
und die Vorstellung, daß alles Nicht- Jüdische im Gericht unter-
gehen Averde. Wahrscheinlich kurz vor der Zerstörung des Tempels
endete die Kontroverse zwischen den Schulen Hillels und Schammais
auf einem vollen Siege des letzteren, der zwar kein prinzipieller
Gegner der Mission war. sie aber unter die härtesten Bedingungen
stellte. Die 18 Maßregeln, die angenommen wurden, enthielten
u. a. die Verbote, das Griechische zu erlernen und Gaben für den
Tempel von Heiden anzunehmen. Der Verkehr mit den Heiden
wurde unter die schärfsten Gesetze gestellt und sollte überhaupt
aufhören. Damit ist das Judentum der Mischna und des Talmud
vorbereitet. Das Judentum der Diaspora folgte dieser Entwicklung,
wenn auch nicht sofort.
•) Sehr richtig bemerkt Axeufeld (a.a.O. S. 8f.): .,Aus der stetigen
Spannung zAvischen dem Anspruch auf Anschluß der Heiden und der Angst
vor ihm erklärt sich die Geschichte der jüdischen Propaganda. Es gleicht
das propagandatreiheude Judentum einer Eroberungsarmee, deren Ofteusive
durch die Rücksicht auf die Verbindung mit der Operationsbasis beständig
gehemmt wird." Aber eine künstliche, theologische Reflexion scheint es mir
zu sein, wenn derselbe Gelehrte den höchsten Wert darauf legt, daß die
jüdische Propaganda kein „Sendungsbewußtsein" gehabt habe, sondern —
im Unterschied von der christlichen — lediglich in dem Bewußtsein eigener
religiösen Überlegenheit, ohne Demut imd ohne Gehorsam, im Eifer ihren
Gott verkündigt habe. Vergeblich habe ich mich bemüht, dieser These, die
letztlich der Verteidigung der Historizität von Matth. 28, 19 dient, auch nur
eine particula veri abzugewinnen. Daß dem christlichen Missionseifer später
der Glaube an einen direkten Befehl Jesu besonderen Nachdruck geben
mußte, ist natürlich nicht zweifelhaft.
Äußere Bedingungeu f. d. univ. Ausbreitung d. ebristl. Religion. 17
Zweites Kapitel.
Äußere Bedingungen für die universale Ausbreitung
der christlichen Religion.
Nur gleichsam in Überschriften möchte ich angeben, welche
äußere Bedingungen die schnelle und weite Ausbreitung der christ-
lichen Religion in der Kaiserzeit ermöglicht oder befördert haben.
Eine der wichtigsten ist im vorigen Abschnitt bereits genannt,
die Ausbreitung des Judentums, welche der des Christentums
vorangegangen ist und ihr den Weg bereitet hat. Neben ihr
kommen vor allem folgende Momente in Betracht^:
(l) Die seit den Tagen Alexanders des Großen erfolgte und
sich immer noch fortsetzende Hellenisierung des Orients und
z. T. auch des Occidents, bezw. die relative Einheitlichkeit
in Bezug auf Sprsiche und Anschauungen, welche durch sie
geschaffen w^irde. Diese fortschreitende Hellenisierung scheint sich
erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung er-
schöpft zu haben ^, erlebte aber im 4. Jahrhundert durch die Ver-
legung der Residenz des Reichs in den Osten auf wichtigen Linien
noch eine nachträgliche Verstärkung. Da sich das Christentum
sehr schnell mit der Sprache und dem Geist des Hellenismus,
wenn auch nicht vollständig, zusammenschloß, so konnte es einen
nicht geringen Teil der Erfolge desselben für sich benutzen. Als
'■) Die Zahl der Werke, aus denen man hier Belehrung schöpfen kann,
ist Legion. Eines der neuesten ist Gruppe, Kulturgeschichte der römischen
Kaiserzeit, 2 Bde, 1908. 1904.
-) Untersuchungen darüber, wann in Rom und im Westen die Fort-
schritte des Hellenismus, vor allem der griechischen Sprache, abnehmen und
aufhören, sind mir nicht bekannt. Nach meiner beschränkten Kenntnis der
Dinge würde ich das Ende des zweiten Jahrhunderts als Grenze setzen. Noch
Marc Aurel hat seine Bekenntnisse griechisch geschrieben. Ahnlich Sym-
ptomatisches wird man später nicht mehr finden. Die sinkende Bildung, aber
wohl auch die Natur der Dinge — die sich verbreitende Flutwelle wird
immer seichter — , hat dem Griechischen im Abendland ein Ziel gesetzt.
Im dritten Jahrhundert fängt Rom an, das Griechische auszuscheiden; im
Laufe des vierten Jahrhunderts wird es wieder eine rein lateinische Stadt.
Was von Rom gilt, gilt auch von den Provinzen des Westens, sofern sie das
griechische Element aufgenommen hatten, selbst von Süditalien und Gallien,
obgleich hier der Prozeß länger dauerte. Im zweiten Jahrhundert hat man
sich wahrscheinlich noch in jeder größeren Stadt des Westens mit Hülfe des
Griechischen verständlich machen können; im dritten Jahrhundert wird der
Fremdling, der nicht Latein verstand, dort bereits manchmal, wenn auch
selten, auf Schwierigkeiten gestoßen sein, im vierten konnte der im Westen
Reisende des Lateins gewiß nicht mehr entraten: nur in Südgallien und Unter-
italien genügte sein Griechisch.
Harnack, Mission. 2. Aufl. 2
jg Einleitung und Grundlegung.
Dank dafür hat es an seinem Teile die Fortschritte des Hellenis-
mns befördert nnd seinen Rückzug aufgehalten.
(2) Die römische "Weltmonarchie und die in ihr voll-
zou-ene politische Einheit der Völker an den Küsten des Mittel-
meeres; die in dem Weltstaat vollzogene relative Einheitlichkeit
der äußeren Lebens-Ordnungen und -Bedingungen, und die relative
Sicherheit des gemeinschaftlichen Lebens. In vielen Provinzen
des Orients (>nipfand man nach entsetzlichen Stürmen und Kriegen
den Kaiser wirklich als den Frieden und begrüßte sein Gresetz
als Schutz und Schirmt Die Tatsache der irdischen Welt-
monarchie mit ihrem Kaiser-Gott beförderte aber auch die Vor-
stellung von der urbildlichen himmlischen Monarchie und
schuf zugleich die Bedingung für die Entstehung einer katho-
lischen d. h. universalen Kirche.
(3) Der außerordentlich erleichterte, gesteigerte und gesicherte
Weltverkehr^, die vorzüglichen Straßen, die Bevölkerungs-
mischung^, der Austausch der Güter und Ideen, der persönliche
Austausch, der allgegenwärtige Kaufmanii und der allgegenwärtige
Soldat, man darf hinzufügen der allgegenwärtige Professor, der
in Antiochia wie in Cadix, in Alexandria wie in BordeaiLx zu
finden war. Die Kirche fand also die Wege für die Verbreitung
*) Origenes (c. Celss. II, 30) hat nach dem Vorgang des Melito die Be-
deutung dieses Tatbestandes für die Mission richtig beurteilt; „In Jesu
Tagen ging die Gerechtigkeit auf und die Fülle des Friedens ; sie begann
mit seiner Geburt. Gott bereitete die Völker auf seine Lehre vor und
machte, daß der römische Kaiser die ganze Welt beherrschte ; es sollte nicht
mehrere Reiche geben , sonst wären ja die Völker einander fremd geblieben
und der Vollzug des Auftrags Jesu: „Gehet hin und lehret alle Völker", den
er den Aposteln gab, schwieriger gewesen. Es ist bekannt , das die Geburt
Jesu unter der Regierung des Augustus erfolgte, der die meisten Völker zu
einem einzigen Reich zusammengebracht und vereinigt hatte. Das Vorhanden-
sein mehrerer Reiche wäre für die Verbreitung der Lehre Jesu über die
ganze Erde hinderlich gewesen, nicht bloß wegen der bereits genannten Ur-
sachen , sondern auch deshalb , weil die Völker dann gezwungen gewesen
wären, Krieg zu führen und das Vaterland zu verteidigen. . . . Wie hätte da
diese friedliche Lehre, die nicht einmal gestattet, an seinen Feinden Ver-
geltung zu üben, durchdringen und Annahme finden können, wenn nicht bei
der Ankunft Jesu die weltlichen Verhältnisse allerorts eine ruhigere Gestaltung
erhalten hätten V"
^) Vgl. Stephan in Raumers Histor. Taschenbuch 1868 S. 1 tf. Zahn,
Weltverkehr und Kirche während der drei ersten Jahrhunderte (1877). Die
Tatsache, das nach einer Grabinschrift ein phrygischer Kaufmann die Reise
nach Rom zweiundsicbzigmal gemacht hat, verdient immer wieder genannt
zu werden.
') Wo nur immer Inschriften die Namen einer größeren Menge l)ieten
und dabei die Herkunft verzeichnen — Soldaten, Pagen, Märtyrer usw. — ,
erregt die Vülkermischung Erstaunen.
Äußere Bedingungen f. d. uuiv. Ausbreitung d. christl. Religion. | 9
geebnet, die Mittel parat und die Bevölkerung in den großen
Städten so bunt und gesehichtlos, wie sie sie brauchte.
(4) Die durch die Tatsaciie des orbis Romanus einerseits,
durch die philosophische Entwickelung andererseits erzeugte oder
doch verstärkte praktische und theoretische Überzeugung von
der wesentlichen Einheit des Menschengeschlechts, de»
Menschenrechten und Menschenpflichten, welche durch die wahr-
haft erleuchtete römische Gesetzgebung — besonders in der Zeit
von Nerva bis Alexander Severus — befestigt wurde. Die größte
und dauerhafteste Hervorbringung des Kaiserreichs, das römische
Recht, brauchte in wesentlichen Punkten von der Kirche nicht
negiert zu werden, sondern wurde vielmehr von ihr bejahte
(5) Die Dekomposition und Demokratisierung der
alten Gesellschaft, der allmähliche Ausgleich zwischen den
cives Romani und den Provinzialen, den Griechen und den Bar-
baren, der relative Ausgleich der Stände, die Hebung des Sklaven-
standes — also ein durch Zersetzung für Neubildungen bereiteter
Boden.
(6) Die römische R eligionspoli tik, welche durch ihre
Toleranz den Austausch der Religionen beförderte und ihrer
natürlichen Geschichte — Wachstum, Umbildung oder Absterben —
Schwierigkeiten kaum bereitete, wenn sie auch die tatsächliche
Verachtung der Zeremonien des Staatskultus nicht duldete. Das
schwere Hemmnis, welches die Aufrechterhaltung des Staatskultus
der Ausbreitung der christlichen Religion in den Weg legte, wurde
durch die Freiheit, welche die Religionspolitik sonst gewährte,
reichlich aufgewogen.
(7) Das Vereinswesen, sowie auch die kommunalen und
provinzialen Organisationen. Jenes hat in mancher Hinsicht
den Boden für die Aufnahme des Christentums bereiten helfen
1) Hier (zu Punkt 1—4) möge die berühmte Zusammenfassung Renans
stehen („Die Apostel", Deutsche Ausgabe S. 296f.): „Die Einheit des Reichs
war notwendige Vorbedingung jedes umfassenden Proselytismus, welcher sich
über die Schranken der Nationalität erheben wollte. Im 4. Jahrhundert ward
das Reich sich dessen bewußt; es wurde christlich; es erkannte im Christen-
tum die Religion, die es wider seinen Willen großgezogen, die Religion, deren
Grenzen durch die seinigen bestimmt wurden, die Eins mit ihm war und
fähig, ihm ein zweites Leben zu verschaffen. Die Kirche ihrerseits gestaltete
sich zu einer durchaus römischen und ist bis auf unsere Tage gleichsam ein
Überrest des alten Römerreichs geblieben. Hätte man zu Paulus gesagt,
Claudius sei sein wirksamster Mitarbeiter, und hätte man zu Claudius gesagt,
dieser von Antiochia aufbrechende Jude schicke sich an, den Grund zu dem
dauerhaftesten Teil des kaiserlichen Gebäudes zu legen, der eine wie der
andere würde im höchsten Grad erstaunt gewesen sein. Und doch hätte
man damit die Wahrheit gesagt.'"
2*
20 Einleitung und Gnmdlegung.
und hat in einigen Fällen vielleicht als Schutz für dasselbe ge-
dient; diese sind für die wichtigsten kirchlichen Organisationen
geradezu vorbildlich geworden und haben den Gemeinden die
schwere Arbeit, sich Organisationen erst erdenken und sie emp-
fehlen zu müssen, erspart.
(8) Das Eindringen der syrischen und persischen
Religionen in das Reich, namentlich von der Zeit des Pius an,
Religionen, die gewisse Züge mit dem Christentum gemeinsam
hatten. Was sie der Kirche an Zuwachs zunächst entzogen, er-
setzten sie reichlich durch die neuen religiösen Bedürfnisse, die
sie in den Gemütern erzeugten, Bedürfnisse, deren Befriedigung
letzlich der Rezeption des Christentums zugute kommen mußte.
(9) Der durch die Demokratisierung der Gesellschaft und
die gleichzeitige Popularisierung der Wissenschaft sowie durch
unbekannte Gründe eingetretene Verfall der exakten AVis-
senschaften und das steigende Ansehen einer nach Offen-
barungen suchenden und Wunder begehrenden, mysti-
schen R e I i g i o n s p h i 1 o s o p h i e .
Alle diese äußeren Bedingungen zusammen — die letzteren
beiden können bereits zu den inneren gerechnet werden — haben
einen großen Umschwung in dem ganzen Dasein der Menschen
in der Kaiserzeit herbeigeführt, einen Umschwung, der der Aus-
breitung der christlichen Religion sehr förderlich sein mußte. Die
enge Welt war weit, die gespaltene einheitlich, die barbarische
griechisch und römisch geworden. Ein Imperium, eine Welt-
sprache, eine Kultur, eine gemeinsame Entwickelung zum Mono-
theismus uiul eine gemeinsame Sehnsucht nach Heilanden^!
') Sehr richtig sagt Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in der
alten Kirche (1882) S. 37: „Seit der Kaiserzeit machte sich eine andere
Strömung bemerkbar. Man versteht die ersten Jahrhunderte der christlichen
Kirche nicht, man versteht namentlich ihre schnelle Ausbreitung nicht, und
daß sie verhältnismäßig schnell zum Siege kam. wenn mau diese Strömung
nicht beachtet. . . . Wäre die von Christo ausgehende neue Lebensströmung
mit dem noch ganz ungebrochenen antiken Leben zusammengetroffen, so
würde sie an diesem Felsen wirkungslos zurückgeprallt sein. Nun ist aber
das antike Leben schon in der Zerbröckelung begi'iffen, die starren Grund-
sätze desselben fangen schon an, sich zu erweichen, ja es kommt der christ-
lichen Strömung .schon eine ihr verwandte im Judentum entgegen. Im römi-
schen Reiche hat sich ein der antiken Welt unbekannter Universalisnnis
angebahnt, die Nationalitäten sind aufgerieben, das allgemeine Menschentum
ringt sich aus der Hülle der Nationalität los; den Stoikern ist der (iedanke
aufgegangen, daß alle Menschen gleich sind, sie reden von Brüderlichkeit
und den Pflichten des Menschen gegen andere Menschen. Die bis dahin
ganz verachteten niederen Stände gewinnen Raum. Die Behandlung der
Sklaven wird milder. Hat sie Cato zu den Ochsen auf die Streu verwiesen,
so sieht Plinius in ihnen seine .dienenden Freunde". Der Handwerkerstand
Innere Bedingungen f. d. univ. Ausbreitung d. christl. Religion. 21
Drittes Kapitel.
Innere Bedingungen für die universale Ausbreitung der
christlichen Religion (der religiöse Synkretismus).
Eine Reihe wichtiger innerer ]>ediny'ungen für die universale
Ausbreitung der christlichen Religion wird in späteren Abschnitten
zur Sprache kommen: daß das Christentum Predigt für die Armen,
für die Beladenen, für die Ausgestoßenen war, daß es Liebe
predigte und Liebe übte, das verwandelte felsiges und dürres
Erdreich in fruchtbares Ackerfeld für die Kirche. Wo keine
andere Religion säen und ernten konnte, da vermochte diese
Religion ihren Samen zu streuen und Frucht zu schaffen.
Die entscheidendste Vorbedingung aber für die Propaganda
der Religion lag in den religiösen Gesamtzuständen der Kaiser-
zeit, Es ist unmöglich, hier den Versuch zu machen, Bilder von
diesen Zuständen zu entwerfen. Man kann auch nicht auf ein
klassisches Werk verweisen, welches der ungeheueren Aufgabe
wirklich gerecht geworden ist, so ausgezeichnete Untersuchungen
und Schilderungen wir besitzen. Ich erinnere an die Werke von
Tzchirner, Friedländer, Boissier, Reville und WissowaK
Unter solchen Umständen müssen wir uns begnügen, einige An-
deutungen in Bezug auf zwei Hauptlinien zu geben.
(1) Trotz der inneren Entwickelung des Polytheismus zum
Monotheismus bezeichnet der Gregensatz zwischen beiden das Ver-
hältnis von Christentum und Heidentum, und zwar kommt der
Polytheismus in erster Linie als politische Religion (Kaiserkultus)
in Betracht. Von hier aus sind Christentum und Heidentum
einfach Antipoden: jenes verbrennt, was dieses anbetet, und dieses
verbrennt die Christen als Hochverräter. Die christlichen Apolo-
geten und Märtyrer haben ganz recht, wenn sie häufig in ihren
Reden alles auf diesen einfachen Gegensatz zurückführen und von
anderem schweigen.
hebt sich, die Freigelassenen arbeiten sich empor. Die Kollegien bieten
ihnen nicht bloß eine Stätte geselligen Lebens, sondern auch eine Förderung
ihrer sozialen Stellung. Die Frauen, bisher rechtlos, bekommen in wach-
sendem Maße Rechte. Man nimmt sich der Kinder an. Die anfangs rein
politische Institution der Getreidespendeu wird zu einer Art Armenpflege.
Immer häufiger liegegnen uns Akte der Liberalität, Schenkungen, Stiftungen,
die schon mehr humanen Charakter tragen" usw.
') Vgl. auch den Abriß der Geschichte der griechischen Religion von
Wilamowitz-Moellendorff (Jahrb. des Freien deutschen Hochstifts, 1904).
22 Einleitung und C4rundlegung.
Das Judentum teilte mit dem Christentum diese Stellung zum
Polytheismus, aber (1) es war eine nationale Religion, und
daher wurde sein Monotheismus in weiten Ki'eisen gar nicht ver-
standen und somit geduldet, (2) es vermied in der Regel den
Konflikt mit der Staatsgewalt und verpflichtete nicht zum Mar-
tj'rium. Die Bedingung, man müsse Jude werden, um Monotheist
zu sein, war Ja auch unverständig; sie setzte den Schöpfer Himmels
und der Erde zu einem Nationalgott herab. War er aber ein
Nationalgott, so war er nicht der einzige. Man munkelte wohl
auch im Reiche vom jüdischen Atheismus, weil die Bilder fehlten;
aber rechten Ernst hat man mit diesem Vorwurf hier nicht
gemacht oder vielmehr, man schwankte in der Beurteilung hin
und her, und die politische Konsequenz dieses Schwankens war:
in dubio pro reo.
Anders stand es mit dem Christentum; die Göttergläubigen
konnten hier nicht zweifelhaft sein: verlassen von der Unterlage
einer Nation und eines Staates, ohne Bilder und ohne Tempel,
war es Atheismus. Der Gegensatz zwischen Polytheismus und
Monotheismus war hier reinlich imd schroff. Der Kampf zwischen
den beiden Religionsformen ist seit dem zweiten Jahrhundert
vom Christentum und nicht vom Judentum geführt worden. Jenes
war aggressiv; dieses hat im Grunde überhaupt nicht mehr ge-
kämpft, sondern es hat Proselyten gefangen.
Aber der Kampf war von Anfang an kein aussichtsloser.
Zwar war der Polytheismus des Staatskultus längst noch nicht
entwurzelt, als das Christentum auf den Plan trat^; aber es
waren Mächte genug vorhanden, die bereits an seinem Sturze
arbeiteten. Die kritische Epoche, da sich die Republik in die
Dyarehie und Monarchie verwandelte, hat er noch überstanden,
aber die Fülle der neu auf ihn eindringenden und ihn zersetzenden
Religionen hat er mit dem Zauberstab des Kaiserkults nicht un-
schädlich machen, mit dem Strahle des alles durchdringenden,
proteusartigen Sonnenkults nicht zerteilen können. Doch — es
wäre ihm wohl noch ein langes Leben beschieden gewesen, wären
die Welterkenntnis, die Philosophie, die Ethik nicht seine offenen
oder geheimen Gegner geworden, und wäre er nicht mit Mytho-
logien von lächerlicher und empörender Rückständigkeit belastet
gewesen. Staatsmänner, Dichter und Philosophen konnten sich
darüber hinwegsetzen — jede dieser Gruppen fand einen Weg,
auf dem sie den Kontakt mit der Vergangenheit zu wahren ver-
mochte — , aber das „Volk", einmal aufmerksam geworden oder
') Selbst erfolgreiche Restaurationen haben nicht gefehlt; s. die An-
deutungen sub 2) in diesem Abschnitt.
Innere Bedingungen f. d. univ, Ausbreitung d. christl. Religion. 23
aufmerksam gemaclit, ziclit in solchen Fällen die rücksichtslose
Konsequenz. Für weite Kreise ist der Kampf gegen die befiederten
und beschn])pton, die ehebrechorischen und mit Lastern behafteten
Gottheiten mid wiederum gegen die Götzen von Holz und Stein
der eindrucksvollste und wirksamste Bestandteil in der christlichen
Predigt gewesen. Weite Kreise bis in die unteren Volks-
schichten hinein — ja hier sind sie hauptsächlich zu suchen —
waren (hu'ch innere und äußere Erfahrungen eben jetzt so weit,
daß die Hammenden Worte gegen den Greul des Götzendienstes
sie packen und zum Monotheismus führen mußten. Die Lage, in
der sich der Polytheismus als Staatsi-eligion befand, war der
Propaganda des Christentums günstig. Religion stand gegen
Religion, aber die eine war neu und lebendig, die andere war
— abgesehen von dem Kaiserknlt, in welchem sie noch einmal
ihre ganze Stärke zusammenfaßte — alt, und niemand vermochte
zu sagen, was eigentlich aus ilir geworden war. War sie nichts
als politische Legalität, oder war sie die vielfach verschlungene,
unübersehbare Menge der religiones licitae im Reiche?
(2) Doch hiermit ist nur die eine Seite der Sache berührt.
Die religiösen Zustände, Strebungen und Bildungen waren in der
Kaiserzeit kompliziert. So wichtig die einfachen Gegensätze
„Monotheismus gegen Polytheismus", „strenge Sittlichkeit gegen
Laxheit und Laster" waren, so unmöglich ist es doch, die innere
Lage mit diesen Gegensätzen zu umspannen. Weder ist der Zustand
im Reiche durch das Wort „Polytheismus" genügend bezeichnet,
noch ist das Christentum, wie es verkündigt wurde, Monotheismus
schlechthin, noch standen sich Tugend und Laster einfach gegen-
über. Wir müssen hier etwas ausholen.
AVer den Prinzipat des Innenlebens über der äußeren Empirie
und über dem Staatlichen für Illusion und Verderbnis hält, muß die
Zersetzung der Antike bereits von Sokrates und Plpto ab datieren. / ^
Hier scheiden sich die Geister! Wer aber die Entwickelung jenes
Prinzipats für den höchsten Fortschritt hält, ist doch nicht ge-
nötigt, mit dieser Entwickelung his zum ÜS^euplatonismus vorzu-
schreiten. Zwar wird er nicht verkeiuien, daß es bis zuletzt,
d. h. bis zu Augustin, an wahrhaften Fortschritten nicht gefehlt
hat; aber er wird einräumen, daß sie teuer, zu teuer erkauft
worden sind. Die Fehlentwickelmig begann, als die Innenschau
ihr Correlat, die exakte Naturwissenschaft, zu mißachten anfing
und verkümmern ließ, und als sie sich der Mystik, Theurgie, Astro-
logie oder Magie zuwandte. Schon mehr als hundert Jahre vor
der christlichen Zeitrechnung hat dieser Prozeß seinen Anfang ge-
nommen; mit einem Januskopf steht Posidonius an der Schwelle
des Überganges zweier Weltanschammgen. Er huldigt einerseits
24 Einleitung und Grundlegung.
noch einem rationalen Tdealismus, aber er verbindet ihn bereits
mit alogischen und mystischen Elementen. Das Tragische ist,
daß diese Elemcmte gesucht und aufgenommen werden müssen,
um neue Gefühlswerte auszudrücken, deren Sicherstellung dem
rationalen Idealismus mit seinen Mitteln nicht gelingen kann,
weil er hülflos im Intellektualismus festgebannt ist und sogar die
Sprache versagt, wenn es gilt. Werte zu fixieren, die nicht in-
tellektueller Natur sind. So tritt das 'Y7TEgvot]TÖv auf. und dieser
Begriff zieht in steigendem Maße den Mythus und das Absurde
heran und läßt es kritiklos passieren. Der Mythus ist nun nicht
mehr bloß Symbol, sondern er wird zum Stoff, in welcliem sich
höhere Bedürfnisse des Gemütes und der Religion ausdrücken,
weil ihre wirkliche Natur und Art den Denkern verschlossen bleibt.
Die nächste Stufe nach Posidonius ist Philo.
Ein Rückfall in überwundene Stufen mußte die Folge sein ;
aber zugleich trägt dieser Rückfall, wie immer, kräftige Züge einer
traurigen Neuerung. Die alte Mythologie war naiv oder politiscli
und lebte in der Ceremonie; die neue wird eine Konfession,
wird philosophisch, pseudophilosophisch und gewinnt nun erst
Macht über den Geist. Sie verblödet ihn allmählich und — ihr
höchster Triumph ! — bringt ihn um den Sinn für das Wirkliche
und lähmt die Funktionen aller Simie. Die Augen werden dunkel,
und die Ohren hören nicht mehr. Mit diesen Begleiterscheinungen
setzt eine Neubelebung und Restauration des religiösen Sinns —
als Folge der philosophischen Entwickelung — etwa beim Aus-
gang des I . Jahrhunderts unserer Zeitrechnung ein. Sie erfaßt
allmählich alle Schichten der Gesellschaft und hat sich seit der
Mitte des 2. Jahrhunderts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gesteigert.
In doppelter Weise — in solch dualer Entwicklung stellen sich
religiöse Erhebungen stets dar — hat sie sich bemerkbar gemacht :
erstlich in den nicht erfolglosen Yer.suchen, die alten Religionen
zu beleben und einzuschärfen, die überlieferten Gebräuche pünkt-
licher einzulialten und die Orakelstätten und Kultusorte zu restau-
rieren. Indessen kamen die neuen religiösen Bedürfnisse der Zeit
in diesen Yersuchen, die zum Teil von oben und künstlich gemacht
wurden, weder kräftig noch ungetrübt zum Ausdruck. Auch hat
das Christentum zu dieser Restauration der Religion schlechter-
dings kein Verhältnis besessen — zwei verschiedene prößen, die
sich gegenseitig nicht verstanden, stießen hier aufeinander: die
eine mußte versuchen, die andere auszurotten (s. oben). Aber die
Belebung der Religion hat sich zweitens in einer viel energischeren
Weise vollzogen:
Seit den Tagen Alexanders und seiner Nachfolger und sodann
seit den Tagen des Auürustus standen die Völker, auf deren Eut-
Innere Bedingungen f. d. univ. Ausbreitung d. cliristl. Religion. 25
wickeluni^ der Fortschritt der Monschhoit beruhte, unter einem
neuen Zeichen. Der große Umschwung in den äußeren Be-
dingungen ilires Daseins ist oben hervorgehoben worden; ihm
entspracli, zum Teil als Folge, ein innerer, religiöser Umschwung,
der nicht zum mindestens auf der Religionsmischung, vor allem
aber auf der fortschreitenden Kultur und innerer und äußerer
Erfahrung beruhte. Zwar für die Völker vom Euphrat- und Tigris-
land, ja von Fersien'^ bis nach Ägypten läßt sich der Zeitpunkt
nicht angeben, an welchem die Religionsmischung begonnen hat:
soweit wir die Geschichte rückwärts zu verfolgen imstande sind,
haben diese Völker und deshalb auch ihre Religionen in einem
Austausch gestanden und sich gegenseitig mit ihrer Religiona-
weisheit beschenkt. Nun aber war das Griechentum mit dem
ganzen Kapitale seiner in heißer und freudiger Arbeit erworbenen
Kenntnisse und Ideen hinzugetreten, aufgeschlossen für jedes Ele-
ment, welches der Orient ihm bot, und wiederum jedes Element
seiner eigenen Wissenschaft und Spekulation unterwerfend.
Was durch den Austausch der orientalischen Religionen,
die israelitische eingeschlossen, schon vorher erreicht worden war,
hat die Wissenschaft vor hundert Jahren „Orientalische Religions-
philosophie" genannt, mit diesem Ausdruck einen weiten Komplex
von kultischen Riten, Kultusweisheit, religiösen Ideen und wissen-
schaftlichen Spekulationen (astronomischen und anderen ins Reli-
giöse erhobenen Erkenntnissen) bezeichnend, der so unbestimmt
war, wie der Name , der ihn umspannen sollte. Sehr viel weiter
sind wir auch heute noch nicht gekommen - ; aber etwas be-
stimmter können wir doch jenen Komplex fassen. Die beste Hilfe
leistet ims dabei — das erscheint paradox — der christliche
Gnosticismus ; denn nirgendwo anders werden uns so deutliche und
zusammenhängende Ausführungen geboten wie hier.
Ich werde es im folgenden versuchen, die wichtigsten Stücke
des „Orientalismus" hervorzuheben, der natürlich in sich nicht
geschlossen war, sondern an jedem IIaupt])unkte verschieden-
artige Stoffe und Gedanken bot. Charakteristisch ist überall, daß
der Glaube an die überlieferten mythologischen Stücke in rea-
listischer Form noch keineswegs erloschen war bez. sich wieder
erhob, daß aber Ideen an sie geheftet wurden. Wo und in
welchem Maße die Ideen überwogen und das Realistische auf die
Stufe des Symbols herabdrückten, das ist im einzelnen Fall in
^) Ob und inwieweit auch Indien beteiligt ist, ist eine Kontroverse, die
noch nicht erledigt ist; doch ist eine Beteiligung wahrscheinlich.
-) Namentlich die Herkunft der einzelnen Elemente ist in vielen Fällen
dunkel — ob indisch, persisch, babylonisch, voi'derasiatisch, ägyptisch etc.,
ob aus spontaner Entwickelung erzeugt.
26 Einleitung und Grundlegung.
der Regel nicht zu ermitteln, nnd dieser Umstand läßt unser
Wissen um den „Orientalismus" als ein sehr unvollkommenes
erseheinen: denn was hilft es. ein Mythologumenon für eine be-
stimmte Zeit und einen bestimmten Kreis zu konstatieren, wenn
wir nicht feststellen können, welche Geltung es gehabt hat?
Wurde es festgehalten, wie es lautet, oder war es in eine Idee um-
gesetzt, oder war es ein Bild, oder ein Gegenstand unverstandener
Pietät, oder war es gar nur noch eine Arabeske ? Hatte es eine
theologische Bedeutung oder eine kosmologische. oder eine ethische
oder eine historische? Berichtete es von etwas, was einst in
grauer Vorzeit geschehen war, oder was jetzt noch fortdauert,
oder was sich erst in der Zukunft verwirklichen wird? Oder
wogten diese Deutungen und Wertungen alle durcheinander?
Wurde das Mythologumenon als eine heilige, aber gleichsam
unbestimmte Größe empfunden, fähig, sich mit jedem denkbaren
Koeffizienten zu vereinigen und dem Exponenten jeder beliebigen
Deutung als Basis zu dienen? Ich denke, die letztere Frage ist
zu bejahen und zugleich nicht außer acht zu lassen, daß gleich-
zeitig und in einem und demselben Kreise die verschiedensten
Koeffizienten an das Mythologumenon herangerückt worden sind.
Nicht zu übersehen ist auch die Mannigfaltigkeit der Ursprünge
der Mythologumena. Die ältesten stammten aus der primitivsten
Naturanschauung, in der die Wolken das Licht bekämpften und
die Nacht die Sonne fraß, oder aus dem Wunder der Zeugung und
dem Schrecken des Todes. Oder sie stammten aus dem Traumleben
der Seele, der aus ihm abgeleiteten Spaltung der Seele und des
Körpers, und dem Seelenkulte. Die nächste Schicht mag aus
alten geschichtlichen Erinnerungen entstanden sein, phantastisch
vergrößert und ins Übernatürliche gesteigert. Dann folgt, was
aus den ersten „wissenschaftlichen" Versuchen übrig geblieben
und nicht weiter fortgebildet war. Himmels- und Natiu-beobach-
tungen, die zur Erkenntnis von Regelmäßigkeiten geführt hatten,
verbunden mit religiösen Anschauungen, alles noch seelisch belebt
und mit Kräften des Bewußtseins ausgestattet. Auf dieser Schicht
erheben sich nun die großen Religionen des Orients, wie sie in
historischer Zeit bestanden haben, mit ihren besonderen Mytho-
logien und ihrer Kultweisheit. Dann folgt die Schicht der be-
grifflich (mtwickelten und mit der erstarkten philosophischen
Wissenschaft in Verbindung gesetzten Religion, halb Apologetik
und halb Kritik ; auch in ihr sind noch Mythologumena gebildet
worden. Endlich entsteht die letzte Schicht — die Verglctsche-
rung der alten Phantasien und Religionen durch ein neues, aus
äußerer und innerer Erfahrung erzeugtes Weltbild. Es mischt
durch den Druck alles, was vorher gewesen, durch einander, preßt
Innere Bedingungen f. d. univ. Ausbreitung d. christl. Religion. 27
Fernliegendos zusammon, zerbricht alle Strukturen, schiebt eine
breite Moräne von 'rrüninierstncken vor sich her, in der sich die
Elemente aller früheren Schichten tinden, und bedeckt seine eigene
Oberfläche mit denselben. Das ist der „Synkretismus". Von
ferne gesehen, bietet auch er ein einheitliches, wenn aiich buntes
Bild; aber was man zu sehcm bekommt, sind nicht die Kräfte,
die ihn gestaltet haben. Was erscheint, ist das Alte; die neuen
Elemente liegen in der Tiefe unterhalb der Erscheinungen.
Diese neuen Elemente sind die politisch-sozialen Erfahrungen
und die innere Beobachtung. Es scheint, daß noch vor Berührung
mit dem griechischen Geiste der „Orientalismus" diese Stufe ge-
wonnen hat; indessen gehört es zu den empfindlichsten Lücken
unserer religionsgeschichtlichen Kenntnisse, daß wir nicht zu ent-
scheiden verm()gen, wie viel wir der selbständigen, vom griechischen
Geiste noch unberührten Entwickehmg des „(Jrientalismus" zuzu-
schreiben haben. Wir müssen uns begnügen, festzustellen, was
geworden ist. Die neue Erkenntnis und Stimmung, die geworden
ist und uns auf dem Boden des Hellenismus (der in der Ent-
wickelung seiner alten Mysterien und in seiner Philosophie, dem
fortgebildeten Platonismus, mit dem „Orientalismus" zusammen-
traft) begegnet, war etwa folgende^:
(1) Die scharfe Teilung zwischen Seele (Geist) und
Leib, die mehr oder weniger exklusive Scliätzung des Geistes
imd die Vorstellung, daß derselbe aus einer anderen, höheren
Welt stamme und ewiges Leben in sich trage oder doch zu ihm
befähigt sei. Der damit gesetzte Individualismus.
(2) Die scharfe Teilung zwischen Gott und Welt und
die Zerstörung der naiven Vorstellung ihrer Zusammengehörigkeit
und Einheit.
(3) Als Folge der Teilungen: die Sublimierung der Gott-
heit via negationis et eminentiae: nun erst ist sie unfaßbar, un-
^) Das Konvergieren der Entwickelungslinien bei den verschiedenen
Völkern im Zeitalter des Hellenismus ist eine der sichersten Erkenntnisse.
Nicht nur durch Austausch sind damals übereinstimmeude oder ähnliche
Bildungen zu Stande gekommen , sondern auch durch Parallelentwickelung.
Dies erschwert aber die Entscheidung, auf welchem Aste diese oder jene
Erscheinung gewachsen ist , ja macht sie in vielen Fällen unmöglich. Die
Gleichartigkeit der Parallelentwickeluug umfaßte aber nicht nur die Ideen,
sondern oftmals auch die Mittel und Anschauungsformen ; denn der mensch-
lichen Phantasie sind hier engere (/irenzeu gezogen, als man gemeinhin an-
nimmt.
-) Man vgl. hierzu die Abhandlung von Loofs, „Die Krisis des Christen-
tums im 2. Jahrhundert" (Deutsch-evaugel. Blätter 1904, Heft 7), in welcher
das Problem geschildert ist, welches sich aus dem Zusammentreffen des
Christentums mit dem Synkretismus ergab. Dazu die einschlagenden Aus-
führungen in Wernles , Anfängen unserer Religion", 2. Aufl., 1904.
28 Einleituug und Grundlegung.
beschreiblich, aber auch groß und gut: sie ist auch Urgrund aller
Dinge, aber letzter, nur statuierter, nicht wirklich faßbarer.
(4) Ferner als Folge der Teilungen und der exklusiven
Schätzung des Geistes: die Erniedrigung der Welt, die Er-
klärung, daß sie besser nicht wäre, daß sie aus einer Verfehlung
entstanden sei, daß sie für den Geist Gefängnis, im besten Fall
Zuchthaus sei.
(5) Die Überzeugung, daß die Verbindung mit dem
Fleische, ,,diesem befleckten Rock", für den Geist erniedri-
gend und verunreinigend sei, ja daß er zerfallen müsse,
wenn die Verbindung nicht gelöst oder ilir nicht die Macht ge-
nommen wird.
(6) Die Sehnsucht nach Erlösung als Erlösung von der
Welt, dem Fleische, der Endlichkeit und dem Tode.
(7) Die Überzeugung, daß alle Erlösung Erlösung zum ewigen
Leben ist, daß sie aber gebunden ist an Erkenntnis und Ent-
sühnung: nur die erkennende (die sich selbst, die Gottheit und
das Seiende in seinem Sein und Wert erkennende) und die reine
(entsühnte) Seele kann gerettet werden.
(8) Die Gewißheit, daß sich die Erlösung der Seele
als Rückkehr zu Gott ebenso stufenweise vollzieht, wie
sich einst die Tremiung der Seele von Gott stufenweise vollzogen
hat, bis sie in dies Jammertal gelangt ist. Alle Belehrung über
die Erlösung ist daher Belehrung über „die Rückkehr und den
Weg", und der Vollzug der Erlösung ist nichts anderes als stufen-
weiser Aufstieg.
(9) Der freilich unsichere Glaube, daß die erhoffte Er-
lösung bez. der Erlöser schon vorhanden sei und nur auf-
gesucht werden müsse — vorhanden entweder in einem alten
Kult, der nur in die richtige Beleuchtung zu setzen sei, oder in
einem Mysterium, das allgemeiner zugänglich gemacht werden
müsse, oder in einer Persönlichkeit, deren Kraft und Gebot man
zu folgen habe, oder in dem Geiste selbst, wenn er sich nur auf
sich besinne.
(10) Die Überzeugung, daß alle erlösenden Mittel sich
zwar der Erkenntnis bedienen sollen, aber sich in ihr nicht er-
schö[)fen können, vielmehr letztlich eine wirkliche göttliche
Kraft real zuführen und übertragen müssen: nur die mit
der Erkenntnismitteilung verbundene „Weihe" (das Mysterium,
das Sakrament), die den Geist überwältigt, erlöst wirklich und
führt ihn durch den mystischen Exzeß aus dem Gefängnis, der
Endlichk(üt und der Sünde.
(11) Die in dem allen enthaltene, ja ihm zu Grunde liegende
p]insicht. daß Welterkenntnis. Reliürion und streno^e ethische
Innere Bedingungen f. d. univ. Ausbreitung d. christl. Religion. 29
Disziplinierung' des individuellen Lebens eine geschlossene
Einheit bilden müssen — eine exklusive Einheit, die mit Staat,
Gesellschaft, Familien- und Berufsordnimg schlechterdings nichts
zu tun hat und sich daher in Bezug auf alle diese Gebiete ne-
gierend d. h. als Askese verhalten muß.
Seele. Gott, Erkenntnis, Entsühnung, Askese, Er-
lösung, ewiges Leben, demgemäß Individualismus und
Menschentum an Stelle des Nationalismus: das sind die er-
habenen — aber in ernsthaft genommenen Mythen ausgedrückten —
Gedanken, die als der Niederschlag tiefer innerer und äulkrer
Bewegungen, als das Produkt der Arbeit großer Geister und als
die Sublimierung aller Kulte in der Kaiserzeit lebendig und eine
Macht waren. Wo es wirkliche Religion gab, da atmete sie
in diesem Kreise von Erfahrung und Gedanken. Wie viele es
waren, die in ihm lebten, ist gleichgültig: der Glaube ist nicht
jedermanns Ding, und die Religionsgeschichte, sofern sie wirklich
Geschichte der lebendigen Religion ist, läuft stets nur auf einer
schmalen Linie.
Wunderbar aber ist es, unter wie vielen verschiedenen Ver-
brämungen diese Gedanken umliefen! Sie bedurften an sich eines
großen Apparats, wie alle religiösen Welterklärungen, welche
monistische und dualistische Theorien in eine Einheit bringen
wollen. Aber hier gefiel man sich noch darin, den Apparat zu
steigern, teils um alles mögliche Alte und wertvoll Scheinende
noch unterzubringen, teils weil das Einzelne nicht kräftig genug
erschien itnd man durch Häufung zum Ziel zu kommen hoffte.
Durch die Verschiedenheit der Apparate scheinen diese synkre-
tistischen Bildungen auf der Oberfläche oft ganz disparat: blickt
man aber auf die Motive und Ziele, so gewahrt man eine über-
raschende Einheit, ja Einfachheit. In der Tat — die letzten
Motive sind einfach imd gewaltig, wie sie aus einfachen, aber ge-
waltigen inneren Erlebnissen entsprungen sind. In ihnen ist der
Fortschritt der Religionsentwickelung gegeben, soweit ein solcher
abgesehen vom Christentum stattgefunden hat.
Mit diesem „Synkretismus"' oder Hellenismus letzter Hand
hatte es die christliche Religion neben dem Kaiserkult zu tim.
Dann ist aber sofort offenbar, daß es nicht ausreicht, den Gegen-
satz von Christentum und „Heidentum" einfach als den Gegensatz
von Monotheismus und Polytheismus zu beschreiben. Gewiß, jener
Synkretismus vermochte sich auch mit dem Polytheismus ganz wohl
zu vertragen; er fordert ihn sogar und mußte ihn verstärken.
Der „Apparat" bedurfte sowohl für die Erklärung der Weltent-
stehung als auch für die Beschreibung des „Rückwegs" Äonen,
Mittelwesen, Halbgötter und Nothelfer, und die höchste Gottheit
30 Einleitung und Grundlegung.
wäre nicht die liöclisti! und vollkommenste, wemi sie die einzige
wäre. Allein im Grunde ist doch die ganze Denkweise mono-
theistisch; denn sie erhebt den höchsten Grott als den Urgott hoch
über alle Götter und schließt die Seele und den Urgott (nicht
die Untergötter) exklusiv z.usammen^. Der Polytheismus ist auf
eine tiefere Stufe verbannt, also auf der Höhe nicht mehr vor-
handen. Ferner aber, das Christentum selbst nahm, sobald es zu
reflektieren anfing, an diesem „Synkretismus" Teil, entlehnte ihm
Gedanken, ja entwickelte sich mit Hülfe dieser Gedanken.
Es ist nicht von Anfang an selbst eine synkretistische Erscheinung;
denn Jesus Christus gehört nicht in diesen Kreis, und die erste
Ausgestaltung der christlichen Religion war die der Jüngerschaft
Jesu. Aber sobald es Gedanken über Gott, Jesus, die Sünde, die
Erlösung, das ewige Leben bildete, schöpfte es aus den Erleb-
^) Den Unterschied zwischen dem christlichen Gott und dem Gott des
synkretistischen Hellenismus hat der Heide bei Macarius Magnes (Porphy-
rius) IV, 20 mit trettender Klarheit angegeben: Tö /uvrot tteqI Tijg ^lovagyiai;
Tov (.lörov -dsov xal rTjg jTo/.i'afj/iug tcöv asßof.(h'(or ■decöv diag^i'jdtjv Qtprjooyf-isv ,
ojv ovy. nidag ovös «y? fiorufjxiag tov !Myor Mfnp/ijoaodm. Moväoyijg yäf)
fTiTir ovy_ 6 pövog öi%' aXV 6 fiövog aQ/(Ov. üqx^'' ö' Ofioffi) kcov di]?.adtj
y.al Oft Ol cor, oJov 'A8(jiavog 6 ßaotlfvg fiovdgyjjg yryovsv , ovy öri ^lörog rjv
ovo' on ßoööi' y.al Jifjoßäroiv f}(iy,EV , 0)v ugyovoi noifieveg ij ßovxolni , alV Sri
äv&QOJJtcor IßaailEve x&v 6/A.oyKvwv rl/v avrtjv (pi'taiv lyövTiov. Moav-
Twc dedg ovy. äv (lovägy^g xvgicog fxh'jd}], fl fuj &ewv ygys- tovto yuQ eJigsTis
T(J> ßsio) iifyiDEi xal ro) ovQarüp y.al :jo?J.<o d^io'jfiaji. Cf. IV, 23 : Tldvv oq>äl-
}.£oßE [seil, ihr Christen] vo/iiCovrsg yalsjTalren' tov dsöv, sl' rig xai äU.og y.h]-
§eÜ] deög y.al rfjg ainov jigoof^yogiag rvyxdvoi , önöxE xal ägyovTsg {mijy.öoig y.al
dov?Mig deoJTorai rfjg oficovvfiiag ov (fOovovaiv. ov defujov yovv /.iixgoipvyÖTF.gov
drdfjo'jjTcov tov deor sirai vo/hiCeiv. Hier ist der Gegensatz des christlichen
und des hellenischen Monarchismus ausgezeichnet formuliert, nur wäre zu
sagen, daß viele philosophische Christen (schon im 2, Jahrhundert) jenen
strengen monotheistischen Gottesbegrilf auch nicht hatten, ja daß er schon im
I.Jahrhundert modifiziert erscheint. Tertullian (adv. Prax. -S), der den damals
orthodoxen Gottesbegritt' wiedergibt, kommt doch bei der Verteidigung der
christlichen Logoslehre dem Porphyrius bedenklich nahe: ,Nullam dico domi-
uatiouem ita unius esse, ita singularem, ita monarchiam, ut nou etiam per
alias proximas personas administretur, quas ipsa prospexerit officiales sibi''.
Die Schüler des Origenes gingen noch weiter in der Rezeption des synkre-
tistischen Monotheismus. Erst das Nicänum hat ihm in der Christenheit ein
Ende bereitet durch die irrationale Trinitiitslehre, welche gebietet, den Logos
und den Geist als innergöttliche Personen zu denken. Allein die hier aus
dem Felde geschlagene heidnische Monarchie -Vorstellung hatte sich auf dem
Boden der Engellehre bereits etabliert. Daß diese ganz hellenisch ist. weil
sie den Polytheisnms durch eine Hintertür einläßt, hat Porphyrius (IV, 21)
wohl bemerkt. In IV, 23 sucht er den Christen nachzuweisen, daß ihre
heiligen Schriften eine Mehrzahl von Göttern lehrten, also die Vorstellung
der Monarchie Gottes (in einem Kreise von Uutergöttern) enthielten, welche
die Hellenen lehrten. Er verweist auf Exod. 22,28; Jerem. 7,6; Deut. 12,30;
Josua 24, 14 ; I Cor. 8, 5.
Jesus Christus und die Weltnüssion. 31
nissen der allgeinoinen Religionscntwickolung und nahia ihre Ob-
jektivierungen zu Hülfe. —
Dem alten, im Kaiserkult gii)felnden Polytheismus und diesem
Synkretismus d. h. der letzten Stufe des Hellenismus sah sich die
christliche T*redigt gegenüber gestellt. Sie bildeten die inneren
Bedingungen, unter denen die Jugendliehe Religion missioniert
hat. Aus dem Gegensatz zum Polytheismus schöpfte sie die Kraft
der Antithese und die Gewalt der Exklusive, die jede selbständige
Religion braucht und die sie stark macht. In dem Synkretismus,
d. h. in alledem, was damals den Namen „Religion" überhau[)t
verdiente, hatte sie, ohne es zu ahnen, einen ffeheimen Bundes-
genossen: sie mußte ihn nur läutern, vereinfachen und — kompli-
zieren.
Viertes Kapitel.
Jesus Christus und die Weltmission.
Es ist unmöglich, die Frage: Jesus und die Weltmission,
kritiklos nach dem Wortlaut der Evangelien zu beantworten. Sie
sind geschrieben worden, als die Weltmission des Christentums be-
reits in vollem Gange war und haben sie daher auf direkte An-
weisungen Jesu zurückgeführt. Aber sie lassen den wirklichen
Tatbestand doch noch deutlich erkennen.
Jesus Christus hat seine Botschaft — die Predigt von dem
nun kommenden Reiche Gottes und vom Gericht, von Gottes
väterlicher Vorsehung, von der Buße, der Heiligkeit und der
Liebe — ausschließlich an seine Volksgenossen, die Juden ge-
richtet. Durch kein Wort hat er diese vom nationalen Boden
losgelöst oder die überlieferte Religion für unwert erklärt: im
Gegenteil — seine Predigt konnte als ihre stärkste Bekräftigung
erscheinen. Auch hat er sich an keine der zahlreichen „liberalen"
oder synkretistischen jüdischen Konventikel und Schulen ange-
schlossen oder ihre Gedanken aufgenommen: er steht vielmehr
auf dem Boden der jüdischen Rechten, d. h. der Frömmigkeit,
wie sie der Pharisäismus behauptete. Allein er zeigte, daß dieser
das Gute zwar festhalte, aber verkehre, und daß die Verkehrung
zur schlimmsten Sünde geworden sei. Er kämpfte gegen die
eigensüchtige und selbstgerechte, im Tiefsten lieblose und gottlose
Art, in welcher zahlreiche Pharisäer die Frömmigkeit ausbauten
und betrieben. Schon daraus ergab sich eine Loslösung von der
nationalen Religion: denn die pharisäische Haltung galt als die
nationale und war es. Aber weiter, er durchkreuzte den An-
spruch, daß die Abrahamssöhne bereits durch ihre Abstammung
32 Einleitung und Grundlegung.
des Heiles sicher seien, und stellte den Gedanken der Gottes-
sohnschaft ausschließlich auf die Pfeiler der Buße und der Demut,
des Glaubens und der Ijiebe. Damit löste er die Religion inner-
lich vom nationalen Boden ab und machte den Menschen, nicht
den Juden, zu ihrem Träger. Endlich, je deutlicher es wurde,
daß das Jüdische Volk als Ganzes und in seiner Repräsentanz
seine Fredigt verwarf, desto bestimmter kündigte er das Gericht
über „die Kinder des Reichs" an, und desto sicherer nahm er die
Weissagung, die auch sein Vorläufer verkündigt hatte, auf, daß
der Tisch seines Vaters der Gäste doch nicht ermangeln, sondern
daß eine Fülle derselben von den Landstraßen und Zäunen und
von Morgen, Mittag und Abend kommen werde. Zuletzt hat er
die Verwerfung des Volkes und den Untergang des Tempels vor-
ausgesagt, darin aber nicht den Untergang seines Werks, sondern
vielmehr, ebenso wie in dem eigenen Todesleiden, die Voraus-
setzung der Erfüllung dieses Werks gesehen.
Das ist der „Universalismus" der Predigt Jesu; ein anderer
läßt sich nicht nachweisen, und darum kann auch eine Anweisung zur
Weltmission von ihm nicht gegeben worden sein. Zwar enthalten
die Evangelien eine solche, aber es läßt sich unschwer zeigen, daß
sie weder echt ist noch der ältesten Überlieferung angehört. Sie
würde auch einen ganz fremden Zug in die Verkündigung Jesu
bringen und zahlreiche echte Sprüche unverständlich oder w^ertlos
machen. Wohl aber darf man sagen, dal.l die Weltmission mit
Notwendigkeit aus der Religion Jesu und aus seinem Geiste
hervorgehen mußte, und daß ihre Entstehung ohne ein direktes
Wort Jesu — ja im äußerlichen Widerspruch zu manchem seiner
Worte — ein stärkeres Zeugnis für die Art, Kraft und Größe seiner
Verkündigung ist, als wenn sie die Ausführung einer bestimmten
Anweisung gewesen wäre. An der Frucht erkennt man den Baum:
man darf aber die Frucht nicht an der Wurzel suchen. Was die Art
betrifft, wie Jesus gewirkt und Jünger gesamnudt hat. so tritt
auch hier seine und seiner Fredigt Eigenart leuchtmid hervor.
Weder eine Schule noch eine Sekte hat er sammeln wollen. Die
Art der äußeren Zugehörigkeit zu ihm hat er unter keine Regel
gestellt; denn zu Gott wollte er die Menschen führen und für das
Reich Gottes bereiten. Wohl hat er sich Schüler erwählt, die er
besonders unterwies und als Mitarbeiter amiahm, aber auch hier
war nichts geregelt — ein nächster Kreis von dreien, ein weiterer
von zwölfen, ein noch weiterer von einigen Dutzenden, Männer
und Frauen. di(; mit ihm zogen. Aber daneben hatte er Vertraute,
die in ihren Häusern und B(uufen blieben, und er erweckte mul
fand Gotteskinder überall im Lande. Keine Regel und Gesetz
band sie zusjnnmcn; seine Teilnahme und sein Eifer galten ledig-
Jesus Christus und die Weltiiiission. 33
licli (lern Grcißton und SpeziellstiMi — dem Reiche seines Vaters
und der einzelnen Seele. In dieser Art Mission zu treiben hat er
nur einen Nachfolger gehabt, und der kam erst nach 1000 Jahren
— den heiligen Franz von Assisi.
Sieht man von den Worten ab. die unser erster Evangelist dem auf-
erstandenen Jesus in den Mund legt, und die sich ähnlich im unechten
Anhang zum zweiten Evangelium finden *, läßt man ferner die Geschichte
der Weisen aus dem Morgenlande und gev^^isse alttestameutliche Citate,
welche der erste Evangelist in seine Darstellung eiugeflochten hat-, bei
Seite — so muß man anerkennen, daß Marcus und Matthäus der Versuchung,
in die Worte und in die Geschichte Jesu die Anfänge der Heideuraissiou
einzutragen fast durchweg widerstanden haben. Daß Jesus die Sünder zu
sieh gerufen und mit den Zöllnern gegessen , daß er am Sabbath geheilt,
daß er die Pharisäer mit ihrer Gesetzesbeobachtuug bekämpft und die Barm-
herzigkeit und das Gericht in den Mittelpunkt gerückt , daß er den Unter-
gang des Tempels prophezeit hat. das ist der Universalismus, den sie
bezeugen. Aber selbst die Geschichte von der Wahl bez. Ausseudung der
Zwölfe wird ohne Beziehung auf die Weltmission (Marc. 3, 13 ff. 6, 7ft'. und
Matth. 10, 1 ff.) berichtet; ja Matthäus schränkt die Sendung ausdrücklich
auf PaUistina ein. „Weichet nicht ab auf den Weg der Heiden und betretet
keine saniaritauische Stadt, geht vielmehr zu den verirrten Schafen aus dem
Hause Israel" (10, 6), und 10, 23 heißt es: „Ihr werdet nicht die Städte
Israels sämtlich besucht haben, bis der Menschensohn kommt" ^. Fast noch
charaktei'istischer ist die Erzählung vom kananäischen Weib; denn beide
Evangelisten lassen darüber keinen Zweifel, daß die Geschichte im Sinne
Jesu eine Ausnahme darstellt*, also die Regel bestätigt.
Bei Marcus ist diese Perikope die einzige, in welcher die Missions-
tätigkeit Jesu ausdrücklich auf das jüdische Volk in Palästina eingeschränkt
erscheint. Matthäus aber bietet aul.^er der Ausseudungsrede noch (19, 28)
das Wort, daß die Zwölfe einst die zwölf Stämme Israels richten werden —
von der Heidenmission ist hier also abgesehen •'*.
») Matth. 28, 19 ff., cf Marc. IG, 15. 20. - ') Cf. Matth. 4, 13 ff. 12, ISff.
^) Dieser Vers macht es unmöglich, die Rede Jesu als eine nur vor-
läufige Aussendungsrede zu fassen. Ist das Wort echt, so kann die Heiden-
mission nicht im Horizonte Jesu gelegen haben. — Bei den ^tjysfwvec; und
ßaodeig'^ (Matth. 10, 18; Marc. 13, 9) braucht nicht an heidnische gedacht
zu sein, aber der bei Matthäus (nicht bei Marcus) zu den Worten £<V
l-iaQTVQiov avToTg sich findende Zusatz „^al roTg edrsotv"' kann schwerlich anders
verstanden werden denn als eine Hinzufügung im Sinne von Matth. 28, 19 f.
Marcus hat 6, 7tt". (vgl. Luc. 9, Iff'.) die Beschränkung auf Palästiua und
das jüdische Volk fallen gelassen, aber eine universale Bestinimung doch
nicht zu geben gewagt. „Obwohl Marcus es nie ausdrücklich sagt und kein
Gewicht darauf legt, versteht es sich bei ihm doch von selbst, daß Jesus
seine Wii-ksamkeit auf die Juden beschränkt" (Wellhauseu zu Marc. 7, 29).
*) Nach Matthäus (15, 24) sagt Jesus ausdrücklich: „Ich bin nicht ge-
sandt denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel". Das jtqmtov
bei Marc. 7, 27 ist nicht zu pressen, wie viele Ausleger tun.
*) Auch das Wort: „Bittet, daß eure Flucht nicht geschehe am Sabbath"
(Matth. 24, 20) mag man hierher rechnen. Beachtenswert ist auch, daß das
Gleichnis von den beiden Söhnen (Matth. 21, 28 ff.) nicht auf Juden und
Heiden gedeutet wird. Die Arbeiter im Weinberg (Matth. 20, Iff'.) sind
Harnack, Mission. 2. Aufl. 3 ■
34 Einleitung und Grundlegung.
Von einer zukünftigen Predigt des Evangeliums in der Welt läßt
Marcus Jesus nur zweimal sprechen, nämlich in der eschatologischen Rede
(lo, 10: ,Bei allen Völkern muß zuvor das Evangelium verkündigt werden",
seil. l)evor das Ende kommt) und in der Salbuugsgeschichte, wo es 14, 9
heißt: „Wo auch immer das (dieses) Evangelium verkündigt werden wird in
der ganzen Welt, da wird auch das, was sie getan hat, zu ilirem Gedächtnis
erzählt werden." Die erste Stelle legt ein geschichtliches Theologumenon
in den Mund Jesu, welches schwerlich von ihm stammt; die andere erweckt
zwar nicht in Bezug auf den Vorgang selbst, wohl aber in bezug auf die
Rede Jesu v. 8 und 9 starke Bedenken; denn sie ist ein Hysteron-Proteron,
und zudem ist die feierliche Versicherung auffallend. Es muß ihr irgend
eine nicht mehr deutliche Kontroverse zu Grunde liegen, welche den Vor-
gang nicht nur damals, als er sich ereignete, sondern auch später noch
hervorgerufen hat. Wurde er etwa in Zweifel gezogen ^ ?
Matthäus bietet diese beiden Sprüche auch (24, 14; 26, 13); außerdem
aber überliefert er noch einen Spruch-, der die Heidenwelt ins Auge faßt,
der jedoch in seiner prophetischen Haltung Bedenken in bezug auf seine
Echtheit nicht erregt. C. 8, 11 heißt es: „Ich sage euch, daß viele von
Ost und West kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob in dem Himmel-
reich zu Tische sitzen werden; die Söhne des Reichs aber werden hinaus-
geworfen worden." Warum sollte Jesus so nicht gesprochen haben, obgleich
ihn Marcus nie so sprechen läßtV Heißt es doch auch in der Rede des
Täufers (Matth. 3, 9): „Glaubt nicht bei euch sagen zu können: Wir haben
Abraham zum Vater; denn ich sage euch, Gott vermag aus diesen Steinen
dem Abraham Kinder zu erwecken."
nach der Erzählung des Evangelisten ebenfalls nicht auf Heiden zu deuten,
und auch c. 22, 9 ist nicht an diese zu denken.
') Die Perikope von den bösen Weingärtuern rechne ich nicht hierher;
denn weder in der Fassung des Marcus (12, 1 ff.) noch in der des Matthäus
(21, 3off.) spricht sie von der Heidenmission. Die Worte Matth. 21, 43 („das
Gottesreich wird einem Volke gegeben, das die Früchte desselben bringen
wird") beziehen sich nicht auf die Heiden, sondern das „Volk" steht im
Gegensatz zu dem offiziellen Israel; Marcus spricht absichtlich nur von
, anderen", denen der Weinberg gegeben werden wird. Ich sage absichtlich;
denn gerade an dieser Allegorie, die nicht leicht Jesus selbst zugesprochen
werden kann (s. Jülich er, Gleichnisse II S. 405 f.; doch möchte ich mich
nicht sicher entscheiden), läßt sich erkennen, wie streng Marcus in der
Fernhaltung der Heidenmission von dem Evangelium gewesen ist. und
wie konsequent Matthäus den Rahmen des jüdischen Volkes festhält. Die
Parabel forderte geradezu auf, Jesus von der Heidenmission sprechen zu
lassen; aber beide Evangelisten haben die Aufforderung abgelehnt (s. auch
Luc. 20, 9ff.). Auch Wellhausen schreibt zu Matth. 21, 43: „Unter dem
anderen ,Volk' können auch jüdische und nicht bloß heidnische Christen
verstanden werden, da das t'ßvoi; nicht national, sondern moralisch charak-
terisiert ist."
^) Von den Sprüchen 5, 13. 14: ,.Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid
das Licht der Welt", darf man wohl absehen; auch das ist bedeutungslos,
daß bei Marcus allein (11, 17) zu den Worten: „Mein Haus ist ein Bethaus"
der Zusatz (übrigens aus der Quelle, Jesaj. 56, 7) steht: „.-läai ToTg nh'foiv" ;
dieser Zu.satz „legt den Nachdruck nicht auf die Universalität des Bet-
hauses, sondern auf den nackten Begriff des Bethauses selber" (Well-
hausen).
Jesus Christus uud die Weltmission. 35
Es hat sich also ergeben, daß beide Evangelisten in den Rahmen der
•öffentlichen Verkündigung Jesu nichts von der Heidenmission eingetragen
haben, außer in der eschatologischen Rede und bei der Salbungsgescbichte.
Matthäus hat dabei die engen Grenzen der Wirksamkeit Jesu positiv und
unzweideutig markiert, andererseits aber nicht nur c. 8, 11 aufgenommen,
sondern auch in seinen alttestameutlichen Zitaten die Heiden ins Auge ge-
faßt. Marcus hat sich ganz neutral verhalten, übrigens die Geschichte vom
kanauäischen Weib nicht unterdrückt.
Umso kräftiger hebt sich nun das Wort des Auferstandeneu Matth.
28, 19 ff. von dem Vorangehenden ab, und Matthäus selbst muß diesen
Abstand nicht nur gefühlt , sondern muß ihn absichtlich zum Ausdruck
gebracht haben '. Ein Herr und Heiland, der seine Predigt auf das jüdische
Volk beschränkt und auch nicht einmal den Befehl zur Weltmission gegeben
hat, war in der Zeit, in der unsere Evangelien geschrieben worden sind, eine
Unmöglichkeit. Hat er den Befehl nicht vor seinem Tode gegeben, so hat
er ihn als der Verklärte erteilt.
Es ergiebt sich aus diesem Sachverhalt, daß ein solcher Befehl über-
haupt nicht von Jesus herrührt, daß er also aus den geschichtlichen Ent-
wickelungen der Folgezeit konstruiert und sachgemäß erst dem Aufertsandenen
in den Mund gelegt worden ist. Paulus weiß auch von einem solchen all-
gemeinen Befehl nichts-.
Auch Lucas hat als Referent der Worte Jesu keine andere Haltung
eingenommen als die beiden ersten Evangelisten, uud das will vielleicht am
meisten bedeuten. Zwar die Vorgeschichte hat er mit leiser Hand universa-
listisch gefärbt ', und am Schluß läßt er deutlich und stark den Auferstandenen,
^) Es sei denn, daß c. 28, 19 ff', ein späterer Zusatz zum Evangelium
wäre; Sicherheit läßt sich darüber nicht gewinnen. Es liegt eine gewisse
Raffiniertheit, die man dem Schriftsteller nicht zutrauen möchte, darin, erst
die heidenchristlichen Leser mit jenen Sprüchen, die das Evangelium auf
das Volk Israel einschränken, gleichsam auf die Folter zu spannen, um dann
im letzten Satze der Schrift die Spannung zu lösen. Auch sehen jene Ein-
schränkungen, wie sie erzählt werden, nicht so aus, als sollten sie später
zurückgenommen werden. Andererseits ist zu erwägen, daß das erste Evan-
gelium mit den Weisen aus dem Morgenlande beginnt — doch läßt diese
Perikope auch eine streng judenchristliche Deutung zu — , daß c. 8, 11 in
diesem Evangelium steht, daß der Schriftsteller c. 4, 13 ff. sein Interesse für
das Volk, das im Finstern sitzt, bekundet, daß er Jesum c. 12, 20 als den
bezeichnet, auf dessen Namen die Heiden hoffen, daß er in der eschatolo-
gischen Rede und in der Salbungsgescbichte auf die Verkündigung des Evan-
geliums bei allen Heiden ausblickt, und daß durchschlagende Gründe, c. 28, 19 ff".
als Interpolation zu betrachten , nicht nachgewiesen werden können. Also
ist es doch ratsam, dem Verfasser die merkwürdige Historizität zuzutrauen,
daß er den Rahmen der Verkündigung Jesu so. wie er ihm gegeben war, fast
durchweg treu beibehalten hat, um ihn erst am Schlüsse zu sprengen. Ein-
facher ist Marcus verfahren, indem er die Missionsfrage ausschied — denn
so wird man sein Verhalten verstehen müssen.
-) Im übrigen — es ist unmöglich und völlig zwecklos, mit denen zu
streiten, die in der Ablehnung der Überlieferung, Jesus habe nach seinem
Tode gegessen und getrunken uud seinen Jüngern Lehrvorträge gehalten,
eine unstatthafte „Voreingenommenheit" sehen.
^) Man vgl. 1, o2 („Sohn des Höchsten"); 2, 11 („Freude allem Volk",
„Heiland"); 2, 14 („Gloria in excelsis"); 2, 31 („ein Licht zu erleuchten die
Heiden"); dazu 3, 23 ff. die bis auf Adam zurückgeführte Genealogie.
3*
36 Einleitung und Grundlegung.
wie Matthäus, den Befehl geben, das Evangelium allen Völkern zu ver-
kündigend Aber was dazwischen liegt, hat er, dem Marcus folgend,,
behandelt, d. h. er bietet keine Worte, die die Mission Jesu ausdrücklich
auf das jüdische Volk einschränken 2, aber auch keine Sprüche oder Er-
zählungen , in denen sie als universalistisch bezeichnet wird ^, und er hat
wahrscheinlich nirgendwo absichtlich korrigiert*.
Von dem vierten Evangelium ist in diesem Zusammenhang ganz abzu-
sehen; denn es hat den Horizont der Predigt Jesu, ja schon den Johannes"
des Täufers, nach Maßgabe der in den beiden ersten christlichen Generationen
so erfolgreich unternommenen Heidenmission erweitert und dementsprechend
,die Juden" von Anfang an — trotz der historischen Bemerkung c. 4, 22 —
als die Verworfenen erscheinen lassen. Läßt man auch den Prolog beiseite,,
so begegnet sofort (c. 1, 29) das Wort im Munde des Täufers: „Siehe, das
ist Gottes Lamm, welches die Sünde des Kosmos trägt", und das ganze
Evangelium ist von direkt universalistischen Aussagen durchzogen. Jesus
ist der Weltheiland, und Gott hat die Welt also geliebt, daß er ihn
gesandt hat. Dazu finden sich Stellen wie die von „den anderen" Schafen
und der einen Herde (10, 16). Besonders bemerkenswert aber ist es, daß
dieses Evangelium , Griechen" nach Jesum fragen (12, 20 ff.) und diesen eine-
förmliche f]rkläruug darüber abgeben läßt, warum er noch nicht die Griechen
befriedigen könne: er muß erst sterben; erst als Erhöhter wird er alle zu
sich ziehen. Man sieht, hier wurde ein schweres Problem empfunden.
Die Verkündung Jesu, sei es auch nur in ihren Grundzügen, hier zur
Darstellung zu bringen ^ würde irreführend sein; denn zur Missiouspredigt
ist sie in der Folgezeit nicht einmal Juden gegenüber geworden. Sie
') C. 24,47; dazu Act. 1,8: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem
und in ganz Judäa und Samarien und bis zum Ende der Erde."
-) Doch findet sich das indirekte Wort der Einschränkung c. 22, 30 =
Matth. 19, 28 (s. 0. S. 33), aber es brauchte nicht so verstanden zu werden.
^) Man hat dafür allerlei anzuführen versucht, aber es erweist sich als
nicht beweiskräftig, so Petri wunderbaren Fischzug (5, 1 ff.), die Samariter-
geschichten (10, 33 ff. ; 17,16), das Gleichnis vom verlorenen Sohn (15, 11 ff.,
s. dazu Jülicher, a. a. 0. II S. 333 ff'.). Auch die Apostelaussendung (6, 13 ff".)
und die merkwürdige Aussendung der Siebzig (10, 1 ff.) ist keineswegs im
Sinne der Heideumission erzählt. Dali die Zwölfe in diesem Evangelium ein
paarmal „die Apostel" heißen, ist ein harmloses Hysteron-Proteron. Die
programmatische Rede in Nazareth (4,26.27) fällt noch am meisten ins Ge-
wicht; aber auch in ihr erscheint der Universalismus Jesu nicht über den
prophetischen hinausgehoben. In bezug auf die Stelle 21, 24 = Marc. 13, 10 =
Matth. 24, 14 ist Lucas sogar der Vorsichtigste gewesen, der in feinem Ge-
fühl den Stil der Proijheteu wiederherzustellen versucht hat. Er sagt nichts
davon, daß das Evangelium erst in aller Welt verkündigt sein müsse, bevor
das P]nde kommt, sondern schreibt: axQi^ o^' nXyQMdoyoiv hcuqoI edvwv. — Was
die Samaritergeschichten betrifft, so scheint Lucas eine weitergehende reli-
gionsgeschichtliche Tendenz hier nicht im Sinne gehabt zu haben, während
eine .solche Joh. 4 unverkennbar ist.
*) Die Geschichte vom kananäischen Weib, die bei Matthäus und Marcus
zwischen den beiden Speisungsgeschichten steht, hat er wahrscheinlich nicht
weggelassen, sondern gar nicht gekannt. Hat er sie gekannt, so müßte man.
in der Wegla.ssung allerdings eine Korrektur sehen.
'') Vgl. meine Vorlesungen über das Wesen des Christentums.
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 37
unterstüzte die Missionspredigt — die Evangelien sind, um als Mittel der
Evangelisation zu dienen, niedergeschrieben — ; diese aber handelte davon,
daß Jesus der Messias sei und demnächst wiederkehren und das Reich auf-
richten werde (so vor Juden), beziehungsweise von der Einheit Gottes, der
Weltschöpfung, dem Sohne Gottes, dem Heiland und dem Gericht (so vor
Heiden). Die Sprüche Jesu haben daneben freilich eine stille und wirksame
Mission ausgeübt, und das geschichtliche Bild, welches die Evangelien boten,
hat — neben dem Glauben an den Erhöhten — einen tiefen Einfluß auf die
Katechumenen und die Gläubigen gewonnen.
Die partikularen Züge an diesem geschichtlichen Bilde und den Sprüchen
wurde man nicht mehr gewahr, und das war recht und gut. Eine Gottes-
nud Menschenliebe war ja hier lebendig, die man als intensiven Universalis-
mus bezeichnen kann, ein Absehen von allem Äußeren (Stand, Person, Ge-
schlecht, äußerem Kultus u. s. w.), welches notwendig zur Innerlichkeit zwang,
ein Protest gegen das, was „die Alten" gelehrt hatten, der alles Alte
allmählich unwert machte*. Eine der größten Revolutionen, welche die
Religionsgeschichte kennt, ist hier eingeleitet und begründet worden ohne
jede Revolution. Nur die Ankündigung des Untergangs des Tempels und
das Gericht über das Volk und seine Leiter hat Jesus Christus ausgesprochen.
Er erschütterte das Judentum und stellte den Kern der Religion Israels ans
Licht: damit, d. h. durch seine Verkündigung Gottes als des Vaters und
durch seinen Tod. gründete er die Weltreligion, die zugleich die Religion
des Sohnes wurde.
Fünftes KapiteL
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission.
„Christi mors potentior erat quam vita." Der Tod Jesu hat
den Ghiuben an ihn als den Gesandten Gottes nicht zu erschüttern
vermocht und eben deshalb die Überzeugung seiner Auferstehung
erweckt: er war doch der Messias — denn nun gab es nur ein
Entweder-Oder — und darum ist es unmöglich, daß der Tod ihn
behalten hat. Er lebt und wird in Herrlichkeit demnächst wieder-
kommen. Die Schüler aber wurden zu berufenen Reichsgenossen,
zu Zeugen und — zu Aposteln. Sie bezeugten aber nicht nur seine
Predigt und seinen Tod, sie bezeugten auch seine Auferstehung:
denn sie hatten ihn gesehen, und sie hatten seinen Geist emp-
fangen. Andere Menschen waren sie geworden; ein Strom gött-
lichen Lebens hatte sie erfaßt, und ein neues Feuer brannte in
ihrer Seele. Furcht, Zweifel, Kleinmut — alles war ausgelöscht.
') Über „Jesu Stellung zum Alten Testament" s. den zutreffenden Vor-
trag von E. Klostermann (19041 unter diesem Titel. Wer sich diese Stellung
klar gemacht hat, wird an die Verkündigung Jesu nicht mehr ungeschicht-
liche Ansprüche in bezog auf die „Weltmission" stellen.
38 Einleitung und Grundlegung.
Pflicht iinrl Recht, diesen Jesum von Nazareth als den Christus
zu verkündigen, drängte sich mit unwiderstehlicher Gewalt auf;
denn wie konnten sie schweigen, wenn sie wußten, daß die neue
Weltzeit nun herbeikomme, und daß Gott die Erlösung seines
"Volkes bereits begonnen habe ? Eine alte Überlieferung (Act. 1 . 2)
berichtet, daß die Missionspredigt der Jünger am 51. Tage nach
der lü-euzigung in Jerusalem begonnen habe. Wir haben keinen
Grund, dieser so bestimmten Angabe zu mißtrauen. Nach Jerusalem
also sind sie aus Galiläa zurückgekehrt und liaben sich dort ge-
sammelt. Schon diese Übersiedelung spricht dafür, daß sie in
größter Öffentlichkeit, im Mittelpunkt des jüdischen Gemeinwesens,
wirken wollten. Hier richteten sie sich ein und blieben daselbst
lange Jahre ^ — zwölf Jahre sagt ein alter Bericht^, den aber
die Apostelgeschichte ignoriert (doch s. c. 12, 17). Yon Jerusalem
aus unternahmen sie Missionsreisen in die Umgegend (auch die
AVahl des Jacobus zum Vorsteher der jerusalemischen Gemeinde*
— er gehörte nicht zu den Zwölfen — spricht dafür). Das lehrt
die Apostelgeschichte, vor allem aber I Cor. 9, 5.
Zunächst wurde das Evangelium ausschließlich den Juden ge-
predigt. Es bildete sich die Gemeinde in Jerusalem, bald darauf
Gemeinden in Judäa (1 Thess. 2, 14: al exxhjoiat tov deov al ovoai
Iv rf] 'lovdaia und Gal. 1, 22: yjiii]v dyvoovjuevog reo jiqoowjtco rmg
IxxXrjoimg jfjg 'lovöaiag räig iv Xqiotöj) sowie in Galiläa, Samaria
(Act. 1, 8; 8, Iff.; 9, 31; 15, 3) und in dem Küstenland (Act. 9,
') Man darf vielleicht auch annehmen, daß sie an Ort und Stelle sein
wollten, wenn der Herr demniichst -wiederkommen und das himmlische Jeru-
salem herabfahren werde. — Galiläa tritt nun ganz zurück, was merkwürdig
ist. Man hört nichts mehr von diesem Laude.
2) Der alte Bericht — Petri Kerygma bei Clemens Strom. VI, 5, 43 —
ist freilich verdächtig; denn er behauptet, ein Herrnwort an die Jünger zu
kennen, das gelautet habe: ftera iß' ht] e^ilOsTe eic; rov xöai.iov, fttj rtg d'jryj-
ovx TjHovoufiev. Allein mit den 12 Jahren kann es seine Richtigkeit haben
ohne die falsche, apologetische Begründung; denn in den Acta Petri cum
Simone c. 5 und bei Apollonius (bei Euseb., h. e. V, 18, 14) lautet das Wort
(ebenfalls als Herrnwort), die Apostel sollten 12 Jahre in Jerusalem bleiben;
von dem Auszug elg rov xöofiov ist nichts gesagt. Das „Herrnwort" wird
auch hier nicht zu Recht bestehen, wohl aber wird die Tatsache, daß die
Jünger 12 Jahre in Jerusalem blieben, schwerlich erfunden sein. Zwölf bez.
elf Jahre nach der Auferstehung ist ein Zeitraum, den auch andere Quellen
abgegrenzt haben (s. D ob schütz i. d. Texten u. Unters. XI, 1 S. 58f.); er
liegt sogar der späteren Berechnung des Todesjahres des Petrus zu Grunde:
ann. 30 + 12 -|- 25 = ann. 67. Isoliert steht die Behauptung der pseudo-
clementinischen R-ekognitionen (1, 43; IX, 29), die Apostel seien sieben Jahre
in Jerusalem geblieben.
') Die Apostelgeschichte setzt für die ersten Jahre voraus, daß die
Apostel die jerusalemische Gemeinde geleitet haben. Plötzlich c. 12, 17 er-
scheint Jacobus als der Leitende.
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 39
o2ff. ^). Das anfängliche Verhältnis dieser Gemeinden zu dem
Judentum erscheint uns nicht recht deutlich, und es ist wohl auch
zAmächst nicht klar, sondern widerspruchsvoll gewesen. Einerseits
wird der Bericht der Apostelgeschichte (s. c. 'S ft'.), daß die jerusa-
lemische Gemeinde fast von Anfang an stoßweise Verfolgungen
erleiden mußte, durch das Zeugnis des Paulus beglaubigt (I Thess.
2, 14: ort tol avTO. ijTdäsTe xal v/^mg vjto t(ov töUov ovjii(pid^T<7)v,
xa'&iog xai amol [seil, die Gemeinden in Judäaj imd rwv' Jovdaicov);
die Meinung, die eimge jüdische Gelehrte vorgetragen haben, er-
scheint somit unhaltbar, es habe ursprünglich und Jahrzehnte hin-
durch ein dm'cliaus friedliches Verhältnis zwischen den Christ-
gläubigen und den Juden bestanden^. Andrerseits steht es fest,
daß auch Friede und Duldung geherrscht hatten^, die Gemeinden
geraume Zeit hindurch unbehelligt geblieben sind (Act. 9, 31 : »5
lxxh]aia xad' öh]g Tfjg ^lovöalag xai raXtXaiag xal 2^afiagiag er/^v
eiQii)v}]v) und einige Christen hohes Ansehen bei ihren jüdischen
Brüdern genossen haben ^. Sie waren strenge Gesetzesbeobachter
und hielten sich auch eitrig zum Tempel^; damit aber erfüllten
') Der dieser Mission parallel laufenden Mission des Simon Magus in
Samarien mag hier wenigstens gedacht sein. Sie hatte im Heimatlande
große Erfolge, versuchte aber vergeblich, aus der christlichen Mission Vor-
teile zu ziehen. Im einzelnen ist uns das meiste dunkel; soviel aber ist ge-
wiß, daß sich Simon als Religionsstifter gab (ob er auch Jesus zu kopieren
versuchte?), und daß später eine hellenistische Theosophie (Gnosis) dieser
neuen Keligion zugesellt worden ist. Die Christen haben vom Anfang an
und stets diese Erscheinung mit dem höchsten Abscheu behandelt. Es muß
in sehr früher Zeit einen Moment gegeben haben, in welchem sie eine wirk-
liche Versuchung für die jugendlichen Gemeinden gewesen ist; aber inwiefern
ist unklar. Hatte es Simon auf eine Fusion abgesehen? (Act. 8 und spätere
Quellen).
-) Vgl. Joel, Blicke in die Religionsgeschichte, 2. Abt. 1883. Wie es
bei der Mission in Palästina zugegangen ist, steht Matth. 10, 17 ff. zu lesen:
7iaQa8coaovoiv v/iiäg Fig Gi'veÖQia xal h' zaig ovvaywyaig avzdn' fiaoiiyüjaovaiv
vjLiäg . . . TragaScöoei 8k d8e?.(p6i; a8e}.q?o%' eig ßärarov xal Jtaryg Ttxvov xal
ijiavaoTfjoovzat zsxva inl yovftg xal &avaz(!}00voiv avzovg . . . özuv 8k 8uöxcooiv
v/iiäg SV zf] jiöKei zavrjj, (pevyfzs ag zi/v Izkoav.
') Sonst hätten sich die Apostel überhaupt nicht so lange in Jerusalem
halten können.
*) Hegesipp bei Eusebius, h. e. ü, 22, berichtet dies von Jacobus. Seine
Darstellung ist freilich sehr undurchsichtig, aber das Ansehen des Jacobus
beim Volke darf man ihr entnehmen.
^) S. Act. 21,20, wo die jerusalemischen Christen zu Paulus sprechen:
&e(OQ£(g , d8e?.(i4, Jiöoac f,ivQiä8sg eiolv Iv zoXg 'Iov8aioig kov izejnozEvxözwv , xal
jidvzsg ^rj?,cozal zov röftov imdgyovatv. Diese Stelle beleuchtet und recht-
fertigt den Hauptpunkt des Berichts des Hegesipp über Jacobus. Aus der
sehr alten Überlieferung (Prolog zum Marcusevangelium um 200), Marcus
habe sich, Christ geworden, den Daumen abgeschnitten, um nicht als Priester
fungieren zu müssen, mag man schließen, daß manche christianisierte Juden
aus dem Priesterstand in Jerusalem anfaucrg noch als Priester fungiert haben«
40 Einleitung und Grundlegung.
sie die oberste Pflicht des Juden, und da sie Jesus als Messias
erst noch erwarteten — die erste Ankunft galt ja nur als etwas
Vorläufiges; daß er wirklich der Messias sei, dafür stand der
öftentliche Beweis noch aus - — ■, so mag ihnen dies bei freund-
licher Beurteilung um ihrer Gesetzesbeobachtung willen als Idio-
sjTikrasie nachgesehen w^orden sein^. Wenigstens vermögen wir
uns die Sache nicht anders vorzustellen. Daß sie überhaupt den
Messias so sicher und so bald erwarteten, kaim ihnen grade bei
') Richtig Weizsäcker (Apost. Zeitalter- S. 38): „Die Zugehörigkeit
zu dem Glauben und Gemeinwesen ihres Volkes hielten die ältesten Christen
fest. Sie wollten nicht Abtrünnige sein, und sie konnten auch nicht als
solche beurteilt werden. Auch wenn sie nicht den ganzen Kultus festhielten,
geschah dadurch diesem Verhältnisse kein Eintrag. Das Judentum verstattete
nicht bloß eine große Freiheit der Lehrmeinungen, sondern auch der Beteili-
gung am Kultus, wie das Beispiel der Essäer in jener Zeit hinreichend beweist.
Die Christen ließen sich keine Verletzung des Gesetzes zu Schulden kommen,
sie traten nicht angreifend auf. Daß sie unter den Ortsgerichten ebenso wie
unter dem Synedrium als oberstem Landesgericht stehen, fällt damit zu-
sammen, daß sie überhaupt Juden blieben. Daß einmal einzelne verklagt
werden, aber wegen mangelnden Grundes wieder entlassen werden müssen,
oder auch daß dies mit einer Züchtigung begleitet wird . . . ., ist an sich
ganz denkbar (cf. Matth. 10, 17). . . . Durch die ganze Stellung der ersten Christen
im jüdischen Gemeinwesen ist nun auch die Vorstellung ausgeschlossen, als
ob dieselben auf jüdischem Boden im allgnmeinen sich eine besondere Syna-
goge eingerichtet und ihre Versammlung als solche neben die bestehende
Synagoge gestellt hätten. Da die Synagoge der Regel nach eine Einrichtung
der jüdischen Gemeinde ist, so hätte das soviel bedeutet, als sich vom Ge-
meindeverband in jedem Sinn lossagen, und wäre daher dem Abfall gleich
gewesen. Nur in Jerusalem kann die Frage aufgeworfen werden, ob hier
nicht die Fremdensynagogen Gelegenheit zu einer solchen Einrichtung gaben.
Es ist unsere Apostelgeschichte, welche uns eine unverfängliche Angabe über
solche bringt: sie spricht c. 6, 9 von der Synagoge der Libertiner und Cyre-
näer und Alexandriner und derer von Cilicieu und Asien, welche mit Stephanus
disputierten. Es ist nicht ganz ersichtlich, ob dabei an eine einzige Synagoge
zu denken ist, welche alle die Genannten umfaßte, oder an mehrei'e und wie
viele. Für das letztere spricht, daß die Fremden, welche sich nach dieser
Angabe in Jerusalem zu eigenen Versammlungen vereinigen, von der Lands-
mannschaft ausgehen. Man könnte nun vermuten, daß die Christen als Lands-
mannschaft der Galiläer (Act. 1, 11; 2, 7) eine ähnliche Stellung eingenommen
haben; doch ist der Name nicht in zutretfendem Sinne nachweisbar. Nach
Act. 24, 5 muß man annehmen, daß sie vielmehr unter dem Namen Nazaräer
bekannt waren , und dieser wiederum bezeichnet wohl nicht die Herkunft
des Vereins, sondern diejenige des Stifters und hat also einen anderen Cha-
rakter Selbst aber wenn die Christen eine Synagoge als Galiläer in
Jerusalem gebildet hätten, in ähnlicher Weise wie die Libertiner, so wäre
daraus nicht viel über die Einrichtung ihrer Gemeinschaft zu entnehmen, da
wir ja auch darüber gar nichts wissen, in welchem Sinne und unter welchen
Formen jene Landsmannschaften sich als besondere Synagogen in Jerusalem
eingerichtet haben. Für die ganze Frage ist aber doch nicht zu übersehen,
daß wir in unsern Quellen den Namen der Synagoge überhaupt nicht auf
die Christen aufgewendet finden."
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 41
den Eifrigsten ihrer jüdischen Landsleute nur zum Lobe gereicht
haben. Glaubten sie die Person des künftigen Messias bereits
zu kennen, so war das freilich in den Augen dieser ein schwerer
Irrtum; aber durch den Kreuzestod schien der Irrglaube an der
Wurzel bereits beseitigt, und jene Eifrigen konnten eben deshalb
erwarten, daß „das Ärgernis" nun in sich, selbst in Kürze zusammen-
brechen, der messianische Eifer dagegen nachbleiben werde. Die
jüdische Obrigkeit aber konnte die Sache abwarten und sich mit
Überwachung begnügen. Spielte sich doch einstweilen noch die
ganze Bewegmig in den untersten Schichten ab ^.
Allein die Periode der Nachsicht bez. stoßweiser und nicht
sehr kräftiger Reaktionen seitens der Judenschaft mußte aufhören
und den schärfsten Repressalien weichen, sobald die (im jüdischen
Sinn) bedingungslose oder ganz lax bedingte Heidenmission
eine offenkundige Tatsache wurde. Die Heidenmission spaltete
aber zunächst die kleine Christenschar selbst und veranlaßte die-
jenigen, welche sie ablehnten, näher an ihre nichtchristgläubigen
Brüder heranzurücken. Der Apostel Paulus mußte über eine
doppelte Gegnerschaff klagen und mit ihr kämpfen: sowohl die
gesetzesstrengen Judenchristen verfolgten ihn. als auch, wie
I Thess. 2. 15 f. zeigt, die Juden (ey.dic6$arTeg y/udg .... xco-
Ivovxeg fjjiiäg roTg edveoiv Aalrjoni , t'ya ocod(7)oiv), die somit der
christlichen Mission unter den Heiden, obgleich sie sie im Grunde
nichts anging, keineswegs mit verschränkten Armen zuschauten.
Die Anfänge der Heidenmission sind nicht völlig klar —
Paulus ist nicht der erste Heidenmissionar gewesen- — ; jedoch
aus apriorischen Erwägungen und aus bestimmten Mitteilungen
können wir folgern, daß der Übergang zur Heidenmission ein
^) Mau vgl., was über Gamaliel Act. 5, 34 ff. erzählt ist. Niederes Volk,
s. Joli. 7,48. 49: fii'i rig sy. rcöv aoy6vio)r s.-riOTevoer eig avzur i) sy. rwr <Paoi-
oaio)v ; d/J.ä 6 o/kog ovio; 6 fiy yiriooy.oyv lov vöuor frcagaioi staiv. Die
Apostelgeschiclite mai-kiert jedoch c. 6. 7, daß auch Priester (angeblich ein
:To/.i'g oyl.oq derselben) hinzugetreten seien, und c. 15. 5 auch Pharisäer.
-) Paulus hat nirgendwo in seinen Briefen den Anspruch erhoben, die
Heidenmission überhaupt erst begonnen zu haben. Hätte er sie begonnen,
so hätte er das gewiß nicht verschwiegen. Gal. 1, 16 sagt nur, daß der
Apostel bereits seine Bekehrung als Berufung zur Heidenmission verstanden
hat; aber daß diese selbst, als er sie auszuführen begann, etwas ganz Neues
war, sagt die Stelle nicht. Mau braucht auch nicht aus ihr zu folgern, daß
daß Paulus sofort als Heidenmissionar aufgeti-eten ist; der Zweck der Offen-
barung des Sohnes Gottes (\'va Evay/E/.l'^oifiai ainov iv roT; edreoir) kann sich
ihm allmählich enthüllt haben. (Anders wäre es, wenn es sicher stünde,
daß er sofort nach seiner Bekehrung nach Arabien gegangen ist . um dort
direkte Heidenmission zu treiben; allein es ist nicht bekannt, ob er sich
sofort nach Arabien begeben hat, wie lange er dort gewesen ist, und ob er
dort schon die direkte Heidenmission begonnen hat). Nur das ist anzunehmen,
42 Einleitung und Grundlegung.
allinählieher Avar, sich aber als solcher mit zwingender Gewalt
aufdrängte. Auch hier war alles durch die innnere Lage des
Judentums bereits vorbereitet, nämlich durch den jüdischen
Missionseifer, die zum Universalismus strebende Zersetzung und
den abgestuften Proselytismus. Wir haben darauf in dem ersten
Kapitel schon hingewiesen.
Nach der Apostelgeschichte (cap. 6. 7) ^ war die älteste jerusa-
lemische Christengemeinde aus zwei Elementen zusaminengesetzt,
dem palästinensisch-hebräischen und dem Element der Diaspora-
Juden ('EAkfjviotai) 2. Zwischen beiden trat frühzeitig eine Spannung
ein; sie führte zur Einsetzung der sieben Armenpfleger, die der
zweiten Gruppe angehörten und sämtlich griechische Namen trugen.
Innerhalb dieser Grup})e, die wir uns im ganzen als freisinniger
d. h. als minder streng in der buchstäblichen Gesetzesbeobachtung
denken dürfen ^, trat Stephanus, der Armenpfleger, besonders her-
daß für ihn, den Bekehrten, eine neue Berufung und ein neuer innerer Kampf
uicht mehr nötig waren, um die Heidenmission zu unternehmen. Daß er
trotzdem der Heidenmissionar bleibt, ist gewiß. Er hat das Recht der Mis-
sion und die Pflicht wirklich begründet, und er hat die Bewegung aus
unsicheren Anfängen zur weltumspannenden Mission erhoben.
') Für den Verfasser der Apostelgeschichte ist der Übergang der Judeu-
mission in die Heidenmission und die aus ihm resultierende Verwerfung des
Judentums eine Sache von größter Wichtigkeit gewesen; ja man darf sagen,
daß er die Darstellung dieses Übergangs in den Hauptzweck seines Buches
aufgenommen hat. Das beweist die Anlage der 15 ersten Kapitel sowie der
Schluß des Buches c. 28, 23 — 28 (die Verse 30 u. 31 sind ein Postscriptum).
Nach Anführung von Jesaj. 6, 9. 10 — eine für das Judentum vernichtende
Prophezeiung, die der Verfasser nun erfüllt sieht — läßt er den Paulus zu
den Juden sprechen: yi'cooTcn' orv f'aiw vuTv ön roig fOvfoiv djreazdh] tovto
ro nojTyQioi' tov dnov ' avrol xai dy.ovoovxai. Deutlicher kann man es nicht
sagen, daß das Evangelium nicht den Juden, sondern den übrigen Völkern
gegeben ist. — Was oben im Text von dem Werke der Heidenmission er-
zählt wird, stützt sich auf die Apostelgeschichte, soweit als ich ihre Berichte
für zuverlässig halte. Ihr Verfasser ist Pauliner; aber er motiviert den christ-
lichen Universalismus sehr viel einfacher als Paulus oder vielmehr — er
motiviert ihn gar nicht (das Evangelium ist universalistisch), wenn er auch
nicht verschleiert, daß anfangs nur den Juden gepredigt worden ist und sich
die Heidenmission langsam entv/ickelt hat. Die innerchristlichen Spannungen
kommen dabei kaum zum Ausdruck.
-) Daß es in Jerusalem aber auch Christen gab, die vorher Proselyten
waren, zeigt Apostelgesch. 6, 5: Nixölaov jTfjoot'jkvTov. Das hinzugefügte
'Avztoyja zeigt ein besonderes Interesse für diese Stadt beim Verf. der Schrift.
^) S. Weizsäcker, Apost. Zeitalter- S. 51 ff. Natürlich waren sie „gute"
Juden, sonst hätten sie sich nicht in Jerusalem niedergelassen ; aber es darf
angenommen werden, daß diese Synagogen der Libertiner (Römer), Cyrenäer,
Alexandriner, Cilicier und Asiaten (Act. 6, 9) auch hellenisierte Juden um-
faßten, die durch hellenische Wissenschaft die jüdische Religion erweichten.
Andererseits zählten auch sie exklusive Fanatiker in ihrer Mitte, und von
ihnen ist der erste Ansturm gegen die Christen ausgegangen. Das palästi-
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 43
vor. Die Anklage seitens einiger fanatischer Landsleute gegen
ihn vor dem Synedrium lautete, daß er fortgesetzt blasphemische
Reden führe gegen „den heiligen Ort" und das Gesetz, indem er
behaupte, dal,! Jesus den Tempel zerstören und die Sitten, die
Moses geboten habe, ändern werde. Diese Anklage wird in der
Apostelgeschichte als erlogen bezeichnet; aber, wie die Rede des
Stephaims beweist, war sie an sich begründet, erlogen war nur
die Tendenz, die man den Worten gab. Stephanus hat nicht
wider den Tempel und das Gesetz gesprochen, um ihren gött-
lichen Ursprung zu bestreiten, sondern er hat die begrenzte Dauer
dieser Einrichtungen behauptet. Damit setzte er sich allerdings
in Widerspruch zu dem vulgären Judentum seiner Zeit, aber
schwerlich in AViderspruch zu allem, was jüdiscli war. Daß es
im Judentum, vornehmlich in dem der Diaspora, bereits Rich-
tungen gab, die den Tempelkultus ^, und in diesem in erster
Linie die blutigen Opfer, für unwesentlich, ja für bedenklich
hielten, steht fest. Ebenso gewiß ist auch, daß aus äußeren und
inneren Gründen in manchen jüdischen Ivi'eisen die äußerliche
Gesetzesbeobachtung nicht hoch geschätzt wurde bez. hinter der
Moral mehr oder weniger zurücktrat. Es ist demnach historisch
und psychologisch wohl verständlich, daß ein für das Evangelium
gewonnener Diasporajude die souveränen und exklusiven sittlichen
Momente, welche dasselbe darbot 2, mit schon bestehenden Dispo-
sitionen in Bezug auf die relative Wertlosigkeit des Tempels und
des Zeremoniengesetzes verband und das Ergebnis zog: der Messias
Jesus wird den Tempelkultus abschaffen und das Zeremonien-
gesetz ändern. Man beachte dabei das Futurum; die Apostel-
geschichte scheint hier sehr genau zu berichten: Stephanus hat
nicht zu Änderungen aufgefordert — erst der als Messias wieder-
kehrende Jesus wird Wandel schaffen — , sondern er hat diese
Änderungen prophetisch vorhergesagt und damit allerdings den
Unwert der bestehenden Ordnungen behauptet. Zur Heidenmission
hat er nicht aufgefordert, aber er hat sie durch sein Wort und
seinen Tod doch mitbegründen helfen.
nensische Judentum (das Synedrium) schloß sich an. In dem embryonalen
Stadium erscheint also die erste Christeuverfolgung als eine Zänkerei und
Spannung innerhalb des Diaspora-Judentums in Jerusalem.
^) Zumal nachdem derselbe wiederholt durch das verweltlichte Priester-
tum entweiht war.
^) Auch daran darf hier erinnert werden , daß Jesus selbst den Unter-
gang des Tempels prophezeit hat. Ich halte mit Weizsäcker (a. a. 0. S. 53)
dieses Herrnwort für echt. Es ist zum Ausgangspunkt geworden für eine
innere Entwicklung seiner Jünger, die sie schließlich zur Heidemnission ge-
führt hat. Vgl. über das Herrnwort vom Untergang des Tempels und seine
Bedeutung Wellhau seus Kommentare zu den Synoptikern.
44 Einleitung und Grundlegung.
Stcphanus wurde gesteinigt und ntarb, wie Hus, für eine
Sache, deren Konsequenzen er walirseheinlieli nocli nicht über-
schaute: seine Steinigung ist nicht auffallend — diese Art von
Jesusgläubigen konnte das orthodoxe Judentum am wenigsten
vertragen. Auch die Anhänger des Stephanus wurden verfolgt —
grell war ja auf einmal die kleine Christenschar in ihrer Gefähr-
lichkeit beleuchtet ■ — : sie mußten Jerusalem verlassen, nicht aber
die Apostel (Act. S, 1); diese haben sich also mit Stephanus
in dem l'unkte der Anklage noch nicht für solidarisch
erklärt^ Die Versprengten zogen in Judäa und Samarien umher
und wirkten unfreiwillig-freiwillig als Missionare, d. h. als Apostel
(Act. 8, 4): unter ihnen war der Gemeindepfleger Philippus der
Bedeutendste; er predigte in Samarien und an der Küste. Wie
er den äthiopischen Dynasten, einen Eunuchen, gewomien und ge-
tauft hat, wird ausführlich berichtet (Act. 8, 26 ff.), und das ist
wohl verständlich. Der Mann war kein Jude, sondern gehörte zu
den ^^(poßov/ievoi rov ^foj-"; übrigens hätte er als A'erschnittener
auch nie Jude Averden kömien. Indem er der christlichen Ge-
meinde zugeführt wird, er, der „halbe" Proselyt und Eunuch, ist
eine starre Schranke bereits gefallen.
Allein ein Fall entscheidet noch nicht, und auch der zweite
ähnliche Fall — Petrus tauft den ,,fpoßovftevog'-^ Cornelius in
Cäsarea — kann die prinzipielle Bedeutung noch nicht gehabt
haben, welche der Verfasser der Apostelgeschichte ihm gibt 2.
') Dies scheint mir sehr wichtig und bezeugt zugleich die Treue der
Berichterstattung der Apostelgeschichte an diesem Punkte. Verfolgt wurden
augenscheinlich die Christen damals mit Auswahl; unbehelligt blieben solche,
deren Devotion gegenüber dem Tempel und Gesetz zweifellos war, also zu-
nächst auch noch Jacobus, Petrus und die anderen Apo.stel. Daß Petrus erst
später, wenn auch nicht viel später, den ersten Schritt aus dem strengen
Judentum getan hat, sagt die Apostelgeschichte deutlich genug. Anders
Weizsäcker (a. a. 0. S, (JOf.), der den ersten Schritt schon hierher verlegt,
aber sonst richtig bemerkt: „Es ist einleuchtend, daß diese Erkenntnis (näm-
lich daß das Heil im Reiche, das zukünftige Heil, nicht mehr auf die Ver-
pflichtung des Gesetzes gegründet sein kann) durch nichts so sehr erweckt
und gefördert werden konnte, als wenn von pharisäischer Seite der Glaube
an Jesus und sein Reich verfolgt wurde, weil durch denselben der unver-
Iniichlichen Dauer des Gesetzes uud dem Glauben an das Heil desselben
f^intrag geschehe. Die Verfolgung ist daher die Befreiung des Christen-
glaubens, sie ist das Mittel, denselben zur Klarheit über sich selbst zu
bringen. Und sie ist in diesem Sinne an der Urgemeinde nicht vergeblich
gewesen."
■•') Wenigstens hat sie sicher nicht dort gelegen, wo der Verfasser sie
sucht; al)er insofern war allerdings der Fall von hoher Bedeutung, als er
Petrus nötigte, der Gesinnung und Praxis nun beizutreten, die die Stephanus-
freunde bisher allein (ohne die Urapostel) befolgt hatten (s. die vorige An-
merkung). Die rk'kehrung des Hau})tmauns von Cäsarea führte deu Petrus
Der Übergang von der Juden- zur Heidenniission. 45
So lange es sich um Proselytcn, sei es aucli \m\ solche des
weitesten Kreises, handelte, konnte selbst der strengsti; Jndenchrist
eine Auffassung finden, die ihm ihre Aufnahme erträglicli er-
scheinen ließ: er konnte die recipierten Proselyten für Angehiirige
der Christengemeinde im weiteren Sinne halten, d. li. noch
immer für Proselyten.
Der nächste und entscheidende Schritt geschah in Antiochien ;
er ging wiederum von den verjagten Stephanusfreunden aus (Act.
11, 19 ff.), die auf ihren Missionswanderungen nach Phönicien,
Cypern und Antiochia gekommen waren. Zwar die Mehrzahl von
ihnen hielt sich streng an die Judenmission, aber einige —
cyprische und cyrenische Männer^ — predigten in der großen
und mit ihm einen Teil der jerusalemischen Gemeinde ein wichtige« Stück
weiter. Übrigens ist nicht zu verschweigen, daß die ganze Perikope Be-
denken in bezug auf ihre Geschichtlichkeit erregt. Lucas hat sie, in der
Überzeugung, daß hier der große Wendepunkt gegeben sei, mit einer in
seinem Werke sonst vermißten Ausführlichkeit behandelt.
M Die Namen sind hier nicht genannt, aber c. Id, 1 werden als anti-
ochenische Propheten und Lehrer der (Cyprier) Barnabas, Simeon- Niger,
der Cyrener Lucius, Manahem, der Vertraute [man darf nicht „Milchbruder"
übersetzen] des Tetrarchen Herodes, und Saulus genannt. Da nach Act. 11, 22 ft^
Barnabas und Saulus erst nach Gründung der Gemeinde in Antiochien dort-
hin gekommen sind, so darf man vielleicht in den drei anderen Personen die
Gründer der Gemeinde und also auch die ersten Heidenmissionare erkennen.
Aber Barnabas muß unter den Begründern der Heidenmissiou
doch an erster Stelle genannt werden; er muß die freie Anschauung
selbständig erworben haben. Das zeigt das V^erhältnis des Paulus zu ihm.
Ein cyprischer Levit, gehörte er von Anfang an der jerusalemischen Ur-
gemeinde an (vielleicht war er schon im Gefolge Jesu gewesen, s. Clemens,
Strom. II, 20; Euseb., h. e. I, 12; Clemens Rom., Hom. 1,9) und hatte sich in
ihr durch einen Akt der Opferwilligkeit eine bedeutende Stellung verschafft
(Act. 4, 36 f.). Unzweifelhaft ist er die Mittelsperson zwischen Paulus und
den Uraposteln gewesen, so lange eine solche nötig war (Act. 9, 27), und
ebenso der Vermittler zwischen Jerusalem und Antiochien (Act. 11, 22 ff.). Er
ist auf der sogenannten ersten Missionsreise des Paulus fast die Hauptperson
(Act. 13. 14). Seitdem er sich ganz der Heidenmission gewidmet hatte, scheint
sein Ansehen in Jerusalem nicht das alte geblieben zu sein. Man mißtraute
auch ihm, und er mußte, wie Paulus, sein Verhalten rechtfertigen (Act. 15;
Gal. 2). In der kritischen Situation, die dann in Antiochien eintrat, hat er,
von Petrus verführt, die Probe nicht bestanden (so wenigstens nach dem
Bericht des Paulus Gal. 2, 13; aber was für Paulus Heuchelei gewesen wäre,
brauchte es für ihn nicht zu sein). Die gemeinsame Missioustätigkeit mit
Paulus hört nun auf (die Apostelgesciiichte läßt sie auch mit einem Miß-
klang enden, aber nach ihr [c. 15, 36 ff'.] haben sich die beiden Apostel
darüber gestritten, ob Marcus mitzunehmen sei). Barnabas geht mit Marcus
nach Cypern. Als Paulus den I. Corintherbrief und den Galaterbrief schrieb,
war er noch als Missionar tätig, und sein Name war auch den Corinthern
nicht unbekannt (s. I Cor. 9, 6). Daß Paulus den Galatern die , Heuchelei*
des Barnabas nach Jahr und Tag noch erzählt, ist ein Beweis dafür, wie
46 Einleitung- und Grundlegung.
AYeltstadt Anrioehiii auch den Hellenen^ und fanden bei ihnen
eine gute Wirksamkeit. Diese Männer sind die ersten
Heidenmissionare gewesen und haben die erste Heidenkirche
— eben in Antiochia — gestiftet. In ihr Werk aber traten
Barnabas und Paulus (Act. 11, 2.3ft'.) ein, um schnell die eigent-
lich Leitenden zu werden ^.
Die bekehrten Hellenen in Antiochien, Syrien und Cilicien
— denn dort entfalteten Barnabas und Paulus bald darauf ihre
Mission — mö<>-en in den ersten Jahren größtenteils frühere
unvergeßlich dem Apostel diese Katastrophe ist, in der die ganze Heideu-
mission auf dem Spiel gestanden hat, fordert aber nicht die Annahme, daß
Paulus sich noch von Barnabas getrennt weiß. Er wird in jeuer Erzählung
überhaupt nur erwähnt, um die Größe des Unheils, welches die Feigheit des
Petrus angerichtet hatte, schlagend zu charakterisieren. Der gewählte Aus-
druck (>iai BaQväßag avvajitjxi^i]) zeigt zudem, daß er halb willenlos mitfort-
gerissen wurde. Die Stelle I Cor. 9,6 beweist, daß Paulus in Barnabas immer
noch den Apostel Christi gesehen und in diesem Sinne in seinen Gemeinden
von ihm gesprochen hat (s. auch Coloss. 4, 10: aus der Stelle geht hervor,
daß Barnabas auch den asiatischen Christen als eine Größe bekannt war).
Aber ein herzliches Verhältnis zwischen beiden, die so lauge Zeit hindurch
so Großes zusammen erlebt hatten, kann doch nicht bestanden haben; das
Schweigen in den Briefen des Paulus und in der Apostelgeschichte (nach
c. 15) ist beredt. Wir aber haben in Ansehung der Heidenmission nacTi
Paulus Barnabas als den verdiente.sten zu schätzen, ja wir können ahnen —
denn das lassen die Quellen gerade noch zu — , daß seine Verdienste in bezug
auf die Beschwichtigung der Sorgen und des Argwohns der jerusalemischen
Muttergemeinde noch weit größere gewesen sind, als die uns erhaltenen Be-
richte sagen. Vielleicht besitzen wir ein Schreiben des Barnabas — nicht
den sogenannten Barnabasbrief, aber den Hebräerbrief. Die Zeugnisse, daß
er der Verfasser sei, sind nicht schlecht, aber doch nicht ausreichend, und
die inneren Gründe sprechen gegen diese Annahme. Ob er von Cypern aus
nach Alexandrien gegangen ist und dort gev/irkt hat, wie die pseudoclemeu-
tiuischen Homilien wissen wollen (Buch I u. U)?
V) So ist 11. 20 zu lesen, nicht , Hellenisten''. — Daß gerade in Anti-
ochien die heidenchristliche Predigt begonnen hat, ist nicht auffallend. Nur
in einer internationalen, nivellierenden Großstadt war diese Wendung möglich
oder drängte sich vielmehr auf. sofern sie nicht durch eine prinzipielle neue
]">kenutnis bedingt war. Eine solche aber hat höchst wahrscheinlich jenen
ersten Missionaren noch gefehlt. Sehr merkwürdig ist, daß man nichts von
einem Gegens.\,tz der .Tudenchristen und der Heidenchristen in Antiochien
selbst hört. Die dort bekehrten Juden müssen sich, zersetzt und kosmo-
politisch wie sie waren, der gesetzesfreien Gemeinschaft einfach angeschlossen-
haben. Erst die jerusalemische Gemeinde trug den Streit in die antiochenische
hinein (s. Act. 15, 1 und Gal. 2, 11—13).
^) Alles, was sich in der Apostelgeschichte direkt oder entfernter auf
Antiochien bezieht, ist besonders wertvoll; denn die Überlieferung, Lucas
sei ein antiochenischer Arzt gewesen, verdient Glauben. Bereits c. 6 und
die zugehörigen folgenden Stücke der Apostelgeschichte tendieren auf
Antiochien.
Der Übergang von der Juden- zur Heidennüssion. 47
^.qioßovfievoi'-^ gewesen sein ^, aber gewiß nicht ausschließlich.
Jedenfalls bildete sich in Antiochien eine Gemeinde, die der
Mehrzahl nach aus Unbeschnittenen bestand, und die nun selbst
die Mission bei den Heiden in die Hand nahm^. Für
diese Gemeinde kam zuerst — die heidnischen Gegner prägten
den Namen — die Bezeichnung „XfjfOTfarot" auf (Act. 11, 26).
Diese Bezeichnung ist für sich selbst ein Beweis, daß sich die
neue Gemeinde in Antiochien kräftig von der Judenschaft abhob^.
Die heidenchristlichen Gemeinden Syriens und Ciliciens hielten
das Gesetz nicht, wußten sich aber doch als das Volk Gottes im
vollsten Sinne des Wortes und waren darauf bedacht, mit der
Muttergemeinde in Jerusalem Fühlung zu haben und von ihr an-
erkannt zu werden*. Für die meisten dieser bekehrten kosmopoli-
tischen Juden und Griechen genügte die Versicherung, daß Gott
ja bereits durch die Propheten den Unwert der Opfer hat ver-
kündigen lassen ^, und daß man deshalb alles Zeremonielle im
Gesetz allegorisch deuten und sittlich verstehen müsse ''. Auch
die anderen heidenchristlichen Gemeinden, die sich nun durch
unbekannte Missionare bildeten (z. B. die römische), urteilten
zunächst so.
Allein so einfach hat sich der Apostel Paulus mit dem Gesetz
nicht abgefunden. Entwertet durch den stillen auflösenden Gang
der Zeit und der Verhältnisse war ihm kein Teil desselben; es
bestand vielmehr in allen seinen Geboten zu Recht. Abrogiert
kann es nur von dem werden, der es gegeben hat, von Gott
1) Cf. Havet, Le Christianisuie T. IV p. 102: ,Je ne sais s'il y est
entre, du vivant de Paul, un seul paien — je veux dire un homme qui ue
connüt pas dejä, avaut d'y entrer, le juda'isme et la Bible." Das ist wolil
übertrieben, aber wird doch wesentlich richtig sein.
2) Act. 13, 1 fl:".
^) Näheres über den Namen „Christen" s. im 8. Buch. — Die heiden-
christliche theologische Terminologie, soweit das Heidenchristentum eine
solche brauchte, muß auch in Antiochien entstanden sein.
*) Man vergleiche, was die Apostelgeschichte (11, '29 f.; 12, 2-5) von einer
Spende erzählt, welche die jüngst gestiftete antiochenische Gemeinde nach
Jerusalem zur Zeit der Hungersnot unter Claudius gesandt hat. Das war
dieselbe Hungersnot, in der die Königin Helena von Adiabene die armen
Jerusalemiten so reichlich unterstützte.
^) An dem Opierwesen hat man sich durchweg das Recht klar gemacht,
den Buchstaben preiszugeben; denn das Opferwesen war bereits für weite
Kreise in die Ferne gerückt und entwertet. Das übrige Gesetz folgte dann
wie von selbst nach.
^) Daß dies die vulgäre heidenchristliche Anschauung war, erkennt
man besonders deutlich aus der nachapostolischen Literatur. Sie war also
in Kraft geblieben trotz der sehr abweichenden und energischen Lehre des
Paulus.
48 Einleitung und (irundlejjiiuij.
selbst, und auch Gort kann es nur so aufheben, daß er es zugleich
in semem Kechtc bejalit, d. h. für seine Erfüllung sorgt imd es
eben dadurch aufhebt. Dies alles ist geschehen : durcli den
Kreuzestod des Sohnes Gottes, Jesus Christus, und die Auf-
erstehung ist das (jesetz erfüllt und aufgehoben. Ob diese Be-
trachtung und Spekulation eine sekundäre und abgeleitete war
(gewonnen an dem Besitz des Geistes und des neuen Lebens, das
der Apostel in sich fühlte), ob sie eine primäre war (gewonnen
an der Gewißheit der Sündenvergebung), ob beides zusammentraf,
diese Frage braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Genug, daß
er überzeugt war, durch den Tod und die Auferstehung des
Christus sei bereits die neue Zeit angebrochen: „Die Zukunft ist
schon Gegenwart geworden, und der Geist regiert." In dieser
Gewißheit erkannte er in dem Evangelium fest und sicher die
neue Religionsstufe, wie er sich auch selbst als eine neue
Kreatur fühlte. Die neue Religionsstufe ist die Stufe des Geistes
mid der Wiedergeburt, der Gnade und des Glaubens, des Friedens
und der Freiheit: alles Alte, auch alle früheren Gottesoffen-
l)arungen, hat sie als Religionen des Sündenstandes unter und
hinter sich. Yon hier aus konnte er, der Jude und Pharisäer,
sogar die große Konzeption wagen, mit der er alle gesunde
Religionsphilosophie und die ganze vergleichende Religions-
geschichte begründet hat. nämlich die „natürliche'' Gotteserkenntnis
der Menschheit bez. das, was sich unter dem Prinzipat des Ge-
wissens in ihr entwickelt hatte, mit dem Gesetze des erwählten
Volkes zusammenstellen (Rom. 1 f.). Beides ist, wenn auch in
verschiedener Weise und nicht gleichwertig, göttliche Offenbarung
— das Beste, was die Menschheit bisher besessen hat — , und
beides hat doch nicht ausgereicht, sondern den Sündenstand ver-
mehrt und zum Tode geführt.
Eine neue Religion ist gegeben — eben deshalb ist die
Heidenmission nicht eine Miiglichkeit, sondern eine Pflicht, die
Gesetzesfreiheit nicht eine Konzession, sondern die entscheidende
und beseligende Form des Evangeliums. Daß es in keinem Sinn
Gesetz ist, sondern Gnade tmd Gabe, darin liegt ja sein Wesen
begründet. Der geborene Jude mag sich auch als Christ be-
schneiden lassen und die Gesetzesgebote halten — er hält damit
das jüdische Volk in Kraft, dessen Rolle im weltgeschichtlichen
Plane Gottes noch nicht ausgespielt ist — \ aber für seine
'j Indessen da der geborene .Jude, der Christ geworden, nach der Mei-
nung des Paulus mit den Heidenchristen in Lebens- und Tischgemeinschaft
treten soll, so wird damit die Gesetzesbeobachtuug an einem sehr wichtigen
Punkte durchbrochen. Über dies Problem hat Paulus wohl nur deshalb
nicht weiter nachgedacht, weil er an das nahe Weltende glaubte.
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 49
Seligkeit ist das Gesetz belanglos; der geborene Heide aber darf
sich nicht beschneiden lassen und darf das Gesetz nicht halten;
denn er ^\'ih■de durch solches Tun erklären, daß Christus umsonst
gestorben ist.
In diesem Sinne hat der große Apostel den Heiden Christus
den Gekreuzigten gepredigt und die Heidenmission sowohl prinzipiell
begründet als tatsächlich verwirklicht. Was die anderen vor ihm
getan, war, gemessen an seiner Überzeugung, unbefestigt und
fragwürdig: es schien zu demselben Ziele zu führen, aber es
wurde weder dem Gesetze noch dem Evangelium ganz gerecht.
Paulus zertrümmerte mit dem Kreuz Christi die Religion Israels,
während er sie doch mit größerer Ehrfurcht und sti^engerem
Gehorsam umfaßte, als jene; er erklärte, die Zeit Israels sei
abgelaufen. Zwar mit einer fast unbegreiflichen Pietät ehrte er
die Judenchristengemeinde Jerusalems, aus der ihm doch soviel
Feindschaft entgegengebracht wurde: aber er ließ darüber keinen
Zweifel, daß nun „die Zeiten der Heiden-' gekommen seien, daß
also judenchristliche Gemeinden, wenn sie nicht mit den heiden-
christlichen zu der einen „Kirche Gottes" verschmölzen, in ihrer
Exklusivität ein wirkliches Existenzrecht nicht mehr besäßen.
Seine religiöse und religionsgeschichtliche Konzeption war, auf
den Kern gesehen, von größter Einfachheit, weil sie auf einer
einzigen Tatsache fußte. Auf eine kurze Formel aber läßt sie
sich nicht bringen, ohne bis zur Flachheit entstellt zu werden, sie
ist immer nur in einem paradoxen Medium lebendig. An Stelle
des Mittels und der Mittel, die er aufgebracht hat, und in denen
sie für ihn gültig und gesichert war, können auch andere Mittel
ti'eten : das haben bereits in der nächsten Generation der Verfasser
des Hebräerbriefes und jener große Unbekannte bewiesen, der die
Johanneischen Schriften geschrieben hat. Seitdem sind noch viele
andere Lehrer aufgetreten, die das paulinische Evangelium anders
begründet haben — ich nenne aus dem 2. Jahrhundert zwei so
verschiedene, wie Marcion und Clemens Alexandrinus — : aber
was sie transformierten, war nicht die Frucht und der Kern. In
dem Kerne sind sie vielmehr mit dem Apostel einig: der nach-
geborene Historiker hat das hohe Vorrecht, dort Einheit in den
ersten und letzten Dingen sehen zu dürfen, wo die Begründungen
und Beweise sehr verschieden sind.
Paulus, der Pharisäer, hat das Volk Israel und die Religion
Israels in der Geschichte entthront^; er hat das Evangelium von
^) Kein Wunder, daß die Juden später behaupteten, er sei ein ver-
kappter Heide; s. Epiph., haer. 30, 16: aal tov Uavkov xaTrjyoQOvvts? ovx
aloxvvovzai i:^iJiÄuozotg riol t^g zatv iperbanooTÖ/xav avrwi' -/caxoi'oyiaQ xal :ilävrig
Xöyoig jie!ioirji.iEvoig. Tagoea ixkv avzov, dig avzög o^ioloysl xai oi-x uQVElzai,
Harnack, Mission. 2. Aufl. 4
50 Einleitung und Grundlegung.
dorn jüdischen Boden losg-orissen und auf den Boden der Mensch-
heit verpflanzt ^. Kein Wunder, daß die volle Reaktion des Juden-
tums gegen das Evangelium nun erst begann — die Reaktion
der Juden und der Judenchristen. Die Feindschaft der Juden
zeigt jedes Blatt der Apostelgeschichte vom 12. Kapitel an ''^, und
auch aus den evangelischen Berichten, deren Quellen bis in die
Zeit vor d. J. 65 zurückreichen, lernt man sie kennen ^. Die Juden
versuchten nun die palästinensischen Gemeinden auszurotten und
die christlichen Missionare zum Schweigen zu bringen. Sie haben
das Werk des Paulus unter den Heiden auf Sciiritt und Tritt zu
hemmen gesucht. Sie haben die Christgläubigen und Christus
in ihren Synagogen verflucht; sie haben die Massen und die
Obrigkeit in allen Ländern aufgehetzt: sie haben die furchtbaren
Vorwürfe gegen die Christen, die schon im Zeitalter Trajans eine
Rolle spielten, systematisch und offiziell in die Welt gesetzt (v/ueig
rfjg xarä tov dixatov xai yjucTn' tmv djz' ixeivov xaxrjg nQoXi)ipE<jog
XF.yovzeg i§ 'E^J.rjrcov äk aviöv vjToriüerzat , ?.aß6rTeg Tt/r jToöq^'aciv fx tov töjiov
öiä t6 (pÜMhjüsg Vit avrov gijdh', mi, Tagoevg el/ii, ovx no/jfiov jroXecog jrokir7jg.
eha cpäoxovaiv avrov sirai "El/.jp'a xai 'ElXrpnÖog fitjTQog xai "Ekhp'og jiaxQog
Tiaiha, dvaßFßijxerai ök etg 'IsQoaöXvjia xai ;^poj'07' sxsT /ne/isvtjxsrai , sjrire&v/Lii]-
XEvai ÖS ■dvyaiEQa tov legeoig jiQog yd/ttov ayaysadai xai tovtov Evsxa jTQoatjkvrov
yf.vEodai xai jTeQiTiitj{)f]rai, eha /li] kaßövTa tijv xögtjv wQyioüai xai xarli nepi-
rofif/g yeyQa<perai xai xarä aaßßdzov xai vojio&eolag.
^) Niemand hat das Ergebnis der Verpflanzung erhabener ausgedrückt
als Lucas in der Geburtsgeschichte Jesu (c. 2), und zwar in den Worten, die
er dem Engel und den Engeln in den Mund legt. — Von der Schätzung des
Paulus in der Heidenkirehe, einem sehr komplexeu Problem, kann hier nicht
gehandelt werden. Die höchste Schätzung findet sich bei den Marciouiten.
Origenes (Hom. XXV in Lucam, t. 5 p. 181 f. ed. Lommatzsch) erzählt uns,
sie lehrten, Paulus sitze im Himmel zur Rechten Christi und Marcion zur
Linken. Er fährt fort: ..Porro alii legentes: Mittam vobis advocatum spiri-
tum veritatis, volunt intellegere apostolum Paulum''. Auch wenn die letz-
teren in katholischen Kreisen zu suchen wären, was mir nicht wahrschein-
lich ist, wäre diese Auffassung für die Großkirche nicht charakteristisch,
sondern etwas Singulare?.
^) Nun begann auch der König Herodes die Verfolgung und zwar richtete
er sich gegen das Kollegium der Zwölfe (Act. 12). Er statuierte ein Exempel
und ließ den Jacobus Zebedäi hinrichten (warum er ihn herausgegriften hat,
wissen wir nicht). Dann ließ er den Petrus in Ketten legen, aber dieser
entging dem Tode, mußte jedoch .Jerusalem verlassen. Dies geschah im J. 12
p. mortem Chr. Seitdem scheinen nur noch einzelne Apostel in Jerusalem
geblieben zu sein. Zur Zeit des sog. Apostelkonzils ist zwar Petrus wieder
daselbst, al)er die Konvention schließt Paulus nicht mit den Elfen, sondern
nur mit ihm, dem Herrenbruder Jacobus und Johannes. Wo waren die
übrigen? Waren sie nicht mehr in Jerusalem, oder zählten sie in dieser An-
gelegenheit nicht mit?
') S. die Aussenduugsreden in den synoptischen Evangelien und auch
die große eschatologische Rede,
Der Übergans^ von der Juden- zur Heideumission. 51
aiTioi) und die Yerleumduiigon über Josum aufgebracht^; sie haben
den heidnischen Christenteinden das literarische Material geliefert;
sie haben — wenn nicht alles täuscht — die neronische Christen-
hetze inspiriert und fast überall bei den späteren blutigen Ver-
folgungen im Hintergrunde oder im Vordergründe der Aktion
gestanden — „fontes persecutionum" nennt Tertullian die Syna-
gogen — ; sie haben das Heidenchristentum, das sie doch gar
nichts anzugehen schien, instinktiv als ihren eigentlichen Feind
empfunden. Die Juden taten, was sie mußten: sie beschleunigten
den Prozeß, der die volle Befreiung der neuen Religion von der
alten bedeutete, und der dem Judentum die Lösung der schon
begonnenen Aufgabe, sich zur Weltreligion auszugestalten, entzog.
In diesem Sinn hat die jüdische Feindschaft etwas Befriedigendes :
sie half die beiden Religionen völlig von einander trennen und
verstärkte, wenn es noch nötig war, in den Heidenchristen die
Gewißheit, daß ihre Religion eine neue Schöpfung darstelle, und
*) Justin (Dial. 17, cf. 108. 117), nachdem er die Juden für die Ver-
leumdungen der Christen verantwortlieh gemacht, behauptet, daß die jüdische
Regierung in Jerusalem ausgesandt habe äVÖpa«; sy.'^.EXTovg ano 'lEQovoa/.>j/.i sig
jiäaav zip' yfjv, ^syovTa<; al'Qsoiv ä&eov XgiaTiavwv JiEqyrjvevai, xaza^Jyovzag raina,
äjiEQ xaO' t]/.twv Ol dyvoovrzsg ?jf(c2g jidvzsg Xeyovai%', (oozs ov /.wrov iavzoig aöixiag
atzioi vjiÜQxsze , dAAä xal zoTg aXXoig äjzaoiv cmlöig dv&gwjtoig, cf. 117: zov viov
Tov ■d'eov ovofia ßeßrjliod'rjvai xazä Tiäom' zijv yfjv xal ßXaocprj/HEca&ai ot ägxiSQeTg
zov Xaov v/iicöv xal diddoxakoi sigyäaavzo , u. C. 108: ävÖQag ;ij£<poioi'rJ oaiTS?
ixXexzovg sig jräaav zijv oixov/nsvtji' ijzefiifmzs , xrjQvaoovzag ozi aigeoig zig ädsog
xai ttvofiog sy/jyeQzai äjio 'Itjaov zivog FaliXalov jiXävov , ov ozavocoadrzcov rj^üjv
Ol jLia&tjzal avzov aXeifjavzsg avrov djto zoü ftv7]fiazog vvKZog .... nXavöJoi rovg
dv&Qü)jiovg XJyovzeg sy?]yeQ&ai avzov sx vexQwv xal eig ovgavov dveXr}}..v&Evai,
xazEiJtövzEg dsdidaxEvai xal zavza aizEQ xazd zwv 6fioX.oyovvz(av Xqiozov xai 6idd-
oxaXov xai viov dEov Eivai jiavzi ysvEi dv&QWJiwv ddsa xai dro/iia xai dvöoia
IsyszE. Verfluchung der Christen in den Synagogen: Dial. 16 (dazu: ovx l^ov-
aiag s}(szs avzoxeiQeg yevEodai 'tjf.uov did rovg vvv ijnxgazovvzag [die Römer],
oadxig de äv iörvrjre, xal zovzo ejigd^azs). 47. 93, 95. 96. 108. 117. 137: hier .sagt
Justin, daß die Verfluchung Ciiristi im synagogalen Gottesdienst auf An-
ordnung der Archisynagogen /ifzd zi]v jTQoasvx>iv geschieht (daß sich die
jüdischen Proselyten aus den Heiden noch feindlicher gegen die Christen be-
nehmen als die Juden selb.st, sagt Justin ausdrücklich, Dial. 122); Hieron. in
Jesaj. 52, 5; Ej^iphan., haer. 29, 9. — Justin, Apol. I, 10; I, 31 (im ßarkochba-
krieg wurden die Judenchristen blutig von den Juden verfolgt). Tertull. ad
nat. 1, 14: ,et credidit vulgus ludaeo; quod euim aliud genus seminarium est
infamiae nostrae?" adv. Marc. III, 23; adv. Jud. 13: „ab illis enim in-
cepit infamia" ; Scorpiace 10: „synagogae ludaeorum fontes persecutiouuni".
Iren. IV, 21, 3: „ecclesia insidias et persecutiones a ludaeis patitur".
IV, 28, 3 : „ludaei interfectores domini .... apostolos interficientes et perse-
quentes ecclesiam". Origenes bezeugt wiederholt, daß die Juden die Urheber
der Verleumdungen gegen die Christen seien. Dazu s. Stellen wie Hom. I
in Ps. 36 (t. 12 p. 154 ed. Lomm.): „Etiam nunc ludaei nou moventur ad-
versus gentiles, adversus eos, qui idola colunt et deum blasphemant, et illos
nou oderunt nee indignautur adversus eos; adversus Christiauos vero insatia
52 Einleituuij; und (irundlegung.
daß sie selbst nicht nur die Zugelassenen zweiter Ordnung, son-
dern das neue Yolk Gottes seien, das an Stelle des alten ge-
treten ist^.
Aber aucli die Judenchristen nahmen den Kampf auf; sie
stellten an die unriochenische Gemeinde von Jerusalem aus die
Fordermig der Beschneidung. Die Folge dieser Forderung war
,^ das sogenannte Apostelkonzil. Wir haben zwei Berichte über
/ ii dasselbe (Gal. 2 und Act. 1^); aber jeder läßt an sich viel zu
wünschen übrig, und beide sind schwer vereinbar. Der des Paulus
ist mehr hingewühlt als hingeschrieben und strebt so gewaltsam
der Mitteilung des schließlichen Ausgangs zu, daß die Vorstufen
aus den abgerissenen Sätzen teils gar nicht, teils nur unsicher zu
erkennen sind: der andere hat den endgültigen Ausgang, wenn
bili odio feruntur-' (s. auch p. 155). Vor allem ist der Bericht des Eusebius
(in Jesaj. 18, 1 f.) von Wichtigkeit, dessen Quelle man leider nicht kennt
(Justin ist jedenfalls nicht die Quelle desselben): evqouev iv toTc tmv .-za/.aicov
ox'yyQäjiuamv, loc ot t1]v 'l£goi'aa?.i//t oixovvtsg tov tojv 'Im'dakov edi'ovc: leoeig
xai jToeaßrTsooi yodfifiara Stayaoä^avifg eig .Twrra diE:ji^m'a%'TO zu f'dvy] roTg
a:iavzay_ov 'lovöaioig öiaßdXXovzeg rijv Xqictov diSaaxa'/.iav (og cuQeaiv xaivrjv xal
aX/MToiav rod deov, jTa()t]yy£MÖi' zs öi' e:jiozo?.mv fii/ jzaoads^aa&ai avzr/v .... o'i
Z8 u:rr6ozo?.oi ai'zMV (■:xiozolag ßißlivo.g xofuCo/isvoi .... üjiavraxov yi]?
dthosyov , zov iregi rov ocoziJQog ijßwv iväiaßdU.ovzeg Xdyov. u:ioaz6/Mvg fik elahi
xal vvv k'dog eozlv 'lovöaloig ovo^iaQsii' zovg kyxvxXia yQÜfinaza jiagd riov doxöv-
rxov avzwv E.-rixofut^o/^ih'ovg. Nach dieser Stelle ist Paulus ein , Apostel" ge-
wesen, bevor er ein Apostel wurde, und es läßt sich die Frage wohl aui-
werfen, ob jene Eigenschaft nicht mit dazu beigetragen hat, daß er sich,
Christ geworden, in und mit seinem Christenstand sofort zum Apostel be-
rufen fühlte.
^) In diesem Zusammenhang hat man auch auf den christlichen Sprach-
gebrauch von eOrt] („gentes", „gentiles") zu achten. Das Alte Testament
stellt die f'dvrj dem Volke Israel gegenüber (unter Umständen wird natürlich
auch dieses zu den „Völkern" gerechnet), und daher war es den Juden ganz
geläufig, auch die anderen Religionen lediglich dadurch zu charakteri-
sieren, daß sie die Religionen der idv-)] seien. Somit hatte edvyj Ijereits im
vorchristlichen Zeitalter bei den Juden eine Bedeutung, die sich mit unserem
Wort „Heiden" (das vielleicht das von den Deutschen rezipierte Wort f&v>]
selbst ist; s. darüber später) ungefähr deckte. Paulus — und augenschein-
lich nicht er allein — konnte es daher nicht bestehen lassen, daß ein für
das Evangelium gewonnener Nicht-Jude noch zu den t'dvt] gerechnet wurde.
Er gehörte einst zu ihnen, nun aber nicht mehr (s. z. B. I Cor. 12,2: oldare
ozi QTF. f'/)v7} »}ts TTQog T« ««SwA« . . . i/ysöüs); er zählt jetzt zum wahren Israel
bez. zu dem neuen Volke. Offenbar sollte ursprünglich damit nicht gesagt
sein, daß er seine Nationalität wirklich gewechselt hätte; allein es mußte
den christlichen Kosmopolitismus und wiederum das Selbstbewußtsein, auch
politisch etwas Besonderes zu sein, mächtig fördern, wenn man sich in dieser
Weise einerseits allen Edvt] gegenüber stellte, andererseits sich als das neue
Weltvolk faßte und von den Juden nichts wissen wollte. Daß , wo der Zu-
sammenhang unmißverständlich war und es nur auf die nichtjüdische Her-
kunft ankam, aucli Christen noch als zu den £{)vt] gehörig bezeichnet worden
sind, lu'aucht kaum besonders erwähnt zu werden.
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 53
nicht alles trügt, duroli die imgehörigo Kombination mit einer
anderen, späteren Aktion vöUii»- vorwirrt mid erregt auch sonst
Bedenken. Aber feststellen läßt sich noch, daß Petrus. Johannes
und .Tacobus das Werk des Paulus anerkannt und ihm keine
YorscIiiifrtMi für seine Missionswii'ksamkeit gemacht haben: sie
selbst aber wollten, wie bisher, ausschließlich bei der Judenmission
bleiben. Die Vereinigung von Juden- und Heidenchristen zu einer
Gemeinschaft des Grottesdienstes und des Lebens wurde zunächst
von Paulus nicht erreicht; mu- das Prinzip war zum Siege ge-
kommen. Weite Kreise der Judenchristen haben auch diese,
freilich in sich haltlose und kurzlebige Konvention nicht anzu-
erkennen vermocht, und dennoch war sehr viel gewonnen — durch
die Abmachung selbst und noch mehr dadurch, daß sie über sich
hinauswies. Die Judenchristen spalteten sich. Wie sie dabei
Jahre hindurch (in Jerusalem und sonst) doch haben zusammen-
halten können, ist ein schweres Rätsel. Der eine Teil fuhr fort,
den Paulus und sein Werk mit glühender Feindschaft und mit
allen Mitteln zu verfolgen: man suchte ihn zu vernichten. Gewiß
war auch ehrliche Überzeugung dabei, die Paulus freilich nicht zu
sehen vermochte: doch hat er diesen „Eiferern um das Gesetz"
auf palästinensischem Boden bis zuletzt Konzessionen gemacht;
nur außerhalb Palästinas ließ er sie nicht gelten, sobald sie auch
Heiden für ihre Form des Christentums gewinnen wollten. Der
andere Teil — und auf diesen Boden stellten sich Petrus und viel-
leicht noch andere Urapostel — begann bald, w^enn auch tastend
und unsicher, über die Konvention hinauszugehen und auf dem
außerpalästinensischen Gebiet mit den Heidenchristen in Lebens-
gemeinschaft zu treten, auch die Judenchristen in diesem Sinne
anzuleiten. Diese unsicheren Versuche endigten mit einer neuen
Konvention, durch welche nun eine wirkliche Lebensgemeinschaft
ermöglicht wurde. Bedingung war. daß die Heidenchristen sich
vom Götzenopferfleisch, vom Genuß des Bluts und des Erstickten
und von der Hurerei enthalten sollten. Seitdem ist Petrus und
vielleicht noch dieser oder jener aus der Zahl der Lh'apostel in
die Heidenmission eingetreten. Die letzte Schranke war gefallen^.
') Daß es in der Diaspora — und zwar nicht nur in den Palästina be-
nachbarten Provinzen — ursprünglich auch judenchristliche C4emeindeu ge-
geben hat (nicht nur einen judenchristlichen Bestand innerhalb der heiden-
christlichen Gemeinden), darf man wohl annehmen. Aber solche judenchrist-
liche Gemeinden müssen sich in Kleiuasien, oder wo sie sonst existierten,
verhältnismäßig schnell mit den heidenchristlichen, paulinischen verschmolzen
haben. Die Gemeinden von Smyrna und Philadelphia scheinen um das
Jahr 93 (Apoc. Joh.) wesentlich aus bekehrten Juden bestanden zu haben;
sie stehen aber im Verbände der anderen Gemeinden, als wären sie heiden-
christliche.
54 Einleituncf und Grundlegung.
Bewundern wir die Gr(">ße des Paulus, so gilt unsere Bewunderung
nicht minder den Uraposteln, die imi des Evangeliums willen auf
eine Lebensweise eingingen, die ihr Herr und Meister, mit dem
sie gegessen und getrunken, sie nicht gelehrt hatte.
Das Judenchristentum, welches in Lebensgemeinschaft mit
den Heidenchristen trat, hob sich damit selbst auf: Petrus ist in
der zweiten Periode seiner Wirksamkeit kein „Judenchrist" mehr
gewesen, sondern „Hellene" geworden^; aber noch blieben zwei
judenchristliche I^arteien, nämlich die, welche auf der Konvention
des Apostelkonzils verharrte, den Heidenchristen ihren 8egen gab,
aber im Leben von ihnen abrückte, und die, welche die Heiden-
kirche als eine Pseudokirche zu bekämpfen fortfuhr. Eine kirchen-
geschichtliche Bedeutung kommt beiden nicht mehr zu, dazu
Avaren sie numerisch zu schwach; Justin, der es wissen mußte,
sagt Apol. T, 53, das jüdische Volk habe Jesum verworfen „jiAj/v
dUycov Ttvcor". In der Diaspora waren Judenchristen — Syrien
und Ägypten ausgenommen — kaum vertreten-, dort fühlten sich
') S. Pseudoclemens, Honi. XI, 16: iuv 6 äXköcfvXos t6v vöfwv jigä^i],
'lovdaTog iariv, fd] jigätag ök'IovdaToc: "EXhp'. Die Mi.ssionstätigkeit muß Petrus
zuletzt ganz an die Seite des Paulus gerückt haben (s. I Cleni. 5) — sonst
bliebe seine Schätzung in der Heidenkirche vollends unerklärlich — , aber
wir wi.ssen nichts Genaueres über sie. Zufällig erfahren wir (Gal. 2\ daß er
in Antiochien gewesen ist. Der I. Corintherbrief macht es wahrscheinlich,
daß er bald nach der Stiftung der corinthischen Gemeinde vorübergehend
auch nach Corinth gekommen ist. Es ist auch ein Zufall zu nennen, daß
Avir das hören. Lucas hat nach c. 12 der Apostelgeschichte das Interesse
für die Missionstätigkeit des Petrus verloren; warum, ist nicht recht klar.
AVenn er bei Judenchristen in universalem Sinn gewirkt hat, ohne doch
ihre Lebensführung von dem Judentum sofort zu befreien, so versteht man
es, daß die heidenchristliche Überlieferung kein besonderes Interesse an seiner
Tätigkeit genommen hat. Einmal aber muß in seinem Leben der Moment
eingetreten sein, in welchem er ganz auf die heidenchristlichen Grundsätze
eingegangen ist. Man kann vermuten, daß das nicht erst in Rom geschehen
ist, sondern schon damals, als er in Corinth war. (In Rom war er kaum
wenige Monate, dann wurde er gekreuzigt. Wir besitzen dafür ein urkund-
liches Zeugnis, das merkwürdigerweise bisher nicht beachtet worden ist.
Porphyrius schreil)t bei Macarius Magnes (III, 22): lOTogniai fitjS' öXlyov?
fifjvag ßocHijoag r« TTgoßdria 6 Tlhgog ioravQwaßai. Das kann sich nur auf
den römischen Aufenthalt beziehen. Das Zeugnis ist um so wichtiger, als
Porphyrius lauge in Rom gelebt und dort eingehend sich mit dem Christen-
tum befaßt hat. Sollte aber der Heide bei Macarius nicht Porphyrius selbst
sein, so hat er ihn ausgeschrieben). Dennoch müssen wir gestehen, daß uns
die Mittel fehlen, um jene Schätzung des Petrus wirklich erklären zu können,
die ihn erst neben (s. Clemens und Ignatius), dann über Paulus gestellt hat.
Auch daß der Brief, den wir im N. T. als I. Petrusbrief lesen, ihm beigelegt
worden ist, ist ein Rätsel, das kaum mindere Schwierigkeiten bereitet als
die Annahme, das Schreiben sei wirklich von ihm.
2) Doch haben einzelne Versuche der Propaganda nicht gefehlt. Dahin
gehören die (irundschrii'ten der pseudoclementinischen Literatur, gehört
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 55
die Heidenchristen als die Herren, ja fast als die Einzigen^, und
es dauerte nur noch bis gegen das Jahr 1 80, da wurden die Juden-
christen in die Ketzerkataloge der großen Kirche eingerückt. Man
zahlte ihnen also heidenchristlicherseits mit der gleichen Münze
heim: die Ketzer machten ihre früheren Richter zu Ketzern.
Aber auch die Beziehungen der Judenchristen zu ihren
Stammesgenossen, den Juden, verschlechterten sich bald — soweit
überhaupt leidliche Beziehungen bestanden hatten. Die Zerstörung
Jerusalems und des Tempels scheint hier die letzte Krise, die
mit dem vollen Bruch endigte, hervorgerufen zu haben'-. Kein
Christ, mochte es auch ein einfacher Judenchrist sein, konnte
die Katastrophe des jüdischen Staates, seiner Stadt und seines
Heiligtums, für etwas anderes halten als für die gerechte Strafe
des Volkes, das seinen Messias gekreuzigt hatte. Damit hörte er
eigentlich auf, Jude zu sein — gewiß hat übrigens die Katastrophe
das exklusive palästinensische Judenchristentum dezimiert und
eine beträchtliche Anzahl sei es zum Judentum zurückgeführt
sei es in die große Ivirche getrieben - - ; denn ein Jude, der den
Untergang seines Staates und des Tempels als göttliche
Schickung acceptierte, mordete sich damit selbst. Indessen, welcher
Inkonsequenz sind nicht Gefühle fähig, die an eine starke Über-
lieferung gebunden sind! Es gab doch Judenchristen, die nach
dem Fall Jerusalems das blieben, was sie waren, also augen-
scheinlich über den Fall des Tempels klagten und doch in diesem
Fall eine gerechte Strafe sahen! Durften sie wünschen, daß der
Tempel wieder erbaut würde, oder durften sie das nicht wünschen?
Daß sie ihren Landsleuten, den echten Juden, nun zum doppelten
Ärgernis wurden, ist wohl verständlich. So gerieten diese armen
Leute dauernd zwischen zwei Feuer: die Juden verfolgten sie
mit grimmem Haß^, und die Heidenkirche beurteilte sie als
Symmaehus und seine literarische Tätigkeit am Ende des 2. Jahrhunderts
sowie jener Elkesait Alcibiades aus Apamea in Syrien, der nach Rom kam,,
und von dem Hippolyt in den Philosophumenen berichtet. Das gnostische
Judenchristentum — ihm sind alle diese Erscheinungen zuzurechnen — konnte
mehr Gehör in der Heidemvelt erhoffen als das strenggläubige, da es syn-
kretistisch war. Auf Einzelheiten hier einzugehen, würde zu weit führen.
1) Wie sich das Blatt gewendet hat. erkennt man bei Ju.stin, Dial. 47.
Die Heidenchristen lassen sich längst keine Bedingungen mehr vorschreiben,
sondern sie erwägen ihrerseits, ob und wie weit sie Judenchristen als christ-
liche Brüder anerkennen können, und verfahren dabei sehr rigoros.
-) Wann sich die Judenchristen von jeder Beziehung zu den Synagogen
getrennt haben bez. trennen mußten, wissen wir nicht ; wir können nur ver-
muten, daß, wenn diese Beziehungen bis zum .Jahre 70 bestanden haben, sie
dann aufhörten.
^) Epiphanius (h. 29, 9): ov fiovov ot rwr 'lovbauov zialöeg .toö^ rovxovg
yjy.rtp'zat lüaoc , a/j.ä driOTÜueroi i'codfr y.ui fifoijc /j^ieoag xal neol ri/V iortsoarr
56 Einleituno- und Grundlegung.
Ketzer, d. h. als Nichtchristen. „Semijudaei" und „Semicliristiani"
zugleich hat sie Ilierouymus genannt, der sie noch persönlich ge-
kannt hat^. Er hat nicht Unrecht: sie waren wirklich „Halbe'';
sie waren Halbe, obgleich sie die Lebensweise befolgten, die
Jesus selbst l)efolgt hatte. Unter dem Druck des Buchstabens
Jesu sind sie langsam gestorben.
Kaum gibt es eine Tatsache, die des Nachdenkens so würdig
ist, wie die, daß die Religion Jesu auf jüdischem und auch auf
semitischem Boden keine Wurzeln hat fassen können 2. Es muß
doch etwas in dieser Religion gelegen haben und liegen, was dem
freieren griechischen Geist verwandt ist. In gewisser Weise ist
ja das Christentum bis auf den heutigen Tag griechisch geblieben;
denn die Formen, die es auf diesem Boden angenommen hat,
sind in den großen Kirchen — auch im Protestantismus — wohl
modifiziert, aber nicht abgestreift worden. Welche Kraftprobe aber
ist es gewesen, die diese Religion im zartesten Kindesalter erlebt
hat I „Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft
in ein Land, das ich dir zeigen will, und ich will dich zum großen
Yolke machen." Der Islam ist in Arabien entstanden und über-
all arabische Religion geblieben : die Kraft seiner Jugend war
auch die Kraft seines Mannesalters. Die christliche Religion ist,
fast unmittelbar nach ihrer Erscheinung, aus dem Volke vertrieben
worden, dem sie angehörte. Sie mußte so gleich anfangs unter-
scheiden lernen, was Kern und was Schale sei ■'.
Für den dezidierten Antijudaismus, der sicli ))ereits in der
ältesten Heidenchristenheit ausbildete, ist Paulus nur zum Teil
verantwortlich. Lehrte er auch, daß die Zeiten der Juden {ttuoiv
rgls; rf/g ))/iFi)ac, ötf, svyjxg FjriTF.kovatv ev raig avziov ovvayaiyaTg , tlTaywrro«
avTotg y.al arndf/iaTiCovoi q'änxovTfg öri ' 'EsrixaTagaoai 6 i)sög Tovg NaCoigotiovg.
y.ai yäg Toiiroig crFoioaÖTFoov n-F/ovoi , (iia ro djto 'lovSai'cov avrorg oviag hjaovv
yijoi'ootir fh'ai XgiOTÖv, (hfij fotIv irnrriov :roog rovg Fit 'lovSaiovg TOvg Xqiotov
/^ly dFzafiFvovg.
■) Epiplninius (1. c.) sagt von ihnen: 'lovdaToi /täUnr y.ai ov()fi- FTtQor-
Trürv dk ovtoi f/DqoI zoTg 'I(yi'()aioig v.-rdQxovatv.
^) Die Syrer bilden eine gewisse Ausnahme; aber wie stark gräcisiert
diese syrische Kirche, obgleich sie ihre eigene Sprache beibehalten hat!
') Das Evangelium verband sich besonders enge mit dem Griechentum,
aber exklusiv ist es auch in dieser Verbindung in unserer Periode nicht ge-
worden: im Gegenteil — man legte, wie schon der Apostel Paulus getan,
das höchste Gewicht darauf, daß alle Völker berufen seien und das Evange-
lium von Angehörigen aller Nationen aufgenommen sei. Als primi inter
pares galten allerdings die Griechen, und ihr Ausehen mußte in dem Maße
wachsen, als man auf die Tradition Gewicht legte und diese doch nicht bis
zu den .Juden zurückführen konnte und durfte (die Berufung auf die jerusa-
lemische (Gemeinde war seit der Mitte des 2. Jahrhunderts eine Berufung auf
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. 57
ävdoomoiQ ivarricov, I Thess. 2, 15) jetzt vorüber seien, so konnte
und wollte er doch an eine definitive Yerstoßimg- des ^'olkes
Gottes nicht glauben ; sein letztes Wort darüber hat er lii'nn. 11
gesprochen: ov dtX(o viiiäg oLyvoeiv ro f-ivoryoiov toüto, oti ncöocooig
UTio jueQovs TO) "looaijl ytyovtv nXQig ov to 7ih)oo)üa twv eOvc~)V
etoüM)], y.al ol'TCog rrd:; "Ingalj/. 0(od rjOEJai .... djiieTa^uthjTa
ydg TU yagionaia y.al fj yjSjoig xov tieov. In diesem Sinn ist Panlus
JudencJirist geblieben: die Zweiheit der Menschheit (Juden und
„Völker") bleibt trotz der einen Kirche Gottes, die sie umspannt,
in gewisser Weise bestehen, und diese Kirche hebt die besonderen
den Juden geschenkten Verheißungen nicht auf.
Aber dieser Stand]>unkt isr dem Paulus eigentümlich ge-
blieben. Diejenigen, welche sich ausschließlich durch das Mittel
der Allegorie von dem Buchstaben der alttestamentlichen Religion
und von dieser selbst befreiten — sie bildeten die große Mehr-
zahl — , hatten für die paulinische Betrachtung keinen Sinn
und durften sie gar nicht gelten lassen : denn blieb sie auch nur
an einem Punkte bestehen, so war damit das Recht der allegori-
schen Auffassung imd damit das Recht der Heidenkirche überhaupt
in Frage gestellt^. Kommt dem Volke Israel noch ein Sonder-
recht zu, bedeutet auch nur eine Sonderverheißung irgend etwas,
muß auch nur ein Buchstabe in Kraft erhalten bleiben — wie
darf das Übrige spiritualisiert und auf ein fremdes Volk über-
tragen werden? Konsequent folgte aus dieser Betrachtung, daß
das jüdische Volk nun verworfen ist. daß es Ismael ist und
nicht Isaak, Esau und nicht Jakob. Aber auch dieses Urteil
konnte noch nicht genügen. AVenn die geistige Deutung des Alten
Testaments die richtige ist und die buchstäbliche die falsche, so
ist jene von Anfang an die richtige gewesen; denn nicht
kann heute richtig sein, was gestern noch falsch war. Xun aber
hat das jüdische Volk von Anfang an und stets die buchstäbliche
Deutimg befolgt — es hat sich beschneiden lassen, es hat blutige
Opfer gebracht, es hat die Speisegesetze beobachtet — , also ist
es stets im Irrtum gewesen und hat durch solchen Irrtum be-
wiesen, daß es niemals das erwählte Volk war. Das er-
eine griechische, nicht auf eine jüdische Gemeinde). In diesem Sinne em-
pfanden sich auch die Lateiner den Griechen gegenüber als die sekundären;
doch verstand die römische Kirche bald , diesen Nachteil wett zu machen.
Im Osterstreit um das Jahr 190 kamen zuerst gewisse Rivalitäten zum Aus-
druck; aber es waren nicht nationale — die römische Gemeinde war damals
noch überwiegend griechisch — , sondern provinzialkirchliche.
^) Die ijaulinische Lehre vom Gesetz und vom alten Bunde wurde, wie
die nachapostolische Literatur lehrt, in weiten Kreisen nicht verstanden und
daher nicht oder nur in Fragmenten rezipiert.
5S Einleitung und Grundlegung.
wählte Volk war stets das christliche; es war gleichsam latent
immer vorhanden — der jüngere Bruder ist in Wahrheit der
ältere — , wenn es auch erst mit Christus in die Erscheinung ge-
treten ist. Das jüdische Volk hat von Anfang an die Verheißung
verloren; ja ob sie je iiim gegolten hat, selbst darüber läßt sich
streiten; jedenfalls beweist die buchstäbliche Deutung der gött-
lichen AVillensoffenbarungen, daß es von Gott verlassen und unter
die Führung des Teufels gekommen ist. Ist das aber klar, so
muß auch noch der letzte Schritt getan und das letzte Urteil
ausgesprochen werden; das Alte Testament, dieses ganze
Buch, geht die Juden überhaupt nichts an. AViderrecht-
lich und frech haben sie es an sich gerissen, mit Beschlag belegt,
und suchen es seinem einzigen Eigentümer zu entziehen, ver-
fälschen es durch ihre Auslegungen, ja selbst durch Korrekturen
und Streichungen. Jeder Christ muß ihnen daher den Besitz des
Alten Testaments absprechen; ein Christ, der sagen würde, dieses
Buch gehört uns und den Juden, der sündigt; das Buch ge-
hört von Anfang an, jetzt und immerdar den Christen
allein^; die Juden aber sind das schlimmste, gottloseste imd gott-
verlassenste Volk unter allen Völkern-, das eigentliche Teufels-
volk, die Synagoge des Satan, die Genossenschaft der Heuchler^.
Die Kreuzigung des Herrn — das ist die Signatur dieses Volkes*.
I^un aber hat sie Gott auch offenkundig und vor aller Welt dem
Verderben dahin gegeben: ihr Tempel ist verbrannt, ihre Stadt
ist zerstört, ihr Gemeinwesen ist vernichtet, ihr Volk ist zerstreut
— es darf Jerusalem nicht einmal mehr betreten^. Man kann
^) Die unbequeme Tatsache, daß den Juden das Buch nicht entrissen
worden ist, und daß sie es noch immer haben und brauchen, legt sich Pseudo-
.fustin (Cohort. 13) also zurecht: die Juden bewahren nach Gottes Anord-
nung das Alte Testament auf, damit, wenn die heidnischen Gegner den
Christen Fälschungen (der Weissagungen) vorwerfen, der Gegenbeweis geführt
werden kaun. Aber Justin macht den Juden den Vorwurf (im Dialog), daß
sie das A. T. im antieliristlichen Sinne verfälscht hätten. Seine Beweise sind
a])er nichtig.
') Justin z. B. beurteilt die Juden nicht günstiger als die Heiden, son-
dern ungünstiger (s. Apol. I, :!7. 39. 43. 44. 47. 53. 60). Aristides' freundlichere
Stellung (Apol. c. 14) ist eine Ausnahme.
^) S. Apoc. .foh. 2, 9; 3,9; Didache 8; vgl. auch, was im Johannes- und
im Petrusevangelium über die Juden zu lesen steht. Daß sie von einem
bösen Engel von Anfang an verführt worden seien, sagt Barnabas, ep. 9, 4.
Im II. Clemensbrief heißen die Juden ,ot öoxovriFg e'xeiv dsöv'^, ähnlich in
dem Kerygma Petri bei Clemens, Strom. VI, 5, 41 : ixsTvoi fiövoi olöfievoi rov ,
iIfÖv yrp'djoxen' ovh l-jiioravzai.
*) Pilatus wurde immer mehr entlastet.
'■) Cf. Tertull. Apolog. 21: „Dispersi, palabundi et soli et caeli sui ex-
torres vagantur per orbem sine homine, sine deo rege, cjuibus nee advenarum
iure terram xnitriam saltim vestigio salutare conceditur".
Der Übergan jT von der Jiulen- zur Heidenmission. 59
daher zweifeln, ol) Gott die Bekehrung dieses Volkes überhaupt
noch wünscht, ob nicht in seine Strafe unerlaubt eingreift, wer
auch nur einen Juden zu geM'iruu'u unternimmt: doch sie wollen
ja selbst nicht kommen und überheben durch ihre Halsstarrig-
keit und Christusfeindschaft die Christen der Beantwortung dieser
Frage.
Das ist die konsequente Haltung der Heidenkirche gegen-
über dem Judentum. Der Trieb der Selbsterhaltung und die
Rechtfertigimg der Aneignung des Alten Testamentes trafen mit
der alten Antipathie der Griechen und Römer gegen das Juden-
tum zusammen. Die letzten Konsequenzen, wie sie der Verfasser
des Barnabasbriefs (c. 4, 6 f. ; 14, l f.) gezogen hat, haben doch
nicht alle zu ziehen gewagt ^ Die Meisten gestanden in un-
klarer Weise zu, daß in früheren Zeiten ein besonderes Verhält-
nis Gottes zu diesem Volk existiert habe ; aber auch sie bezogen
alle Verheißungen im Alten Testament auf das Volk der Christen.
"Während Barnabas in der Beobachtung des AVortsinns des Ge-
setzes einen Beweis der teuflischen Verführung erkannte, der das
jüdische Volk unterlegen sei^. sahen diese in der Beschneidung
ein von Gott gegebenes Signum ^ und erkannten auf Grund irgend
welcher Erwägungen an, daß die wörtliche Beobachtung des Ge-
setzes zeitweilig die Absicht und das Gebot Gottes gewesen,
wenn auch die Gerechtigkeit niemals aus solcher Beobachtung
geflossen sei. Indessen auch sie sahen in dem geistigen Sinn
den allein wahren, den die Juden durch eigene Schuld verkannt
hätten, urteilten, daß die Belastung mit Zeremonien eine päda-
gogische Notwendigkeit gegenüber dem halsstarrigen und zum
') Das Folgende nach meinera Lehrbuch der Dogmengeschichte PS. 168 ff.
-) S. Barnab. ep. 9 f. Man mißversteht die Stellung des Barnabas zum
Alten Testament gründlich, wenn man glaubt, über seine Auslegungen
cc. 6 — 10 als über „Seltsamkeiten" und „Willkürlichkeiten" hinwegschreiten
und sie als gleichgültig und „unmethodisch" beiseite schieben zu können.
, Unmethodisch" ist hier gar nichts, und darum auch nichts willkürlich. Der
streng geistige Gottesbegrift' des Barnabas und die Überzeugung, daß alle
(jüdischen) Zeremonien teuflisch seien, nötigten ihn zu seinen Auslegungen ;
diese sind im Sinne des Barnabas so wenig bloß geistreiche Einfälle, daß
er vielmehr ohne sie das Alte Testament völlig hätte preisgeben müssen.
Z. B. der Bericht, daß Abraham seine Knechte beschnitten habe, hätte dem
Barnabas die ganze Autorität des Alten Testaments vernichten müssen, wenn
es ihm nicht gelungen wärQ, ihn umzudeuten. Er tut es, indem er eine
andere Stelle aus der Genesis mit ihm kombiniert und nun im Bericht über-
haupt nicht mehr die Beschneidung, sondern eine Weissagung auf den ge-
kreuzigten Christus findet (c. 9).
^) Barnab. 9, 6: «/./.' / offc ■ x(u /o'/r rreoirh^irjTai 6 laog f(V oqgcr/iöa :
so läßt Barnabas den vulgären Heideuchristen sprechen; er selbst teilt diese
Meinuu"' nicht.
(jO Einleitung- und Grundlegung.
Götzendienst geneigten A'olk gewesen sei (Schutz des Monotheis-
mus), und gaben dem Zeichen der Beschnei düng auch Avohl eine
Deutung, durch die es nicht mehr als ein Gut, sondern vielmehr
als das Merkmal zur Yollziehmig des Gerichts an Israel erschient
So ist Israel eigentlich zu allen Zeiten die After- bez. die
Teufelskirche gewesen; in Wahrheit steht das „ältere" Volk dem
„jüngeren" auch zeitlich nicht voran: dieses ist vielmehr das ältere
mid das „ueue" Gesetz das ursprüngliche. Die Patriarchen,
Propheten und Gottesmämier aber, die der Mitteilung von Gottes
"Worten gewürdigt worden sind, haben mit dem Volke der Juden
innerlich nichts gemein : sie sind Gottes Erwählte, die sich durch
einen heiligen Wandel, ihrer Erw'ählung entsprechend, ausgezeichnet
haben und als die Vorläufer und Väter des latenten Volkes der
Christen betrachtet w'erden müssen^. Auf die Frage, wie es zu
erklären sei, daß diese Männer, die doch gar nicht als Juden
l)etrachtet werden dürfen, ausschließlich oder fast ausschließlich
innerhalb des Volkes der Juden erschienen sind, erhält man aus
den Urkunden keine befriedigende Antwort. Man nahm wohl an,
daß Gott in seiner Barmherzigkeit das schlimmste Volk durch die
stärksten Mittel habe zur rechten Erkenntnis führen wollen; aber
auch das habe nichts gefruchtet.
Eine solche Ungerechtigkeit wie die der Heidenkirche gegen-
über dem Judentum ist in der Geschichte fast unerhört. Die
') Vgl. Justin, Dial. 16. 18. 20. 30. 40-46; er hat neben einander die
drei Beurteilungen: (1) daß die Zeremonialgesetze eine pädagogische Maß-
regel Gottes gewesen seien gegenüber dem halsstarrigen, zum Abfall ge-
neigten Volk, (2) daß sie — so die Beschneidung — das Volk in Hinsicht auf
die Vollziehung des zukünftigen Gerichts nach göttlicher Anordnung kennt-
lich machen sollten, (3) daß sich im zeremouialgesetzlichen Gottesdienst der
Juden die besondere Verworfenheit und Schlechtigkeit des Volks darstelle.
Den Dekalog aber hat Justin als das natürliche Vernunftgesetz gefaßt, also
vom Zeremonialgesetz bereits bestimmt unterschieden.
^) Das ist die übereinstimmende Ansicht aller Schriftsteller des nach-
apostolischen Zeitalters. Die Christen sind das wahre Israel; daher gebühren
ihnen alle Ehrenprädikate des Volkes Israel. Sie sind die zwölf Stämme
(s. Jacob, epist. 1, 1), und so sind Abraham, Isaak und Jakob die Väter der
Christen (diese Vorstellung, über welche in der Heidenkirche kein Schwanken
herrscht, ist nicht allein auf den Apostel Paulus zurückzuführen) ; die Gottes-
manner des Alten Testaments sind Christen gewesen: s. Ignat., ad Magn. 8. "2:
Ol -Too(/ r/Tuc y.aia Xomrov 'hjaorr t'ujoar. Zu beachten hat man al>er, daß
ein nicht geringer Bruchteil der Christen, die Mehrzahl der sog. Gnostiker
und die Marcioniten, mit dem Judentum auch das Alte Testament verwarf
(Barnabas steht im Uriefe dicht vor der Verwerfung, vermeidet sie aber durch
seine entschlossene Umdeutung des Buchstabens). Sie erscheinen als die
Konsequenten und sind es doch nicht; denn das Alte Testament abschneiden
heißt für das Christentum eine andere, neue historische Grundlage suchen,
Der Übergang von der Juden- zur Heidenmission. Q]
Ilculciikirche streitet ihm alles ab, iiiinint iluti sein heiliges lUich,
und, während sie selbst nichts anderes ist als transformiertes Juden-
tum, durchsehneidet sie jeden Zusammenhang mit demselben: die
Tochter verstößt die Mutter, nachdeni sie sie ausg-e}>lünd(M't ! Aber
ist diese J^etrachtung wii'klicli zutreffend? Auf einer gewissen
Stufe allerdings, und vielleicht kann man niemanden zwingen, sie
zu verlassen. Aber auf einer höheren Stufe stellt sich die Sache
anders dar: das jüdische Volk hat durch die Verwerfung Jesu
seinen Beruf verleuguet und sich selbst den Todesstoß versetzt;
an seine Stelle rückt das neue Volk der Christen; es übernimmt
die gesamte Überlieferung des Judentums; was unbrauchbar in
derselben ist, wird umgedeutet oder fallen gelassen. In Wahrheit
aber ist diese Abrechnung nicht einmal eine plötzliche oder uner-
wartete; unerwartet ist nur die spezielle Form: das Heidenchristen-
tum führt doch nur einen Prozeß zu Ende, der in einem Teile
des Judentums bereits längst begonnen hatte — die Entschränkung
der jüdischen Religion und ihre Transformation zur Weltreligion.
Um das Jahr 140 war der volle Übergang der christlichen
Religion zu den „Heiden" und die Loslösung von dem Judentum
perfekt ^. Nur gelehrte Gegner imter den Griechen und die Juden
selbst erinnerten die Christen daran, daß sie eigentlich Juden sein
müßten. Eine jüdische Gegenmission hat es aber seit dem Falle
Jerusalems — lokale Versuche ausgenommen "-^ — nicht mehr
und diese konnte nur in ii-gend einer anderen Religion oder einem anderen
Kultsystem gefunden werden. Nur Marcion machte den bedeutsamen Ver-
such, das Alte Testament preiszugeben und mit der Lehre und Mythologie
des Paulinismus ausschließlich zu arbeiten; aber gelungen ist der Ver-
such nicht.
') Vierzig Jahi-e später konnte daher Ijereits Irenäus das Alte Testament
und seine wirkliche Religion viel unbefangener betrachten; denn man fühlte
sich im Besitz des Alten Testaments kaum mehr ernstlich durch das Juden-
tum gestört. Nun vermochte Irenäus sogar wieder zuzugestehen, daß die
wörtliche Beobachtung des Alten Testaments in früherer Zeit gut und
fromm war, und die folgenden altkatholischen Väter gingen darin noch weiter.
Sie näherten sich von der einen Seite so wieder dem Paulinismus; aber sie
entfernten sich gleichzeitig womöglich noch stärker von ihm als die früheren
Generationen, da sie seinen Antinomismus noch weniger verstanden und dazu
das Alte Testament gegen die Gnostiker zu verteidigen hatten. Ihre Un-
befangenheit in Anerkennung des wörtlichen Sinnes des Alten Testaments
war aber nicht nur durch die Sicherheit verursacht, die sie gegenüber dem
Judentiun empfanden, sondern noch mehr durch das steigende Wohlgefallen,
das sie an den Gesetzen und Kultussatzungen des Alten Testaments fanden.
-) Von Verlockungen der Christen seitens der Juden zum Abfall hört
man in der Literatur, aber nicht häufig; s. z. B. Serapions Schrift bei PJuseb.,
h. e. VL 12 und Acta Pionii 13 (hier auch eine Kritik der Juden an Christus
als Selbstmörder und Zauberer).
()2 Einleitung und Grundlegung.
gegeben, vielmelir setzten sich die Christen in die Burgen der
jüdischen Propaganda und der jüdischen Proselyten: Japheth
bezog die Hütton Sems ^, und Sem mußte weichen.
Immerhin gab es einen dunklen Punkt: warum ist Jesus
nicht in der ]Mitte der „Völker", sondern unter den Juden auf-
getreten - ? Das war ein quälendes Problem. Es ist wichtig (s. o.),
daß das 4. Evangelium erzählt, Griechen hätten Jesum sehen
wollen (12, 20tf.). Die Worte, welche der Evangelist daraufhin
Jesu in den Mund legt^, sollen eine Erklärung der fehlenden
Heidenmission des Heilands sein. Und derselbe Evangelist läßt
Jesum unmißverständlich deutlich sprechen (10, 16): xal äXXa
TXQÖßaxa eyo) ä ovx l'oiiv ex rrjg avÄfjs ravj)]g, y.dxnva de! jus
dyayeiv xai Trjg q)0)y)jg juov äxovoovoiv. Er selbst wird sie her-
führen — also ist die durch seine Jünger vollzogene Mission seine
eigene Mission: es ist so gut, wie wenn er selbst hinauszöge*
— ja, weil er ihnen den heiligen Geist senden wird, der sie in
alle Wahrheit leiten und ihnen noch verborgene Weisheit mit-
teilen soll, wird sich sein eigenes Wirken in ihnen noch
potenzieren.
*) Die unfertigen und halbbürtigen Schöpfungen der jüdischen Propa-
ganda im Eeiehe verwandelten sich in selbständige, auziehungskrilftige, den
Synagogen weit überlegene Bildungen, die sich naturgemäß sofort gegen eben
diese mit aller Schärfe richten mußten.
-) Das Jesus selbst viele ix tov 'EXbjrty.ov für sich gewonnen habe, be-
hauptet nur das relativ späte falsche Josephus-Zeugnis.
^) 'E/.ij/.vüev ij 6j(ja Iva Öo^aoOfj 6 viö'; tov dv&QOjJiov. äfiljv u/iljy ksyoj
vuTr, eÜv fti] 6 y.öy.y.og tov oltov jtsoojv stg Trjr yf/v unoi^ävi], avTog /.lovog /^svef
fär dk ujioßüv)] , Jio/.iiv xuottov cfFQfi 7jXüev ovv (fcorij ix tov ovQavov "
xal idö^aoa xai :iäXiv Öo^äoco 'Itjaovg eiTiev ov di' i/^ik ■>) (poivrj avTi]
yiyovev d?J.ä öt' i'/iäg' vvv xgioig ioTiv xov xöofAov tovtov vvr 6 anywv tov
xöofiov TOVTOV iy.ßXjjdrjOETai e^co' xayoi itxv vipoido) ix r//? 7')c, 716.%'Tag
ilxvoo) rroög i fiavTov.
*) Freilich vollständig und überall beruhigte man sich dabei nicht.
Zwar mitten unter die heidnischen Völker hat auch die Legende in älterer
Zeit Jesum nicht zu versetzen gewagt ; aber schon zu dem Kinde sind Magier
aus dem Orient gekommen und haben es angebetet, nachdem ein Stern seine
Geburt aller Welt kund getan hat (Matth. 2) ; Kngel haben „allem Volke"
bei der Geburt Jesu große Freude angekündigt (Luc. 2); als jener Stern er-
schien — so erzählt Ignat. ad Eph. 19 — , da bezeugte diese Erscheinung,
daß i'/.VKTO ,T«oa fiayeia, xai nag dsa/nog 7jq^a%'LL.£T0 xaxiag , äyvoia xaötjgeao,
7in).aid ßaoiksia bifq>dsi(jt:TO deov ävdQOiJilvoig (fiavsgoviuivov slg xatrÖTtjTa di'dtov
Coifjg' dg/Jjv dk iXä/ißavev t6 Jiagä dsaj djTtjgxio/iii'ov. i't'ösv to. ndvTa ovruxivtiTO
öia To nfleTüodai davaTov xaTalvoiv. Kühner noch sind die edessenischen
Christen gewesen; sie haben im o. Jahrhundert behauptet, Jesus habe mit
ihrem Könige Abgar korrespondiert und ihn geheilt. Eusebius (h. e. I fin )
war diese Erzählung sehr wichtig; denn sie schien ihm das direkte Wirken
Jesu bei den Heiden in etwas zu ersetzen.
Die Ergebnisse der Mission des Paulus und der ersten Missionare. 63
Eine Folge dieser Betrachhmo- war, daß man die Zwölf wie
eine Art von persönlicher Yervielfältii!,uiig' Christi selbst anffaßte,
und daß man ihre Sendung in alle Welt, d.h. die von Jesus
angeblich selbst befohlene Heidenniission, in das Kerygma aufnahm ;
man vgl. die Apologie des Aristides c. 2; Justin Apol. I, 39;
Ascens. Isaiae 3, 13 ff. (der adventus Xll discipulorum gehört zu
den grundlegenden Heilstatsachen): Iren, fragm. 29^; Tertull.,
Apol. 21, adv. Marc. IIT, 22: „habes et apostolorum opus praedi-
catum" [geweissagt]; Hippol., de antichr. 61; Orig. c. Geis, III, 28;
Novat., de trinit. 8; Acta Joh. (ed. Zahn p. 246): „Der Gott, der
uns zur Mission der Völker erwählt hat, der uns ausgesandt hat
in alle Welt, der sich gezeigt hat durch die Apostel."''^
Serapion bei Eusebius, h. e. VI, 12: „Wir nehmen Petrus und die
anderen Apostel an wie Christus.'' Näheres über die Apostel
s. im 3. Buch.
Sechstes Kapitel.
Die Ergebnisse der Mission des Paulus
und der ersten Missionare.
1. Vor seiner letzten Reise nach Jerusalem schrieb Paulus
von Corinth aus nach Rom (15, 19 ff.): „Ich habe die Verkündi-
gung Christi ausrichten können von Jerusalem an bis nach Illyrien,
wobei ich immer meine Ehre darein gesetzt habe, das Evangelium
da nicht zu verkündigen, wo Christus schon bekannt war, weil
ich nicht auf fremden Grund bauen wollte. Das ists auch, was
mich so oft verhindert hat, zu euch zu kommen. Jetzt endlich,
wo ich in diesen Gegenden keine Arbeit mehr habe, wohl aber
seit langen Jahren die Sehnsucht, zu euch zu kommen, (werde
ich es ausführen), sobald ich nach Spanien reise. Denn ich hoffe
auf der Durchreise euch zu sehen und, von euch geleitet, dorthin
zu gehen, nachdem ich mich zuvor an euch, ohne euch beschwer-
lich zu fallen, erquickt habe."
') Harvey II p. 494: 0(^7-0^ [6 XQtotog] ev ri] xagSta ri]; yijc, h ;i;w//a7f
xQvßelg xai Toi>jfi£Q(o niyiozoi' öevöqov ysvvtjdek [vorher war er mit dem Samen-
korn Luc. 13, 39 verglichen] i^hsivs rovg kavrov xXädovg slg za jtiqaza rfjg yf/g.
ex zovTOV jiQoy.inpavzsg 01 iß" ajiöozoXoi , xXädoi dioaloi xal sv§a?.£tg yevrjdsvzeg
oy.ijiTj iysvvt'jdtjaav zocg e&vsacv, co? jiezeiroTg ovQavoü, vq? (Lv yJ.ddcov oxsjiaoß^svzeg
Ol jrdvzeg, (vg OQVsa imo y.aXiav ovveXOovza /.iszsXaßoi' zfjg i$ auzcöv jroosQ/o/ievTjg
sdojdi'fiov xai ejiovqaviov ZQOcpfjg.
-) Auch eines der Motive zur Erfindung von apostolischen Missions-
geschichten ist hier zu suchen.
64 Kinleituiii»- und GruiuUeirung.
Die Yorkündigun_<>- des Evangelimiis in der hellenischen
Welt ist also vollendet: das bedenten die Worte „bis nach Jllyrien'':
denn hier beginnt die lateinische Welt'. Die Ansdrncksweise
des Paulns. der die ^lissionspredigt auf einer schmalen Linie von
Jerusalem bis Illyrien für die Yerkündignng des Evangeliums in
der ganzen Osthälfte der Welt erklärt, ist nur bei der Annahme
verständlich, daß die Gewißheit des nahen Weltendes eine andere
Art der Mission überhaupt nicht zuläßt als die der Durch-
querung der AYelt. Zu Grunde liegt der Gedanke, daß das
f]vangelium in der kurzen S|)anne der gegenwärtigen AVeltzeit
überall verkündet werden muß-, daß aber die Durchquerung das
einzig mögliche Mittel seiner Durchführung ist. Vorausgesetzt ist
dabei, daß sich nach rechts und links von der flammenden Linie
das Feuer von selbst verbreiten wird '^
Der Gedanke der Durchquerung der Welt ist, wie es scheint,
von dem Apostel auf der sog. zweiten 3fissionsreise gefaßt worden *,
und er Itetrachtet ihn natürlich als eine göttliche Weisung. So
ist die schwierige Stelle (Act. 1(3, 6— S) zu deuten. Hatte er die
zweite AEissionsreise unternommen, um in die rein hellenischen
Küstenstriche Kleinasiens zu gehen, und somit das Bewußtsein
gewonnen, auch zum Apostel der Hellenen berufen zu sein, so
wird an der Westgrenze Phi-ygiens dieses Bewußtsein in ihm von
einer weit höheren Aufgabe überboten. Er ist nicht nur der
Apostel der Barbaren (der Syrer, Cilicier, Lycaonier), auch nicht
nur der Apostel der Barbaren und Hellenen — er ist der Welt-
apostel: er hat die Pflicht, das Evangelium durch das ganze
römische Reich bis zum äußerten Westen zu tragen, bez. sofern
es auch von anderen verkündigt wird, die Lücken in der großen
Transversale zu ergänzen. Daher schwenkt er an der Grenze
Phrygiens nicht nach Westen ab (Asien) und nicht nach Norden
(Bithynien) — wie man erwartet, und wie er selbst ursprünglich
geplant hat — , sondern nach Xordwestcn. Aber auch Mysien
*) Ägypten konnte nicht ausiallen. Wenn Paulus es weder hier noch
sonstwo nennt, so muß er gewußt hal)en, daß dort andere Missionare tätig
sind. Die hellenische Welt ohne Ägypten wäre unvollständig gewesen. Oder
war ihm Ägypten ein so gottverhaßte.s Land, daß nichts mehr für dasselbe
zu hoffen ist, wie dem Johannes (Offenb. 11, 8) V
-) Der Gedanke kehrt in den Evangelien wieder (Marc. 13, 10). Ist er
von Paulus zuerst erfaßt und in Kurs gesetzt worden?
3) Vgl. dazu 1 Thess. 1,8; Rom. 1,8; Coloss. 1,6.
*) Aber auch nicht früher. Die ganze sog. erste Missionsreise bliebe
unverständlich, wenn er ihn schon damals gehabt hätte, ja Wendt (zu
Apostelgesch. 13, 13) wird recht haben, wenn er bemerkt, Paulus habe sich
damals üljerhaupt noch nicht als Apostel der Hellenen, sondern als der der
Barbaren gefühlt. Nur so ist die Wahl des Missionsgebietes (südöstliches
Kleiuasienj zu verstehen.
Die Ergebnisse der Mission des Paulus und der ersten Missionare. 65
durcheilt er nur; jener Entschluß, Asien und Bithynien
liegen zu lassen, bedeutete von Anfang an die Unter-
nehmung der Mission nach Macedonien, Achaja und,
über sie hinaus, in den Westen.
Philippi, Thessalonich, Beröa, Athen, Corinth oder, richtiger
im Sinn des Paulus, Macedonien und Achaja hören das Evan-
geliimi. Warum bleibt er aber 18 Monate in Corinth? warum
ffeht er nicht sofort nach Rom und weiter in den Westen? warum
schiebt er eine neue Reise ein und zwar diesmal nach Kleinasien
und nimmt in Ephesus einen dreijährigen Aufenthalt? Die Ant-
wort ist nicht schwierig: gewiß, schon damals, als er das erste
Mal bis Corinth vorgedrungen war, gedachte er nach Rom und
in den Westen zu gehen (s. Rom. 1, 13); aber die Verhältnisse
waren zum Glück stärker als diese hochfliegende Idee. Wenn
ich recht sehe, kam ein Dreifaches in Betracht. Erstlich wollte
und durfte er die Fühlung mit Jerusalem und Antiochien, den
beiden Muttergemeinden, nicht verlieren ; das nötigte ihn zweimal
zu Rückwegen. Zweitens drängte sich ihm gebieterisch die Pflicht
auf, gegründete Gemeinden auszubauen und sie nicht nach eirdgen
Wochen im Stich zu lassen ; die Pflicht der Organisation und der
Arbeit im Kleinen gewann die Oberhand über die phantastische
und vermeintliche Pflicht, hinter der sich doch wohl auch ein
Korn von Ehrgeiz verbarg, die Welt mit dem Evangelium zu
durchqueren. Endlich zeigte es sich, daß niemand die Fahne
des Evangeliums aufpflanzte in dem großen Gebiet, das er mitten
auf dem Wege liegen gelassen hatte, nämlich in dem westlichen
Kleinasien — dem Kern der hellenischen Welt. Gewiß hatte er
darauf gerechnet, daß andere dort das Wort Gottes verkünden
würden, aber die Hoffnung war fehlgeschlagen. Zwar ließ er
nun bei seiner ersten Rückreise (von Corinth nach Jerusalem)
die ausgezeichnete Missionarin Prisca mit ihrem Gatten Aquila
in Ephesus zurück; aber als er selbst auf der sog. dritten Missions-
reise wieder dort eintraf, fand er (neben kleinen Anfängen einer
christlichen Gemeinde) Johannesjünger daselbst, deren Mission er
nicht bestehen lassen durfte, bald aber ein so reiches und frucht-
bares Arbeitsgebiet, daß er sich gezwungen sah, seßhaft zu werden.
Hier in Ephesus ist die geistige Auseinandersetzung mit dem
Hellenismus, die in Corinth begonnen worden war, fortgeführt
worden. Beweis dafür ist der erste Corintherbrief. In Antiochien
war diese Auseinandersetzung noch nicht möglich gewesen. Die
Stadt war doch nur eine große griechische Kolonie, griechisch in
dem Sinne, in welchem Kalkutta englisch ist.
Den Plan der Durchquerung der Welt hatte der Apostel
nicht aufgegeben. Seine Durchführung verzögerte sich nur, wie
Harnack, Mission. 2. Aufl. .5
66 Einleituni^ und Grundlegung.
ja aiicli die Wiederkunft Christi sich verzögerte. Wahrscheinlifli
wäre er noch länger in Ephesus geblieben (in dessen näherer und
weiterer Umgebung neue Gemeinden aufwuchsen) und hätte innigere
Fühlung mit dem Griechentum genommen, wenn ihn nicht trübe
Nachrichten, die aus Corinth kamen, und ein kleiner ]*öbelaufstand
aus der Stadt getrieben hätten.
Ephesus ist durch sein Wirken die dritte Hauptstadt der
Christenheit, die eigentlich griechische Hauptstadt, geworden, imd
eine Zeitlang schien es, als sollte es die d(^finitive und d(M' ]\rittei-
punkt werden. Allein schon entAvickelte sich im fernen Westen
ein Rivale, der die asiatische Metropole überstrahlen sollte —
die vierte Stadt der Christenheit und bald die erste, Rom.
Nachdem Paulus Ephesus verlassen hatt(^ und. durch Mace-
donien und Achaja reisend, wieder der wandernde Apostel ge-
worden war. gewann die unvergessene Tdee der Durchquerung
der Welt wieder die Oberhand. Von Corinth aus schrieb er
damals nach Rom jene Worte, mit denen wir dieses Kapitel
(eröffnet haben. Sic; verlieren etwas von ihrem hyperbolischen
Anstrich, wenn man die außerordentlichen Erfolge des Apostels
in Macedonien und Achaja, in Asien und Phrygien, die hinter ihm
lagen, ins Auge faßt. Er hatte das Gefühl, die hellenische
Welt — trotz des geringen P]rfolges in Athen — • bezwungen zu
haben, und in diesem Bewußtsein eines religiösen und intellektuellen
Sieges schien ihm die Aufgabe; hier erschöpft zu s(Mn.
Aber auch in Rom (und darum auch in Italien) hatte Gott
ihn nicht m(dir nötig. Dort war das Evangelium schon verkündigt ;
eine große Gemeinde, „von deren Glauben man in der ganzen
Welt hörte", hatte sich durch unbekannte Missionare bereits ge-
bildet. Also blieb nur Spanien übrig; Gallien und Africa, an den
Seittm liegend, werden dann nicht unberührt bleiben. Der Richt-
punkt „Spanien" statt „Africa" oder „Gallien" zeigt, daß es
wirklich auf ein(5 Transversale abgesehen war. So hat ihn auch
richtig Clemens (Rrief I. 5) verstanden, und fast ghnibt man den
Apostel selbst zu hören: „Siebenmal in Ketten, vertrieben, ge-
steinigt, ein Herold geworden im Lande des Aufgangs und des
Niedergangs, ein Lehrer der Gerechtigkeit in der ganzen Welt
und bis an den Grenzpfahl des Westens hin."
Ob er wirklich dahin gelangt ist? Zunächst jedenfalls nicht,
wieder mußte ei- in den fernen Osten zurück, und die bitteren
Ahnungen, mit denen er die Reise nach ,I(>rusalem antrat, erfüllten
sich. Als er mehrere Jahre später wiiklich nach Rom kam,
geschah es als Gefangener. Aber vermochte er auch nicht mehr
zu wirken, wie er wollte, so wurde doch seine Wirksamkeit keine
geringere — durch die Predigt in Rom, durch Briefe an die
Die Ergebnisse der Mission des Puulus und der ersten Missionare. 67
fernen (lenieinden und perscinliolien Verkehr mit Freunden ;ius
dem Osten.
Als ei' im Sommer des Jalires 61 mit dem Schwerte hin-
gerichtet wurde, hatte er seinen Schuldschein an die Völkerwelt
voll eingelöst. Er ist der Apostel xax l^oxrjv gewesen, ßarbaren,
Griechen und Ijateinern hat er das Evangelium gebracht. Aber
nicht darin, daß er bis Illyrien, bis Korn, ja wahrscheinlich bis
Spanien als Missionar gekommen ist, liegt seine Größe, sondern
in der Art, wie er seine Mitarbeiter erzogen und wie er seine
Gemeinden geschaffen und organisiert hat. Er hat, obgleich ihm
alles Jlellenische im Tiefsten stets verschlossen! geblieben ist, doch
die christliche Religion auf den hellenischen Boden dauernd ver-
pflanzt — nicht er allein; aber nur seine Gedanken sind ein
neues Ferment im Hellenismus geworden. Die Gnostikci-, Irenäus,
Origenes und vor allem Augustin bezeugen das. Sof<n'n (?s einen
originellen (diristlichen Hellenismus geg(^ben hat, ist er ein paulinisch
beeinflußter gewesen. In seinen Briefen lebte er fort. Sie sind
nicht nur Dokumente seiner Persöidichkeit und seiner Arbeit —
nur wonige Schriftstücke der Weltliteratur lassen sich in dieser
Hinsicht mit ihnen vergleichen - , sondern wie sie aus der Tiefe
eines lebendigen religicisen Besitzes und eines unaufhcirlichen
inneren Kampfes geboren sind, sind sie auch unversieglichc^
Quellen religiöser Kraft. Jede Zeit hat sie an(l(u-s verstanden,
noch keine hat ihr Verständnis erschöpft, selbst in der VeiHachung
sind sie höchst wirksam gewesen.
Von den vier Mittelpunkten der Christenheit im I . Jahrhundert
— Jerusalem, Antiochien, Ephesus und Rom — ist nur eine
(Ephesus) die Schöpfung cUis Paulus, und auch sie ist ihm nicht
so treu geblieben, wie man erwartcm sollte. Als „Vater" ist er
überall zurückgetreten, ja verdrängt worden, verdrängt durcdi das
Mittelmäßige, das „Natürliche", durch das, was sich von selber
machte. Weder seine Stärken noch seine Schwächen sind als
Influenzen auf seine Genunnden übergegangen. In diesem Sinn
war er stets ein einsamer Mann; aber der Lehrer der (.hristen-
heit ist er geblieben, ja ist es in steigendem Maße erst geworden.
2. Seine Hinterlassenschaft sind ncsben seinen Ib-iefcüi seine
Gemeinden. Er hat sie selbst als seine „Hriefe" bezeichnet.
Weder sein Beruf als rastlos fortschreitender Missionar noch sein
Temperament noch seine religiöse Eigenart (ekstatischer Enthusiast
und exklusiver Theologe) schienen ihn zum Organisator zu be-
fähigen, und dennoch hat er es wie kein anderer verstanden,
Kirchen zu gründen und zu bauen (vgl. Wcnnel, Paulus als
kirchlicher Organisator, 1899). In Glaube, Liebe, Ilofl'nung
und den verwandten Tugenden die höchsten Früchte des Geistes
6§ Einleitung und Grundlegung.
erkennend, die Ausl)rüch(! des Enthusiasmus unter den Zweek der
Erbauung beugend . den Einzelnen dem Organismus des Ganzen
vmterordnend, die natürlichen Ordnungen des gemeinschaftlichen
Lebens trotz ihrer Mängel und Weltlichkeit als Glottes Ordnungen
behauptend, hat er die Gefahren der Schwärmerei überwunden
und Gemeinden geschaffen, die in der \Yelt leben konnten, ohne
von der Welt zu sein. Aber die Organisation ist ihm nie Selbst-
zweck oder Mittel zu weltlichen Herrschaftszwecken gewesen und
nie hat er sie gewollt. ,,Einheit in der Bruderliebe, Gottesherr-
schaft im Menschenherzen, nicht Herrschaft der Virtuosen oder
der Priester über Laien, das sind die Ziele seiner Kirchengründung."
Als Theologe und im Kampfe gegen die Judaisten erscheint er
manchmal wie ein Liquisitor oder wie ein fanatischer Schrift-
gelehrter, und man hat gesagt, daß er der Kirche die theologische
Verengung und die Ketzermacherei eingeimpft habe ; aber in
Wahrheit kannte er nur ein Bekenntnis neben dem Bekenntnis
zum lebendigen Gott, nämlich das „Christus der Herr'*', und am
Ende seines Lebens hat er bezeugt, daß er jede Lehre ertragen
wolle, die auf diesem Grunde stehe. Der Geist Christi, die
Freiheit, die Liebe — wider sein Temperament und seine Er-
ziehmig hat er sich diese Höhe erkämpft und errungen, und
deshalb auch die Gemeinden auf diese Höhe zu stellen versucht.
3. Zwischen ihm und seinen Mitarbeitern war ein großer
Abstand. LTnter den selbständigen sind Barnabas, Silas (Silvanus),
das Ehepaar Prisca und Aquila sowie Apollo zu nennen. Von
Barnabas wurde oben S. 45 gehandelt; Silas, der Prophet der
jerusalemischen ürgemeinde, rückte an seine Stelle neben Paulus
und hat auf der sogenannten zweiten Missionsreise etwa so neben
ihm gestanden wie Barnaljas auf der ersten. Es bedeutete wohl
eine Art von Rückversicherung Jerusalem gegenüber, daß Paulus
ihn mitgenommen hat. Aber, soviel wir sehen (vgl. auch noch
TI Cor. 1, 19), hat kein Mißton ihr Verhältnis gestört: Silas ist
Mitbegründer der Gemeinden in Macedonien und Achaja geworden.
Dann verschwindet er vollkommen im Leben des Paulus und in
der Apostelgeschichte, um zur Überraschung am Schluß des
ersten, nach Pontus, (ialatien, Cappadocien, Asien und ]}ithynien
gerichteten Petrusbriefs wieder aufzutauchen und zwar als Schreiber
des von Petrus inspirierten Briefs (denn das besagen höchstwahr-
scheinlich die Worte c. 5. 12: öiä Ztlovnvov vpXv rov mmov
äöflrpov, chq Xoyi'Qofini, Öl oXiywv eyQaym). Diese abgerissene Nach-
richt muß in ihrer Isolierung ein Rätsel bleiben. — Das aus Rom
nach Coriiith zur Zeit des Claudius gepflüchtete Ehepaar Prisca
und Acpiila (oder vi(dm(>hi' di(> Missionarin Piisca und ihr Gatte
Aquila) stand von allen selbständigen Missionaren Paulus am
Die Ergebnisse der Mission des Paulus und der ersten Missionare. 69
nächsten: sie haben mit ihm in Corinth zusanimcngewirkt, haben
sein Wirken in Ephesus vorbereitet, die Prisca hat den aus
Alexandricn stammenden Johannesjünger Apollo für Christus ge-
wonnen — ein Beweis ihrer christlichen Weisheit — , sie haben
dem Apostel einmal das Leben gerettet, und sie haben, nach
Rom zurückgekehrt, dort in seinem Sinn gewirkt (s. meine Ab-
handlung in den Sitzungsber. der Berliner Akad. 1900, 11. Jan.).
Es spricht vieles dafür, daß der Hebräerbrief von ihnen — sei
es aus der Feder der Prisca, sei es aus der des Aquila — stammt
(s. meine Abhandlung in der Zeitschr. f. NTliche Wissenschaft
Bd. 1, S. 1 if.. 1900). — Apollo, der Alexandriner, hat in Corinth
als selbständiger Missionar auf dem von Paulus bepflanzten Felde
gewirkt. Nur im I. Corintherbrief hat sich Paulus über ihn ge-
äußert und zwar anerkennend und freundlich, gerade weil er
wußte, daß man in Corinth eine Spannung und Rivalität zwischen
ihnen konstruierte. Dennoch läßt sich fragen, ob ihm das Wirken
dieses von ihm selbst nicht bestellten geistvollen Genossen durch-
weg sympathisch gewesen ist. Die abgerissene Notiz im Titus-
brief über ihn (3, 13) lehrt uns leider nicht mehr, als daß auch
später das Yerhältnis zwischen den beiden Männern nicht ge-
litten hat.
Unter den Missionaren, die Paulus selbst an sich herangezogen
bez. gebildet hat, steht Timotheus im Vordergrund. Wir hören
ziemlich viel von ihm, und seine Person ist auch dem Verfasser
der Apostelgeschichte so wichtig gewesen, daß er von seiner
Herkunft und Auswahl (16, 1) erzählt. Dennoch vermögen wir
uns von diesem treuesten jüngeren Mitarbeiter des Apostels kein
rechtes Bild zu machen, vielleiclit eben deshalb, weil er ihm
gegenüber unselbständig war. Nach dem Tode des Apostels —
er war auch in Rom bei ihm und hat so Beziehungen zu dieser
Gemeinde gewonnen — hat er seine Wirksamkeit noch fortgesetzt,
ist zeitweise gefangen gewesen und hat die domitianische Zeit
noch erlebt (Hebr. 13, 23). — Unter den übrigen Mitarbeitern
zweiten Rangs sind Marcus (der älteste Jerusalemit), Titus und
der Arzt Lucas hervorzuheben. In Bezug auf Marcus, den Paulus
auf die sogenannte 2. Missionsreise nicht mehr mitgenommen hat,
der sich aber später wieder in seiner Begleitung findet (Phileni. 24;
Coloss. 4, 10; HTim. 4, II), ist es möglich, daß die Tradition
aus zwei Personen eine gemacht hat (wahrscheinlich ist es m. E.
nicht). Er ist der Mann, der nach dem Zeugnis des Presbyters
Johannes evangelische Aufzeichnungen gemacht hat. Titus, von
dem wenig bekamit ist. war ein Vollblut-Heide (Gal. 2, 1 f.) und
hat zeitweise auf Creta gewirkt. Li Lucas, der auf der zweiten
Missionsreise in Troas zu dem Apostel stieß (er gehörte der
70 Einleitung und Grundlegung.
antiochenischen Gemeinde an und war, wie Titus, Heidenchrist),
erhielt die älteste Christenheit nicht ihren größten, aber ihren
verständigsten Schriftsteller. Paulus selbst sclieint „den geliebten
Arzt" (Coloss. 4, 15) und „Mitarbeiter" (Philem. 24) in seiner
Bedeutung doch nicht voll erkannt zu haben. Die letzten Worte
über seine Mitarbeiter, die wir von ihm besitzen, sind nicht er-
freulich. Schon aus dem Philipperbrief spricht Vereinsamung,
und II Tim. 4, 9 f. heißt es : „Beeile dich , schleunig zu mir zu
kommen; denn Demas hat, nachdem er diese Welt lieb gewonnen,
mich verlassen und ist nach Thessalonicli gegangen. Crescens
nach Galatien. Titus nach Dalmatien. Lucas ist allein bei mir
[das scheint aber ein geringer Trost zu sein!]. Nimm den Marcus
zu dir und bring' ihn mit, denn er kami mir gute Dienste leisten.
Tychicus habe ich nach Ephesus gesandt Alexander, der
Schmied, hat mir viel Böses erwiesen .... Bei meiner ersten
Verteidigungsrede stand mir niemand zur Seite, sondern alle ließen
mich im Stich . . . ." Man würde aber doch unrecht tun, die
Mitarbeiter des Apostels nach diesen unmutigen Worten zu be-
urteilen. Augenscheinlich haben sie nicht getan, was er wollte,
aber die Gründe ihrer Entschlüsse kennen wir nicht.
4. Daß Petrus (nach Paulus? neben Paulus?) in die klein-
asiatische Mission eingetreten ist, dafür besitzen wir in dem so-
genannten I. Petrusbrief eine sehr zweifelhafte Urkunde; aber
gewiß ist, daß — wohl nach der Zerstörung Jerusalems — her-
vorragende palästinensische Christen nach Asien und Phrygien
gekommen sind und dort eine bedeutende Tätigkeit entfaltet
haben. An ihrer Spitze steht ein Mann, der nach Ephesus kam
und dort im höchsten Alter beim Beginn der Regierung Trajans
gestorben ist — Johannes, „der Presbyter", ^vie er sich selbst
und wie ihn sein Kreis genannt hat. Er wirkte in den paulinischen
Gemeinden Asiens persönlich und durch Briefe , vermehrte sie,
ordnete ihre inneren Verhältnisse und trat Irrlehrern mit außer-
ordentliclier Schärfe entgegen. Die Oberleitung der Gemeinden
behielt er sich vor und übte sie durch wandernde Sendlinge aus.
Sein Ansehen wai' ein apostolisches oder apostelgleiches, aber
gegen Ende seines Lebens suchte diese und jene Gemeinde , die
sich selbständig fühlte, im Vorein mit ihrem Bischof seine Ober-
herrschaft abzuschütteln. Als er die Augen schloß, verschwand
wohl sofort die nur noch in seiner Person gegebene Missions-
organisation, und die selbständige lokale trat überall hervor. Als
Ignatius zwölf l)is fünfzehn .lahre späten- nach Asien kam, war
von jen(!r nichts mehr vor]iand(Ui. luul auch das (iredäclitnis an
jencMi .JohaniKss trat hinter dem Gedächtnis an I'aulus zurück.
Es muß also zuletzt der Kreis des Johannes ein beschränkter, er
Die Ergebnisse der Mission des Paulus und der ersten Missionare. 71
selbst ziemlich isoliert gewesen sein ^. Sicher gehören ihm der
zweite und dritte Johannesbriei", der im neuen Testamente steht,
und eben deshalb darf man auch den ersten Brief und das vierte
Evangelium mit hoher Wahrscheinlichkeit ihm zuschreiben, ja
man darf noch einen Schritt weiter gehen und ihm auch jenes
Buch vlndicieren, welches sieben Briefe und die christliche Be-
arbeitung einer (oder mehrerer) jüdischer Apokalypsen enthält —
die Offenbarung Johannis. Diese Hypothese ist die einfachste,
die sich aufstellen läßt, schließt sich der Überlieferung am besten
an und hat keine kapitalen Schwierigkeiten gegen sich. Über die
Person dieses Johannes läßt sich nur das mit einer an Gewißheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit sagen, daß er nicht der Zebedäide
ist, sondern ein sonst unbekannter Jerusalemit priesterlicher Her-
kunft und „Herrnjünger'-' -, ferner daß er, wie sein Evangelium
zeigt, eine besondere Beziehung zum Zebedäiden Johannes einst
gehabt haben muß '^. War am Ende seines Lebens seine Autorität
erschüttert bez. auf einen kleinen Ki-eis beschränkt, so ist es
diesem Kreise („die Presbyter") gelungen, jene Autorität dadurch
wiederherzustellen und mächtig zu erweitern, daß sie seine
Schriften „edierten" und in den Kirchen durchsetzten. Wahr-
scheinlich haben sie auch den Herrnjünger, „Apostel" und Pres-
') Es scheint, daß ihn damit dasselbe Geschick ereilte, welches er dem
Paulus bereitet hat. Man geht freilich hier wie im Nebel, aber das völlige
Verschweigen des Paulus in den sieben Briefen der Apokalypse ist ein Pro-
blem und kann nicht als unerheblich bezeichnet werden. Auch das Schweigen
in dem Evangelium Johannis, in welchem sich doch sonst so viel Zeitgeschicht-
liches spiegelt, ist höchst auffallend. Die sind gewiß ganz im Unrecht,
welche die Sendung des Parakleten, von der das Evangelium spricht, auf
Paulus beziehen wollen (Origenes — s. o. S. 50 — erzählt uns von solchen),
aber sie haben recht, wenn sie in dem Evangelium nach Paulus suchten und
ihn sonst nicht fanden.
^) Diese Bezeichnung legt nahe, fordert aber nicht notwendig die
persönliche Jüngerschaft, da sie nicht in Jerusalem, sondern in Asien auf-
gekommen ist.
^) Daß der Jünger, den der Herr lieb hatte, der Zebedäide Johannes
ist, ist noch immer die wahrscheinlichste Annahme; dann aber ergibt sich
alles andere. Die Beziehung zu ihm braucht nicht in Asien vom Presbyter
gewonnen worden zu sein, sondern kann sehr wohl auf Jerusalem zurückgehen.
Den formalen Anstoß (zwei Johannes) muß man in den Kauf nehmen; der
Name war sehr häufig. Wenn aber irgendein kritisches Problem hier durch
die Annahme erleichtert wird, auch der Zebedäide Johannes sei nach Asien
gekommen, so mag man dieser Überlieferung, die schon Justin bezeugt,
Glauben schenken. Durch diese Zustimmung wird in bezug auf die Frage
nach dem Verfasser der johanneischen Schriften nichts geändert. Erleichtert
aber wird die Erklärung der Tatsache, daß man verhältnismäßig so früh in
der asiatischen Tradition den Verfasser der johanneischen Sfihriften für den
Zebedäiden gehalten hat.
72 Einleitung und Gruncllegxing.
byter geflissentlich zum Zwölfapostel gemaclit oder sind doch
diesem Irrtum nicht entgegengetreten.
Außer diesem Johannes sind der Evangelist Philippus und
seine vier weissagenden Töchter, ferner der „Herrnjünger" Aristion
und vielleicht auch der Apostel Andreas als solche zu nennen,
die nach Kleinasien gekommen sind. Für Philippus (man hat ihn
übrigens im zweiten Jahrhundert auch mit dem Apostel gleichen
Namens verwechselt) imd seine Töchter steht die Wirksamkeit
in Hierapolis in Phrygien durch sichere Zeugnisse fest. Den
Herrnjünger Aristion nennt Papias neben Johannes als alten
Zeugen, und nach einer armenischen Handschrift geht der unechte
(mit dem Lucas- und Johannes-Evangelium verwandte, also wohl
in Asien entstandene) Schluß des Marcusevangeliums auf ihn zurück.
Daß Andreas nach Asien gekommen ist, läßt sich auf Grund der
im Muratorischen Fragment stehenden alten Legende vermuten;
dieselbe wird durch die freilich späte, aber doch nicht sicher
wertlose Nachricht gestützt, Andreas sei in Griechenland gestorben ^
Im Ausgang des 1. Jahrhunderts waren Asien und Phrygien
die einzigen Provinzen, in denen palästinensische Traditionen
durch persönliche Repräsentanten noch lebendig waren. Zugleich
war wahrscheinlich in keinem anderen Teile des Reichs eine so
große Anzahl nahezusammenliegender Christengemeinden zu finden
wie hier und in Bithynien und im Pontus. Das mußte ihnen,,
namentlich aber der Gemeinde von Ephesus ein großes Ansehen
geben. Wenn Clemens Alexandrinus nach alten Traditionen
suchte, blickte er auf Asien, und auch in Rom wußte man, welche
Bedeutung den Gemeinden dort aus ihrer Tradition zukam. Aber
in Rom ist man doch niemals gewillt gewesen, sich auf die zweite
Stufe zu stellen. Um das Jahr 50 ist die Christenheit eine
Ellipse, die an Jerusalem und Antiochen ihre Mittelpunkte hat:
fünfzig Jahre später liegen diese Mittelpunkte bereits in Ephesus
und Rom. In dieser Tatsache tritt die Größe des Werkes des
Paulus und der ersten christlichen Missionare aufs deutlichste
hervor.
') Man darf hier auch a,n Ignat. ad Ephes. 11 erinnern: i'va evl xX/jq«)
'E(pf.oioiv svQEÜö) TÖjv XgioTiavcüv, o'i xal zoTg äjrooTÖXoig jiävToie ovvt'ivFonr (al.
avvrjoav) fv övvdfifi 'Irjoov Xoioiov. Die LA onvtjveoav fordert aber nicht not-
wendig die persönliche Anwesenheit der Apostel in Ephesus.
Zweites Buch.
Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Das Geheimni8 der Anziehungskraft der chrisÜiclien Predigt
und eine wichtige Bedingung ihres Erfolges lag in dem Einen
und Vielen, das sie von Anfang an umfaßte. Sie war einerseits
so einfach, daß man sie mit wenigen kurzen Sätzen zu umschreiben,
in einer großen imieren Erschütterung zu erfahren vermochte,
und sie war andererseits so mannigfaltig und reich, daß sie jeg-
liches Denken befruchtete und jedes Grefühl belebte. Fast von
Anfang an vermochte sie mit jeder Betätigung des Edlen und
Guten, ja auch mit jeder Spekulation und jedem Mysterienkultus
zu wetteifern. Sie war neu und alt, jenseitig und diesseitig zu-
gleich; sie war hell und durchsichtig und wiederum tiefsinnig und
geheimnisvoll; sie war statutarisch und über jedes Gesetz erhaben;
sie war eine Lehre und doch keine Lehre, eine Philosophie und
doch etwas anderes als Philosophie. Man hat vom abendländischen
Katholizismus gesagt, er sei in seiner Gesamterscheinung die
complexio oppositorum: aber dies gilt auch schon von der christ-
lichen Predigt in ihren frühesten Anfängen. Man kann es bereits
am Paulinismus nachweisen, ebenso aber auch an der Verkündigung
der christlichen Religion im zweiten Jahrhundert. Wer daher die
Missionspredigt imd Missionswirksamkeit darstellen will, um die
überraschenden Erfolge des Christentums zu erklären, muß sich
aller Momente gleichmäßig zu bemächtigen versuchen. Wir werden
so verfahren, daß wir darstellen werden:
(1) Religiöse Grmidzüge der Missionspredigt.
(2) Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung.
(3) Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung.
(4) Die Religion des Geistes und der Kraft, des sittlichen
Ernstes und der Heiligkeit.
(5) Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien
und der transcendentalen Erkenntnisse.
(6) Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten
Geschlecht (das geschichtliche und politische Bewußtsein der
Christenheit).
74 I^ie Mission«predigt in Wort uud Tat.
(7) Die Religion des Buchs und der erfüllten Geschichte.
(8) Den Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst.
Tn diesen Kapiteln zusammengenommen hoffen wir dem Reich-
tum der Aufgabe gerecht zu werden, ohne doch die einfache
Kraft dieser Religion abzuschwächen oder zu verdunkeln ^. Eines
freilich muß hier ausgeschlossen bleiben, nämlich die Entwickelung
der christliclien Lehre bis zu der abgeschlossenen Katechismus-
lehre der Kirche und bis zu der christlichen Religionsphilosophie
des Origenes und seiner Schüler zu verfolgen. Unstreitig hat die
Lehre in beiden Gestalten auch für die Mission eine hohe Be-
deutung gehabt, namentlich seit ihrem relativen ersten Abschluß
um die Mitte des 3. Jahrhunderts. Aber die Aufgabe hier ist so
groß, daß sie ein eigenes Werk füllt. Ich habe ihr in dem
1. Bande meines Lehrbnchs der Dogmengeschichte (3. Aufl.)^ zu
entsprechen versucht und muß diejenigen auf dieses AVerk ver-
weisen, welche die Lücke, die wir hier lassen müssen, ergänzt
sehen wollen.
Erstes Kapitel.
Religiöse Grundzüge der Missionspredigt.
Das Wort „Missionspredigt" kann in einem doppelten Sinne
verstanden werden — erstlich (im weiteren Sinne) umfaßt es alles,
was das Evangelium an bewegenden, anziehenden und überzeugen-
den Momenten besaß bez. in seiner Entwickelung zur synkretistischen
Religion bis zum Ende des 3. Jahrhunderts rezipierte und in Kraft
und lieben umsetzte. Zweitens (im engeren Sinne) umschließt
das Wort lediglich die entscheidende Glaubensbotschaft und die
moralisclien Forderungen. Im letzteren Sinne werden wir in
diesem Absciinitt die Grundzüge der Missions[)redigt zur Dar-
stellung bringen : in d(!r weiteren Fassung geliört vieles hierher.
Altes Testament und mnio Schriften, Heilung und Erlösung. Gnosis
und Apologetik, Mythus und Sakramente. Dämonenbezwingung,
soziale Ausgestaltung und Hilfleistung — alh^s dies nahm an der
Missionspredigt teil und trug dazu bei, sie eindrucksvoll und über-
zeugend zu machen. Im engeren Sinne sind der Darstellung der
MiKsionsj)redigt hier Schranken zu ziehen; denn die Fassung der
entscheidend(ui Glaubensbotschaft und der moralischen Forderung(m
') In dem Martyrium der 8cilitaner sagt der l'rokoiisul: ,Et uos religiosi
sumus, et simplex est religio nostra." Darauf repliziert der Christ Speratus:
„>ii tranquillas pracbueris aures tuas, dico mysteriuni simplicitatis."
-) Vgl. meinen Grundriß der Dogmeugeschichte, 4. Aufl., 1905.
Religiöse Grundzüge der Missiouspredigt. 75
ist natürlich abhängig gewesen von der dogmengesehichtlichen
Entwickohmg. Diese kann aber nicht dargelegt werden, ohne die
Grenzen dieses Werks zu überschreiten (s. o.). Indessen ist die
Schranke nicht so empfindlich, weil, soviel wir wissen, die Missions-
predigt im strengen Sinne des Wortes seit dem Ende des 2. Jahr-
hunderts so ziemlich aufgehört hat. Der Katecliumenenunterricht
trat an ihre Stelle, ferner die häusliche Erziehung im und zum
Christentum und der kirchliche Gottesdienst. Endlich ist das
Mißverständnis abzuwehren, als sei jeder, der zum Christentimi
übertrat, durch eine in den Grundzügen vollständige Missionspredigt
gewonnen worden. Die Quellen, soweit sie uns hier Aufschluß
geben, zeigen ein ganz anderes Bild — und zwar während der
ganzen vorconstantinischen Epoche. In unzähligen Fällen war
das, was die Entscheidung bewirkte, nur ein Strahl des Lichtes:
der eine wurde durch das alte Testament gewonnen, der andere
dm'ch Dämonenbeschwörer, ein dritter durch die Reinheit des
christlichen Lebens, wieder ein anderer durch den Monotheismus
oder — vor allem — durch die Aussicht auf eine totale Ent-
sühnung und auf das ewige Leben oder durch die Tiefe der Speku-
lationen oder durch den sozialen Halt, den er gewann. Am
häufigsten aber mag, solange das Christentum sich noch nicht
natürlich fortpflanzte, ein Gläubiger den anderen erweckt haben,
wie ein Prophet den anderen salbt; das Beispiel — nicht nur das
der Märtyrer — und die persönliche Darstellung des christlichen
Lebens erzeugten die Nachahmung. Eine vollständige Kenntnis
der christlichen Lehre, die ja noch im 2. Jahrhundert wie weiches
Wachs war, haben sich gewiß die wenigsten erworben — „idiotae,
quoruni semper maior pars est", sagt Tertullian, und Hippolyt
klagt über die Ignoranz sogar eines römischen Bischofs — ; aber
auch die Kenntnis der heiligen Schriften mußte trotz der nicht
fehlenden Privatlektüre das Vorrecht einzelner bleiben, so weit-
schichtig und schwer verständlich waren sie ^.
Die älteste Missionspredigt an die Juden lautete : „Das Gottes-
reich ist nahe herbeigekommen; tut Buße 2." Was das Himmel-
*) Namentlich abendländische Bischöfe und Theologen klagen immer
wieder über die mangelnde Bibelkenntnis bei Laien und auch bei Klerikern,
aber vgl. auch Clemens Alexandriuus.
^) Die älteste Missionspredigt (Matth. 10. 7 f.), mit der die Jünger Jesu
betraut wurden, lautet: xrjQvoasrs Xsyovxeg ort rjyyiysv i] ßaoileia rwv ohga-
vöiv. Die Buße ist hier nicht genannt, aber aus anderen Stellen zu er-
gänzen. Die Kraft, Heilandswirken zu üben , wird ihnen dabei in Aussicht
gestellt (a.o&£vovvzag deoaJTSVSTS , VEXoovg syeigeis, Äsjigovg xa&aQiCsie , dai/iöyia
sxßäklETs).
76 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
reicli sei und was die Nähe bedeute, glaubten die Juden zu wissen;
was Buße zur Erwerbung der besseren Gerechtigkeit sei, mußte
ihnen gesagt werden, und von hier aus empfing auch der Begriif
,,Gottesreich" einen anderen Sinn.
Die zweite Stufe in der Missionspredigt an die Juden bildete
der Satz ,, Jesus, der Auferstandene^, ist der Messias ^ und wird
vom Himmel wiederkommen, um sein Reich aufzurichten."
Die dritte Stufe war durch die Beleuchtung des ganzen alten
Testaments (des Gesetzes und der Propheten) vom Standpimkte
der durch Jesus Christus geschehenen Erfüllung bezeichnet, und
zugleich galt es, diejenige iimere Gesinnung und sittliche Haltung
zu gewinnen nnd auszugestalten, zu welcher die Mitglieder der
messianischen Gemeinde, die dui'ch den heiligen Geist berufen und
von ihm getragen sind, sich verpflichtet wissen^. Hierbei mußte
die Erfahrung gemacht werden , daß die bisherige Gesetzes-
beobachtung nicht ausreiche, vim die Sünde zu tilgen, bezw. um
die Gerechtigkeit zu gewinnen, daß aber Jesus, der Messias, ge-
storben sei zur Vergebung der Sünden (yvcoarov I'otco vjlüv, ön öid
TOVTOV vfAiv ärpeoK; afiaQTicöv xciTayyeXXerai a.To Tiüvran' cbv ovx
rjdvvyjt^rjje iv i'Ofico MiOvo^iOQ dixaicoßrp'at) *.
^) Vgl. das uralte gern ein christliche Auferstehungsbekenntnis I Cor.
15, 4 ff.
■') Cf. Matth. 10, 32.
•■') „Nachahmung" und „Nachfolge" Christi hatten bei den sittlichen Er-
mahnungen nicht den Spielraum, den man erwartet. Jesus hat von Nach-
ahmung Gottes gesprochen und ihm selbst nachzufolgen geboten; auch legte
das Verhältnis von Lehrer und Schüler die Formel der Nachfolge nahe.
Aber so-bald er als Messias anerkannt war, als Gottes Sohn, Heiland und
Richter, mußten Nachahmung und Nachfolge zurücktreten, wenn auch die
Apostel in ihi-en Briefen beides noch eingeschärft und Jesum in Gesinnung,
Tat und Leiden als Vorbild aufgestellt haben. Ein ethisches Formprinzip,
um mich eines modernen Ausdrucks zu bedienen, ist in der alten Kirche die
Nachahmung nur für die Virtuosen der Relii;ion, die Geistlichen, Lehrer,
Asketen und Märtyrer geworden; in der ethischen Unterweisung der Ge-
meinde spielte sie eine geringere Rolle. Auch die Anweisung zur Nachfolge
im strengen Sinn findet sich verhältnismäßig selten. Doch ist es nicht ohne
Interesse, die Stellen zu sammeln und zu überschauen, die hier einschlagen.
Gerne parallelisierte man den Lebensgang und das Verhalten hervorragender
Christen, namentlich der Confessoren, mit dem Christi. Zu generellen gesetz-
lichen Vorschriften in bezug auf die Nachahmung Christi ist es nicht ge-
kommen, weil die Christologie dazwischen trat (Gehorsam, nicht Nachahmung
ist gefordert), und weil die wirkliche pünktliche Nachahmung zu schwer
erschien. Die, welche sie versuchten, haben daher stets als Christen höherer
Gattung gegolten (wenn ihnen auch frühe schon zugerufen worden ist, sich
nicht zu überheben); also hat die Theorie der katholischen Kirche von den
„evangelischen Räten" eine uralte Wurzel.
*) Act. i;J, 38; soweit ist m. E. die judenchristliche Erkenntnis in der
antiochenischen Rede des Paulus zutreffend formuliert; die weitere Fortführung
Religiöse Gnmdzüg'e der Missionspredigt. 77
„Ihr wißt, (laß. als ihr lleidcn wart, ihr zu den stummen
Götzen entführt fortgerissen wurdet" (I Cor. 12,2): „Ihr seid be-
kehrt von den Götzen zu Gott, zu dienen dem lebendif^en und
wahrhaftigen Gott und zu erwarten vom Himmel her seinen Sohn,
den er erweckt hat von den Toten, Jesum, der uns rettet von
dem kommenden Zorn" (I Thess. 1 , 9 f.). Hier haben \vir die
Missionspredigt an die Heiden in nuce. Der „lebendige und
wahrhaftige Gott" ist das Erste und Entscheidende; Jesus, der
Sohn Gottes, der uns gegen den zukünftigen Zorn (d. h. an dem
nun hereinbrechenden Gerichtstage) sicher stellt — daher
„Jesus der Herr" — das Zweite. Dem lebendigen Gott, der jetzt
allen verkündigt wird, gebührt Glaube und hingebender Dienst;
dem Sohne Gottes als dem Herrn gebührt Glaube und Hoifnung^.
Diese kurze Predigt enthält einen unerschöpflichen Inhalt —
objektiv und subjektiv, positiv und negativ — und ist doch aufs
festeste in sich geschlossen. Objektiv und positiv ist sie die Bot-
schaft von Gott dem einen, dem geistigen, dem allgegenwärtigen,
allwissenden imd allmächtigen, dem Schopfes Himmels und der
Erden, dem Herrn und Vater der Menschen, dem großen Ökonomen
der Menschheitsgeschichte ^ : sie ist ferner die Botschaft von Jesus
Christus, dem Sohne Gottes, der vom Himmel gekommen ist, den
des Gedankens ih tovtw .-tö^ 6 :riaTfrcor dipcaiovrai) ist spezifisch paulinisch.
Im übrigen bietet die ganze Rede ein schönes Beispiel einer an Juden ge-
richteten Missionspredigt. Daß der Satz: „Christus ist für unsere Sünden
gestorben nach den Schriften ", ein allgemein christlicher und nicht bloß ein
paulinischer v^ar, folgt aus I Cor. 15. 3. Auch Weizsäcker (a.a.O.- S. 60 f.)
hebt es mit Recht .stark hei'vor, daß vor und neben Paulus auch in den
judenchristlichen Kreisen (bei Petrus) die Einsicht bestanden haben muß, das
Gesetz und seine Beobachtung sei zur Rechtfertigung vor Gott nicht völlig
ausreichend, und dem Messias Jesus bez. seinem Tode komme eine soterio-
logische Bedeutung zu.
') Justin (Acta .Ju.st. 2) antwortet auf die Frage nach dem „Dogma"
der Christen: ottso svaeßovjxev elg xov tmv XoroTiavojv ^eoV, ov rjyovfxeda sva
TOVTOV i^ 0LO/i}g Ttocr/rrjv xai ÖrjfiiovQyov zfjg Jiäarjg y.ziascog, öoaxfjg re xal doqäzov,
y.al y.vQiov 'Irjoovv Xoiazov TiaiSa &£ov , (ig xai jTQoy.sxtjQvy.zai vnb zwv tiqo-
q)t]Ta)V f^üXlmv ^taqayiveo'&ai zm ysrsi zü>v av&QMJtojv ooirt]qiag y.rjov^ y.al di8a-
oy.a/.og yakwv ua{h]zöj%'.
'^) In dieser Hinsicht ist die Rede, die Lucas dem Paulus auf dem
Areopag in den Mund gelegt hat (Act. 17, 22 — 30) , typisch und besonders
instruktiv. Zugleich stellt sie die Verbindung dar mit den reinsten Konzep-
tionen des Hellenismus. Man muß diese Rede mit dem I. Thessalouicherbrief
kombinieren, um sich ein Bild zu machen, wie die grundlegende Missions-
predigt vor Heiden beschaffen gewesen ist, und das Vorurteil zu beseitigen,
als seien der Galater- und Römerbrief Muster der paulinischen Missions-
predigt. — Ein besonders gutes Bild von den Grundzügen der Missionspredigt
(neg. und pos.) ö;ewähren auch die Fragmente des Kerygma Petri. Die alte
Schrift hat wohl, wie auch schon der Titel andeutet, geradezu ein Kompen-
dium der Lehre für Missionszwecke sein sollen.
78 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Täter kundgetan hat. für die Sünden gestorben, auferstanden ist,
den Geist herabgesandt hat und, zur Rechten Gottes sitzend,
zum Gericht wiederkommen wird^; sie ist endlich die Bot-
schaft von dem Heile, das Jesus als der Heiland bringt, nämlich
die Befreiung von der Plerrschaft der Dämonen, der Sünde und
des Todes und das Geschenk des ewigen Lebens.
Objektiv und negativ ist sie die Verkündigung von der
Nichtigkeit aller übrigen Götter, der Protest gegen die goldenen,
silbernen nnd hölzernen Götzenbilder und der Protest gegen das
blinde Fatuni und die Gottlosigkeit.
Subjektiv endlich ist sie die Botschaft von dem Unwert aller
Opfer, aller Tempel und alles Kultus von Menschenhänden, da-
gegen die Verkündigung des Gottesdienstes im Geist und in der
Wahrheit, des zuversichtlichen Glaubens, der Heiligkeit und der
Enthaltung, der läebe und der Brüderlichkeit, endlich der felsen-
festen Gewißheit der Auferstehung und des ewigen Lebens und
daher des Unwerts des gegenwärtigen Lebens, welches unter dem
zukünftigen Gericht steht.
Furcht und Hoffnung wurden bei dieser neuen Botschaft in
außerordentlicher Weise erregt: die Furcht vor dem Hereinbrechen
des Weltendes und der großen Abrechnung, bei der der Gerechte
kaum zu bestehen vermag, und die Hoffnung auf ein herrliches
Reich auf Erden nach der Katastrophe, ein Paradies voll köst-
licher Genüsse und voll Trost und Seligkeit. Solch einen Sehrecken
und solch ein Glück hatte wahrscheinlich noch keine Religion als
öffentliche Botschaft verbreitet.
Die Botschaft von dem einen allmächtigen Gott befremdete
weite Kreise nicht mehr — im Gegenteil: das unsicher Geahnte
schien erfüllt in Gewißheit und Herrlichkeit. Anders stand es
mit Jesus und der Botschaft von der Auferweckung. Wie man
nach dem Bericht der Apostelgeschichte (17, 18) in Athen „den
Jesus und die Anastasis" für neue Dämonen und für höchst selt-
sam hielt, so mußte überall die Lehre von ihnen zuerst als paradox
gcdten. Doch auf diesen Punkt haben wir hier nicht einzugehen.
Gewiß ist, daß „der eine, lebendige Gott als dei- Weltschöpfer",
') Thaddäus kündigt dem Abgar für den folgenden Tag eine Missions-
predigt an und gibt im vora^us ihren Inhalt also an (Euseb., h. e. I, 1>5):
xr}Qv$o) xal otiequ) tov hiyov rrjc: Lcofjg , jtFQi ze rfjc; Flfvoewc: rov 'Irjaov xadwg
gyh'ETo , xai jifqI t?}? änoGtokrjc: avrov, xal rvfxa zlvog äjTFardhj vjto rov TiaTfjög,
y.al Tirol zf/g (iin'üfiFMg xal zio%' rgyiov avzov xal fivoztjgüov (bv ildhjoei' fv
xöofKo, xal TTOia öwäfisi zavra fjtoIfi , xal jifqI tfjc; xairPjc; avzov X}]Qi>^e(05, xal
jTFQi rfjg fiix(>özf^zog , xal tifqI rfjg zanEivcoOFCog , xal jiwg FzaJiFi'vfOOFv Favzoi' xai
djiidFzo xal F.oftixQVVFv avzov zip' ÜF.özfjza, xal F.azavQwdf] xal xazFßt] Fig zov
"Aidrjv, xal ftiioyiGF (f>Qay(iov zw f'E, alwvog firj axio&h'za, xal ävrjyFiQFV vFxgovg
xal xazfßrj ftörog, dvißrj öl: fiFzd jtoU.ov o'yj.ov jtQog zov jiazsQa arnov.
Religiöse Grundzüge der Missiouspredigt. 79
„der Soter Jesus" i, „die Aiiferwcckung" und „die asketische Ent-
haltung" die hervorstechendsten Punkte der neuen Yerkündigung
bildeten. Dabei mußte die Geschichte Jesu kurz mitgeteilt werden
(christologisch(!s Kerygma) und wurde die Auferstehung in der
Regel als Auferstehung des Fleisches, die Enthaltung in erster
Linie als die geschlechtliche Reinheit, überhaupt aber als der
Verzicht auf die Welt und die Abtötung des Fleisches bestimmt-.
Das ll^berschwänglichste war die Botschaft von Auferweckung
des Fleisches, der vollkommenen Restitutio in integrum und des
Herrlichkeitsreichs. Creatio und resurrectio sind Anfang und Ende
der Lehre. In der erregten Hoffnung auf die Auferweckung floß
die neue Schätzung des Werts des Individuums mit ganz minder-
wertigen sinnlichen Wünschen zusammen. Der Glaube an die
*) In der Paradoxie. daß der Soter auch der Richter ist, besaß das
Christentum einen seiner charakteristischen Gedanken, durch den es anderen
Religionen besonders überlegen war. — , Vater und Sohn" bez. „Vater, Sohn
und heiliger Geist": die üyas und die Trias wechselt, aber jene Formel ist
wohl etwas älter; beide sind schon bei Paulus selbst nachweisbar, üb er
die letztere geprägt hat, möchte ich bezweifeln. Sie gehört wahrscheinlich
wie „die Kirche", ,,das neue Volk", „das wahi'e Israel", „Apostel, Propheten
und Lehrer", „Wiedergeburt" usw. zu den Schöpfungen des ältesten Jünger-
kreises. — Das Kerygma von Jesus ist mit dem Bekenntnis zu Vater, Sohn
und Geist und mit der Kirche, der Sündenvergebung und der Fleisches-
auferstehung verbunden worden. Das römische Symbol ist für uns der erste
Zeuge dieser Verbindung und wahrscheinlich auch an sich der älteste. Dieses
Symbol ist wohl nicht aus der Missionspraxis im engeren Sinn entstanden,
sondern schon aus der katechetischen Praxis.
-) Für den ersten Punkt (der eine, lebendige Gott) ist Hernias Mand. I
besonders entscheidend (ctomtov jravrcov jTi'arsvaor, öri elg iarlv 6 dsog 6 rä
yiävTct y.Ti'aag xai y-aragrloag htI.}, vgl. Praedic. Petri bei Clemens. Strom. V, 6,48;
VI, 5, 39; VI, 6, 48 (die zwölf Jünger werden von Jesus als Apostel aus-
gesandt mit dem Auftrag: svayyeXloaodm rovg y.ara rrjv oiyovfiivrjv äri^pcojrofc
yn'waxeiv, on sfg dsög eotiv). Aristides gibt c. 2 seiner Apologie das Kerygma
von Jesus Christus; aber wo er das Christentum auf einen kurzen Ausdruck
bringen will, genügt es ihm zu sagen: die Christen sind die, welche den
einen wahren Gott gefunden haben, s. z. B. c. 15: „Die Christen haben ....
die Wahrheit gefunden .... sie kennen nämlich und glauben an Gott, den
Schöpfer Himmels und der Erde, ihn, durch den alles besteht, und von dem
alles kommt, ihn, der keinen anderen Gott neben sich hat, ihn, von welchem
sie die Befehle erhalten haben, die sie in ihren Sinn eingeschrieben haben,
Befehle, die sie beobachten im Glauben und in der Erwartung der zukünftigen
Welt." (Vgl. auch die pseudomelitonische Apologie.) Die drei anderen Haupt-
punkte sind besonders charakteristisch in den Acta Theclae formuliert: von
Paulus heißt es hier (c. 1. 5), daß er überliefert habe itavta rä löyia xvqiov xal
Tfjg yEvvijoscog xat ri]; dvaaräoscog zov rjyasirjiiEvov , und daß der Inhalt seiner
Predigt sonst gewesen sei — löyog deov jteqI iyxQazEiag xal ävaardoEcog. Die
beiden letztgenannten Begrifie sind als sich ergänzende aufzufassen. Die
EyxQarEia wird gefordert, weil die Auferstehung d. h. das ewige Leben gewiß
ist, aber jene zur Bedingung hat; vgl. z. B. Vita Polycarpi 14: ilsysy rrjv
ayvEiav TTgSSgo/iiov sivai zfjg /lE/dovotjg äcpdÜQzov ßaoiÄEiag.
80 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Autcrstohung des Fleisclics und an das iOOO jährige Reich schien
auch bald den Heiden als das eigentliche Charakteristikum dieser
töricliten Religion. Sie hatten Recht: er war es damals wirklich.
Justin erklärt, daß alle rechtgläubigen Christen so lehren und
hoffen. „Fidncia Christianorum resurrectio mortuorum, illä cre-
dentes sumus", schreibt Tertullian (de resurr, l), und er fügt
(c. 2]) hin7Ai, daß man sie nicht allegorisch verstehen dürfe wie
die Häretiker meinen; denn: „verisimile non est, ut ea species
sacramenti, in quam fides tota committitur, in quam disciplina tota
conititur. ambigue annuntiata et obscure proposita videatur (s. auch
das Folgende). Die ältesten „wissenschaftlichen" Traktate groß-
kirchlicher Lehrer waren Abhandlungen über die Auferstehung
des Fleisches. Und in diese Hoffnung hinein spielte der glühende
Wunsch der Gedrückten, der Armen, der Sklaven, aber auch der
Enttäuschten: „volumus non diutius servire, optamus maturius
regnare" (Tertull. de orat. 5). „Cum et tempora totius spei fixa
sint sacrosancto stilo, ne liceat eam ante conatitui quam in adven-
tum, opinor. Christi, vota nostra suspirant in saeculi huius occasum,
in transitum mundi quoque ad diem domini magnum, diem irae
et retributionis" (Tert. de resurr. 22). „Kommen möge die Gnade,
und vergehen möge diese Welt, der Herr kommt!" betete man
bei der Abendmahlsfeier (Didache 10). Bis über den Anfang des
;}. Jahrhunderts hat in weiten Kreisen diese Stimmung angehalten;
aber ihr Höhepunkt war die Zeit bis Marc Aurel ^. —
Der „Weisheit", dem „Verständnis", dem „Wissen" und der
„Erkenntnis" war von Anfang an das weiteste Gebiet geöffnet,
und schwerlich gab es irgend eine ausführlichere Missionspredigt,
die nicht ins „Gnostische" d. h. ins Hellenisch-Philosophische über-
ging; deim da es feststand, daß der Soter Jesus vom Himmel
gekommen war — die Kreise, die es anders auffaßten, kr)nnen
hier bei Seite bleiben — , so war die Phantasie völlig entschränkt
und zum h()c]isten Fluge verpflichtet. „Wir sind göttlichen Ge-
schlechts" (Act. 17,28) war noch eine nüchterne Erkenntnis: die
Gottheit ist Mensch, ja Fleisch geworden, damit die Menschen
göttlich würden, das war die Erkenntnis, zu der sich alles zu-
spitzte. Sie wurde verbunden mit dei' Si)ekulation, daß die
Menschwerdung, eben weil sie ein göttlich - kosmisches Ereignis
') Sehr detailliert hat Origenes (De princ. II, 11,2) die Vorstellungen
der Chiliasten geschildert, die er bekämpft und bereits wie eine zurückge-
bliebene Partei behandelt. Mau sieht aus seiner Schilderung, daß man sie
sich nicht sinnlich genug denken kann. Auch auf „nuptiarum conventiones
et filiorum procreationes" rechneten sie wieder. Aber man vgl., wie selbst
ein Irenäus im 5. Buch seines großen Werkes das tausendjährige Reich, „nach
apostolischer Überlieferung" und an Papias sich anschließend, gezeichnet hat.
Religiöse Gruudzüge der Missionspredij^fc. 81
sei, eine wiederherstellende und steigernde Bedeutung für alles
Geschaffenem habe, und daß die Seele des Menschen, durch ab-
gestufte Mächte und Schranken bisher von Gott, ihrem Ur(juell,
geschieden, nun den freien Rückweg zu Gott besitze, wobei alle
jene Mächte, selbst befreit, nicht mehr Schranken, sondern Stufen
und Vermittler sind. Zu der unumgänglichen Spekulation über
Gott, Welt, Seele kam noch die über die Kirche; auch hier wurde
das Historische und Irdische ins Kosmische und Transzendentale
erhoben.
Der Gegensatz einer j^gemsunden" und einer häretischen Gnosis
hat sich in der Predigt erst allmählich herausgestaltet, wenn man
auch von Anfang an aufmerksam gewesen ist auf gewisse Speku-
lationen, die das Kerygma selbst zu gefährden schienen^. Das
Korrektiv gegen eine zu ausschweifende Gnosis, die die ganze
synkretistische Religion des Zeitalters hereinzog und ins Dua-
listische und Doketische überging, wurde in der „gesunden" Gnosis,
sodann aber in der Lehre von der Freiheit, in einer nüchternen,
rationalistischen Gotteslehre und Moral, in dem Realismus der als
Heilstatsachen gedeuteten Geschichte Jesu und in der Lehre von
der Auferstehung des Fleisches — letztlich aber und am sichersten
in dem Verbot von „Neuerungen" und in der Fixierung der Über-
lieferung — gefunden. Li dieser Hinsicht ist sehr instruktiv, wie
Origenes das Kerygma bestimmt (in Joh. XXXII, 9). Erst repe-
tiert er Hermas Mand. I (der eine Gott, der Schöpfer), dann fügt
er hinzu: „man muß aber auch glauben, daß Jesus Christus der
Herr ist, und an die ganze Wahrheit, die von ihm als Gott und
als Mensch gilt; man muß aber auch an den heiligen Geist glauben,
und daß wir, da wir einen freien Willen besitzen, gestraft werden
für das, was wir gesündigt haben, aber belohnet werden für unsere
guten Taten".
^j Es gehört zu deu merkwürdigsten Erscheinungen und zu denen,
welche am meisten zu denken geben, daß von Anfang an, wo nur immer
eine „gefährliclie" vSpekulation auftauchte, diese so bekämpft wurde, daß
man einen Teil derselben übernahm. Man vgl. die in Phrygien (Colossae)
aufgetauchten „Irrlehren" und halte den Colosser- und Epheserbrief dagegen ;
man erinnere sich der „Irrlehren", welche die johanneischen Schriften be-
kämpfen, und denke an den gnostischen Inhalt dieser Schriften ; man zeichne
sich ein Bild von deu „Irrlehren", welche Ignatius in seinen Briefen be-
kämpft, und vergegenwärtige sich die Theologie des Ignatius; man stelle
sich die großen gnostischen Systeme des 2. Jahrhunderts vor und lese den
sie bekämpfenden Ireuäus: „vincendi vincentibus legem dederunt!" So ge-
waltig war die Macht der helleuisch-synkretistischen Ideen ! Es scheint fast,
als habe stets eine Art von Immunisierungsverfahren stattgefunden: man
impfte der „gesunden" Lehre die Irrlehre in starker Verdünnung ein und
feite sie so gegen die akute Infektion.
Harnack, Mission. 2. Aiiil. 6
82 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Im 2. Jahrhundert bereits war das christliehe Kerygma ein
sehr verschiedenes: anders predigten die Evangelisten der großen
Kirche im Morgenland und anders im Abendland, wenn auch auf
derselben Grundlage, wieder anders predigten die Gnostiker und
Marcionitcn. Aber Tertullian hat violleicht nicht ganz unrecht,
wenn er behauptet, die Heidenmission werde von diesen wenig
betrieben: sie machten sich in der Regel nur an solche, die be-
reits Christen waren. Seit dem gnostischen Kampf ist die anti-
gnostische Glaubensregel allmählich überall die Grundlage der
kirchlichen Verkündigung geworden. Das Ethische und Stürmische
trat hinter das Dogmatische mehr zurück, aber das Drängen auf
Enthaltung und Askese hörte doch nicht auf.
Die Theologie war beim Übergang des 2. zum 8. Jahrhundert
unübersehbar weitschichtig geworden, aber die Missionspredigt muß
stets verhältnismäßig kurz gewesen sein; denn für die „Idioten"
waren schon jene vier Stücke, die wir oben genannt, genug und
übergenug. Szenen, wie die, welche die Apostelgeschichte (c. 8,
26 — 38) erzählt, haben sich mutatis mutandis — besonders in
Zeiten der Verfolgung angesichts der Märtyrerfreudigkeit einzelner
Christen — immer noch wiederholt, obgleich eine rechtgläubige
(und in der Theorie unumgängliche) Lehre von großem Umfang
bestand, und das Bekenntnis: Ein Gott, der die Welt geschaffen,
Jesus der Herr, Gericht, Auferstehung — war gewiß für viele
alles, was sie wußten. Andererseits waren gewisse Hauptstücke
des Weissagungsbeweises, der in der Predigt vor Juden und Heiden
eine so große Rolle spielte (siehe das Kapitel über das Alte Testa-
ment), in sehr weiten Kreisen vorbreitet, und es müssen die Grund-
züge des christlichen Gottesbegriffs sehr vielen geläufig gewesen
sein; denn triumphierend weisen die Apologeten immer wieder
darauf hin, daß „bei uns die Handwerker und Sklaven und alten
Weiblein Rechenschaft zu geben wissen von der Gottheit und nicht
ohne Beweis glauben ^''
Die vier Stücke — d(!r eine k^bendige Gott, der Soter und
Richter Jesus, die Auferstehung des Fleisches und die Enthaltung
— konstituierten in ihrer Verbindung die neue Religion, die sich
^) Zusammen mit den Hauptstücken des Weissagungsbeweises (ein bis
zwei Dutzend Stellen aus dem Alten Testament) waren die entsprechenden
Stücke der Geschichte Jesu die bekanntesten und geläutigsten. Daß es —
abgesehen vom Kreuzestod — streng historisch genommen fast sämtlich
Legeudenstotle (ideelle Geschichte) waren, war das notwendige Ergebnis
dieser Betrachtungsweise und Methode. An gewaltigem Eindruck kam wahr-
scheinlich nichts den Geburtsgesehichten gleich, wie sie bei Matthäus und
namentlich bei Lucas zu lesen standen. Daß die Auferstehungsgeschichte
Religiöse Grundzüge der Missionspredigt. 83
kräftig von den alten, namentlich auch von der jüdischen, abhob
und sich doch trotz ihres scharfen Kampfes gegen den Poly-
theismus organisch an den Entwickelungsgang anschloß, den die
Religion an den Ufern des (istlichen und zentralen Mittelmeeres
genommen hatte. Das Medium aber, in welchem jene vier Stücke
lebendig waren, war der Vergeltungsgedanke d. h. die
Souveränetät des Sittlichen einerseits und das erlösende
Kreuz andererseits — jede Auffassung der Grundzüge der christ-
lichen Missionspredigt ist verfehlt, die nicht alles sub specie der
Souveränetät des Sittlichen und der auf dem Kreuze Christi sich
gründenden Gewißheit der Erlösung durch Vergebung betrachtet^.
Die „Gnade" d. h. die Vergebung hat einen großen Spielraum;
aber sie hat die Vergeltung nicht gesprengt. Die Einschärfung
des Sittlichen wurde in den christlichen Gemeinden von Anfans:
an doppelt bewirkt, durch den Geist Christi imd dm'ch den Ge-
danken des Gerichts und der Vergeltung. Es erhielt aber durch
beides eine strenge Richtung auf das Jenseits: demi Christus war
der, der wiederkehren sollte. Die „gegenwärtige" und die „zu-
künftige Zeit" standen sich schroff für das Empfinden der ältesten
im Detail nicht den gleichen Erfolg erzielte, lag an der Verschiedenheit
der Berichte, die in den autoritativen Schriften so groß ist, daß eine einheit-
liche und eiudi-ucksvolle Vorstellung des Verlaufs herzustellen selbst den
damaligen Exegeten — und was vermochten sie nicht alles! — nicht gelang.
So haben die in den Evangelien erzählten Einzelgeschichten in bezug auf
die Auferstehung nicht die Bedeutung erlangt wie die Geburtsgeschiehten.
„Am dritten Tage auferstanden von den Toten nach der Schrift'' — nur
dieses kurze Bekenntnis ist so populär geworden wie Luc. 1 und 2 und wie
die Geschichte der Weisen aus dem Morgenlande. — Die Vorstellung, daß
die Apostel selbst eine Quintessenz des christlichen Lehrstoffes zusammen-
gestellt hätten, war verbreitet; aber worin diese Quintessenz bestehe, darüber
herrschte große Verschiedenheit. Mit der Didache beginnt die Abfassung
der Werke, die als Werke aller Apostel oder als autoritative Zusammen-
fassung ihrer Anordnungen angesehen wurden.
') Die Erlösung durch Vergebung war im strengen Sinne als eine ein-
malige gedacht: in der Taufe kommt der Ertrag des Todes Christi dem ein-
zelnen zugut und tilgt alle seine bisherigen Sünden. Wie Paulus haben
zahlreiche Lehrer nach ihm das Kreuz Christi als den Inhalt des Christen-
tums überhaupt vorgestellt. Dem Doketismus Marcions gegenüber, der den
Kreuzestod Jesu unsicher macht, ruft Tertullian (de carne 5) aus: „Parce
unicae spei totius orbis." Über die in der Taufe den Gläubigen zugewendete
Folge hinaus wirkt das Kreuz wohl noch schirmend und schützend (gegen
die Dämonen), aber nicht sündentilgend (Spekulationen, die das behaupteten,
setzten erst später ein). Als Mysterium ist es freilich unerschöpflich , und
seine Wirkungen sind darum nicht auszusagen. Schon Pseudobarnabas und
Justin sind Mysteriosophen des Kreuzes gewesen, s. Barnab. ep. 11. 12; Justin,
Apol. I, 55, wo auch triumphierend behauptet ist, daß [oi xaxoi daifiovec]
ovdafiov ov8^ ijic Tivog tcöv Xeyo/nevcov vlcöv xov Ai6<; ro azavQOid^fjvat i/xi/ntjoavio.
Vgl. auch Minucius, Octav. 29; Tertull., ad nat. I, 12, etc.
6*
g4 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Christen gegenüber \ und von hier erhielt die Forderung- der
,,Enthaltung" das kräftigste Motiv, ja wurde bei nicht wenigen zu
einer Art passionierter Leidenschaft. Es ist dieselbe Gemeinde,
die in jedem Gottesdienste, wie wir gehört haben, betete:
„Kommen möge die Gnade, und vergehen möge diese Welt;
Maran atha", und die solche Anweisungen gab, wie wir sie im
Hirten des Hermas im ersten Gleichnis lesen ^. „Von allen Christen
^) S. II Clem. ad Cor. (i: ianr orrog ö auor y.o.l 6 fif.lXoir ()i>o f/dQoi.
ovros fJysi ftoiyeiav xai qrdoQov xai (fi).aQyvoiav xai ajiäzrjv, ixeirog ds zoinoig
anoräoaezai. ov dvvd/ie&a ovv rojv ovo rfü.oi fivai. öfT Sk i'jfiäg roino) djioraSa-
fih'ovg gxfi'vq) XQ^od-ai. oiofisda öri ßsXiiör tarn' rct erddSf fuafjoai , Sri /uiygä
y.al dhyoyoovia y.al q&aQTÖf Exei%'a <5f a.yanf]oai, rä dyadd rä (updagra.
-) „Ihr wißt," — ich setze die Stelle, die statt vieler gilt, hierher —
„daß ihr Diener Gottes in der Fremde weilt; denn eure Stadt liegt fern ab
von dieser Stadt. Wenn ihr nun die Stadt kennt, in der ihr künftig wohnen
werdet, warum richtet ihr euch hier Felder ein, schafft ihr euch kostspieligen
Prunk, zwecklose Gebäude und Wohnungen? Wer sich in dieser Stadt hier
derart einrichtet, der erwartet nicht, in seine Stadt hinaufzugelangen.
Törichter, halbherziger, elender Mensch, siehst du denn nicht, daß all dieses
fremdes Eigentum ist und unter der Gewalt eines anderen steht? Der Herr
dieser Stadt wird dir einst sagen: ,Ich sehe es nicht gern, daß du in meiner
Stadt wohnest; räume diese Stadt, weil du nicht nach meinen Gesetzen
lebst.' Nun du, Besitzer von Ackern, Häusern und vielen anderen Geschäften,
was willst du mit deinem Hause und was du dir sonst erworben hast, an-
fangen, wenn du von jenem ausgewiesen wirst ? Denn der Herr dieses Landes
erklärt mit vollem Rechte: , Entweder füge dich meinen Gesetzen oder gehe
mir aus dem Lande.' Was willst du in diesem Fall deiner Felder und übrigen
Habe wegen tun, da du in deiner eigenen Stadt schon ein Gesetz hast?
Wirst du dein Gesetz vollständig verleugnen und nach dem Gesetze dieser
Stadt wandeln ? Sieh zu, ob es nicht nachteilig für dich sei, dein Gesetz zu
verleugnen. Denn wenn du in deine Stadt zurückkehren willst, wirst du
nicht aufgenommen, sondern ausgeschlossen werden, weil du das Gesetz deiner
Stadt verleugnet hast. Siehe darum zu, daß du, in der Fremde weilend, dir
nicht mehr erwerbest als das gerade Ausreichende; und wenn der Herr dieser
Stadt kommt, dich als einen gegen sein Gesetz Widerspenstigen hinauszu-
schaffen, so sei bereit, seine Stadt zu verlassen, nach der deinigen dich auf-
zumachen und ungestört und freudig nach deinem Gesetz zu leben. Sehet
euch also vor, ihr, die ihr Gott dienet und ihn im Herzen habt. Vollbringet
die Gott gefälligen Werke, eingedenk der Gebote und Verheißungen, die er
gegeben hat, und vertrauet ihm, er werde diese erfüllen, wenn seine Gebote
erfüllt werden. Statt Äcker kaufet, so weit jeder imstande ist, bedrängte
Seelen, nehmt euch der Witwen und Waisen an und übei'sehet sie nicht;
eueren Reichtum und alle euere Bemühungen verwendet auf solche Felder
und Häuser, die ihr von Gott empfangen lialit [seil, auf die Armen]. Denn
zu dem Zweck hat euch der Herr Reichtum verliehen, daß ihr ihm solche
Dienste leistet. Viel besser ist's, solche Äcker, Güter und Häuser zu kaufen,
die du wiederfinden wirst in deiner Stadt, wenn du dich dort niederlassen
wirst. Ein solcher Aufwand ist gut und heilig, nicht mit Schmerz und
Furclit, sondern mit Freude verbunden. Machet darum nicht den Aufwand
der Heiden; denn er ist euch, den Knechten Gottes, unzuträglich; entfaltet
vielmehr den eignen Aufwand, an dem ihr Freude haben könnt. Drückt den
Religiöse Grnudzüge der Missionspredigt. 85
kann man das Wort hören: Mir ist die Welt gekreuzigt und
ich der Welt^."
Aber eben dieser entschlossene Verzicht auf die Welt machte
sie erst fähig und stark, auf sie zu wirken. W^enn der Spruch:
„Wer für die Welt etwas tun will, muß sich mit ihr nicht ein-
lassen", je eine Wahrheit gehabt hat. so hat er sich damals
bewahrheitet. Man hat dem ältesten Christentum vorgeworfen,
daß es zu weltflüchtig und asketisch gewesen sei ; aber Revolutionen
werden nicht mit Rosenwasser gemacht, und hier galt es auch
einer Revolution. Es galt, den Polytheismus zu stüi'zen und die
Majestät Gottes imd des Guten aufzurichten in der Welt — für
die, welche an sie glaubten, und auch für die, welche nicht an
sie glaubten. Das konnte zunächst nicht anders geschehen als
dadurch, daß man den Unwert dieser Welt behauptete und sich
wirklieh vor ihr löste. Diese Schroffheit aber hat die Missions-
predigt schw'erlich gehemmt, sondern verstärkt, da sie nicht isoliert
war, sondern begleitet von der Botschaft von dem Heilande und
der Heilung, von der Liebe und Hilfleistung. Und noch etwas
ist zu sagen : dem Yergeltungsgedanken, so scharf er ausgeprägt
war und so stark er die Gemüter auf das Jenseits richtete, war
die Härte und Unlebendigkeit genommen; denn neben ihm stand
die sicherste Empfindung imd Überzeugung von der Gegenwart
Gottes, seiner Vorsehung und Leitung. Von keiner Beti-achtung
waren die alten Christen weiter entfernt als von der, welche man
Dingen keinen falschen Stempel auf; rühi-t nichts Fremdes an und verlangt
nicht darnach ; denn es ist verderblich , Fremdes zu begehren. Tu , was dir
als Arbeit befohlen ist, und du vrirst das Heil erlangen." Bei aller Schroff-
heit der Ermahnung kommt es dem Hermas übrigens doch nicht in den Sinn,
daß der Unterschied von reich und arm tatsächlich in der Gemeinde auf-
hören soll. Das zeigt, wenn es noch nötig, das folgende Gleichnis. Wie die
Entwicklung in der christlichen Gemeinde in bezug auf diese Frage weiter
fortgeschritten ist, lehrt der Traktat des alexandrinischen Clemens: „Quis
dives salvetur?" Übrigens zeigt schon das Joh. 12,8 Jesu in den Mund ge-
legte Wort „Arme werden allezeit bei euch sein'' — das Wort ist schwerlich
absichtslos gesetzt — , daio man in der Gemeinde nicht an eine wirkliche
Aufhebung des Unterschieds von reich und arm gedacht hat.
*) Celsus bei Origenes V, 64. Den Pessimismus der ältesten Christen
in bezug auf die Welt kann man sich nicht stark und entschieden genug
denken. (Marciou nannte seine Konfessionsgenossen ovvraÄaiJicoooi xal av/nfu-
oov,u£voi, s. Tertull. adv. Marc. IV, 9). In dieser Hinsicht ist uns noch Ter-
tullian, ja selbst Origenes ein Zeuge. Es sei nur ein Zug hervorgehoben.
Hom. 8 in Levit. t. 9 p. 316 f. sagt er, daß in der Bibel nur Weltmenschen
wie Pharao und Herodes ihren Geburtstag feiern, „sancti non solum uon
agunt festivitatem in die natali suo, sed a spiritu sancto repleti exsecrantur
hunc diem". Der wahre Geburtstag der Christen ist ihr Todestag. Origenes
denkt an Hiob; außerdem ist die Form seines Pessimismus allerdings noch
durch besondere Spekulationen bedingt.
86 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
die deistische nennt. Sie kannten den Vater im Himmel: sie
wnßten, daß Gott ihnen nahe sei, daß er sie leite, und die Tiefsten
unter ihnen waißtcn, daß er mit seiner Kraft in ihnen regiere. So
verkündigten sie ihn, und in dieser Verkündigung wurde das Jen-
seits zum Diesseits; die starre Vergeltung schien zu verschwinden ;
denn was war noch zu „vergelten", wenn man in seiner Gegen-
wart lebte und seine Weisheit, Macht und Güte mit allen Kräften
des Herzens, Ja mit allen Sinnen spürte? Die Stimmungen des
sicheren Besitzes und der Sehnsucht, der erfahrenen Gnade und
einer leidenschaftlichen Hoffnung haben nicht nur in einem Mamie
wie Paulus gev/echselt. Sehnsüchtig schaut er aus auf die Be-
freiung von dem Leibe, und ergreifend ist dabei seine Teilnahme
für alles, was in Banden liegt, für die ganze seufzende Kreatur.
Aber die Hoffiumg, die sein ganzes Herz und sein Sein erfüllte,
war keine aufreibende und ungewisse; sie ruhte auf dem festen
Grunde eines sicheren Unterpfandes, nämlich der Kindschaft und
des Besitzes des Geistes Gottes ^
Es bedarf wohl nicht eines besonderen Hinweises darauf, daß
die christliche Verkündigung als Predigt von der Buße und der
strengen Sittlichkeit einerseits und als Anbietung der Sünden-
tilgung und Erlösung andererseits eine innere Spannung enthielt,
die dem einzelnen in ganz verschiedener Weise zum Bewußtsein
kommen mußte. War diese Sündontilgung und Erlösung ein-
geschlossen in Sakramente bez. in ein Sakrament (die Taufe), so
konnte es nicht ausbleiben, daß Tausende eben nur nach diesem
Sakrament ausschauten, sich mit dem Glauben an seine prompte
mngische Wirkung begnügten und mit der sittlichen Forderung
keinen rechten Ernst machten. Umgekehrt konnte diese so über-
wältigend in das Gewissen fallen, daß die Erlösung lediglich als
der Lohn und Preis eines heiligen Lebens erschien. Dazwischen
waren viele Standpunkte möglich. Die kirchliche Verkündigung
hat beides ernstlich in einem Gleichgewicht halten wollen; aber
Sakramente sind überall willkommener als Sitten|)redigten, und
jene Zciit war in besonderer Weise sakramentssüchtig. Sie brachte
den Mysterien noch die nötige Naivetät und zugleich schon das
nötige Raffinement entgegen.
^) Das Bild der Person Christi in ihrer Totalität, so daß ein Christus-
pathos entstand, hat doch nur in wenigen so gewirkt, daß sie das, was sie
an ihm erlebt haben, auszusprechen sich getrieben fühlten. Neben Paulus
und Johannes ist eigentlich nur Ignatius zu nennen. Aber in wie vielen
Christen mag dieses Bild die stärkste Macht gewesen sein, ohne daß wir es
wissen ! Bei einigen Märtyrern bricht es in den letzten Bekenntnissen , bei
Origenes mitten in gelehrten Homilien, in ergreifender Weise hervor.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 87
Zweitens T\a])itel.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung ^
Das Evangelium, wie Jesus es verkündigt hat, ist Erlösungs-
religion , aber Erlösungsreligion in verborgener Weise. Jesus
verkündigt eine neue Botschaft — die Nähe des Reiches
Gottes, den Vater, seinen Yater — und ein neues Gesetz, aber
er wirkt als Heiland, und in solchem Wirken wurde er ans Kreuz
geschlagen. Als Religion der Erlösung hat Paulus das Evangelium
verkündigt.
Als Arzt ist Jesus in die Mitte seines Volkes getreten. „Nicht
die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken ^Z' Als
den Arzt des Leibes und der Seele, als den Heiland schildern ihn
die drei ersten Evangelien. Er spricht nicht viel von der Krank-
heit, sondern er heilt sie. Er erklärt nicht, daß die lu'ankheit
gesund sei, sondern er nennt sie beim rechten Namen, aber er
erbarmt sich der Kranken. Nichts von Sentimentalität oder Raffine-
ment findet sich bei ihm : auch keine feinen Distinktionen mid
Sophismen, daß die Gesunden eigentlich die Kranken seien und die
Kranken die Gesunden. Er sieht Scharen von Kranken um sich,
er zieht sie an sich, und er hat nur den Trieb zu helfen. Leibes-
mid Seelenkrankheiten unterscheidet er nicht streng — er nimmt
sie als die verschiedenen Äußerungen des einen großen Leidens
der Menschheit. Aber er kennt ihre Wurzeln; er weiß, daß es
leichter ist zu sagen: „Stehe auf und wandle", als „Dir sind deine
Sünden vergeben'' ^, und er handelt demgemäß. Vor keiner
Seelenkrankheit schreckt er zurück — Sünderinnen und Zöllner
bilden seine stete Gesellschaft — , und keine Leibeskrankheit ist
ihm zu ekelhaft. In dieser Welt von Jammer, Elend, Schmutz,
und Verworfenheit, die ihn täglich umgibt, bleibt er lebendig,
rein und immer tätig.
So hat er Jünger und Jüngerinnen gewomien: es ist ein Kreis
von Geheilten, der ihn umgibt*. Sie sind geheilt worden, weil
^) Nach dem Abschnitt VI meiner Abhandlung „Medizinisches aus der
ältesten Kirchengeschiclite" 1892 (Texte u. Untersuch. Bd. VHI) in neuer Be-
arbeitung.
2) Marc. 2. 17. Luc. 5, 31.
^) Marc. 2, 9. Oder ist die Stelle anders zu verstehen? Ist das „Dir
sind deine Sünden vergeben" leichter zu sagen? Wenn die Stelle so ver-
standen werden muß, dann ist augenscheinlieh der Sinn von , leichter" ein
anderer.
*) Eine alte edessenische Legende über Jesus hat sieh an seine heilende
Tätigkeit angeschlossen. Die Edessener führten am Ende des 3. Jahrhunderts
88 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
sie an ihn glanbton, das lieißt weil sie aus seinen Zügen und ans
seinen Worten Gesundheit abgelesen haben. Die Gesundheit der
Seele ist die Erkenntnis Gottes. Auf diesen Fels hatte sie Jesus
aus dem Schiffbruch des Lebens gerettet. Weil sie Gott als den
Yater in dem Sohne erkannt haben, darum wissen sie sich als
geheilt. Sie schöpfen fortan aus einem nie versiegenden Quell
Gesundheit und wahres Leben.
„Ihr werdet zu mir dies Sprichwort sagen: .Arzt, heile dich
selbst'"^ — er, der so vielen half, schien selbst in eine immer
hilflosere Lage zu kommen. Angefeindet, verleumdet, von den
Oberen seines Volkes mit dem Tode bedroht, verfolgt in dem
Namen des Gottes, den er verkündigte, ging er dem Kreuze ent-
gegen. Aber eben dieses Kreuz offenbarte erst die ganze Tiefe
und Kraft seines AVirkens als Heiland. Es vollendete seinen Beruf,
indem es die Menschen lehrte, daß das Leiden des Gerechten
das Heil in der Geschichte ist.
„Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere
Schmerzen; durch seine Wunden sind wir geheilt'' — das war die
ihr Christentum, welches sie in der zweiten Hälfte des '2. Jahrhunderts er-
halten hatten, auf die apostolische Zeit zurück, und sie bewahrten einen an-
geblichen Briefwechsel zwischen ihrem Könige Abgar und Jesus. Dieser
Briefwechsel ist uns noch erhalten (s. Euseb., h. e. I, 13). Er ist eine naive
Dichtung. Der schwer erkrankte König schreibt also : „Abgar, Toparch von
Edessa, entbietet Jesu, dem guten Heilande, der in der Gegend von Jerusalem
erschienen, seinen Gruß. Ich habe von Dir und Deinen Heilungen gehört,
die Du ohne Arznei und Kräuter vollbringst. Denn, wie erzählt wird, machst
Du Blinde sehen. Lahme gehen und reinigst Aussätzige, treibst unreine
Geister und Dämonen aus, heilst die, welche von langwierigen Krankheiten
gequält sind, und erweckst Tote. Da ich nun alles dieses über Dich gehört
hatte, da stellte ich mir das Doppelte vor die Seele: entweder bist Du selbst
Gott, und, herabgestiegen vom Himmel, tust Du dies, oder Du bist ein Sohn
Gottes, indem Du dies tust. Deswegen schreibe ich nun an Dich und bitte
Dich, zu mir zu kommen und das Leiden, welches ich habe, zu heilen. Denn
ich habe auch gehört, daß die Juden wider Dich murren und Dir Übles zu-
fügen wollen. Ich habe eine sehr kleine, aber anständige Stadt, die für uns
beide genügt." Darauf antwortet Jesus: „Selig bist Du, weil Du au mich
gläubig geworden bist, ohne mich gesehen zu haben; denn es steht von mir
geschrieben : Die mich gesehen haben, werden nicht an mich glauben, damit
diejenigen, welche mich nicht gesehen haben, glauben und leben. Was aber
Deine Bitte zu Dir zu kommen betritft, so muß ich hier alles, wozu ich ge-
sandt bin, erfüllen und darnach zu dem aufgenommen werden, der mich ge-
sandt hat. Wenn ich aber aufgenommen sein werde, so werde ich einen
meiner Jünger senden, daß er Deine Krankheit heile uml Dir und den Deinigen
das Leben gebe." K's wird nun erzählt, daß Thaddäus nach Edessa gekonunen
sei und den König ohne .Arznei und Kräuter durch Handauflegung geheilt
habe, nachdem dieser ein Glaubensbekenntnis abgelegt hatte. „Auch Abdus,
der Sohn des Abdus, wurde von ihm vom l'odagni, geheilt."
>) Luc. 4, 23.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. §9
neue Erkenntnis, die vom Kreu/(> ausgingt. Wie ein lebendiger
Strom Wassers ergoß sie sich auf die vertrockneten Monschen-
herzen und auf ihre dürre Moral. An die Stelle der dinglichen
und statutarischen Moral trat di(^ Anschauung eines persönlichen,
reinen und göttlichen Lebens, das sich im Dienste an den l>rüdern
verzehrt und willig in den Tod gegeben hatte. Diese Anschauung
wurde das neue Lebensprinzip; sie entwurzelte das alte Leben,
wie es zwischen Sünde und Moral hin- und herschwankte ; aber
sie ließ ein neues Leben entstehen, welches nichts anderes sein
wollte als Jüngerschaft Christi, und welches Kraft schöpfte aus
seinem Leben. Die Jünger zogen hinaus, um die Botschaft „(yottes
des Heilandes" zu verkündigen^, des Heilandes und Arztes, dessen
Person, Tun und l^eiden die Heilung war. Es war nicht augen-
blickliche überschwängliche Stimmung, sondern der sichere und
ruhige Ausdruck des Bewußtseins, das ihn stetig erfüllte, wenn
Paulus den Galatern schrieb ^r „Ich lebe — doch nun nicht ich,
sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch,
das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt
hat und sich selbst für mich dargegeben." In diesem Bewußtsein
waren die ältesten christlichen Missionare bereit, täglich zu sterben.
Eben deshalb ist ihre Sache nicht untergegangen.
In der W^elt, welcher die A]>oste] die neue Botschaft ver-
kündigten, war die Religion ursprünglich nicht für die Kranken
da, sondern für die Gesunden. Die Gottheit will reine und gesunde
Verehrer. Die Kranken und die Sünder sind den finsteren Mächten
verfallen; sie mögen zusehen, ob sie Gesundheit des Leibes und
der Seele von irgend woher wiedergewinnen können. Erst dann
sind sie den Göttern willkommen. Es ist interessant zu sehen,
wie noch bei dem Christenfeind Celsus im Ausgang des 2. Jahr-
hunderts diese Auffassung die durchschlagende ist*: „Die, welche
zur Feier anderer Weihen auffordern, schicken folgende Botschaft
voraus: ,Wer reine Hände hat und Verständiges spricht, (der
komme herzu)', oder: ,Wer rein ist von jeder Schuld und wer
sich in seiner Seele keiner Sünde bewußt ist und wer ein edles
^) ^ gl. I Petr. 2,24: ov zoj {.uiXioTn avzoi i(xdi]T£.
') Luc. 2,11: ETS/ßtj vfiTr owrt'jQ , Sg ionv Xqioto; >cvgio;. .loh. 4,42:
oibaf^iev (hl ovrög eoziv aXrjdxÖQ 6 a<ori]o zov xöofiov. Tit. 2, 11: tJisqävri 7\
X^Q'? TO? deov aojztjQiog jtuciv ävdgwjroig. Tit. .3, 4 : *; -/QrjozoTi^g xai »/ (fiXuv-
■dgwjiia EJiecpäv}] zov ocoztjgog rjfwjv ßeov. In einigen christlichen Kreisen
wurde die Bezeichnung „Heiland" für Jesus sogar ausschließlich gebraucht.
Irenäus (I, 1, 3) macht es dem Valeutinianer Ptolemäus zum Yorvsrurf, daß er
Jesus nicht ,^KVQiog" nennen wolle, sondern nur ^acoTt/g'', und wirklich wird
in dem Brief des Ptolemäus an die Flora Jesus ausschliei'dich oojzt'jg genannt.
') Gal. 2, 20. — *) Orig. c. Geis. IH, -59 f.
90 Die MissioD.spredigt in Wort und Tat.
und gerechtes Leben geführt hat, (der trete heran)\ Und das
rufen die aus. welche Entsühnung von Sünden versprechen^.
Hören wir nun dagegen, was für Leute jene (die Christen) rufen:
.Wer ein Sünder ist. ein Tor, ein Einfältiger, mit einem Wort
ein Unglücksmensch — ihn wird das Reich Gottes aufnehmen'.
Den Sünder, damit meinen sie den Ungerechten, den Dieb, den
Einbrecher, den Giftmischer, den Tempelräuber und den Grabes-
schänder. Wenn einer eine Räuberbande bilden wollte, würde er
solche Leute herbeirufen^!" Mit wünschenswerter Deutlichkeit
hat hier Celsus den prinzipiellen Gegensatz des Christentums und
der antiken Religion zum Ausdruck gebracht''.
Aber die religiöse Stimmung, welche das Christentum vor-
fand und welche sich im 2. und 3. Jahrhundert rapid entwickelte
und verbreitete, war, wie wir bereits gesehen haben (Buch I
Kap. 3), nicht mehr die „antike". Auch hier zeigt es sich, daß
die neue Religion erschien, „als die Zeit erfüllt war". Die heitere
Naivetät der alten Religion, soweit eine solche bestanden hatte,
war im Absterben: an ihre Stelle traten neue religiöse Bedürf-
nisse. Die Phil()soi)hie hatte das Individuum entfesselt und den
Menschen im Bürger entdeckt. Der Austausch der Staaten und
Nationen, ihr Zusammenwachsen zu einem Weltreich, hatte den
Kosmopolitismus verwirklicht. Der Kosmopolitismus aber hat
immer den Lidividualismus zu seiner Kehrseite. Die verfeinerte
materielle und geistige Kultur machte das Leid des Lebens emp-
') Der Sinn ist, selbst zu solchen Mysterien, in denen es sich um Ent-
.sühnung bandelt, werden nur solcbe berufen, die im allgemeinen gut und
gerecht gelebt haben.
^) Bei Porphyrius steht die Sache schon etwas anders. Unbedingt kann
er den Spruch Christi von den Kranken, um deren willen er gekommen sei,
nicht verwerfen. Andrerseits steht ihm doch als Helleneu fest, daß die
Religion für die Einsichtigen, die Gerechten und die Forschenden ist. Daher
ist seine Ausführung (bei Macarius Magnes IV, 10) ziemlich verworren.
^) Origenes verteidigt hier das Christentum geschickt. „Wenn ein Christ
seine Einladung an dieselben Leute ergehen läßt, an die sich ein Räuber-
hauptniann wendet, so tut er das in anderer Absicht. Er tut es, um ihre
Wunden mit seiner Lehre zu verbinden, um die Fieberglut der Leidenschaften
in der Seele mit den Heilmitteln zu ersticken , die der Glaube bietet , und
die dem Wein und dem Ol und den anderen Mitteln entsprechen, welche die
Heilkunde anwendet, um dem Leibe Linderung der Schmerzen zu verschatfen"
(111,60) . . . „Celsus verdreht den Tatbestand und behauptet, wir lehrten,
Gott sei nur für die Sünder gesendet worden. Dies i.st gerade so, als wenn
er etwas daran auszusetzen hätte und den Leuten es verübelte, wenn sie
sagten, ein wohlwollender und gnädiger {qnXav&QoyTiÖTaTog , Beiwort des
Äsculap) König habe in eine Stadt seinen Arzt gesendet der Personen wegen,
die in derselben krank lägen. Gott das Wort ist demnach als Arzt für die
Sünder gesandt worden, als Lehrer der göttlichen Geheimnisse aber für die,
welche bereits rein sind und nicht mehr sündigen" (III, 61).
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 91
findlicher. Die größere Empündlichkeit zeigte sich aucli auf dem
sittlichen Gebiet, und einige orientalische Religionen kamen dem
entgegen. Die Philosophie der Socratiker mit ihren feinen
ethischen Reflexionen verbreitete sich aus den Höhen der Denker
in die Niederungen des Volkes. Yor allem die Stoiker hatten
es unablässig mit der ,, Gesundheit und den Krankheiten der Seele"
zu tun und zwangen ihre praktische Philosophie in diese Grund-
form. Reinheit, Trost. Entsühnung, Heilung begehrte
man, und man begann sie in der Religion zu suchen, weil man
sie sonst nirgends fand. Man schaute nach neuen religiösen
Weihen aus, um sie zu gewinnen. Beweise für diese veränderte
religiöse Stimmung bieten die Werke des Seneca, des Epictet
imd vieler anderer. Aber ein noch viel stärkerer Beweis liegt
in dem Aufschwung, den der Kult des Asculap in der Kaiserzeit
gewonnen hat ^. Bereits im Jahre 290 vor Chr. war auf den Rat
der Sibyllinischen Bücher der Asculap von Epidaurus nach Rom
geholt worden. Auf der Tiberinsel hat er sein Heiligtum er-
halten; daneben stand, wie bei den zahlreichen Asclepien der
Griechen, eine Heilanstalt, in welcher die Kranken im Schlaf die
Anweisungen des Gottes erwarteten. Griechische Arzte folgten
dem Gott nach Rom. Aber es dauerte lange, bis der Gott und
die griechischen Arzte populär wurden. Diese scheinen sich anfangs
nicht durch Geschicklichkeit empfohlen zu haben. „Im Jahre
219 vor Chr. hatte sich der erste griechische Wundarzt in Rom
niedergelassen: er bekam sogar das Bürgerrecht und auf Staats-
kosten einen Laden „in compito Acilio". Allein dieser Arzt
wütete so unbarmherzig mit Messer und Brenneisen, daß der
Name eines Chirurgen und der eines Schinders gleichbedeutend
wm-de'-."' In der Kaiserzeit wurde es anders. Zwar hielten sich
die Römer selbst immer noch von der Kunst der Medizin fern
und beurteilten sie wie eine Art Divination; aber geschickte
griechische Arzte waren auch in Rom gesucht, und der Kultus
des Asculap, des „deus clinicus", blühte. Yon Rom aus hat er
sich über den ganzen Westen verbreitet, hie und da verschmolzen
mit dem Kultus des Serapis und anderer Gottheiten, ihm zur
Seite und untergeordnet der Kultus der Hygiea und Salus, des
-) Vgl. über den Äsculap-Kult v. Wilamowitz -Moellendorf, IsjUos
von Epidauros, 1886 S.36 f., 44fi'.. 116 S.: Usener, Götternamen, 1896, S. 147 f.,
350, ferner die Abhandlung Ilbergs über Asclepios in Teubuers Neuen Jahr-
büchern II, 1901 und den umsichtigen Artikel Asclepios in Pauly-Wissowas
REncykl. von Thrämer (II Col. 1642 ff.).
^) Preller-Jordan, Rom. Mythologie 11 S. 243. Plinius sagt: „Mox
a saevitia secandi urendique transisse nomen in carnificem et in taedium
artem omnesque medicos".
92 I^i<? Missionspredigt in Wort und Tat.
Tclcsphorus und Sonnius. Dabei erweiterte sich die Sphäre dieses
heilenden Gottes immer mehr: er wurde zum „Soter" schlecht-
hin, zu dem Gott, der in allen Nöten hilft, zai dem „Menschen-
freunde" (qdardgcojzoxaTog) ^. Je mehr man in der Religion
nach Rettung imd Heilung ausschaute, desto mehr W'Uchs das
Ansehen des Gottes. Er gehört zu den alten Göttern, welche
dem Christentum am längsten Widerstand geleistet haben. Da-
rum begegnet er auch in der alten christlichen Literatur nicht
selten. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts und im
dritten war der Äsculapkultus einer der verbreitetsten. Man reiste
zu den berühmten Heilanstalten des Gottes, wie man heute in die
Bäder reist: man rief ihn an bei den Krankheiten des Leibes
und der Seele: man schlief in seinen Tempeln, um zu genesen;
man brachte ihm, dem GEOZ ZQTHP^ die reichsten Geschenke ;
man weihte ihm das Leben. Ungezählte Inschriften und Bild-
werke bezeugen das. Aber auch bei anderen Göttern stellte man
die heilbringende Tätigkeit nun in den Mittelpunkt. Zeus selbst
und Apollo- traten in ein neues Licht. Auch sie WTirden „Hei-
lande". Niemand konnte mein- ein Gott sein, der nicht auch ein
Heiland war'^ Durchmustert man die große Streitschrift des
Origenes gegen Celsus. so gewählt man leicht, daß ein Haupt-
sti-eitpunkt zwischen den beiden bedeutenden Männern der war.
ob Jesus der rechte Heiland sei oder Asculap. Celsus tritt ebenso
lebhaft und wundergläubig für diesen ein. wie Origenes für jenen.
Dabei ist die Mischmiff schlimmsten Aberglaubens mit verständiger
^) Der Kult war ■wirklieh ein humaner, und die Ärzte wurden durch
ihn zur Humanität geführt. In einer Stelle in den pseudoliippoci-atischen
Tlagay/eUai heißt es: „Ich ermahne aber, sich nicht inhuman zu bezeigen,
sondern Eeichtum oder Dürftigkeit (der Patienten) in Betracht zu ziehen,
gegebenenfalls auch unentgeltlich zu behandeln" — in welchem Ansehen die
iazQoi uvdgyvooi standen, ist bekannt — ,und mehr auf künftige Dankbarkeit
zu rechnen als auf augenblicklichen ßuhm. Wenn sich (also) Veranlassung
bietet, einem Unbekannten oder Unbemittelten beizuspringen, wird man
solchem vor allem hilfreich sein: denn wo Nächstenliebe ist, da ist auch
Werktätigkeit " (IX 258 Littre, III 321 Erm.; mir bekannt aus der Mit-
teilung llbergs und in der Berl. Philol. AVochenschrift 1893, 25. Mäi-z). Wie
stark die Christen selbst die Wahlverwandtschaft mit den humanen Ärzten
empfanden, dafür hat llberg (a. a. 0. aus VI 90 Littre, II, 123 Erm.) das
schlagendste Beispiel gegeben. Eusebius schreibt (h. e. X, 4, 11): „Jesus hat
wie ein treiflicher Arzt um der Heilung der Kranken willen Abschreckendes
untersucht und Ekelhaftes berührt, bei fremden Leiden selbst Schmerz emp-
funden." Diese Stelle ist wörtlich hinübergenommen aus dem pseudo-
hippocratischen Traktat jicqI cfvoMv: ' O luv yao hjxQo? ogsT ts deivd, Oiyyävei
JE atjdiojv, iji' u/./.OTgcrjoi de ^v/Hpogf/aiv läiac: xuoTTovrai ?.v.iac.
^) z. B. Tatian, Orat. 8.
') Dem entsprechend bezeichnet Poriihyrius als Zweck des l'hilosophie-
rens ^ zf/c %j>v/f/c nonr^gla.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 93
Kritik, wie sio sich bei beiden findet, heute für uns ein Rätsel.
Wir können uns den j^eistigen Zustand, in welchem sich jene
Männer befanden, kaum mehr vorstellen. L. IIT, .'} bemerkt
Origenes: „Es geschahen überall oder doch an vielen Orten
Wunder. Celsus selbst gibt in seinem Buche an, daß Äsculap
Krankheiten geheilt und künftige Dinge offenbart hat in allen
Städten, die ihm geweiht waren, wie in Tricca, Epidaurus, Cos,
Pergamum^'. Nach IIT. 22 macht es Celsus den Christen zum
Vorwurf, daß sie sich nicht entschließen können, den Äsculap.
weil er zuvor Mensch gewesen. Gott zu nemien. Origenes er-
widert, daß Äsculap nach der griechischen Überlieferung von
Zeus mit dem Blitz getötet worden sei. Celsus behauptet (III, 14)
als glaubwürdig, daß eine große Anzahl von Griechen und Bar-
baren den Äsculap gesehen haben und noch sehen, ihn selbst
und nicht ein bloßes Trugbild von ihm. wie er Krankheiten heilt
imd Wohltaten spendet, daß aber die Jünger Jesu nur einen
Schatten gesehen hätten. Origenes ist darüber sehr empört: aber
seine Gegenbeweise sind schwach. Auch auf die zahllose Menge
von Griechen und Barbaren, die an Äsculap glaubten, beruft sich
Celsus. Origenes verweist auf die große Anzahl von Christen
(1. c), auf die Wahrheit der h. Schriften und auf die gelungenen
Krankenheilungen im Namen Jesu. Dann aber ändert er plötzlich
seine Verteidigung und schreibt (III, 25) in höchst verständiger
Überlegung: „Wollte ich aber auch zugeben, daß ein Dämon,
Äsculap mit Namen, die Macht habe, körperliche Krankheiten
zu heilen, so könnte ich doch denjenigen, welche dieses Heilen
oder das Weissagen des Apollo mit Staunen erfüllt, die Bemerkung
machen, daß diese Kraft der Krankenheilungen an sich weder
gut noch böse ist, daß sie eine Sache ist, die nicht bloß Recht-
schaffenen, sondern auch den Gottlosen zuteil wird, desgleichen
daß, wer die Zukunft kennt, damit nicht sofort ein braver und
wackerer Mann ist. . . Man wird nicht imstande sein, die Tugend-
haftigkeit derer zu beweisen, die Kranke heilen und Künftiges
verkünden. Es lassen sich viele Beispiele von solchen
anführen, die geheilt wurden, obgleich sie es nicht
verdienten, zu leben, Leute, die so verdorben waren
und einen so schmählichen Wandel geführt hatten, daß
ein verständiger Arzt Bedenken getragen hätte, sie zu
heilen. . . In der Macht, Kranke zu heilen, offenbart sich an sich
nicht etwas Göttliches." Man sieht aus allen Ausführungen des
Origenes hier, wie hoch der Kultus des Äsculap gestanden hat
und wie die damaligen Menschen nach „Heilung" ausschauten.
In diese heilungssüchtige Welt trat die christliche Predigt
ein. Daß sie Heilung versprach und brachte, daß sie in dieser
94 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Eigenschaft alle anderen Religionen nnd Kulte überstrahlte, das
hat ihren Sieg bereits begründet, bevor sie ihn durch eine ein-
drucksvolle Religionsphilosophie vollends gewann. Nicht nur setzte
sie dem erträumten Äsculap den wirklichen Jesus gegenüber,
sondern sie gestaltete sich selbst als die „Religion der
Heilung'', als „die Medizin der Seele und des Leibes"
bewußt und bestimmt aus ^, nnd sie sah auch in der
tatkräftigen Sorge für die leiblich Kranken eine ihrer
wichtigsten Pflichten. Beides soll hier durch eine Reihe von
Beispielen aus einer unübersehbaren Fülle beleuchtet werden.
Zunächst die Theorie. Das Christentum blieb bei der ihm
eingepflanzten Regel, daß die Religion für die Kranken sei. Aber
es setzte demgemäß voraus, daß sich kein Mensch oder doch fast
kein Mensch in einem normalen Zustande befinde, daß sie allzumal
untüchtig seien. Nicht nur Paulus hat diesen Charakter ans Licht
gestellt — er sah alle Menschen ohne Christus als Sterbende an,
sterbend an ihrer Sünde — : neben ihm haben die vielen unbe-
kannten ältesten Missionare ähnlich, wenn auch einfacher, gelehrt:
die menschliche Seele ist krank, ist dem Tode verfallen, und zwar
von ihrer Geburt an. Das ganze Geschlecht liegt im Sterben.
Jetzt aber ist die „Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes des
Heilandes^' erschienen und erneuert die kranke Seele-. So wurde
die Taufe als ein Bad zur Wiederherstellung der Gesundheit der
Seele, zur „Erlangung des Lebens" aufgefaßt^; so galt das
Abendmahl als das „Pharmakon der Unsterblichkeit^; so heißt
die Buße „vera de satisfactione medicina" ''. Bei der Feier wurde
für das „Leben" gedankt, welches nun geschenkt ist^. Der Be-
griff" des „Lebens" erhielt eine neue, vertiefte Bedeutung. Schon
Jesus selbst hatte von einem „Leben" gesprochen, dem der Tod
nichts anzuhaben vermag, ja das man gewinnt, indem man das
irdische Leben opfert. Paulus und der vierte Evangelist haben
die Anschauung und das Wort aufgenommen und sie zum Inbegriff
aller Güter der Religion ausgestaltet. Der Not, dem Elend, der
Sünde, dem Tode gegenüber gab sich die neue Religion als die
Botschaft von der LTnsterbliclikeit. Das verstand die Ileidenwelt.
') Schon das Neue Testament ist so stark von medizinischen Ausdrücken
durchzogen, die als Bilder verwertet werden, daß eine Zusammenstellung
mehrere Seiten füllen würde.
^) Tit. 3,4: r; ygrjOTÖTrj? xui rj (piXav &QWJiia hieqiävrj rov o<oTfj(>og
fjfuov deov . . . eoiooev r/fiäg, s. das Neue Testament sub oiottiq.
3) Tertullian, de bapt. 1 u. viele a. Stellen. Clemens, Paedag. 1, 6, 29
nennt die Taufe „flniwvioi' (pägfiaxov" , Tertull. „aqua medicinalis".
*) Ignatius, Justin, Irenilus. — ^) Cypr., de lapsis 15.
«) Didache 9. 10.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung-. 95
Sie verstand es, wenn ihr verheißen wurde, sie sollte selig und
unsterblich w^erden wie die seligen Götter. Aber nicht wenige
verstanden auch das Recht der Bedingung, daß man sich der Kur
der Religion zu unterwerfen habe, daß die Seele erst rein nnd
heilig sein müsse, bevor sie unsterblich werden könne. So er-
griffen sie die Botschaft von dem großen Arzte, der „Enthaltimg''
predigt und „Leben" verleiht '. Wer einen Strahl von der Krafr
und Herrlichkeit des neuen Lebens empfangen hatte, der beur-
teilte sein bisheriges Leben als Blindheit. Krankheit und Sterben 2.
Die apostolischen Yäter und die Apologeten bezeugen diese Auf-
^) Clemens Alex, beginnt seinen Pädagog damit, daß er den Logos als
den Arzt bezeichnet, welcher die Leidenschaften heilt (I, 1,1: xa nä^rj 6
jiaQajivßrjtiy.og löyog läzai). Er unterscheidet den loyog jrgoTQSjiztyög, vTiodsTixög
und 7iaQaiuv{)t]Tiy.6g; dazu kommt noch der di8ay.Tiy.6g. Der Logos aber ist
Christus. Auch Gregorius Thaum. nennt in der Lobrede auf Origenes (c. 16)
den Logos den Arzt. In den pseudoclementinischen Homilien ist Jesus , der
wahre Proj^het, durchweg auch der Arzt; ebenso wirkt Petrus überall als
der groiie Arzt, der lediglieh durch Gebet und Rede Scharen von Kranken
heilt (s. besonders Buch VII). Umgekehrt ist Simon Magus als der böse
Zauberer vorgestellt, der überall, wohin er kommt, Krankheiten hervorruft.
Am häufigsten und eingehendsten hat Origenes Jesus als den Arzt geschildert.
Eine der vielen Stellen wenigstens möge hier stehen (Hom. VIII in Levit.
c. 1 t. 9 p. 0I2 f.): „Medicum dici in scripturis divinis dominum nostrum Jesum
Christum, etiam ipsius domini sententia perdocemur, sicut dicit in evangeliis
[folgt Matth. 9, 12 f.]. omnis autem medicus ex herbarum succis vel arborum
vel etiam metallorum venis vel animantium naturis profutura corporibus
medicamenta componit. sed herbas istas si quis forte, antequam pro ratione
artis componantur, adspiciat, si quidem in agris aut montibus, velut foenum
vile conculcat et praeterit. si vero eas intra medici scholam dispositas per
ordinem viderit, licet odorem tristem, fortem et austerum reddant, tamen
suspicabitur eas curae vel remedii aliquid continere, etiamsi nondum quae
vel qualis sit sanitatis ac remedii virtus agnoverit. haec de communibus
medicis diximus. veni nunc ad Jesum coelestem medicum, intra ad hanc
stationem medicinae eins ecclesiam, vide ibi languentium iacere multitu-
dinem. venit mulier, quae et partu immunda effecta est, venit leprosus, qui
extra castra separatus est pro immunditia leprae, quaerunt a medico remedium,
quomodo sanentur, quomodo mundentur, et quia Jesus hie , qui medicus est,
ipse est et verbum dei, aegris suis non herbarum succis, sed verborum sacra-
mentis medicamenta conquirit. quae verborum medicamenta si quis incultius
per libros tamquam per agros videat esse dispersa, ignorans singulorum dic-
torum virtutem, ut vilia haec et nulluni sermonis cultum habeutia j^raeteri-
bit. qui sero ex aliqua parte didicerit animarum ajjud Christum esse medi-
cinam, intelliget profecto ex his libris, qui in ecclesiis recitantur, tamquam
ex agris et montibus, salutares herbas adsumere unumquemque debere. ser-
monum dumtaxat vim, ut, si quis illi est in anima languor, non tarn ex-
terioris frondis et coi-ticis. quam succi interioris hausta virtute sanetur."
^) Die Untugenden als Seelenkrankheiten — dieses Thema wird von den
christlichen Lehrern so häufig behandelt wie von den Stoikern; s. z. B. Orig.
in ep. ad Rom. lib. II (t. 6, 91 f.): ,.Languores quidem animae ab apostolo in
his (Rom. 2, 8) designantur, quorum medelam nullus inveniet nisi prius mor-
96 I^ie Missiouspredigt iu Wort und Tat.
fassuiig. „Das Licht liat er uns geschenkt, wie ein Yater haf
er zu uns als zu Söhnen gesprochen, die wir bereits verloren
waren, hat ei- gerettet. Blind waren wir in unserem Sinn, Steine,
Holz. Gold, Silber und Erz anbetend, und unser Leben war nichts
anderes als der Tod^.'' Das Sterbliche wird das Unsterbliche
anziehen, ja hat es bereits angezogen, das Yergängliche das Un-
vergängliche: das war der Jubelruf der alten Christen, der sie
wa])pnete gegen eine See von Plage]! und die Furcht des letzten
Augenblicks in einen Triumpli verwandelte. „Jene elenden Leute
haben sich in den Kopf gesetzt, daß sie ganz und gar unsterblich
seien", sagt Lucian im ,,Peregrinus Proteus^'. Er hätte gewiß
einen Witz dazu gemacht, wenn ihm einer eingefallen wäre : aber
dem beweglichen Spötter ist bei der Schilderung des Glaubens
der Christen der Witz in bemerkenswerter AVeise abhanden ge-
kommen.
Die Gesundheit der Seele, das neue Leben, wdrd geschenkt :
aber es muß innerlich angeeignet werden. Groß war die Gefahr,
daß die das übersahen, welche gew'olint w'aren, aus allen mög-
lichen Mysterien Weihen und überirdische Güter fortzutragen, wie
man eine Sache fortträgt. Auch wäre es leicht zu zeigen, wie
bald die Kirche in ihrer Sakramentspraxis dem heidnischen
Mysterienwesen verfallen ist. Aber so stark war das einmal ein-
gepflanzte Element der sittlichen Forderung , der Reinheit der
Seele, daß es sich in der katholischen Kirche auch neben der
schlechten Sakramentspraxis behauptete. Seelenheilung und
Seelenheil künde haben nie aufgehört, ja ihren ganzen dog-
matischen und kultischen Apparat stellte die alte Kirche unter
diesen Zweck. Sie gab sich fort und fort als die große Heil-
anstalt, als das Lazaret der Menschheit; die Heiden, Sünder und
Häretiker sind die Kranken, die kirchlichen Lehren und Hand-
lungen sind die Arzneien: die Bischöfe und Seelsorger sind die
Arzte, aber als solche nur die Diener Christi, des Arztes der
Seelen-, ich greife einige Beispiele heraus. „Wie das Gut des
Leibes die Gesundheit ist, so ist das Gut der Seele die Erkenntnis
borum cognoverit causas, et ideo in divinis scri])turis aegritudiiies animae
numerantur et reniedia desoriliuntur, ut hi , ijui se apostolicis subdiderint
disciplinis, ex bis, quae scripta sunt, agnitis languoribus suis curati possint
dicero: .Lauda anima mea dominum, qui sanat omnes languores tuos'.'^
') JI Clom. ej). ad Cor. 1. Äbnliches namentlich bei Tatiaii; aber es
fehlt in keiner Apologie ganz.
-) Celsus, diese Art der christlichen Predigt wohl kennend, beurteilt
die Christen als Kurpfuscher : „Der Lehrer des Christentums macht es wie
jemand, der einem Kranken Wiederherstellung seiner Gesundheit verspricht,
aber davon abhält, daß man kundige Ärzte hinzuziehe, damit .seine Unwissen-
heit nicht von ihnen aufgedeckt werde." Darauf erwidert Origenes: .Welches
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 97
Gottes", sagt Justin ^ „Solange wir noch Frist haben für (unsere)
Heilung, wollen wir uns dem Gott, der da heilt, übergeben und
ihm als Bezahlung lautere Bußgesinnung weihen-." „Jesus hat
wie ein trefflicher Arzt um der Heilung der Kranken willen Ab-
schreckendes untersucht und Ekelhaftes berührt, bei fremden
Leiden selbst Schmerz empfunden und ims. die wir nicht nur
krank waren, nicht nur an schrecklichen Geschwüren und eiternden
Wunden litten, sondern bereits unter den Toten lagen, aus den
Abgründen des Todes durch sich selbst errettet . . . er, der
Lebensspender, der Lichtspender, unser großer Arzt^, König und
Herr, der Christus Gottes^." „Der Arzt kann dem heilungs-
bedürftigen Leibe keinerlei Heilmittel mit Erfolg verordnen, ohne
das im Leibe sitzende Übel ausgeschieden oder das hinzutretende
aufgehalten zu haben. Ebenso kann der Lehrer der Wahrheit
mit seinem Vortrag über die Wahrheit niemanden überzeugen, so
lange noch ein L*rtum in der Seele der Zuhörer sich verborgen
sind denn die Arzte, von denen wir die Einfältigen fern halten'?'' Er zeigt
dann, daß es die Philosophen nicht sein können, noch weniger die, welche
noch in dem rohen Aberglauben des Polytheismus befangen sind (III, 74).
^) Fragm. IX, Otto, Corp. Apol. III p. 258. Vgl. dazu den schönen
Wunsch im Anfang des 3. Johanuesbriefes: .-teoI nävion' sv/ofiai as svoöov-
odai y.al vyialveiv, xadüg EvoÖovxai aov fj y'v//j.
•-) II Clem. ad Cor. 9.
') A"gl. ep. ad Diogn. 9, G. PseudoJustin, de resurr. 10: „Unser Arzt,
Jesus Christus", Clemens, Paedag. I. 2, 6: „Der Logos des Vaters ist der ein-
zige Päonische Arzt für die menschlichen Schwächen, und der heilige Zauberer
iäywg ijifodög) für die kranke Seele" (folgt Ps. 86, 2. 3). ,.Die Heilkunst
kuriert nach Democrit die Krankheiten des Körpers, die Weisheit aber be-
freit die Seelen von den Leidenschaften. Der gute Pädagog aber, die Weis-
heit, der Logos des Vaters , der Schöpfer des Menschen , kümmert sich um
das ganze Gebilde und heilt es nach Leib und Seele, er, o 7iava.oy.ijq r»)?
dv&QOj.-TÖrijTog larodg 6 oonyo.* Folgt Marc. 2. 11. S. auch I, 6, 36 u. I, 12. 100:
„Deshalb heißt auch der Logos , Heiland'; denn er hat für die Menschen
geistige Arzneien erfunden zum Wohlbefinden und zum Heil ; er bewahrt die
'Gesundheit, er deckt die Schäden auf, er bezeichnet die Ursachen der Leiden-
schaften, er amputiert die Wurzeln unvernünftiger Begierden, er schreibt Diät
vor, er verordnet alle heilsamen Gegengifte für die Kranken. Denn das ist
das größte und wahrhaft königliche Werk Gottes : die Rettung der Mensch-
heit. Dem Arzt, der keinen Rat für die Gesundheit gibt, zürnen die Kranken,
wie aber sollten wir nicht dem göttlichen Erzieher Dank sagen usw."
Paedag. I, 8, 64. 65.
*) Euseb., h. e. X, 4, 11 (die Stelle wurde oben bereits berührt), vgl. auch
die Bezeichnung der Bibel bei Aphraates „die Bücher des weisen Ai-ztes".
Vgl. Cyprian, de op. 1: „Christus ist verwundet worden, um unsere Wunden
zu heilen . . . Als der Herr bei seiner Ankunft jene Wunde, die Adam ver-
ursacht, geheilt hatte usw." Bei Cyprian sind überhaupt die von der Krank-
heit hergenommenen Bilder sehr häufig; s. z. B. de habitu 2; de unitat. 3;
de laps. 14. 34.
Harnack, Mission. 2. Aufl. '
9S Die Missiouspredigt in Wort und Tat.
hält und den Beweisen widersü-ebt ^." „Wenn wir aus dem
Satze: ,Durch die medizinische Wissenschaft wird die Krankheit
erkannt', den Schluß ziehen wollten, also sei die medizinische
Wissenschaft die Ursache der Krankheit, würden wir etwas Un-
gereimtes behaupten. Steht es aber fest, daß die Heilwissenschaft
etwas Gutes ist, weil sie die Kenntnis der Krankheit lehrt, so ist
auch das Gesetz gut, durch welches die Sünde geti-offen wird 2."
Von den Häretikern heißt es schon im 2. Timotheusbrief
(2, 17), daß ihre Rede wie der „Krebs" um sich fresse. Dieses
Wort ist sehr häufig wiederholt und weiter ausgestaltet worden:
„Ihr Gespräch steckt an wie die Pest^." „Häretiker sind schwer
zu heilen", sagt Ignatius*, „einen Arzt gibt es . . . Jesum
Christum unseren Herrn." Den häretischen Irrlehren gegenüber
heißt die richtige Lehre schon in den Pastoralbriefen die „gesunde
Lehre".
Am häufigsten aber wird das Bußverfahren mit dem Heil-
verfahren verglichen: „Nicht alle Wunden werden mit demselben
Pflaster geheilt; die Fieberanfälle stille durch mildernde LTm-
schläge", heißt es bei demselben Ignatius ''. „Die Heilung der
Leidenschaften", sagt Clemens im Eingang des Pädadog, „be-
wirkt der Logos durch Zureden; er kräftigt die Seelen mit milden
Gesetzen wie mit mildernden Arzneien ^ und disponiert die Kran-
') Athenag., de resurr. 1.
^) Origenes gegen die An tinomisten, Conim. in Rom. III, 6. Lomni.
T. VI p. 195. Hom. in Jerem. 19, 3. Ähniieh Clemens, Paedag. I, 9, 88: „Wie
der Arzt dem Kranken nicht böse ist, der ihm mitteilt, daß er Fieber habe —
denn der Arzt ist nicht der Urheber des Fiebers, sondern der, der es kon-
statiert {ovy. aiTiog, äX/' fJsyyo?) — , so ist auch der Tadelnde dem, der an
der Seele leidet, nicht übelwollend." Vgl. Methodius (Opp. I p. 52 Bon-
wet.sch): ^Wie wir nun einen Arzt nicht tadeln, der angesagt, auf welche
Weise ein Mensch gesund sein könne usw." Vgl. auch I, 65: „Denn auch
die an den Leibern ärztlich Behandelten, welche erkrankt leiden, verlangen
nicht sofort Gesundheit, sondern durch die Hoffnung der kommenden Rettung
nehmen sie Leiden gern auf sich."
') Cyprian, de laps. 34. — *) Ad Ephe.s. 7: (ii'oßcgüjitvToc:.
'') Ad Polyc. 2. Die Stelle ist allegorisch zu verstehen und richtet sich
an den Bischof Polycarp , der schon c. 1 ermahnt worden war: „Trage die
Krankheiten aller." Mit Sanftmut und Weisheit soll der Bischof gegen die
Irrenden und geistlich Kranken verfahren. Die Mahnung kehrt in der Form,
in die sie Ignatius gekleidet hat, in der späteren Literatur sehr oft wieder,
s. die gelehrte Note von Lightfoot, Clem. Alex., Fragm. (Dindorf III
p. 499): „Mit einem Pflaster wirst du dich selbst und den Nächsten (der
dich verleumdet) heilen (wenn du der Verleumdung sanftmütig begegnest)."
Clem. Homil. X, 18: „Man muß das Pflaster nicht auf das gesunde Glied des
Körpers legen, sondern auf das leidende." Hermes Trismeg., ^tgi ßoi. ivl.
p. 331: „Brauche nicht (immer) das nämliche Pflaster."
*j I, 1, 3: r]7na, (f^ügfiaxa, s. Homer.
Das Evangelium vom Heiland und von der Hi'ilung. 99
ken zur vollen Erkenntnis der Wahrheit." „Lasset uns das Ver-
fahren der Ärzte (bei Ausübung der Sittenzucht) anwenden", sagt
Origenes^: „wenn trotz der Behandlung mit Ol, der Pflaster und
erweichender Umschläge die Härte der Geschwulst nicht nachgibt,
bleibt nur noch das Mittel übrig — zu schneiden." Auf den
Einwurf bußscheuer Christen, die behaupteten, das (iffentliche
Schuldb(>kenntnis samt der Bußleistimg beleidige das Ehrgefühl
und sei jämmerlich, erwidert Tertullian'-: „Nein — durch die
Sünde gerät man in die Jämmerlichkeit; wo es aber zur Buße
kommt, da hört das Jämmerliche auf, weil das Heilsame eintritt.
Jämmerlich ist es auch, sich schneiden, mit dem Eisen ausbrennen
mid durch ein ätzendes Pulver peinigen zu lassen; allein bei den
Heilmitteln, die unter Schmerzen Heilung bewirken, dient der
Vorteil der Heilung zur Entschuldigung der Unbill." Mit ihm
stimmt Cj^rian überein, wenn er schreibt^: „Der Priester des
Herrn muß heilsame Mittel brauchen*. Unerfahren ist der Arzt,
der angeschwollene AVundbeulen mit schonender Hand berührt
und das tief in den inneren Teilen eingeschlossene Gift sich ver-
mehren läßt, indem er es konserviert. Die Wunde muß geöffnet
und geschnitten werden, imd nach Entfernung der fauligen Teile
muß ein energisches Heilverfahren eintreten. Mag auch der
Kranke, weil er es nicht aushalten kann, vor Schmerz rufen,
schreien und klagen — er wird nachher danken, wenn er Ge-
nesung verspürt." Den ausgeführtesten Vergleich aber zwischen
einem Bischof und einem Chirurgen lesen wir in der Grundschrift
der apostolischen Konstitutionen^: „Heile auch du (Bischof) wie
ein mitleidiger Arzt alle Sünder, indem du heilsame, zur Rettimg
dienliche Mittel anwendest. Beschränke dich nicht auf Schneiden
und Brennen und auf die Anwendung austrocknender Streupulver,
sondern verbrauche auch Verbandzeug und Charpie, gib milde
und zuheilende Arzneien und spende Trostworte als mildernde
Umschläge. Wenn aber die Wunde tief und hohl ist, so pflege
sie mit Pflastern, damit sie sich wieder fülle und dem Gesmiden
gleich wieder ausheile. Wenn sie aber eitert, dann reinige sie
mit Sti'eupulver, d. h. mit einer Sti-afrede; wenn sie sich aber durch
1) In 1. Jesu Nave VIII, 6 Lomni. XI, p. 71. Cf. Hom. in Jerem. 14, 1.
2) De poenit. 10.
') De lapsis 14. Bei Cyprian wird das Büß- und das Heilverfahren stän-
dig parallelisiert, s. e^). 31, 6. 7; ep. 55, 16; ep. 59, 13. Vgl. auch das römische
Schreiben, 1. c. ep. 30, 3. 5. 7. Derselbe Novatian, von dem dieses Schreiben
stammt, schreibt de trinifc. 5, daß Gottes Haß zur Medizin diene.
*) Vgl. Pseudociem. ep. ad Jacob. 2: „Der Vorsitzende (der Bischof)
muß (in der Gemeinde) wie ein Arzt walten und darf nicht heftig wie ein
unvernünftiges Tier sein."
°) L. II, 41.
7*
{QQ Die Missionspredigt in Wort und Tat.
wildes Fleisch vergrtißert, so mache sie mit scharfer Salbe gleich
d. h. durch Androhmig des Gerichts; wenn sie aber um sich frißt,
so brenne sie mit Eisen und schneide das eitrige Geschwür aus,
nämlich durch Auferlegung von Fasten. Hast du dies getan und
gefunden, daß von Fuß bis zvmi Kopf kein milderndes Pflaster
aufzulegen ist, weder Ol noch Bandage, sondern das Geschwür
um sich greift und jedem Heilungsversuch zuvorkommt — wie
der Krebs jegliches Glied in Fäulnis versetzt — , dann schneide
mit vieler Umsicht und nach gepflogener Beratung mit anderen
erfahrenen Ärzten das faule Glied ab, damit nicht der ganze
Leib der Kirche verdorben werde. Nicht voreilig also sei zum
Schneiden bereit, und nicht so rasch stürze dich auf die viel-
gezähnte Säge, sondern brauche zuerst das Messer und entferne
die Abszesse, damit durch Entfernung der innen liegenden Ur-
sache der Krankheit der Körper vor Schmerzen geschützt bleibe.
Triffst du aber einen Unbußfertigen und (innerlich) Abgestor-
benen, dann schneide ihn mit Trauer und Schmerz als einen
Unheilbaren al) ^.'•'
Man kann nicht leugnen, daß diese fortgesetzte Aufmerk-
samkeit auf die „Krankheiten" der Sünde auch schlimme Folgen
hatte. Nicht nur der ästhethische Sinn stumpfte sich ab 2, son-
dern auch der sittlich -tätige. Man muß die Menschen auf das
Gesunde, die edle Tat, lenken, wenn man sie bessern will; das
fortgesetzte Reden über Sünde und Yergebung übt eine narko-
tische Wirkung aus. Mindestens muß der Pädagoge abwechseln
zwischen dem Hinweis auf die Vergangenheit (die Schuld, die
sittliche Gebundenheit) und dem Ausblick auf die Zukunft (das
') S. Clemens Alex. Paed. 1.8, 64 f.: „Viele Leidenschaften werden ge-
heilt durch Strafe und durch Anordnung strengerer (lebote . . . der Tadel
ist gleichsam eine chirurgische Operation für die Leidenschaften der Seelen ;
diese sind Abszesse an der Wahrheit; mau muß sie durch den Schnitt des
Tadels öffnen. Der Tadel gleicht einer Arznei, die die verhärteten Beulen
der Leidenschaften auflöst und das Häßliche des wollüstigen Lebens reinigt,
dazu die Hypersarkosen des Hochmuts abträgt und den Menschen wieder ge-
sund und wahr macht." Vgl. I, 9, 83. Methodius, Opp. I p. 115 ed. Bon-
wetsch.
-) An dieser Folge hat namentlich der Kaiser Julian Anstoß genommen
— und mit Recht. Es war in der Kirche eine Ästhetik des Häßlichen auf-
gekommen als Protest gegen die Sinnlichkeit des Heidentums. Krankheit,
Tod und die Reste des Todes, Moder und Gebeine, wurden der Gesundheit
und dem Schönen vorgezogen. Die Übersinnlichkeit des Christentums suchte
sieh einen Ausdruck zu geben in den häßlichen Fragmenten des abgestorbeneu
Sinnlichen. Wie weit von diesem Raffinement einer sublimen Frömmigkeit
war der entfernt, der auf die Schönheit der Lilien auf dem Felde hingewiesen
hatte! Die Christen des 3. u. 4. Jahrhunderts fingen wirklich an, die Krank-
heit für gesund und den Tod für das Leben zu erklären.
Das Evaii<;elium vom Heiland und von der Heilung. 1()I
zu erstrebende Ziel und die Anspannung der Kräfte). Die Theo-
logen der alexandrinischcn Kirche hatten für letzteres einen Sinn.
Aber indem sie das Bild des vollkommenen Christen zeichneten,
des wahren Gnostikcrs. legten sie in einseitiger Weise Wert auf
das Wissen und die richtige Erkenntnis. Sie hatten sich
nicht völlig von dem sokratischen Irrtum losgemacht, daß der
wissende Mensch auch immer der gute sei. Zwar haben sie
des Wisscnsdünkel der „Gebildeten" auf dem Boden der Religion
imd Sittlichkeit überwunden ^ In der Schrift des ürigenes gegen
Celsus finden sich vortreffliche Abschnitte darüber, daß auch der
ungebildete Mensch Gesundheit der Seele erlangen muß und kann,
daß allem zuvor Heilung von Sünde und Kraftlosigkeit nötig ist^,
und er trifft den Nagel auf den Ko})f, wenn er bemerkt^: ,,Plato
und die anderen weisen Männer unter den Griechen sind mit ihren
schönen Aussprüchen jenen Ärzten ähnlich, die nur den höheren
Ständen ihre Aufmerksamkeit schenken, den gemeinen Mann aber
verachten, während die Jünger Jesu dafür zu sorgen bemüht
sind, daß die große Menge der Menschen gesunde Nahrung er-
halte*." Allein Origenes meint doch, daß es für den weiter-
strebenden Menschen nur ein Durchgangs p unkt ist, die Reli-
gion als Heilmittel zu gebrauchen. Er ist überzeugt, daß auf
^) Clemens Alex. , Strom. VII, 7, 48 : log 6 largo? vyktav nagiitim roTg
ovvegyovoi Jigog vyietav , omcog xal 6 Osog ri/v dtÖiov ocorr/oiav roTg avvsQyovoi
jtQog yvüjaiv ts xal evjigaylav.
■-) C. Geis. III, 53: „Wir heilen mit der Arznei unserer Glaubenslehre
jedes vernünftige Wesen."
ä) C. Gels. VII, 60.
*) Eine sehr feine Ausführung darüber, daß der wahre Prophet so reden
muß, daß die Menge — nicht nur die Gebildeten — ihn verstehen und be-
herzigen kann, findet sich 1. c. VII, .59: „Man nehme eine Speise an, die ge-
sund ist und im stände, den Menschen zu nähren und zu stärken, aber auf
eine Weise zubereitet und mit süßen und leckeren Zutaten gewürzt, daß sie
dem Geschmacke der einfachen Leute, die an solche Dinge nicht gewöhnt
sind, wie den Bauern, den Arbeitern und Armen, nicht zusagt, sondern nur
den Reichen und Verweichlichten mundet. Man nehme ferner an, diese näm-
liche Speise sei nicht so zubereitet, wie die Feinschmecker es lieben, sondern
so, wie es der Arme, der Laudmann, die überwiegende Mehrzahl gewohnt
ist. Wenn nun der Annahme zufolge die auf die eine Art zubereitete Speise
nur allein den Feinschmeckern wohl bekommt, von den andern aber nicht
gegessen wird, während sie im Gegenteil, auf die andere Art zubereitet, un-
zähligen Menschen Kraft und Stärke gibt: von welcher Art von Speisen
werden wir dann glauben, daß sie dem öffentlichen Wohle zuträglicher und
dienlicher sei, von jener, die sich nur den Vornehmen , oder von dieser, die
sich der großen Menge als nützlich erweist ? Nehmen wir auch an , die
Speise sei gleich gesund und nahrhaft, mag sie nun auf diese oder auf jene
Art zubereitet sein, so ist es doch klar und augenscheinlich, dalä der Menschen-
liebe und der Sorgfalt für das allgemeine Wohl besser genügt wird von einem
102 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
der höchsten Stufe religiöser Bildung alles Greschichtliche und
Positive in der Religion ebenso unnötig wird, wie der Begriff
Erlösung und Heilung selbst. Auf der höchsten Stufe ist der
Geist von Gott erfüllt und bedarf keines „Heilandes", also auch
keines geschichtlichen „Christus" mehr. „Selig", ruft er aus ^
„sind diejenigen, die, indem sie den Sohn Gottes brauchten, so
geworden sind, daß sie ihn nicht mehr als den Arzt nötig haben,
der die Kranken heilt, noch als den Hirten, noch einer Erlösung
bedürfen, sondern nur Weisheit, Vernunft und Gerechtigkeit".
Ganz scharf scheidet er in der Schrift gegen Celsus (Hl, (>! f.)
zwischen zwei Zwecken und Gütern der christlichen Religion,
einem niederen und einem höheren. „Nicht zu den Mysterien
und zur Teilnahme an der Weisheit, die im Geheimnis verborgen
liegt, rufen wir den Ungerechten, den Dieb, den Einbrecher u. s. w.,
sondern zur Heilung. Denn ein Doppeltes bietet unsere göttliche
Lehre. Sie reicht dem Kranken Heilmittel dar, und darauf be-
zieht sich das Wort: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes,
sondern die Kranken, und sie eröffnet denen, die rein an der
Seele und am Leibe sind, das Geheimnis, das seit ewigen Zeiten
verschwiegen war, nun aber durch die prophetischen Schriften
offenbart worden ist und durch die Erscheinung unseres Herrn
Jesu Christi . . . Gott das Wort ist demnach als Arzt gesendet
worden für die Sünder, als Lehrer der göttlichen Geheimnisse
aber für die, welche bereits rein sind und nicht mehr sündigen^."
Origenes verbindet also den altchristlichen und den philo-
sophischen Religionsbegriff. Er erhebt sich damit auch über die
pessimistische Romantik, welche als Gefahr jenem Religions-
begriff drohte. Aber nur unter den Gebildeten konnte er Nach-
Arzt, der vielen die Gesundheit geben und erhalten will, als von einem
anderen, der dieses nur bei wenigen zu tun wünscht." Wie entfernt derselbe
Origenes von aller orthodoxen Borniertheit war, zeigt folgende schöne Aus-
führung (III, 13): „Wie nur derjenige in der Heilkunsi tüchtig wird, der die
verschiedenen Schulen studiert und nach sorgfältiger Prüfung unter den vielen
an die beste sich anschließt . . ., so besäße nach meiner Meinung der die
gründlichste Kcmntnis des Christentums, der von den jüdischen und christ-
lichen Sekten sorgfältig Einsicht genommen hat."
*) Conim. in Joh. I, 22 T. I, p. 43 Lomm.
-) Ebenso Clemens Alex., Paed. I, 1, 3: lam ovx saxov vyisia xal yvcöaig,
ä/./' /} fikv /mi%]OEi, ij ök läoF.i jTEQiyivsTai. ovx av ovv rig voocöv hi TTQÖxefiöv ri
TÖiv 6i.öaoxahx(7>v gxfid&oi jzqIv t} rehov vyiävai. ov^e. yag waamwg JiQog rovg
fiavOdvovTag i) xä/.ivovTag del rcov jiaQayysl/tcLT.wv yxaazor Uyszat , dX^ä jiQog ovg
/XEv sig yrwoiv, tiqoq ovg de Big i'aoiv. xad'djT.FQ ovv roTg voaovoi xo Oü)/ia laxQOv
XQfjLEi, rmn]j xal xoTg doßEvovai lijv y'vyj/r jraiSayoyov Sei, iv y/^<7n' marjxai xa
miOrj , Elia <)e xal di()aoxd?MV , og xadfjyr'/OExai jroog xai)a()dv yva)0£o>g ejtixijSeiÖ-
X7JXU EVTQEJilCoiv x>i%> i/'vyj'jv, övva/iEVijv y(Ofi}~ioai xi/v djtoxdlvtjnv xov löyov.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 103
folger finden. Das christliche Volk hielt an Jesus, dorn Hei-
lande, fest.
Das läßt sich bisher nicht erweisen, daß der für uns im
fünften (vielleicht schon im vierten) Jahrhundert auftauchende
Christust^^ius, der dann in den bildlichen Darstellungen der herr-
schende geworden ist, dem Typus dos Asculap nachgebildet ist.
Zwar sind die Typen sich ähnlich, die Prädikate, die beiden ge-
spendet werden, zum Teil identisch: auch ist es bisher nicht ge-
nügend aufgeklärt, warum man das ursprüngliche Bild des jugend-
lichen Christus dui'ch das neue Bild ersetzt hat: aber es fehlen
alle Mittel, um die Entstehmig des kallistinischen Christustypus
aus dem Urbilde des Asculap abzuleiten. Diese Ableitung muß
deshalb zur Zeit als eine ungenügend begründete, wenn auch
beachtenswerte Hypothese gelten. Ein positives Zeugnis für sie
wäre vorhanden, wenn die Bildsäule, welche in der Stadt Paneas
(Cäsarea Philippi) im 4. Jahrhundert für ein Bild Jesu galt , ein
Asculap-Standbild gewesen ist. Eusebius erzählt uns nämlich ^,
er habe dort ein Kunstwerk an dem Hause gesehen, welches das
von Jesus geheilte blutflüssige Weib aus Dankbarkeit habe er-
richten lassen. „Es steht auf einer hohen Basis bei der Türe
ihres Hauses das Erzbild eines Weibes, das, auf die Knie gebeugt,
wie eine Flehende die Hand ausstreckt: gegenüber steht aus
demselben Metall die Bildsäule eines aufrechtstehenden Mannes,
der, ehrbar in einen doppelt um den Leib geschlagenen Mantel
gekleidet, die Hand nach dem Weibe ausstreckt. Zu seinen
Füßen an der Basis wächst eine fremdartige Pflanze empor, die
bis an den Saum des ehernen Mantels reicht und ein Heilmittel
gegen mancherlei Krankheiten ist. Diese Mannesgestalt nun soll
das Bild Jesu sein. Zu verwundern ist es nicht, daß ehemalige
Heiden, die Wohltaten von dem Herrn empfangen hatten, sich
auf diese Weise dankbar erwiesen.'' Daß dieses Bildwerk Jesum
darstellen sollte und von dem blutflüssigen Weibe errichtet wor-
den sei, ist aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich"^: viel-
mehr hat man anzunehmen, daß es, vielleicht schon frühe, von
der christlichen Bevölkerung in Paneas umgedeutet worden ist.
War es nun eine Äsculapstatue — und dafür spricht die heil-
kräftige Pflanze — , so läge hier allerdings ein Übergang von
„Asculap -Soter" zu „Jesus-Soter" vor. Allein gesichert ist die
Deutung auf den heidnischen Heiland nicht, und auch wenn sie
sicher wäre, so ist eine generelle Schlußfolgerung noch nicht ge-
stattet. Jedenfalls unterschätzt man den Abscheu, den auch noch
1) H. e. VII, 18, cf. Philostorg , h. e. VII. 3.
*) S. Hauck, Die Entstehung des Christustypus, 1880 S. 8 ff.
1Q4 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
die Christen des 4. Jahrhunderts vor den heidnischen Göttern ge-
hegt haben, wenn man an eine bewußte Umbihlimg des Aseulap-
bildes zum Christusbilde denken zu dürfen meint ^.
Wir haben bisher beti'achtet, wie sich das älteste Christentum
als Religion der „Heilung" in den Gleichnissen, Gedanken,
Lehren und Bußordnungen ausgebaut hat. Es erübrigt noch
zu zeigen, daß es diesen Charakter auch in seinen Ordnungen
zur Pflege der leiblich Kranken ausgeprägt hat.
„Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht ....
Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan." In diesen Worten hat der Stifter der
Religion die dienende Liebe an den Kranken in den Mittelpunkt
der Religion gestellt und sie allen seinen Jüngern auf die Seele
gelegt. Die alte Christenheit hat diese Verpflichtung im Herzen
behalten "^ und in der Tat verwirklieht. Man kann das noch aus
den Resten der uns erhaltenen Literatm- erkennen, obgleich sie
nicht zu dem Zwecke geschrieben ist, das Gedächtnis an die Werke
der Barmherzigkeit zu erhalten. Zunächst begegnen uns überall
Mahnungen, für die Kranken zu sorgen. „Tröstet die Kleinmütigen,
nehmt euch der Kranken an", schreibt der Apostel Paulus an
die erregte, die nächsten Pflichten übersehende Gemeinde von
Thessalonich ^. In dem Kirchengebet, welches uns in dem ersten
Clemensbrief erhalten ist, wird ausdrücklich für die seelisch und
körperlich Leidenden gebetet*. „Ist jemand krank, der rufe zu
^) Äsculap war in den Augen der Christen ein Dämon und ein Götze;
ihn konnten sich die Christen weder zum Vorbild nehmen noch mit ihm
paktieren. Von bildungseifrigen Christen in Rom wird wohl einmal gesagt
— jedoch von einem fanatischen Gegner — , daß sie den Galen anbeteten
(bei Euseb., h. e. V, 28), aber daß sie den Äsculap anbeten, wird nie behauptet.
Zu den Stellen, die oben angefahrt sind, an denen sich altchristliche Schrift-
steller mit Äsculap befassen (vielleicht wird bereits Apoc. 2, 13 auf ihn an-
gespielt), sind noch folgende hinzuzufügen: Justin, Apol. I, 21. 22. 25. 54 [man
würde Justin gründlich mißverstehen, wenn man aus diesen Stellen irgend
etwas zugunsten des Gottes herauslesen wollte]; Tatian, Orat. 21; Theoph.
ad. Autol. I, 9; Tertull., de anima 1 [eine für den Abscheu vor diesem Gott
besonders charakteristische Stelle]; Cypr., Quod idola 1; Origenes c Cels. III,
•S. 22—25. 28. 42. Eine euhemeristische Erklärung für den Gott gibt Clemens,
Protr. 2, 26 : rov yag EveQyeiovvra fitj ovvievreg de6%' a.vijT}iaoäv rivag ocorfjQag
Aioaxovgovg . . . xal 'ÄGxXr]jitov laxQfk'. Wie wenig er ihm wohlwill, zeigen
mehrere Stellen, Protr. 2, 30: largog (pdÜQyvgog fjv, cf. 4, 52.
''■) Vgl. die schönen Ausführungen des Lactant., Div. inst. VI. 12 (nament-
lich p. 52'J Brandt): „aegros quoque quibus defuerit qui adsistat, curandos
fovendosque suscipere summae hunianitatis et magnae opcrationis est."
'^ 1, 5, 14.
■*) I Clem. 59: Tovg uadn'FTg [so ist wahrscheinlich zu lesen] Yuaai ....
y'^uväairioav rovg dodr.vovvrag, JTagaxuXfnov rovg oXiyoijwyovvTag. Vgl. die späteren
Krankengebetslormularicn von App. Const. VIII, 10 au; s. Biuterim, Denk-
würdigkeiten VI, 3 S. 17(1.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 1 05
sich die Ältesten der Gemeinde", heißt es im Jacobusbrief ^ —
ein deutlicher Beweis, daß die Hilfe in Krankheitsfällen als eine
Gemeindesache ^ angesehen wnrde. Dies geht auch aus dem
Polycarpbrief hervor, wo es von den Obliegenheiten der Altesten
heißt: „sie sollen das Verirrte zurückholen, für alle Kranken
sorgen und die AVitwen, Waisen und Armen nicht vernachlässigen^."
Genaueres erfahren wir von Justin. Er berichtet uns in seiner
Apologie*, daß die Christen sonntäglich freiwillige Gaben im
Gottesdienst darbringen: diese werden bei dem Vorsteher (dem
Bischof) niedergelegt, und „er verwendet diese Gaben für die
AVaisen und Witwen und für die, welche durch Krankheit oder
aus irgend einer anderen Ursache Mangel leiden." Dasselbe be-
richtet Tertullian im Apologeticus ^, besonders hervorhebend, daß
die Gemeinde für die arbeitsunfähigen Greise sorge. Wir erfahren
weiter durch Justin, daß es die Diakonen gewesen sind, welche
die Pflicht hatten, zu den Krauken zu gehen. — Spätestens gegen
Ende des 3. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Verehrung
heiliger Herren und Nothelfer imd mit der Erbauung von Mär-
tyrer- und Heiligen-Kapellen beginnt in der Kirche die voll-
kommene i^achahniung der Asculapkulte, um von Krankheiten
und Gebrechen geheilt zu werden. Auch die Incubation muß
schon damals — wenn nicht schon früher — ihren Anfang ge-
nommen haben, sonst könnte sie im 4. Jahrhundert nicht so ver-
breitet gewesen sein. In früherer Zeit hatten sie Kirchenlehrer
als einen heidnischen Brauch abgelehnt; aber, wie so oft in
ähnlichen Fällen — sie kam doch, nur mit veränderter Etikette.
Die Kirche hat ein festes Institut der Kranken- und
Armenpflege in frühester Zeit ausgebildet und mehrere Gene-
rationen hindurch in Wirksamkeit erhalten. Es >uhte auf der
breiten Grundlage der Gemeinde; es empfing seine Weihe aus dem
Gemeidegottesdienst, aber es war streng zentralisiert. Der Bischof
war der Oberleiter'', und in manchen Fällen — namentlich in
Syrien und Palästina — ist er wirklich zugleich Arzt gewesen'^;
1) C. 5, 14.
^) S. I Cor. 12, 26: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit."
3) C. 6. 1. — *) C. 67. — «) 0. 39. — ') Ap. Coust. 111, 4.
') Achelis, Die syrische Didaskalia (Texte u. Unters. Bd. 25, Heft 2,
1904) S. 381 sucht nachzuweisen, daß der Verfas.ser dieses Buchs Bischof und
Arzt zugleich gewesen ist. S. 383 zeigt er, daß ähnliche Kombinationen
nicht ganz selten gewesen sind (s. de Rossi, Roma Sott., tav. XXI, 9, Grab-
schrift aus San Callisto: Aiowoiov mtqov Jigsoßinegov — Zenobius, Arzt und
Märtyrer in Sidon zur Zeit Diocletians, Euseb., h. e. VIII, 13 — ein Arzt und
Bischof in Tiberias, Epiphan., haer. 30, 4 — Theodotus, Arzt und Bischof in
Laodicea Syr. — Basilius, episcopus artis medicinae gnarus, zu Ancyra,
1 06 Die Mis^sionspredigt in Wort und Tat.
seine ausführenden Organe waren die Diakonen und die angestellten
„Witwen". Die letzteren sollten zugleich vor Mangel geschützt
werden, indem sie in den Genieindedienst aufgenommen wurden ^.
Tn einer Anweisung aus dem 2. Jahrhundert heißt es'-: „In jeder
Gemeinde soll (mindestens) eine Witwe angestellt werden, um
den von Krankheiten heimgesuchten Frauen beizustehen^, die
dienstfertig sei, nüchtern, das Nötige den Presbytern meldend,
nicht gewinnsüchtig, nicht vielem Weingenuß ergeben, damit sie
nüchtern zu sein vermag für die nächtlichen Hilfeleistungen." Sie
soll „den Presbytern das Nötige" melden, d. h. sie soll dem Clerus
gegenüber Dienerin bleiben-^. Beiläufig bemerkt Tertullian
einmal tadelnd von den Weibern in den häretischen Gemein-
schaften: „sie wagen zu lehren, zu streiten, zu exorzisieren. Hei-
lungen zu versprechen, vielleicht auch zu taufen^." Ziemlich
frühe scheint im Orient das Institut der angestellten Witwen in
das der „Diakonissen" übergegangen zu sein: leider ist uns über
diesen Übergang und die Entstehung der Diakonissen-Institution
nichts bekannt ^.
In der ältesten Kirche traten die weiblichen Pfleger hinter
den männlichen sehr zurück. Die Diakonen waren die eigent-
lichen Helfer. Ihr Amt war schwer und. namentlich in den
Zeiten der A erfolgungen, sehr exponiert. Sie haben eine beti-ächt-
liche Anzahl zu den Märtyrern gestellt. „Täter guter Werke,
Tag und Nacht nach allem sehend", werden sie genannt '^. Die
Sorge für die Armen und Kranken war eine ihrer Hauptaufgaben ^.
Wie viel sie leisten muläten und was sie geleistet haben, erkennt
Hierou. , de vir. inl. 89, cf. Canones Hippol. c. :> § 18: im Ordinationsgebet
für den Bischof und Presbyter wird um die Gabe zu heilen gebetet; c. 8 § 53
wird vorausgesetzt, daß jemand, der die Ga))e der Krankenheihmg hat, den
Antrag stellt, daraufhin in den Klerus aufgenommen zu werden). Vgl. Texte
u. Unters. Bd. 8, Heft 4 8. 1 — 14: .Christliche Ärzte".
1) S. I 'i'im. ö, 16. — 2) S. Texte u. Unters. II. 5 S. -J:'..
'j „Üu aber. Witwe, die du ohne Zucht bist" — heißt es iu der Didasc.
syr. c. 15 S. 80 — . „du siehst wohl die Witwen, deine Genossinnen, oder
deine Brüder in Krankheit, al)er du kümmerst dich nicht um deine Glieder,
für sie zu fasten, zu beten, die Hand aufzulegen und sie zu besuchen, son-
dern du stellst dich selbst, als wärest du nicht gesund, oder als wärest du
nicht frei."
*) .S. Didasc. syr. c. 15 S. 79 f. — '>) De praescr. 41.
*) Sie werden zuerst im Pliniusbrief erwähnt.
') Texte u. Unters. II, 5 S. 24.
*) >S. Ep. Pseudoclem. ad Jacob. 12: Oi rij,- Ey.y.hjoiag diäy.ovoi rov fjti-
oy.fjJTOv ovreTÖJg {jf/ißoftsvoi l'nro)oav oq^Sa'/.uoi , ty.äozov rTjg gy.y./.tjaiag no}.v-
:r[Qay/iovodvTsg zag Troa^F.ig . . . rohg Ök >cara oaQxa voaovvrag /itavßavhoyoav xai
TM dyvoovvzi nh'iütt nQoaavrißaXlezoioav , IV e7iiqmlvo)vzai , xal zu ÖEOvza fJtl zf]
zov TiQoy.aOe^ofiivov yvojfnj .-raos/izMoav.
Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung. 107
man aus der Briefsammlung' Cyprians ^ und aus den echten
Märtyrerakten. Aber der Umstand , daß besondere Kranken-
pfleger vorhanden waren, sollte den Laien nicht entlasten. „Die
Ki-anken sind nicht zu vernachlässig-en, noch soll einer sagen:
ich habe das Dienen nicht gelernt. Niemand soll eine gemäch-
liche Lebensweise oder das Ungewohntem , anderen hilfreich zu
sein, vorschützen", heißt es im pseudojustinischen Brief an Zenas
und Serenus^. Daß sich die Nachfolge Christi im Krankendienst
zeigt, mit dem das „visitare pupillos et viduas" häufig zusammen-
gestellt wurde, wird besonders vom Verfasser des pseudoclemen-
tinischen Briefs de virginitate hervorgehoben. Dem Märtyrer
Seleucus wird von Eusebius^ das Zeugnis ausgestellt, daß er,
wie ein Vater und Beschützer, der Waisen und hilflosen Witwen
und der Armen und Kranken Bischof und Pfleger gewesen sei,
und \ie\e ähnliche Beispiele werden berichtet. Namentlich ent-
flammte die Pestzeit den barmherzigen Eifer vieler Christen.
„Siehe, wie sie einander lieben", hat Tertullian aus heidnischem
Mmide öfters gehört *, und Lucian bezeugt es ^.
Was die therapeutischen Methoden anlangt, so war es wie
heute: je weltflüchtiger und weltfeindlicher die Christen waren, um
so skeptischer und erbitterter waren sie auch gegen die übliche
Behandlungsweise (s. z. B. Tatians Oratio c. 17. 18). Es gab —
und nicht nur den Dämonischen gegenüber (s. den folgenden Ab-
schnitt) — eine therapeutische „Christian Science", aus neuem
und altem Aberglauben gemischt. Als eine Probe vergleiche man
Tertull., Scorpiace I : „Wir Christen machen über den gebissenen
Fuß sofort das Kreuzeszeichen, sprechen eine Beschwörung und
reiben ihn mit dem zerquetschten Tier ein." Das Kreuzeszeichen
und die Beschwörung? allein taten es also nicht.
1) Er ermahnt immer wieder in den Briefen, die er aus seinem Versteck
an die Gemeinde schrieb, die Kranken nicht zu vernachlässigen.
2) C. 17. — ») De mart. Pal. 11,22. — *; Apolog. -39.
°) Auf den Kampf, den die Kirche gegen die medizinischen Sünden,
z. B. die Fruchtabtreibung (Didache 2, 2, Barnab. 19, 5, Tertull., Apolog. 9,
Minucius 30,2, Athenag., Suppl. 35, Clem. , Paed. II, 10, 96 etc.), und gegen
die widernatürlichen, krankhaften Laster des Heidentums geführt hat, sei
nur im Vorübergehen hingewiesen. Die Kirche nahm hier in wahrhaft huma-
nem Sinne den Kampf auf; ihr stand der Wert und die Würde des mensch-
lichen Lebens fest, das in keiner Entwickelungs.stufe vernichtet oder ge-
schändet werden dürfe. In bezug auf diese Verbrechen hat sie auch vom
4. Jahrhundert an die Reichsgesetzgebung, die ihr übrigens im 3. Jahrhundert
bereits selbst entgegengekommen war, beeinflußt.
108 Die Misbionspredigt in Wort und Tat.
Drittes Kapitel.
Fortsetzung: Der Kampf gegen die Dämonen ^
In den ersten Jahrhunderten ist der Glaube an Dämonen
und ihre Herrschaft in der Welt weit verbreitet gewesen. Dem-
gemäß glaubte man auch an dämonische Besessenheit, und folge-
recht nahm auch der ^Yahnsinn häufig die Form an, daß die
Kranken sich von einem oder mehreren bösen Geistern besessen
glaubten. Diese Form des AVahnsinns kommt auch heute noch
vor. ist aber selten, weil in weiten Kreisen der Glaube an die
Existenz imd Wirksamkeit von Dämonen erloschen ist. Die Er-
scheinungsformen aber, in denen der AYahnsinn sich ausprägt,
sind stets abhängig von dem allgemeinen Zustande der Kultur
und den Vorstellungen der Gesellschaft. Wo das religiöse Leben
noch erregt ist, und wo zugleich ein starker Glaube an die im-
heimliche Tätigkeit böser Geister herrscht, da bricht auch jetzt
noch sporadisch die .^Besessenheit" aus. ]S^euere Fälle haben
sogar gezeigt, daß ein überzeugter „Geisterbeschwörer", nament-
lich ein religiöser, in seiner Umgebung unfreiwillig „Besessenheit"
erst hervorruft, um sie dann zu heilen. Auch wirkt die „Besessen-
heit" ansteckend. Ist erst ein Fall der Art in einer Gemeinschaft
vorgekommen und bringt der Kranke selbst oder gar der Priester
denselben in Zusammenhang mit der allgemeinen mid besonderen
Sündhaftigkeit, predigt er darüber und richtet erschütternde Worte
an die Gemeinde, verkündet er, daß hier wirklich der Teufel sein
Spiel treibe, so folgt dem ersten Fall bald ein zweiter und
dritter-. Dabei treten die wunderbarsten, im einzelnen noch
vielfach unerklärten Erscheinungen ein. Das Bewußtsein des
Kranken, sein Wille und seine Aktionssphäre verdoppeln sich.
Mit vollster subjektiver Wahrhaftigkeit — Schwindeleien laufen
natürlich immer mit unter — fühlt er sich selbst und dazu ein
M Nach derselben Abhandlung, welcher der vorige Abschnitt größten-
teils entnommen ist. Vgl. hierzu Weinel, Die Wirkungen des Geistes und
der Geister im nachapostolischen Zeitalter (1899) S. 1 ff. und den Artikel
^Dämonische"' in der Protest. REncykl. Bd. 4^' (J, Weiss).
-) Wie die krankliaften geistigen Zustände, besonders die Visionen,
welche die Christen in den Gemeindeversammlungen befielen, von der eben
gehörten Predigt abhängig waren, dafür bietet Tertulliau, de anima 9, ein
schönes 15eispiel. Kine Schwester, erzählt er, sah in der Vision eine Seele in
leiblicher Gestalt, nachdem Tertullian eben über die Seele (und zwar wahr-
scheinlich über die Körperlichkeit der Seele) gepredigt hatte. Er fügt ganz
unbefangen selb.st hinzu, daß die Visionen ihren Inhalt aus der eben gehörten
Schriftverlesung, aus Psalmen und aus den Predigten zu erhalten pflegen.
Der Kampf aoc^cii die Dämonen. |09
zweitos Wesen in sich, welches ihn zwingt und beherrscht. Er
denkt, fühlt, handelt bald als der eine, bald als der andere, und
von der Überzeugung, ein Doppelwesen zu sein, durchdrungen,
bestärkt er sich selbst und seine Umgebimg durch ersonnene,
wenn auch innerlich erzwungene. Handlungen in diesem (jjauben.
Abgenötigter Selbstbeti'ug. schlaue Aktivität imd hilfloseste Passi-
vität sind in miheimlicher Weise verbunden und vollenden das
Bild einer seelischen Krankheit, die in der Regel auch die höchste
Empfänglichkeit für die „Suggestion" zeigt und deshalb zur Zeit
häufig noch einer wissenschaftlichen Analyse spottet, es jedem
freilassend, besondere geheimnisvolle Kräfte hier wirksam zu
denken. Es gibt auf diesem Gebiete Tatsachen, die man nicht
wegleugnen kann und doch nicht zu erklären vermag ^ Aber
noch mehr: es gibt hier „Krankheiten", von denen um- die IH^er-
menschen befallen werden, und sie schöpfen aus dieser „Krank-
heit" ein bisher ungeahntes neues Leben, eine alle Hemmnisse
niederwerfende Energie und den Eifer des Propheten oder Apostels.
Ton dieser „Besessenheit" ist hier nicht die Rede; denn sie be-
steht nur für den Glauben oder L'nglauben.
Wo die Krankheit bei Menschen gewöhnlichen Schlages mid
im Zusammenhang mit der Religion auftritt, da ist die Prognose
keine ungünstige. Die Religion, welche sie zur Reife bringt,
vermag sie in der Regel auch zu heilen. Vor allem der christ-
lichen Religion wohnt diese Kraft inne. Wo ein leeres oder
sündhaftes, fast dem Tode verfallenes Leben plötzlich durch die
Predigt dieser Religion erweckt wird und der Schrecken über
die Knechtschaft des Bösen in die Vorstellung wirklicher Besessen-
heit übergeht, da wird die Botschaft von der Gnade Gottes, die
in Jesus Christus erschienen ist, die gebundene Seele wieder be-
freien. Die Blätter der Kirchengeschichte vom Anfang bis auf
den heutigen Tag legen dafür Zeugnis ab. Wenn sie in unserer
Zeit nur mit wenigen Zeilen, in den ersten drei Jahrhunderten
bis zum Rande beschrieben sind, so ist der Grund nicht in den
selteneren Heilungen, sondern in dem selteneren Auftreten der
Krankheit zu suchen.
Die bloße Botschaft, die christliche Predigt allein, genügt
freilich nicht, um die Ki'ankheit zu heilen. Hinter ihr muß ein
überzeugter Glaube, eine von diesem Glauben getragene Person
^) Vgl. das Lebensbild Blumhards von Zündel (1881), Ribot, Las
maladies de la personnalite, Paris 1885, Derselbe, Les tnaladies de la
memoire, Paris 1881, und Les maladies de la volonte, Paris 1883. S. auch
das Werk von Jundt, Rulman Merswin. Un probleme de psychologie reli-
gieuse, Paris 1890, besonders p. 96ff. , ferner die Untersuchungen von Forel
und Krafft-Ebins".
110 Die Missiouspredigt in Wort uud Tat.
stehen. Nicht das Gebet heilt, sondern der Beter, nicht die
Formel, sondern der Geist, nicht der Exorzismus, sondern der
Exorzist. Nur wo die Krankheit, wie wir das von nicht wenigen
Fällen des 2. Jahrhunderts voraussetzen müssen, epidemisch imd
fast gewöluilich geworden ist, ja sogar etwas Konventionelles be-
kommen hat, da genügen auch konventionelle Mittel. Der Exorzist
wird zum Magnetiseur, wohl auch zum betrogenen Betrüger.
Aber wo eine starke Individualität vom Dämon des Schreckens
um sich selber betrogen wird und die Seele wirklich erschüttert
ist durch die Macht der Finsternis, die sie besitzt, und der sie
doch bereits entfliehen wnll, da muß ein starker heiliger AVille
von außen den gebundenen Willen befreien. Dort und hier
handelt es sich um das. was man aus Verlegenheit in neuerer
Zeit „Suggestion" nennt; aber anders „suggeriert" der Prophet,
anders der professionelle Exorzist.
Der Glaube an die Wirksamkeit der Dämonen hat sich in
der Form, wie wir ihn in den jüngsten Büchern des griechischen
Alten Testaments, im Neuen Testament und in den jüdischen
Schriften der Kaiserzeit finden, verhältnismäßig spät bei den Juden
entwickelt. Damals aber stand er in vollster Blüte ^. Um die-
selbe Zeit begann er auch bei den Griechen und Römern über-
hand zu nehmen. Es ist bisher noch nicht erklärt worden, wie
diese dazu gekommen sind. Daß die Form des Dämonenglaubens,
wie wir sie vom 2. Jahrhundert an überall im Reiche verbreitet
finden, lediglich auf jüdische oder gar auf christliche Einflüsse
zurückzuführen sei, ist unmöglich. Aber ihren Beitrag zur Ein-
bürgerung des Glaubens, oder richtiger zur Faitwicklung des alt-
griechischen und dann auch von den IMiilosophen (Plato) genährten
Geisterglaubens in einer ganz bestimmten Richtung mögen diese
Religionen ebenso geliefert haben, wie andere orientalische, vor
allem die ägyptische^, deren Priester von alten Zeiten her be-
rühmte Exorzisten waren. Im zweiten Jahrhundert gab es einen
Stand von Exorzisten, wie es heute neben den gelehrten Ärzten
„Naturärzte" gibt. Aber verständige Leute waren doch skeptisch,
und der große Jurist Hlpian — es war dies damals eine ebenso
brennende Frage wi(5 h(uite — wollte sie nicht in den Stand der
*) S. die interessante Stelle Joseph. Antiq. Vlll, 2,5: Tlagioxe ^o/.oftwvi
fiaOnv (') t)e(K xal Trjv xatn rwv daifiövcov ti^vip' slg wffsXeiav xal 'dfQansiav
loig dvdfjwjioig ' fjkoSÜi; te awru^äfievog aig JiaQt]yoQÜTai ra voorjfiaTa xai t()o-
jiovg i^0£)xwo£(ov y.arihMFV, oTg oi evöov/Jfvoi xa (iai/iövia cbg (.irjxET gjiaveh'Jfii'
Fxbioj^ovoi. xal uikrj fiexQt vvv Jiag'' r/fiTv r/ ösQaneia nXeiaro^' lap'ii. Man
vergleiche die Geschichte, die nun folgt. Die Juden müssen im Reiche als
Exorzisten bekannt gewesen sein.
'^) Auch die persische.
Der K;ini})t' gegeu die Dämonen. \\l
Ärzte eingcreelinet wissen; freilich war es ihm sogar zweifelhaft,
ob die „Spezialisten" Arzte im Sinne des Gesetzes seiend
Das Eigentümliche des Dämonenglaubens- im 2. Jahrhundert
besteht erstlich darin, daß er aus den dunklen unteren
Schichten in die oberen, selbst in die Literatur, empordringt
und eine ungleich wichtigere Sache wird als ehedem, zweitens
daß er keine kräftige naive öffentliche Religion mehr
neben sich hat, die ihn niederhält, ferner daß die bisher als
sittlich indiiferent gedachte Macht des Dämon sich in die Vor-
stellung von der Schlechtigkeit desselben wandelt, und endlich in
der individuellen Applikation des neuen Glaubens, die dann
auch die seelischen Krankheiten zu ihrer Folge hatte. Faßt man
diese Momente zusammen, so sind die außerordentliche Verbreitung
des Dämonenglaubens und die zahlreichen Ausbrüche der dämo-
nischen Krankheit auf das Zusammenwirken der bekannten Tat-
sachen zurückzuführen, daß in der Kaiserzeit das Zutrauen zu den
alten Keligionen dahinschwand, das Individuum aber als freies
und abhängiges sich zu fühlen begann und darum auch auf seinen
eigenen Kern und die eigene Verantwortimg stieß. Von keiner
Überlieferung mehr gezügelt und gehalten, irrt es unter den zu
leblosen Fragmenten gewordenen, zusammengewürfelten Über-
lieferungen einer im Untergang begrifiFenen Welt umher, bald
diese, bald jene hervorsuchend, um schließlich oft, von Furcht
und Hoffnung getrieben, am Absurdesten einen trügerischen Halt
zu finden oder an ihm zu erkranken^.
In diese Situation ist das Evangelium eingetreten. Spottend
hat man gesagt, es habe erst die Krankheiten erzeugt, die es zu
heilen verkündete. Aber der Spott, in einzelnen Fällen berechtigt,
fällt in der Hauptsache auf den Spötter zurück. Das Evangelium
hat die Krankheiten zur Reife gebracht, die es dann geheilt hat.
Es fand sie vor und hat sie durch seine eigene Mission gesteigert.
Aber es hat sie auch geheilt, und die kühnste Phantasie vermag
sich kein Bild zu machen, was aus dem Reiche des 3. Jahrhundets,
was aus der alten Welt geworden wäre ohne die Kirche. Pro-
fessoren wie Libanius oder wie seine Kollegen an der Hochschule
') S. die merkwürdige Stelle Dig. L, XIII, c. 1, § 3: „Medicos fortassis
quis accipiet etiam eos, qui alicuius partis corporis vel certi doloris Sani-
tätern pollicentur: ut puta si auricularis, si fistula vel dentium, non tarnen
si incantavit, si inprecatus est, si, ut vulgari verbo inpostorum utar, exorci-
zavit: non sunt ista medicinae genera, tametsi siut, qui hos sibi profuisse
cum praedicatione adfirmant."
^) Die wissenschaftliche (philosophische) Grundlegung und Ausführung
des Dämonenglaubens geht auf Xenocrates zurück ; nach ihm ist Posidonius
besonders zu nennen, vgl. Apulejus, de deo Socratis.
') Von einer ^aocpia öaifioviwötjg^ redet der Jacobusbrief (3, 15).
112 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
zu Atlion sind freilicli unsterblich, und sie können sich, wesentlich
unverändert, in allen Jahrhunderten erhalten; aber Völker leben
nicht von der Kost der Rhetoren und Philosophen. Das alte Rom
hat beim Ausgang des 4. Jahrhunderts nur einen Symmachus be-
sessen, der Osten nur einen Synesius, aber Synesius wurde Christ.
Tch beabsichtige, im folgenden einige wichtige Nachrichten
über die Besessenheit und die Heilung von Besessenen, die uns
aus der alten Kirchengeschichte erhalten sind, ohne Kommentar
zusammenzustellen. An einer Stelle werde ich ein Bild geben
von der Yerbreitung und der Art des Dämonenglaubens. Tertullian
hat es gezeichnet; man tut nicht gut, an Tertullian vorüberzugehen.
Um den Wert, welchen die Exorzismen für die älteste Christen-
heit besaßen, zu würdigen, muß man sich erinnern, daß nach dem
Glauben der Christen der Sohn Gottes in die Welt gekommen
ist, um den Satan und sein Reich zu bekämpfen. Die Evangelisten,
besonders Lucas, haben das Leben Jesu von der Yersuchungs-
geschichte an als unaufhörlichen Kampf gegen den Teufel ge-
schildert: er ist gekommen, um die Werke des Teufels zu zerstören.
Tm Marcus-Evangelium heißt es (1, 32). man habe viele Besessene
zu Jesus gebracht, und er habe sie geheilt, indem er die Dämonen
austrieb (1, 34). „Er ließ die Dämonen nicht reden: denn sie
kannten ihn" (vgl. auch Luc. 4, 34. 41). Generell wird (l, 39)
erzählt: ,,Er predigte in den Synagogen in ganz Galiläa imd trieb
die Dämonen aus." Den zwölf Jüngern verlieh er bei der Aus-
sendung die Macht des Exorzismus (3, 15), die sie auch sofort
ausübten (ß, 13: vgl. für die 70 Jünger Luc. 10, 17): aber die jeru-
salemischen Schriftgelehrten sagen von ihm, daß er den Beelze-
bul habe^ und die Dämonen durch den Obersten der Dämonen
austreibe (3, 22) -. Die Geschichte von den „unsauberen Geistern",
die in die Herde Säue fahren, ist hinreichend bekannt (5, 2 ff.):
sie bildet eines der seltsamsten Stücke der heiligen Geschichte,
an dem sich die gläubige und rationalistische Erklärung vergebens
abgemüht hat. Eine andere uns näher berührende Geschichte ist
die von d(;r besessenen Tochter des kananäischen Weibes (7. 25 ff.).
Daß auch epileptische Krämpfe als Besessenheit gedeutet wurden,
sowie andere neivöse Störungen (auch Stumndicit, s. Matth. 12,22:
J.uc. II. 14), zeigt die Erzählung Matth. 17. 15 ff. (Luc. 9,38).
bemerkenswert ist, daß schon bei Lebzeiten Jesu Exorzisten,
ohne von ihm besonders autorisiert zu sein, in seinem Namen
Teufel beschworen. Das hat Anlaß zu einem wichtigen Gespräch
') Auch vou .lohannes dem Tilufer hieß es, er sei besessen; s. Matth. 11, 18.
") Jesus sell)st erklärt, daß er die Dämonen durch den Geist Gottes
austreibe. Matth. 12,28; aber der Vorwurf scheint öfters wiederholt worden
zu sein, daß er den Teufel habe und rase; s. Joh. 7,20; 8, 48 f.; 10,20.
Der Kampf gegen die Dämonen. [\^
zwischen Jesus und Johannes gegeben (Marc. 9, 38) : „Johannes
sprach zai Jesus: Meister, wir sahen einen, der in deinem Namen
Dämonen austrieb, und wir wehrten es ihm, weil er uns nicht
nachfolgte. Jesus aber antwortete: Wehret ihm nicht; denn es
ist niemand, der eine Krafttat tut in meinem Namen und mich
alsbald schmähet: denn wer nicht wider uns ist. der ist füi' uns."
Aber andererseits gibt es nach einem anderen Herrnwort unter
denen, die in seinem Namen Teufel austreiben, solche, die er nie
erkannt hat (Matth. 7, 22). Von einer der Frauen in der Be-
gleitimg Jesu war auch später noch bekannt, daß er ihr „sieben
Dämonen" ausgetrieben hatte (Marc. 16, 9; Luc. 8, 2), und unter
die Krafttaten, mit denen alle Gläubigen ausgerüstet werden
sollten, zählte man nach dem unechten Schluß des Marcus-Evan-
geliums auch den Exorzismus (16, 17)^.
Als Dämonenbeschwörer sind die Christen in die große Welt
eingetreten, und die Beschwörung war ein sehr wichtiges
Mittel der Mission und Propaganda. Es handelte sich
dabei um die Beschwörung und Besiegung der in den
einzelnen Menschen wohnenden Dämonen, aber auch
um die Reinigung des ganzen öffentlichen Lebens von
ihnen. Denn das Saeculum steht unter der Herrschaft
des Schwarzen und seiner Scharen (Barnabas); xsTrai Iv
Tiovfjocp (Johannes). Das war keine blasse Theorie, sondern
lebendigste Anschauung. Die ganze Welt und der Luftraum,
der sie umgibt, ist von Teufeln erfüllt; alle Formen des Lebens
— nicht nur der Götzendienst — sind von ihnen beherrscht. Sie
sitzen auf den Thronen und umschweben die Wiege des Kindes.
Die Erde ist recht eigentlich eine Hölle geworden, obgleich sie
Schöpfung Gottes ist und bleibt. Aber dieser Hölle und den
Teufeln gegenüber verfügen die Christen über unbezwingliche
Waffen. Neben dem Beweise, den sie aus dem Alter ihrer
Schriften führten, verwiesen sie auf die ihnen verliehene Kraft des
Exorzismus, der die bösen Geister in die Flucht schlage und sie
sogar zwinge, für die Wahrheit ihrer Religion Zeugnis zu geben.
„AVir haben", sagt Tertullian am Schluß des Apologeticus (c. 46),
„euch imseren ganzen Zustand dargelegt und auch die Beweise
für- die Wahrheit unserer Sache, nämlich die Glaubwürdigkeit
und das Altertum der göttlichen Schriften und zweitens
das Geständnis der dämonischen Mächte (für uns)." Ein
solches Gewicht legte man auf die Tätigkeit der Exorzisten^!
^) Er ist hier sogar als erstes Stück genannt.
-) In dem j^seudoclementinischen Brief .über die Jungfräulichkeit"
sind Schriftvorlesung, Exorzismus und Lehre als die Avichtigsten religiösen
Funktionen zusammengestellt (1. 10).
Harnack, Mission. 2. Aufl. 8
] 1 4 Die Mi.ssionspredigt in Wort uud Tat.
In den Paulusbriefcn ^ in dem Briefe des Plinius und in der
Didache ist von ihnen allerdings nicht die Rede"^. Aber seit der
Zeit Justins ist die christhche Literatur angefüllt von den Hin-
weisen auf die Dämonenbeschwörungen, und mindestens jede
o-rößere Gemeinde besaß Exorzisten, die ursprünghch als be-
sonders begnadigte Menschen angesehen \\aii'den, später aber einen
eigenen Stand in der niederen Hierarchie neben den Lektoren
und Subdiakonen bildeten. Indem sie zu einem eigenen Stande
wm-den. hörten sie auf, das zu sein, was sie früher gewesen
waren ^. Die Kirche zog eine feste Grenze zwischen ihren Exor-
zisten, die im Namen Christi handelten, und den heidnischen
Magiern, Zauberern u. dgl. ^ Dennoch vermochte sie sich gegen
gewinnsüchtige Schwindler nicht genügend zu schützen, und
manche ihrer Exorzisten waren ebenso zweideutige Leute wie
ihre „Propheten". Die hohe Schule religiöser Schwindeleien war
in Ägvpten, worüber sowohl Lucians „Peregrinus Proteus" als
Cclsus und der Brief des Hadrian an den Servian belehren^.
Sehr frühe schon haben heidnische Beschwörer den Xamen der
Patriarchen^. Salomos, ja sogar Jesu Christi in ihre Zauber-
formeln aufgenommen: auch jüdische Exorzisten fingen bald an.
den Namen Jesu in ihre Sprüche einzuflechten ". L'mgekehrt
1) Doch s. Ephes. 6, 12: II Cor. 12, 7 usw.
-) Es ist bisher unerklärt. dal.i bei Paulus die Dämouenbeschwörungen
fehlen. Übrigens ist seine Sündenlehre ihnen nicht günstig.
') Die Geschichte des Exorzismus (bei der Taufe und als selbständige
Handlung) und der Exorzisten ist viel zu umfangreich und zum Teil noch
zu wenig erforscht, um hier abgehandelt werden zu können. Von den sog.
Zauberpapyri, die in immer größerer Anzahl auftauchen, ist noch manches
zu erwarten. Insofern Exorzismus uud Exorzisten in das öffentliche Leben
der Kirche fielen, vgl. Probst, Sakramente und Sakramentalieu S. 39ft'.:
Kii-chliche Disziplin S. 116 ff.
*) Vgl. die Apologeten, die Schrift des Origenes c. Celsum und die
Bestimmung in den Canones Hippolyti (Texte u. untersuch. VI, 4 S. 83f.):
„ Otco)'«oT>;c vel magus vel astrologus, hariolus, somniorum interpres, prae-
stigiator . . . vel qui phylacteria conticit . . . hi omnes et qui sunt similes
his neque instruendi neque baptizandi sunt." Vgl. auch die Polemik gegen
die magischen Künste der Gnostiker.
^) Vopiscus, Saturn. 8: „nemo illic archisynagogus Judacorum, nemo
Samarites, nemo Ohristianorum presbyter. non mathematicus , non haruspex,
uon aliptes."
«) S. Orig. c. Cels. I, 22.
■') S. den Bericht über jüdische Exorzisten in der Apostelgeschichte
(19,13): „Es unterwanden sich aber auch etliche der umlaufenden jüdischen
Beschwörer (in Ephesus), den Namen des Herrn Jesus über die von bösen
Geistern Besessenen auszusprechen, indem sie sagten: Ich beschwöre euch
bei dem Jesus, den Paulus verkündigt." — Pseudocyprian, de rebapt. 7. räumt
ein, daß auch Nichtchristen Dämonen manchmal wirksam mit dem Namen
Christi austreiben.
Der Kampf gegen die Dämonen. | 15
mußte die Kirche ihre eigenen Exorzisten ermahnen, es nicht den
Heiden nachzumachen. In dem pseudoclementinischen Briefe
„über die Jungfräulichkeit" heißt es (I, 12): „Auch dies ziemt
den Brüdern in Christo und ist gerecht und ihnen rühmlich, daß
sie die besuchen, die von bösen Geistern gequält werden, und
beten und Beschwörungen über sie in geziemender AYeise anstellen
in Bittworten, die vor Gott angenehm sind, nicht aber in glän-
zenden imd langen Reden, wohlgesetzt mid ausstudiert, um vor
den Menschen als beredt und mit einem guten Gedächtnis begabt
zu erscheinen. Solche Menschen gleichen in ihrem Geschwätz
einem tönenden Erz oder einer klingenden Schelle und nützen
denen nichts, über die sie ihre Beschwörmigen anstellen, sondern
bringen nur schreckliche Worte hervor, mit denen sie die Leute
in Furcht jagen, nicht aber handeln sie mit wahrem Glauben
nach der Lehre des Herrn, der gesagt hat: ,Diese Art fährt nicht
aus demi durch Fasten und festes und unablässiges Gebet und
durch die Anspannimg des Gemüts (auf Gott).' So mögen sie
also heiliges Flehen und Beten zu Gott richten mit Freudigkeit
und aller Nüchternheit und Keuschheit, ohne Haß und ohne Bos-
heit. So sollen wir die kranken (besessenen) Brüder und
Schwestern besuchen . . . ohne Falsch und ohne Geldgier und
Gepränge und ohne Geschwätz und ohne Yielgeschäftigkeit. welche
der Frömmigkeit fremd ist, und ohne Stolz, sondern mit dem
demütigen mid bescheidenen Simi Christi. So mögen sie die
Kranken also mit Fasten und Gebet exorzisieren , nicht aber mit
eleganten, gelehrt zusammengestellten und wohldisponierten Reden,
sondern wie Menschen, die von Gott das Charisma der Heilung
erhalten haben, zuversichtlich, zum Lobe Gottes. Durch euer
Fasten und durch Flehen mid beständige Nachtwachen und durch
die anderen guten Werke, die ihr tut. tötet die Werke des
Fleisches durch die Kraft des heiligen Geistes. Wer so handelt,
der ist ein Tempel des heiligen Geistes Gottes: ein solcher möge
die Dämonen austreiben, und Gott wird ihm dabei helfen. . . .
Der Herr hat befohlen: .Treibt die Dämonen aus', und hat die
Anweisvmg gegeben, auch sonst zu heilen, und dazu gesprochen:
,Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es.' Ein großer
Lohn von Gott wartet derer, die so handeln, die da dienen den
Brüdern mit den Charismen, die ihnen vom Herrn geschenkt sind."
Justin schreibt (Apol. H, 6): „(Der Sohn Gottes ist Mensch
geworden zur Yernichtung der Dämonen). Hir könnt das er-
kennen aus dem, was unter euren eigenen Augen vorgeht. Denn
viele von den Unsrigen, den Christen, haben eine große Anzahl
Besessener in der ganzen Welt und in eurer Stadt (Rom) durch
Beschwörung: beim Namen Jesu Christi, des unter Pontus Pilatus
1 I Q Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Gekreuzigten, geheilt, während sie von allen anderen Beschwörern
und Zauberern und Arzneimisehern nicht geheilt worden w^aren;
sie heilen sie auch jetzt noch fort und fort, indem sie die Dämonen,
von denen diese Menschen besessen sind, zu nichte machen und
austreiben.-' In seinem Dialoge gegen die Juden (c. 85) schreibt
derselbe Justin: „Jeder Dämon, der beschworen wird bei dem
Namen des Sohnes Gottes und des Erstgeborenen vor aller Kreatur,
des durch eine Jungfrau Geborenen, des zum leidensfähigen
Menschen Gewordenen und Gekreuzigten unter Pontius Pilatus
von eurem Volke und Gestorbenen und von den Toten Auf-
erstandenen und zum Himmel Aufgestiegenen — bei diesem
Namen wird jeder Dämon besiegt und überwunden. Wenn ihr
aber bei allen Namen der Könige oder Gerechten oder Propheten
oder Patriarchen, die bei euch gewesen sind, Beschwörungen
anstellt, so wird doch kein einziger Dämon überwunden werden . . .
Bereits bedienen sich eure Exorzisten, wie auch die Heiden, einer
besonderen Kunst vmd wenden Räucherwerk an und magische
Bande." Aus dieser Stelle geht hervor, daß die christlichen Be-
schwörungsformeln die Hauptstücke der Geschichte Christi ent-
hielten^, und dies sagt Origenes in der Schrift gegen Celsus (I, 6)
mit aller Deutlichkeit: „Die Kraft des Exorzismus liegt in dem
Namen Jesu, der ausgesprochen wird, indem zugleich die
Geschichten von ihm verkündigt werden^."
Sehr skeptisch wird man freilich gestimmt, wenn man liest,
daß die christlichen Parteien unter einander sich die Kraft des
Exorzismus absprachen und die Heilungen für Irrtum oder
Täuschungen erklärten. So schreibt Trenäus (11,31,2): „Die
Anhänger des Simon und Carpocrates und die übrigen angeblichen
Wundertäter werden überführt, daß sie nicht in der Kraft Gottes,
noch in Wahrheit, noch zum Segen der Menschen das tun, w^as
sie tvm, sondern zum Verderben und zur Verführung durch
magische Täuschungen und jeglichen Trug, mehr schadend als
nützend denen, die ihnen glauben, weil sie Verführer sind. Denn
weder können sie Blinden das Gesicht schenken, noch Tauben
das Gehör, noch alle Dämonen in die Flucht schlagen, mit Aus-
nahme derer, die sie selbst gesandt haben, wenn anders sie das
vermögen ■\" In bezug auf die eigene Gemeinde aber hat sich
') Das wichtigste Stück iu der Beschwörungsformel war die Erwähnung
des Kreuzestodes, s. Justin, Dialog. 30. 49. 7ü.
-) 'loyvsiv fioxovai .... töj oi'ö^mTi 'I/noov /iifTa t/;? e.-rayys/Jag iwr .ifoi
aviov ioTOotcöv.
^) Man vgl. dazu die traurigen Versuche der Großkirche in Asien, die
montanistischen Prophetinnen als Dämonische zu betrachten und zu be-
schwören. Die Versuche mißglückten aber. Zu vergleichen ist hierzu der
Der Kampf gegen die Dämonen. ]{"
Irenäus (a. a. ().) davon überzeugt, das selbst Tote von ihren
Mitgliedern erweckt werden. Hier, behauptet er, sei nichts Schein
oder Irrtum und Trug, sondern, wie bei dem Herrn selbst, das
Außerordentlichste Wahrheit. „In Jesu Namen üben seine wahren
Jünger, die von ihm die Gnade empfangen haben, eine heil-
bringende Wirksamkeit zum Wohle der anderen Menschen aus,
je nachdem sie das Gnadengeschenk von ihm erhalten haben.
Denn die einen treiben die Dämonen aus gewiß und wahrhaftig;
oftmals ereignet es sich dann, daß die, welche von den bösen
Geistern gereinigt worden sind, den Glauben annehmen und
Glieder der Kirche werden ^ Die anderen haben auch eine
Vorkenntnis künftiger Dinge und Gesichte und prophetische
Sprüche . . . Nicht zu zählen ist die Zahl der Segnungen, welche
in der ganzen Welt die Kirche, sie von Gott empfangend, im
Namen Jesu Christi, des unter Pontus Pilatus Gekreuzigten,
Tag für Tag zum Heile der Heidenwelt vollbringt, ohne
jemanden zu täuschen oder Geld zu verlangen. Denn wie sie
umsonst empfangen hat von Gott, so dient sie auch damit umsonst"
(larool ävdgyvQoi).
Die populäre Vorstellung der ältesten Christen, wie der
späteren Juden, war die, daß abgesehen von der zahllosen Menge
der Dämonen, die in der Natur und in der Geschichte ihr ver-
wegenes Spiel treiben, ein jeder einen guten Engel zur Seite hat,
der über ihn wacht, und einen bösen Geist, der auf ihn lauert^.
Läßt er sich von diesem leiten, so ist er eigentlich schon „be-
sessen", d. h. die Sünde selbst ist „Besessenheit". Die sklavische
Abhängigkeit, in welche der Mensch gerät, der sich seinen Trieben
überläßt, ist gut beobachtet, aber die Deutung ist naiv. An dem
Dämonenglauben, wie er die christliche Welt im 2. und 3. Jahr-
hundert beherrscht hat, lassen sich leicht die Züge nachweisen,
die ihn zu einer reaktionären, die Kultur bedrohenden Erscheinung-
Stempeln. Aber man darf doch nicht vergessen, daß er in seinem
Kern einen sittlichen mid darum auch einen geistigen Fortschritt
Bericht Firmiliaus (Cypr., ep. 75, 10) über eine christliche Frau, die sieh als
Prophetin fühlte und viele „verführte": „subito apparuit illi unus de exor-
cistis, vir probatus et circa religiosam disciplinam bene semper conversatus,
qui exhortatione quoque fratrum plurimorum qui et ipsi fortes ac laudabiles
in fide aderant excitatus erexit se contra illum spiritum uequam reviucen-
dum ille exorcista inspiratus dei gratia fortiter restitit et esse illum
nequissimum spiritum qui prius sanctus putabatur ostendit.'"
') Doch scheint es im 3. Jahrhundert zum Vorwm-f gemacht worden zu
sein, an Besessenheit gelitten zu haben. Cornelius wirft es Novatian (bei
Euseb. , h. e. VI, 43) vor, daß er vor seiner Taufe besessen gewesen und von
einem Exorzisten geheilt worden sei.
*) S. z. B. den Hirten des Hermas.
1 1 S Die Missionspredigt in Wort und Tat.
barg: die Aufmerksamkeit auf das Böse und die Erkenntnis der
Macht der Sünde und ihrer Herrschaft in der Welt. Deshalb
hat auch ein so hochgebildeter Geist wie Tertullian sich ganz
dem Dämonenglauben hingegeben. Es ist interessant zu sehen,
wie sich in seiner ausführlichen Darstellung desselben (in dem
Apologeticus) die griechisch-römischen und die jüdisch-christlichen
Elemente verbunden haben. Ich setze seine Ausführung voll-
ständig hierher. Sie steht in dem Zusammenhang des Nachweises,
daß hinter den toten Götzen aus Holz und Stein die Dämonen
stecken, die aber, von den Christen gezwungen, sich als das be-
kennen müssen, was sie sind, nämlich als unreine Geister, nicht
als Götter. An einigen Stellen klingt schon der Ton der Ironie
und des Spotts über diese „armen Teufel" an, der im Mittelalter
so kräftig wurde, ohne doch den Dämonenglauben zu erschüttern.
Aber im ganzen ist die Darstellung h()chst ernsthaft. Mit welchen
Koeffizienten das alte Christentum l)elastet gewesen ist, mögen
die lernen, welche heute träumen, sie besäßen es, wenn sie nur
einige alte Glaubensformeln in Kraft erhielten ^ :
„Wir Christen behaupten (c. 2H f.) die Existenz gewisser
geistiger Wesen. Auch der Name ist nicht neu. Die Philo-
sophen kennen die Dämonen, da Socrates selbst die Willens-
meinung eines Dämoniums abwartote. Natürlich ! Soll ihn doch
auch ein Dämonium von Kindheit an begleitet haben — versteht
sich ein vom Guten abmahnender Geist! Alle Dichter kennen
sie ; auch das ungebildete Volk nennt sie häufig beim Fluchen.
Denn auch , Satanas' — den Fürsten dieser schlimmen Gesellschaft
— ruft es bei eben diesen Verwünschungen aus ; der Seele ist
die Kunde von ihm angeboren. Auch die Existenz von Engeln
hat selbst Plato nicht geleugnet. Für beide Arten geistiger
Wesen stehen sogar die Magier ein. Allein (nur) aus den
heiligen Schriften läßt sich der Hergang erkennen, wie aus ge-
') Neben Tertullian ist es der ältere Tatiau gewesen, der in seiner
.,Rede an die Griechen" c. 7 — 18 die genaueste Darlegung der christlichen
Därnonenlehre gegeben hat. Die Dämonen haben das .,Fatum" eingeführt
und den l'olytheismus. Für die Gläubigen, resp. die pneumatischen Menschen
sind sie sichtbar; die „Psychiker" vermögen sie nicht zu sehen, oder doch
nur ausnahmsweise (15. 16). Die Krankheiten stammen aus den Körpern;
aber die Dämonen schreiben sich die Ursache davon zu. „Bisweilen aller-
dings erschüttern sie selbst im Sturm ihrer unverbesserlichen Bosheit den
Zustand des Leibes; doch trifft sie ein Machtwort Gottes, so erschrecken sie,
fliehen davon, und der Kranke wird geheilt" (16 extr.). Übrigens leugnet
Tatian nicht, dalä Besessene manchmal auch ohne Beihilfe der Christen ge-
heilt werden. — Auch in den pseudoclementinischen Homilien (IX, 10. 16—18)
stehen wichtige Mitteilungen über die Dämonen. Vgl. zu dem christlichen
Därnonenglaubeu Diels, ,Elementum", 1899, namentlich S. 50 tf.
Der Kampf gogeu die Dämonen. 1 ] <)
wissen Engeln, die durch eigene Schuld verdorben sind, ein noch
verdorbeneres Geschlecht von Dämonen geworden ist, das von
Gott samt den Urhebern des Geschlechts und mit dem, den wir
(oben) den Fürsten genannt haben, verdammt wurde. Hier muß
es genügen, ihr Wirken darzulegen. Dasselbe hat einzig das
Verderben der Menschen zum Zweck. Von Anfang an arbeitete
die Bosheit dieser Geister auf den Untergang der Menschen.
Daher verursachen sie den Kfh'pern Krankheiten und böse Zufälle
aller Art, der Seele aber plötzliche und außerordentliche, sie
gewaltsam erschütternde Ausbrüche. Zu statten kommt ihnen
bei diesen Angriffen auf Seele und Leib ihre Feinheit und Dünn-
heit. An sich unsichtbar und jeder Wahrnehmung entzogen,
erschienen diese Geister zwar nicht im Akt selber, aber im Effekt
sind sie häufig bemerkbar, wenn z. B. ein unerklärliches in der
Luft liegendes Übel die Baum- und Feldfrüchto in der Blüte
herabwirft, im Keime erstickt, in der Reifeentwickelung schädigt,
und wenn die durch eine unbekannte Ursache verdorbene Luft
ihren pestbringenden Hauch herabschüttet. Mit derselben Heim-
lichkeit der Ansteckung bewirkt die Anhauchung der Dämonen
und Engel auch mancherlei Verderben des Geistes dvu'ch Raserei,
Wahnsinn und häßliche oder schreckliche Lüste mit verschiedenen
Irrtümern, wovon der vornehmste jener ist, daß sie den
besessenen und gebundenen Menschenseelen jene Götter
empfehlen^, um [auch] sich das beliebte, in Fettdampf und
Blut bestehende Futter zu verschaffen, welches den Götzenstatuen
imd -bilden! dargebracht wird. Und welch eine ausgesuchtere
Weide könnte es für sie geben, als daß sie die Menschen durch
falsche Vorspiegelungen von dem Gedanken und der Erwägung
der wahren Gottheit abbringen? Wie sie diese Vorspiegelungen
bewirken können, werde ich zeigen. Jeder Geist ist beflügelt;
so auch die Engel und Dämonen. Daher sind sie im Augenblick
überall. Die ganze Welt ist für sie ein einziger Ort. Was und
wo etwas geschieht, erfahren sie ebenso schnell als sie es melden.
Ihre Schnelligkeit hält man für Göttlichkeit, weil man ihr Wesen
nicht kennt. Sich das zu nutze machend, wollen sie bisweilen
auch als Urheber der Dinge gelten, die sie nur ankündigen. In
bezug auf die schlimmen sind sie es in der Tat manchmal, in
bezug auf die guten nie. Sogar die Kenntnis der Dispositionen
Gottes wissen sie zu erlangen, in früherer Zeit aus den Reden
der Propheten, jetzt aus der Vorlesung der h. Schriften. Aus
M Das gilt überall als die Hauptveranstaltung der Schlechtigkeit der
Dämonen: sie haben den Polytheismus eingeführt, d.h. unter den
Bildern toter Götzen lassen sie sich verehren und machen sich die Opfer,
deren Dünste ihnen schmecken, zu nutze.
120 Pif Missioiihpredigt in Wort und Tat.
diesen Quellen erfahren sie manches Zukünftige und ahmen nun
die Gottheit nach, während sie doch die Grabe, die Zukunft zu
schauen, nur stehlen. Wie verschlagen sie bei den Orakeln die
zweideutige Rede auf den möglichen doppelten Erfolg berechnen,
davon w'issen die Crösus und Pyrrhus zu erzählen .... Da sie
in der Luft wohnen, in der Nachbarschaft der Gestirne, und mit
den Wolken in Verbindung stehen, können sie sofort wissen, was
sich dort vorbereitet, so daß sie den Segen, den sie schon fühlen,
versprechen können. Wohltätig sind sie fürwahr auch in ihrer
Sorge für die Gesundheit! Sie schädigen nämlich zuerst, dann
schreiben sie Heilmittel vor, unerhörte oder gegenteilige, um das
Wunder zu markieren — , dann hören sie auf zu schädigen und
gelten nun als die Heilbringer. Was soll ich also noch über die
anderen Künste oder auch Fähigkeiten der betrügerischen Geister-
welt sagen? Soll ich von den Trugbilden der Castoren, von dem
im Siebe getragenen Wasser, von dem durch einen Gürtel in
Bewegung gesetzten Schiff, von dem durch Berührung rot ge-
färbten Bart reden? — alles Dinge, die in Szene gesetzt worden
sind, damit man Steine für Götter halte und den wahren Gott
nicht suche.
Ferner, wenn euch die Magier Gespenster sehen lassen und
die Seelen schon Verstorbener (durch Zitieren) beschimpfen, wenn
sie Knaben durch Mißhandlung zum Hervorstoßen von (Jrakel-
sprüchen zwingen, wenn sie allerlei Wunder durch markt-
schreierische Blendwerke aufführen, wenn sie sogar Träume senden,
indem sie die hilfreiche Macht der einmal zitierten Engel und
Dämonen zur Verfügung haben — daß Ziegen und Tische weis-
sagen, ist ja. Dank jenen Geistern, etwas Gewöhnliches geworden,
— wenn schon Magier das vermögen, um wie viel mehr wird
die Geisterwelt bestrebt sein, nach eigenem Plan und auf eigene
Rechnung mit allen Kräften das in Szene zu setzen, was sie
sogar einer fremden Unternehmung zur Verfügung stellt. Oder
wenn die Engel und Dämonen dasselbe bewirken wie eure Götter,
wo bleibt da der Vorzug der Gottheit, die man doch für er-
habener als jede andere Macht halten muß? Ist die Verteilung
nicht würdiger, sie selbst (die Dämonen) seien es, die sich zu
Göttern machen, indem sie (gerade) die Dinge tun, welche den
Glauben an Götter hervorrufen, als zu glauben, daß die Götter
den Dämonen und I]ngeln gleich seien? Es ist, denke ich, imr
noch eine Ortsverschiedenheit: in den Tempeln haltet ihr die für
„Götter", die ihr außerhalb derselben nicht so nennt ....
Doch keine weiteren Worte — es folge jetzt die Darlegung
der Tatsaciu;; wir werden beweisen, daß „Götter" und Dämonen
dieselbe Qualität haben. Stellt hier von euren Tribunalen irgend
Der Kampf gegeu die Dämoneu. '121
jemanden auf, von dem es feststellt, daß er von einem Dämon
besessen ist. Auf den Befehl eines beliebigen Christen,
zu reden, wird jener Geist sich ebenso gewiß als einen
Dämon wahrheitsgemäß bekennen, wie er sich anders-
wo lügnerisch für einen Gott ausgibt^. Ebenso möge
einer von denen vorgeführt werden, die nach eurer Meinung
unter der Einwirkung eines Gottes stehen, welche, an den Altären
Luft einziehend, die Gottheit aus dem Pettdampf in sich auf-
nehmen, welche durch Luftausstoßung wieder zu sich kommen
(„ructando curantur"), welche mit keuchendem Atem weissagen.
Oder laßt die „himmliclio Jungfrau" selber kommen, die Regen-
verheißerin, ja den Asculap selbst, den Lehrer der Arzneien, der
Leute, die demnächst sterben werden, mit Scordium, Tenatium (?)
und Asclepiodotum bedient — wenn sie sich nicht als Dämonen
bekennen werden, weil sie nicht wagen, einen Christen zu belügen,
so vergießet vor dem Tribunal das Blut dieses unverschämtesten
Christen! Was kann es Entscheidenderes geben als solch einen
Versuch, was Zuverlässigeres als diesen Beweis? Die Wahrheit
in schlichter Klarheit steht vor den Schranken ; nur ihre eigene
Kraft steht ihr zur Seite; jeder Argwohn ist ausgeschlossen.
Behauptet ihr, daß Zauberei oder sonst eine Betrügerei hier ob-
walte ? . . . Was kann man einwerfen gegen das , was in un-
verhüllter Klarheit gezeigt wird? Wenn jene (Dämonen) doch
wahrhaft Götter sind, warum lügen sie (werm wir sie beschwören),
daß sie Dämonen seien? Um uns zu willfahren? Dann aber
wäre bereits das, was bei euch ,,Gott" ist. den Christen Untertan
und hörte damit auf, Gottheit zu sein, weil sie den Menschen
untergeben ist ... . Also ist das keine Gottheit, woran ihr
festhaltet, weil sie, wenn sie es wäre, weder von den Dämonen,
wenn sie Rede stehen, erheuchelt noch von den Göttern abge-
leugnet werden könnte .... Erkennt, daß es nur eine Gattung
gibt, nämlich Dämonen: auch die „Götter" sind nichts anderes.
Sucht also nach Göttern! Die, welche ihr dafür gehalten hattet,
erkennt ihr nun als Dämonen!"
Tertullian sagt im folgenden, daß die Dämonen, von Christen
befragt, nicht nur sich selbst als Dämonen bekennen, sondern
auch den Christengott als den wahren Gott. „Indem sie Christus
in Gott fürchten und Gott in Christus, müssen sie sich den
Dienern Gottes und Christi unterwerfen. Wenn wir sie berühren
und anblasen, so werden sie durch die Betrachtung und Ver-
gegenwärtigung des (zukünftigen) Feuers in Bestürzung versetzt
') Tertullian hat hier wie an anderen Stelleu des Apologeticus den
Mund zu voll orenommen.
I 22 Die Missionsprecligt in Wort und Tat.
und verlassen auf unsern Befehl die Körper (der Kranken), mit
Un-sNallen und Schmerz und — wenn ihr zugegen seid — voll
Scham. Glaubet ihnen, wenn sie über sich selber die Wahrheit
sagen, die ihr ihnen glaubt, wenn sie lügen. Memand lügt zu
seiner eigenen Schande, sondern nur zu seiner Verherrlichung ....
Derartige Zeugnisse eurer „Götter" haben Übertritte
zum Christentum zur gewöhnlichen Folge."
Im 27. Kapitel des Apologeticus begegnet Tertullian dem
naheliegenden Einwurf, wenn die Dämonen wirklich den Christen
unterworfen wären, so wäre es unmöglich, daß die Christen hilf-
los den Yerfolgungen. die gegen sie gerichtet werden, unterliegen.
Tertullian widerlegt diese Bemerkung , indem er sagt , sie seien
Sklaven in der Christen Gewalt, aber wie nichtsnutzige Sklaven
wenden sie sich von der Furcht zum Trotz und freuen sich, wenn
sie diejenigen verletzen können, welche sie fürchten. „Von
weitem bekämpfen sie uns, in der Nähe flehen sie. Wie revo-
lutionierende gefangene Sklaven, Mie Sträflinge und Bergwerks-
arbeiter, bricht auch diese Art Strafgefangener Knechte wider
uns. in deren Gewalt sie sich befinden, los, wohl wissend, daß sie
uns nicht gewachsen sind und sich selbst nur immer mehr ins
Verderben stürzen. AVir aber lassen uns mit dieser wilden Bande,
gleich als wären sie noch nicht besiegt, auf einen Kampf ein,
wehren uns, in dem beharrend, was sie bekämpfen, und ti'ium-
phieren niemals glänzender über sie, als wenn wir für unseren
hartnäckig festgehaltenen Glauben verdammt werden."
Im dem 37. Kapitel faßt Tertullian noch einmal den Nutzen
zusammen, den die Christen den Heiden durch ihre Exorzismen
leisten : „Wenn wir nicht wären — wer würde euch jenen ver-
borgenen, eure seelische und körperliche Gesundheit fort und fort
verwüstenden Feinden — ich meine den Anläufen der Dämonen
— entreißen, welche wir euch ohne Belohnung, ohne Bezahlung
vertreiben?" Dasselbe behauptet er in der Schrift an den Statt-
halter Scapula (c. 2): „Die Dämonen verachten wir nicht nur,
sondern wir überwinden vmd überführen sie jeden Tag und treiben
sie aus den Menschen aus, wie sehr vielen bekannt ist^."
Diese Gabe der Christen muß also wirklich in weiten Kreisen
anerkannt gewesen sein, und Tertullian spricht an mehreren
Stellen so, als ob jeder Christ sie besäße 2. Interessant wäre es
') S. auch die interessanten Mitteilungen de anima 1.
-) Vgl. z.B. de Corona 11; auch andere christliche Schriftsteller haben
sich so ausgedrückt, vgl. die Petrusrede in den pseudoclom. Homil. (IX. 19):
Durch die Taufe erhalten die Christen die Gabe, durch Exorzismen andere
zu heilen, hUnE Ök ol SaifiovEg /lwvov h'töovrcov vjliwv (fsvSovrar i'oaaiv yuQ tov?
(mob£()coxöra? iavxovg t<o ■dsw, diö TtfiöJvre? avTOvg :;ie(/.oßr]f(tvoi qevyovotv.
Der Kampf gegen die Dämonen. [23
nur, zu wissen, wie lange diese Heilungen von psychisch Kranken
gedauert haben. Leider ist darüber nichts bekannt, und doch
ist auf diesem Gebiete nichts häufiger als ein nur augenblicklicher
Erfolg.
Wie Tertullian, so hat auch Minucius Felix in seinem
„Octavius" dieses Thema abgehandelt, z. T. mit denselben Worten
wie Tertullian (c. 27)^. Der Apologet Theophilus (ad Autolyc.
II. S) schreibt: „Die griechischen Dichter reden, nicht von einem
reinen, sondern von einem Irr-Geist inspiriert. Dies erweist sich
deutlich daraus, daß auch Besessene manchmal und zwar bis heute
im !N'amen des wahren Gottes exorzisiert werden, und daß dann
die Irrgeister selbst bekemien, sie seien Dämonen und eben diese
Dämonen, die früher in jenen Dichtern wirksam gewesen." Hier-
nach ist anzunehmen, daß die Besessenen bei den Exorzismen
manchmal den Namen „Apollo"' oder den der Muse ausgestoßen
haben." Auch Cj^rian spricht noch, um d. J. 250, wie die Frü-
heren, von den christlichen Dämonenheilimgen (ad Demetr. 15):
„O wenn du die Dämonen hören und in jenen Momenten sehen
wolltest, wenn sie von uns beschworen, mit geistlichen Geißeln
gequält und durch folternde Worte aus den besessenen Leibern
ausgeti'ieben werden, weim sie, mit menschlicher Stimme (?)
heulend und ächzend und durch göttliche Macht die Geißelhiebe
und Schläge empfindend, das kommende Gericht bekennen müssen.
Komm und sieh, daß es wahr ist, was wir sagen. Und weil du
sagst, daß du so sehr die Götter verehrst, so glaube doch
wenigstens denen selbst, die du verehrst . . . du wirst sehen,
daß wir angefleht werden von denen, die du anflehst, gefürchtet
werden von denen, die du anbetest. Sehen wirst du, wie die-
jenigen unter unserer Hand gebunden stehen und als Gefangene
zittern, zu denen du aufschaust und sie verehrst wie Despoten.
Hier wirst du sicherlich in deinen Irrtümern zu schänden gemacht,
wenn du siehst und hörst, wie deine Götter auf unsere Frage
sogleich kundtun, was sie sind, und selbst in eurer Gegenwart
jene ihre Blendwerke und Trügereien nicht verheimlichen können^."
Ahnlich heißt es in der Schrift „an den Donatus" (c. 5): „Im
^) „Adiui'ati (daemones) per deum venim et solum inviti miseris cor-
poribus inhorrescunt et vel exiliunt statim vel evaneseunt gradatim, prout
fides patientis adiuvat aut gratia curantis adspirat. sie Christianos de
proximo fugitant, quos longe in coetibus per vos lacessebant etc."
-) Vgl. auch Quod idola dei non sint 7 und Cypr. ep. 69, 15: ^Hodie
etiam geritur, ut per exorcistas voce humana et potestate divina flagelletur
et uratur et torqueatur diabolus, et cum exire se et homines dei dimittere
saepe dicat, in eo tamen quod dixerit fallat .... cum tarnen ad aquam
salutarem adque ad baptismi sanctificationem venitur, scire debemus et fidere
[das klingt etwas kleinlaut], quia illic diabolus opprimitur."
124 Die Missionspredigt in "Wort und Tat.
Christentum wird die Gabe verliehen — wenn reine Keuschheit,
reiner Sinn, hiutre Rede waltet — zur Heilung der Kranken
giftige Tränke unschädlich zu machen, Verrückte von ihrem
schimpflichen Leiden durch Wiederherstellung der Gesundheit zu
reinigen , Feindseligen Frieden , Gewalttätigen Ruhe , Wütenden
Sanftmut anzubefehlen, unreine und umherschweifende Geister,
die in die Menschen fahren, um von ihnen Besitz zu nehmen,
durch Drohungen und Scheltworte zum Bekenntnis zu zwingen,
durch harte Rede zum Ausfahren zu nötigen, sie unter Sträuben,
Heulen, Seufzen über die Vergrößerung ihrer Pein auf die Folter
zu spannen, mit Geißeln zu peitschen und mit Feuer zu brennen.
So geschiehts . auch wenn man es nicht sieht: die Schläge sind
verborgen, offenbar ist die Strafpein. So gewinnt das, was wir
schon angefangen haben, (bereits) seine Herrschaft . . . Der
Christ herrscht bereits mit königlichem Recht über das ganze
Heer des wütenden Gegners ^"
Am interessantesten aber sind die Auseinandersetzungen
zwischen Celsus und ürigenes über die Dämonen und Besessenen:
denn hier streiten zwei Männer mit einander, welche auf der
Höhe der Bildung der Zeit stehen^. Celsus behauptet, die Christen
verdankten die Kraft, die sie zu haben scheinen, der Anrufmig
und Beschwörung gewisser Dämonen ^. ürigenes er-v\idert, es sei
lediglich der Name Jesu und das Zeugnis von seiner Geschichte,
welche die Kraft haben, die Dämonen zu verscheuchen, ja so
kräftig sei der Jesusname, daß er selbst wirke, wenn ihn unsittliche
Menschen aussprächen*. Beide, Celsus und Origenes, glaubten
also an Dämonen, und die alte Vorstellung von der Kraft der
Aussprechung gewisser „Namen" wird von Origenes auch sonst
(z. B. I, 24 f.) ausgeführt , ja er deutet eine geheime „Namen-
') Hierzu ist Lactantius, Divin. Inst. II, 15, IV, 27 zu vergleichen, der
z. T. die Schilderung Cyi^rians wiederholt, aber das Kreuzeszeichen als Heil-
mittel gegen die Dämonen besonders hervorhebt.
^) Origenes hat (Hom. XY, 5 in Jesu Nav. 1. 11 p. 141 f.) noch eine ganz
besondere Theorie über die Dämouenbezvpingung durch die Kirche entwickelt,
und zwar in ihrer Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums. „Wenn
ein Mensch einen Dämon bei sich besiegt, z. B. den Dämon der Unzucht, so
wird dieser Dämon unwirksam, d. h. er wird in den Abgrund geworfen und
vermag nun keinem mehr zu schaden. So gibt es jetzt schon viel
weniger Dämonen als früher; et inde est quod plurimo daemonum
numero iam victo ad credulitatem gentes venire relaxantur, qui
utique nullatenus sinerentur, si integrae eorum, sicut prius
fuerant, subsisterent legiones."
■'') Celsus sagt (I, 4tf.), die ethische Grundlehre der Christen ist ihnen
mit den Philosophen gemeinsam, worin aber die Christen ihre Stärke zu
haben scheinen, das seien die Namen etlicher Dämonen und Bezauberungen.
*) Orig. c. Cels. I, 6.
Der Kamjif gegen die Dämonen. 125
wissenschatV an \ die den Eingeweihten Kräfte verleihe, bei der
man aber wohl zusehen müsse, daß man sie in der richtigen
Sprache rezitiere. „Die einen sind besonders kräftig, wenn sie
ägyptisch gesprochen werden, bei gewissen Geistern, deren Macht
nm' auf diese Dinge und Gebiete sich erstreckt; die anderen
aber, wenn sie in der Sprache der Perser ausgesprochen werden,
bei anderen Geistern, und so weiter." „Zu dieser Namenwissen-
schaft gehört auch der Jesusname , welcher bereits unzählige
Geister aus den Seelen und Leibern ausgetrieben hat und kräftig
gewesen ist in bezug auf die, aus denen sie ausgetrieben wurden 2."
Auf die Tatsache des gelmigenen Exorzismus beruft sich Origenes
noch mehrmals (I, 46. 67). Celsus leugnet sie nicht, leugnet auch
die „Wunder" Jesu nicht, aber deutet sie ganz anders: „Die
Goeten versprechen noch viel wunderbarere Dinge, und die in
der Schule der Agyptier ausgebildet worden sind, führen das
gleiche aus, wie Leute, welche für wenige Obolen auf den Märkten
ihre Wunderweisheit losschlagen, Dämonen aus Besessenen aus-
treiben. Krankheiten wegblasen, die Geister der Heroen zitieren,
köstliche Speisen. Tische, Backwerk und Delikatessen vorführen,
ohne daß sie wirklich vorhanden sind, und, wie wenn es lebendige
Wesen wären, leblose Dinge in Bewegung setzen, ihnen einen täu-
schenden Schein verleihend. Wenn einer solche Dinge vollbringen
kann, müssen wir ihn deshalb für .Gottes Sohn" halten? Müssen
wir nicht vielmehr sagen, daß diese Dinge nur Veranstaltungen
schlechter, schlimmen Dämonen ergebener Menschen sind?" Die
Christen Taschenspieler oder Zauberer oder beides — das ist die
eigentliche Meinung des Celsus ^. Origenes gibt sich viele Mühe,
diesen schwersten Vorwurf zu widerlegen'^. Es gelingt ihm auch.
Er kann auf die gewisse Tatsache verweisen, daß Christus all
sein Wirken unter den Zweck, die Menschen zu bessern, gestellt
hat^. Tun das die Zauberer? Aber eine ernste Mahnung an die
') Usgl ovofiuzcm' ra iv djroQQtjzoi? (fi?.oao(fnv.
-) Vgl. dazu die Aussage des Schülers des Origenes, des Bischofs Diony-
sius von Alexandrien (bei Euseh., h. e. VII, 10, 4). über die Ursache des Aus-
bruchs der valerianischen Verfolgung. Hier haben heidnische und christliche
Beschwörer sich gegenüber gestanden. Von diesen sagt Dionysius : „Es gibt
und gab unter ihnen viele, die durch ihre bloße Gegenwart und ihren Blick,
sowie schon durch Anblasen und durch ein Wort die Blendwerke der bösen
Geister zu zerstören vermögen." Auch sonst sind lokale Christenverfolgungen,
ja sogar die gi-oße Diocletianische, so entstanden, daß die heidnischen Priester
erklärten, die anwesenden Christen verhinderten durch ihre Gegenwart die
heilbringenden Opfer usw.
^) Über die gnostischen Dämonenbeschwörer hat er sich (VI, 39 f.) noch
besonders ausgesprochen.
*) S. z. B. I, 68. — °) S. z. B. III, 28 und I, 68.
1 26 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Kirclie und an die Christen lug doch in diesem Yonvurf des
Celsus, den er nicht allein erhoben liat. Schon um die Mitte des
2. Jahrhunderts hatte ein christlicher Geistlicher gepredigt: „Der
Käme des Avahren Gottes wird durch uns Christen unter den
Heiden verlästert: denn wenn wir die Gebote Gottes nicht erfüllen,
sondern ein unwürdiges Leben führen, so wenden sich die Heiden
ab und lästern und sagen, unsere Lehre sei nur ein neuer Mythus
und Irrtum ^" Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde den
Christen nicht selten zugerufen, sie seien Taschenspieler oder
Schwarzkünstler, und gewiß nicht wenige unter ihnen trugen die
Schuld an solchem Vorwurf^. Die „Besessenenheilungen", von
ungeistlichen Menschen als Metier betrieben, mußten bei aller
Anziehungskraft, die sie besaßen (Tertull., Apol. 23: „Christianos
facere consuerunt"), auf Besonnenere doch auch abstoßend wirken.
Dazu kam, daß leichtfertige oder ungebildete Christen ihre Sünden
nicht selten damit entschuldigt haben müssen, sie seien von einem
Dämon verführt worden oder — nicht sie hätten das Böse getan,
sondern der Dämon ^. Wirkliche Aufklärung vermochte im
3. Jahrhundert kaum Einer zu bringen. Christen und Heiden
verstrickten sich immer mehr in den Dämonenglauben, und während
sie in der Dogmatik und Religionsphilosophie den Polytheismus
immer mehr verdünnten und einen sublimen Monotheismus aus-
arbeiteten, versanken sie im Leben immer hilfloser in die Ab-
gründe der erträumten Geisterwelt. Vergeblich protestierten ein-
sichtige Arzte *.
') II Clem. ad Cor. lo, 3: /ivdöv nvu y.al :t)ävi]v.
^) Daß die christlichen Exorzisten gewöhnlich ungebildete Leute waren,
gibt Origenes selbst zu, betont aber wiederholt und ausdrücklich, daß keine
Zauberei und Schwarzkunst angewendet werde, sondern einzig das Gebet
„und so einfache Beschwörungsformeln, daß sie auch der einfachste Mensch
anwenden kann" (c. Gel. VII, 4: ovr ovbsvi crentsgyco xal fiayix(J> i] (jiaoiiay.ev-
riy.(o :Tgdy/iaTi, «A/.ä /(öinj fvyfj y.ai Ofjycoosatv aj:).ovoTeQaiQ xal öoa äv övvano
TiQooäyeiv d:7?.ovort:oog äv&QWTiog, vgl. Comm. in Matth. XllI, 7, t. o p. 224).
^) S. Orig. . de princip. III, 2, 1 : „Unde et simpliciores quique domino
Christo credentium existimant, quod omnia peccata, quaecunque commiseriut
honiines, ex istis contrariis virtutibus [seil, den Dämonen] mentem deliuquen-
tium perurgentibus fiant."
*) So jener berühmte Arzt Posidonius am Ende des 4. Jahrhunderts, von
dem Philostorgius (h. e. VIII, 10) erzählt: Uyeir avxöv — 6)/ok ovy. 6oi)o)g,
lügt Philostorgius hinzu — ovyl daifi6vo)v i:^idsasi rovg m'&Qcänovg sxßayy/ü-
Efidai, vyfj(7)v d^ rtvoyr y.ay.oyyitim' ro nädog f-gyaCsadai' /lij yuQ sTvai rö naQä::iav
ioyvv baifiövojv urOoo)rro}r (/'voiv fTCtjOEÜLOVoav.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. ]27
Yioi'tos Kap i t el.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung K
,,Tch bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset: ich
bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket: ich bin ein
Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt: ich bin nackend
gewesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen,
und ihr habt mich besuchet: ich bin gefangen gewesen, und ihr
seid zu mir gekommen. Denn was ihr getan habt einem unter
diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."
Diese Worte Jesu haben in seiner Gemeinde mehrere Gene-
rationen hindurch so hell geleuchtet und so kräftig gewirkt, daß
man die christliche Missionspredigt auch als Predigt der Liebe
und Hilfleistung bezeichnen kami. Ja von hier aus erscheint
die Yerkündigmig vom Heiland und von der Heilung nur als
ein Ausschnitt, wie denn auch die Worte: ,,Ich bin krank ge-
gewesen, und ihr habt mich besuchet", ein Glied in jener Kette
von Sprüchen sind.
Unter den überlieferten Worten und Gleichnissen Jesu sind
die, welche zur Liebe und Hilfleistung ermahnen, besonders
zahlreich, und auch manche Erzählungen von ihm gehören hier-
her^. Aber jene Worte mögen noch zahlreicher oder spärlicher
sein — daß die Ermahnung zur Brüderlichkeit mid zur dienen-
den Liebe der Kern seiner Predigt gewesen ist, so oft sie das
Verhältnis von Mensch zu Mensch ins Auge faßt, steht fest, und
daß er selbst diese Brüderlichkeit und dienende Liebe in sich
und seinem Wirken dargestellt hat. war das Sicherste in dem
Eindruck, den er hinterlassen hat. „Einer ist euer Meister: ihr
alle aber seid Brüder". „Welcher unter euch will der Vornehmste
werden, der soll aller Knecht sein: denn auch der Menscliensohn
') Eine gründliche, aber gegen das ,, Heidentum" ungerechte Darstellung
hat Uhlhoru geliefert: :,Die christl. Liebestätigkeit in der alten Kirche'"
1. Aufl., 1882. Auch Griechen und Römer kannten die Philanthropie.
-) Man erinnere sich vor allem des Gleichnisses vom barmherzigen
Samariter und des neuen Begriffs vom „Nächsten", welches es bringt, sowie
des Gleichnisses vom verlorenen Sohn; unter den „Geschichten" der vom
reichen Jüngling. Das Hebräer-Evangelium hat die letztere besonders ein-
drucksvoll erzählt: „Und es sprach der Hen- zu ihm: Wie kannst du sagen:
Ich habe das Gesetz und die Propheten gehalten, da doch im Gesetz ge-
schrieben steht: „Du sollst lieben deinen Nächsten als dich selbst?" Und
siehe, viele deiner Brüder. Söhne Abrahams, liegen im Schmutze und sterben
vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und niemals kommt
etwas aus ihm heraus zu jenen."
128 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
ist nicht gekommen, daß er sieh dienen lasse, sondern daß er
diene und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele." So sollte
das Gebot der Nächstenliebe verstanden werden. Wie schranken-
los es gilt, zeigt der Spruch: „Ijiebet eure Feinde, segnet die
euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so
euch beleidigen und verfolgen ^ : auf daß ihr Kinder seid eures
Vaters im Himmel: denn er läßt seine Sonne aufgehen über die
Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und
Ungerechte". „Selig sind die Barmherzigen", ist der Grundton
der Verkündigung Jesu, und weil diese Barmherzigkeit vom
Größten bis zum Kleinsten, vom Innersten bis zum Äußerlichsten
reichen soll, so steht neben dem alles beherrschenden Spruch:
„Vergib uns vmsre Schuld, wie wir vergeben imsern Schuldigern",
der andere, in welchem des Bechers kalten Wassers nicht ver-
gessen ist-. Brüderlichkeit ist Liebe auf dem Fuße der Gleich-
heit: dienende Liebe ist Vergeben und Geben: keine Schranke
soll ihr mehr gezogen sein. Dienende Liebe ist aber auch
die Betätigung der Liebe zu Gott.
Indem Jesus selbst diese Liebe darstellte und Ivi-aft und
Leben werden ließ, lernten seine Jünger das Größte und Seligste,
was in der Religion gelernt werden kann, nämlich an die Liebe
Gottes glauben. Zum „Vater der Barmherzigkeit und Gott alles
Trostes" wurde ihnen das Wesen, das Himmel und Erde ge-
schaffen hat — kein Schwanken gibt es darüber mehr in den
apostolischen imd altchristlichen Zeugnissen — . und nmi erst trat
in der Menschjeit das Zeugnis- hervor, dem nichts mehr über-
geordnet werden kann: Gott ist die Liebe. Die erste große,
einheitliche Zusammenfassung der neuen Religion, die, welche
der vierte Evangelist gegeben hat, ist ganz und ausschließlich
auf die Liebe gestellt — „Lasset uns ihn lieben: denn er hat
uns zuerst geliebt" ; „Also hat Gott die Welt geliebt" ; „Ein neu
Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebt" — und
das Größte, Gewaltigste und Tiefste, was der Apostel Paulus
geschrieben hat, ist der Hymnus, der mit den Worten beginnt:
„Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte
der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende
Schelle". Die neue Sprache, die den Christen auf die Lippen
gelegt wurde, war di(! Sprache der Liebe.
Es war riielit nur eine Sprache: es war Kraft und Tat: sie
betrachteten sich wirklich als Brüder und Schwestern und han-
delten danach. Wir haben dafür zwei vollgültige Zeugnisse aus
') Auch der Siiruch: „Fastet für eure Verfolger", ist überliefert; s. Doctr.
apost. 1.
-) Matth. 10, 42.
Das Evangelium der Liebe and Hilfleistung. 129
,/
heidnischem Mund»; Daß sie dem Ende des 2. Jahrhnndcrts an-
gehören, macht fiich um so wertvoller. Lucian sagt von den
Christen: „Ihr erster Gesetzgeber hat ihnen die Überzeugung bei-
gebracht, daß sie alle untereinander Brüder seien; sie entv\'ickeln
eine unglaubliche Rührigkeit, sobald sich etwas ereignet, was
ihre gemeinschaftlichen Interessen berührt; nichts ist ihnen als-
dann zu teuer" ^, und Tertullian bemerkt^: „Die Sorge für die
Hilflosen, die wir üben, unsere Liebestätigkeit, ist bei miseren
Gegnern zu einem Merkmal für uns geworden: , Siehe niir', sagen
sie, ,wie sie sich untereinander lieben' — sie selber hassen sich
nämlich untereinander — , und wie einer für den andern zu
sterben bereit ist'; sie selber wären eher bereit, sich gegenseitig
umzubringen 3." Das Wort: „Dabei wird jedermann erkennen,
daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe imtereinander habt", ist
also die Konstatierung einer Tatsache.
Das Evangelium wurde so zu einer sozialen Botschaft. Die
Predigt, welche das innerste Wesen des Menschen ergriif. ihn aus
der Welt herauszog und ihn mit seinem Gott zusammenschloß,
war auch die Predigt von der Solidarität und Brüderlichkeit.
Das Evangelium, hat man mit Recht gesagt, ist im Tiefsten indi-
vidualistisch und im Tiefsten sozialistisch zugleich. Seine Tendenz
auf Assoziation ist nicht eine zufällige Erscheinung in seiner Ge-
schichte, sondern ein wesentliches Element seiner Eigenart. Es
vergeistigt den unüberwindlichen Trieb, der den Menschen zum
Menschen zieht, und erhebt die gesellschaftliche Verbindung der
Menschen über die Konvention hinaus in den Bereich des sittlich
Notwendigen. Es steigert damit den Wert des Menschen mid
schickt sich an, diese gegenwärtige Gesellschaft umzubilden, den
Sozialismus, der da ruht auf der Voraussetzung widerstreitender
Interessen, umzuwandeln in den Sozialismus, der sich gründet auf
dem Bewußtsein einer geistigen Einheit und eines gemeinsamen
Ziels. Dem großen Heidenapostel hat das klar vor der Seele
gestanden: in seinen kleinen Gemeinden, in denen jeder die Last
des anderen trug, sah er im Geiste bereits eine neue Menschheit,
imd in dem Epheserbrief hat er dem einen jubelnd freudigen Aus-
druck gegeben. Im wesenlosen Scheine hinter diesen Gemeinden
— wenn sie waren, was sie sein sollten — lagen die Gegensätze
von Juden und Heiden, Barbaren und Griechen, Vornehm imd
Gering. Reich imd Arm. Eine neue Menschheit war vorhanden.
Der Apostel schaute sie als den Leib Christi an, in welchem jedes
1) Liician, Peregrin. 10. — -) Apolog. 39. -
*) Dazu Cäcilius bei Min. Felix 9: ,An geheimen Merkmalen und Zeichen
kennen sie sich und lieben sich fast vorher, ehe sie sich kennen."
Harnack, Mission. 2. Aufl. 9
130 Die Missionsin-edigt in Wort und Tat.
Glied dem anderen dient und jedes an seiner Stelle notwendig ist.
In Stunden hoher Begeisterung nahm er im Blick auf diese Ge-
meinden, trotz ihrer Kümmerlichkeiten und Schwächen, die Ent-
wickelung von Jahrtausenden vorweg ^
Es kann nicht unsere Aufgabe sein — denn es würde zu
weit führen — , alle die Stellen aus den Schriften der drei ersten
Jahrhunderte zu sammeln, wo zur Liebe und Hilfleistung ermahnt
wird. Allerdings würde uns bei solcher Sammlung manches Wert-
volle begegnen; wir würden sehen, daß die Aufforderung zu
schrankenlosem Geben, wie wir sie in Sprüchen Jesu finden,
wiederholt worden ist; wir würden uns andererseits wundern, daß
die Stellen, die das Liebesgebot einschärfen, nicht noch zahlreicher
sind, und daß sie hinter den Mahnmigen zur Askese so oft zurück-
treten, und wir würden an manchen Fassungen Anstoß nehmen,
in denen die Begehrlichkeit nach „Lohn" für die Übung der
Barmherzigkeit recht ungeschminkt hervortritt^. Allein die Lohn-
sucht ist hier nicht unter allen Umständen unsittlich, und die
größere oder geringere Anzahl von Ermahnungen ist nicht ent-
scheidend. Entscheidend ist, festzustellen, was wirklich auf dem
Gebiete der Liebestätigkeit und Hilfleistung geschehen ist, und
*) Die Warnung vor Unbarmherzigkeit und der Tadel der Unbarm-
herzigen innerhalb der Gemeinde haben freilich frühe beginnen müssen; man
vergleiche den Jacobus])rief (c. 4 u. 5) und mehrere Abschnitte im Hirten des
Hermas.
^) Belege für alle diese Punkte findet man in der ganzen Literatur von
der ^ Apostellehre" und dem Hirten des Hermas ab. Schrankenloses Geben:
Doctrin. apost. 1,5 f.: Jiavxi zw alrovvic oe 8ßov xai /lij djtaiiei' näoi yaQ ■diXst
öi'Öoo&ai 6 jiarijQ ex xwv lÖicov xagio/idicor. fianägiog 6 Siöovg xara rip' IvTolrjv;
ädqjog yiiQ iaziv oval tco JMfißävovrr ei fikv yag xqemv sycov Xa^ißärei rig, äd^coo?
l'oraf 6 ÖE fii] ygetw f'yoiv dcöasi öixtjv, Iva zi slaßs xai Eig zi- h' avvoyf/ öe
yEvöfiEvog E^EiaadtjOEzai jieqI <hv Ejiga^E , xai ovx i^e?.£i!0£zai exeWev fiE/jjig ov
oTtoöio lov Ecyazor xoSgävztp'. Die oft wiederholte Aufforderung zum schranken-
losen Geben steht mit dem Besitzproblem der alten Kirche und daher auch
mit dem asketischen Problem in inniger Verbindung. Besitz oder gar Reich-
tum soll überhaupt nicht sein, sagte die Theorie von Anfang an; denn er
gehört zu der Welt, der man entsagen soll. Die Hingabe von Mitteln für
andere trat damit unter einen ganz neuen Gesichtsjiunkt: daß mau den
Besitz los wurde, war an sich das Vorgeschriebene und Verdienstliche, gleich-
gültig war zunächst, wem man ihn gab. Aber in der Praxis stellte sich die
Sache anders dar, und zu ihr leitete die Theorie selbst immer wieder au,
weil sie das Prinzip der Freiwilligkeit nicht aufgegeben hat
(auch in Jerusalem war der Versuch eines KommunisTiius, wenn er überhaupt
stattgefunden hat, dem Boden der Freiwilligkeit nicht entrückt). Durch das
Prinzip der Freiwilligkeit wurde das der Liebe mit in Kraft erhalten. In
der Praxis ül)ten nur einige wenige den vollkommenen Verzicht; sie galten
als Heroen und Heilige. Die anderen befanden sich genau in derselben Lage,
Stimmung und Sorge, in der sich noch heute ernste, opferwillige katholische
Christen befinden; sie wurden vom asketischen und von dem Liebes -Motiv
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. 131
davon eine Übersicht zu geben, wollen wir versuchen. Drei
Stellen seien, um die Gesamtwirkungen zu charakterisieren, vor-
angestellt.
In dem offiziellen Schreiben, welches die römische Gemeinde
um das Jahr 96 an die corinthische gerichtet hat, wird der treff-
liche Zustand geschildert, in welchem sich diese Gemeinde bis
vor km"zem befunden hat (I Clem. 1. 2). Die Schilderung bringt
uns also das Idealbild einer christlichen Gemeinde, väe sie sein
soll und wie es annähernd in Corinth ver^sirklicht war: „Wer
wäre bei euch eingekehrt und hätte nicht euern tugendreichen
imd festen Glauben erprobt? wer eure besonnene mid tüchtige
christliche Frömmigkeit nicht bewundert? wer die glänzenden
Erweise euerer Gastfreundschaft nicht gerühmt und euer voll-
endetes und sicheres Erkennen nicht hochgepriesen? Tatet ihr
doch alles, ohne persönliche Rücksichten walten zu lassen;
ihr wandeltet in Gottes Satzungen, eueren Vorgesetzten untergeben
und eueren Altesten die geziehmende Ehre erweisend. Die Jugend
hieltet ihr an. ihren Sinn auf Bescheidenes und Würdiges zu
richten. Die Frauen ermahntet ihr, alles mit tadellosem, würde-
zugleich bestimmt. Diese Lage braucht daher nicht näher beschrieben zu
•werden. Der strengste Standpunkt kommt bei Hermas, Sim. I zum Ausdruck
(s. 0. S. 84).
Über den altchristlichen „Kommunismus" hat man viel geschrieben.
Auf dem Boden der großen Heidenkirche hat er nie existiert; denn eine
solche partikulare Erscheinung wie die der halbheidnischen carpocratiauischen
Sekte mit ihrem Kommunismus kommt nicht in Betracht. Der mönchische
Kommunismus wird aber nur ex abusu so genannt, gehört übrigens nicht
mehr hierher. Auch auf judenchristlichem Boden hat es keinen Kommunis-
mus gegeben — das Beispiel der Essener blieb also wirkungslos. Richtig
L'hlhorn (a. a. 0. S. 68): „Man kann sich die sog. Gütergemeinschaft nicht
falscher vorstellen, als wenn man sich darunter eine Institution denkt, ähn-
lich der bei den Essenern und Therapeuten vorkommenden. Viel besser stellt
man sich den Zustand als die Abwesenheit jeder Institution vor." Kommu-
nistisch klingende Anweisungen sind nicht ganz selten (s. z. B. Barnab. e^).
19,8, TertuU. , Apol. 39), aber sie sind doch nicht so zu verstehen. Die
häufige Formel ^ovy. ioeTg i'dia eirai~ gebietet nm- die Freigebigkeit und ver-
bietet, das Vemiögen nur zum eigenen Vorteil zu gebrauchen.
Es ist oben gesagt worden, daß das Prinzip der Freiwilligkeit (in bezug
auf das Geben überhaupt und die Höhe der Gaben) nicht aufgegeben worden
ist. Dieser Satz erleidet indes eine Einschränkung. Zwar das Abendland
kennt in miserer Periode, so viel ich sehe, das Gebot der Erstlinge und
Zehnten noch nicht (Cyprian, de unit. 26, ist nicht so zu verstehen, als gelte
das Zehntengebot) ; aber in einigen Gegenden des Ostens ist die Übertragung
des Erstliugsgebots uralt, s. die Apostellehre c. 13. Aus der Apostellehre ist
es als apostolische Anordnung in alle orientalischen apostolischen Konstitu-
tionen gekommen. Doch scheint es Origenes noch nicht als ein kirchliches
Gebot anzusehen ; er selbst aber hält es für gültig (in Num. hom. XI, 1 ; in
Jos. Nav. hom. XVII).
132 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
vollem und reinem Gewissen zu tun imd ihren Männern mit schul-
diger Liebe entgegenzukommen. Ihr lehrtet sie, in den Schranken
des Gehorsams das Hauswesen würdig zu besorgen und allerwegs
züchtig zu sein. Ferner wart ihr insgesamt demütig, in keinem
Stück hoff artig, lieber gehorsam als befehlend, lieber gebend
als nehmend. Zufrieden mit den von Christus verliehenen
Gütern und an ihnen festhaltend, bewahrtet ihr seine Worte zu
tiefst im Innern, und seine Leiden schwebten euch vor Augen.
Allen war so tiefer und reiner Frieden geschenkt und ein un-
stillbares Verlangen nach Übung der Wohltätigkeit.
. . . . Tag und Nacht läget ihr im Wettstreit für das
Beste der gesamten Bruderschaft, damit durch Barm-
herzigkeit und Sorge die Zahl der Auserwählten Gottes ge-
rettet w^erde. Ihr wäret schlicht und arglos und trüget einander
nichts nach. Jedes Zerwürfnis und jede Spaltung war euch ein
Greuel. Ihr beklagtet die Fehltritte des Nächsten und
beurteiltet seine Versehen gleich euren eigenen. Keine
AVohltat reute euch, und zu jeder guten Tat wart ihr
bereit."
Justin in seiner Apologie, dort wo er den christlichen Gottes-
dienst darstellt, schreibt am Schlüsse der Schilderung (c. 67):
„Die Wohlhabenden und W^illigen geben, ein jeder nach eigenem
Ermessen, soviel er will, mid das Gesammelte ward bei dem Vor-
steher niedergelegt, und er unterstützt die Witwen mid Waisen
und die Bedürftigen, sei es die Kranken, sei es die sonst Mangel
Leidenden, und die Gefangenen und die zugereisten Fremden."
Tertullian endlich (Apolog. 39) schreibt: „Wenn bei ims auch
eine Art von Kasse vorhanden ist, so wird sie nicht etwa durch
ein Aufnahmehonorar, was eine Art von Verkauf der Religion wäre,
gebildet, sondern jeder einzelne steuert eine mäßige Gabe bei
an einem bestimmten Tage des Monats oder wann er will, wofern
er will und kann; denn niemand wird dazu genötigt, sondern
jeder gibt freiwillig seinen Beitrag. Das sind gleichsam die
Sparpfennige der Gottseligkeit. Denn es wird nichts davon für
Schmausereien und Trinkgelage oder nutzlose Freßwirtschaft aus-
gegeben, sondern zum Unterhalt und Begräbnis von Armen, von
eiterlosen Knaben und Mädchen ohne Vermögen, auch für Greise,
die nicht mehr aus dem Hause können, ebenso für Schiff'brücliige,
uiul wenn sich etwa Leute in den Bergwerken, auf den Inseln
oder in Gefangenschaft befinden, w'ofern mu- die Zugehörigkeit
zm' Genossenschaft Gottes die Ursache davon ist — diese werden
Versorgungsbereehtigte ihres Bekenntnisses."
Im folgenden werden wir, soweit es unsere Aufgabe nötig
macht, handeln:
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistuiig. i;33
(1) Von dem Alniosen überhaupt und seiner Verbindung mit
dem Kultus und den kirchlichen Beamten.
(2) Von der Unterstützung der Lehrer und Beamten.
(3) Von der Unterstützung der Witwen und Waisen.
(4) Von der Unterstützung der Kranken, Schwachen und
Arbeitsunfähigen.
(5) Von der Sorge für die Gefangenen und in den Bergwerken
Schmachtenden.
(6) Von der Sorge für die zu begrabenden Armen und die
Verstorbenen überhaupt.
(7) Von der Sorge für die Sklaven.
(8) Von der Sorge bei großen Kalamitäten.
(9) Von dem Arbeitsnachweis und dem Recht auf Arbeit in
den Gemeinden.
(10) Von der Sorge für die zugereisten Brüder (Gastfreund-
schaft) und für arme oder gefährdete Gemeinden.
(1) Das Almosen überhaupt und seine Verbindung
mit dem Kultus.
Zur Freigebigkeit ist fort und fort ermahnt worden, und zwar
soll das Haus die Stätte dieser Tugend und das tägliche Leben
ihre Bewährung sein. Von den apostolischen Mahnungen bis zur
großen Schrift Cyprians „de opere et eleemosynis" läuft eine lange
Kette von Einschärfungen. Die Bedeutung des Almosens für die
religiöse Haltung des Spendenden und die Aussicht auf Lohn im
Jenseits ist dabei immer mehr gesteigert worden. Schon im
Hirten des Hermas liest man darüber viel, und im "2. Clemens-
briefe heißt es: y.aXbv sAeyjßoovvij cog juerdvoia äjLtaoTiag, xgsioaMv
vt]oreia nQooevyfjg, l?.e}]jLioovrrj de äinq)OT£QO)v. Zu einem förndichen
Gnadenmittel , dem einzigen, welches der Christ nach der Taufe
noch besitzt, hat Cyprian das Almosen entwickelt^, ja noch mehr
— er hat das Almosen als ein Schauspiel hingestellt, welches
der Christ Gott darbietet '■^.
^) De op. et eleena. 1: ,nam cum dominus adveniens sanasset illa quae
Adam portaverat vulnera et veueua serpeutis antiqui curasset, legem dedit
sano et praecepit, ue ultra iam peccaret, ne quid peccauti gravius evenirefc.
coartati eramus et in angustum innocentiae praescriptione conclusi. nee
haberet quid fragilitatis humanae infirmitas atque imbecillitas faceret, nisi
iterum pietas divina subveniens iustitiae et misericordiae operibus ostensis
viam quandam tuendae salutis aperiret, ut sordes postmodum, quascumque
contrahimus, eleemosynis abluamus."
*) L. C.21: „Quäle munus, cuius editio deo spectante celebratur! si in
gentilium munere graude et gloriosum videtur proconsules vel imperatores
habere praesentes et apparatus ac sumptus apud munerarios maior est, ut
possint placere maioribus — quanto inlustrior mmieris et maior est gloria
deum et Christum spectatores habere, quanto istic et apparatus uberior et
134 Die Missiouspredigt in Wort und Tat.
Diese Seite der Sache zu verfolgen und /ai untersuchen, in
welchem Grade dadurch das Almosen, das aus der Menschenliebe
fließen soll, gelitten hat, kann hier nicht unsere Aufgabe sein.
Gewiß ist, daß viel, sehr viel privatim in den christlichen Ge-
meinden gegeben worden ist ^ Den Heiden war das, wie wir
bereits gehört haben, nicht unbekannt^.
Allein die alte Christenheit hat sich mit diesem privaten
Almosenspenden nicht begnügt^, sondern sie hat, wie es scheint
von Anfang an, eine Gemeindekasse (Tertull.: „arca") gebildet
und die Liebestätigkeit auf das engste mit dem Kultus und den
sumptus largior exhibendus est, ubi ad spectaculum conveniunt caelorum
virtutes, conveuiunt angeli omnes, ubi munerario non quadriga vel consulatus
petitur, sed vita aeterna praestatur, nee captatur inanis et temporarius favor
Yulgi, sed perpetuum praemium regni caelestis accipitur."
^) Der Heide bei Macarius Magnes (III, 5) behauptet, daß manclie
Christinnen durch Verschenken ihres Eigentums zu Bettlerinnen geworden
sind: „In der Tat haben die Christen noch gestern, nicht etwa vor alters
angesehenen Frauen Matth. 19, 21 vorgelesen und haben sie dadurch über-
redet, all ihren Besitz und ihre Habe unter die Armen zu verteilen, selbst
sich in Bedürftigkeit zu begeben, sich milde Gaben zu sammeln und so von
einer unabhängigen Stellung zu unschicklicher Bettelei herabzusinken, indem
sie statt des alten Wohlstandes eine Jammergestalt annahmen und schließ-
lich gezwungen waren, an den Türen derer anzuklopfen, die etwas besaßen."
-) Bei Clemens Alex, ist das Motiv der Menschenliebe hier stets das
Übergeordnete; s. das 3. Buch des Pädagogen und besonders das schöne Wort
111,7,89: y.a'&ü.JiEQ töjv (fgeuzcov öoa jzscfwxev ßgvEiv änrnnkovi^iEva elg i6 UQiaiov
uvaTiiövei jLiETQOV, ovTcog i) fisrüÖooi?, uya&tj (pÜMV&QOiJiiag vnüoyovoa nr]yi'], xol-
vcovovoa xolq öctpwoi jiozov av^ezai nü'/.iv xai :!ii'/iiJi?Mzai. Klagen, daß die Wohl-
tätigkeit abnehme, bei Cyprian, de unit. 26: „Largitas operationis infracta
est ... . nunc de patrimonio nee decimas damus, et cum vendere iubeat domi-
nus, emimus potius et augemus."
*) Besonders häufig ist empfohlen worden, sich Almosen abzusparen
durch Fasten. So konnte auch der Arme es aufbringen. S. Hermas, Simil. V;
Aristides, Apol. 15: „Und wenn bei ihnen jemand ist, der bedürftig oder arm
ist, und sie nicht überflüssige Mittel haben, so fasten sie zwei oder drei
Tage, damit sie den Armen erfüllen den Bedarf ihrer Nahrung" ; Mart. Lucii
et Montaui 21: „nam ut omittam carceris abstinentiam singularem ut acci-
pientibus ceteris vel modicum cibuni qui de sordibus peuuriae fiscalis ex-
hibebatur, solus se ab ipso modico continuit tanti habens ieiuniis multis et
legitimis fatigari, dummodo alios victu proprio saginaret"; auch Ap. Constit.
V, 1 etc. (diese Praxis kommt auch in vorchristlicher Zeit vor). Sonst tritt
bei der Frage, wie das Almosen zu beschaffen ist, häufig und von Anfang
an der Hinweis auf die Arbeit ein, ja innerhalb der religiösen Betrachtimg
ist dies fast der einzige Punkt, wo der Arbeit gedacht wird und ihr „sitt-
licher Wert" (also nur indirekt) in Betracht kommt; s. Ephes. 4, 28: „Wer
gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit den
Händen etwas Gutes, auf daß er habe zu geben dem Dürftigen."
Barnab. , ep. 19, 10: öia. y^eifjwv oov egyäo)] eic: Ivtqov uixuqiiwv oov [gemeint
ist das Almosen]. Vgl. meinen kurzen Aufsatz in der Zeitschrift „Evangelisch-
Sozial" 1905 S. 48f.: .Der Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung".
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. 135
Gemeindeämtern verbunden. Das reiche Material, welches wir
besitzen, gestattet es, folgendes Bild zu entwerfen: An jedem
Sonntag (s. schon I Cor. 16, 2) oder einmal im Monat (Tertull.) oder
auch, wann es beliebt wurde, brachte man in den Gottesdienst
Gaben (Geld und Naturalien = „stips") und übergab sie dem Vor-
steher. Dieser legte sie auf den Tisch des Herrn nieder, sie waren
damit Gott geweiht ^ ; der Empfänger erhielt sie nun aus Gottes
Hand. „Die Gnade und Menschenfreundlichkeit des Herrn ernährt
sie", schreibt der Bischof Cornelius (Euseb., h. e. VI, 43). Der
Vorsteher bestimmte, wer die Gaben erhalten und wieviel ein
Jeder empfangen sollte. Er war dabei von Diakonen beraten,
die mit den Verhältnissen aller möglichst verti-aut sein sollten.
Sie verteilten auch die Gaben, teils direkt am Schluß des Gottes-
dienstes, teils trugen sie sie den Hilfsbedürftigen ins Haus. Zu
den regelmäßigen Selbstbesteuerimgen — denn so muß man bei
dem Prinzip der Freiwilligkeit, welches streng festgehalten wurde,
die Darbringung nennen — kamen auch noch außerordentliche
Gaben. So hören wir z. B., daß, als Marcion in die römische
Gemeinde um das Jahr 139 eintrat (er kam aus Asien und war
bereits Christ), er ihr 200000 Sestertien zum Geschenke brachte"^.
Zu den Unterstützungen muß man auch die Liebesmahle
(Agapen) rechnen, mit denen ursprünglich die solenne Abend-
mahlsfeier verbunden war, die sich aber auch in späterer Zeit
noch erhalten haben. Ihrer Idee nach sollten hier die Armen
Speise und Trank erhalten, da eine gemeinsame Mahlzeit, zu der
ein jeder nach Vermögen beitrug, sie und die Reichen vereinigen
sollte. Mißstände waren freilich schon frühe zu bekämpfen
(s. I Cor. 11, IS ff.), mid die ganze Einrichtmig (ob den heidnischen
Mahlzeiten bei den Festen der Thiasoi nachgebildet? schwerlich)
scheint überhaupt keine besondere Bedeutimg erlangt zu haben ^.
^) über das Verhältnis von „stips" und „oblationes" ist man noch nicht
ins klare gekommen. Die Sache kann hier auf sich beruhen.
-) S. darüber unten. Sie wurden ihm wieder zurückgegeben.
^) S. auch Judas, ep. 12; Tertull., Apol. 39, de ieiun. 17; Clemens. Paed.
II 1. — Die Kontroversen über die Agapen brauchen hier nicht erörtert zu
werden; s. Keating, The Agape and the Eucharist. 1901. Batiffol, Etudes
d'hist. et de theol. positive, 1902, p. 279 ff. Funk, L'Agape (Rev. d'hist.
ecclesiastique t. IV, 1, 1903). In späterer Zeit dienten auch die Mahlzeiten
bei den Gräbern (Märtyrergräbern) dazu, die Armen zu sättigen. Constantin
rechtfertigt diese Praxis der Totenmahlzeiten, die augenscheinlich noch An-
stoß gab, in seiner Rede an den h. Syllogus (c. 12) ausdrücklich durch den
Hinweis der Unterstützungen, die dabei stattfinden: tu ovfin^öoia [für die
Märtyrer vor ihren Gräbern] .toÖ? elsov y.al äväy.Djotr tCöv beoiievcov Jioiovfuva
y.ai n-oö? ßorfdsiav rcöv £y..T£o6vrcor. ünso uv iig (foqziy.ä e'irca ro/niL)] , ov y.azä
rrjv ■dsiav xai fiaxaQiav diÖaoya/.iav cfQovsT.
J36 Diß Missionspredigt in Wort und Tat.
Der Yoi'stehor scheint von Anfang an und stets so gut wie
unbeschränkt über die Gaben verfügt zu haben ^ ; als ausführende
Organe hatten aber auch die Diakonen mit ihnen zu tun. Die
Terantwortung war groß und auch die Versuchung zu Eigennutz
und Unredliclikeit: daher wurde die Ermahnung, Bischöfe (und
Diakonen) sollen „äcpildoyvQoi" sein, stets wiederholt. Erst in
späterer Zeit bildeten sich gewisse Grmidsätze über die Ver-
teilung der Gaben im großen aus, von denen nicht abgewichen
werden sollte.
Dies System der organisierten kirchlichen Liebestätigkeit und
die private Wohltätigkeit wirkten nebeneinander (aus den Schriften
und Briefen Cyprians läßt sich das deutlich erkennen). Aber es
konnte nicht ausbleiben, daß diese durch jenes allmählich gehemmt
wurde; denn auf jenem lag in höherem Grade der Glanz religiöser
Weihe, also, wie man überzeugt war, des göttlichen Wohlgefallens.
Doch wurde an die private Wohltätigkeit in besonderen Fällen
noch immer appelliert. Wir haben darüber bei Cyprian, ep. 62,
ein schönes Beispiel. Rasch wurden hier in der carthaginiensischen
Gemeinde 100000 Sestertien (= 17—20 000 Mark) aufgebracht 2.
Die römische Gemeinde hatte im Jahre 250 ca. 100 Kleriker
und 1500 Hilfsbedürftige zu ernähren. Berechnet man die Jahres-
kosten für den Unterhalt eines Menschen auf 150 Mark (so be-
rechnete sich ungefähr der Unterhalt eines Sklaven), so kommen
wir auf die Summe von 240 000 Mark jährlich. Rechnen wir
aber nur (mit Uhlhorn, a. a. 0. I S. 153) 60 römische Scheffel
Weizen im Jahre auf die Person (ä 1)0 Pfennige), so erhalten
wir ca. 86 000 Mark. Man wird daher gewiß sagen dürfen, daß
um das Jahr 250 der römischen Gemeinde für Unterstützungen
100—200 000 Mark (= 500 000 bis eine Million Sest.) zur Ver-
fügung standen.
Die Anforderungen an die Gemeindekassen waren groß : wir
werden das im folgenden erkennen, wenn wir die einzelnen
Grujjpen überschauen.
(2) Die Unterstützung der Lehrer und Beamten. Der
]>aulinische Grundsatz, daß die Regel: „Der Arbeiter ist seines
Lohnes wert" auch von den Missionaren und Lehrern gelte ^, ist
1) Über die Spuren einer Ausnahme in der sog. Apost. Kirchenordnung
s. Texte u. Unters. II. 5 S. 12 tt". S. 38.
2) Besondere Kollekten, die der Bischof ausschreibt, s. Tert. de jej. 13.^
Hom. Clem. III, 71: J.To're ygeia rivog jtoqov JiQog ro avayxdiov yhoiro , ö.fia ol
TiävxEi; ov/ißäD.eoOf..
') Fuuliis hat den Grundsatz sogar als eine Anweisung Jesu selbst be-
zeichnet, s. I Cor. S), 14: <5 xvfjiog (iiita^sv rolg ro suayythor y.arayyillouair ex
Tov svayye}.io)> 'Qfiv.
Das Evaiigeliiuii der Liehe und Hilfleistuug. ] 37
stets und ohne Schwanken in den Gemeinden eingehalten worden.
Man zog aus ihm die Folgerung, daß die Lehrer auf einfachen
Lebensunterhalt Anspruoli (n-iieben können, und dieser Anspruch
muß allen anderen Anforderungen an die Kasse stets vorangestellt
worden sein. Als sich die Gremeinden ständige Beamte gewählt
hatten, nahmen auch diese an dem Recht, den Unterhalt fordern
zu dürfen, teil, doch nur so weit, als sie in ihrem bürgerlichen
Verdienst durch ihr Amt geschmälert wurden ^. Der Bischof
hatte auch hier diskretionäre Gewalt und konnte für sich selbst
nehmen imd den Presbytern und Diakonen geben, was er für gut
und billig hielt; dem Lehrer (Missionar, Propheten) aber hatte
er den vollen Tagesunterhalt zu geben. Daß sich daraus Miß-
stände entwickeln mußten, ist klar; daß sie sich entwickelt haben
und die Rechte mißbraucht wurden, lernen wir aus der „Apostel-
lehre" und aus Lucian'-.
(3) Die Unterstützung der \Yitwen und \Yaisen'^.
Überall wo in den altchristlichen Quellen Hilfsbedürftige , die zu
unterstützen sind, genannt werden, stehen die Witwen und Waisen
voran. Es entsprach das der besonderen Not, in der eben diese
sich im Altertum befanden, und es entsprach den ethischen An-
weisungen, wie sie aus dem Judentum ins Christentum gekommen
waren. Witwen und Waisen waren die Hilfsbedürftigen hqt s^oyjji'
1) Ganz klar sehen wir in die Verhältnisse nicht hinein, aber doch
soweit, um das oben Gesagte erhärten zu können. Die Gemeindebeamten
brauchten ihren bürgerlichen Beruf zunächst nicht aufzugeben, und soweit als
er ihnen Unterhalt bot, bestand kein Ansprach an die Gemeindekasse. Aber
in gröiäeren Gemeinden und im Laufe der Zeit wurde es immer schwieriger,
einen bürgerlichen Beruf mit dem Gemeindeamt zu verbinden. Sehr lehr-
reich ist eine Ausführung in den clementinischen Homilien (III, 71), aus der
hervorgeht, daß von einigen die Unterhaltungspflicht in bezug auf den
Bischof und die Kleriker in Zweifel gezogen wurde. Der Verfasser schreibt:
Zay-xaTog [das war der Bischof] fiövog vfiTv ölog iavzov äo^oXsIv äjiodsSo)xd>g,
y.oiUav eycov xal savTio /») evo^olwr, Jicbg dvvarat rrjv avayKaiav jioQit,Eiv XQO(pi]v ;
ov^i 8s EvXoyöv ioztv jidviag v/.iäg tov Cw o-vtov jiQÖvocav noieiv, ovk dvafist'ov-
Tag avTov vj-iäg ahsTv, xovto ydg jiQooaixovvzög iaziv /uäXXor ös rs&vtj^Erai hfÄOi
■)) TovTO jToiEiv vjioarait]. jicög öij xal vfiEig ov dixrjv vcpE^ETS, /il/ ?Mycaä/iEvoi ozi
„ä^iög Eoziv 6 EQyäzrjg zov ficaßov avzov^; xai fuj Isyszco zig' Ovxovv 6 öcoQsäv
szagaa/EdEig P.öyog jicüXeTzuc; f.ii] yivoizo. eI' zig yäg k'ycov jzö&ev Cw Xäßoi, ovzog
sioAeX zov Xöyov — eI öe firj k'^wv zov i^ijv ydoiv ?M/Lißdv£i zQoqn'jv; wg y.ai 6
xvQiog Elaßsi' ev ze dsijzvoig xai (fiXoig, ovbiv Eywv 6 sig avdig jzdvza e/ojv, ovy
dfiagzdvEi. dxo?.ov&o)g ovv zi/uäzs [durch Honorar] jrgEaßvzsQovg y.az}jp]zdg, 8ia-
y.övovg •/o)joifioi^g , yjjQo.g ev ßEßiwxviag , oQc/mvovg ojg i^cx/.ijaiag zsHva. — Ein
fester Monatsgehalt, wie ihn die Gemeinde des Theodotus ihrem Bischof
Natalis aussetzte, wurde als anstöL^ig empfunden (s. den alten Bericht bei
Euseb., h. e. V, 28).
^) Näheres darüber s. unten in dem Kapitel über die Missionare.
*) Auch im Kirchengebet haben Witwen und Waisen ihren Platz un-
mittelbar hinter den Kirchendienern.
138 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
schon deshalb, weil sie nirgendwo fehlten. „Die römische Ge-
meinde", schreibt der Bischof Cornelius, „ernährt 1500 Witwen
und Hilfsbedürtige" (Euseb., h. e. VI, 43); nur die Witwen sind
neben der allgemeinen Kategorie genannt. Die Witwen führten
einen besonderen Ehrentitel in den Gemeinden: „Altar Gottes"^,
und selbst der Heide Lucian wußte, daß Witwen und Waisen bei
den Christen im Vordergrund stehen'^. Der rechte Gottesdienst
ist, Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen, sagt schon der
Jacobusbrief (1, 27), und Hermas beginnt seinen Tugendkatalog
(Mand. VIII, 10) mit den Worten: x^W^^^'^ vm^Qejelv, oQcpavovg y.al
voregrjjuevovg emoxETztso^at^. In der Unterstützung der Witwen
hat die alte Kirche unzweifelhaft einen wichtigen Beitrag zur
Hebung der sozialen Lage der unteren Klassen geleistet*. Daß
Mißbräuche nicht gefehlt haben — sie stellen sich überall ein,
wo Menschen die Sorge für sich selbst ganz oder teilweise ab-
genommen wird — , braucht nicht besonders erwähnt zu werden.
Schon die Briefe an Timotheus zeigen solche ^.
^) S. Polyc. ad Philipp. 4; Tertull. ad uxor. 1,7; Pseudo-Ignat., Tars. 9;
Const. Apost. II, 26 (hier heißen auch die Waisen so, cf. IV, 3). Auf das
Witweninstitut, welches sich schon in dem I. Timotheusbrief findet und auch
der Fürsorge für die Witwen diente, gehe ich nicht ein. Die besondere Sorge
für die Witwen sollte übrigens auch die Wiederverheiratung, die man nicht
gern sah, verhindern.
-) Peregr. 12.
^) Merkwürdig ist auch, wie Vis. II, 4, .3 die Witwen und Waisen hervor-
gehoben sind. Aristides, Apol. 15: ,Von den Witwen wenden sie ihre Auf-
merksamkeit nicht ab, und die Waisen befreien sie von dem, der sie ver-
gewaltigt." — Beispiele, daß Privatpersonen Waisenkinder in ihre Familien
aufnahmen, fehlen nicht. So ist Origenes aufgenommen worden von einer
christlichen Frau (Euseb. VI, 2), cf. Acta Perpet. et Felic. 15 und Const.
Ap. IV, 1. Für die Pflicht, Witwen und Waisen zu unterstützen, bringt
Lactantius (Inst. VI, 12) noch ein besonderes Argument bei: „Gott hat des-
halb sie zu versorgen befohlen, daß nicht jemand aus Rücksicht auf seine
Lieben sich abhalten lasse, für die Gerechtigkeit in den Tod zu gehen, son-
dern ohne Zögern und tapfer ihn auf sich nehme, da er weiß, daß er seine
Lieben Gott zurückläßt, und daß ihnen niemals Schutz und Hilfe fehlen wird."
^) Vgl. noch Hermas, Simil. I; V, 8; IX, 26. 27; X, 4; Polyc. ep. 6, 1;
Bamab. 20,2; Ignat. , Smyrn. 6 (über die Häretiker: jieqI ä}'(im]g ov /nsksi
avTolg , ov jt^qI yJ]Mii , ov .tf^u 6Q(pavov , ov ;rfßt O/.cßofuvov , ov jteqI deSsjUEVov
r/ ?.£?.vfüvov, ov :jEQi :^sivwvzog t] öiipcövro?:) ; Ignat., ad Polyc. 4; Justin,
Apol. I, 67; Clem. ep. ad Jacob. 8: roTg fih' ogqavoTg Jioiovvzsg rä yoviwv, ralg
fi£ yjifjaig zu urfiQÖn'; Tertull., ad ux. 1,7. 8. Das 3. und 4. Buch der Const.
App.; Pseudoclem. de virg. 1,12: „Pulchrum et utile est visitare pupillos et
viduas, imprimis pauperes qui multos habent liberos." In bezug auf die
empörende Unbarmherzigkeit mancher heidnischer, in Luxus versunkener
Damen vgl. das beißende Wort des Clemens (Paedag. III, 4, 30): jraidiov de
ovSt jiooGiEvzai oQCfarov al zovg yuzzaxovg xai zovg ;)j«p«(^£*<or? txzQitfovoai.
') Klatschsucht, Habsucht, Trunksucht und Arroganz der Witwen, die von
der Gemeinde ihren Unterhalt empfingen, mußten bekämpft werden. Selbst
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. 139
(4) Die Unterstützung der Kranken, Schwachen, Ar-
men und Arbeitsunfähigen. Von der Heilung der Kranken
ist bereits oben die Rede gewesen; wo Heihmg nicht möglich
war, sollte die Gemeinde sie unterstützen, unterstützen durch Trost
— im Kirchengebet ist von Anfang an ihrer gedacht worden ^ — ,
durch Besuche^ und durch Gaben (in der Regel Naturalien).
Den Kranken stehen die „sv ■d-Xiipei" und die „xdjuvovreg rf] 'ipvxf]"
(Herrn. Mand. VIII, 10) sehr nahe, ferner auch die Hilflosen und
Arbeitsunfähigen — ■ „senes domestici" hebt Tertullian ausdrücklich
hervor — , endlich überhaupt die Armen. Stellen hier anzuführen,
ist überflüssig: nicht nur die Mahnungen kehren immer wieder,
sondern auch konkrete Beispiele sind ziemlich zahlreich, obschon
unsere Quellen nur beiläufig und wie zufällig solche Fälle er-
wähnen'. Diakonen, „Witwen" und Diakonissen (letztere gab es,
wie es scheint, nur im Orient) waren für solche Tätigkeit ein-
gesetzt. A^on den Diakonen heißt es in der Apostolischen Kirchen-
ordnung: „Täter der guten Werke sollen sie sein, Tag und Nacht
überall umherspähend, weder den Armen verachtend noch des
Reichen Person ansehend ; sie sollen den Notleidenden erkennen
nnd ihn nicht von dem Anteil an der Gemeindekollekte ausschließen,
den Vermögenden aber nötigen, zu guten Werken zurückzulegen."
Von den „Witwen" wird (ebendort) gesagt, sie sollen den von
Krankheiten heimgesuchten Frauen beistehen, und auch unter den
Qualitäten des Bischofs wird verlangt , daß er „rpdojncoyioQ" sei *.
Eine alte Legende aus der Verfolgungszeit des Decius erzählt,
der Diakon Laurentius in Rom habe auf das Verlangen, die Schätze
das kam vor, daß Witwen das Geld, das sie empfingen, auf Wucherzins aus-
liehen (s. Didasc. Apostol. c. 15, Texte u. Unters. Bd. 25 H. 2 S. 78. 274 ff".).
Aber auch geistesmächtige Witwen gab es; ja man rechnete darauf, daß
rechte, im Gebet verharrende Witwen Offenbarungen empfangen werden (s. d.
Apostol. Kirchenordnuug).
») S. I Clem. 59, 4.
-) Tert. ad uxor. II, 4 (über die schwierige Lage einer Christin , die
einen Heiden zum Mann hat): ,Wird er ihr es gestatten, Straße für Straße
in fremde und grade in die ärmsten Hütten einzutreten, um die Brüder zu
besuchen?"
^) Daß die private Hilfleistung oder gar die der Gemeinde nicht ein-
treten sollte, wenn die Familie im stände war, ein hilfloses Glied zu unter-
stützen, ist selbstverständlich, wird aber I Tim. 5, 8 so scharf vorgehalten,
daß man sieht, wie Versuche von Abwälzungen nicht gefehlt haben („So
jemand die Seinen, besonders seine Hausgenossen, nicht versorgt, der hat den
Glauben verleugnet und ist ärger als ein Heide").
*) Apost. Kirchenordn. in den Texten u. Unters. II, 5 S. 8 ff. In der Vita
Polycarpi (Pionius) werden Züge von diesem Bischof erzählt, die an den
h. Franciscus erinnern. Über die weibliche Diakonie s. Uhlhoru, a. a. 0.
S. 159-171.
140 Die Misftiouspredigt iu Wort und Tat.
der Kirche auszuliefern, die Armen als die einzigen Schätze be-
zeichnet. Das war kühn, aber doch nicht unwahr: das, was die
Kirche besaß, ist von Anfang- an und stets als Armengut bezeichnet
worden, und in den ersten Jahrhunderten war das noch keine
Lüge ^ Daß das Unterstützungssystem der Kirche ^ trefflich war,
einen tiefen Eindruck machte und viele gewann, dafür liefert Julian
der Apostat den besten Beweis. Er hat versucht, es in seiner
künstlichen Schöpfung, der heidnischen Staatskirche, einfach nach-
zuahmen, um den Christen diese Waffe zu entreißen. Die Nach-
ahmung gelang freilich nicht.
Julian bezeugt uns aber nicht nur die Trefflichkeit des kirch-
lichen Unterstützungssystems, sondern auch seine Ausdehnung
auf Mcht-Christen. An Arsacius (Sozem. V, 16) schrieb er: „Die
gottlosen Galiläer ernähren außer ihren eigenen Armen auch die
unsrigen; die unsrigen aber ermangeln unserer Fürsorge." Dieses
Zeugnis ist um so wichtiger, als wir in christlichen Quellen kein
genügendes Material für diese ausgedehnte Armenpflege besitzen.
Doch s. sub. Nr. S, und schon Paulus ermahnte (Gal. 6. 10):
„Lasset uns Gutes tun an allen, am meisten aber an den Ge-
nossen des Glaubens." „Wahre Barmherzigkeit", schreibt Ter-
tullian, Apol. 42, „gibt auf den Gassen mehr Geld aus als eure
Religion in den Tempeln." Die Gemeindekasse war wohl aus-
schließlich für die Brüder da, aber die private Wohltätigkeit hat
sich nicht auf die Glaubensgenossen beschränkt. Bei gi-oßen
Kalamitäten haben außerdem — nach sicheren Zeugnissen, s. u. —
die Christen auch den Nicht -Christen geholfen und sogar ihre
Bewunderung geerntet.
(5) Die Sorge für die Gefangenen und in den Berg-
werken Schmachtenden. In dem Tugendkatalog bei Hermas
liest man an dritter Stelle : f| dvayy.cTjv IvTQovoßm rovg dov?^ovg
rov deov. Unschuldige Gefangene gab es mancherlei, vor allem
um des Glaubens willen Eingekerkerte und in Schuldhaft Be-
findliche. Auf beide sollte sich die Liebestätigkeit erstrecken,
und zwar sowohl die offizielle (kirchliche) wie auch die private.
Zunächst sollten sie besucht, getröstet und durch Nahrungsmittel
ihre Laffe erleichtert werden^. Der Besuch der Gefangenen war
^) Aller Not konnte natürlich nicht gesteuert werden; von Christen, die
bei Heiden Geld leihen müssen, spi-icht Tertull., de idolol. 23. Es scheint
das doch nicht so selten gewesen zu sein.
^) Über die zu Unterstützenden wurde eine Matrikel geführt (dies läßt
sich sicher erschließen). Allein diese Tatsache schon gab den Ai-nien einen
moralischen Halt: sie wußten, daß sie nicht unbeachtet blieben.
*) Hebr. 10, 34: roTg ösafitoig ovreTiaOtjoare. I Cleni. 59, 4 (Kirchengebet):
?.vT(jojoai Tovg ösojbttov? rjfiwv. Ignat., Smyrn. 6: (es ist Pflicht zu sorgen) :^sqI
Das Evangelium der LieV)e und Hilfleistung. 141
regelmäßig Pflicht der Diakonen — sie kamen dadurch öfters in
eine gefährliche Lage — . aber auch die übrigen Christen sollten
sie üben. Waren die Gefangenen um ihres Glaubens willen ein-
gesetzt, imd waren es gar angesehene Lehrer, so war es nicht
schwer, das Gebot zu erfüllen, ja viele setzten alles daran, um
zu den Gefangenen zugelassen zu werden^; denn der Verkehr
mit dem Konfessor galt als eine Heiligung. Man scheute sogar
nicht Bestechungen der Gefängniswärter-, um Einlaß zu erhalten,
gute Mahlzeiten einzuschmuggeln und den Segen des Heiligen zu
erflehen. Die Märtyrergeschichten sind angefüllt von Erzählungen
dieser Art; auch dem Lucian ist das nicht verborgen geblieben,
und er macht auf Ungehörigkeiten aufmerksam, die dabei vor-
kamen. Die christlichen Quellen bestätigen das, und zwar be-
sonders die der späteren Zeit^; aber schon in der montanistischen
Kontroverse spielt die Frage eine Rolle, ob nicht dieser oder
jener angesehene Konfessor in Wahrheit ein Schwindler gewesen
öedeuhov >j /.e/.viih-oi\ Clem. ep. ad Jacob. 9: roTg iv cfv/.ay.uTg e:nq(uv6fieroi
log dvraaüs ßotjdeTre. Aristides. Apol. 15: „Und wenn sie hören, daß einer
von ihnen gefangen ist oder bedrückt wegen des Xamens ihres Christus, so
nehmen sie sich alle seiner Notdurft an, und wenn es möglich ist, daß er
befreit werde, so befreien sie ihn." Von dem Jüngling Origenes wird erzählt
(Euseb., h. e. VI. 3): -Er war mit den h. Märtyrern nicht nur, so lauge sie
sich im Gefängnis befanden und das Endurteil über sie noch nicht gesprochen
war, zusammen, sondern auch wenn sie zum Tode geführt wurden, und ging
so voll des größten Freimuts den Gefahren offen entgegen." Tertull., ad
mart. Iff. : .Inter carnis alimenta, benedicti martyres designati, quae vobis
et domina mater ecclesia de uberibus suis et singuli fratres de opibus suis
propriis in carcerem subministrant etc." Acta Pass. Perpetuae 3. Petri Alex,
ep. c. 2 (Lagarde, Reliq. jur. ecel. p. 64, 14f.). c. 11 (p. 70, 1 f.\ c. 12 (p. 70, 20 f.).
\) S. die Thecla in den Acta Theclae und viele andere Beispiele , z. B.
Tertull.. ad uxor. 11,4.
-) S. die Thecla; Lucian, Peregr. 12; Epist. Lugd. bei Euseb. V, 1, 61.
^) S. Lucian, Peregr. 12. 13. 16 („köstliche Speisen"). Tertullian — am
Ende seines Lebens, als er von grimmigem Haß gegen die große Kirche
erfüllt war — schreibt de jejun. 12: „Eure Mode ist es freilich, für unsichere
Märtyrer in den Gefängnissen Garküchen zu errichten, damit sie nicht aus
der Gewohnheit kommen, des Lebens nicht überdrüssig werden und sich an
der Schule der ihnen ungewohnten Entbehrungen nicht stoßen. Bis zu dieser
hatte es ja auch jener Pristinus [oder jener Jüngste] — euer Märtyrer, kein
christlicher — noch nicht gebracht. Nachdem ihr ihn. den ihm bewilligten
freien Gewahrsam benutzend, eine Zeitlang gemästet hattet und er sich in
allen möglichen Bädern, als wären sie besser wie die Taufe, an allen Er-
holungsarten der feinen Welt, als wären dies die Heimlichkeiten der Kirche,
und mit allen Reizen einer solchen Lebensweise, als stünden sie über dem
Ewigen, amüsiert hatte — aus dem Grunde, wie ich glaube, um kein Ver-
langen nach dem Tode zu bekommen — . so habt ihr ihm am letzten Tage,
am Tage des Verhörs, in aller Frühe gewürzten Wein eingegeben (um ihn
gegen die Qualen zu betäuben)."
142 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
ist, der Yergchungcn wegen in den Kerker gewandert ist, aber
die Sache so zu drehen verstanden hat, als sei er des christlichen
Glaubens wegen gefangen gesetzt worden. Allein solche Miß-
bräuche waren unvermeidlich und im ganzen gewiß selten. Dit»
Aufseher, selbst innerlich bewegt von der Haltung der Christen,
gestatteten öfters aus freien Stücken den Verkehr mit den Ge-
fangenen (xlcta Perpet. 9 : „Pudens miles optio, praepositus carceris,
nos magnificare coepit intellegens magnam virtutem esse in nobis;
qui multos ad nos admittebat, ut et nos et illi invicem refri-
geraremus").
Waren die christlichen Brüder in die Bergwerke verurteilt,
so ließ man sie auch dort nicht außer acht ^ : ihre Namen wurden
genau aufgezeichnet; man suchte die Beziehungen zu ihnen fest-
zuhalten; man bemühte sich, sie frei zu bekommen^, und man
sandte Brüder dorthin, um ihre Lage zu erleichtern, sie zu erbauen
und zu stärken^. Die Sorge der Christen für ihre Gefangenen
war so bekannt, daß (nach Eusebius X, S) der letzte Kaiser, der
vor Constantin die Christen verfolgt hat, Licinius, ein Gesetz erließ,
„daß sich niemand gegen die Unglücklichen in den Gefängnissen
durch Darreichung von Speise menschenfremidlich zeigen oder
derer, welche in Fesseln vor Hunger verschmachteten, sich er-
barmen dürfe"; „auch war", fährt Eusebius fort, „diesem Gesetz
noch die Straf bestimmung beigesetzt, daß die Mitleidigen das
gleiche Geschick mit den Bemitleideten haben, und diejenigen,
welche den Unglücklichen einen menschenfreundlichen Dienst er-
wiesen, in Fesseln und in das Gefängnis geworfen werden und
die gleiche Strafe wie jene erdulden sollten." Dieses direkt
gegen die Christen gerichtete Gesetz zeugt sicherer als alles
andere von der Sorge der Christen für ihre Gefangenen, mag
dabei auch manches untergelaufen sein, was der Staat nicht
dulden durfte.
*) S. Dionysius Cor. bei Euseb. IV, 23, der der römischen Gemeinde ein
leuchtendes Zeugnis ausstellt.
^) Mau vgl. die Geschichte, die Hippolyt (Philos. IX, 12) erzählt: Der
römische Bischof Victor besitzt eine Liste aller nach Sardinien in die Berg-
werke veinirteilten Christen und bekommt sie wirklich durch die Interzession
der kaiserlichen Konkubine Marcia bei Commodus frei.
^) Besonders schöne Beispiele hierfür in der Schrift Eusebs de mart.
Palaest. für die Zeit der Diocletianischen Verfolgung. Ägyptische Christen
gehen bis in die entferntesten Bergwerke, selbst nach Cicilien, um ihre dort
zu Zwangsarbeiten verurteilten Brüder zu stärken und zu erbauen. Bei den
Bergwerken in Phäno wird eine förmliche Kirche eingerichtet. Vgl. auch
Ap. Const. V, 1 : si' zig Ägiatiavog diu rij ovofia zov Xqiotov . . . xaraxQi&f/ vno
daeßüiv sig . . , fiha/.Xov, jiit] Tiagidrjxf. avrov, d?J.' ex rov xöjiov xal zov u^Qonog
vfiüiv jiEfiipazs avzöj el; Öiaroor/ ijv avzov y.al eh (iia&odoaiav zwv oroazicozMP.
Das Evaugelium der Liebe und Hilfleistung-. 143
Aber nicht nur die Lage der Gefangenen zu erleichtern ver-
suchte man, sondern auch sie loszukaufen. Fälle dieser Art bei
Schuldgefangenen müssen nicht ganz selten gewesen sein — leider
ist uns das Urteil erschwert, weil wir häufig nicht sicher entscheiden
können, ob von Gefangenen oder von Sklaven die Rede ist, denen
der Loskauf galt. Jedenfalls wurde das Loskaufen als ein besonders
gutes und Gott wohlgefälliges Werk betrachtet; es scheint aber
niemals von Gemeinde wegen unternommen worden zu sein,
sondern blieb stets dem Edelmut Privater überlassen, und einzelne
haben dabei wahrhaften Heroismus bewiesen ^
(6) Die Sorge für die zu begrabenden Armen und
die Verstorbenen überhaupt. Hier mag das \Yort des Kaisers
Julian voranstehen (ep. ad. Arsacium bei Sozom. Y. 15): „Am
meisten ist die Gottlosigkeit (das Christentum) gefördert worden
durch die Philanthropie in bezug auf die Fremden und durch die
Fürsorge für die Bestattimg der Toten." Daß aus der Gemeinde-
kasse das Begräbnis armer Brüder besti'itten wurde, sagt Tertullian
(s. 0. S. 1 32), und Aristides (Apol. c. 1 5) bestätigt es, aber als Übung-
privater Hilfleistung: „So oft aber einer von ihren Armen aus
der Welt geht und ihn irgend einer von ihnen sieht, so nimmt er
sich nach Kräften seines Begräbnisses an." Welche Bedeutung
in jener Zeit ein ehrliches Begräbnis hatte, und wie schmerzlich
die Aussicht war, ein solches entbehren zu müssen, ist bekannt.
Die christliche Gemeinde kam hier einer Gesinnung entgegen, die
auch bei ihren Gegnern als eine Pflicht der Humanität empfunden
wurde. Über irdische Schmach sollten sich die Christen erhaben
fühlen; aber nicht, wie es sich geziemt, bestattet zu werden, war
auch ihrer Empfindimg etwas Schreckliches. Speziell die Diakonen
^) Henii., Sim. I: dvTi dyoöj}' dyooaQsxE yw/äg dhßoiiivag , na&d ri; bvva-
tög iaziv. Sim. X, 4, 2 f. , IClem. 55, 2: eTiioTUfiEßa :ro/./.ovg iv ij/icTv zraoahsöo)-
y.ötag kavxovg elg öeoiitd, oTicog srigovg IvTOcöoovTai' jto/J.oI kavzovg igidcoy.av elg
dovlsiav, aal laßövisg rag ri/ndg avzöiv hioovg hpoi/moav. Const. App. IV, 9:
TU sx rov dixaiov y.6:;iov ddooitöixeva yorjuaTa SicndooEzs diay.ovovvzsg sig dyo-
gaa^uovg tmv ayiojv, ovö/nsvoi öov'/.ovg y.ai alyjta'/.o'novg, deaiiiovg, i.-rrjosa^ousvovg,
tjy.ovrag ly. y.azaSiyrjg y.z/.. , cf. V, 1, 2. Auf die Befreiung aus der Schuldhaft
bez. auf die Verhütung derselben durch mildtätige Brüder bezieht sich eine
Ausführung Tertullians de idolol. 23. — Als numidische Räuber Christen
weggeschleppt hatten, sammelte die carthaginiensische Gemeinde schnell ein
Lösegeld von 100000 Sestertien und erklärte sich zu weiteren Hilf leistungen
bereit (Cypr. , ep. 62). Als die Gothen in Cappadocien Christen um das
Jahr 255 geraubt hatten, sandte die römische Gemeinde Beiträge zum Los-
kaufen derselben (Basil., ep. 70 ad Damas.). Über beide Fälle s. unten. Das
Loskaufen der Gefangenen gilt auch in der Folgezeit als ein gutes Werk von
besonderem Werte. Le Blaut hat mehrere gallische Inschriften des 4. und
5. Jahrhunderts publiziert, in denen dem Verstorbenen nachgerühmt wird:
,Er hat die Gefangenen losgekauft.''
144 Dit? Missionspredigt in Wort und Tat.
hatten die Sorge dafür, daß jeder anständig begraben werde
(Const. Ap. III. 7) ^. An diesem Punkt ging man auch über die
Grenzen der Bruderschaft im gegebenen Fall hinaus. „Wir werden
es nicht dulden", schreibt Lactantius-, „daß das Bild und Geschöpf
Gottes den wilden Tieren und Yögeln als Beute hingeworfen wird,
sondern werden es der Erde zurückgeben, von der es genommen
ist'', und auch an einem unbekannten Menschen das Amt seiner
Verwandten erfüllen, an deren Stelle, wenn sie fehlen, die
Humanität tritt*." — Hierher muß aber auch die Sorge für den
späteren Zustand der Verstorbenen gerechnet werden : auch sie
galten z. T. noch immer als Hilfsbedürftige und der Unterstützung
Fähige. Man brachte in ihrem ]N^amen und zu ihrem Seelenheile
^) Sogar ein gewisser Luxus war an diesem Punkte den Christen ge-
stattet; s. Tertull.. Apolog. 42: „Wenn sich aber Arabien über uns beklagen
sollte [daß wir diesem Lande nichts zu verdienen geben], so mögen die Sabäer
wissen, daß eine teurere und bessere Sorte ihrer Ware beim Begräbnis von
Christen wahrhaft verschwendet wird, als die ist, von der man den Cxötzeu
räuchert." Zum richtigen Begräbnisse gehörte auch, daß man bei seinen
Glaubensgenossen ruhte. Wer die Seinigen ohne Not bei den Nicht - Christen
bestattete, setzte sich schwerer Anklage aus; aber wir hören, daß um die
Mitte des 3. Jahrhunderts selbst ein Bischof in Spanien seine Kinder bei den
Heiden beigesetzt hat; s. Cyprian, ep. 67,6: „Martialis [episcopus] praeter
gentilium turpia et lutulenta convivia in coUegio diu frequentata filios in
eodem collegio exterarum gentium more apud profana sepulcra deposuit et
alienigenis consepelivit." Auf jüdischen Friedhöfen sind vereinzelte Christen-
gräber gefunden worden.
2) lustit. VI, 12.
^) Die Christen waren deshalb auch Gegner der Leichenverbrennung
und versuchten alles, um wenigstens die Reste der verbrannten Brüder aus
dem Feuer zu sammeln. Der Glaube der „simplices" in bezug auf die Auf-
erstehung des Leibes kam ins Wanken angesichts der Verbrennung; aber die
Theologen haben sie stets beschwichtigt, obgleich auch sie die Verbrennung
für eine Unsitte hielten; s. Epist. Lugd. bei Enseb. V, 1 fin.; Tertull.. de
anima 51: „Nee ignibus funeraudum aiunt [seil, einige Heiden], parcentes
superfluo auimae [seil, weil am Körper noch etwas Seele haftet], alia est
autem ratio pietatis istius [seil, der Christen], non reliquiis animae adulatrix,
sed crudelitatis etiam corporis nomine aversatrix, quod et ipsum homo non
utique mereatur poenali exitu impendi.'' Tertull., de resurr. 1: „Ego magis
ridebo vulgus, tum quoque, cum ipsos defunctos atrocissime exurit, quos
postmodum gulosissime nutrit .... o pietatem de crudelitate ludentem!"
Die Gründe, welche, wie es scheint, von Anfang an zur Ablehnung der
Leichenverbrennung bei den Christen geführt haben, sind uns nicht über-
liefert. Man kann sie nur zu erraten versuchen.
*) Die Frage nach dem Verhältnis der Gemeinden zu den collegia tenu-
iorum (collegia funeraticia) kann hier ausscheiden; sie ist übrigens auch in
dem letzten Jahrzent mehr zurückgetreten, da wirklich aufklärendes Licht
in bezug auf die Lage der Gemeinden aus ihnen nicht gekonnnen ist, so ein-
leuchtend die Konstruktion scheint, daß die Rechte, welche jene Kollegien
erhalten hatten, zeitweilig auch den Christen zugut gekommen sind; s. Neu-
mann, Römi'-cher Staat und Kirche I S. 102 ff.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistnng. 145
Oblationen dar, die als wirksame Fürbitten galten, und diese ur-
alte Sitte hat unzweifelhaft eine große Bedeutung im Leben gehabt,
vielen besorgten Angehörigen Trost gebracht und die Anziehungs-
kraft des Christentums besonders erhöht ^.
(7) Die Sorge für die Sklaven. Eine „Sklavenfrage" hat
man der alten Kirche zu Unrecht beigelegt. Die alten Christen
beurteilten die Sklaverei nicht schlechter und nicht besser als den
Staat und die Rechtsverhältnisse^; sie haben nicht daran gedacht,
an der Aufhebung des Staats zu arbeiten, und es kam ihnen nicht
in den Sinn, aus humanen oder verwandten Motiven die Sklaverei
aufzuheben — auch nicht in ihrer eigenen Mitte. Bereits die
neutestamentlichen Briefe setzen voraus, daß christliche Herrn
Sklaven haben (nicht nur, daß heidnische Herrn christliche Sklaven
haben), und geben keine Anweisungen, dies A^erhältnis zu ändern.
Die Sklaven werden vielmehr zur Treue und zum Gehorsam ernst-
lich vermahnt^.
Dennoch würde man unrichtig urteilen, wollte man behaupten,
daß das alte Christentum gleichgültig gegen die Sklaven und ihre
Lage gewesen wäre ; vielmehr hat es ihnen seine Sorge zugewandt
und auf ihre Lage eingewirkt. Es ergibt sich das an folgenden
Punkten :
(a) Die bekehrten Sklaven und Sklavinnen wurden in reli-
giöser Hinsicht als Brüder und Schwestern in vollem Sinne an-
erkannt; ihr Stand in der Welt wurde dem gegenüber als etwas
Gleichgültiges beurteilt *,
*) Tertullian ist für uns der älteste Zeuge dieser Sitte, die nicht ohne
Einfluß des Heidentums entstanden ist, wenn sie auch eine Wurzel im christ-
lichen Kultus selbst haben mag. Gegen die üblichen heidnischen Toten-
mahlzeiten und die Sitte, Speisen an die Gräber zu bringen, hat Tertullian
polemisiert; aber sie bürgerte sich schon im Laufe des o. Jahrhunderts ein
und war nicht mehr auszurotten.
2) Die Apostellehre (c. 4, 11) gebietet sogar den Sklaven, ihren (christ-
lichen) Herrn tog tvtko deov zu gehorchen.
^) Die Stellen in den paulinischen Briefen sind bekannt, s. auch den
I. Petrusbrief. Paulus hat die Freilassung des Sklaven Onesimus im Philemon-
brief weder verlangt noch erbeten. Die Stelle I Cor. 7, 20 f. (k'xaoxog iv ifj
xltjoei fi Ex/.7]ßr] , iv ravit] ^evhco. öov/M? Ey.Xrjdrjg ; fit) goi fielhco ■ dAA' si xai
övvaoai ikevßsQog yevead^ai, fiä?J.ov X9V<^(^^) kann nur so verstanden werden,
daß der Apostel den Sklaven rät, sogar die Möglichkeit der Freilassung nicht
zu benutzen. Die Standesänderung würde ihren Sinn — das scheint die
Meinung zu sein — auf Irdisches ablenken. Ob man aus der Stelle heraus-
lesen darf, daß christlichen Sklaven christlicher Herreu die Möglichkeit frei
zu werden häufiger als anderen geboten war, ist sehr zweifelhaft. In der
Literatur des 2. und 3. Jahrhunderts kommen Christen , die Sklaven haben,
öfters vor, s. z. B. Athenag., Suppl. 35; Acta Perpet. etc.
*) So nach dem Vorgang des Paulus andere, z. B. Tatian, Orat. 11;
Iren. IV, 21, 3: „secundum carnem ex liberis et ex servis Christus statuit filios
Harnack, Jlission. 2- Aufl. 10
]^46 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
(b) sie nalimcn deshalb an den Rechten der Gemeindeglieder
in vollem Umfange teil; Sklaven konnten auch Kleriker werden,
ja sogar Bischöfe K
(c) als Persönlichkeiten (in sittlicher Hinsicht) sollten sie
cbensohoch geschätzt werden wie die Freien: die Geschlechtsehre
und Schamhaftigkeit der Sklavinnen sollte nicht verletzt, den
Sklaven sollten dieselben Tugenden zugemutet werden wie den
Freien, deshalb aber auch dieselbe Wertschätzung ihrer Tugen-
den gelten-,
dei, similiter omuibus daus munus spiritus vivificantis nos'- ; Tertull. , de
Corona 13; Lactant., Instit. V, 15: die Gegner sagten: „Auch bei euch sind
Herren und Sklaven; wie steht es also mit eurer Gleichheit;"' Antwort:
,,alia causa nulla est cur nobis invicem fratrum nomen impertiamus nisi
quia pares esse uos credimus. nam cum omnia humana nou corpore sed
spiritu metiamur, tametsi corporum sit diversa condicio, nobis tarnen servi
non sunt, sed eos et habemus et dicimus spiritu fratres, religioue conservos."
De Rossi (Bullet. 1866 p. 24) macht darauf aufmerksam, daß sich iu christ-
lichen Sepulkralinschriften niemals die Bezeichnung „Sklave" finde. Ob das
zufällig ist oder absichtlich, muß ich dahingestellt sein lassen. — Pflicht
christlicher Herren, ihre Sklaven im Christentum zu unterweisen, s. Aristides,
Apol. 15: ..Die ^Sklaven und Sklaviimen unterweisen sie, daß sie Christen
werden, wegen der Liebe, die sie zu ihnen haben ; und wenn sie es geworden
sind, nennen sie sie Brüder ohne Unterschied."
1) Der römische Presbyter -Bischof Pius, Bruder des Hermas, muß dem
Sklavenstande angehört haben ; der römische Bischof Callist war lu-sprünglich
Sklave. Vgl. den 80. Kanon von p]lvira: „Prohibendum ut lil)erti, quorum
patroni in saeculo fuerint, ad clerum non promoveantur."
-) Hier ist in den Märtyrerakten ein reiches Material zu finden ; erinnert
sei besonders an Blaudina, die lugdunensische Märtyrerin, und an Felicitas
in den Akten der Perpetua. (Gemeinsames Martyrium von Herrn und Sklaven
ist mehrfach bezeugt). Unter den „heiligen Märtyrern" der Kirche sind nicht
wenige Sklaven. Wer würde, wenn es nicht im Texte stünde, ahnen, daß
Blaudina eine Sklavin ist, sie, die von der ganzen Gemeinde hochverehrt
wird und die so edle Züge trägt! In Eusebs Mart. Pal. (Texte u. Unters.
Bd. 24 H. 2 S. 78) heißt es: „.... Porphyrius, der für einen Sklaven des
Pamphilus galt [sie], in der Liebe zu Gott aber und im bewunderungswerten
Bekenntnisse sein Bruder, ja noch mehr ein geliebter Sohn für den Pamphilus
war und seinem Erzieher in allem glich." — Man vgl. übi-igens auch die
Bußgesetzgebung gegen die pfiffigen christlichen Herren, die iu der Diocle-
tianischen Verfolgung ihre christlichen Sklaven gezwungen hatten, für sie zu
opfern (Kanon G u. 7 des Petrus Alex, bei Routh, Reliq. Sacr. IV p. 29f.):
die Herren sollen 3 Jahre Buße tun, xal wg v:ioy.Qirä[iEvoi nal w? xaravayy.ä-
oavrsg rovg 6fwöox>}.ovg ddoai , äie St] Jiagay.ovoai'zeg tov d.~ioaz6?.ov zä arzä
üflovzog jioinTv zovg Ssojtozag roTg Sovkoig , avUvzag zijv CLTisilrjv, eiSörag , fpi/air,
6'zi y.ai vjimv xal uvzcör 6 y.vniög t:aziv ev ovQavoTg, y.al TiQoowJiohpina :Tao' avzto
ovy. t'oziv (Ephes. G, 9; es folgt Coloss. 3, 11) . . . oy.o:Tsiv ocfsdovotv o y.aztiQyä-
oavTO dEh'jouvzsg zip' yw/r/v eavzMV ocöaai , ol zovg ovvSovlovg t'j/iojv flxvoavzfg
LtI fMoy}.o).a.zijEiav dvvafth'ovg y.al avzoi>g syc/jvysTv, sl z6 öty.aiov y.al zip' loüzrjza
fjoav avzoTg :iaQo.oy/>rzF.g , ojg nuhv 6 Ü7i6ozo?.og liysi (Coloss. 4, 1). Den ver-
führten Sklaven wird in diesen Fällen nur eine einjährige Buße auferlegt.
Umgekehrt zeigt Tertull., de idolol. 17, daß man an den Mut und die Be-
Das Evangelium der Liebe uud Hilfleistung. ^47
(d) die Hori'on und Herrinnen wurden eindringlich ermahnt,
alle iliro Sklaven human zai behandeln ^, christlichen Sklaven gegen-
über aber nicht zu vergessen, daß sie ihre Brüder seien 2; um-
gekehrt wird den christlichen Sklaven gesagt, daß sie ihre christ-
lichen Herren nicht verachten, d. h. sich ihnen nicht gleich stellen
sollen ^,
(e) Freilassung der Sklaven hat als ein rühmliches Werk
wahrscheinlich von Anfang an gegolten*, sonst hätte der An-
spruch christlicher Sklaven auf Freilassung nicht entstehen können;
einen solchen Anspruch — zumal an die Gemeindekasse — hat
aber die alte Kirche nicht anerkannt, sondern ausdrücklich zurück-
gewiesen; doch hat sie in einigen Fällen Sklaven aus der Ge-
meindekasse freigekauft ^. Sie beurteilte eben das Hen-enrecht
über die Sklaven an sich niclit als sündig, sondern sah in der
Sklaverei einen natürlichen Stand. Änderungen in dieser Be-
ziehung stammen nicht aus dem Christentum, sondern aus all-
kenntnistreue christlicher Sklaven uud Freigelassener dieselben Ansprüche
stellte wie an die der Vornehmen. Sie sollen, wenn ihre heidnischen Herren
Opfer darbringen, denselben keinen Wein darreichen und keine Formel mit-
sprechen. Tun sie es doch, so sind sie der Idololatrie schuldig. Versuche
heidnischer Herren, ihre Sklaven vom Glauben abzubringen, siud bezeugt,
s. z. B. Acta Pionii 9.
1) Ein schönes Beispiel der angesehenen Stellung einer christlichen
Sklavin in einem christlichen Hause bietet Augustin in seiner Schilderung
der alten Dienerin („famula decrepita") in seinem großväterlichen Hause
(mütterlicherseits), die schon seinen Großvater als Kind gewartet hatte (,.sicut
dorso grandiuscularum puellarum parvuli portari solent"), also schon um 300
tätig war. ,,Propter senectam ac mores optimos in domo christiana satis a
dominis honorabatur; unde etiam curani filiarum dominicarum (also auch der
Mouica) commissam diligenter gerebat (mehr als die Mutter, war schon vor-
her gesagt), et erat in eis coercendis, cum opus esset, sancta severitate vehe-
mens atque in docendis sobria prudentia" (Confess. IX, 8, 17). Auf diese
Sklavin geht die Grundlage der Frömmigkeit Augustins zurück!
-) Daß christliche Herren auch heidnische Sklaven hatten, ist durch
eine lange Reihe von Zeugen vom lugdunensischen Brief an bezeugt. Denun-
tiationen christlicher Herren durch diese Sklaven und Verleumdungen der
christlichen Gottesdienste müssen nicht ganz selten gewesen sein.
^) So schon I Tim. 6, 1 f. Das ist ein Beweis, daß das Christentum von
christlichen Sklaven in manchen Fällen „mißverstanden" worden sein muß.
*) Zweifellose Belege fehlen freilich.
^) Aus dem Brief des Ignatius an Polj'carp (c. 4) folgt beides: (1) daß
Loskauf von Sklaven aus den Mitteln der Gemeindekasse stattgefunden hat,
(2) daß ein Anspruch nicht anerkannt wurde : äovlovg y.al 8ov).ag fa) v.-tsq7]-
(pävef aXlä firjöe avxoi (fvoiovo&cooav [christliche Sklaven konnten leicht die
Bescheidenheit ihi-en christlichen Herren gegenüljer verlieren], all' elg 66'§av
■deov Tclsov 8ovlsv£io}öav, i'ra xoEiTTOvog ilsvßeQcag 6.716 dsov rv/tooiv /iu) iQdzco-
aav ä:i6 roö holvov ilFvOeQovaßui, Iva f^ii) dovlot suqs&ojoiv i.-zi&vficag.
10*
148 l^iß Missionspredigt in Wort und Tat.
gemeinen moralphilosopliischen Erwägungen und wirtschaftlichen
Nötigungen.
Daß leider auch in den christlichen Gemeinden, namentlich
im 3. Jahrhundert, Beispiele empörender Härte und Grausamkeit
gegenüber den Sklaven vorgekommen sind, lehrt uns neben an-
deren Zeugnissen vor allem ein Kanon der um das Jahr 3(tO ge-
haltenen Synode von Eivira^.
Im allgemeinen hat man sich zu erinnern, daß sich schon
im 2. Jahrhundert eine Abnahme der großen Sklavenfamilien be-
merklich macht, und daß diese Abnahme — aus wirtschaftlichen
Gründen — im 3. Jahrhundert stetig zugenommen hat. Die Frei-
lassungen der Sklaven sind häufig abgenötigte gewesen und dürfen
in der Regel nicht als Akte der Barmherzigkeit oder Brüderlich-
keit beurteilt Averden.
(&) Die Sorge bei großen Kalamitäten. Schon im
Hebräerbrief (c. 10, 32 ff.) wird eine Gemeinde dafür gelobt, wie
sie sich in einer großen Terfolgung und Xot herrlich bewährt
hat, bewährt durch Sympathie und Fürsorge. Ermahnungen an
die christlichen Brüder, sich in besonderen Kalamitäten besonders
tüchtig und aufopfernd zu erweisen, begegnen seitdem nicht selten;
aber nicht nur Ermahnungen, sondern auch Zeugnisse, daß die
Ermahnungen gefruchtet haben. Auf die Fälle, in denen die
Gemeinden Schwestergemeinden, auch weit entfernten, geholfen
haben, ist hier noch nicht einzugehen — sie werden sub Nr. 10
aufgewiesen werden — , aber einige Beispiele in bezug auf Kala-
mitäten in der eigenen Mitte mögen hier stehen:
Als in Alexandrien die Pest wütete (um d. J. 259). schrieb
der Bischof Dionysius (Euseb., h. e. VH, 22): „Die meisten unserer
Brüder schonten aus großer Nächstenliebe ihre eigene Person
nicht und hielten fest aneinander. Furchtlos besuchten sie die
Kranken, bedienten sie sorgfältig, pflegten sie um Christi willen
und schieden freudigst zugleich mit ihnen aus dem Leben , . .
Ja viele starben selbst, nachdem sie anderen durch ihre Pflege
die Gesundheit wieder verschafft und deren Tod g-leichsam auf
') Kanon 5: ,Si qua femina furore zcli accensa flagris verberaverit
ancillam suam, ita ut intra tertium dieni animam cum cruciatu eft'undat etc."
Von Herren und Sklaven handelt auch can. 41. — Auf die Krlaubnis des
römischen Bischofs Callist, daß Matronen geschlechtliche Verbindungen mit
Sklaven schließen können, wird in diesem Zusammenhang nicht einzugehen
sein; denn diese Erlaubnis war durch die Rücksicht auf die heiratslustigen
vornehmen Frauen motiviert, nicht aber durch die Rücksicht, die Sklaven
als gleichberechtigt anzuerkennen (HippoL, Philos. IX, 12: y.al yvvai'ilv ettf-
TOfipev, Fl uvavdooi fIev xal rjltxiq ye FxxmoivTO dva^ia tj mvnoi' d^i'av fuj ßov-
t.oivTO HudaiotTv dtu z6 vo/nifuog yufitjdiirai , e/eiv t'va ov liv atQtjocovTui, oir/xonov ,
eile otxhtp-, nl'rf. E/.EvßFQor, xal tovtov xihvfiv uvrl dvÖQÖg liilj rofuo yeyaurj/iEvtp').
Das Evangelium der Liehe und Hilfleistung. 149
sich verpflanzt hatten . . . Auf diese Weise starben die Edelsten
unserer Brüder, einige Presbyter, Diakone und hochgefeierte
Laien . . . Bei den Heidon aber fand das gerade Gegenteil statt.
Sie stießen diejenigen, Avelche zu erkranken begannen, von sich,
flohen von den Teuersten hinweg, warfen die Halbtoten auf die
Sti-aße hin und ließen die Toten unbeerdigt liegen."
Ähnliches wird uns von Cyprian bei der Pest in Carthago
berichtet; er ruft dem Heiden Demetrian (c. 10) zu: „pestem et
luem criminaris, cum peste ipsa et lue vel detecta sint vel aucta
crimina singulorum, dum nee infirmis exhibetur misericordia et
defunctis avaritia inhiat ac rapina. idem ad pietatis obsequium timidi ^,
ad impia lucra temerarii, fugientes morientium funera et adpetentes
spolia mortuorum." Wie er aber selbst ermahnt hat, zeigt seine
Schrift „de mortalitate", und wie er gehandelt und durch sein
Beispiel auch andere Christen entflammt hat, berichtet sein Bio-
graph Pontius (Vita 9 ff.): „adgregatam primo in loco plebem de
misericordiae bonis instruit. docet divinae lectionis exemplis . . .
tunc deinde subimigit non esse mirabile, si nostros tantum debito
caritatis obsequio foveremus: eum enim perfecrum posse fieri, qui
plus aliquid publicano vel ethnico fecerit. qui malum bono vincens
et divinae clementiae instar exercens inimicos quoque dilexerit . . .
Quid Christiana plebs faceret, cui de fide nomen est? distril)uta
sunt ergo continuo pro qualitate hominum atque ordinum ministeria
[also organisierte Hilfleistung], multi. qui paupertatis beneficio
sumptus exliiberi non poterant, plus sumptibus exhibebant, compen-
santes proprio labore mercedem divitiis omnibus cariorem . . .
fiebat itaque exuberantium operum largitate. quod bonum est ad
omnes. non ad solos domesticos fidei."
Ganz ähnlich hören wir bei der großen Pest z. Z. des Maximinus
Daza von dem tätigen Mitleid und der selbstverleugnenden Liebe
der Christen auch in bezug auf Andersgläubige (Euseb., h. e. IX, S):
„Sie zeigten sich damals allen Heiden im hellsten Lichte ; denn
die Christen waren die einzigen, welche inmitten so vieler und so
großer Drangsale ihr Mitgefühl und ihre Menschenliebe durch die
Tat selbst bewiesen. Die einen beschäftigten sich Tag für Tag
mit der Pflege und Bestattimg der Leichen (es gab unzählige,
um welche sich sonst niemand kümmerte); die anderen ver-
sammelten die in der ganzen Stadt von Hunger Gequälten
an einem Ort und teilten unter alle Brot aus. Als dies
bekannt wm'de, pries man den Gott der Christen und bekannte,
daß sie allein die wahrhaft Frommen und Gottesfürchtigen seien,
weil sie es durch die Tat selbst bewiesen."
^) Cf. Cypr. per Pont. 9: ^iacebant Interim tota civitate vicatim non
iam Corpora, sed cadavera plurimorum.'"
150 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Man darf gewiß annehmen, daß solche Fälle, wie ja auch
Eusebius sagt, auf die Xichtchristen einen tiefen Eindruck machten
und die Propaganda mächtig beförderten.
(9) Arbeitsnachweis und Eecht auf Arbeit in den
Gemeinden. Das Christentum verbreitete sich zuerst haupt-
sächlichlich unter der hart arbeitenden Bevölkerung und hat diese
zwar nicht „die Würde der Arbeit" oder „die hohe Befriedigung,
welche die Arbeit gewährt", gelehrt, wohl aber die Pflicht zu
arbeiten ihnen eingeschärft ^. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht
essen" (II Tliess. 3, 10). Daß die Unterstützungspflicht ihre Grenzen
an der Arbeitsfähigkeit hat, ist immer wieder gepredigt worden.
Die Beobachtung, daß Brüder in ein aufgeregtes, arbeitsscheues
Treiben gerieten, mußte man bald machen, auch die andere,
schmerzlichere, daß arbeitsscheue Brüder die Mildtätigkeit in eigen-
nütziger Weise auszubeuten suchten. Die Sache war so bekannt,
daß in der kurzgefaßten „Apostellehre" Yorkehrungen gegen solche
Versuche getroffen sind, und daß Lucian es als einen charakteri-
stischen Zug im Bilde der Christen bezeichnet, sie ließen sich in
ihrer Bruderliebe von abgefeimten Schwindlern leicht betrügen 2.
Jedenfalls kann man dem Christentum nicht den Vorwurf
machen, es habe den Bettel groß ziehen wollen und die Pfliclit
der Arbeit unterschätzt ^. Selbst den Vorw^urf „infructuosi in
negotiis" zu sein, w-ollte Tertullian nicht auf den Christen sitzen
lassen: „Wie? Leute, die mit euch zusammenleben, Leute von
derselben Lebensweise, Kleidung, Einrichtung und denselben Be-
dürfnissen des Lebens? Wir sind doch keine Brahmanen oder
indische Gymnosophisten, Waldmenschen und aus dem Leben
bereits ausgeschieden? . . . Wir wohnen in dieser Welt mit euch
zusammen nicht ohne den Gebrauch des Forum, nicht ohne den
Fleischmarkt, ohne die Bäder, ohne eure Kaufläden, Werkstätten,
Ställe, Jahrmärkte und sonstigen Handelsverkehr. AVir treiben
mit euch Schiff'ahrt, tun Kriegsdienst, treiben Ackerbau und
Handel; wir gesellen unsere Kunstfertigkeit zu der der anderen
und geben die Erzeugnisse unserer Arbeit zu eurem Gebrauche
*) Als eine stille Unterströmiing verbreitete sich aber doch die Maxime,
daß gänzliche Hingeljung an das Heilige — „der himmlische Vater wird uns
ernähren, wie er die Vögel ernährt und die Lilien kleidet" — ein höherer
Stand sei. Apostel und Propheten (wohl auch von Anfang an heroische
Asketen) brauchten nicht mit der Hand zu arbeiten. Man nahm an, dal.^
ihre Predigttätigkeit ihre ganze Persönlichkeit fordern und ihi-e ganze Zeit
ausfüllen werde.
-) Scharfe Warnung gegen die „otiosi", die von Religion schwatzen statt
zu arbeiten, im pseudoclementinischen Brief de virginit. 1, 11.
^) S. II Thess. ?>,ii: utagay/t/.oinev vfilv h ovo/naTi zov xvulov '/. A'. otü.Ie-
oüai v/iiäg u:tü navzog uSeÄipov äiüxtiog TiEQijiatovvzog , cf. v. 12.
Das Evangelium der Liebe uud Hilfleistung. 151
hin" (Apol. 42) ^. Sogar Kleriker standen mitten im allgemeinen
Erwerbsleben 2. Über die Notwendigkeit der Arbeit linden sich
bei Clemens Alexandrinus imd anderen treffliche Worte. Daß
ziu' Ai'beit auch durch die Erwägung angefeuert wurde, man könne
sich dadurch etwas erwerben, um andere zu unterstützen, wurde
schon bemerkt (s. o. S. 1 34). Es war das nicht nur ein Hüchtiger
Gedanke, sondern die häufige Wiederhohmg dieses Satzes seit
der Ermahimng im Epheserbrief zeigt, daß man in ihm ein wicli-
tiges Motiv, mit Fleiß zu arbeiten, erkannte. Daß der Arbeiter
seines Lohnes wert sei, ist ebenfalls schlicht und eindringlich ver-
kündigt und ein schreckliches Strafgericht denen prophezeit worden,
welche den Arbeitern ihren Lohn vorenthalten (s. vor allem den
Jacobusbrief c. 5, 4 f.). Daß in einer religiösen Gemeinschaft, der
die Gefahr der Schwärmerei und Tatenlosigkeit so nahe lag, so
nüchtern von der Arbeit gesprochen und so ernsthaft die Arbeits-
pflicht eingeschärft worden ist, ist bewundermigswürdig ^.
Aber das eigentlich Bemerkenswerte haben wir noch nicht
berührt. Es waren uns schon früher einige Stellen bekannt, aus
denen wir schließen konnten, daß in der ältesten Christenheit
mit der Anerkennung des Anspruchsrechts eines jeden christlichen
Bruders auf das Existenzminimum auch eine Pflicht der Gemeinden
existierte, dieses Minimum entweder durch Arbeitsnachweis oder
durch Unterstützimg zu gewähren. So lesen wir in den pseudo-
clementinischen Ilomilien (ep. Clem. 8): „dem Arbeitsfähigen
Arbeit, dem Arbeitsunfähigen Mitleid" *, und Cyprian (ep. 2) hält
') Tertullian verschweigt hier seine eigenen sittlichen Anschauungen
und spricht vom Standpunkt der Majorität der Christen. In Wahrheit war
er, wie die Schrift de idololatria lehrt, der Überzeugung, daß es kaum einen
Beruf (oder ein Handwerk) gebe, das der Christ ausüben könne, ohne sein
Gewissen mit Götzendienst zu beflecken.
^) Erst in den Bestimmungen von Elvii-a (can. 19} liest mau Beschrän-
kungen, aber vorsichtige: „Kpiscopi, presbyteres et diacones de locis suis
[nur das wird verboten] negotiandi causa non discedant; . . . sane ad victum
sibi conquirendum aut filiuni aut libertum aut mercenariuni aut amicum aut
quemlibet mittant; et si voluerint negotiari, intra provinciam negotieutur."
^) Hier mag noch die in der Didasc. apost. c. 13 S. 73 f. gegebene An-
weisung stehen: „All ihr Gläubigen nun sollt au jedem Tage und zu jeder
Zeit, so oft ihr nicht in der Kirche seid, fleißig bei eurer Arbeit sein, so daß
ihr die ganze Zeit eures Lebens . . . niemals müßig seid. Denn der Herr hat
gesagt [folgt Proverb. 6, 6 — 11], Seid also allezeit tätig, denn eine Schande,
die nicht wieder gut zu macheu ist, ist der Müßiggang. So aber jemand
bei euch nicht arbeitet, der soll auch nicht essen; denn die Faulen haßt
auch Gott der Herr; ein Fauler nämlich kann nicht ein Gläubiger werden."
*) UuQej^ovTsg fisiä jTÜo7jg fVff^oavvijg tu; TOO(f(ig . . . roig dze/roig Sia
rxbv ijiiTtjösvfidrojv evvoov^ievoi. rag :TQO(fäoeig rr/g uvuyy.aiug T(joqfjg' leyrizt]
egyov, dÖQavei e/.eog.
j^52 Die Missioiispredigt in Wort und Tat.
es für selbstvorsttlndlich , daß die Gemeinde, wenn sie einem
Lehrer der Schauspielkunst die Ausübung dieses Berufes unter-
sagt, für ihn sorgen, bez. wenn er sonst nichts kann, ihm das
Existenzminimum gewähren muß^ Aber wir wußten doch nicht,
ob diese Pflicht wirklich generell empfunden wurde. Seitdem
mr die „Apostellehre" besitzen, ist das anders geworden. Hier
heißt es (c. 12), daß kein arbeitsfähiger Bruder länger als zwei
oder drei Tage von der Gemeinde unterstützt werden soll. Es
besteht also ein Recht der Gemeinde, solche Brüder abzuschieben.
Aber dieses Recht hat zu seiner Kehrseite eine Pflicht: „Ist der
Bruder ein Handwerker, so möge er sein Handwerk ausüben
und essen. Kann er aber kein Handwerk, so tragt dafür
Sorge, daß kein Christ als Müßiger mit euch lebe.
Wenn er aber das nicht tun will [die ihm von euch nachgewiesene
Arbeit nicht leisten], so ist er einer, der mit Christus Handel
treibt (xQioTfjujrooog). Haltet euch fern von solchen." Hiernach
ist es nicht zweifelhaft, daß der christliche Bruder in der Ge-
meinde Arbeit verlangen konnte, und daß sie ihm solche nach-
weisen mußte. Nicht nur die Unterstützungspflicht also ver-
band die Gemeindeglieder — sie war nur die ultima ratio — ,
sondern sie waren in diesem Sinne auch eine Arbeitsgemeinschaft,
daß die Gemeinden, wo es nötig, dem Bruder Arbeit zu verschaffen
hatten. Diese Tatsache scheint mir sozial von hohem Werte.
Die Gemeinden waren auch wirtschaftliche Gemeinschaften. Der
durch Cyprian bezeugte Fall beweist es, daß hier nicht etwa nur
eine rhetorische Maxime zu erkennen ist. Für arbeitswillige
Menschen, die in Not geraten waren, war mithin die christliche
Gemeinde ein Zufluchtsort. Ihre Anziehungskraft war dadurch
erhöht, und wirtschaftlich müssen wir eine Gemeinschaft sehr hoch
schätzen, die den Arbeitskräftigen Arbeit gewährte und die Ar-
beitsunfähigen vor dem Hunger schützte.
(10) Die Sorge für zugereiste Brüder (Gastfreund-
schaft) und für arme oder gefährdete Gemeinden-.
') „Si paenuriaui talis et necessitatem paupertatis obtendit, potest inter
ceteros qui ecclesiae alimentis sustinentur huius quoque necessitas adiuvari,
si tarnen conteutus sit frugalioribus et innoceutibus cibis nee putet salario
se esse redimendum, ut a peccatis cesset."
-) Hier habe ic-h meine in der „Monatsschrift f. Diakouie und innere
Mission" (1879 Dez., 1880 Jan.) erschienene Abhandlung zu Grunde gelegt.
Größere Ausführlichkeit war in diesem Abschnitt am Platze, da die Verhält-
nisse der Eiuzelgenieinde zur Gesamtchristenheit hier in Betracht kommen.
Den idealen Hintergrund der Betätigungen kann man in dem Wort Ter-
tullians finden (de "praescr. 20): „Omnes ecclesiae una; probant unitateui
ecclesiarum communicatio pacis et appellatio fraternitatis et contesseratio
hospitalitatis."
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. ■[53
Über den Kreis der eigenen Gemeinde griff die Diakonie
hinaus, sofern sie die Pflege der Fremdlinge, d. h. zunächst
der zAigereisten christlichen Brüder, ausdrücklich in ihre Aufgabe
mit einschloß. In dem ältesten Bericht, den wir über den Ge-
meindegottesdienst besitzen (Justin, Apol. I, 67, s. o. S. 132), werden
unter denen, welche Unterstützungen aus der Gemeindekasse
erhalten, auch die herzugereisten Fremden genannt. Die Pflege
derselben wird also nicht bloß dem guten Willen einzelner
überlassen, obschon auch dieser mannigfach in Anspruch ge-
nommen und die Tugend der Gastfreundschaft immer wieder
eingeschärft wird ^, sondern gilt als eine Gemeindeangelegenheit.
In dem ersten Brief des Clemens an die corinthische Gemeinde
*) Rom. 12,13: „Nebmet eucb der Heiligen Notdurft an. Herberget gern."
IPetr. 4, 9: ,Seid gastfrei untereinander ohne Murmeln." Hebr. 6, 10; 13,2;
„Gastfrei zu sein vergesset nicht; denn durch dasselbe haben etliche, ohne
ihr Wissen, Engel beherberget.'' Die Empfehlung einzelner Personen an die
Gastfreundschaft der Gemeinde durch Paulus öfters, z. B. Rom. 16. 1 f.: „Daß
ihr sie aufnehmt in dem Herrn, wie sich's ziemet den Heiligen." S. auch
3. Job. 5 — 8. Im Hirten des Hermas wird Mand. VUI, 10 in dem Tugend-
katalog die Gastfreundschaft ausdrücklich genannt mit dem bemerkenswerten
Zusatz: ir yao rfj rpü.o^srm evQi'oy.erai uya^ojToüjoig jrore. In demselben Buche
werden Sim. VIII, 10, 3 solche Christen gerühmt, welche ek tov; ol'y.ovg avröiv
tjdscog v.iede^arTO Tovg dov/.ovg tov deov. Aristides in seiner Apologie (c. 15)
schreibt von den Christen: Sevov iäv l'äcoaiv, vjtÖ ozsyip' sladyovai xal yaiQovoiv
en avrqj cbg sm äds/.rpo) aXr]divö). Tertullian setzt die private Ausübung der
Gastfreundschaft gegenüber christlichen Brüdern als eine Pflicht, der sich
niemand entziehen dürfe, voraus, wenn er seine Frau im Falle seines früheren
Ablebens auch deshalb ermahnt, mit keinem Heiden eine zweite Ehe ein-
zugehen, weil im fremden Hause kein wandernder Bruder gastliche Aufiiahme
finden würde (ad uxor. II, 4). Besonders eingeschärft aber wird die Gast-
fi'eundschaft den Gemeindebeamteu, den Altesten (Bischöfen) und Diakonen,
da sie ja im Namen der ganzen Gemeinde diese Tugend ausüben ; s. I Tim. 3, 2,
Tit. 1, 8 (I Tim. 5, 10). Im Hirten des Hermas bilden eine besondei-e Klasse
der Seligen die gastfreien Bischöfe, „welche allezeit gerne die Knechte Gottes
in ihre Häuser aufgenommen haben ohne Heuchelei" (Sim. IX, 27, 2). In der
„Apostellehre" nehmen die Anweisungen, welche die Sorge für die Zugereisten
betreffen, einen verhältnismäßig großen Raum ein. Cypriaus Sorge für die
Fremden bezeugt der 7. Brief, den er während der Verfolgung des Decius aus
seinem Zufluchtsort an seinen Klerus in Carthago geschrieben hat: . . . „vidu-
arum et infirmorum et omnium pauperum curam peto diligenter habeatis,
sed et peregrinis si qui iudigentes fuerint sumptus suggeratis de quantitate
mea propria quam apud Rogatianum compresbyterum nostrum dimisi. Quae
quantitas ne forte iam erogata sit, misi eidem per Naricum acoluthum aliam
portionem, ut largius et promptius circa laborantes fiat operatio." S. auch
Apost. Constit. III, 3 (p. 98, 9 sq. edid. de Lagarde). Ep. Clem. ad Jacob,
(p. 9, 10 sq. edid. de Lagarde): rovg ^svovg ftsra :iao)]g :ioo&vf.iiag sig rovg sav-
TCüj' ol'xovg ?M^ißävETE. — Lucian in seiner Spottschrift über das Lebensende
des Peregrinus erzählt, wie dieser, Christ geworden, auf seinen Wanderungen
reichlich unterstützt worden ist. „Peregrinus nun zog so zum zweitenmal
aus und begab sich auf die Wanderschaft; einen hinreichenden Zehrpfennig
154 Die Missiouspredigt in Wort und Tat.
wird unter den Tugenden, dureli welche diese sich ausgezeichnet
hat, namentlich erwähnt, daß jedermann, der sich bei ihr auf-
gehalten habe, ihre herrliche Sitte der Gastfreundschaft preise^.
Es ist aber vor allem die römische Kirche selbst, welche in den
ersten Jahrhunderten durch die weitherzige Übung dieser Tugend
hervorleuchtet. In einem Schreiben aus der Zeit Marc Aureis,
einem Briefe des corinthischen Bischofs Dionysius an die römische
Gemeinde, wird anerkannt, daß diese Kirche ihre uralte Ge-
wohnheit, den auswärtigen Brüdern Wohltaten zu erweisen,
beibehalten habe. „Diesen Beruf hat euer würdiger Bischof Soter
nicht nur bew^ahrt, sondern sogar noch gesteigert, indem er nicht
bloß die für die Heiligen bestimmten Gaben reichlich spendet,
sondern die (durchreisenden) zurückkehrenden Brüder wie ein
liebevoller Vater seine Kinder mit gottseligen Worten tröstet^."
Wir kommen später noch auf diese Stelle zurück; aber soviel
darf schon hier gesagt werden, daß die römische Gemeinde
nicht nur deshalb so rasch an die Spitze der abendländischen
Christenheit getreten ist, w^eil sie in der Hauptstadt des Reiches
ihren Sitz hatte, oder weil sie die Stätte apostolischer Wirksam-
keit im Occident gewesen ist, sondern vor allem auch deshalb,
weil sie die besonderen Verpflichtungen der allgemeinen Fürsorge
erkannt hat, welche ihr in der Reichshauptstadt auferlegt waren.
Das wirksame Interesse am Gesamtwohl der Kirche Christi ist
in der römischen Gemeinde, wie wir sehen werden, von Anfang
an in besonderem Maße lebendig gewesen. Dasselbe kam aber
auch in der Übung der Tugend der Gastfreundschaft zum Aus-
druck. In einer Zeit, in welcher das Christentum noch Wander-
religion war, die zufälligen Reisen der Brüder häufig das Mittel
wurden, um Gemeinden, die sonst ohne jede Verbindung waren,
einander nahe zu bringen, in welcher gefangene Christen weithin
durch das Reich geschleppt w^urden vmd verwiesene, notleidende
Brüder Schutz und Trost suchten, mußte die Bewährung der
Gastfreundschaft von besonderer Wichtigkeit sein. Bereits im
2. Jahrhundert hat ein kleinasiatischer Bischof sogar ein Buch
über sie geschrieben '', und so hoch wird sie in den Gemeinden
hatte er von den Christen, die seine Trabanten machten, so daß er in Hülle
und Fülle lebte. Eine Zeitlang fütterte er sieh also auf solche Weise" (c. 16).
Wie die Gastfreundschaft in Anspruch genommen und geübt wurde, erkennt
man auch aus den pseudoclementiuischen Briefen de virginitate. Endlich
hebt auch Julian (Ep. ad Arsac.) i) jisqI rovg ^h'ovg (pi?.avdQcojTia bei den
Christen hervor und wünscht, dai5 seine Glaubensgenossen sie nachahmen.
^) I Clem. 1,2: Tig yÜQ jTUQSJriÖijfi/joag :iQog {:/iiäg . . . zo fiEyulo:i(iEJikg rijg
((.i'/.o'geviag v/udjv rjdog ovx exh'iqv^ev.
-) Euseb., bist, eccles. IV, 2:j, 10.
^j Melito V. Sardes nach der Angabe des Eusebius (h. e. IV, 26, 2).
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung-. j 55
gerühmt, daß uiiin ilir neben dem Glauben (als der rechten Be-
tätigung desselben) die nächste Stelle anwies. „Um seines Glaubens
und seiner Gastfreundschaft willen wurde dem Abraham noch in
seinem Alter ein Sohn beschert." — „Der Gastfreundschaft und
der Frihnmigkeit wegen ist Lot aus Sodom gerettet worden." —
„Um ihres Glaubens und ihrer Gastfreundschaft willen ist die
Rahab errettet worden." — An solche Beispiele imd in solchen
Worten erinnert die nhnische Kirche die corinthische Schwester-
gemeinde ^ Aber nicht nur eine Süchtige Gastfreundschaft wurde
gewährt. Von dem Recht auf Arbeit in der Gemeinde wurde
bereits oben gesprochen (s. S. 150 f.); auch die Zugereisten, wenn
sie sich niederlassen wollten, durften es in Anspruch nehmen, ja
wir kennen es deutlich nur aus den Anweisungen für solche Fälle.
An Straßen, die durch öde Gegenden führten, wurden Hospize
eingerichtet. Das älteste Beispiel bieten die Acta Archelai^ um
den Anfang des 4. Jalirhunderts.
Solch weitgehendes Entgegenkommen konnte leicht mißbraucht
werden (s. o. Peregrinus Proteus; namentlich mit angeblichen
Lehrern und Propheten hat man schlimme Erfahrungen gemacht):
L'rlehrer konnten sich einschleichen und Arbeitsscheue und Schwind-
ler. AVir sehen daher, daß schon frühe gegen solche bestimmte
Vorsorge getroffen worden ist. Der Ankömmling soll geprüft
werden, ob er Christ und ein rechter Christ ist (s. IL u. III. Joh.,
Doctr. Apost., 1. c); bei einem zugereisten Propheten sollen die
Worte und Taten verglichen werden ; ohne Arl)eit soll kein Bruder
länger als zwei, höchstens drei Tage bleiben; dann soll er weiter
gehen oder arbeiten (Doctr. Apost. 12). Später verlangte man,
daß der zugereiste Bruder eine Art von Paß aus seiner heimat-
lichen Gemeinde brächte. Es mußte weit gekommen sein, wenn
die Apostellehre erklärte, jeder zugereiste Prophet sei ohne
weiteres als Pseudoprophet zu betrachten, der sich in der Ekstase
ein Diner bestelle und dann wirklich das Mahl einnehme, oder
der in der Ekstase Geld verlange. Manche Zugereiste, die sich
niederlassen wollten, kamen übrigens nicht mit leeren Händen;
sie forderten nicht, sondern sie gaben. So wissen wir von Marcion
(s. o.), daß er, aus dem Pontus kommend, bei seinem Eintritt in
die römische Gemeinde dieser 200000 Sesterzen dargebracht hat
(Tertull. de praescr. 30). Aber das waren Ausnahmen; in der
Regel waren die Zugereisten hilfsbedürftig.
Die Fürsorge für die reisenden Brüder bildete naturgemäß
die Brücke zu der Teilnahme und der Sorffe für entfernte arme
1) I Clem. 10,7. 11,1. 12,1.
*) S. c. 4: ,. . . si quando veluti peregriuans ad hospitium pervenisset,
quae quidem diversoria hospitalissimus Marcellus instruxerat."
{50 Diß Missionspredigt iu Wort imd Tat.
und gefährdete Gemeinden. Das eingehende Interesse, welches
man dem Gaste widmete , konnte nicht aufhören, wenn er die
Schwelle des Hauses, das Tor der Stadt verlassen hatte. Aber
dies ist doch nur das Geringere. Der Gast war ja selbst jedes-
mal der Gemeinde, zu der er kam, ein Repräsentant, ein Bote
aus einem fernen, vielleicht völlig vmbekamiten, aber doch ver-
wandten Bruderkreise. Was er erzählte von der Not und dem
Leiden oder dem Wachstum und den Gnadengaben seiner heimat-
lichen Gemeinde, das war keine Kunde als von Fremdem. Die
ältesten Gemeinden wußten sich in Glauben und Beruf innerhalb
der Welt eng verbunden und empfanden nach der apostolischen
Regel: „So ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit: und so
ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit^"
Und gewiß: dieses Bewußtsein ist in den Zeiten am stärksten
und lebendigsten gewesen, in denen noch kein äußeres Band die
fast independentistisch nebeneinander stehenden Gemeinden mit-
einander verband, in denen der uralte Artikel des allgemeinen
Symbols: „Ich glaube eine, heilige Kirche", wirklich nur ein
Glaubenssatz gewesen ist. Aber freilich, um so stärker wirkten
die inneren Verbindungen: die Gemeinschaft desselben Glaubens,
bald auch ausgedrückt in einem kurzen, kräftigen Bekenntnis, die
gleiche Ausübung der Liebe, Geduld und christlichen Erziehung,
sowie die gemeinsame Hoffnung auf die Zeit der herrlichen
Ausgestaltung des Reiches Christi, für welches alle das gleiche
Angeld und Unterpfand schon empfangen hatten. Dieser Besitz
belebte die Bruderliebe und machte die Unbekannten bekannt,
brachte die Fernen nahe. „An geheimen Zeichen und Merkmalen
kennen sie sich und lieben einander, schier bevor sie sich kenjn?n
gelernt haben", sagte der Heide Cäcilius von den Christen-. Es ist
später anders geworden, wenn auch das lebendige Gefühl, einem
Bruderbunde anzugehören, niemals ganz geschwunden ist.
In dem großen Gebete, in welchem sonntäglich die Gemeinden
ihren Dank und ihre Bitte Gott vortrugen, hatte die Fürbitte für
die ganze Christenheit auf dem Erdkreise ihre feste Stelle. Von
dorther wurde das Bewußtsein, einer heiligen Christenheit anzu-
geliören, bald in den einzelnen Gliedern belebt und die Erinnerung
an die Aufgaben für das Ganze wach erhalten. Wo nur in Briefen
und Schriftstücken der ältesten Zeit des Gemeindegebetes gedacht
wird, da wird auch dieser ökumenische Charakter desselben aus-
drücklich hervorgehoben '^ Im einzelnen aber vermittelten Briefe,
') I Cor. 12, 26. — 2) Cäcil. bei Minuc. Felix, Octav. 9, 3.
•') Vgl. I Cleiu. 59, 2 t'. und meine Benierkungeu zu dieser Stelle. Polyc.
Philipp. 12, 2 f.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. |57
Zirkulärschroibon, Briefsammliingon , übersandte Akten oder offi-
zielle Berichte, Reisende und S]>ezialf!fesandte den Verkehr. \n
wichtigen Fällen haben sich die Bischöfe selbst aufgemacht, um
Streitfragen beizulegen oder ein gemeinsames Abkommen zu treffen.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, diesen mannigfaltigen Verkehr
zu schildern ; wir beschränken uns darauf, diejenigen Berichte zu
sammeln und zu beleuchten, in denen die eine Gremeinde in Fällen
der Not der anderen zu Hilfe gekommen ist. Armut, Krankheit,
Verfolgung und Leiden aller Art sind es einerseits gewesen, welche
tätige Hilfe von selten der besser situierten Gemeinden erheischten,
andererseits waren es innere Krisen in bezug auf Lehre und
Leben, Disziplin und Kultus, welche eine Gemeinde bedrohten,
ja ihre Existenz in Frage stellen konnten. In beiden Fällen
hatte sich die christliche Bruderliebe der Schwestergemeinden zu
bewähren.
Das erste Beispiel von LTnterstützung der einen Gemeinde
durch eine andere begegnet uns schon im Anfange des aposto-
lischen Zeitalters. In der Apostelgeschichte (11, 27 f.) lesen wir,
daß in Antiochien Agabus eine Teuerung geweissagt habe. Auf
diese Kunde hin sammelte die junge antiochenische Gemeinde
für die armen Brüder in Judäa und schickte die Spende durch
Barnabas und Paulus an sie ab^ Eine heidenchristliche Gemeinde
ist es gewesen, welche, soviel wir wissen, zuerst der Not einer
Schwestergemeinde zu Hilfe gekommen ist. Bald sollte sich die
brüderliche Liebe der jungen christlichen Gemeinden aus den
Heiden in Asien und Europa in noch größerem Umfange bewähren.
Die Armut der jerusalemischen Muttergemeinde hat auch nach
der Zeit der Teuerung fortbestanden. Die Gründe hierfür sind
unbekannt. Man hat auf den Versuch, freiwillige Gütergemein-
schaft einzuführen, welchen die Gemeinde am Anfange gemacht
haben soll, verwiesen ; er sei mißlungen, und die Gemeinde somit
verarmt. Dies ist vage Vermutung; aber die Tatsache selbst steht
fest. Bei der entscheidenden Zusammenkunft in Jerusalem, auf
welcher die drei Säulenapostel die Heidenmission des Paulus
ausdrücklich anerkannten, verpflichtete sich dieser, der jerusalemi-
schen Armen in den fernen Ländern zu gedenken. In welchem
Umfange und mit w^elcher Treue der Apostel dieser Verpflichtimg
nachgekommen ist, das zeigen uns die Briefe an die Galater,
Corinther und Römer. Seine Stellung ist in dieser Angelegenheit
keine leichte gewesen: er hatte sich für seine Person zu einer
Kollekte verpflichtet, die doch, wenn sie Wert haben sollte, die
^) Der Bericht der Apostel gesch. über die antioclienisclie Spende und
die Reise des Barnabas und Paulus nach Jerusalem unterliegt allerdings
kritischen Bedenken, die aber nicht unüberwindlich sind, s. 0 verbeck z. d. St.
158 r)i^ Missionsi^redigt in Wort und Tat.
freie Opfcnvilligkeit der von ihm gestifteten Gemeinden zur
A^oraussetzuiiG,' hatte. Er war gewiß, auf diese rechnen zu dürfen,
und liat sieh nicht getäuscht. Seine Sache wurde die seiner Ge-
meinden, und in Gahitien, Macedonien, Achaja sammelte man für
die fernen jerusalemischen Brüder. Als der Apostel es erleben
mußte, daß in Corinth eine schwere Krise sein ganzes Werk in
Frage stellte, selbst da hat er neben dem Größeren die Kollekten-
sache nicht vergessen. Die Sammlung war dort fast schon ins
Stocken geraten; die eindrhiglichen, herzlichen und feinen Worte,
in denen er die Gemeinde ermahnt, belebten wiederum den in den
Parteikämpfen erkalteten Eifer ^. „Die aus Macedonien und
Achaja", kann er bald darauf den Römern schreiben, „haben
williglich eine gemeine Steuer zusammengelegt, den armen
Heiligen zu Jerusalem. Sie haben es williglich getan und sind
auch ihre Schuldner. Denn so die Heiden sind ihrer geistlichen
Güter teilhaftig geworden, ist es billig, daß sie ihnen auch in
leiblichen Gütern Dienst beweisen-." Eine Liebespflicht der
Gemeinden aus den Heiden sieht der Apostel in dieser Kollekte.
Man braucht sich aber nur die Verhältnisse, unter denen sie ge-
sammelt wurde, zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, welche
Bedeutung zugleich dieses Liebeswerk für die Geber selbst haben
mußte. Noch bestand keine Lebensgemeinschaft zwischen den
Christen aus den Heiden und den Christen in Judäa, und doch
sollten sich jene als Brüder, als Glieder einer Gemeinde mit
diesen geeint wissen. Nachfolger der Gemeinden Gottes in Judäa
sind die Gemeinden in Asien und Europa ^, und doch bestand
keine Gemeinschaft des Kultus, des Leidens, der Sitte zwischen
ihnen. Jene Spende war somit der einzig sichtbare Ausdruck
der brüderlichen Einheit, welche sonst nur in dem gemeinsamen
Glauben festzustellen war. Darin bestand ihre hohe Bedeutmig.
Einzig in dieser Sorge der Heidenchristen für die notleidenden
Brüder in Jerusalem tritt eine längere Zeit hindurch das Bewußt-
sein um eine innerliche Gemeinschaft aller Christen auch äußer-
lich liervor. Wie lange die Unterstützungen gedauert haben,
wissen wir nicht. Die großen Katastrophen in Palästina seit der
]\ritte der seeliziger Jahre sind jedenfalls aucli für die Beziehungen
der Cliristen ans den Heiden zu denen in Jerusalem und Pahistina
verhängnisvoll geworden*. — Vierzig Jahre später brach die
Verfolffuna'szeit über die Gemeinden lierein. Aber eine allgemeine
') 11 Cor. 8. 9. — ■') Rom. 15, 26 f. — =') I Thessal. 2. 14.
■*) ^Vie Hehr. G, 10 zu deuten ist, ist ungewiß. — Es mag hier erwäluit
sein, daß melir als dreihundert .Jahre später Hieronymus aus jener von Paulus
betriebenen Kollekte eine l'flicht aller Christen im römischen Reiche dedu-
ziert hat, die J\Iünchskolonieii an den heiligen Stätten zu Jerusalem und
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung'. |59
Verfolgung hat bis zur ]\ritte des dritten Jahrliunderts nicht statt-
gefunden. Während einige Gemeinden bedrängt, ihrer Güter
beraubt^ und in ihrem Bestände gefährdet wurden, konnten sich
andere des Friedens erfreuen. Diesen erwuchs nun die Pflicht,
den Verfolgten zu Hilfe zu eilen. Sie haben sich dieser Pflicht
nicht entzogen. Justin berichtet uns-, daß die in der Gemeinde
gesammelten Gelder regelmäßig auch für die Pflege der Gefangenen
verwendet \\'urden, und Tortullian bestätigt und erweitert diese
Angabe, indem er sagt, daß die in den Bergwerken Schmachten-
den, die auf wüste Inseln Verbannten und die Gefangenen unter-
stützt würden^. Beide Zeugnisse lassen es unklar, ob nur Glieder
der heimischen Gemeinde zu verstehen sind: aber schon an sich
ist dies nicht wahrscheinlich, und ausdrückliche Angaben, sowie
selbst ein heidnischer Bericht . stehen dem entgegen. Dionysius
von Corinth schreibt um das Jahr 170 an die Römer: „Ihr habt
von Anfang an die Gewohnheit gehabt, daß ihr allen Brüdern
die mannigfachsten Wohltaten erwieset und vielen Gemeinden
in den verschiedenen Städten Unterstützungen schicktet und auf
diese Weise bald die Armut der Dürftigen erleichtertet, bald den
in den Bergwerken befindlichen Brüdern den nötigen Unterhalt
verschafftet. Durch diese Gaben, die ihr schon von Anfang an zu
schicken pfleget, bleibt ihr als Römer einer von den Vätern er-
erbten Sitte der Römer treu. Diesen Brauch hat auch euer
würdiger Bischof Soter nicht nur bewahrt, sondern sogar noch
gesteigert*." Hundert Jahre später kommt der Bischof Dionysius
von Alexandrien in einem Briefe an den Bischof Stephanus von
Rom auf die Kirchen in Syrien und Arabien zu sprechen und
bemerkt beiläufig: „Dorthin schickt ihr regelmäßig Unterstützungen
und habt erst vor kurzem wieder geschrieben^." Basilius der
Große erzählt, daß zur Zeit des römischen Bischofs Dionysius
(259—269) die römische Kirche Gelder nach Cappadocien geschickt
habe zur Auslösung der christlichen Gefangenen aus den Händen
der Barbaren. IS^och am Ende des vierten Jahrhunderts erinnerte
Bethlehem zu unterstützen. Tu seiner Schrift gegen Vigilantius, der gegen
die Verschleuderung von Geldmitteln zum Unterhalt der Mönche in Judäa
aufgetreten war, entwickelt er geradezu einen Schriftbeweis für die Verpflich-
tung zu jenen Kollekten aus II Cor. 8 usw. (adv. Vigilant. 13).
^) VeraiTuungen christlicher Gemeinden durch Gütereinziehung seitens
der Obrigkeit stellten sich schon zur Zeit Domitians ein, s. Hebr. 10, 34 (wenn
dieser Brief in diese Zeit gehört), Euseb., h. e. 111, 17.
-) A. a. 0.
*) TertulL, Apolog. 39: „si qui in metallis et si c[ui in iusulis, vel in
custodiis, dumtaxat ex causa dei sectae, alumni confessionis suae fiunt."
*) Euseb., h. e. IV, 23, 10. — s) Euseb., h. e. VII. 5, 2.
160 Di^ Missioüsprecligt in Wort und Tat.
man sich dessen mit Dank in Cappadocien ^ Eusebius- endlich
bezeugt, daß die römische Gemeinde auch in der letzten Ver-
folgung (der diocletianischen) ihrer Gewohnheit, leidende aus-
wärtige Gemeinden zu unterstützen, treu geblieben sei. So legen
Corinth, Syrien, Arabien und Cappadocien, Kirchen des Ostens,
ein Zeugnis des Ruhmes ab für die römische Kirche, und wir
verstehen es nach den Worten des Dionysius von Corinth, wie
Ignatius die Gemeinde zu Rom die TTQoy.a'drjjuevr] jfjg äydnrjg, die
procuratrix caritatis, nennen konnte^. Aber auch andere Ge-
meinden und deren Bischöfe sind nicht zurückgeblieben. Yon der
carthaginiensischen Kirche und deren Bischof Cyprian ist uns
Ahnliches berichtet. Aus mehreren Briefen, die kurz vor der
Hinrichtmig Cyprians geschrieben sind, geht hervor, daß er an
die damals in ]^J^umidien gefangen gesetzten Christen Unterstützungen
gesandt hat*, und Ahnliches von seiner Sorge für fremde Christen
und auswärtige Gemeinden erfahren wir auch sonst noch aus
seiner Korrespondenz. Am denkwüi-digsten ist in dieser Hinsicht
sein Brief an numidische Bischöfe vom Jahre 253. Diese hatten
ihm gemeldet, daß wilde Räuberhorden in das Land eingefallen
seien und viele Christen beiderlei Geschlechts als Gefangene fort-
geschleppt hätten. Cj^prian veranstaltete sofort eine Kollekte und
übersandte das Ergebnis derselben den Bischöfen zugleich mit
einem Schreiben-'. Es ist die ausführlichste und wertvollste Ur-
kunde, welche wir aus den drei ersten Jahrhunderten in bezug
auf Unterstützungen einer Gemeinde durch eine andere besitzen,
und mag daher hier seine Stelle finden:
„Cyprianus entbietet den Brüdern Januarius, Maxi-
mus. Proculus, Victor, Modianus. Nemesianus, l^ampu-
lus und Honoratus seinen Gruß.
Mit größtem Schmerze der Seele und unter vielen Tränen
haben wir euer Sehreiben, geliebteste Brüder, gelesen, welches ihr
in Besorgnis der Liebe in bezug auf die Gefangenschaft unserer
Brüder und Schwestern an uns gerichtet habt. Denn wer emp-
fände nicht Schmerz bei solchen Unglücksfällen, oder wer macht
nicht den Schmerz des Bruders zu seinem eigenen, da der Apostel
Paulus spricht: „So ein Glied leidet, so leiden auch die anderen
mit, und so ein Glied sich freut, so freuen sich die anderen mit",
und an einer anderen Stelle : „Wer ist schwach und ich werde
nicht mit schwach". Daher müssen auch wir jetzt die Gefangen-
schaft unserer Brüder als unsere Gefansrenschaft betrachten und
'; Basilius, ep. (70) ad Damasum papam. — -) Euseb., h. e. IV, 23, 9.
^) Ignat. ad ßom. proocm. y. Zahn z. d. St.: „In caritatis operibus
semper primum locum sibi vindicavit ecclesia Romana."
«) Cypr. epp. 70—79. — ^) Cypr. ep. 62.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. jQl
den Schmerz der Gefährdeten für unseren Schmerz lialten, da
wir ja in unserer Vereinigung nur einen Leib bilden und nicht
nm- die Liebe, sondern auch die Pflicht des Ghiubens uns
antreiben und stärken muß, um die Glieder, die Brüder, loszu-
kaufen.
Denn da der Apostel Paulus abermals spricht: „Wisset ihr
nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid und der heilige Geist in
euch wohnet", so muß man, wenn auch die Liebe nicht stark
genug zur Hilfleistung für die Brüder antriebe, in diesem Falle
bedenken, daß es Tempel Gottes sind, die da gefangen sind.
AVir dürfen es nicht lange zögernd und des Mitleids vergessend
ertragen, daß Gottes Tempel eine lange Zeit gefangen sind, son-
dern wir müssen mit allen Kräften uns anstrengen und schleunig
es bewerkstelligen, die Gnade Christi, unseres Richters, Herrn
und Gottes, durch unsere Dienste zu verdienen. Denn da der
Apostel Paulus spricht: „Soviele eurer in Christo getauft sind,
die haben Christum angezogen", so müssen wir in unseren ge-
fangenen Brüdern Christum erblicken und ihn aus der Gefahr
der Gefangenschaft erlösen, der uns aus der Gefahr des Todes
erlöst hat. Ihn also, der uns aus dem Rachen des Teufels ge-
zogen, der uns am Kreuze durch sein Blut erkauft hat, der jetzt
selber in uns bleibt mid wohnt, ihn müssen wir durch eine
Summe Geldes aus den Händen der Barbaren auslösen. . . .
"NVie sollte auch nicht das Gefühl der Menschlichkeit und das
Bewußtsein gegenseitiger Liebe jeden Yater bewegen, in den dort
Gefangenen seine Söhne zu erblicken, und jeden Gemahl, für seine
dort im Gefängnis schmachtende Gattin den Schmerz und die
Liebe des ehelichen Bundes zu empfinden . . (es folgt eine Aus-
führung über die besonders entsetzliche Lage der geweihten Jung-
frauen) . . Dieses alles hat auf Grund eueres Briefes unsere
Gemeinde in Erwägung gezogen und mit Schmerz durchgeprüft,
und daher haben alle rasch und gerne und reichlich Geldspenden
für die Brüder herbeigebracht. Immer sind sie gemäß der
Stärke ihres Glaubens billig zu jedem "Werke Gottes; dieses
Mal aber hat die Betrachtung eines so großen Schmerzes sie in
noch höherem Grade zu heilsamen Werken entflammt. Denn
wenn der Herr in seinem Evangelium sagt: „Ich bin krank ge-
wesen, und ihr habt mich besucht", wie wird er erst zu weit
größerer Belohnung unseres Almosens sagen: „Ich bin gefangen
gewesen, und ihr habt mich losgekauft". Und da er abermals
spricht: „Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich besucht",
wie viel mehr wird es dann am Gerichtstage wert sein, an dem
wir von dem Herrn den Lohn erhalten sollen, wenn er sagt. „Ich
bin im Kerker der Gefangenschaft gewesen, und gefesselt und
H ar na ok, Mission. 2. Aufl. H
162 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
gebunden lag ich bei den Barbaren, und aus jenem Gefängnis
der Sklaverei habt ihr mich befreit". Endlich danken wir euch,
daß ihr uns an euerem Kummer und an diesem so guten luid
notwendigen Liebeswerke Anteil nehmen ließet, so daß ihr uns
fruchtbares Ackerfeld darbotet, in welches wir die Samenkörner
unserer Hoffnung ausstreuen konnten in der Erwartimg, daß wir
die herrlich großen Früchte, welche aus diesem himmlischen
und heilsamen Werke hervorgehen, ernten werden. Wir über-
senden euch aber 100000 Sestertien (etwa 17 — 20 000 Mark),
welche hier in der Kirche, deren Vorsitz wir durch Gottes Barm-
herzigkeit füliren, aus den Beiträgen unseres Klerus und Volkes
gesammelt worden sind ; ihr möget sie dort nach euerem gewissen-
haften Ermessen verteilen.
Schließlich wünschen wir, daß sich in Zukunft nichts der-
gleichen mehr ereigne, und daß unsere Brüder, durch Gottes Macht
geschützt, von solchen Gefahren nicht mehr betroffen werden mögen.
Sollte sich aber doch noch zur Prüfung unseres Glaubens und
unserer Liebe Ahnliches wieder ereignen, so zögert nicht, es uns
schriftlich anzuzeigen. Seid versichert und wisset, daß unsere
Kirche und die ganze Gemeinde flehentlich betet, es möge nicht
wieder eintreten; geschiehts aber doch, daß sie gerne und reich-
lich Beiträge spenden wird. Damit ihr aber unserer Brüder
und Schwestern, welche zu diesem so notwendigen Liebeswerke
bereitwillig und gerne beigetragen hab(m, bei eueren Gebeten
eingedenk seid, auf daß sie immerfort zum Geben bereit seien,
und damit ihr ihnen bei eueren Opfern und Gebeten das gute
Werk vergelten könnt, habe ich ihre Namen einzeln beigefügt.
Ich habe auch die Namen unserer Kollegen (der Bischöfe) und
der Priester beigeschrieben, welche unserem Beispiele folgend bei
ihrem Pliersein in ihrem und ihrer Gemeinde Namen nach ihrem
Vermögen etliches beigesteuert haben; auch habe ich neben der
von uns gesandten Hauptsumme ihr Sümmchen ebenfalls ange-
geben und mitgeschickt. Es ist nun euere Pflicht, dieser aller
in eueren Gebeten und Andachten zu gedenken, wie Glaube und
Ijicbe es ei'heischen.
Wir winischen (uich, teuerste Brüder, stets Wohlergehen in
dem Herrn. (Jedenket unser." —
Unverkennliar ist die carthaginiensisch(! Gemeinde sich be-
wußt, etwas Aul;!erordcntliclies getan zu haben. Aber doch ist
das P)cwußtsein, hier eine Pflicht der Jjiebe erfüllt zu hal)en,
lebendig, und die religiöse Begründung solcher l'flicht musterhaft.
Auch versteht es sicli von selbst, daß eine so liberale Unter-
stützung nicht d(Mi Ertrügen d(^r regelmäßigen Gemeindekollekte
entnommen werden konnte.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. 1()3
Wir haben aber noch ein anderes Beispiel für die Sorge
Cyprians, eine auswärtige (xenieindc betreffend. In jenem oben
(S. 152) besprochenen Fall des Lehrers der Schauspielkunst, der
von seinem Unterricht abstehen und, wenn er sonst keine Mittel
hat, von der Gemeinde erhalten werden soll, schreibt Cyprian
(ep. 2), der Mann möge nach Carthago kommen und dort von
der Gemeinde Unterstützung empfangen, falls seine heimische
Gemeinde zu arm sei, ihn zu ernähren^.
Wie rege und wirksam aber der Anteil auch ferner Gemein-
den zur Zeit oder im Falle einer Verfolgung gewesen ist, bezeugt
Lucian, in den Tagen des Kaisers Marc Aurel, in der Spottschrift
über das Lebensende des Peregrinus. Der Statthalter von Syrien
hatte diesen von Lucian als ruchlosen Schwindler geschilderten
Mann, nachdem er Christ geworden, einsetzen lassen. Lucian
berichtet nun, wie er von den Christen im Gefängnisse geehrt
worden sei. Dann fährt er fort (c. 13): „Ja sogar aus einigen
Städten der Provinz Asia kamen Leute, welche die Christen im
Namen ihrer Gemeinde abgeschickt hatten, um Beistand zu leisten,
die Verteidignng zu führen und den Mann zu trösten. Sie ent-
wickeln nämlich eine unglaubliche Rührigkeit, sobald sich etw^as
dergleichen ereignet, was ihre gemeinschaftlichen Interessen be-
rührt; nichts ist ihnen alsdann zu teuer. So flössen denn auch
damals von ihrer Seite dem Peregrinus nicht unbeträchtliche Geld-
summen zu, und er verschaffte sich daraus keine geringe Ein-
nahmequelle'-^.^' Es muß also nichts Seltenes gewesen sein, wo-
von Lucian hier berichtet. Im Namen ihrer Gemeinden kamen
von fern her Brüder, und sie brachten nicht nur Unterstützungs-
gelder für die Gefangenen, sondern sie kamen auch zu ihnen in
das Gefängnis, trösteten sie durch ihre Liebe, ja, versuchten selbst
im Prozeßverfahren ihnen beizustehen. Zu diesen Angaben des
heidnischen Schriftstellers bilden die sieben Briefe des Ignatius
gleichsam einen Kommentar. In ihnen tritt uns die lebendige Teil-
nahme der kleinasiatischen Kirchen sowie der römischen Gemeinde
an dem Schicksale eines Bischofs, den sie früher nie gesehen,
sowie die Sorge für die nun verwaiste antiochenische Gemeinde
lebhaft entgegen. Ignatius befindet sich auf dem Transport von
^) „Si illic ecclesia non sufficit ut laborantibus praestet alimenta, poterit
se ad nos transferre [seil, nach Carthago] et hie quod sibi ad victum atque
ad vestitum neeessarium fuerit accipere."
-) Erwähnt mag hier sein, daß es allgemeine Kollekten in der
ältesten Kirche, wie die Juden in der Kaiserzeit solche hatten, nicht gegeben
hat. Die Organisation der Kirchen wäre einem solchen Unternehmen auch
wenig günstig gewesen; denn es fehlte der Mittelpunkt, den die Juden in
Palästina besaßen.
11*
1 64 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Antiocliieu nach Ixoui, um dort mit den Tieren zu kämpfen. In
Antiochien dauert unterdes die Verfolgung der Christen noch fort.
In Smyrna angehingt, begrüßen ihn die Abgesandten der Ge-
meinden von Eph(;sus, Magnesia und Tralles. Nach mehrtägigem
Yerkelir mit ihnen übergibt Ignatius ihnen Briefe an ihre Ge-
meinden, in welchen er neben anderem den kleinasiatischen
Brüdern seine verlassene Gemeinde an das Herz legt. „Betet für
die Kirche in Syrien", schreibt er den Ephesern. „Gedenket in
eueren Gebeten der Kirche Syriens; ich bin nicht wert, zu ihr
gerechnet zu werden, da ich der Geringste unter ihnen bin", heißt
es im Briefe an die Trailer. In dem Briefe an die Magnesier
wiederholt er dieselbe Bitte: er vergleicht die antiochenische
Gemeinde mit einem von der glühenden Hitze der Verfolgung
versengten Felde, das nach einem erfrischenden Tau verlange;
die Liebe der Brüder soll es erquicken^. Aber gleichzeitig
wendet er sich bereits an die Römer. Es scheint ein Bruder aus
Ephesus zu sein, der bereit ist, den Brief an sie zu überbringen.
Ignatius setzt voraus, daß die Römer schon vor Eintreffen des
Briefes von seinem Schicksal unterrichtet sind. Was er befürchtet,
ist, sie könnten ihren Einfluß bei Hofe zu seinen Gunsten geltend
machen oder durch eine Appellation an den Kaiser ihn des er-
sehnten Martyriums berauben wollen. Der ganze Brief ist ge-
schrieben, um die römische Gemeinde hiervon abzuhalten'-. Uns
interessiert hier die Tatsache, daß ein fremder Bischof aus fernem
Land das Eintreten der römischen Gemeinde für ihn voraussetzt,
sei es nun. daß er dabei an eine legale Appellation oder an die
Wirksamkeit besonderer Konnexionen der römischen Gemeinde
gedacht hat. Wenige Tage später befindet sich Ignatius in Troas,
begleitet von dem ephesinischen Diakon Burrhus und ausgerüstet
mit Lhiterstützungen der smyrnensischen Gemeinde^. Von dort
aus schreibt er nach Philadelphia und Smyrna — beide Gemein-
den hat er auf seinen Reisen kennen gelernt — sowie an den
Bischof der Kirche von Smyrna, Polycarp. Boten aus Antiochien
sind in Troas zu ihm gekommen und haben ihm von dem Auf-
Iniren der Verfolgung berichtet. Sie haben ihm zugleich er-
zählt, daß Gemeinden aus der Nachbarschaft Antiochions bereits
Bischöfe oder Presbyter und Diakonen dorthin gesandt haben,
um die Kirche zu be<>:lückwünsch(>n^. In der Uberzeu<>un"'. daß
1) Eph. 21,2; Trall. 13, 1; Magn. 14.
^) Auch hier vergißt es Ignatius (c. 9) nicht, seine antioclienische Ge-
meinde den lernen Römern ans Herz zu legen. „Gedenket in eurem Gebet
der Gemeinde in Syrien, welche statt meiner Gott zum Bischof hat. Jesus
Christus allein wird sie (als Bischof) beschützen und euere Liebe."
=>) Ad Philad. 11,2; ad Smyrn. 12, 1. — ") Philad. 10. 2.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. 165
das Gebet dev kleinasiatischen Gemeinden die antioehenische Kirche
A'on der Yert'olg-nng befreit hat, fordert Ignatius diese Gemeinden
nun auf, ihrerseits ebenfalls Gesandte nach Antiochien zu schicken,
um sich in dem Dank für die Hilfe Gottes mit der dortigen Ge-
meinde zu veremigen: ,,Da mir gemeldet worden ist", schreibt er
nach Philadelphia. ,,daß gemäß euerem Gebete und der Liebe,
die ihr habt in Christus Jesus, die Kirche im syrischen Antiochien
(wieder) Frieden habe, so geziemt es euch, als einer Gemeinde
Gottes, einen Diakonen mit einer Gottesbotschaft dorthin ab-
zudelegieren, um sich in der Gemeinde- Versammlung mit ihnen
zu freuen und den Xamen zu verherrlichen. Selig in Jesu Christo
ist der Maim, der eines solchen Dienstes gewürdigt wird, und euch
allen wird es zum Ruhme gereichen. Wenn ihr nur wollt, so ist
euch für den Xamen Gottes nichts unmöglich ^.^' Ähnliches
schreibt er nach Smyrna : einen Boten mit einem Gemeinde-
schreiben sollen auch sie nach Antiochien abschicken-. Der un-
erwartete schnelle Aufbruch von Troas verhinderte ihn. den übrigen
kleinasiatischen Gemeinden dieselbe Bitte vorzutragen. Er ersucht
daher den Polycarp durch einen eigenen Brief, in welchem er
ihn selbst zur schleunigen Beaufti-agung eines Gesandten ermahnt ^,
er möge in seinem IS^amen den übrigen Gemeinden schreiben,
daß auch sie sich, sei es durch Boten, sei es durch Briefe, an
der Freude der Antiochener, die eine allgemeine sei, beteiligen*.
"Wenige Wochen später hat die Gemeinde zu Philippi an Polycarp
geschrieben: sie hat ebenfalls unterdes den Ignatius persönlich
kemien gelernt, und sie bittet mm den Bischof von Smyrna, auch
ihre Briefe an die Gemeinde zu Antiochia dorthin gelangen zu
lassen, wenn er einen Boten absende. Polycarp sagt diese Bitte
zu: ja er stellt sogar in Aussicht, daß er selbst vielleicht der
Uljerbringer sein werde. Die Briefe des Ignatius. soviele ihm
zugekommen, schickte er ihnen auf ihren Wunsch anbei mit, und
wünscht sichere ]S'achrichten über das Geschick des Ignatius und
seiner Genossen von den Philippern zu bekommen-'.
Dies sind in Kürze die Verhältnisse, welche uns aus den
sieben Briefen des Ignatius vmd dem Schreiben des Polycarp an
die Philipper entgegengetreten. Welch eine Fülle von Beziehungen
der Gemeinden untereinander, welch ein Gemeinsinn und welche
brüderliche Sorge I Die Unterstützungen durch Geldmittel ti'eten
hier ganz zurück hinter den Bezeugungen einer persönlichen Teil-
nahme, durch welche ganze Gemeinden untereinander und wieder-
um Bischöfe und Gemeinden sich gegenseitig beistehen, ti'östen
1) Philad. 10, If. — -) Smvrn. 11. — 'i Polyc. 7,2. — ^j C. 8, 1.
«) Polyc. ad Philipp. 13.
1 66 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
und stärken, mit einander Leid tragen und sich freuen. Eine
Welt von Teilnahme und Liebe tritt uns hier entgegen.
Auch sonst ist uns bekannt, daß die Gemeinden nach über-
standener Verfolgung anderen Gemeinden einen ausführlichen Be-
richt abstatteten. Wir besitzen noch größere Schreiben dieser
Art. den Brief der Gemeinde von Smyrna an die Gemeinde zu
Philomelium und an alle Kirchen nach der Verfolgung zur Zeit
des Kaisers Antoninus Pius, und den Brief der gallischen Kirchen
an die kleinasiatischen und phrygischen nach Ablauf der blutigen
Verfolgung unter Marc AureU. Sehr ausführlich wird in beiden
Schreiben die ganze Verfolgung, in dem ersteren besonders der
Tod des Bischofs Polycarp geschildert: das glorreiche Ende des
im Orient und Occident bekannten Bischofs sollte der ganzen
Christenheit kund werden. Die Vorgänge in Gallien beanspruchten
in besonderem Maße die Teilnahme der kleinasiatischen Brüder;
denn mindestens zwei der ihrigen, Attalus aus Pergamum und
ein Phrygier, Alexander, hatten in der Verfolgung ruhmvoll den
Märtyrertod erlitten. Die Gemeinden benutzen aber zugleich die
Gelegenheit, um wertvolle Erfahrungen, die sie während der Ver-
folgungszeit gemacht, und Grundsätze, die sie erprobt, den Brüdern
mitzuteilen. So spricht sich die smyrnensische Gemeinde sehr
entschieden gegen das Selbstangeben und Aufsuchen des Marty-
riums aus, und teilt einen hierauf bezüglichen traurigen Fall mit '^.
Die gallischen Gemeinden warnen ihrerseits vor allzu strenger
Behandlung der Gefallenen, wenn sie Reue zeigen, und wissen
von dem barmherzigen Sinn ihrer Konfessoren zu berichten^.
Umgekehrt ist es die römische Gemeinde, welche die cartlia-
giniensische während der Verfolgung unter Decius zur Stand-
haftigkeit und Ausdauer ermahnt '•^^ und später ihre Grundsätze
über die Behandlung der Gefallenen mit der carthaginiensischen
austauscht'. Ein besonderer Fall lag hier vor. Cyprian, der
Bischof von Carthaffo, hatte sicli der A^erfolffunff durcli die Flucht
^) Der letztere ist uns, nicht ganz vollständig, von Eusebius in der
Kirchengescbichte (V, 1 f.) aufbewahrt; der erstere findet sich ebenfalls ver-
kürzt bei Eusebius (lY, 15), außerdem aber noch vollständig in besonderer
Überlieferung griechisch und lateinisch.
■') Mart. Polyc. c. 4. — ») Bei Euseb., h. e. V, 2.
*) Unter den Briefen Cyprians der 8. (nach Hartel).
■') S. meine Abhandlung (in der Festschrift für Weizsäcker): „Die
Briefe des römischen Klerus aus der Zeit der Sedisvakanz im Jahr 250" (1892).
— Interessant ist auch eine Notiz des Dionysius von Alexandrien in einem
Briefe an Germanus, welchen uns Eusebius (h. e. VII, 11, 3) aufbewahrt hat.
Dionysius erzählt, daß bei seinem Verhör vor dem Statthalter Aemiliaiius
(Valerianische Verfolgung) auch „einer von den aus Rom anwesenden Brüdern
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistuii"-. 167
entzogen, leitete aber seine Gemeinde von seinem Versteck aus;
mit gutem Gewissen durfte er sich sagen, er müsse sich den
Seinen erhalten. Den Römern waren zunächst die näheren Ver-
hältnisse nicht kund geworden: unverkennbar beurteilten sie die
Flucht des Bischofs mit Mißtrauen und hielten es eben deshalb
für geboten, an die Gemeinde zu schreiben und sie zu stärken.
In der Tat konnte in schlimmen Zeiten einer Gemeinde nichts
Verhängnisvolleres begegnen, als daß sie ihres Klerus oder ihres
Bischofs, sei es durch das Martyrium, sei es durch pflichtwidriges
Verhalten, beraubt wurde. Tertullian erzählt uns in seiner Schrift
„über die Flucht in der Verfolgung", daß unter Berufung auf
Matth. 10,23: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen,
so fliehet in eine andere", nicht selten Diakonen, Presbyter und
Bischöfe bei Anbruch einer Verfolgung geflohen seien. Die Folge
war, daß die Gemeinde sich zerstreute oder den Häretikern zur
Beute fiel ^. Je mehr die Gemeinde in Abhängigkeit vom Klerus
geriet, desto erschütternder für sie mußte jeder Verlust desselben,
ja schon jeder Wechsel sein. Das haben auch die energischen
Verfolger der Kirchen im dritten Jahrhundert, Maximin L. Decius,
Valerian und Diocletian wohl erkannt. Konnte doch selbst ein
Cy|3rian von seinem Versteck aus seiner Gemeinde nicht Herr
werden und mußte die erschütterndsten Krisen dort erleben! Aber
eben deshalb betätigte sich in solchen Fällen die Teilnahme der
Schwestergemeinden, teils durch Trostschreiben während der Not,
wie es die Römer getan, teils durch Gratulationsbriefe, wenn sie
gehoben. Eusebius hat uns in seiner Kirchengeschichte Regesten
aus der umfangreichen Korrespondenz des corinthischen Bischofs
Dionvsius mitereteilt. Hier interessiert uns ein Schreiben an die
Gemeinde zu Athen. Eusebius berichtet: „der Brief enthält eine
Aufmunterung zum Glauben und zu einem den Vorschriften des
Evangeliimis entsprechenden Lebenswandel. Dionysius macht den
Athenern den Vorwurf, daß sie denselben vernachlässigt, ja beinahe
vom Glauben abgefallen seien, seitdem ihr Bischof Publius in
den damaligen Verfolgungen den Märtyrertod gefunden. Auch
des Quadratus erwähnt er, der nach dem Martyrium des Publius
ihr Bischof geworden. Er bezeugt nämlich, daß durch dessen
Bemühung sich die Gemeinde wieder gesammelt und neuen Eifer
für den Glauben bekommen habe^." Die in xA.ntiochien zur Zeit
^) De fuga 11: ^Sed cum ipsi auctores, id est ipsi diacoui et presbyteri
et episcopi fugiunt, quomodo laicus intellegere poterit, qua ratione dictum:
Fugite de civitate in civitatem? (Tales) dispersum gi-egem faciunt et in
praedam esse omnibus bestiis agri, dum non est pastor Ulis. Quod nuuquam
magis fit, quam cum in perseeutione destituitur ecclesia a clero.''
^) Euseb.. h. e. IV, 28, 2 f.
1 6S Diß MissioDspredigt in Wort und Tat.
des Septimius Scvcrus wütende Yerfolgung forderte als ihr Opfer
den dortigen Bischof Serapion. Dieser Tod muß der großen
Gemeinde schwere Gefahr gebracht haben: denn als der Bischofs-
sitz glücklich wieder besetzt ist. da gratiüiert ein cappadocischcr
Bischof vom Gefängnis aus in einem eigenen Schreiben der
antiochenischen Kirche: „Erträglich mid leicht hat mir der Herr
zur Zeit meiner Gefangenschaft meine Fesseln gemacht, weil
ich erfahren, daß durch die göttliche Vorsehung der durch das
Verdienst seines Glaubens vollkommen dazu geeignete Asclepiades
das bischöfliche Amt in eurer heiligen Gemeinde überkommen
habei."
In dem Bisherigen haben wir zusammengestellt, was sich in
den dürftigen Resten der ältesten kirchlichen Literatur über
materielle Unterstützungen einer Gemeinde durch andere und
über die gegenseitige Hilfleistung in Verfolgungszeiten findet.
Sofern die Verfolgmigen nicht selten auch innere Krisen und Ge-
fahren für die Gemeinden hervorriefen, erstreckte sich die Teil-
nahme auch auf diese , und hatte Versuche zur Folge . ihnen
abzuhelfen. Es erübrigt aber noch, diejenigen Fälle zu berück-
sichtigen, wo weder Armut noch Verfolgung, sondern lediglich
innere Mißstände und Gefahren ein Wort der Mahnung oder des
Rates seitens einer Schwestergemeinde, resp. ihres Bischofs, ver-
anlaßt haben.
Aus der frühesten Zeit, dem Ende des ersten Jahrhunderts,
ist uns ein Dokument erhalten, welches vor allem einer Betrachtung
hier Mäirdig ist, der sogenaimte erste Brief des Clemens, in Wahr-
heit ein offizielles Schreiben der römischen Gemeinde an die
corinthische -. Im Schöße dieser Gemeinde war eine Krisis aus-
gebrochen, welche von den ernstesten Folgen begleitet war. Wir
kennen freilich nur die Beurteilung der Krisis seitens der ]\Iajorität
in der Gemeinde. Danach hatten sich einige ehrgeizige, auf-
geblasene Neuerer wider die bestehenden Autoritäten aufgelehnt,
und hatten einen Teil der jüngeren Glieder der Gemeinde mit-
verführt •^. Jhr Absehen war darauf gerichtet, die Presbyter und
Diakonen zu entsetzen, ja die wachsende Autorität des Amtes
ül)erhaupt zu vernichten^. Ein erbitterter Kampf war die Folge.
Selbst die Frauen mischten sicli hinein^: Glaube, Liebe und
brüderlicher Siini droliten bereits unterzugehen''; das Ärgernis
wurde in der Christenheit bekannt, ja, scluni war Gefahr vorhanden,
daß die Zwistigkeiten den Heiden ruchbar, der Name Christi so
'j Euseb., h. e. VI, 11,5. — -) Vgl. die Inscriptio.
=*; S. c. 1, 1. 3, 3. 39, 1. 47, 6. usw. — *) S. c. 40 — 48.
'') Das ist nach c. 1,3. 21,6 wahrscheinlk'h. — «) S. c. 1-3.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. [(39
gelästert und die Sicherheit der Gemeinde bedroht würde ^ Da
tritt die römische Gemeinde ein. Sie ist nicht von Corintli aus
aufgefordert worden, sich in die Angelegenheit einzumischen; nein,
aus freien Stücken ergreift sie das Wort 2. Aber sie führt es mit
ebensoviel herzlicher, besorgter Liebe, wie mit Freimut und AVürde.
Sie fühlt sich von Gewissens wegen zu einer ernsten brüderlichen
Mahnung verpflichtet, und weiß, daß es Gottes Stimme ist, welche
durch sie zum Frieden mahnt '^ freilich auch zugleich die erhabene
Würde der kirchlichen Amtsträger durch sie einschärft*. Dabei
läßt sie es doch nie aus den Augen, daß sie den Corinthern nichts
zu befehlen, sondern nur. was recht ist, darzulegen habe\ und
sie gibt auch immer wieder in feiner Weise der guten Zuversicht
Ausdruck, daß die Gemeinde den Willen Gottes kenne und selbst
sich auf das Richtige wieder besimien werde ^, wie sie auch auf
eine Umkehr der Unruhestifter noch hofft". Aber sie verlangt
im Xaraen Gottes, daß dem Ärgernisse rasch ein Ende gemacht
werde. Mit der Uberbringung ihres Schreibens beauftragt sie die
angesehensten Männer aus ihrer Mitte, „sie sollen Zeugen sein
zwischen euch und uns. Dieses aber haben wir getan, damit ihr
wisset, daß sich unsere ganze Sorge darauf gerichtet hat und noch
richtet, daß ihr in Kürze den Frieden wieder herstellt*^.'' Der
Brief schließt mit den Worten, die Corinther sollten die Abge-
sandten alsbald in Frieden und Freude wieder nacli Rom zurück-
schicken, damit sie so schnell wie möglich von der wiederher-
gestellten Einmütigkeit erführen und sich in Bälde freuen könnten^.
Diesem ausfülirlichen. energischen, von kirchlichem Gemeinsinn
und brüderlicher Liebe durchleuchteten Schreiben ist nichts aus
der ältesten Literatur an die Seite zu stellen. Aber ähnliches
ist uns nicht selten berichtet. So hat die Gemeinde zu Philippi
übers Meer an den greisen Polycarp von Smyrna geschrieben
imd ihm u. a. von einem traurigen Falle, der sich in ihrer Mitte
ereignet hat. erzählt. Einer ihrer Presbyter, Yalens mit Xamen,
war der Yeruntreuung von Gemeindegeldern überfülirt worden.
In dem Antwortschreiben des Polycarp, welches wir besitzen,
geht er auf diese beti-übende Nachricht ein ^°. Er mischt sich
nicht in die Jmisdiktion der Gemeinde; aber er gibt ihr Er-
mahnungen und Ratschläge. Sie selbst sollen sich an dem Fall
ein Beispiel nehmen, die Habsucht zu fliehen; wenn der Presbyter
und sein Weib Reue zeigen, so sollen sie sie nicht als Feinde
behandeln, sondern als leidende und irrende Glieder, damit der
') S. c. 47, 7. 1, 1. — -) S. c. 1, 1. 47,6, 7. — 3) S. c. 59, 1. 56, 1. 63, 2.
*) S. c. 40f. — ^) S. besonders c. 58, 2: di^aoße zip' avußovlrjv i]iicör.
«) S. c. 40, 1. 45, 2 f. .53. 1. 62,3. — ■) S. c. 54. - «) S.' c. 63,3.
') S. c. 65,1. — 1«) Polyc. ad Philipp. 11.
] 70 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
ganze Leib gerettet werde. Der Bischof läßt durchblicken, daß
ihm die Behandhing des Falles seitens der Gemeinde nicht durch-
weg richtig scheine': er ermahnt sie zur Nüchternheit gegenüber
der Leidenschaft und zur Milde; aber er tut es, indem er sich
wolil I)ewußt ist, wie weit er einer fremden Gemeinde gegenüber
gehen darf. — Der Bischof Tgnatius von Antiochien benutzt auf
seinem Transporte durch Kleinasien die Gelegenheit, in kurzen
Schreiben die dortigen Gemeinden in den besonderen Gefahren
zu stärken, denen sie ausgesetzt sind. Er warnt sie vor den Um-
trieben der Häretiker, mahnt zum Gehorsam gegen den Klerus,
fordert zur klugen Einmütigkeit und festem Zusammenhalten auf
und gibt in eingehender Weise besondere Ratschläge für spezielle
obw^altende Verhältnisse. — Am Anfange des 2. Jahrhunderts will
ein römischer Christ, der Bruder des Bischofs, gegenüber Laxheit
und Rigorismus in der Gemeinde in scliweren Krisen den Mittel-
weg richtiger Disziplin und Kirchenzucht, den er gefunden, an-
geben. Sein Absehen ist aber nicht nur auf die römische Ge-
meinde gerichtet, sondern auf die ganze Christenheit, auf die
„auswärtigen Städte", und er wünscht, daß seine Mahnungen,
die er vom heiligen Geiste durch die Kirche selbst empfangen
haben will, dort bekannt würden ^ — Im Zeitalter Marc Aureis
ist es namentlich der Bischof Diönysius von Corinth. welcher,
gewiß auch namens seiner Gemeinde, in einer umfangreichen
Korrespondenz die gefährdeten Gemeinden, auch die entferntesten,
zu stärken sucht. Zwei seiner Briefe, den an die Athener und den
an die Römer, haben wir schon erwähnt. Eusebius teilt uns den
Inhalt einiger ähnlicher Schreiben mit, er nennt sie „katholische"
Briefe. AVahrscheinlich sollten sie in den Gemeinden zirkulieren,
wie sie denn auch frühzeitig gesammelt und — wie bereits der
Biscliof selbst entrüstet bemerken muß — verfälscht worden sind.
Ein l'n'ief an die Gemeinde zu Lacedämon enthielt eine Darlegung
der rechten Lehre, sowie eine Aufforderung zu Frieden und
Einigkeit, fn dein Briefe an die Gemeinde zu Nicomedien in
Bithynien b((kämpft er die Häresie des Marcion. „Ferner schrieb
er an die Gemeind(( zu Gortyna sowie an die übrigen Gemeinden
auf ih-otix einen ]3rief, worin er deren Bischof Philippus rühmt,
weil seiner (Tomeindc! das Zeugnis sehr großer Frömmigkeit und
Stand liaftigkoit erteilt w(n-de, und sie ermahnt, vor Verführung
der lläietiker sich zu bewahren. Auch sciirieb er an die (xemeinde
zu Aiuastris und zugleich an die übrigen Gemeinden im Pontus.
Jliei- fügt er Erkläi'ungen von Stellen aus der heiligen Schrift an.
Ihren Biischof nennt er J'almas. Er gibt ihnen viele Ermahnungen
') Hemi., Vis. 11,4.
Das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. |71
Über die Ehe und über die Jung-fräulichkeit und fordert sie auf,
alle, welche von irgend einem Falle oder von einer Yergehuug
oder von einem häretischen Irrtume zurückkehren, gnädig wieder
aufzunehmen. In seiner Sammlung befindet sich auch ein anderer
Brief an die Cnosier (auf Greta), worin er den Bischof dieser
Gemeinde, Pinytus, ermahnt, er möchte den Brüdern in betreff
der Enthaltsamkeit keine zu große Last mit Gewalt auflegen,
sondern die Schwachheit der Mehrzahl berücksichtigen^." So
mannigfach ist der Inhalt der Briefe. t"ber alle Fragen, die
damals die Gemeinden bewegten, scheint sich Dionysius ausge-
sprochen zu haben, und keine Kirche war ihm zu fern, um ihr
nicht seine Teilnahme an ihren inneren Geschicken zu beweisen.
Eine bedeutende Veränderung dieser Yerhältnisse trat seit
dem Ende des zweiten Jahrhunderts ein, als das Institut der
Synoden sich einbürgerte. Der freie und zwanglose Austausch
der Gemeinden und ihrer Bischöfe wich einem geregelten Yerkehr,
Schon die montanistischen Streitigkeiten und die um den richtigen
Ostertermin unterlagen einer neuen Art der Behandlung. In weit
höherem Grade noch ist dies bei den späteren, den großen christo-
logischen und novatianischen Kämpfen der Fall. Zwar hören
wir noch fortgehends von Fällen besonderer Sorge einzelner Ge-
meinden oder deren Bischöfe für andere entfernte Kirchen, und
die freie Teilnahme am Wohl und Wehe einer Schwestergemeinde
ist nicht erloschen; aber sie tritt doch mehr und mehr zurück
hinter die Sorge für den Zustand der Gesamtkirche angesichts
einzelner bestimmter Bewegungen und hinter die Pflege der
provinzialen Gemeinden ^. Man nahm ein Interesse daran, wie sich
die Gemeinden im Reiche resp. deren Bischöfe zu einschneiden-
den Fragen verhielten, und ließ sich hier die Eimnütigkeit an-
gelegen sein, sonst aber begannen die kirchlichen Provinzen sich
in sich selber abzuschließen. Aber doch kommen noch im dritten
Jahrhundert neue Formen zur Unterstützung oder Stärkung der
einen Gemeinde durch eine andere auf. Hierher gehört es, wenn
wir erfahren, daß gefeierte Lehrer zu Vorträgen in eine andere
Gemeinde berufen wurden, oder daß man sie sich erbittet, um in
ausgebrochenen Streitigkeiten ein Gutachten abzugeben, die Par-
teien zu belehren und ein Urteil zu fällen. Das Leben des großen
Theologen Origenes bietet z. B. hierfüi- Belege^. Auch im vierten
und fünften Jahrhundert haben die materiellen Unterstützungen
') Euseb., h. e. IV. 23.
-) Belege hierfür bietet z. B. die Korrespoudenz des Cypriau und des
Dionysius von Alexandrien.
') S. Euseb., li. e. VI, 19. 15. VL 33. 2. VI. 37. VI, 32. 2.
172 Die Missiousprodigt iu Wort und Tat.
armer Gemeiden von auswärts nicht aufgehört. Ein besonders
leuchtendes Beispiel hat Socrates in seiner Kirchengeschichte
aufgezeichnet ^.
Fünftes Kapitel.
Die Religion des Geistes und der Kraft, des sittlichen Ernstes
und der Heiligkeit-.
Die christliche Religion stellte sich in ihrer Missionswirksam-
keit nicht nur als das Evangelium der Erlösung und der helfenden
Liebe dar, sondern auch als die Religion des Geistes und der
Kraft. Allerdings, als Geist und Kraft bewährte sie sich eben
dadurch, daß sie Erl()sung imd Hilfe brachte, daß sie von den
Dämonen befreite^ und von der Not des Lebens. Allein da^ '^
Zeugnis des Geistes reichte weiter. Wenn Paulus (I Cor. 2, 6)
schreibt: „Ich kam zu euch mit Schwachheit und mit Furcht
und mit großem Zittern, und mein Wort und meine Predigt waren
nicht in beredenden Worten der Weisheit, sondern in Beweisimg
des Geistes und der Kraft", so denkt er wohl auch an den Kampf
mit den Dämonen und an ihre sinnenfällige Besiegung, aber keines-
wegs nur an sie. An alle die Wunderwirkungen denkt er, welche
die Wirksamkeit der Apostel und die Begründung der Gemeinde
begleiteten. Sie waren nicht an seine Person allein gebunden.
'Yon überall her kamen die Nachrichten, daß sie auch anderen
Missionaren gegeben waren. Als man gegen Ende des l. Jahr-
hunderts auf die Begründungszeit zurückschaute, da faßte man
das Geschehene in die Worte zusammen (Hebr. 2, 3) : „Das Heil
nahm seinen Anfang der A^erkündigung durch den Herrn und
wurde uns von seinen Hörern zuverlässig mitgeteilt, indem Gott
mit Zeuge war durch Zeichen und Wunder und mancherlei Kräfte
und Verteilung des heiligen Geistes."
Schon die ^Mannigfaltigkeit der Ausdrücke "^ zeigt, daß es viele
Erscheinungen sind, die hier hervortraten. Yersuchen wir es. die
wichtiffsten herauszuhelfen:
') Socrat., b. e. VII, 25.
-) -Mau muß sich bei der Darstellung dieser Seite der christliehen Reli-
gion entweder ganz kurz fassen oder ausführlich werden. Eine sehr gründ-
liche Darstellung ist von Weinel in dem oben (S. 108) genannten Buche
gegeben worden. Ich bescliränke mich darauf, die Hauptpunkte anzutuliren.
') S. oben 8. 108 ff.
*) Vgl. .Justin, Dial. o9: i/ oniCö/m'oi diä tov ovoftmog tov Xqiotov tovtov
6 fifv yao '/.(lußävti avveofdjg :ivErfia, 6 fif ßor<Xfjg , 6 Sk i'oyvog, 6 ()!■: iäne<oc , 6
(ik Trqoyvionfiog, ä 1)1: ()if)<Kox<ülac, o <Ve (fußov deov.
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 173
(1) Grott spricht in der Vision, im Traum, in der Ekstase zu
den Missionaren und zeigt ihnen das Größte und das Kleinste,
leitet ihre Absichten, weist ihnen die Straße, auf der sie wandern,
und die Stadt, in der sie einkehren sollen; er macht ihnen die
Personen kenntlich, die sie aufzusuchen haben. Visionen brechen
namentlich nach Martyrien hervor; der verstorbene Märtyrer er-
scheint seinen Bekannten in den nächsten AVochen nach seinem
Tode; so erscheint die Potamiäna [Euseb.. h. e. VI, 5], so Cyprian
und viele andere. Durch Träume sollen Arnobius (Hieron., Chron.
z. J. 326) und andere zum Christentimi gekommen sein. Die
beiden großen Bischöfe in der Mitte des 3. Jahrhimderts, Cyprian
und Dionysius, sind noch Visionäre gewesen ^. Monica, die Mutter
Augustins, die, wie manche christliche Witwen, häufig Visionen
hatte, erklärte, sie könne an einem gewissen Geschmack im 3Iunde
erkennen, ob das Geschaute wirkliche Offenbarung oder Traum-
einbildung sei (Augustin, Confess. VI, 13, 23: „dicebat discernere
se nescio quo sapore, quem verbis explicare non poterat, quid
interesset inter revelantem te et animam suam somniantem"). Sie
wird nicht die erste gewesen sein, die so unterschied.
(2) Bei der Missionspredigt der Apostel mid Evangelisten
oder in den Gottesdiensten der gegründeten Gemeinden zeigen
sich plötzlich eintretende und viele zugleich ergreifende Er-
weckungen, bald als Erschütterungen des ganzen Seelenlebens
voll Fm'cht und Schrecken, bald als jubelnde Ausbrüche emer
Freude, die den Himmel offen sieht. Aber auch die einfache
Frage: ,,Was muß ich tun, daß ich selig werde?*' bricht mit
elementarer Gewalt hervor.
(3) Einzelne werden erweckt, die das Erlebte in Worte zu
fassen vermögen — Propheten, welche die Vergangenheit erklären,
das Gegenwärtige deuten und vertiefen, das Zukünftige weissagen-.
Die Weissagungen beziehen sich auf den großen Gang der Ge-
schichte, aber auch auf das Geschick einzelner und auf das. was
sie tim und lassen sollen.
(4) Brüder werden begeistert und zu Gebeten. Hymnen,
Psalmen, die sie extemporieren, angeregt.
^) S. meine Abhandlung über „Cyprian als Enthusiast" in der Ztschr.
f. NTliche Wissenschaft Bd. 3, 1902, S. 177 ff.
-) Zu diesen Weissagungen gehören nicht die christlichen sibyllinischen
Orakel. Die jüdischen sind von den Christen gutgläubig aufgenommen worden
und wurden (seit dem Hirten des Hermas) wie Prophetensprüche von ihnen
zitiert ; die christliche Sibyllenfabrikation hat aller Wahrscheinlichkeit nach
erst seit der Mitte des o. Jahrhunderts begonnen und ist eine künstliche
Nachblüte des urchristlichen Enthusiasmus, sie ist eine Kette von Fälschungen,
s. meine Chronologe I S. 581 ff. II S. 184 ff.
174 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
(5) Andere werden von dem Geiste so erfüllt, daß sie das
Bewußtsein verlieren und in ein stammelndes Sprechen oder
Schreien ausbrechen, das unverständlich ist. aber von Begabten
gedeutet werden kann.
(6) Wieder andern drückt der Geist die Feder in die Hand,
sei es in der Ekstase, sei es in Momenten höchster seelischer
Anspannung; sie reden nicht nur, was sie müssen, sondern sie
schreiben auch, Avas sie müssen.
(7) Kranke werden gebracht imd von den Missionaren oder von
jüngst erweckten Brüdern geheilt : wilde Ausbrüche der Gottes-
angst werden besänftigt und Teufel in Jesu Namen ausgetrieben.
(S) Zu wunderbaren Handlungen der verschiedensten Art
treibt der Geist — zu symbolischen Handlungen, die etwas Ge-
heimnisvolles offenbaren oder AuM^eisungen geljen sollen, uiul zu
heroischen Handlungen.
(9) Mit allen Sinnen nehmen einige die Gegenwart des Gei-
stes wahr; sie sehen seinen Lichtglanz, sie hören seine Stimme,
sie riechen den Duft der Unsterblichkeit und schmecken seine
Süße, noch mehr: sie sehen himmliche Personen mit ihren Augen;
sie sehen die Seele ; sie sehen und hören zugleich ; sie sehen in
das Verborgene, in das Ferne, in das Zukünftige ; sie selbst werden
entrückt in die jenseitige Welt, in den Himmel: sie hören dort
„unaussprechliche Worte ^ ".
(10) Aber der Geist tut sich nicht nur durch solche Wunder
kund, sondern nicht minder durch die Steigerung der religiösen
und sittlichen Kräfte, die so rein und so stark in einigen wirk-
sam sind, daß sie den Stempel göttlichen Ursprungs sinnenfällig
an sich tragen: ein heroischer Glaube, ein Gottvertrauen zeigt
sich, das Berge versetzt und ül)er den Glauben weit hinausragt,
den jeder Christ im Herzen trägt; hilfreiche Liebesdienste werden
geleistet, die mehr erschrecken und mehr erschüttern als alle
Wunder; umsichtige Leitung und Fürsorge wird lebendig, die so
sicher wirkt wie die göttliche Vorsehung. Diese Charismen, neben
denen des Apostels, des Propheten und des Lehrers erweckt, er-
bauen die Gemeinden grundlegend und erwciseii sie als „Kirchen
Gottes".
Für alle diese hier aufgewiesenen Züge findet man auf den
Blättern der (diristlicheii ijiteratur von der ältesten Aufzeichnung
') Aber vf^l. Origenes, Ilona. XXVII, 11 in Num. (t. 10 p. 353): ,Solet in
visionibus esse tentatio; nam noniiunquam angelns iniquitatis transtigurat se
in angelum Incis, et ideo cavendum est et sollicite agenduni, nt scienter
discernas visionnm geuus, sieut et lesus Nave, cum visionem viderit, sciens
in hoc esse tentationeni, statim requirit ab eo qui apjiaruit et dieit: Noster
es an adversariorumV" S. auch das Folgende.
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 175
bis zu Ircnäus (und auch weiter noch) die zahlreichsten Belege;
die Apologeten verweisen auf sie als auf etwas Bekanntes und
Anerkanntes. Daß sie für die ^NFission und Propaganda der christ-
lichen Religion von höchster Bedeutung waren, liegt auf der Hand.
Wohl liatten auch andere Religionen und Kulte einiges von diesen
Geistwirkungen aufzuweisen, die Ekstase, die Vision, die dämo-
nischen und anti- dämonischen Manifestationen, allein für keine
von ihnen ist ims eine solche Fülle von Erscheinungen überliefert
wie hier, und vor allem : daß ihre Scala die Mirabilia des sittlichen
Heroismus umfaßte, verlieh ihnen ein einzigartiges Gepräge und
gab ihnen eine durchschlagende Bedeutung. Was anderswo in
einigen stereotypen Erscheinungen stückweise vorhanden war,
zeigte sich hier in einer Fülle der Manifestationen, in der jede
geistige , seelische und sittliche Funktion über sich selbst hinaus
gesteigert erschien ^.
Der Komplex dieser Vorgänge — gefährlich, weil die Ver-
suclumg, sie künstlich zu steigern oder leichtgläubig zu vermehren^
oder in Täuschung nachzuahmen oder eigennützig auszubeuten, so
') Daß diese Beweise ..des Geistes und der Kraft" nicht durchweg? der
Propaganda günstig waren, darf nicht verschwiegen werden. Celsus beurteilt
sie als Gaukeleien, Zauberwerk und groben Unfug. Mit ihm werden auch
andere nüchterne Heiden so geurteilt haben. Ganz sicher waren sie freilich
ihrer Sache gewiß so wenig wie Celsus. Daß die Glossolalie, statt die christ-
liche Religion zu empfehlen, sie umgekehrt bei den Heiden zu diskreditieren
vermag, hat schon Paulus bemerkt (I Cor. 14, 23: eäv ovre/.d>i >) }y.y.h]oia öh]
ijTi tÖ avTO y.al Tiuvzeg ?.u/.o)r,tv y/.wnoaig , eioF^.dcooir Öf tÖKOTUi >} ü.TtOTOt , ovy.
ioovGiv Ott (laivec'de;).
■-) Der Wunderglaube war in jenem Zeitalter überhaupt groß, wie alle
Quellen beweisen, aber er scheint doch in christlichen Kreisen besonders
stark und grenzenlos gewesen zu sein und l)lendete mehr und mehr das Auge
für das Wii-kliche. Mau vergleiche z. B. die apokryphen Aijostelgeschichten;
diese Literaturgattung gehört in ihren maßgebenden Anfängen bereits dem
2. .Jahrhundert an. Zu beachten ist auch, daß uralte volkstümliche Wunder-
erzählungen, die umliefen, nun eine christliche Etikette erhielten und irgend-
einem christlichen Apostel oder Heros oder Frommen beigelegt wurden. Als
Beispiel nehme man die bekannten Erzählungen von Leichna.men, die sich
bewegten, wie wenn noch Gefühl und Verstand in ihnen sei. TertuUian (de
auima 51) berichtet folgendes: „Mir ist der Fall bekannt, daß eine Frau,
als Glied der Kirche geboren, ohne Gebrechen an Form und Lebensalter, nach
einer einzigen und kurzen Ehe in Frieden entschlafen war. Die Beerdigung
verzögerte sich noch, und die Person wurde unter den Gebeten des Priesters
unterdessen für die Bestattung zurechtgelegt. Beim ersten Tone des Gebets
hob sie ihre Hände von den Seiten auf, nahm die Haltung des Gebets an
und legte sie nach Beendigung des Friedensgebets wiederum in ihre frühere
Lage zurück. Auch lebt im Munde der Unsrigen die Erzählung, daß auf
dem Kii'chhofe ein Leichnam einem anderen, der daneben gelegt werden
sollte, durch Zurückweichen Platz gemacht habe" (dies wird auch von der
Beerdigung des Bischofs Reticius von Autun am Anfang des 4. Jahrhunderts
erzählt).
1 7f) Die Missionspredigt in Wort und Tat.
gi'oß war^ — trat am Anfang, d. h. in den ersten sechzig Jaliren,
am stärksten hervor: aber er hat noch das ganze zweite Jahr-
hundert hindurch, wenn auch abgeschwächt, fortgedauert 2. Irenäus
bestätigt uns das''; die montanistische Bewegung hat den „Geist",
als er zurück/.utreten anfing, noch einmal belebt. Aber seit dem
Anfang des dritten Jahrhunderts erlahmt ein Teil dieser Erschei-
nungen: sie sind nun nicht mehr die Signatur der Gesamtkirche
und jeder einzelnen Gemeinde, sondern sie sind die Ausstattungen
') 3Ian v>>:l. den gegen manche Exorzisten ausgesprocheneu Tadel, ferner
wie Irenäus den christlichen Schwindler Marcus im ersten Buch seines großen
Werkes geschildert hat. iSTach Luciau wurde der Schwindler Peregriuus, als
er bei den Christen eintrat, „Prophet"^ und verschaffte sich als solcher An-
sehen und Gewinn. Schon die „ Apostellehre " sucht die Gemeinden vor
solchen zu schützen, die mit ihren geistlichen Gaben schwindeln. Selbst
christliche Bänkelsänger fehlten nicht; s. den pseudoclementinischen Brief
de virginitate II, 6: „Nee proicimus sanctum canibus nee margaritas ante
porcos, sed dei laudes celebramus cum omuimoda discipliua et cum omni
prudentia et cum omni timore dei atque animi intentione. cultum saerum
non exercemus ibi, ubi iuebriantur gentiles et verbis impuris in conviviis
suis blasphemant in impietate sua. propterea non psallimus gentilibus neque
scripturas illis praelegimus, ut ne tibiciuibus aut cantoribus aut hariolis
similes simus, sicut multi, qui ita agunt et haec faciunt, ut buccella pauis
saturent sese, et propter modicum vini eunt et cantant cautica domini in
terra aliena geutilium ac faciunt quod non licet." S. auch schon I, 13: Gott
möge operarios schicken, die nicht sind „operarii mercenarii, qui religionem
et pietatem pro mercibus liabeaut, qui simulent lucis filios, cum non sint
lux, sed teuebrae, qui operentur fraudem, qui Christum in negotio et quaestu
habeant."
-I Daß sich die verschiedenen christlichen Parteien im 2. Jahrhundert
gegenseitig den Geist imd die Kraft aljsprachen und sie bei dem Gegner für
Teufelswerk und Lüge erklärten , mußte notwendig zur allgemeinen Dis-
kreditierung führen.
*j Er behauptet sogar, wie bemerkt, daß auch jetzt noch Totenerweckuugen
in der Kirche vorkommen (II, 81, 2); ül)er die zurzeit noch wirksamen Charis-
men s. II, 32, 4: A16 y.ai iv toj exeIi-ov 6vö/.iaTi [im Namen Jesu] ot d/.tjOwg avrov
/iai))]T(u iTiag' avrov }.aßövTeg ri/v yäinv imxt).ovGiv Itc eveoyeGia ri] tmjv /.oiTiöiv
urdooj.-icor, y.aOöjg tig F'y.amog amöjv Ttjv dcooaäv ci'/jjcfR .t«o' avzov. ot /ih' yäg
daiiiorag K/.uvrovai ßFßaiiog yal d?.>]&Mg, ojots cro/./.dyig neu .-TioTsi:£ir avrovg ey.ei-
vovg zovg y.udaoiodivTag m.tÖ twj' :tgv}]pojv ^ivF.vfiäzon' y.ai sh'ai er rt] gyyhjoüi.'
Ol ()t- y.ai jzo6yvo)oir r/ovct tmv fie'/j.örroir y.ai d.iTaai'ag y.ai ^t'/oeig TTOoqtjriy.äg.
li.'ü.oi b'f xovg y.äiivoviag hm zT/g zwv yfioöJv F.TiOfciFcog uorrai y.ai vyisTg dnoy.a-
dtozämr. ijöt] (Yf y.ai rFy.noi yyFoOrjoav y.ai :7aotftFn'av ovv TJfiu' lyavoTg fzfoi.
y.ai ri yuo ; ovx fozcv doiü/iov fL-zsiv tmv yaoicitäziov d>v y.ara navzog zov yöofiov
y Fy.y.hjoia Ttarju deov ?.aßovaa fv r<o ovö/iazi 'Iijoov Xoiazov zov ozavoüidFViog
Fm Ilorziov Ilthaov sy.dnzijg {ji^iFQag f:z.^ FVFtjyFoia Tfj zcor Fdvibv ftiizf/.fT. Aus-
drücklich lügt Irenäus hinzu, daß diese Gaben umsonst gegeben werden. Er
und andere Ketzerbestreiter tadehi es an Gnostikern, daß sie sich Geld zahlen
lassen und so mit Christus Handel treiben. Ein solcher Vorgang findet sich
übrigens schon Act. 8, 18 ff. (Simon Magus) und wird hart gerügt Izu doyvgtdv
oov al'v noi Fi't] Fig d:zoj/.£iar).
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 177
weniger bevorzugter Personen. Das Gesamtleben hat den Priester,
den Altar, das Sakrament, das heilige Buch und die Cllaubensregel,
aber nicht mehr „den Geist und die Kraft ^" Nicht erst Eusebius
blickt (im 3. Buch seiner Kirchengeschichte) auf das Zeitalter des
Geistes und der Kraft als auf das vergangene heroische Zeitalter
der Kirche zurück-, sondern schon Origenes urteilt aus einer
verarmten Gegenwart heraus ebenso ^. Indessen der Mission war
diese Verarmung und Ernüchterung kaum mehr schädlich; denn
sie wurde im dritten Jahrhundert auf eine andere Art beti'ieben
als im ersten und zweiten. Berufsmäßige Missionare gab es kaum
mehr — wenigstens wissen wir von solchen nichts — ; die Propa-
ganda war nicht mehr eine gewaltsame, sondern gleichsam ein
stätiger Gährungsprozeß. In stiller aber sicherer Expansion ver-
breitete sich das Christentum von den gewonnenen Mittelpunkten
aus ohne stürmische Anläufe und erschütternde Bewegungen. —
\) Um so höher wurden solche Personen geschätzt, welche als Geist-
träger erschienen. Je mehr Geist und Kraft als Erscheinungen in und au
der Gesamtheit abnahmen, desto höher stieg der Kultus des Heros (d. h. des
Asketen, des Konfessors, des Wundertäters), der übrigens von Anfang an be-
standen hat. Sie alle tragen Christum in sinnenfälliger Weise in sich und
sind daher verehrungswürdige und autorative Personen. Allmählich, besonders
in der 2. Hälfte des 'S. Jahrhunderts, rücken sie in die Stellen der entthronten
Götter ein, aber in der Regel erst nach dem Tode. — Von Visionen und
Träumen hat übrigens Cyprian noch einen sehr starken Gebrauch gemacht
(s. 0. S. 173); aber ersuchte durch dieselben lediglich seine bischöfliche Auto-
rität zu steigern. Er stieß übrigens mit ihnen bei manchen auf Zweifel und
Unglauben, s. ep. 66, 10: „scio somnia ridicula et visiones ineptas quibusdam
videri." Das ist charakteristisch.
-) H. e. HI, 37: „Es wirkten in der Anfangszeit durch die Apostelschüler
noch sehr viele wunderbare Kräfte des h. Geistes, so daß beim ersten An-
hören der Predigt plötzlich ganze Scharen mit der größten Bereitwilligkeit
den Glauben an den Schö^^fer des Alls in ihr Herz aufnahmen.''
^) In c. Geis. II, 8 behauptet er nur, daß er selbst noch mehrere Wunder
gesehen habe, die eigentliche Wunderzeit ist ihm also die frühere Zeit.
L. 11,48 gibt er den Wundern Jesu und der Apostel die Wendung, daß sie
sowohl gewisse Wahi-heiten versinnbildlichen, als auch viele Herzen für die
wunderbare Lehre des Evangeliums gewinnen sollten. Exorzismen und Hei-
lungen dauern nach ihm noch fort (öfters, z. B. I, 6) ; wie er aber über die
Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit der Christenheit denkt, zeigt 1,2:
„Für unseren Glauben gibt es einen besonderen Beweis, der ihm allein zu-
kommt und göttlicher ist als der mit Hilfe der griechischen Dialektik ge-
führte. Diesen göttlicheren Beweis nennt der Apostel „den Beweis der Geistes
und der Kraft". Den Beweis des Geistes um der Weissagungen willen, die
geeignet sind, in dem Hörer und Leser den Glauben zu erzeugen . . ., den
Beweis der Kraft um der außerordentlichen Wunder willen, deren Tat-
sächlichkeit sich sowohl durch vieles andere als auch durch den Umstand
erweisen läßt, daß sich Spuren davon noch bei solchen erhalten
haben, die ihr Leben nach dem Willen des Logos führen."
Harnack, ili^si-n. 'j. Anfl. 12
1 7S Pi<? Mi.^sionspredigt in Wort und Tat.
Wenn die alten Christen die Beweise des Geistes und der
Kraft ins Auge faßten, so haben sie das unter dem Gesichtspunkt
der sittlichen und religiösen Wirkungen getan: um dieses
Erfolges willen sind sie der Kirche geschenkt. Paulus bezeichnet
als den Erfolg die Erbauung des Ganzen der Kirche^ und. auf
den einzelnen gesehen, die Neuscliaffung des Menschen aus einem
Toten zu einem Jjebendigen, aus emem Unwerten zu einem Wert-
vollen. Die Erbauung aber ist das Wachstum in allem Guten
(s. Gal. 5, 22; „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude.
Fiiede. Geduld. Freundlichkeit. Gutheit, Glaube. Sanftmut. Ent-
haltsamkeit''), und der Beweis der Kraft ist es, daß Gott nicht
viele Weise nach dem Fleisch und nicht viele Edle, sondern
geringe und schwache Menschen berufen und sie zu sittlich
kräftigen und erkennenden umgeschaffen hat (I Cor. 1 , 26 f.). Die
sittliche Neugeburt und das sittliche Leben ist dem Apostel nicht
nur eine Seite am Christentum, sondern sie ist die Furcht des-
selben und sein irdisches Ziel. Man kann die ganze christliche
Missionstätigkeit als sittliche Arbeit, als Erweckung und Kräf-
tigung des sittlichen Sinns bezeichnen, und man verkürzt sie
damit nicht.
Wie Paulus haben auch die Christen der nachapostolischen
Zeit, die Apologeten und die großen Kirchenväter, wie Tertul-
lian'-^ und Origenes, geurteilt. Man lese die „Apostellehre" und
die ersten Kapitel des 1. Clemensbriefes, den Schluß des Barnabas-
bricfes, die Predigt, welche die Bezeichnung „zweiter Clemens-
brief'' führt, oder den Hirten des Hernias, oder die Schlußkapitel
der Apologie des Aristides, oder sogar Origenes „de principiis"
— überall wird man finden, daß die sittlichen Forderungen
obenan stehen. Fast mit einer ermüdenden Breite und mit einer
rigoristischen Härte sind sie in den Vordergrund geschoben.
Niemand kann zweifeln: diese christlichen Gemeinden wollen ihre
^) Cf. Pseudoclemen.s, de virginit. I, 11: „lUo igitur charismate, quod a
domino accepisti, illo inservi fratribus pueiunaticis, proplietis, qui dignoscant
dei esse verba ea, quae loqueris, et enarra quod accepisti charisma in eccle-
siastico couveutu ad aediticationein fratrum tuorum in Ciu-isto."
^) Die besonders charakteristische Stelle Apol. 45 sei hierher gestellt:
,,Xos soli innocentes. quid mirum, si necesse estV euimvero necesse est. in-
uoceutiam a deo edocti et perfecte eam novinius, ut a perfecto magistro
revelatam, et fideliter custodimus, ut ab incontomptibili dispectore inanda-
taiu. Vobis autem humana aestimatio innocentiara tradidit, humaua item
ilominatio imperavit, inde uec plenae nee adeo timendae estis disciplinae
ad innoccntiae veritateiu. Tanta est prudentia hominis ad demonstrandum
bouum quanta auctoritas ad exigendum; tam illa falli f'acilis quam ista con-
temni. Atque adeo quid plenius. dicere: Non occides. an docere: Ne ira-
searis quidemV etc.''
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 179
Gemeinschaft nach den strengsten sittlichen Grundsätzen regehi ;
sie dulden keine unheiligen Glieder in ihrer Mitte ^, und sie wissen,
daß sie in dem Augenblick aufhören zu sein, in welchem sie der
Unsittlichkeit Raum lassen. Das furchtbare Strafgericht, welches
Paulus über den Blutschänder verhängt (I Cor. 5), ist kein Aus-
nahmefall ; die groben Sünder werden ausgeschlossen. Auch die,
welche alle Religion und darum auch die christliche für eine
Idiosynkrasie halten, aber in dem sittlichen Fortschritt der Mensch-
heit den Fortschritt überhaupt sehen, müßten anerkemien, daß er
auf diesen Gemeinden damals beruhte , und daß die Geschichte
einen ungeheuren und paradoxen Apparat angewendet hat, um
eine höhere Stufe der Entwickelung der Menschheit zu erreichen.
Unter der Seele und Leib erschütternden Predigt von dem ein-
brechenden Gericht und unter der beseligenden Gewalt des Geistes
Christi rang sich das Sittliche zu reinerer und sicherer Geltung
empor. Vor allem war es der Kampf gegen die Fleischessünden,
den das Christentum aufnahm, gegen die Hurerei, den Ehebruch
mid die widernatürlichen Laster. Schlechterdings nur die Einehe
galt in den christlichen Gemeinden als erlaubte Geschlechtsver-
bindung-. Die Unauflöslichkeit der Ehe wurde eingeschärft
(abgesehen vom Falle des Ehebruchs^) und die Ehe auch durch
die Schwierigkeiten geschützt, die der Eingehung einer zweiten
Ehe entgegengestellt wurden'^. Mit dem Kampf gegen die
Fleischessünden stand das strenge Verbot der Fruehtabtreibung
und der Aussetzung der Kinder in engster Verbindung^. Sodann
bekämpften die Christen die Habsucht, den Geiz und die Unehr-
lichkeit in Handel und Wandel, also den Mammonismus in allen
^) Martyr. Apoll, 26: , Zwischen Tod und Tod ist ein Unterschied. Des-
halb sterben die Jünger Christi fortwährend, indem sie ihre Begierden mar-
tern und sie gemäß den göttlichen Schi-ifteu foltern; denn es gibt bei uns
überhaupt kein schamloses Begehren und keine schmutzige Szene, kein laster-
haftes Auge, kein der Bosheit zugängliches Ohr, auf daß unsere Seelen nicht
verletzt werden. "
-) Auch dies gehörte zur Vorbereitung des Christentums, daß die Mono-
gamie zu der Zeit, da es sich verbreitete, bei den Juden und im römischen
Reiche als die einzige gesetzliche Form der Geschlechtsverbindung nahezu
zum Siege gekommen war. Das Christentum proklamierte nur als göttliche
Ordnung, was sich bereits durchgesetzt hatte. Was demgegenüber noch als
Konkubinat etc. geduldet wurde, war innerhalb der sozialen Ordnung von
geringem Belaug. Über die ^fornicatio'" war freilich im Reiche das Urteil
ebenso lax geblieben wie fi-üher, und auch der Ehebruch des Mannes wurde
kaum verurteilt. An diesen Punkten mußte der Kampf der Krrche einsetzen.
^) Von der Kasuistik kann hier abgesehen werden.
*) Das 2. Jahrhundert ist mit Bedenken und Erwägungen über die Zu-
lässigkeit einer zweiten Ehe angefüllt gewesen.
^) S. die Didache, Athenag., Supi^l. 35, etc. (vgl. oben S. 107).
12*
I ^0 Die Missionsprecligt in Wort und Tat.
seinen Gestalten und mit der Unbarmherzigkeit, die ihm folgt.
Drittens bekämpften sie die Zweideutigkeit und Lüge. In diesen
drei Riehtimgen bewegten sieh vor allem die Anstrengimgen, welche
die christliche l'redigt auf sittlichem Gebiete machte. Reine Men-
schen, die nicht am Besitz kleben und nicht selbstsüchtig sind,
sollten die Clii-isten sein, dabei wahre und mutige Menschen.
Wie die nachapostolischen Väter urteilten die Apologeten.
Aristides legt am Schluß seiner Apologie dem heidnischen Publi-
kum das christliche Leben in seiner Reinheit, seinem Ernste
und seiner Liebe dar imd ist überzeugt, damit das Wichtigste
und Eindrucksvollste auszusprechen. Justin macht es in seiner
großen Apologie nicht anders; umfangreiche Abschnitte derselben
sind der Darstellung der sittlichen Grundsätze des Christentums
gewidmet und dem Nachweise, daß sie bei den Christen ein-
gehalten werden. Dabei verti-auen alle Apologeten darauf, daß
auch ihre Gegner das Gute für gut und das Schlechte für schlecht
halten. Sie glauben ihre Zeit nicht darauf verschwenden zu
müssen, zu zeigen, daß das Gute wirklich das Gute sei: in dieser
Hinsicht sind sie der Zustimmung sicher: aber daß es bei den
Christen nicht nur kraftlose Forderung oder blasses Ideal, sondern
in jeder Riclitiuig kräftig ausgebildet sei und wirklich geübt werde,
das wollen sie zeigen ^. Ton besonderer Wichtigkeit ist es ihnen
aber, darauf hinweisen zu können (vgl. die Ausführungen des
Apostel Paulus), daß das Schwache imd Geringe und Unedle hier
zu Kraft und AVert komme. „Man sagt von uns, daß wir unter*
Weibern, Halbwüchsigen, Mädchen und alten Weibern schwatzen ^
') Daß die ethischen Lehren des Christentums mit denen der Philo-
sophen übereinstimmen, räumt Celsus ausdrücklich ein (Orig. I, 4); cf. Tertull.,
Apolog. 46: .,eadem, iuquit, et philosophi monent atque profitentur." — Auch
hier ist übrigens eine comiilexio oppositorum, und zwar in doppelter Hin-
sicht, zu erkennen. Einerseits gilt das Sittliche seinem Wesen nach als
selbstverständlich: eine allgemeine Übereinstimmung herrsche darüber (Rein-
heit in jeder Beziehung, vollkommene Nächstenliebe usw.). Andererseits
wird unter Umständen doch gesagt, daß die christliche Sittlichkeit von jeder
anderen qualitativ verschieden sei und ohne den Geist Gottes weder erkannt
noch geübt werden könne. Diese Beurteilung entspricht der doppelten Be-
schreibung des Christlich -Sittlichen. Einerseits ist es das rechte Verhalten
in bezug auf alle irdischen Verhältnisse, andererseits i.st es ein auf voll-
kommener Askese und Abtötung ruhendes überirdisches, göttliches Leben und
Verhalten. Diese Spannung in der Definition des Sittlichen, die besonders
scharf bei Tatian hervortritt, ist aber nicht erst vom Christentum geschaffen.
Sie entstammt der philosophischen Ethik: die Christen haben sie nur rezipiert
und modifiziert. Es ist dies leicht ersichtlich, Avenn man Philo, Clemens und
Origenes studiert.
-) Celsus 111.44: .,Die Christen müssen selbst zugeben, daß sie nur
Menschen ohne Geist, ohne Ansehen und ohne Verstand, daß sie nur Sklaven,
Weiber und Kinder zur Annahme ihres Glaubens bewegen können."
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 181
— nein, unsere Jungfrauen ,.philosopliieren" und reden bei der
Spindel von den göttlichen Dingen^." „Es philosophieren l)ei uns
nicht nur die Wohlsituierten. sondern auch die Annen ^." „Christus
hat nicht wie Socrates nur Philosoplien und Philologen 7AI sinnen
Jüngern, sondern auch Handwerker und ganz ungebildete Leute,
und sie verachten den Ruhm und die Furcht und den Tod^."
„Bei uns findet ihr ungebildete Leute und Handwerker und alte
Weiber, die gar nicht mit Worten den Wert unserer Lehre dar-
zulegen verstehen, aber ihn durch ihre Taten beweisen*." Ahn-
liches hat Origenes dem Celsus im zweiten Buche vorgehalten
und Lactantius seinen Gegnern^.
Daß die Höhe der Sittlichkeit der christlichen Vorschriften
und die sittliche Haltmig der christlichen Vereine direkt missio-
nierend wirken sollte ** und gewirkt hat. dafür haben wir eine
Reihe von Belegen. Mcht selten heben die Apologeten dies her-
vor''; Tatian nennt als eines der Motive für seinen Übertritt zum
Christentum „die Vorzüglichkeit der Sittenlehren"'^: Justin sagt,
daß die Standhaftigkeit der Christen ihn von ihrer Reinheit über-
zeugt liabe und diese Eindrücke für seinen Übertritt entscheidend
gewesen seien '-*. Daß die Standhaftigkeit und Treue einen über-
wältigenden Eindruck gemacht haben, sodaß bei Christen-Verhören
oder -Exekutionen Umstehende sich plötzlich für das Christentum
entschieden, lesen wir öfters in Märtvrerakten und zwar auch in
1) Tatian, Orat. 33. — -) L. c. c. 32.
^) Justin, Apol. II, 10: er fügt hinzu: övra/it; saiiv xov dt)07jTov Ttaroo^
y.ai ovyi drOgconriov /.öyov y.azaoy.ev)]. Eben.so Diognet. 7: ravTu dv&odiyrov ov
boy-FÄ ra sgya, ravia 8vvaf.tig iazi üsou.
*) Athenag., Sui^p]. 10. Vgl. dazu Justin, Apol. I, 60: -Tao' f]f.üv olv iazi
ravza dyovoai y.al tia&eiv Traoä zojv ovdk zovg yaoay.zijQag ziov ozor/eioiv L-riaza-
(lEvwv, löicozcör /ikv y.ai ßaQßdocov z6 (f&äyua, aocp&r ö'e y.al :iiozcöv xov %'ovv
ovziov, y.al jttjoöJv y.al yrjoiov zivän' zag oifsig' a>g owsTrai ov aocpla dv^Qo^rrfii.
zavza ysyovsvai, d'/.lä bvväftsi dsov leyeo&ai. TertulL, Apol. 46: „Deum quilibet
opifex Christianus et iuvenit et ostendit et exinde totum quod in deum
quaeritur re quoque adsignat, licet Plato adfirmet factitatorem universitatis
neque inveniri facilem et inventum enarrari in ouines difficilem."
*) Instit. VI. 4.
^) Iguat.. ad Ephes. 10: i.-zezoiii'az£ avroTg [seil, den Heiden] y.är sy. rwr
tQyo3v viilv /iiadtjzev&iirac' crgog zag ogyäg a.vzöjv v^isTg :zoaETg , .-roog zag /.leya-
}.OQor]uoovvag avzojv v/iieTg zajistvöqoovgg , Jioog zag ß/.aaq?i]fiiag aincöv vfieTg zag
7TQOosv/dg .... ftl] o.-TovddCovzeg dvzi/:iif(7]oaodai avzovg' dÖE/.rpoi avxwv svos^o)-
fiEv xfi E:n£iy.£iq- iiifDjzal zov y.voiov oaovbd'QoijiEV Eh'ai.
') Vgl. auch die Predigt II Clem. 18: za Edvrj dy.ovovza iy zov azö/iazog
TjfiöJv zä löyia zov Oeov ojg y.a/.d yal /^lEvd/.a &avf.idCEi' s.-ZEiza yazafiadövza zä
Eoya »'ifiüjv ozi ovy. eotiv ä^ia röiv §r)f.idzoiv (bv ?.syofiEr, evOev Eig ß).aaq.n]i.iiav
zQEJTOvTai, ).EyovzEg Eivai /iv&öv ziva y.al Ttlävijv. Also auch solche Fälle kamen
vor; sie beweisen indirekt das im Texte Gesagte.
«) Orat. 29. — ») Apol. II, 12.
tg2 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
echten ^ Am lebendigsten aber tritt uns in der Schrift des
Cyprian ad Donatum entgegen, wie ihn nicht sowohl die sittliclie
Forderung als vielmehr die sittliche Kraft, welche das Christen-
tum darbot, überzeugt und gewonnen hat. Das Ausziehen des
alten und das Anziehen eines neuen Menschen habe er für eine
Unmöglichkeit erachtet; aber ,,nachdem ich himmlischen Geist in
mich geschöpft und die zweite Geburt mich zu einem neuen
Menschen umgestaltet hatte, da gewann plötzlich auf wunderbare
Weise das Zweifelhafte festen Bestand, das Verschlossene öftnete
sich, die Finsternis hellte sich auf, ausführbar wurde, was vorher
schwierig geschienen, und erfüllbar, was für unmöglich gegolten
hatte." Nicht anders reden Tertullian und Origenes.
Aber nicht nur die Christen selbst bezeugen, daß sie in eine
neue Welt sittlicher Kräfte, des Ernstes und der Heiligkeit gestellt
sind, auch ihre Gegner legen Zeugnis für ihre Reinheit ab. Zwar
hielten sich die von den Juden in Kurs gesetzten abscheulichen
Vorwürfe in bezug auf das sittliche Leben der Christen lange
Zeit hindurch und wurden vom Volke und von manchen Gebildeten^
geglaubt, aber wer nachprüfte, fand etwas ganz anderes. Plinius
erklärt dem Trajan, daß er nichts Verbrecherisches oder Laster-
haftes bei seinen Verhören mit Christen habe feststellen können;
der Zweck dieser Vereine sei vielmehr der, sich in der Gewissen-
haftio-keit und Tugend zu bestärken^. Lucian hat die Christen
-) Bereits das Zweitälteste Martyrium, welches wir kennen, das des
Zebedäiden .Jaeobus, ist von Clemens Alex, iu deu Hypomnematen so erzählt
worden (s. Euseb. II, 9j. daß der Ankläger sich bekehrte und mit dem Apostel
zusammen hingerichtet worden ist. — Während alle Christen im öffentlichen
Bekenntnis des Glaubens vor der Obrigkeit den Höhepunkt der christlichen
Sittlichkeit erkannten, trug der sektiererische Christ Heracleon eine andere
Meinung, die ihm freilich sehr übel genommen worden ist, vor. Er behaup-
tete, daß jenes Bekenntnis mit dem Wort auch heuchlerisch sein könne, und
daß das stetige Bekenntnis in Werken und Handlungen, die dem Glauben
entsprechen, das Entscheidende sei (Clemens Alex., Strom. IV, 9, 71 f.).
^) So wahrscheinlich von Fronto, dem Lehrer M. Aureis (s. den Octavius
des Minucius), auch von Apulejus, wenn die Metamorph. IX, 14 geschilderte
Fraii („omnia j^rorsus ut in quandam caenosam latrinam in eius animam
flagitia confluxerant") eine Christin war („spretis atque calcatis divinis numi-
nibus invicem certae religionis meutita sacrilega praesumptione dei, quem
praedicaret unicum"). Ein Gemisch von Demut und P'rechheit hat der Rhetor
Aristides in der christlichen Lebensweise gesehen und sie <ler der .luden in
dieser Beziehung gleichgestellt (Orat. 46). Das ist der empfindlichste Vorwurf;
einen ähnlichen hat Celsus erhoben; s. im 3. Buch Kap. 5.
'■') „Adfirmabant autem [seil, die Christen im Verhör] haue fuisse summam
vel culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die ante lucem convenire
carmeuqne Christo quasi deo dicere secum invicem, seque sacramento non in
scelus aliquod ob.stringere , sed ne furta, ne latrocinia, ne adulteria com-
mitterent, ne fidem faJlerent, ne depositum appellati abnegarent."
Die Religion des Geistes und der Krait etc. [§3
so geschildert, daß sie als leichtg-läubigc Sehwärmer, aber auch
als Leiue von Reinheit, Opferwilligkeit und von Todesniut er-
scheinen. Epictet und M. Aurel haben den letzteren anerkannt^.
Am wichtigsten aber ist das Zeugnis des scharfblickenden Arztes
Galen. Er sagt in der Schrift de sententiis politiae Platonicae "^ :
„Homimmi plerique orationem demonstrativam continuam mentc
assequi nequeunt, quare indigent, ut instituantur parabolis. veluti
nostro tempore videmus homines illos, qui Christiani vocantur,
fidem suam e parabolis petiissc. hi tamen interdum talia faciunt,
qualia qui vere philosophantur. nam quod mortem contemnunt,
id quidem omnes ante oculos habemus; item quod verecundia
(piadani ducti ab usu rerum venerearum abhorrent. sunt enini inter
eos et feminae et viri, qui per totam vitam a concubitii abstinuerint ^ ;
sunt etiam qui in animis regendis coercendisque et in acerrimo
honestatis studio eo progressi sint, ut nihil eedant vere philoso-
^) Beide freilieh mit einer Einschränkung; Epictet sagt, daß die Galiläer
die d(poßia vor den Tyrannen ., gewohnheitsmäßig" hätten (Arrian. , Epictet.
diss. IV, 7, 6) , M. Aurel behauptet, die christliche Todesbereitschaft stamme
aus Ostentation (Med. XI, 3\
-) Arabisch erhalten in der Hist. anteislam. Abulfedae (ed. Fleischer
p. 109); s. dazu Kalbfleisch in der Festschrift für Gomperz, 1902, S. 96 f.
Norden, Kunstprosa S. 518 f.
^) Von Justin au — wahrscheinlich schon früher — haben die Christen
den Heiden gegenüber immer wieder auf die Gruppe ihrer Brüder und
Schwestern, hingewiesen, die sich der Ehe ganz enthielt oder nach einmaliger
Ehe nicht wieder zur Ehe sehritt oder innerhalb der Ehe auf den Geschlechts-
verkehr verzichtete. Augenscheinlich rechneten sie darauf, daß eine solche
Lebensweise auch bei ihren Gegnern Beifall und Bewunderung finden werde
(auch Selbstentmannungen fehlten nicht, s. das Beispiel des Origenes und
den Versuch, von welchem Justin, Apol. I, 29 berichtet). Schwerlich haben
sie sich dabei verrechnet; denn die Keligionsphilosophie des Zeitalters war
asketisch. Doch ungeteilt war der Beifall auch der sittlich Strengen nicht.
Der Heide bei Macarius Magnes (Poi-phyrius) III, 86 führt dem Paulus zu
Gemüte, daß er I Tim. 4, 1 die tadelt, welche die Ehe verbieten, selbst aber
I Cor. 7 die Jungfräulichkeit empfiehlt, obgleich er bekennen muß, kein
Herniwort über die Jungfrauen zu besitzen. .,Tut also nicht der, welcher
wie eine Jungfrau lebt, unrecht und ebenso der, welcher sich nach der
Weisung irgendeines schlechten Menschen der Ehe enthält, da sie doch von
Jesus kein Gebot über das jungfräuliche Leben habenV Und wie dürfen
einige Frauen, welche jungfräulich leben, so gewaltig Rühmens davon macheu
und behaupten, sie wären des heiligen Geistes voll, wie die,
welche Jesum gebar?" — Die mißtrauische Beurteilung des Geschlechts-
verkehrs (auch des ehelichen) bei den alten Christen zeigt sich von Paulus
an auf der ganzen Linie; besonders charakteristisch sind hier die apokryphen
Apostelgeschichten (mit den Acta Pauli beginnend), die die populären Stim-
mungen widerspiegeln. Folgende Tatsachen mögen hier zusammenstehen:
(1) Die Ehe wird als Konzession an die Schwachheit gerade noch geduldet,
(2) die Einschränkung oder gänzliche Enthaltung des Geschlechtsverkehrs in
der Ehe wird angeraten und dringlich empfohlen, (.3) die zweite Ehe wird
] 34 Rie Missionspredigt iu Wort und Tat.
phantibus^" Ein uubestocheneres und glänzenderes Zeugnis für
die Sittlichkeit der Christen kann kaum gedacht werden. Übrigens
hat auch Celsus. der ihnen sehr mißgünstig ist, das sittliche Leben
der Christen niclit bemängelt. Dum])f, niedrig, kläglich ist zwar
nach Celsus alles bei ihnen, aber die Moralität, die unter solchen
Umständen möglich ist, spricht er ihnen nicht ab. —
Wie seit dem Anfang des 3. Jahrhunderts der Beweis „des
Geistes und der Kraft" zurücktritt, so hört auch die ungeheuere
sittliche Anspannung auf und macht allmählich einer Moralität
Platz, die sich an das Aveltliche Leben anschmiegt und Ver-
folgungen nicht mehr gewachsen ist-. Die Stadien dieses Prozesses,
der seine Anfänge schon im 2. Jahrhundert hat und bei der Frage
einsetzte, ob und welche Sünden nach der Taufe vergeljen werden
können, kömien hier nicht dargelegt werden. Es muß die Be-
merkung genügen, daß seit c. 230 in vielen Gemeinden nach dem
Vorgang der römischen die grol)en Fleischessünden vergeben
wurden, seit dem Jahre 251 in den meisten Gemeinden sowohl
diese als die Sünden der Idololatrie. Damit war der Kreis ge-
schlossen : nur in einigen Fällen wurden Verbrechen von besonderer
Scheußlichkeit nicht vergeben, der Betreffende also in die Ge-
meinde nicht wieder aufgenommen. Daß die christlichen Gemeinden
samt ihren Bischöfen und ihrem Klerus bereits um das Jahr 220
in sittlicher Hinsicht das nicht mehr waren, was sie früher gewesen
waren — obgleich uns der Hirte des Hermas zeigt, wieviel
Schlimmes auch damals schon zu bekämpfen war — , geht aus
den letzten Schriften TertuUians („Nostrorum bonorum status iam
mergitur", de pudic. l) und aus vielen beißenden Bemerkungen
des Origenes in seinen Kommentaren klar hervor. Dennoch aber
hörten sie nicht auf, sich durch ihre Sittlichkeit von den anderen
Vereinen im Reiche und vor den städtischen Bevölkerungen aus-
zuzeichnen (Origenes betont das Celsus gegenüber ausdrücklich:
als EvjTQemjg ßoiyeia bezeichnet, (4) die Jungfrauen werden überredet, in diesem
Stande zu bleiben, (5) an die Stelle der Ehen treten platonische Bündnisse
(„virgines subiutroductae'O mit kühnsten Wagnissen. S. dazu Tertull., de
resuiT. 8: „virgiuitas et viduitas et modesta in occulto matrimonii dissimu-
hxtio et una uotitia eius." Das sind in absteigender Reihenfolge die vier
Formen geschlechtlicher Enthaltsamkeit.
') Natürlich verurteilt Galen den Glauben der Christen als Hartnäckig-
keit im Festhalten an völlig Unbewiesenem; :jf.qi diaq>0Qäg o(]^vy/wJ7• 11, 4:
Iva fu'i rig svOvg y.ax aQyäg , ok ek Mowoov y.ai Xqioxov Öiazfjißljv äqnyfdvog,
rduon' draTioSsixKov axov)}. III, 3: däziov äv rig roix; ä:t6 Mowoov y.ai XqiotoD
/(£Ta()idd^£in> y rovg zaig al'fjsoi .-TQOOTsrijy.ÖTag laiijoirg ts xal qnloaöcfovg.
2) Die Zahl der Lapsi in den Verfolgungen unter Decius und Diocletian
war außerordentlich groß: aber schon Tertullian spricht (Scorp. 1) von „Leuten,
die nur bei günstigem Wind, wenn es ihnen gefällig ist, Christen sind."
Die Religion des Geistes und der Kraft etc. 185
s. III, 29. 30), und die Bußgesetzgebuiigcn aus der Zeit von dem
Jahre 251 bis 325. die uns in nicht ganz geringer Zahl erhalten
sind, zeigen doch das ernsteste Bestreben, die Sittlichkeit und
Heiligkeit des Lebens aufrechtzuerhalten. Auf sittlich gesinnte
Menschen mußten die christlichen Gemeinden trotz ilirer mora-
lischen Depotenzierung noch immer eine mächtige Anziehungskraft
ausüben.
Allein — und hier tritt uns ^vieder die complexio oppositorum
ent2:e2:en — auch auf die sittlich dauernd Schwachen und
Schwächsten mußten sie eben durch die neue Entwicklung, die
sich um die Mitte des 3. Jahrhunderts in ihnen abschließend voll-
zogen hatte, mächtig wirken. Waren sie bisher Gemeinschaften
gewesen, welche die Sündenbeladenen aufnahmen, den schlimmsten
Yerbrecher nicht von ihrer Schwelle wiesen und ihm Yergebung
bei Gott vermittelten, dann aber von ihm verlangten, daß
er nun rein und heilig bleibe, so hatten sie sich jetzt,
volentes-nolentes, als Gemeinschaften einer grenzen-
losen Vergebung etabliert. Sie hatten neben und nach der
Taufe nun ein zweites Sakrament ausgebildet: noch war es formlos,
aber sie vertrauten ihm als einem formierten und hielten sich für
berechtigt, es fast in jedem Falle anzuwenden: das Bußsakrament.
Ob sie durch diese Entwicklung den Absichten des Stifters mehr
entgegengekommen sind als die Rigoristen vor ihnen oder sicli
noch weiter von ihnen entfernten, mag hier auf sich beruhen —
gewiß ist, daß die Anziehungskraft der christlichen Religion als
Reliffion der Yero-ebuni;: nun erst voll einsetzte. Alles kam auf
die Art der Anwendung an: aber es war doch nicht nur frivoler
Spott von Julian dem Apostaten, wenn er darauf hinwies, daß
die christlichen Gemeinden durch die Art, wie sie Vergebung ver-
kündigen und ausspenden, die ernste Moral schädigen und Glieder
in ihrer Mitte haben, die keine andere religiöse Gemeinschaft bei
sich dulden würde. Das. was Julian tadelt, hat schon in der
2. Hälfte des dritten Jalirhunderts reichlich begonnen. Wenn,
wie z. Z. Cyprians in Carthago. Kleriker derselben Gemeinde in
Streit miteinander geraten, werfen sie sich alsbald die sciilimmsten
Hinge vor. Betrug, Ehebruch, selbst Mord. Erstaunt und entrüstet
fragt man sich, wenn diese Vorwürfe zu Recht bestanden haben,
warum hat man den betreffenden Presbyter oder Diakon nicht
längst aus der Kirche entfernt? Auf diese Frage erhält man
keine Antwort. Beruhten aber alle diese fast stereotj^ wieder-
holten Anklagen nicht auf Wahrheit, so ist die Tatsache, daß man
leichtfertig den Bruder der schlimmsten Verbrechen zieh, nicht
minder schlimm. Man sieht hier in eine Verwahrlosung hinein,
die nicht möglich gewesen wäre, hätte sich nicht schon die Kehr-
lg() Die Missionspredigt in Wort nnd Tat.
scite der Religion der Barmherzigkeit iind Yergebung in ver-
hängnisvoller Weise geltend gemacht.
Indessen — wenn diese Vergebung auch Unwürdige traf, so
ist sie damit noch nicht verurteilt, und zum Eichten sind wir nicht
berufen. Es nuiß uns genügen, festzustellen, was wir festgestellt
haben, daß die christliche Religion im Laufe des 3. Jahrhunderts
an ihrem Charakter, Religion der Sittlichkeit zu sein, Abbruch
erlitten hat. daß sie aber in ihrer Anziehungskraft dadurch gewiß
nicht vermindert worden ist; denn als Religion, die stetig Ver-
gebung vermittelt, wurde sie nun aufgesucht. Es waren jetzt
freilich z. T. andere Kreise als bisher, die sich an sie wandten.
Noch aber ist eines Doppelten zu gedenken, um die hier ge-
gebenen Grundzüge nicht lückenhaft erscheinen zu lassen. Erstlich,
die von den meisten Gnostikern befolgte These, die Menschen
seien ihren sittlichen Anlagen nach qualitativ verschieden, und
deshalb müsse auch ihr sittliches Verhalten und die Moral, die
man ihnen zumuten könne, verschieden sein, ist von der Kirche
nicht gebilligt worden^. Aber die Unterscheidung einer Sittlichkeit
der Vollkommenen und einer noch ausreichenden Sittlichkeit ist
uralt und stets festgehalten M^orden. Selbst bei Paulus finden
sich deutliche Spuren dieser Betrachtung neben einer streng ein-
heitlichen Auffassung. Die katholische Lehre von den „praecepta''
und „consilia" hat in der Heidenkirche fast von Anfang an ge-
golten, und die Worte der Apostellehre nach der Schilderung
„der beiden Wege" drücken eine allgemeine Überzeugung aus
(C. (>: ei. uev Övvaoai ßaojdocu lllov rov Qvybv tov xvqiov , releiog
l'or}' et Ö" ov övvaoai, o Övr)] tovto ttoIsi). Die Unterscheidung
von „Kindern" mid „Vollkommenen", die zunächst für das Gebiet
der christlichen Erkenntnis gilt, gilt auch für das sittliche Gebiet;
denn sie hängen aufs engste zusammen ". Christliche Heroen,
nämlich Asketen, Besitzlose u. s. w., hat es stets gegeben, und sie
wurden besonders hoch verehrt (s.o.); ja sie mußten schon im
nachapostolischen Zeitalter gewarnt werden, sich nicht zu überheben
') E!s ist auffallend, daß die Werbekraft dieser (gnostischen) Ideen nicht
stärker war als sie gewesen zu sein seheint. Allein als sie auf christlichem
Hoden Bürgerrecht begehrten oder eindrangen, war die starke kirchliche
Organisation dort schon vorha,nden, und der Gnostizismus vermochte es nicht
mehr, sie zu brechen oder eine rivalisierende Einrichtung zu schatten.
'-) Die Asketen sind nicht nur die „Vollkommenen", sondern auch die
eigentlichen ..religiosi" — so schon Origenes, s. Hom. 11 in Num. (t. 10 p. 20),
wo die virgines, contincutes etc. als die bezeichnet werden, „qui in professione
religionis videntur". Man vgl. hierzu Hom. XVII in Luc. (t. 5 p. 151) zu
I Cor. 1,2: „Memini cum iuterpretai-er I Cor. 1, 2 dixisse nie diversitatem
ecclesiae et eorum qui invocant nomen domini. puto enim mono-
gamum et virginem et eum, qui in castimonia perseverat, esse de ecclesia
Die Religion des (4eistes und der Kriift etc. 187
oder zu prahlen (s. Ignat. iul Polyc. 5: n t/s dvvaTcu h ayvfu'a
JLiheiv f/'c Ttfdjv tTjc; oaoxog tot xvqIov , h äxav^^ola ftEvh(0' iav
xcwyj'jOYjTai , äTKoXero, et". 1 Clem. 38: o äyvoq Iv rfj oagul tJTw xal
u)] cdaCovfvfoß(o). Jn den urchristlichen Asketen hat das Mönch-
tum seine Vorstufe.
Zweitens — die Wahrhaftigkeit in bezug auf das Wirkliche
leidet in jeder Religion ebensoleieht Schaden wie die Gerechtig-
keit, und an jede Religion haftet sich der Fanatismus, die Kritik-
losigkeit und der Schwindel. Die Blätter der Kirchengeschichte
von den ältesten Zeiten an wissen davon zu erzählen. In den
meisten Fällen, bei allen den Wundern, die nicht geschehen, den
Visionen, die nicht gesehen, den Stimmen, die nicht gehört, den
Büchern, die von den angeblichen Verfassern nicht geschrieben
worden sind, können wir heute nicht mehr entscheiden, wo der
Selbstbetrug aufhört und wo der Betrug anfängt, wo die Schwär-
merei zur Methode wird und die Methode zur gewohnheitsmäßigen
Täuschung; ebenso wie wir in der Regel nicht zu entscheiden
vermögen, wo die herbe Exklusivität zur Ungerechtigkeit und zum
Fanatismus wird. Wir müssen uns begnügen, festzustellen, daß
solche Fälle leider nicht selten waren, und daß sie zugenommen
haben. Auch das hat im 3. Jahrhundert und auch schon im
zweiten nicht gefehlt, was man Priesterbetrug und Wunderschwindel
nennt. Nicht nur in einigen gnostischen Konventikeln, wo man
Wasser in Wein (Marcosier) und Wein in Wasser (Bücher Jeu)
verwandelte, sind sie zu finden, sondern auch in der großen
Kirche.
Das Christentum als Religion des Geistes und der Kraft barg
aber noch ein Element in sich, das von höchster Bedeutung ge-
worden ist und in besonderer Weise die Originalität dieser Religion
zum Ausdruck bringt — das ist die Ehrfurcht vor Niedrigkeit,
Schmerz, Leiden und Tod und die heldenhafte Umbiegung dieser
Hemmnisse in Sieg und Triumph. Das Leben des Erlösers und
sein Kreuz waren die großen Kräfte und Paradigmen für die
Entstehung und Einübung jener Ehrfurcht, die mit Geduld und
Hoffnung vermählt, jeden äußeren Widerstand niederwarf, in dem
Leiden den AVeg zur Gottheit verehrte und so inmitten der Feinde
triumphierte. „Die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist — diese
ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte.
dei, eum vero, qui sit digamus, licet bonam habeat conversationem et ceteris
virtutibus polleat, tarnen non esse de ecclesia et de numevo, qui nou habent
rugam aut maculam aut aliquid istius modi, sed esse de secundo gradu et
de bis qui invocaut nomen domini, et qui salvantur quidem in nomine
lesu Christi, nequaquam tarnen eoronantur ab eo."
•J SS Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen
zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen,
sondern auch Niedrigkeit und Armut. Spott und Verachtung,
Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen^."
Das Tiefste, was in der Christenheit nach Seiten der Entwicklung
des sittlichen Gemüts, voll Kraft und voll Zartheit, hervorgebracht
worden ist, hat hier seine Wurzel, und es hebt sich als ein durch-
aus Originales von ähnlichen Ansätzen in einigen Philosophen-
schulen (z. B. den zynischen) ab. Worte freilich sind dieser
Stimmmig erst viel später — von Augustin ab — verliehen
worden.
Aber wie auch das Göttlichste auf Erden seinen Schatten
hat, so ist auch jene Ehrfurcht nicht ohne einen solchen. Nicht
nur die neue Ästhetik, die hier entstand, mußte — weil die Auf-
gabe unlösbar war — eine Ästhetik des Niedrigen, des Todes
und seiner häßlichen Reliquien werden, also eine Nicht -Ästhetik,
bis endlich in sehr viel späterer Zeit die Ästhetik des Seelen-
schmerzes und des Entzückens in dem Leid gefunden war, sondern
auch hier stellte sich Routine und Konventionelles ein. und das
Tiefste und Verehrungswürdigste wurde durch Gewohnheit, profane
Rede, mechanische Überlieferung und rituelle Übung entgeistet
und widerlich-. Aber so stark man das häßliche Phlegma dieser
neuen Stimmung empfinden und so empört man es verurteilen
mag ■ — man soll nicht vergessen, daß es der Schatten der tiefsten
und zugleich heldenmütigsten Erhebung der Seele ist, ja der Re-
ligion selbst in ihrer reifsten Entwickluna,'.
Sechstes Kapitel.
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien
und der transzendentalen Erkenntnisse.
1.
„Einige Cliristen [also nicht alle] wollen nicht einmal Rechen-
schaft geben noch nehmen über das, M'as sie glauben; sie halten
sich an die Parole: , Prüfe nicht, sondern glaube*" und ,Dein Glaube
wird dich retteir. .Ein Übel ist die Weisheit in der Welt, ein
1) Goethe, Wander jähre Bd. 24 S. 243.
^) Auch hier hat Goethe (a. a. 0. S. 255) das trett'ende Wort gesprochen:
„Wir ziehen einen Schleier über diese Leiden (die Leiden Christi vornehm-
lich), eben weil wir sie so hoch verehren; wir halten es für eine verdanimuags-
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. ] j^9
Gutes aber die Torheit.'" So hat Celsns (I, 9) von den Christen
geschrieben. Dieselbe Charakteristik hat er noch öfters in seiner
Streitschrift vorgebracht und variiert: s. 1, 12; „Wie sie gewohnt
sind, sprechen sie: ,Untersuche nicht.'" 1,26 f.: „Jesu verderb-
liches Wort hat die Menschen betrogen: freilich bei seinem
idiotischen Charakter und seinem Mangel an Beredsamkeit hat
er fast nur Idioten gewonnen ^" III, 44: „Folgende Vorschriften
gelten bei den Christen, ja sogar bei den verständigeren: ,AVer
gebildet ist, wer klug, wer weise ist, der trete nicht zu uns hinzAi;
denn solche Eigenschaften sind in unseren Augen schlimme Dinge.
Die Unwissenden aber, die jS"arren und die Toren mögen herzhaft
zu uns kommen!*" VI, lOff. : „Die Christen sagen: , Glaube allem
zuvor, daß der, welchen ich dir verkündige, der Sohn Gottes ist.' "
„Alle sind mit der gleichen Aufforderung bei der Hand: , Glaube,
wenn du gerettet werden willst, oder packe dich fort.' Von der
Weisheit unter den Menschen sagen sie, sie sei Torheit bei Gott.
Die Ursache davon ist, daß sie durch solche Rede nur die Un-
gebildeten und Einfältigen an sich ziehen wollen." Auch nach
Justin werfen die Gegner den Christen vor, daß sie nur blind be-
haupten, aber nichts beweisen (Apol. 1,53), und Lucian (Peregr. 13)
sagt von ihnen: ävEv Tivög äxQißovg TTiOTSCog rä roiavTa nageöe^uvro.
Die Charakteristik und der Vorwurf sind nicht ganz unbe-
rechtigt. Innerhalb einer bestimmten Linie der Betrachtung haben
die Christen von Anfang an und stets behauptet, man habe seine
Vernunft gefangen zu nehmen und in Gehorsam unter die evan-
gelische Botschaft zu beugen. Einige von ihnen sind noch weiter
vorgeschritten und haben überhaupt blinden Glauben dem Wort
gegenüber verlangt. Vv'enn der Apostel Paulus das, was er predigt,
nicht sowohl seinem Inhalte nach ins Auge faßt, als vielmehr seiner
Herkunft nach — es ist Gottes Wort — , aber auch wenn er
auf den Kontrast sieht, in welchem es zur Weisheit dieser Welt
steht, so fordert er entschlossenen und festen Glauben, nichts
anderes. „AVir nehmen alle Vernunft gefangen unter den Gehor-
sam gegenüber Christus" (II Cor. JO, 5) und: das Wort vom Kreuz
verträgt keine oocpia löyov und will als törichte Predigt gepredigt
und mit dem Glauben ergriflFen sein (I Cor. 1,17 ff.). Daher warnt
er auch vor den Verführungen der Philosophie (Coloss. 2, 8). Sehr
viel entschlossener noch ist Tertullian voro:eo:angan. Er verbietet
würdige Frechheit, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die Tiefe des
göttlichen Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und
nicht eher zu ruhen, als bis das Würdigste gemein und aligeschmackt er-
seheint. "
^) Doch fügt Celsus hinzu, es gebe auch etliche maßvolle, fromme, ver-
ständige und zu geistigen Umdeutungen geschickte Leute unter den Christen.
190 Die Missionspredigt in Wort uud Tat.
es dorn Christen (de praescr. S ft'.). das "SVort: „Suchet und ihr
\verdet finden'-' auf die Lehre überhaupt anzuwenden. „Was hat",
ruft er (1. c c. 7) aus, „Athen mit Jerusalem zu schaffen, was
die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen?
Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos, der selbst
gelehrt hatte, man müsse den Herrn in der Emfalt des Herzens
suchen. Zusehen mögen die, welche ein stoisches und platonisches
und dialektisches Christentum eingeführt haben! Seit Jesus Christus
bedürfen wir des Forschens nicht melir, auch nicht des Unter-
suchens, seitdem das Evangelium gepredigt worden ist. Wenn
wir olauben, so wünschen wir über den Glauben hinaus weiter
nichts mehr. Denn das ist das Irrste, daß wir glauben, es gebe
nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben
haben . . . Nichts außerhalb der Glaubensregel wissen heißt alle
Wissenschaft besitzen^."
So mögen viele Missionare gepredigt haben, nicht nur seit
dem schweren Kampf mit dem Gnostizismus, sondern auch schon
vorher. Auf den Glauben kommt es an als einen Entschluß des
Willens und des Gehorsams: keine Yerstandsbedenken sollen ihn
stören!
So kann nur gepredigt werden, wenn zugleich eine mächtige
Autorität eingesetzt wird, und sie wurde eingesetzt. Zuerst und
vor allem — man vergleiche Paulus — war es die Autorität des
göttlichen Offonbarungswillens. wie sich derselbe in der Sendung
des Sohnes kund getan hat. Hierbei aber lagen äußere und innere
Autorität ineinander und deckten sich: denn so gewiß der gött-
liche Wille an sich, nach Paulus. Autorität ist und sich auch als
solche wirksam zu machen vermag, ohne daß man den Zweck
und das Recht dieses Willens erkennt (s. Rom. 9 ff.), so gewiß ist
der Apostel davon durchdrungen, daß der Gnadenwille sich inner-
lich verständlich macht.
Aber schon bei Paulus sind neben der in dem Kreuz Christi
gesetzten äußeren und inneren Autorität auch noch andere Autori-
täten vorhanden, die Glaubensgehorsam verlangen — das ge-
schriebene Wort der lieiligen Urkunde und die Worte Jesu. Auch
hier soll es keine Zweifel und keine Widerrede geben.
Deinioch hat der große vVpostel den Versuch gemacht, alles
ffcistio; zu duichdriny-en. und schließlich handelt es sich bei ilim
^) Vgl. de carue Christi 2: ,Si propheta es, praenuntia aliquid: si
apostolus, praedica publice; si apostolieus, cum apostolis senti; si tantuin
Christianus es, crede quod traditum est.'" Das „Glauben" wurde aber dann
bei den jMassen (den ..simpliciores", den „simplices et idiotae") manchmal
handfester als es den Theologen — ja selbst einem Tertullian — lieb war.
Die Klagen darüber bei Origenes sind zahlreich (s. z.B. de princip. IV, 8).
Die Religion der Autorität uud der Vernunft, der Mysterien etc. t',)I
an keiner 8relle um ein sucriticiuin intellectus (s. u.). Die Sätze,
die anders lauten, sind nur Schein. Sofern er Glaubensgeliorsam
fordert und das „Wort"' oder das „Kreuz" als Autorität hinstellt,
meint er den Glaubensgehorsam, der von jeder Religion unzer-
tr(Mmlicli ist, mag sie noch so frei und geistig ausgestaltet sein.
Aber Celsus und Tertullian belehren uns darüber, wenn es hier
überhaupt einer Belehrung bedarf, daß viele Missionare und Lehrer
ganz anders verfahren sind. Sie pflanzten einfach die Autorität
auf. in steigendem Maße die des Bibelbuchstabens ^. bald auch die
der Glaubensregel und der Kirche (die Kirche als orvXog xal
edoakojiia tj]? dh]&eiag schon I Tim. 3. 15). Es ist richtig, daß sie
die Autorität beider Größen, der Bibel und der Kirche, durch
eine rationale Beweisführung zu stützen suchten (die der Bibel
durch den Ts achweis der erfüllten Weissagungen, die der Kirche
durch den IS^achweis der lückenlosen Tradition, die auf Christus
selbst zurückführt und der kirchlichen Lehre den Wert der Worte
Christi verleiht) und insofern im Grunde doch keinen blinden
Glauben verlangten. Allein erstlich waren zu solchen Beweis-
führungen gewiß niclit alle Missionare und Lehrer fähig — es
sind die gebildeten Apologeten und Polemiker, die sie führen — ;
zweitens kami eine innere Autorität der betreffenden Größen
durch äußere Beweise nicht herbeigeführt werden. Sie bleiben
doch etwas Heteronomes, und der geforderte Glaube bleibt im
Grunde blinder Glaube.
Aber man würde sehr irren, wollte man annehmen, daß die
runde Forderung, einfach den Autoritäten zu glauben und die
Yernunft zu verabschieden, für die Mehrzahl der Menschen als
starkes Hindernis bei der Annahme der christlichen Religion ge-
wirkt har-. Das Gegenteil ist sicher der Fall gewesen. Je
peremptorischer und exklusiver eine Religion die Glaubensforde-
rung geltend macht, desto zuverlässiger und sicherer scheint sie
der Mehrzahl zu sein: je mehr sie ihnen die Pflicht der Yerant-
wortung. über ihre Wahrheit nachzudenken, abnimmt, desto will-
kommener ist sie. Jede kräftio- eingesetzte Autorität wirkt hier
'j Genaueres über die Bedeutung der Bibel für die Mission s. im siebenten
Kapitel.
-) Auf hochgebildete Männer wie Celsus und Porphyrius natürlich wohl.
Über Celsus s. oben; Porphyrius (der Heide bei Macarius Magnes IV, 9)
schreibt zu Matth. 11.25: „Wenn die C4eheimms3e vor den Weisen verborgen
sind, den Unmündigen und vernunftlosen Säuglingen aber hingeworfen werden
— es müßte dann freilich auch das für die Unmündigen und Unverständigen
Geschriebene deutlicher sein und nicht rätselhaft — , so ist es besser, nach
Unvernunft und Unbildung zu streben. Das ist der höchste Glanzpunkt des
auf Erden wandelnden Christus, vor den Weisen den Strahl der Erkenntnis zu
verbergen, den Unverständigen aber und den kleinen Kindern ihn zu enthüllen.''
1 92 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
als Beruhigung: ferner aber: gerade die paradoxesten Glaubens-
sätze, welche jeder Erfahrung und vernünftigen Überlegung spotten,
sind die willkommensten; denn sie scheinen die Gewähr zu bieten,
daß hier nicht nur Menschliches und daher Unzuverlässiges dar-
gereicht wird, sondern göttliche Weisheit. „Das Wunder ist des
Glaubens liebstes Kind", gilt nicht nur von den Mirakeln, es gilt
auch von den mirakulösen Lehren, die man nur in blindem Glauben
und Gehorsam sich anzueignen vermag.
Allein solange die Autoritäten in Büchern und Lehren be-
stehen, ist die letzte Beruhigung, die gesucht wird, noch nicht
erreicht. Der Sinn solcher Lehren bleibt immer mit einem Zweifel
behaftet, und ihr Spielraum unsicher, vor allem aber: ihre An-
wendung auf die Fragen der Gegenwart ist oft schwierig und
führt zu peinlichen und erschütternden Kontroversen. Die letzte
Beruhigung für den „blinden Glauben" ist erst dann gegeben,
wenn die Autorität eine lob endige ist, leicht befragt werden
kann und prompt antwortet. Eine solche Autorität gab es in den
ersten Generationen der Christenheit nicht; aber langsam bildete
sie sich im Laufe des 2. Jahrhunderts und bis zur Mitte des
dritten heran: die Autorität der im Episkopat repräsen-
tierten Kirche. Sie verdrängte die anderen Autoritäten nicht,
den Heilswillen Gottes und die heilige Schrift; aber indem sie
sich neben sie stellte, schob sie sie zurück: die auctoritas inter-
pretativa ist stets die höchste und eigentliche Autorität.
Seit der Mitte des dritten Jahrhunderts waren Kirche und Episko-
pat soweit entwickelt, daß sie wie heilige Autoritäten funktionierten.
Ei'st seit dieser Zeit hat die Verbreitung der Kirche den großen
Aufschwung genommen: nunmehr wurde sie Massenkirche. Zwar
auch das lebendige Autoritätssystem der Kirche hatte noch seine
Mängel luid Lücken — unter Umständen funktionierte es sehr
langsam oder konnte überhaupt nicht in Wirksamkeit gesetzt
werden — . aber für die Massen bestanden diese Mängel nicht.
Sie schauten in dem Bischof, in dem Priester, ja in dem Kirchen-
gebäudo und dem Kultus das Heilige imd Autoritative, dem sie
sich unterwarfen, unmittelbar an. Dieser Zustand herrschte schon
zwei (rcsnerationen lang, als Constantin das Christentum anei'kannte
und privilegierte. Diese Kirche mit der ungeheuren Autorität,
die si(^ über die jVrassen hatte, privilegierte er. und diese Christen
erklärte er für die Stützen des Thrones, die in gehorsamem
Glauben den Bischöfen anhingen und sich ihrer gottverordneten
Autorität nicht widersetzten. Das Christentum mit seinem blinden
Glauben, welches Celsus schildert, ist das Christentum, das „ge-
siegt" hat. Wann hätte auch jemals ein Staat ein positives Inter-
esse füi" eine andere Art von Beligion gezeigt?
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. 193
2.
Das Christentum ist complexio oppositorum. Derselbe Paulus,
der die Vernunft gefangen nehmen heißt, verkündigt, daß im
Gegensatz zum Polytheismus das Christentum der „vernünftige
Gottesdienst" (Rom. 12, 1: Xoyixrj Xargeia) sei, und erklärt, daß,
was den Heiden als Torheit am Kreuze Christi erscheine, eben
nur ihnen, die da verblendet seien, so erscheine; in Wahrheit sei
die christliche Predigt die tiefste Weisheit. Ferner aber erklärt
er, daß sie nicht nur im Jenseits als Weisheit uns aufgehen werde,
sondern daß sie schon jetzt von den Gläubigen als solche erkannt
werden könne, und das er die „Vollkommenen" unter ihnen in
sie einführen werde ^. Diese Zusage (z. B. I Cor. 2, 6 f.: oocp'iav
laXovfxev h To7g reXeioig) hat er wahr gemacht und doch den
Kindern imd Schwachen am Geiste die Weisheit nicht vorent-
halten. Zwar nicht alles kann und darf er sagen, was ihm an dem
Worte Gottes und dem Kreuze Christi aufgegangen ist — X.aXovjuev
-deov oocpiav ev jnvoTi]Qi(p t}]v äjioxexQvujuevi]v — , aber in Spe-
kulation und Geschichte hat er sich bewegt und aus der „Tiefe
des Reichtimis imd der AVeisheit und Erkenntnis Gottes" reichlich
geschöpft. Mit ihm empfindet man die Freude des Denkers, der
die Gedanken Gottes nachdenkt und gewiß ist, daß er in, mit
und durch seinen Glauben aus der Finsternis zum Licht, aus dem
Verworrenen, Undurchsichtigen und Lastenden zu befreiender
Klarheit gekommen ist.
„Wir sind aus der Finsternis zum Licht empor gerettet wor-
den" — das ist der Jubelruf eines Chors von Christen in jenen
ersten Jahrhunderten gewesen. Es war die intellektuelle
Wahrheit und Klarheit, deren sie sich freuten und rühmten.
Wie eine lastende Nacht erschien ihnen der Polytheismus; nun
war er von ihnen genommen; die helle Sonne stand aniEümmel!
Wohin sie auch schauten, alles empfing durch den geistigen
Monotheismus, empfing von dem lebendigen Gott Klarheit und
Gewißheit. Man lese den I. Clemensbrief- oder den Anfano;
*) Über die „Vollkommenen" s. o. S. 186. Sie bilden für Paulus eine
besondere Kategorie. Die Unterscheidung ist dann namentlich von den
Alexandrinern scharf ausgeprägt und eine christliche Lehre für die Voll-
kommenen (die , Wissenden"), eine andere für die Gläubigen ausgebildet
worden. Auch von Christus selbst erzählte man in Alexandrien fnicht nur
bei den Gnostikern) . daß er eine Geheimlehre für die Vollkommenen seinen
vertrauten Aposteln übergeben und für ihre Fortpflanzung gesorgt habe,
s. Clemens Alex, bei Euseb. , h. e. II, 1 : 'la/iwßoj ro) diy.aicp y.ai 'Icodwi] xal
IHtqco /.lETOL rtjv äväoxaoiv jraoiÖMxev rr/v yvcöaiv 6 xvQiog , ovxoc roTg XoiTcoig
äjioarö/Mig :iaoEÖwy.av y.iX.
-) Besonders c. 19 ff.
Harnack, Mission. 2. Aufl. 13
•194 Di^ Missionspredigt iu Wort und Tat.
der clomentiiiisclieii Predigt^ oder den Barnabasbrief - üdcr liöre
die Apologeten oder studiere den alexandrinischen Clemens und
Origcnos. Sie richten ihren Blick auf die IS'atur und freuen sich
der gesetzmäßigen Einheit ihrer Bewegung: Himmel und Erde
sind ihnen Zeugen der Einheit und Allmacht Gottes. Sie blicken
auf die Anlagen und die Ausstattung des Menschen und schauen
in ihnen die Züge des Schöpfers. Sie preisen in der Vernunft
und Freiheit des Menschen seine unermeßliche Güte. Sie ver-
gleichen die Offenbarungen Gottes, den göttlichen ^Yillen. mit
dieser Yernunft und Freiheit, und siehe da — alles stimmt har-
monisch zAisammen: nichts wird dem Menschen auferlegt, was
nicht schon in ihm liegt, nichts offenbart, was nicht bereits in
seinem inneren Bestände gegeben ist. Die lange verschüttete
natürliche Religion, die Religion jusTa /jjyov ist wieder aufgedeckt^!
Sie blicken auf Christus, und wie Schuppen fällt es von ihren
Augen: das was in ihm tätig war, ist der Logos, derselbe Logos,
durch den die Welt geschaffen ist, mit dem das geistige Teil des
Menschen durch ein geheimnisvolles Band unlöslich verbunden ist,
der in der Geschichte gewirkt hat, in allen Guten und Edlen, der
zuletzt notwendig seine ganze Kraft off'enbaren mußte, damit alle
Hemmungen und Störungen schwänden, in die der Mensch, das
so herrlich geschaffene, aber so schwache Wesen, geraten war.
Sie blicken endlich auf den Lauf der Geschichte, auf den Anfang,
die Mitte und das Ende, und alles strebt zusammen, vereinigt
sich zu einem herrlichen Aufstieg und zu einem noch herrlicheren
Abschluß. Die kreatürliche Freiheit, den Yerlockungen der Dä-
monen vmterliegend, hat Störungen angerichtet, aber sie werden
allmählich durch die Kraft des Logos -Christus überwunden: an
dem Anfang der Geschichte stand eine kindliche Menschheit, voll
guter, göttlicher Anlagen, aber noch unerprobt und der Yersuchung
zugänglich : an ihrem Ende wird eine vollendete Menschheit stehen,
fähig und würdig, in die Unsterblichkeit einzugehen. Yernunft,
Freiheit und unsterbliches Wesen werden Recht behalten gegen-
über Irrtum, Yerfehlung und Yerderbnis.
Das war das Christentum vieler, eine helle, freudige Sache,
die Lehre der reinen Yernunft. Nicht Last für den Verstand war
die luuie Lehre, sondern Befreiung. Nichts Fremdes trägt sie
der Yernunft zu, sondern klärt sie über ihren eigenen verdunkelten
^) II Cleni. l,4f!'. : tÖ rpöig {]fuv gyanlaazo . . . .T>;oot ovxFg zf/ Öiavoia zrooo-
y.vvovrre:; lldovi; y.al ^v).a xal yQvoov xai ägytujoy xai ya'/.y.ov , roya m'Oooinov
. . . afiuvQfoatv ovv jtfQiy.gifiFvoi aal roiavTij; Ay'/.voc; vkiiovifc h' t/] ixjäoFi. aveßlf:-
ipaftEv. Ähnliche Stellen sind sehr häufig.
-) Man vgl. das erste Ka])itel und c. 2, 2 f.
^) Vgl. .Justins Apologie, Tertullians Traktat de testimonio animae u. a.
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Älysterieu etc. 195
Inhalt auf. Das Christentum ist göttliche Offenbarung,
aber es ist zugleich die reine Vernunft, die wahre Phi-
losophie.
So liaben es die meisten Apologeten erfaßt: sie haben zu
zeigen versucht, daß der gesammte Inhalt des Christentums sich
diesem Gedanken unterordnet. Was sich nicht fügte, das schlössen
sie aus, aber verwarfen es nicht, sondern deuteten es vermittelst
der ,. wissenschaftlichen" Methode, nämlich der pneumatisch-
allegorischen, um oder stellten es in den großen Beweisapparat
ein (den AYeissagungsbeweis). Was sachlich wertlos oder an-
stößig erschien, -^lu-de so ent^\-eder weggeräumt oder erhielt einen
formalen Wert als Bestandteil eines frappierenden, die Göttlich-
keit des Christentimis bestätigenden Beweises. Es ist hier nicht
möglich, im einzelnen die vernünftige Philosophie, die so entstand,
zu entwickeln ^ ; aber es genügt auch für unsere Zwecke , zu
konstatieren, daß es eine hervorragende Gruppe von christlichen
Lehrern bis zum Anfang des 4. Jahrhunderts — denn auch Lac-
tantius gehört zu ihnen — gegeben hat. die das Christentum in
dieser Weise gefaßt haben. Sie haben sich als Apologeten und
auch als Lehrer vom Katheder herab eifrig an der Mission be-
teiligt: Justin hatte z.B. seine „Schule", ebenso Tatian^. Auch
die Hoftheologen in der Umgebung Constantins huldigten dieser
Denkweise. Die Erlasse des Kaisers, wo sie auf das Christentum
eingehen, und vor allem seine Rede an den Syllogus der Heiligen
sind von ihr getränkt -^ Eusebius. wenn er die neue Religion dem
großen Publikum verständlich machen will, schildert er sie als die
Religion der Vernunft und der Klarheit: man lese das erste Buch
der Kirchengeschichte und die Vita Constantini samt Zubehör.
^) In meinem Lehrbuch der Dogniengeschichte Bd. I ^ S. 462 — 507 habe
ich versucht, sie darzulegen.
-) S. die Acta mart. Justini und seine Apologie. Von Tatian wissen
wir. daß er den Rhodon zum Schüler gehabt hat (Euseb. V, 1-3).
^: Die „Rede" Constantins ist vielleicht — auch abgesehen von ihrem
Autor — die eindrucksvollste Apologie, die geschrieben worden ist ( über ihre
Echtheit s. meine Chronologie Bd. 2 S. 116 f. und Wendland, Philol.
Wochenschr. 1902 Nr. 8), eindrucksvoll für halbgebildete Leser, d. h. für das
gebildete Publikum, wie es damals war. Sehr wirkungsvoll ist es, wie als
SchlußefFekt die (gefälschte) Sibyllenweissagung und die (interpolierte) Ekloge
A'ergils verwendet und die Regierung des Kaisers in Kontrast zu den fi'üheren
Regierungen gesetzt wii-d. Das hier vorgeführte Christentum ist exklusiv —
selbst Socrates findet keine Gnade, und Plato wird nicht nur gelobt, sondern
auch hart getadelt (c. 9) — und ist doch mit dem Neuplatonismus vermählt.
Der Sohn Gottes ist als solcher und als Christus stark in den Vordergrund
geschoben; er ist Gott, Gottes Sohn und Held eines wahrhaftigen ^Mythus
zugleich. Alles aber erscheint in einer gewissen spekulativen Schwebe, der
eine echauffierte, blumenreiche, aller Schärfe enuangelnde Sprache entspricht.
[9() Die Missionspredigt in Wort und Tat.
„Supranaturalistische Rationalisten" könnte man mit einem Kunst-
ausdruck der modernen Kirchengeschichte alle diese einflußreichen
Lehrer nennen; sofern aber die Offenbarung etwas Stetiges ist,
was mit der Schöpfung begonnen, niemals gefehlt hat und sich
harmonisch der menschlichen Anlage anschmiegt, ist im Grunde
der Ausdruck „supranaturalistisch" kaum am Platze. Ein reiner
religiöser Rationalismus entstand hier, begleitet von einem eigen-
tümlichen Geschichtsbilde, dessen letzte zukünftige Erscheinvmgen
freilich zu dem gemessenen Verlaufe der früheren nicht recht
paßten. Justin, Commodian und Lactantius belehren ims, wie man
den rationalistischen Moralismus mit der alten Apokalyptik zu-
sammengeschweißt hat, ohne an der Stilmischung, die so entstand,
Anstoß zu nehmen.
3.
Indessen Autorität und Vernunft, blinder Glaube und helle
Erkenntnis, sie umfassen noch nicht alle Formen, in denen das
Christentum vorgetragen wurde. Dieses Zeitalter, in seiner geisti-
gen Haltimg und seinen religiösen Bedürfnissen so mannigfaltig zu-
sammengesetzt, wollte auch im Christentum keine Form entbehren,
die Träger eines religiösen Wertes zu sein vermochte. Und die
komplizierte Epoche machte auch den einzelnen in seinen Be-
dürfnissen kompliziert. Derselbe Mann, der nach einer Autorität
verlangte, der er sich blindlings unterwerfen wollte, verlangte oft
gleichzeitig nach einer vernünftigen Religion, und wenn er beides
erhalten hatte, war er noch nicht zufrieden, sondern begehrte
Weiteres, sinnliche Unterpfänder, die ihm das Heilige leibhaftig
vorstellen sollten, und Symbole mit geheimnisvollen Kräften.
Doch — war es nur damals so, waren es nur die Menschen jenes
Zeitalters, welche nach solchen Dingen strebten ?
Aus der Urzeit der christlichen Religion hatten zwei äußere
heilige Handlungen, nicht mehr und nicht weniger, die Verkün-
digung dieser Religion begleitet, die Taufe und die Feier des
Abendmahls. Was sie ursprünglich bedeutet haben und bedeuten
sollten, das können wir beiseite lassen. Sobald wir sie auf heiden-
christlichem Boden sehen, steht ihre Bedeutung wesentlich fest:
es sind — obgleich der christliche Gottesdienst ein Dienst im
Geist und in der Wahrheit sein soll — effektive heilige Hand-
lungen; sie enthalten Sündervergebung, Erkenntnis und ewiges
Lcljcn^ Gewiß, die Elemente Wasser, Brot und Wein sind
Symbole, und nicht im Äußeren spielen sich die Vorgänge ab;
aber die Symbole bringen der Seele das, was sie bedeuten, wirk-
') S. das Johanuesevangeliiun, den Johannesbrief und die Apostollehre
(AbcndmahLsgebete).
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. |97
lieh. Ein jedes Symbol steht mit der Sache, die es l)odeutet,
in einem mysteriösen, aber realen Zusammenhang.
Wasser, Brot und Wein als heilige Elemente, Untertauchen
in das Wasser, damit die Seele gebadet und gereinigt werde,
Brot und Wein als Leib und Blut, als Leib und Blut Christi,
als Nahrung der Seele zur Unsterblichkeit, Wasser und Blut —
diese Sprache verstand das Zeitalter. Der massive Realist ver-
stand sie, aber der sublimste Spiritualist verstand sie nicht weniger.
Die beiden sublimsten Spiritualisten der Kirche, Jo-
hannes und Origenes, sind die tiefsinnigsten Myste-
rioso phen gewesen, und die großen gnostischen Theologen
haben ihre abstraktesten Theosopheme an realistische Mysterien
angeschlossen; sie alle sind Theologen der Sakramente.
Christus hat die Güter, die er gebracht hat, an Symbole als an
Vehikel und Träger angeschlossen, ja in sie versenkt: wem die
Weihe des heiligen Symbols zu teil wird, der hat damit die
Gnade. Das war eine von unzähligen Mysterien her geläufige
Sache: in und mit der körperlichen Applikation wird die Weihe,
die Gnade, in die Seele gegossen. Es ist wie eine prästabilierte
Harmonie, nein, die Verbindung ist noch inniger. Der Satz der
späteren Scholastiker: „Sacramenta continent gratiam", ist so alt
wie die Heidenkirche: er ist noch älter als sie; er war längst
da, bevor sie existierte.
Die christliche Religion war verständlich und eindrucksvoll,
weil sie Sakramente brachte ^ ; ohne die Mysterien hätten es die
') Das Abendmahl als Essen und Trinken von Fleisch und Blut hat frei-
lich auch manchen abgestoßen. Merkwürdig ist die Kritik des heidnischen
Philosophen (Porphyrius) bei Macarius Magnes III, 15. Das Mysterium des
Abendmahls, wie es die Synoptiker überliefern, tastet er nicht an, aber zu
Joh. 6, 54 („Werdet ihr nicht essen mein Fleisch und trinken mein Blut, so
habt ihr kein Leben in euch") bemerkt er:
,,Ist denn dies nicht tierisch und widersinnig, ja vielmehr widersinniger
als aller Widersinn und tierischer als tierische Roheit, daß ein Mensch
Menschenfleisch essen und seines Stammesgenossen und Verwandten Blut
trinken und dafür das ewige Leben bekommen soll ? [Man erinnere sich, daß
Porphyrius Gegner des Fleisch- und Blutgenusses überhaupt war]. Denn
sage mir: welch größere Roheit könnt ihr noch, wenn ihr dies tut, in das
Leben einführen? Welch ein Verbrechen werdet ihr noch auf))ringen, das
fluchbeladener wäre als diese ekelhafte Ruchlosigkeit? Das Ohr erträgt es
nicht, ich meine noch gar nicht die Handlung, sondern nicht einmal den
Namen dieses völlig unerhörten fremdartigen Frevels. Nicht einmal die
Phantasiegebilde der Erinyen haben jemals , selbst in außergewöhnlicher
Lage, den Menschen solche Schuld vorgespiegelt; nicht einmal die Potidäer
hätten, wenn nicht unmenschlicher Hunger sie entkräftet hätte, dergleichen
zugelassen. Von einem Thyestesmahl freilich weiß man, usw. [es folgen ähn-
liche Beispiele aus dem Altertum]. Alle diese haben, ohne es zu wollen,
solchen Frevel begangen. Niemand aber hat je, im Frieden lebend, solchen
198 r'i*^ Missionspredigt in Wort und Tat.
Menschen schwer gehabt, sich in sie zu finden. AMe sie ge-
kommen sind, wer kann das sagen? Niemand ist schnldig und
niemand verantwortlich. Wäre zufällig die Taufe nicht ange-
ordnet gewesen, wäre die Wiederholung der Feier des Abend-
mahls nicht eingerichtet worden — und wer kann behaupten,
daß sie notwendig aus dem Wesen des Evangeliums flössen? — ,
so hätte man aus einem Gleichnis Jesu, aus einem Wort, aus
irgend einer Handlung ein Sakrament gemacht. Die Zeit der
dinglichen und gar der blutigen Opfer war zunächst vorüber, sie
vermißte man an den Religionen nicht mehr; aber die Zeit der
Sakramente w-ar längst nicht vorüber, sondern stand in Kraft und
Blüte. Jede Hand, die sich nach der Religion ausstreckte, suchte
sie in der Form des Sakraments zu ergreifen: das Auge sah
Sakramente, wo doch keine waren, und die Sinne schufen sie ^.
Wasser und Blut, Brot und AVein — der Apostel Paulus ist
gewiß kein Sakramentstheologe gewesen, aber ganz hat auch er
sich nicht diesen Mysterien zu entziehen vermocht: man lese das
11. Kapitel des I. Corintherbriefs und erwiige, wie er über das
Taufbad spekuliert hat. Aber er ist der erste und fast der letzte
Theologe der alten Kirche gewesen 2, bei dem die Sakraments-
theologie wirklich niedergehalten wird durch klare Gedanken und
Tisch angerichtet; niemand hat je von einem Lehrer so greuliche Lehre
empfangen. Und wenn du mit deinen Erkundigungen bis nach Scythien
kämest und zu den äthiopischen Macrobiern, und wenn du rings um den
Rand des Ozeans reiten wolltest, so wirst du Völker finden, die Läuse und
Wurzeln essen, und solche, die von Schlangen leben und Mäuse speisen, des
Menschenfleisches aber enthalten sich alle. Was bedeutet nun dieses WortV
Denn wenn es auch einen mehr allegorisch-mystischen und er-
sprießlichen Sinn haben sollte, so muß doch der bloße Klang des
Wortes, wenn er au das Ohr dringt, die Seele beleidigen und durch seine
Widerlichkeit in Aufruhr versetzen Freilich, viele Lehrer suchen
Xeues und Fremdartiges aufzubringen. Doch keiner unter ihnen hat eine
so fremdartige, schreckliche Vorschrift erfunden wie diese, kein Geschicht-
schreiber, kein Philosoph, keiner unter den Barbaren, keiner unter den
Hellenen der früheren Zeit. Seht nun her, was ist euch aiigekoninien , daß
ihr die Leichtgläubigen unverständig ermahnt, solchem Glauben zu folgen"?
Seht her, welches Unheil nicht nur gegen die Dörfer, sondern auch gegen
die Städte in wildem Zuge heranstürmt! Deshalb, glaube ich, hat dies auch
weder Marcus noch Lucas noch selbst Matthäus erzählt, weil sie eben der
Meinung waren, daß dies Wort gesitteter Menschen nicht würdig, sondern
ganz fremdartig und unpassend sei und von edler Lebensgewohnheit weit
entfernt."
^) Spätestens seit dem Ende des 2. Jahrhunderts ist dann die Arkan-
disziplin teils aus liädagogischeu Gründen, teils nach heidnischem .Muster
über die Sakramente gezogen worden; sie machte dieselben noch wichtiger
und eindrucksvoller.
-j Nicht der letzte ; denn Marcion und seine Schüler scheinen keine
Sakramentstheologen gewesen zu sein.
Die Religion der Autorität uiul der Vernunft, der Mysterien etc. 199
dui'ch rein geistige Reflexionen. Xach ihm sind bereits alle
Schleusen geöffnet, und die Mysterien — mit ihnen die Mysterio-
sophie — strömten ein. Bei Ignatius, sechzig Jahre nach Paulus,
ist bereits die ganze helle Theologie in sie hineingezogen imd
verschlungen. Ein Mann wie Pseudobarnabas glaubt das Tiefste
zu sagen, wenn er seine Gedanken an das Wasser, das Blut und
das Kreuz anschließt. Und der, welcher die geheimnisvollen
Worte geschrieben hat: „Drei sind, die da zeugen, der Geist und
das Wasser und das Blut, und diese drei sind eins" (I Joh. 5, S),
lebt in seinen Gedanken in Syniibolen und Mysterien. In der
„Offenbarung" sind die Symbole sämtlich nicht das, was wir
Symbole nennen, sondern halbe Realitäten, das Lamm imd das
Blut, das Waschen und das Besprengen, das Siegel und die Ver-
siegelimg. Manches ist uns heute noch verborgen. Was bedeuten
die Worte (I Joh. 2, 27) vom Chrisma und zwar vom „Chrisma",
welches so vollkommene Belehrung über alles bringt, daß man
weiterer Lehre überhaupt nicht bedarf?
Aber wie — ist Johannes nicht durch und durch Spiritualist,
ist es ürigenes nicht auch und Yalentin und Basilides? Wie kann
man da behaupten, daß ihre Realismen etwas anderes für sie ge-
wesen seien als pure Symbole? Bei Johannes kann man diese
Meinung mit einem gewissen Scheine verteidigen, weil wir nicht
den ganzen Mann kennen, sondern nur den Schriftsteller, und
auch den nur einseitig; denn unmöglich kann Johannes immer
nur so gesprochen und geschrieben haben, wie in den uns er-
haltenen Schriften; aber in bezug auf alle anderen, sofern wir
sie von mancherlei Seiten kennen, ist die Meinung unhaltbar.
Man kann das an Clemens und Origenes studieren, die uns aus-
reichend bekannt sind. Die Vereinigung des mysteriösen, realisti-
schen Elements mit dem spiritualistischen ist ihnen deshalb mög-
lich, weil sie überhaupt keine Religionsphilosophie, die auf eine
Fläche übertragen werden kami, haben, sondern eine solche
übereinander liegender Stockwerke^. Auf der höchsten
Stufe verschwindet allerdings alles Realistische, ja verschwinden
selbst alle geistigen Mittelwerte und -potenzen. sogar der Logos,
"Übrig bleiben nur Gott und die ihm stammverwandten Seelen,
die sich gegenseitig in ihrem Wiesen erkennen imd lieben und so
in eins aufgehen. Allein bis man zu diesem Abschluß gelangt,
ist eine Stufenleiter zu erklimmen. Jeder Stufe entsprechen be-
sondere Potenzen und daher auch eine eigene Theologie, Meta-
physik und Ethik. Auf der untersten Stufe steht die Religion in
mythologischer Form und mit den Sakramenten, deren geistiger
') Sie teilen diesen Aufbau mit den idealistischen Philosophen ihrer Zeit.
200 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Wert noch gar nicht erkannt ist. Aber auch sie ist ihnen
nicht Lüge, sondern Wahrheit; sie entspricht einer ])estimmten
seelischen Verfassung und genügt für diese; denn sie beseligt
sie. Die christliche Religion ist also bereits auf dieser Stufe
Wahrheit. Später fällt das alles weg und fällt nicht weg. Es
fällt weg, weil es überholt ist; es fällt nicht weg, weil es die
Brüder noch brauchen, und weil die unterste Stufe einer Leiter
überhaupt nicht entfernt werden kann, ohne die ganze Leiter zu
gefährden.
Nach dieser kurzen Skizze muß man die Bedeutung der
realistischen Sakramentstheologie für die Spiritualisten zu erkennen
versuchen. Männer wie Origenes sind, von unserem Standpunkt
aus, die abschreckendsten Sakraments-, Blut- und Entsühnungs-
Theologen gewesen. Mit und in diesen Theorien haben sie auch
einen großen Teil des Polytheismus durch eine Hintertür wieder
in die christliche Theologie gebracht; denn in den unteren und
mittleren Stockwerken waren Engel und Erzengel, Äonen, Halb-
götter und Nothelfer aller Art nötig ' — aus kosmologischen und
soteriologischen Gründen, denn diese entsprechen sich wie der
Weg AB und der Weg BA^. Vor allem aber konnte die Theo-
logie dabei jedem noch so leisen Druck der populären Religion
folgen, und hier liegt wohl die letzte Enthüllung dieses seltsamen
Geheimnisses. Die Mysterien- und Stockwerk-Theologie bot das
bequemste Mittel, den geistigen Charakter der Religion auf der
obersten Stufe zu wahren und auf den unteren jeden erwünschten
Kompromiß zu schließen. Mit Bewußtsein ist das schwerlich ge-
schehen, es machte sich von selbst: deim mit dem ersten Ansatz,
mit der Aufnahme von Sakramenten, war keimhaft schon alles
gegeben ^.
') Eine beträchtliche Zeit hindurch war es ein gegen die Juden ge-
richteter Vorwurf der Christen, daß sie Engeldienst trieben (Praedic. Petri
bei Clemens, Strom. VI, 5; Aristides, Apol. 14; auch Celsus weiß um den Vor-
wurf; Engeldienst wohl auch bei den im Colosserbrief bekämpften Irrlehrern).
Später ist dieser Vorwurf gegen die Christen selbst zu erheben; aber schon
Justin hat unvorsichtigerweise Apol. I, G geschrieben: [rdr &F6r] y.al tov .t«o'
avrov vlov F?.dörta y.al Öiöuiarra yfiä? xavxa xal rov TÖ)r a/.lon' sjro/ih'MV y.a'i
tio/icnov/ih'Oiv äyadöyv 6.yyf?.cov argaröv, Ttvsv/id re ro jTQOQiijityöv [die letzten
vier Worte werden von einigen für interpoliert gehalten] asßö/isOa xai jtqoo-
y-wov/ier.
'^) S. über den „Abstieg" und „Aufstieg" Anz, Zur Frage nach dem
Urs])rung des Gnostizismus, in den Texten u. Unters. Bd. 15 Heft 4, 1897.
*) Auch die Idee, daß es Opfer und Priester geben müsse, ist von An-
fang an im Heidenchristeutum vorhanden gewesen — auch damals schon, als
man mit Paulus nur von geistigen Opfern und dem allgemeinen Priestertum
der Gläubigen etwas wissen wollte; s. Justin, Dial. 116: ov ÖEy/rai. jratj ovösvdg
'övoiag 6 i'Jgög, el /li/ Öiä röjv isQsiov avzov.
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. 201
Dies sind die sublimen Theologen; bei den weniger sublimen
fallen die Stockwerke fort, und die sakramentalen Elemente werden
plump und ungefüge einfach in die Religion eingestellt. Man lese
doch, wie schon Justin, der Rationalist, im 55. Kapitel seiner
Apologie vom „Kreuz" spricht: eine stärkere Superstition ist kaum
denkbar. Man erwäge, wie Tertullian (de bapt. 1) vom „Wasser"
spricht und seiner Affinität mit dem heiligen Geist. Man über-
zeuge sich, daß alle Christen einhellig dem bloßen Aussprechen
des Namens Jesu und dem Kreuzeszeichen eine magische Gewalt,
besonders über die Dämonen, beilegen; man lese, welche Ge-
schichten Dionysius von Alexandrien, ein Origenesschüler, vom
Abendmahl erzählt, und was Cyprian über die Mirakel der Hostie
zu berichten weiß. Zählt man diese Züge und viele ähnliche zu-
sammen, so glaubt man urteilen zu müssen, das ganze Christen-
tum sei eine Zauberreligion und seine sakramentalen Mysterien die
Hauptsache gewesen. „Ab initio sie non erat" wird man ein-
wenden. Das mag sein, aber es muß weit zurückliegen, so weit,
daß wir diese Periode von äußerster Kürze gar nicht mehr auf-
zufinden vermögen.
Ursprünglich waren Wasser, Brot, Wein (Leib und Blut), der
Name Jesu und das Kreuz die einzigen Sakramente, Taufe und
Abendmahl die einzigen Mysterien; aber dabei konnte es nicht
bleiben. Alle Sakramente drängen auf Yermehrung, aus ver-
schiedenen Gründen, auch aus philosophischen. So kamen schon
in unserer Periode Sakramentalien hinzu, Salbungen und Hand-
auflegungen, heiliges Öl usw. Allein das Wichtigste war, daß der
ganze Gottesdienst in das Mysterienwesen allmählich hineingezogen
wurde. Bereits im dritten Jahrhundert konnte er mit seinem
feierlichen und strengen Ritual, seinen Priestern, Opfern und
heiligen Zeremonien mit dem pompösesten heidnischen Kultus
rivalisieren.
Indessen diese Erscheinungen düi'fen nicht nur vom Stand-
punkt des Puritanismus aus betrachtet werden. Jede Zeit muß
die Religion so fassen und aufnehmen, wie sie sie allein verstehen
und für sich lebendig machen kann. Wenn die Züge der christ-
lichen Religion, die wir in den vorhergehenden Kapiteln geschil-
dert haben, zu Recht bestehen bleiben, wenn sie die Religion
Gottes des Vaters, die Religion von dem Heilande und der Hei-
lung, der Liebe und der Hilfleistung blieb, so war es vielleicht
ein Schaden, aber gewiß kein unerträglicher, daß sie die Formen
annahm, welche die Religion damals überhaupt hatte. Religion
wächst wie alles Lebendige nur in Rinden, und destillierte Reli-
gion ist überhaupt keine; aber noch etwas anderes kommt in
Betracht.
2()2 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Wir liaben oben gesehen, daß in einigen Lehrern von hohem
Einfluß — haben sie doch die ganze kirchliche Theologie be-
gründet — der Trieb und das Absehen mächtig gewesen ist, die
christliche Religion rational zu fassen und sie als die vernünf-
tige Religion darzustellen. Für die Mission und Verbreitung des
Christentums war das von hoher Bedeutung. Diese Lehrer traten
sofort in den Kampf gegen die zeitgenössischen Philosophen und
haben, wie das Beispiel des Justin zeigt, auch Streitunterredungen
mit ihnen nicht gescheut. Sie stellten fest, was man mit Socrates,
mit Plato und der Stoa gemeinsam habe, zeigten, wie weit man
mit ihnen gehen könne, suchten die Übereinstimmungen geschicht-
lich zu erklären ^ und begannen so die große Auseinandersetzung,
die unvermeidlich war, wollte man nicht eine kleine Sekte bleiben,
die sich um Kultur und Wissenschaft nicht kümmerte. Allein,
indem man bei diesen Auseinandersetzungen rein rational verfuhr
und sich in den Gedanken, das Christentum sei wasserklare Ver-
nunft, geradezu verliebte, gab man, ohne es zu wollen, wichtige
christliche Erkenntnisse preis oder schob sie doch zurück. Man
wurde so ärmer und verdünnte den christlichen Glauben in be-
denklicher Weise.
Diese Art von Erkenntnis war sicher nicht im Sinne des
Paulus und entsprach auch nicht der Tiefe der christlichen Reli-
gion. Der Apostel hat wohl auch einmal rationale Betrachtungen
stoischer Art angewendet, wenn er sie für die Apologetik brauchen
konnte (s, die ersten Ausführungen im Römerbrief); aber an sie
dachte er schwerlich, wenn er an die christliche oocpla, ovveoig,
imoT)'j/i}j und yvwoig dachte. Etwas ganz anderes schwebte ihm
da vor — Vertiefung in das Wesen Gottes, wie es in Christus
offenbar geworden ist, fortschreitende Erkenntnis seines Heils-
willens, wie er sich in Offenbarung und Geschichte kundgetan hat,
Einsicht in das Wesen der Sünde, in die Macht der Dämonen,
„der Geister in der Luft", in die Herrschaft des Todes, über-
schwengliche Erkenntnis der Gnade Gottes uiul vorschauendes
Wissen um das ewige Leben, alles in allem eine Erkenntnis, die
') Darin waren die jüdischen alexaudriuischen Philosopben vorange-
gangen, und man brauchte sie eigentlich nur abzuschreiben; aber sie boten
verschiedene Erklärungsversuche, zwischen denen mau zu wählen hatte. Alle
diese Versuche bis auf einen Avaren kindlich. Angemessen war der Versuch,
die Übereinstimmungen aus dem Walten desselben Logos zu erklären, der in
den jüdischen Profjheten und in den Philosophen und Dichtern gewirkt habe.
Naiv war der Versuch, die griechischen Philosophen und Dichter als Plagia-
toren zu entlarven — aber Celsus hat denselben Versuch inbezug auf Christus
gewagt — ; naiv und fanatisch war das Unternehmen, alle Überemstimmungen
der Philosophen mit der christlichen Lehre für Schein und Teufelswerk aus-
zugeben.
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. 203
hinaufsteigt über Throne, Herrschaften und Fürstentümer bis zu
Gott selbst, und die hinuntersteigt bis in die Abgründe, aus denen
wir errettet sind, die der Menschheitsgeschichte nachdenkt von
Adam bis Christus, und die zAigh^ich zu sagen weiß, was Ghiube
ist und was Liebe, was Sünde und was Gnade.
Diese Erkenntnisse nun — so paradox das zu sein
scheint — wurden befruchtet und genährt von den
Mysterien. An den Mysterien hafri^ten sie seit alters; mit ihnen
kamen sie herüber von dem heidnisclien Boden; an ihnen wuchsen
sie und entwickelten sich auf dem christlichen. Es war damals
so, wie es später im IG. und 17. Jahrhundert mit den Mysterien
stand. laicht die scholastischen Rationalisten trotz allem ihrem
Scharfsinn haben die Wissenschaft gefördert und ihre Neugeburt
begründet, sondern die Kabbalisten, die jS^aturphilosophen, die
Alchemisten und Astrologen. Woher kommt das? Wie kann sich
an den Mysterien solches entwickeln? Die Antw^ort ist einfach:
weil sie mit dem Gefülil und der Phantasie erfaßt werden und
darum beide erregen und beleben können. Die großen Spekula-
tionen der synkretistischen Religionsphilosophie, deren Grundzüge
wir oben S. 25 ff. angedeutet haben, waren auf dem Grunde von
Mysterien erbaut worden (d. h. auf der Phantasie und dem Gefühl,
deren Hervorbringungen man durch die Spekulation gestaltete).
Die Gnostiker, welche samt und sonders keine Rationalisten waren,
haben den Versuch gemacht, diese lebendigen und warmen Spe-
kulationen auf den christlichen Boden überzuführen und doch den
Prinzipat des Evangeliums aufrecht zu erhalten. Dieser Versuch
konnte nicht glücken: es waren- zuviel Elemente in jenen Spekula-
tionen enthalten, die dem christlichen Geist fremd waren, und die
er sich nicht gefallen lassen konnte^. Aber als einzelne Stücke,
gleichsam zerschlagen in ihre Elemente — indessen die einzelnen
Elemente sind hier vielleicht das Prius; die Verbindungen sind
später — konnten sie einer produktiven, christlichen Religions-
philosophie große Dienste leisten und haben sie geleistet. Was
an tieferen Gedanken seit dem Ende des 1. Jahrhunderts in der
Christenheit produziert worden ist, alle die transzendentalen Er-
kenntnisse, alle die versuchten Ideen, die doch wertvoller sind
^) Zu ihnen gehörte die Trennung des Schöpfergottes (Deniiurgen) und
des Erlösergottes (die Erlösung entspricht nicht der Schöpfung, sondern der
Emanation), die Preisgabe des Alten Testaments und seines Gottes, die dua-
listische Entgegensetzung von Geist imd Leib, die Zerspaltung der Erlöser-
persönlichkeit usw. Vor allem aber — für den Synkretisten und den Gnostiker
war die Erlösung Auflösung des widernatürlich Verbundenen, für den Christen
Vei-bindung des widernatürlich Getrennten. Von letzterem Erlösungsbegriif
konnte die Christenheit nicht lassen, wollte sie nicht alles umstürzen, und
er allein entsprach der Monarchie Gottes.
204 Die Missiouspredigt in Wort uud Tat.
als logische Deduktionen, das stammt zu einem großen Teile
aus dem Kontakt mit der alten Mysterienweisheit. Sie hat tiefe
Gedanken entbunden und zur Aussprache gebracht. Weder kann
man sie bei Johannes verkennen noch bei Ignatius noch bei
Irenäus; am deutlichsten ist sie bei den großen Alexandrinern.
Wertvolles und Wertloses, rein Phantastisches und Bleibendes,
was nicht mehr verloren gehen kann, wogen freilich überall durch-
einander; am wenigsten bei Johannes, der namentlich auch in der
Form hohe Einheitlichkeit gefunden hat. Wer im Empirismus
oder in der Rationalität die auch nicht versuchsweise zu über-
schreitenden Grenzen der Erkenntnis sieht, wird freilich diesen
Ideen wenig Geschmack abgewinnen: wer aber versuchte Ideen
für wertvoller hält als prinzipielle Ideenlosigkeit, wird an der an
den Mysterien erwachsenen Geistesarbeit der alten Lehrer nicht
vorübergehen wollen. Gewiß ist jedenfalls, daß diese Seite am
Christentum, die auch fast von der Geburtsstunde an entwickelt
worden ist, für die Propaganda von höchster Pedeutung war.
Daß es seine Geheimnisse hatte, in sie einzudringen suchte, um
sie dann wieder still zu verehren, daß es den Vollkommenen noch
mehr und anderes predigte als den Einfältigen, gab ihm eine
besondere Würde. Mochten die Geheimnisse, was unverkennbar
ist, auf Tausende abstumpfend wirken und ihnen den Zugang zu
der geistigen Religion versperren: auf andere wirkten sie belebend
und beflügelten ihren Aufstieg in die übersinnliche Welt^.
Den Aufstig in die übersinnliche Welt, die Vergottung
(deoTiohjoiq) — das war das letzte und höchste Wort, und daß
die christliche Religion diese jedem Gläubigen verhieß, war ihre
größte Botschaft. Man weiß, wie sich in der Zeit der antiken
Götterdämmerung alles auf sie zugespitzt hat. Eben deshalb mußte
eine Religion, welche die Vergottung nicht nur lehrte, sondern
^) Mit dieser relativen Schätzung der Spekulation ist das Äußerste kon-
zediert, was hier konzediert werden kann. Die Behauptung aber, jene „christ-
liche" Metaphysik, welche sich allmählich aus unzähligen fremden Erkennt-
nissen gebildet hat, die an das Evangelium herangerückt worden sind, sei
die höchste Blüte des Christentums, ja sein eigentlicher Kern, — ist nur
durch ihr hohes Alter ehrwürdig. Wäre sie richtig, so wäre Jesus Christus
nicht der Stifter dieser Religion, ja nicht einmal der Vorläufer; denn weder
hat er eine Religionsphilosophie ottenl>art, noch hat er auf solche Dinge
Wert gelegt, die auf diesem Standimnkte als die Hauptsache gelten. Schon
sehr frühe freilich haben die Griechen das paulinische Wort vergessen: sx
fihjovg ytvo'joHo/iEv .... ß?Jjio/m' ;•«(> uqti ÖC koöjttqov iv alriy/iiari , sie haben
auch vergessen, daß ynootg und aot^iia Charismen sind, ihr Ertrag also nicht
das Wesen des Christentums bezeichnen kann. Unter den liervorragenden
Lehrern sind sich nur Marciou, Apelles uud z. T. auch Irenäus der Schranken
der Erkenntnis bewußt s^eblieben.
Die Religion der Autorität und der Vernunft, der Mysterien etc. 205
bewirkte — und zwar ohne Einschränkung, auch das Fleisch nicht
ausschließend — die größten Erfolge haben. Die neuere Dogmen-
geschichte hat gezeigt, daß die christliche Lehrentwicklung bis
zu Irenäus unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden muß, wie
in das Christentum der Vergottimgsgedanke — der älteste Wunsch
und Traum der Antike, dessen Unerfüllbarkeit einen tiefen Schatten
auf ihr Fühlen imd Leben gelegt hat — eindringt und die Richt-
linien dieser Religion imiändert, um dann alles zu beherrschen^.
Seine urchristliche Vorstufe ist die Verheißung der Teilnahme an
dem zukünftigen Grottesreich. Man ahnt auf dieser Stufe noch
nicht, was sich mit dieser Verheißung verschmelzen und sie trans-
formieren wird. Aber schon bei Paulus tritt neben den Gedanken
des Gottesreichs der des ewigen Lebens in der doppelten
AVendung, daß es in der Rechtfertigung bez. im Geiste gegeben
sei (als unauflösliche innere Verbindung mit der Liebe Gottes),
und daß es durch heilige Medien als neue Natur bereits ein-
ströme. Der vierte Evangelist hat diesen Doppelgedanken noch
lebendiger erfaßt, souveräner gestaltet und die geistige und
physische Immanenz des ewigen Lebens den Gläubigen verkündet.
Aber noch überwiegt für ihn in der Einheit der Gläubigen mit
dem Sohne und dem Vater das Moment der Liebe gegenüber
dem Moment einer naturhaften Transmutation. Darum kommt er
auch nur bis an die Grenze des Gedankens : „Wir sind Götter
geworden." Der Ausdruck „Kinder Gottes" erscheint ihm noch
immer der treifendere. Auch die Apologeten lassen noch den
Vergottimgsgedanken hinter dem der vollen Erkenntnis Gottes
zurücktreten"^. Aber aus der großen Epoche, in der der „Gnosticis-
mus" bekämpft und rezipiert worden ist, tritt die Kirche mit dem
sicheren Erwerbe heraus, daß sie die Vergottimg als den eigent-
lichen Ertrag der christlichen Religion erkennt und verkündigt.
Wenn sie von der „adoptio" durch Gott, von der „participatio
dei" usw. spricht, meint sie zwar immer auch noch eine geistige
Verbindung, aber diese hat ihre Unterlage und Wirklichkeit an
einer sakramentalen, physischen Neuschöpfimg: „non ab initio
dii facti sumus, sed primo quidem homines, tunc demum dii."
So sprach R-enäus^, und so verkündigten die christlichen Lehrer
nach ihm. „Der Hölle wirst du entfliehen, wenn du die Kenntnis
des wahren Gottes gewonnen hast; du wirst den Leib unsterblich
haben und unvergänglich zusammen mit der Seele und das
1) S. meine Dogmengesch. Bd. l^ naruentlich S. 516 ff.
-) Doch s. Justin, Dial. 124, welches die Parallelstelle zu der großen
Ausführung im Johannes-Ev. 10, 33 ff. ist.
3) S. IV, 38. 4 und an vielen Stellen.
206 D^6 Missioiisiiredigt in Wort und Tat.
Himmelreich erlialteii: du, der du auf Erden g-eletjt und den
himmlischen König erkannt hast, wirst ein Freund Gottes und ein
Miterbe Christi sein, den Begierden. Leiden und Krankheiten
nicht mehr verhaftet. Denn du l)ist zum Gott geworden . . .
und alles, was zum Gott-sein gehört, das hat Gott dir zu ge-
währen versprochen, weil du. unsterblich geworden, nun vergottet
bist^'' Das ist die Botschaft, die ein Jeder verstand und die
nicht überboten werden konnte.
Das Christentum ist OflFenbarung. die geglaubt sein will: es
ist Autorität, der man gehorchen muß: es ist die vernünftige
Religion, die man wissen und beweisen kann: es ist die Religion
der Mysterien, der Sakramente: es ist die Religion der trans-
cendentalen Erkenntnisse : es ist die Religion der Yergottung und
des ewigen Lebens : so wurde sie verkündigt — nicht als ob der
eine Missionar nur diese, der andere nur jene Seite zum Ausdruck
gebracht hätte: die Darstellungen wogten durcheinander, wenn
auch bald dies, bald jenes von dem einzelnen })evorzugt wurde.
Mit Erstaunen vertieft man sich in eine solche Missionspredigt.
und doch waren die, welche sie verkündigten, jeden Augenblick
bereit, in das Bekenntnis „Ein Gott Himmels und der Erde, und
Jesus der Herr" ihren ganzen Glauben zu legen mid alles andere
zurückzustellen.
Siebentes Kapitel.
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten
Geschlecht (das geschichtliche und politische Bewußtsein
der Christenheit).
1.
Das Evangelium wurde als das vollendete Judentum, als eine
neue Religion und als die wiederhergestellte und auf einen ab-
schließenden Ausdruck gebrachte Urreligion zugleich verkündigt,
und zwar war es nicht nur ein einzelner, dialektisch vcraidagter
^fissionar. der es in dieser di-eifaehcn Gestalt predigte, sondern
diese Darstellung trat in allen ausführlicheren Missionspredigten
mehr oder mindei- deutlich hervor. In der Überzeugung, daß
Jesus, der Lehrer und l^rophet . auch der Me'ssias sei. der
') Jlippol., Philos. X, 34. Vijl. Pseudo-IIippol^'t , Theopli. 8: f'' uüävnToc
ytyovfv 6 äi'ßocojzn:;, mrai y.al ßsöc:.
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 207
demnächst wiederkomineu ^vor(lo . um sein Werk zu vollenden,
wandelte sich das ]5cwußtsein, seine Schüler /.u scnn. in das
andere, sein A'olk, das Yolk Gottes, zu sein: vjjieTg yevo-; by.hy.röv,
ßaoileiov leodTsvjna, süvog äyiov, Xaog dg 7iEoi7ioh]oiv (IVeh'.i^S)).
Sofern man sich aber als Yolk fühlte, wußte man sich als das
^Yahre Israel, als das neue Yolk und als das alte zugleich.
Diese Überzeugung. Yolk zu sein (d. h. die Überleitung aller
Prärogative und Ansprüche des jüdischen Yolks auf die neue
Gemeinde unter dem Gesichtspunkt einer Xeuschöpfung . die das
Alte und Ursprüngliche enthüllte und in Kraft setzte), gab den
Bekennen! des neuen Glaubens sofort ein politisch-historisches
Bewußtsein und zwar das umfassendste, vollkommenste und ein-
drucksvollste, das sich denken läßt. Oder läßt sich etwas Höheres
und Umfassenderes vorstellen als der Komplex der Momente, die
in der Selbstschätzung „Wahres Israel", ,,Neues Yolk". „Ursprüng-
liches Yolk". „Yolk der Zukunft d. h. der Ewigkeit" gegeben
waren? In dieser Selbstschätzung war man gegen alle Einwürfe
und Wendungen der Polemik gesichert und konnte auf allen
Linien zum Eroberungskampfe vorschreiten. Lautete der Yor-
wurf: „Ihr seid abgefallene Juden", so entgegnete man: „Y'ir
sind die Gemeinde des Messias, also die wahren Israeliten." Hieß
es: „Ihr seid nichts anders als Juden", so lautete die Antwort:
„Wir sind eine neue Schöpfung und ein neues Yolk." Warf man
ihnen umgekehrt ihre I^euheit vor mid daß sie von gestern seien,
so replizierte man : „Wir sind nur scheinbar das jüngere Yolk :
latent waren wir von Anfang an und vor allen Yölkern stets vor-
handen: wir sind das L^rvolk Gottes." Sagte man ihnen: „Ihr
verdient nicht zu leben", so lautete die Antwort: „Y'ir wollen
sterben, um zu leben; denn wir sind Bürger der zukünftigen Y'elt
und sind unsrer Auferstehung gewiß."
Im besonderen aber waren es noch einige ganz bestimmte
Überzeugungen universaler Art, die bereits die ältesten Christeji
aus dem Schatze der judäocentrischen Geschichtsbeti-achtimg über-
nahmen und auf sich anwendeten: (1) Unser Yolk ist älter als
die Welt, (2) Die Welt ist um unsertwillen geschaffen^, (3) Die
Welt wird um unsertwillen erhalten — wir verzögern das Welt-
gericht — , (4) Alles in der Welt ist uns Untertan und muß uns
dienen. (5) Alles in der Welt — Anfang, Mitte und Ende der
Geschichte — ist uns offenbart und für uns durchsichtig. (6) Wir
werden am Weltgericht beteiligt sein und selbst ewige Freude
genießen. In verschiedenen urchristlichen Schriften, noch vor der
') In diesen beiden Überzeugungen vindizierten sich die Christen eine
überweltliche Stellung und verbanden Schöpfung und Geschichte.
208 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
Mitte des 2. Jahrhunderts, sind diese Überzeugungen zum Aus-
druck gekommen, in Predigten, Apokalypsen. Briefen und Apo-
logien^, und Celsus hat seine grimme Verachtung der unver-
schämten und lächerlichen Anmaßungen der Christen an keinem
anderen Punkte so schneidend zum Ausdruck gebracht wie hier^.
Wußten sich aber die Christen als das neue und alte Volk,
so genügte es nicht, daß sie dieses Bewußtsein nur dem Juden-
tum gegenüber hervorkehrten und mit ihm über den Besitz der
Verheißungen und des heiligen Buches stritten^; auf den Boden
des griechisch-römischen Reichs gestellt, mußten sie sich mit
diesem und seinem „Volke" auseinandersetzen. Dies hat bereits
der Apostel Paulus getan, und andere sind ihm gefolgt.
Paulus, wenn er die Menschheit gliedert, spricht wohl ein-
mal (Rom. 1, 14) neben Juden von „Griechen und Barbaren" und
ein anderesmal (Col. 3, 11) von „Barbaren und Skythen" neben
Griechen, aber als geborenem Juden und Pharisäer ist ihm die
Zweiteilung der Menschen am geläufigsten — Beschnittene und
Unbeschnittene; die letzteren nennt er kurzwea; „Griechen*."
^) Man vgl. die Panlusbriefe, die Johannes- Apokalypse, den Hirten des
Hermas (Vis. II, 4, 1), den IL C'lemenslirief (c. 14), die Ai^ologieu des Aristides
und Justin (II, 7). Ähnliche Ausführungen früher in den jüdischen Apokalypsen.
^) Er weiß sehr wohl, daß diese Anmaßungen den Juden und Christen
gemeinsam sind, daß also diese sie von jenen übernommen haben und beide
sich um den rechtmäßigen Besitz streiten. Mera zavra — so referiert Origenes
C. Geis. IV, 23 — Gvvrydxog mtnü) yshov tu 'lovÖakov xai XQianm'cbr yevog jiävTag
jTUQußtßh]XE rr<>{T8Qidcov oQfiaÖiö l) f^ivQfifj^cv in xaXiäg jiQoeXdovoiv 1} ßargäy^oig
negl Tsk/iia Gi'veÖQevovatv i) axcoXaj^iv fv ßogßÖQOu ycovia e^oihjaia^ovoi aal jrgog
aV.rjXovg Siaq^sgofievoig, rivsg mnön' eisr äfiagrcokörsgot, xal qKtaxovan' ort Jidvra
i'jfMV 6 Oeug jrgoSrjkoT xai nQOxarayyfXXei, xai xbv nävxa xöofiov xal rtjv ovQaviov
(pOQuv äjtoXiTicov xai trjt' Tooavxrjv yrjv nagidcov tj/tüv fiövoig jioXixsvEzai xai jTQog
rjfiäg fu'ivovg iJicxrjgvxevsxai. xai jTt/itsT(ov ov SiaXeiJiet xai ^rjxcöv, ojtcog uel gvvcö-
fiev avxfo. xai iv X(o ärajiXäofiaxi ye iavxov jiagajrXrjotai'g tj/^iäg jzoiel ox(X)Xt]^i,
(püoxovoiv oxi 6 {JEog taxiv , sixa fA.ex.'' exeivov tjfiEig vji' avxov yFyovÖTeg Jim'xr]
ilfioioi TM ßsM, xai t/fiTv nuvxa vjioiießXr]xai, yrj xai vScog xai d>/Q xai uorga, xai
t//j,(öv fvexa jiävxa, xai rj/iTv öovXevsiv xexaxrai. Xeyotiai Öe ri nag' avtco oi axco-
XrjXEg, rj/iFig h^]Xa<irj, oxi vvv, ijisidtj xivsg (sv) i'jfiTv jiXijft/nEXovaiv, dqyi^Exai ßsog
■}} 7iE(.iip£i xov viöv, Iva xaxacpXe^fj xovg uöt'xovg xai oi Xoinol avv avxü) Corp'
aionnov K-^co/iiet'. xai ijiKpigei ys Jtäoiv oxi xavxa (^(mXXov) drfxxh axcoX/jxcor xai
ßuxgäxtov t} 'Iov(iaio)v xai Xgiaxiavtov ngog dXXt'jXovg f^iatptgofiEVoir.
*) Dieser Streit füllt die Geschichte der ersten Generationen und reichte
noch weit über sie hinaus. Obgleich die Position, welche die Christen in
ihm einzunehmen hatten, in den Grundzügen sicher vorgezeichnet war, waren
doch noch verschiedene Stellungen möglich, s. meine Abhandlung in dem
o. Heft des 1. Bandes der „Texte u. Unters." (1883) über die antijüdische
Polemik der alten Kirche.
■*) Auch an der ColossersteUc steht der geläufige Ausdruck ^"E/.Xyr xai
'loväaTog, jiegixoi.u/ xai dxgoßvGzia'^ voran; dann folgen ßdgßagog, ^xvüijg, <)ov-
Xog, iXemlsgog als rhetorische Erweiterung.
Die Botschaft von dorn neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 209
Diesen beiden „Yölkonr' setzt er die Kirche Christi als neue
Schöpfung zur Seite bez. gegenüber (cf. z. ]i. I Cor. 10, 32:
äjTQony.fh-Toi y.al "lovöaioig yiveode xai "FAh]oiv y.al tTj ly.xhjola rov
-^eov). Aber er begnügt sich nicht mit der Gfegenüberstelhing,
sondern sofort faßt er die neue Schöpfung als diejenige in das
Auge, welche Juden und Griechen in sich aufnehmen, und in der
der Unterschied beider Völker in einer höheren Einheit aufgehoben
werden soll. Das christliche Volk ist ihm nicht ein drittes neben
den anderen, sondern es ist die neue Stufe der Menschheits-
geschichte an ihrem Endpunkte, die an die Stelle der früheren,
zweigeteilten Stufe zn treten hat und nicht nur die volkstümlichen
Unterschiede, sondern auch die sozialen, ja, sogar die geschlecht-
lichen, aufhebt bez. unwirksam macht ^. Man vgl. z. B. Gal. 3, 28:
OVH EVI "lovdnlo^ ovöt "EXh]r, ovk f'ri agoer y.al drjXv' ndvTeq yäg
vjueig elg iors iv Äo(oto) 'Ljoov , oder Gal. 5, G: iv Xqigtcp 'I)]oov
ovre TTegtro/uy rt lox^ei ovxe axgoßvoTia, d/JA tiiotiq di' äydjii^g
ivegyovjuevy (cf. G, 15: olhe yug JiegirojU)'j n eonv ovze äxgoßvoTta,
äXXd y.aivij y.rioig und IE Cor. 5, 17). I Cor. 12, 13: iv evl TTv&vjiiaTi
i]jU€Tg Tiärxeg eig tv oojua ißajiTioOijfiev, ehe 'lovdaToi etre "EXhp'eg,
eize öovXoi ehe eXev'&egoi. Coloss. 3, 1 1 : ojtov ovy. evl "E?d>jv xal
'lovdaTog, TregiTOin) xal dygoßvoria, ßugßagog , ^y.vd}]g, öovX^og,
i/iEvdegog. Am eindrucksvollsten Eph. 2, 1 1 ff. : jiivi]jiioveveTe ort
TIOTE VUEig TU £&V)j . . . /^Tf Ujl}]X?i.0Tgi(Ofi£V0l T/)s TToXlTElüg TOV
'loga/jX .... (6 Xgiorog) eotiv fj Eig))vrj tjjlicov, 6 Tron'joag rd d/LKpö-
TEga Et' y.al rd fiEOOToiyov tov (pgayfiov Xvoag , . . Tva rohg dvo
XTiotj Ev avro) elg k'va y.aivbv dvßgcoTiov Tzoicdv Etgt'ivijv, xal utio-
xaTaX.Xd^f] lovg djiiq^orEgovg iv evI ocb/iiaTi. Im Römerbrief end-
lich (c. 9 — 11) eröffnet Paulus eine geschieh tsphilosophische
Betrachtung, nach welcher das neue Volk, welches seine
Vorgeschichte in Israel gehabt hat, nun nach der VerStockung
Israels die Heidenwelt in sich aufnimmt, am Ende der Dinge
aber neben dem „jrAj/gw/^a tcoi' idvwv" auch „:Tng "loga/]?," um-
fassen wird.
Griechen (Heiden), Juden und das neue Volk der
Christen (bestimmt die beiden ersten in sich anfzunehmen) —
^) Die Vorstellung der neuen Menschheit gegenüber der alten (also eine
Zweiteilung) hat ihre kräftigste Wurzel an der Vorstellung vom Christus als
dem zweiten Adam. Diese Konzeption spielt bekanntlich in der Gedanken-
welt des Paulus eine große Rolle; sie ist aber nicht zuerst von ihm vor-
getragen worden, sondern hatte bereits in der jüdischen messianischen Dog-
matik eine Stelle. Bei Paulus und anderen kreuzt sich die Vorstellung von
einer Zweiteilung mit der einer Dreiteilung der Menschheit; beide Vorstel-
lungen stimmen aber darin überein, daß in der neuen Menschheit die ältere
aufgehoben sein soll.
Harnack, Mission. 2. Aufl. 14
2[0 Die ^lissionspredigt iu Wort und Tat.
diese Dreiteilung ist fortan in der altchristlichen Literatur geläufig.
Einige Beispiele sollen das belegen^:
Der 4. Evangelist läßt Christus sprechen (10, 16): y.al äXla
jiQoßara e'yo) ä ovx eoiiv Ix tTj^ avkrjg ravT)]g' xäxeTra del jue
äyayelr, y.al T)~jg 9 wr/yg fiov äxovoovaiv, xnl yer)]oovTai nla jrolfivr],
elq jToiuyjv, und in einer tiefsinnigen prophetischen Wendung (4, 21 f.):
eoyejai. cooa ote ovte ev rrö öosi tovxco (dem der Samaritaner, die
hier als Repräsentanten der Heiden gelten) ovre ev 'hooooXv^ioig
jiooaxvv/jOHTe tm nargi. v/ueig Jtooaxvveire o ovx oldaie, fj/LisTg
jiQOOXvvov/isv o ofdafier, oti t) oMTr]gia ex Ton''IovdaiO)v eoriV dXkd
eoyiErai öjoa xnl rvr eonv, ore oi nh]&ivol 7iQooxvvi]Tal jiQooxvvtj-
oovoiv TCO tiqtqI h nvEVfian xal dh]&eia. Diese Stelle ist deshalb
so wichtig, weil sie über eine bloß formale Einteilung hinausgeht
und die drei möglichen rehgiösen Standpunkte sachlich und auf
die Yölker verteilt beschreibt: Unwissenheit in bezug auf die
Gottheit und falsche, weil äußerliche Gottesverehrung = Heiden
(Samaritaner); richtige Gotteserkenntnis, aber falsche, äußerliche
Gottesverehrung = Juden; richtige Gotteserkenntnis und richtige,
weil innerliche Gottesverehrung = Christen. Diese Beti-achtung
hat den Anlaß zu vielen ähnlichen in der alten Christenheit ge-
gegeben oder ist doch die älteste in einer Reihe verwandter,
') In ]>ezu(? auf die Christen als das neue Volk s. den Hirten des Hermas,
Barnab. 5, 7: (Xgioiog) iavtiT} rov }m6v tov y.aivov ezoi/idC(ov; 7, 5: (XgtoTog)
Vjtsq dfiaQTiojv fieXloiv tov laov tov xaivov jtooo'peQsiv ri]v oägy.a; lo, 6: ß/Jjiszs
.... TOV Xaov TovTov [das neue, scheinbar junge] sh'ai jiqojtov. II Clem. ad
Cor. 2, 3 : fQr]fio? iööxst sivai djzo tov ■&eov 6 Xaöi; r)/i<x>r, vvvi Ss :iioTEvaaviF.g
■TAffors? sysvöfisda tmv doy.ovvTwv e'xeiv &e6v. Ignat. ad Ephes. 19. 20. Aristides,
Apol. 16: „Wahrlich, dieses Volk ist ein neues, und eine göttliche Mischung
ist in ihm." .Justin, Dial. 119: yftgtg ov /^löror Aaog äXXä xal Xaog äytög iofisv
. . . ovfi £vxara(pQÖvr}rog dfjfwg iofifv ov6e ßaQßaoov cfivXov oi'dk ojioTa Kagwv i]
^Qvywv e&vy]. Orac. öibyll. 1,388 f.: ßXaoTog viog dv&i^oeiev i^ s&von: Neues
Geschlecht heißen die Christen auch bei Bardesaues. Clemens, Paedag. I, 5, 15
zu Sach. 9, 9: ovx i'joxEi t6 jiwX.ov siQijxh'ai /lörov, dXX.ä xal tö rsov :ioooe&r]XEV
avTto , Typ' Iv XoiOTM veoXaiav Ttjg dv&oojjiÖTijTng .... hiqmiviov. I, 5, 20: vioi
6 Xaog 6 xaivog jrQog dvTiötaoToXJjv tov jigsoßvTeoov Xaov tol via /la&övTsg dya&d.
1,7,58: xal yäg fjv wg dXrjüwg diu f.ii-v Mwvaicog Tiaidaycoyog o xvQiog rov Xaov
TOV jialaLOV , 6C aviov Öe tov vsov xadrjysucbv Xaov, jiQÖoa>Jiov Jigog Ttooawnov.
Der Terminus „Neues Volk" ist im Altertum noch lange beibehalten worden,
s. z.B. Constantiu, Ad s. coetum 19: xazd XQdvov tov Tißegiov tj tov aonrjoog
f^i/.a/iipe :iagovo{a .... »/ tf. via tov dt'jfiov biaboyj] ovvioTi], xtX. Andererseits
Sind die Christen auch die „non-gens", weil sie keine Nation sind; s. Orig.
Hötü'.'I in Psalm. 36 t. 12 p. 155: „Nos sumus ,non geus' [Deuter. 32, 21|, qui
päuci-'ex ista civitate credimus et alii ex alia, et nusquam gens integra ab
ißitib 'crödulitatis videtur assumpta. non enim sicut ludaeorum gens erat
tel Aegyptiorum gens ita etiam Christianorum genus geus est una vel in-
tegm, sed iiparsim ex singulis gentibus congregantur." — Die Christen als
6in ' eigenartiges „genus" oder als das genus der wahrhaft Frommen: Mart.
Polyc. 3: >) ycvvuiöztjg tov CaocptXovg xal Oeooeßovg yivovg zwv XgtoTtavwv,
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 2 1 I
durch Avelche die altchristliclic religionsgeschichtliche Spekulation
begründet worden ist. Namentlich die sogenannten „Gnostiker"
sind es gewesen, welche ihre Systeme geradezu auf religions-
geschichtliche Betrachtungen dieser Art auferbaut haben. In den-
selben erscheinen bald die Griechen (Heiden), Juden und Christen
als die Stufen, bald werden die beiden ersten zusammengenommen,
die Christen aber in psychische und pneumatische gespalten; end-
lich erscheint auch eine Yierteilung in Griechen (Heiden), Juden,
Kirchenleute und Pneumatiker ^ Religionsgeschichtliche Speku-
lationen lagen damals, als die Religionen sich wendeten, in der
Luft, und selbst in untergeordneten und phantastisch verwilderten
Religionssystemen finden sie sich -. Doch kehren wir zu den
Schriftstellern der großen Kirche und ihrer Dreiteilung zurück.
In einer urchristlichen Schrift aus dem Anfang des 2. Jahr-
hunderts, von der wir leider nur wenige Bruchstücke besitzen —
der Praedicatio Petri — (bei Clemens Alex., Strom. VI, 5, 41) werden
die Christen davor gewarnt, ihre Gottesverehrung nach dem Muster
der griechischen oder der jüdischen einzurichten (f.ü] y.ard rov^
"EXh]vag oeßeo&E rov &e6v . . . urjöe y.arä 'lovdaiovg oeßeoße). Dann
heißt es: coote y.al v/uElg öoiojg y.al diy.aiojg /lavddvovrEg ä jiaoa-
diöouEV vfäv, ffvldoo£o&£, y.aivcög rov üeov diä rov Xoioiov OEßo-
uEvoi. EVQOi-iEV ydo £V laTg yoaq)aig y.a&oog 6 y.vgtog ksyEi' idov
öiaTi&Ejiiat, vjxTv y.aivijv diadi)yi]v ohi (hg diE&£.fX}]v roig naxQäoiv
VUCOV EV ÖOEl XojQ}']ß. VE UV VJUIV ÖlE&ETO , TU yäo 'EXh'jVOJV xal
^lovdaicov 7ia)Mia. , vfislg öe ol xaivcög avxov roizco yivei
1. c. 14: Tiäv zö yevog nov dixaiojv (Mai't. Iguatii Antioch. 2: rö züJi' XoioTiar<Zv
ßsoosßsg yevog). Melito bei Euseb., h. e. IV, 26, 5: rö rwv &£oaeßcöy yevog.
Arnob. 1,1: „C'hristiana gens." Pseudo-Josephus, testim. de Christo: t6 rpvlov
Tcov XoiOTiarojv. Orac Sibyll. IV, 336: evoeßecov cpv'/.ov, etc. Die Idee des
neuen und zugleich universalen Volkes konflagrierte bei einigen gebildeten
Christen mit der stoischen Idee des Kosmopolitismus, so bei Tertullian, der
mehr als einmal erklärt hat, daß die Christen nur einen Staat anerkennen,
die Welt. Ebenso schreibt Tatian (Orat. 28): Tr]g Tiag' v/uTv xazsyvcov vofio-
üeotag ■ ui'av /.lev yao t/^ofjv eivai xal xoivljy djidvzojv zljv jio?.izeiav. Der demo-
kratisch-kosmopolitische Zug des Christentums ist der Propaganda in den
mittleren und untex-en .'i-chichten, vor allem in den Provinzen, gewiß höchst
förderlich gewesen. Die religiöse Gleichstellung wurde bis zu einem gewissen
Grad auch als politisch -sozial empfunden.
1) Wie sich bei den Gnostikern diese ethnologisch -religiöse Einteilung
der Menschheit mit der psychologisch- religiösen (Hyliker. Psychiker und
Pneumatiker) kreuzt und ausgleicht, darauf kann hier nicht eingegangen
werden.
-) In bezug auf das Religionsäystem der Anhänger des Simon Magus
hat uns Irenäus die abgerissene und dunkle Mitteilung gemacht (I, 2), Simon
habe gelehrt, „semetipsum esse qui inter Judaeos quidem quasi filius ap-
paruerit, in Samaria autem quasi pater desceuderit. in reliquis vero gentibus
quasi Spiritus sanctus adventaverit".
14*
2l2 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
oeßo/ievoi XgcoTtavoi^. Auch dieser Verfasser unterscheidet alsa
„Griechen, Juden, Christen", und er unterscheidet sie, wie der
4, Evangelist, nach Maßgabe der Gotteserkenntnis und der Gottes-
verehrung. Das Bemerkenswerte ist aber, daß er ganz bestimmt
drei Arten feststellt, nicht mehr und nicht weniger, und das
Christentum ausdrücklich als das neue, dritte genus der Gottes-
verehrung bezeichnet. Das ist die älteste Stelle unter einigen
ähnlichen, die uns noch beschäftigen werden; doch ist zu beachten,
daß hier die Christen selbst noch nicht „das dritte Geschlecht"
heißen, sondern ihre Gottesverehrung als die dritte gilt. Nicht
in drei Yölker teilt unser Verfasser die Menschheit, sondern in
drei Klassen von Gottesverehrern.
Dasselbe tut der unbekannte Verfasser des Briefs an den
Diognet; aber bestimmter führt er bereits die Vorstellung von drei
Klassen von Gottesverehrern in die von drei Völkern über (Xgi-
OTiavol ovTE Tovg vofiii^o/ih'ovg vno röyv "" KXh'ivwv ßeohg loyi'QovTnt
oihe ri]v ^lovdnUov deiotdatjiioviav cpv?j'woovoi .... xnl tI dijjxore
yjuvav TOVTO y£vog i) £nLTi/)öevf.ia etofjWev etg top fliov rvt' y.al
ov TtgoTsgov, cf. c. 5: vtto 'lovÖauov cog uXloqvXoi 7iolFf.iovvTai xal
V7i6 'EXX})vcov dtcoxovrm). Das zeigt sich namentlich in dem Be-
streben, eine eigene Lebensweise und politisch - soziale Existenz
für die Christen nachzuweisen und sie dadurch als besonderes
„Volk" zu legitimieren.
Ganz deutlich teilt aber Aristides in seiner Apologie an den
Kaiser Pius die Menschheit in drei „Arten" im Sinne von Völkern;
denn er gibt für jede „Art" die Genealogie d. h. den geschicht-
lichen Ursprung. Er schreibt (c. 2); (PavsQÖv ydg ionv fjjtuy, Co
ßaoilev , öri igia yh'i] eiotv uvdgcojicov Iv rwde ro) xooucp' cov sioi
ol Tiag' vjiuv Xeyofihoyv deöiv jTgooxvv}]Tal xnl 'lovöaToi xal Xgi-
onnvoi' nvTol d^: TraXiv ol roug noXXovg oeßojLievoi ^eoog sig rg'ia
dimgovvTai yhn], XaXdatovg te xal"EXX^]vag xal Atyvmiovg (folgt
der Nachweis des Ursprungs dieser Völker; von den Christen heißt
es „yEveaXMyovvTai und ' hjoov Xgioiov")'^.
') Der Ausdruck „religio Christiana" findet sich zuerst bei Tertnllian,
wo er aber ganz geläufig ist. Die Apologeten sprechen von der besonderen
§f.ooEßEia der Christen.
^) In der syrischen und armenischen Übersetzung lautet der Passus
etwas anders: „Dieses ist offenbar, o König, daß vier Geschlechter der Men-
schen in der Welt sind, Barbaren und Griechen, Juden und Christen" (die im
Griechen folgende weitere Einteilung in drei Klassen fehlt ganz). Einige
Gelehrte bevorzugen diese Fassung (indessen ist zu beachten, daß auch
Hippolyt, Philosoph. X, ^0 |bis], ?>l [bis] die Ägypter, Chaldäer und Hellenen
den Juden und Christen gegenüberstellt). Für unsre Zwecke ist die Frage
von geringem Pelang. — Auch Justin (Dial. 123) leitet die Christen von
Christus nicht als ihrem Lehrer (s. Orig., de princ. IV, 1, 1 : X^iarov tvv elotjyrjTtiv
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 213
Wie sehr Irenäus Ernst mit dem Gedanken gemacht hat,
daß die Christen ein besonderes Volk sind, zeigt sich in seiner
Ausführnng lY. oO. Gegenüber den Vorwürfen, die die Gnostiker
den Juden und ihrem Gotte machten, weil sie die goldenen und
silbernen Gefäße der Ägypter an sich genommen hatten, führt er
aus, daß man dann mit viel mehr Recht den Christen den Vor-
wurf des Diebstahls zu machen habe: denn alles, was sie besäßen,
stamme von den Römern. ,,Wer ist mit mehr Recht in Besitz
von Gold und Silber, die Juden, die es für ihre Arbeit den
Ägyptern nahmen, oder wir. die wir das Gold von den Römern
und den anderen Völkern genommen haben, obgleich sie nicht
unsere Schuldner waren?'' Diese Reflexion hat nur dann einen
Sinn, wenn Irenäus die Christen als ein Volk betrachtete, welches
von den übrigen Völkern streng geschieden ist und nichts mehr
mit ihnen zu tun hat. In der Tat betrachtete er den Auszug
Israels aus Ägypten als Typus der „profectio ecclesiae e gentibus"
(IV, 30, 4). ^"
Die religiöse Geschichtsphilosophie des Clemens Alexandrinus
wurzelt ganz in der Betrachtung der beiden Völker, der Griechen
und Juden, die beide von Gott erzogen worden sind, nun aber
(s. den Epheserbrief des Paulus) zur höheren Einheit eines dritten
Volkes erhoben werden sollen. Es mag genügen, dafür drei
Stellen anzuführen. Strom. III, 10, 70 schreibt er (zu dem Spruch:
„Wo zwei oder drei versammelt sind" usw.): di] d' äv xal y
öuovoia TcTjv TTollöyv äno tcov TQu7n> äQr&jLioviuev)] /(£«?" chv 6 y.vQiog,
tj jiua iy.yjjjota, 6 elg av&QCOJiog, ro yerog t6 ev. t) jiu] ri /Lisrd juev
Tov evög Tov 'lovdaiov 6 xvgiog vo/uoßercöv })v, jTQorp}]Tevcov de ijdrj
xal TOV 'legsjuim' äjiooTeXXcov elg Baßvlwva, äXXa xal Tovg e^ edvcöv
Sid rijg 7iQoqTt]Teiag xa/Myv, oin'fjye Xaovg rovg ovo, TQiJog de f}v ex
TCOV dvoTv xriCofievog elg xaivov ävÜQWJiov, o3 ötj ejuTteguiarei re xal
xaroixei ev avTJj exxXajoia. V, 14, 9S (zu Plato, Republ. 3 p. 415):
ei fo'] XI. TQelg Jivag vTioxidefievog cpvoeig, rgelg noXneiag, wg vnÜMßov
Tireg, öiayQacpei, xal 'lovöakov fiev dgyvQav , 'EXJJjvan' de TQir)]v
[die Stelle ist verdorben: schon Eusebius, Praepar. XIII, 13 hat
sie fehlerhaft gelesen: in marg. L lautet das Lemma: 'EXd/jvMv
oidi]ga.v y yaX.x/jv , Xoionavcbv yQvofp'], XQioTiavöJy de, olg 6
XQvoog 6 ßaoiXuxog eyxaTa/ie^uiXTai , rö äyiov Tivevfia. VI, 5, 42 :
EX yovv T)jg 'E/drp'ix}]g naideiag , uXlXm xal ex rijg vofuxrjg elg to
ev yevog tov ooi^onevov ovvdyovTai Xmov ol rip' jiiotcv Tigooiejuevoc,
TMv xarä •/QioTiariof.iov oojdjqicov doy/ndrcov), sondern als ihrem Stammvater ab :
(ö; djiö TOV ivog 'laxojß exsivov, tov xal 'lagaijk iTiia^.rj&ivTO?, to :;iäv yevog vfiwv
jiQoatjyÖQSvzo 'lanwß y.al 'loonrjX, ovzco y.al tjf.isTg oltio tov ysvvrjoai'Tog i'j/iäg
£ig dsov Xaiaiov .... xal ^sov Tsxra dXtji^irä xalovue&a xal eo/iii'.
214 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
ov XQovqj öintnovutvcor tcov tqkov Acw)v , Iva ng cfvoeiq vTioXdßoi
romaQ, y.j). ^.
Auch aus anderen altchristlichen Schriftstellern läßt sich die
Trias ,.Griechen (Heiden), Juden und Christen" als ürundform
der kirchlichen Geschichtsbetrachtung belegen'^; namentlich bei
der Deutung biblischer Geschichten wurde sie häufig benutzt. So
zieht sie Tertullian bei seiner Auslegung des Gleichnisses vom
verlorenen Sohn (De pudicit, & f.) heran. Hippolyt (Comment, in
Daniel., ed Bonwetsch p. 32) sieht in Susanna die Christen, in
den beiden ihr nachstellenden Alten die Griechen und Juden.
Pseudocyprian (De mont. Sina et Sion 7) erklärt die beiden
Schacher als die Repräsentanten der letzteren. Doch kommt
meines AVissens die runde Bezeichnung; „AYir Christen sind das
dritte Geschlecht", in der christlichen Literatur nach der Prae-
dicatio Petri (wo übrigens nur von der christlichen Gottesver-
ehrung als der dritten die Rede ist) nur einmal vor. nämlich in
der pseudocyprianischen Schrift de pascha computus c. 17, die
im Jahr 242,3 verfaßt ist. Leider ist der Zusammenhang, in
welchem das Wort steht, nicht recht deutlich. Der Verfasser
spricht vom Höllenfeuer und sagt, dasselbe habe die Widersacher
des Ananias, Azarias und Misael verzehrt, „et ipsos tres pueros
a dei filio protectos — in mysterio nostro qui sumus tertium
genushominum — non vexavit". AVie sich der Verfasser durch
die drei Knaben im Feuerofen, die doch sämtlich gottwohlgefällig
waren, an die Christen als das dritte Geschlecht erinnert fühlen
konnte, ist unklar; indessen er ließ sich daran erinnern, und jeden-
falls geht aus der Stelle hervor, daß ihm die Bezeichnung der
Christen als „drittes Geschlecht" geläufig gewesen sein muß. In
welchem Sinne, können wir noch nicht sicher sagen. Zunächst
müssen wir jedoch nach unseren bisherigen Untersuchungen an-
nehmen, daß ihm die Christen als das dritte Geschlecht neben
Griechen (Heiden) und Juden galten. Ob diese Annahme richtig
ist, darüber wird sich erst im 2. Teil der Abhandlung urteilen
lassen.
*) Von einem , weisen Manne" hat Clemens (Strom. II, 15. 67) die Er-
klärung zu I's. 1, 1 gehört, daß damit die Heiden („Rat der Gottlosen"), die
Juden („Weg der Sünder") und die Häretiker („die Lehrkanzel der Spötter")
gemeint seien. Diese Hinzufügung der Häretiker ist lediglich durch die zu
erklärende Stelle motiviert.
^) Auch die epistula Hadriani ad Servianum (Vopisc, Saturuin. 8) gehört
hierher, wenn sie eine christliche Fälschung ist: ,huuc (nunimuiu) Christiani,
huuc Judaei, hunc omnes venerantur et geutes".
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 215
2.
Das Bewußtsein, ein Volk zu sein und zwar das uralte und
neue Aolk^, blieb innerhalb der Kirche nicht abstrakt und un-
fruchtbar, sondern wurde nach den verschiedensten Richtungen
hin entfaltet: überall war auch hier die Spiagoge die Yorgängerin;
aber man bestritt ihren Anspruch, indem man ihn selbst übernahm,
und erweiterte ihn wo möglich noch über die Grenzen hinaus, die
jene innegehalten hatte.
Drei Richtungen sind es vornehmlich gewesen, in denen die
Kirche das eigentümliche Bewußtsein, das uralte Yolk zu sein,
zur Darstellung brachte: (l) sie wies nach, daß sie, wie jedes
Yolk, ihre eigene Lebensweise habe, (2) sie suchte zu zeigen,
daß die philosophischen Erkenntnisse, Kulte und Politien der
anderen Yölker, soweit sie beifallswert seien, Plagiate an der
christlichen Religion seien. (3) sie begann, wenn auch nur in ver-
suchten Ideen, politische Erwägungen anzustellen über ihre eigene
aktuelle Bedeutung innerhalb des römischen Weltstaats und über
das positive Yerhältnis zwischen diesem und ihr selbst als der
neuen Weltreligion.
(Ad l) Die Nachweisungen der ältesten Christenheit in bezug
auf ihre yjio/uTsia"'' waren doppelter Art. Das Thema für die eine
Gattung hat Paulus im Philipperbrief (3, 2(1) angegeben: rjfiwv
To jzo/urevfia iv ovoavoig vTidg/ei (cf. Hebr. 13, 13 f.: i^eoycujueßa
E^co Trjg Tiageußo/Sjg . . . ov ydg syousr cböe uirovoav Tcöhv, dAAa.
T)]v ueXkovoav L-n!^i]TovuEv). Nach dieser empfinden sich die
Christen hier auf Erden als Pilger und als Paröken; sie wandeln
im Glauben und nicht im Schauen, und ihre ganze Lebensweise
ist weltiiüchtig und allein durch das jenseitige Reich, dem sie
zueilen, bestimmt. Am kräftigsten spricht sich diese Haltung in
der ersten Similitudo des Hermas aus: zwei „Städte"' stehen sich
gegenüber mit zwei Herren; die Stadt des Diesseits und die des
Jenseits. Der Christ darf mit jener „Stadt" und ihrem Herrn,
dem Teufel, schlechterdings nichts zu tun haben, und seine ganze
Lebensweise muß der Lebensweise, den Ordnungen und Gesetzen
der diesseitigen Stadt entgegengesetzt sein. So vermochte man
sich wirklich als ein besonderes Yolk mit besonderer Lebensweise
kräftig zur Darstellung zu bringen, durfte sich aber auch nicht
wundern, wenn man nun mit dem Worte abgefertigt wurde: TidvTsg
eavTovg (fovevoavxeg TcooEveode Ijd)] Tiaoä jov debv y.al fjuiv 7iouyj.iaxa
^) Cf. das I.Buch der Kirchengeschichte des Eusebius, besonders cap. 4:
rfjg fiev yäo rov ocozfjoog fjuöjv 'Irjoov Xoioiov nagovaia; vscoazl Tiäoiv uv d QOiTioig
i:zt/M/iitpäar]g, veov öuokoyov j-iEVog edvog, ov /Liixodv ovo' dodsvig ovo' Inl
ycoviag jiov yijg löov/uevoj', äX'/.a y.al tiÜvtcov xwv idvcov :;To}.vavdooi:i6zai6v ze y.al
■deooeßeozazov zö ijagä zotg :zäoi zfj zov Xoioiov jroocrjyogia zEziurjuevov.
216 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
fu] TraoF/ere (bei Justin, ApoL II, 4). Indessen dies war nur die
eine Seite in dem Nachweise der eigentümlichen Lebensweise und
der Ordnungen. IS^icht weniger energisch suchte man zu zeigen, daß
hier eine Tolitie verwirkhcht sei, welche sich von der der übrigen
Völker durch die absolute Moral unterscheide ^. Schon in den
apostolisclion Briefen wird nachdrücklicher als auf irgend einen
dogmatischen Punkt auf die Verpflichtung zu einem heiligen Leben
hingewiesen, durch welches die Christen wie Lichter inmitten eines
verderbten und verkehrten Geschlechts leuchten sollen. „Nicht
wie die Heiden", auch nicht wie die Juden, ist hier die Losung,
sondern als das A'olk Gottes. Alle Gebiete des Lebens bis zu den
intimsten und geringsten werden unter die Zucht des Geistes ge-
stellt und neu geordnet. Man lese die „Lehre der zwölf Apostel",
um zu erkennen, wie ernst man es mit „dem Wege des Lebens"
nahm. Demgemäß bildete auch in allen christlichen Apologien
die Darlegung der christlichen Politie als der schlechthin sittlichen
einen Hauptabschnitt. Das Interesse ist hier überall das, zu zeigen,
daß diese christliche Politie nach den höchsten sittlichen Maß-
stäben, die auch die Gegner als solche anerkennen müssen, ver-
läuft, und daß sie eben deshalb der Politie der anderen Völker
entgegengesetzt ist. Die Apologien des Justin (namentlich I. I4tf.),
Aristides (c. 15), Tatian und Tertullian kommen hier besonders in
Betracht-. Die Überzeugung, eine besondere Politie zu besitzen,
kommt aber auch in der Vorstelhmg zum Ausdruck, die militia
des wahren Gottes und Christi zu sein (s. darüber später).
') S. oben S. 178 ff.
^) Die vielgepriesene Darstellung in dem Brief au deu Dioguet (c. 5. 6)
ist eine schöne rhetorische Leistung, aber auch nicht viel mehr. Der Ver-
fasser bat es fertig gebracht, drei Gesichtspunkte in einem Atem gleichmäßig
zum Ausdruck zu bringen, die christliche Politie als die höchste Moral, die
Weltferne des Christentums und — die Innerlichkeit, die es dieser Religion
gestattet, mitten in der Welt zu stehen und sich unbefleckt allem Äußern
anzuschmiegen. Wer diese Gedanken so vollkommen in ein Gewebe zu ver-
spinnen vermag, der steht entweder auf der Höhe des 4. Evangeliums —
aber den Verfasser des Briefs dorthin zu versetzen, ist nicht wohl möglich —
oder verfällt dem Verdachte, daß es ihm mit keinem der Gesichtspunkte
völlig ernst ist.
') Eine sehr wichtige Seite an der christlichen Politie bebt Hermas
(Simil. IX; 17) hervor — ihre Kraft, die in Anlage und Sitten so verschiedenen
Völker zur Einheit einer Gesinnung und Lebensweise zusammenzuschließen.
Die Steine, die aus den verschiedenenn Bergen [= Völker] in den Turm
[= Kirche] eingefügt werden, sind zunächst buntfarbig, aber in dem Moment
ihrer Einfügung nehmen sie alle dieselbe weiße Farbe an ()MßövrF? T>p'
OfpoayTda fii'ar ffnörrjoiv i'ayov xal n>a vovv, xai (da ::tiaTig aiirön' lyh'Sto xai fiia
dyd.Tfj .... f)irj. toTto ij oixoSo/a] rov nvQyov /iiä XQÖa syh'sro ).afi7r()a <hg 6 tj?.to;);
vgl. dazu Iren. I, 10, 2. Celsus (Orig. c. Geis. VIII, 72) blickte sehnsüchtig auf
eine solche Einheitlichkeit der in Völker zerspaltenen Menscheit aus, aber
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Gosclileeht. 217
(Ad 2) Das streng Sittliche, die monotlieistisclie AVeltbetrach-
tung und die Ordnung des gesamten privaten und genieinscliaft-
lic'lien Lebens nach den Forderungen der höchsten Moral ist das
„qvu)d ab initio fuit". Indem die Kirche dies wieder Ijei sich
hergestellt sieht, erkennt sie auch darin die Gewähr, daß sie,
obgleich scheinbar das jüngste Volk, in Wahrheit das älteste ist.
Indem sie aber diese Überzeugung mit Hilfe der Bücher Mosis,
die sie für sich mit Beschlag gelegt hat, zu erweisen unternimmt
(s. Tatian, Theophilus, Clemens, Tertullian, Julius Africanus,
Hippolyt) ^. vindiziert sie sich selbst, das jüdische Yolk entthronend,
die IJroffenbanmg. die Urweisheit und die genuine Gottesverehrung.
Hieraus gewinnt sie die Erkenntnis und den Mut, alles, was an
Offenbarung, Weisheit und Gottesvehrung bei den anderen Völkern
in ihren Gesichtskreis tritt, nicht nur inhaltlich an dem eigenen
Besitz zu messen, sondern auch so zu messen und zu werten, wie
Kopien an dem Originale. Es ist bekannt, welchen Umfang in
den altchristlichen Apologien die Abschnitte einnehmen, in denen
nachgewiesen wird, daß die griechische Philosophie, soweit sie
beifallswert und richtig ist, aus der den Christen zugehörigen,
uralten Literatur zusammengestohlen ist. Die Bemühungen, dies
zu zeigen, gipfeln m dem Nachweise: „Was irgendwo gut gesagt
worden ist, das ist von uns genommen."' Die Dreistigkeit dieser
Behauptung verdeckt uns heute die Großartigkeit vmd Kraft des
Selbstbewußtseins, welches aus ihr spricht. Schon Justin hat jede
richtige geistige Erkenntnis als „christlich" in Anspruch genommen,
mag sie sich bei Homer, bei den Tragikern oder den Komikern
oder bei den Philosophen finden. Daß bei solcher Erweiterung
die ganze Betrachtvmg „umschlägt" und das „Christliche" in das
allgemein Menschliche umgesetzt erscheint, ist ihm nicht aufge-
gangen, oder ahnte er es doch? Clemens Alexandrinus, der ihm
in diesen Betrachtungen folgt, ahnte es nicht nur, sondern er hat
den Gedanken mit Bewußtsein verfolgt.
Indem sich das alte Christentum mit der Philosophie ver-
gleicht, faßt es sich selbst als eine „Philosophie", seine Bekenner
als „Philosophen". Indes ist das eine Form des Selbstbewußtseins,
die man nicht überschätzen darf, weil sie in diesen ersten Jahr-
hunderten fast ausschließlich der Apologetik und Polemik angehört.
er hält sie für eine Utopie: El yao d>j olör ts si; sra ovuqoovi)oat röiioi' rovg
rtji' 'Aoi'av y.ul Evoo}:j}jt' y.ai Aißinjv "E/J.tp'dg ts y.ai ßaoßuQOvg äyoi :;iEo6.to)v
ver'Sf^it]/iisvovg. Dazu bemerkt Origenes: däuvaiov lovzo vouloag eivai EjfUfeosi
[seil. Celsus] Oll 6 tovzo oi6i.iEvog olösv ovÖsv.
^) Daß hier die Anfänge der universalgeschichtliclien Chronographie
und damit der christlichen allgemeinen Weltgeschichte überhaupt liegen,
daran sei im Vorübercrehen erinnert.
21 S Diö Missionspredigt in Wort und Tat.
Die Christen haben doch nie daran gez\N-eifelt, daß ihre Lehre zwar
Wahrheit sei, also die wahre Philosophie, aber doch unendlich
viel mehr als Philosophie — nämlich Gottesweisheit — und daß
sie selbst etwas anderes seien als Philosophen — nämlich das
A'olk der Gottesfreunde. Aber in der Polemik war es bequem,
das Christentum als Philosophie bez. als „barbarische" Philosophie
und die christlichen Bekenner als Philosophen zu bezeichnen; denn
erstlich konnte die Natur der christlichen Lehre den draußen
Stehenden nur so klar gemacht werden — eine Yergleichung mit
den heidnischen Religionen zu positiven Zwecken war be-
denklich. — zweitens durfte unter dieser A'oraussetzung verlangt
werden, daß der Staat das Christentum ebenso liberal behandle
wie die Philosophie und die Philosöphenschnlen. In diesem Sinne
hauptsächlich hat man die beliebte Parallele der Apologeten
zwisclien Christentum und Philosophie zu verstehen, obschon
einzelne christliche Lehrer, die Vorsteher einer innerkirchlichen
oder freikirchlicken Schule (didaoxakelovj waren, die Parallele
ernsthafter gemeint haben ^; aber diese standen gewissermaßen
neben der großen Christenheit-.
Nicht nur die Philosophie, soweit sie probehaltig war. be-
urteilte man als Plagiat, sondern auch solche Piten und Kultus-
handlungen, die sich als vermeintliche oder wirkliche Parallelen
zu christlichen darstellten. In den offiziellen römisch-griechischen
Kulten war nicht viel dergleichen zu finden, aber in den Myste-
rien und den orientalischen Kulten um so mehr. Namentlich der
Mithrasdienst hat in dieser Hinsicht schon frühe die Aufmerk-
merksamkeit christlicher Apologen auf sich gezogen. Hier galt ein-
fach das Urteil, daß die Dämonen christliche Riten in den heid-
nischen Kulten nachgeäfft hätten. Konnte man aber nicht in
Abrede stellen, daß jene heidnischen Riten und Sakramente älter
seien als die parallelen christlichen, so war die Ausrede sofort
bei der Hand, daß die Dämonen das Christliche, schon bevor es
in die Erscheinung getreten war, kopiert und verzerrt hätten, um
es im voraus zu diskredieren — so die Taufe, das Abendmahl,
die Versöhnungshandlungcn, das Kreuz usw. Die Dogmatik ver-
') Solehe Lehrer mit ihrer kleinen Gruppe empfanden sich schwerlich
als das „Urvolk", sondern sie brachten ihr absolutes Bewußtsein als „Begabte"
und „Wissende" zum Ausdruck. Über die chrislichen diöaoy.u/.sTa und ihre Be-
deutung für die Propaganda wird in einem anderen Zusammenhang zu handeln
sein. Daß die Heiden den Anspruch der Christen, „die Wissenden" und ,.die
Philosophen'' zu sein, besonders lächerlich und anmaßend fanden, ist wohl
verständlich. Sie nannten sie umgekehrt Leichtgläubige oder verspotteten
sie als jitozoc, die fremden Fabeln und Altweibergeschwätz Glauben schenken.
-) Mit der ältesten Erscheinungsform des Christlichen — Jesus als der
Lehrer, die Jünger als die Schüler — haben sie nichts mehr zu tun.
Die Botschaft von dem neuen Volk uml dem dritten Geschlecht. 219
mag stets die Geschichte zu brcclion und tut dies fort und fort.
Hier aber liegen besonders instruktive Fälle vor, weil sich die
Ausgestaltung der christlichen Iviten und Sakramente unter dem
Einfluß der Mysterien-Riten vollzogen hat (freilich nicht bestimmter
Riten eines bestimmten Kultus, sondern des allgemeinen Typus
der Mysterien) und somit die Dogmatik die Folge zur Ursache
machte. Aber auch hier tritt das quid pro quo in ein günstigeres
Licht, wenn man erwägt, daß sich die Christenheit als das Urvolk
an den Anfang der Geschichte setzt und dieses Selbstbewußtsein
die Voraussetzung für ihre gesamte Betrachtung der Geschichte
ist. Denn unter dieser Voraussetzung bedeutet die Beschlagnahme
jener Riten und Sakramente nichts anderes als die Behauptung
ihres ideal -menschlichen und daher göttlichen Charakters. Sie
werden den Grundzügen jener Gottesoff'enbarung und Gottesver-
ehrung einverleibt, von denen die Menschheitsgeschichte ausge-
gangen ist, und die ihr uraltes, bis zur Gegenwart freilich verhülltes
Besitztimi bilden.
(Ad 3). Die interessanteste, aber bisher noch am wenigsten
erforschte Seite an dem Bewußtsein der alten Christen, „A'olk"
zu sein, ist die politische im engeren Sinne des Worts. Das
Material ist reichhaltig: man hat aber bisher wenig Blick dafür
gehabt; ich begnüge mich hier mit der Aufdeckung der wichtig-
sten Punkte^.
Das politische Bewußtsein der ältesten Kirche hat drei Elemente
zu seiner Voraussetzung gehabt, erstlich die Politik der jüdischen
Apokalyptik, die der Forderung des Kaiserkultus und den Schrecken
der Verfolgungen gegenüber als geboten erschien, zweitens die
Tatsache des so frühen Übergangs des Evangeliums von den Juden
zu den Hellenen und die unverkennbare Wahlverwandtschaft
zwischen Christentum und Hellenismus sowie zv>'ischen Kirche und
römischen AVeltstaat, drittens den Fall und Untergang Jerusalems
und des jüdischen Staates. Das erste Element verhält sich anti-
thetisch zu den beiden letzteren, und demgemäß ist das politische
Bewußtsein der Kirche gegensätzlich bestimmt gewesen und mußte
sich aus Kontradiktionen herausarbeiten.
Die Politik der jüdischen Apokalyptik kennt den Weltstaat
nur als Teufelsstaat und nimmt daher zu ihm eine reine negative
Stellung ein. In der Johannesapokalypse ist diese Politik rund
aufgenommen. Die neronische Verfolgung, der geforderte Kaiser-
kultus und der domitianische Schrecken haben sie beglaubigt.
*) Tertullians Satz (Apol. 38): „nulla magis res nobis aliena quam pu-
blica; unam omnium rempublicam agnoscimus, muudum", ist stoisch gefärbt
und darf höchstens cum grano salis für zutreffend gelten; außerdem — die
Staatsverächter haben zu allen Zeiten eine sehr aktive Politik getrieben.
220 I*ie iMissiousprcdigt in Wort und Tat.
Diese politisclic Ilalrmig- der Kirche ist, soweit sie sich im zweiten
und dritten Jalirhnndert fortsetzt, verliältnisniäßig am besten von
den Forscliern beachtet worden: noch jüngst hat sie Neumann in
seiner Studie über Hippolyt (1002) gründlich erörtert. Daß die,
bis ül)er die Mitte des zweiten Jahrhunderts noch wenig zaUreiche
Christenheit sich auch in bezug auf die politische Geschichte als
Mittelpunkt der Menschheit und als deren entscheidenden Faktor
eikeimt, ist das Merkwürdige. Bei dem jüdischen Yolke ist dieses
Selbstbewußtsein recht wohl erklärlich — es war wirklich ein
großes Volk und hatte eine geAvaltige Geschichte hinter sich — ;
aber daß ein kleiner Haufe sich das ganze große römische Reich
gegenüberstellt^, die Hauptaktion dieses Reiches in der Christen-
verfolgung erblickt und die ganze Weltgeschichte in diesem
Kampfe endigen läßt, ist wahrlich erstaunlich. Es erklärt sich
das nur aus der Tatsache, daß sich die Kirche einfach an Stelle
Israels setzte und sich deshalb als Yolk, also auch als politischen
Faktor empfand, und zwar als den neben dem Weltstaat aus-
schlaggebenden und zuletzt ihn besiegenden Faktor. Das große
Problem „Kirche und Staat" tritt schon hier in die Erscheinung,
und die schroffe Form, die es hier empfing, ist maßgebend ge-
worden für die folgenden Zeiten. Unter der Hülle anderer Be-
ziehungsformen liegt diese noch immer verborgen.
Aber das ist nur die eine Seite. Die Tatsache des T'bergangs
des Evangeliums von den Juden zu den Hellenen, die unverkenn-
bare Wahlverwandtschaft zwischen Christentum und Hellenismus
sowie zwischen Kirche und römischem Weltstaat, endlich der
Untergang des jüdischen Staats durch Rom — diese Faktoren
schufen ganz andere Vorstellungen von den Beziehungen zNvischen
Kirche und Reich als die rezipierte Apokalyptik sie wollte. Eine
systematische Behandlung dieser A^orstellung ist jedoch nicht am
Platze: sie würde ein falsches Bild gebe)i. Richtiger wird es
sein — da es sich nur um versuchte Ideen handelt — , die wich-
tigsten kennen zu lernen und sie einzeln ins Auge zu fassen:
II Thess. 2, 5 — 7 ist die älteste Stelle in der christlichen
Literatur, in welcher des römischen Reichs in positiver Bedeu-
tung gedacht wird: es ist nicht das antichristliche Reich, sondern
') Mit der großen Menge der Christen vermochte erst Tertullian Apol. 37
(kurz vor dem Jahre 200) dem Staate zu drohen; bis dahin suchte man mit
den Kahimitäten des Endes und mit dem wiederkehrenden Christus zu
schrecken. Aber gleichsam vikarierend für die noch fehlende größere Anzahl
■wirkte (von Anfang an) die Tatsache der weiten Verbreitung über das ganze
Reich und über die Grenzen desselben hinaus. Daß -sie überall zu linden
waren , stärkte und formte das Selbstbewußtsein der Christen schon in den
ersten Generationen. Im Gegensatz zu den in bestimmten Grenzen einge-
Die Botschaft von dem noueu Volk und dem dritten (Jesclilecht. 221
im Gegenteil die lieinnieiule ^fuclit, welche ilen letzten Schrecken
und das Kommen des Anrieh rists aufhält; denn unter ,,to y.areyov"
(„6 y.aTr/cov") ist dieses Reich zu verstehen, ist dem so, so folgt,
daß Kirclie und Weltreich nicht nur als Gegensätze betrachtet
werden dürfen.
Rom. ll]. 1 ft'. zeigt dies deutlicli und zieht die Konsequenz:
die Obrigkeit ist &eov didy.ovog, ist von Gott eingesetzt zm* Unter-
drückung des Bösen: wer sich ihr widersetzt, widersetzt sieh der
göttlichen Ordnung. .Man muß ihr daher nicht nur gezwungen,
sondern um des Gewissens willen gehorsam sein; selbst die Steuer-
zahlung ist eine sittliche Pflicht. Ahnlich spricht sich der Yer-
fassor des I Petrusbriefs aus (c. 2, lo ff.) ^; aber er geht noch einen
Schritt weiter; er schließt die Ehrfurcht vor dem Kaiser unmittel-
bar der Furcht Gottes an (Tiünag riiiijoaTe, ti]v äöeAcpOTyjTa äyanäTi--^
Tov ^eöv (foßeTode, rov ßaoiXia rijLiäre) ^. Das ist eine Konzeption,
wie sie loyaler nicht gedacht werden kann: man beachte, daß
der Verfasser nach Kleinasien schreibt, in die Hauptprovinzen des
Kaiserkultus.
Lucas beginnt seine Erzählung von Christus mit den Worten
(3, l): 'Eyerero iv raig fjjiieoaig iy.eivaig i^ijAÖn' döyfia ticxqu Kal-
oagog Avyoi'oTov äTioyQacpEodai nnoav Ti]v or/iov/A.evf]v, Yielleicht
mit Recht hat man hier vermutet, daß die Erwähnung des Kaisers
Augustus keine müßige sei. Daß mit Augustus eine neue Zeit
für das Reich angebrochen, war die offizielle und die populäre
Vorstellung. Der Prinzipat war der Friede, der Kaiser der Heiland
(6 ooni)o). Hinter dem irdischen Heiland läßt Lucas den himm-
sehlossenen Völkern, seien es auch so große wie die Parther, nennt Tertullian
(Apolog. 37) die Christen die ,.gens totius orbis'', also das Weltvolk. So aber
empfand man sich schon lange vor Tertullian.
') Cf. Tit. 3. 1. — Bei den Worten des Paulus im Römerbrief kann man
sich erinnern, eine wie ruhige, glückliche Zeit die ersten Jahre unter Nero
waren.
-) Die gi-iechischen Christen nannten den Kaiser in der Regel ßcwü.evg
— das war im Orient üblich und bedeutete hier keine so große Schmeichelei,
wie wenn Abendländer ihn „rex" genannt hätten. Baodsvg war aber auch
eine Bezeichnung für den xvoiog XQiarög, -die man als Christ nicht vermeiden
durfte (nicht nur um der ßandci'a rov deov willen, sondern auch weil Jesus
sich selbst so genannt hatte, Joh. 18, 33 tf.). Daraus ergab sich ein peinlicher
Konflikt; die besonnenen Christen waren eifrig bemüht, den Schein des Hoch-
verrats, der hier entstehen mußte, abzulehnen und zu versichern, daß sie
unter „Reich" und , König" nichts Irdisches und Menschliches verstehen,
sondern etwas C4öttliches (so schon Justin, Apol. I, 11). Einige Heißsporne
freilich erklärten vor dem Richter, daß sie nur einen König, bezw. einen
Kaiser anerkennen (Gott oder Christus), und zogen sich damit die gerechte
Strafe zu. Doch waren diese Fälle sehr selten. Auch ,imperator" ist Christus
im Abendlaude genannt worden, aber nicht in Schriften, die für die Öffent-
lichkeit bestimmt waren.
222 Die Mi^sionspredigt in Wort und Tat.
liseheii auftaiicluMi — aucli er ist der ganzen Oikumene gesclienkt,
und was er briiigt. isr der Friede (v. 14: L-rl yiis eio/jv)])^. Schwer-
lich hat Lucas den Augustus und den Christus in feindlichen
Gegensatz stellen wollen: auch Augustus und sein Reich bezeichnen
die neue Zeit. Das kann man auch aus der Apostelgeschichte
herauslesen, die zwar ni. E. keine, bewußte politische Tendenz hat,
die aber im Gegensatz zum jüdischen Volke in dem römischen
Reich den gewiesenen Boden für die neue Religion sieht, von
aller Kaiseri'eindschaft weit entfernt ist und solche Tatsachen gern
hervorhebt, die in der nächsten Vergangenheit eine tolerante Ge-
sinnung der Obrigkeit gegen die Christen beweisen.
Justin schreibt (Apol. l, 12) an den Kaiser: docoyol vuJy y.al
ovuuayoi rrgog eigijyyjv eo^nkv ndvrcov f.iäAAov äv&QujJion'. Er er-
kennt damit an, daß der Zweck des Reiches ein guter ist (die
pax terrena), und daß ihn die Kaiser erreichen wollen. Indem
er aber die Christen als diejenige flacht bezeichnet, die am besten
geeignet ist, diesen Zweck durchzusetzen — weil sie, vor allem
Verbrechen zurückscheuend, streng sittlich leben und strenge
Sittlichkeit lehren, und weil sie die Dämonen, diese größten
Feinde des Menschengeschlechts, verscheuchen und austreiben- — ,
statuiert er gewissermaßen ein positives Verhältnis zwischen Kirche
und Reich.
Der Verfasser des Briefes an den Diognet, indem er Christen
und Welt (Staat) unterscheidet wie Seele und Leib (c. 6) und
seine Darstellung ihres Verhältnisses auf Antithesen hinausspielt,
statuiert doch eben dadurch auch ein positives Verhältnis zwischen
beiden Größen: iyy.tyJ.eioTai ftkv fj yv/ij reo oo^uazi, ovveyei 6e
nuT}j To oc7)f(a' y.al Xotortayol yare/oriai uh' (bg Iv qoovoä t(5
y.öotuo, avTol (5t ovrfyovoi tov y.öouov (cf. Ahnliches bei Justin,
Apol." 11, 7). ' '
') Auch der Ausdruck im Epbeserbrief (2, 14): aviö^ iaiiv »/ stor'jvt] y,ucor,
ist der Sprache, in welcher man in Asien von dem Kaiser sprach, nachge-
bildet. Wie sehr die lucanische Sprache in dem betreuenden Abschnitt von
dieser beeinflußt ist. habe ich an einem anderen Ort gezeigt. Gewiß hat
man auch Luc. 2, 14 und Ephes. 2, 14 au Micha 5, 4 zu denken; aber das ist
eben für jene Zeit und Anschauung das Charakteristische, daß verschiedene
Linien konvergierten.
-) Wo die den Staat erhaltende und die Menschheit befreiende Macht
des christlichen Volkes verkündigt wird, da sind es immer diese beiden
Momente, die in Betracht kounneu — die strenge Sittlichkeit und die Macht
über die Dämonen. Jene Watte führen auch andere, wenn auch nicht so gut;
diese aber, die Macht über die Dämonen, steht nur den Christen zu, und des-
hall) leisten sie, so wenig zahlreich sie sein mögen, dem Menschengeschlecht
und dem Staat einen unvergleichlichen Dienst. Von hier aus ist das christ-
liche Selbstbewußtsein, die konservative und befreiende Macht in der Welt
zu sein, erwachsen.
Die Botschaft von dem nein n Volk und dem dritten Geschlecht. 223
Alles dieses ist bereits positive Politik^; aber am weitesten
in dieser Richtung ist Melito gegangen (bei Euseb., li. e. lA', 20).
Es ist nicht zufällig, daß er in dem loyalen Kleinasien schreibt.
Er hat den AVink dos Lucas in bezug auf Augustus und alles,
was sonst an positiven J5eziehung(Mi zwischen Kirche und Welt-
reich bereits geltend gemacht worden war. wohl beachtet und ist
nun zu folgender Darstellung in seiner Apologie an Marc Aurel
fortgeschritten:
„Diese unsre Philosophie hat zwar zuerst bei einem frem-
den Yolke gegrünt. Als sie aber darauf unter der gewaltigen
Herrschaft deines Yorgängers Augustus in den Provinzen deines
Reichs zu blühen begann, brachte sie deinem Reiche in be-
sonderer Weise reichen Segen. Denn es hat ja von der Zeit
an das römische Reich immer an Größe und Glanz zugenommen,
dessen erwünschter Beherrscher du bist und sein wirst zugleich
mit deinem Sohne, wofern du diese unter Auo-ustus beo-onnene
und zugleich mit dem Reiche großgezogene Philosophie, welche
auch deine Vorfahren neben den anderen Religionen in Ehren
gehalten, beschützen willst. Und zum stärksten Beweise, daß
unsre Religion zugleich mit der so glücklich begonnenen Monar-
chie zum Wohle derselben aufgeblüht, dient der Umstand, daß
diese seit der Regierung des Augustus von keinem Unglück be-
troffen worden ist, sondern daß im Gegenteil nach dem allge-
meinen Wunsche alles nur deren Glanz und Ruhm vermehrt hat."
Melitos Gedanken^ brauchen nicht analysiert zu werden;
deutlich und klar sind sie ausgesprochen: der Weltstaat und die
christliche Religion sind Milchschwestern: sie gehören zusammen;
sie bilden die neue Stufe der Geschichte; die christliche Religion
bedeutet den Segen und die Wohlfahrt des Reichs; sie ist das
Innere zu dem Äußeren; nur wenn sie beschützt wird und sich
frei entfalten kann, bleibt das Reich in Größe und Glanz. Trimmt
man nicht an , daß Melito lediglich hat schmeicheln wollen —
und es ist kein Grund zu dieser Annhme, wenn auch Schmeichelei
nicht fehlt — , so folgt, daß er wirklich in dem Christentum die
zu dem Weltstaate gehörige, ihm zugeordnete und ihn tras'ende
') Dazu möchte ich es auch rechnen, wenn Athenagoras in seiner Sup-
plicatio an die Kaiser (c. 18) sagt: s/ons dcp' kaviöjv xal Ttjv ejrovoäviov ßaoi-
Xslav i^erä^etv w; yag viliTv jiarol xai vlco nävza HSxeiQcoiai, ärojßsv ztjv ßaoi-
Xsiav sU.rjqiöoi — ßaotkscog yao rpvyj] sv xsiol -d^eov, q>t]oi t6 jzQoq^ijrixov jivEVfj,a — ,
ovxoog evi tm -Oeco xal toj jtao' aviov löyio vioj vooi\uiy(o dfieoiazfo Tiävra unoieraxTai.
-) Tertullian urteilte anders ; von einer Solidarität von Christentum und
Kaisertum weiß er nichts: „sed et Caesares credidissent super Christo, si aut
Caesares non esseut necessarii saeculo, aut si et Christian! potuissent esse
Caesares" (Apol. 21).
221 Die Missioiispredigt in Wort und Tat.
innere ^laclit erkannt hat. Die spätere Entwicklung- der Dinge
Init ihm Hecht gegeben, und in diesem Sinne ist er als Politiker
bewunderungswürdig; aber noch bewunderungswürdiger ist es,
daß er diesem zu seiner Zeit noch geringem Yolke der Christen
um ihrer Religion, d. h. ihres transzendenten Guts, willen, die
Kraft zugetraut hat. den Staat zu erhalten^ — daß er überhaupt
die Christenheit als die parallele Größe zum Staate erkannt hat.
Es gibt noch einen altchristlichen Schriftsteller, dem die
Analogie von Weltstaat und Christenheit aufgegangen ist (am
Punkte der Okumenizität): aber er hat sie in einer überraschenden
Weise zu erklären versucht, die eine große Feindseligkeit gegen
das Reich verrät. Hippolyt schreibt (in Daniel. lY, 9):
j.Denn da im 12. Jahre der Herr unter dem Kaiser Augustus
geboren wurde, von dem an das Reich der Römer sich ent-
wickelte, durch die Apostel aber der Herr alle Nationen und
alle Zungen hinzurief und das Yolk der gläubigen Christen
schuf, das Herrenvolk und das Yolk derer, die einen neuen
Xamen ti'agen — so ahmte das Reich dieser Zeit, das da
herrscht „nach Kraftwirkung des Satans", dies genau nach und
sammelt seinerseits auch aus allen Yiilkern die Edelsten und
rüstet zum Streit, sie Römer nennend. Und deshalb war auch
die erste Schätzung unter Augustus, als der Herr in Bethlehem
geboren wurde, damit die Menschen dieser AYelt, für den irdi-
schen König angeschrieben, Römer genannt würden, die an
den himmlischen König Glaubenden aber Christen hießen, das
Zeichen des Sieges über den Tod an der Stirne tragend."
Die Okumenizität des römischen Reichs ist also eine satanische
Kachäffung der Christenheit: wie die Dämonen die christliche
Philosophie gestohlen, wie sie den christlichen Kultus und die
Sakramente nachgeäfft haben, so haben sie auch durch Stiftung
des großen kaiserlichen Römerreichs ein Plagiat an der Kirche
begangen! Dies ist wohl der kräftigste, aber auch dreisteste
Ausdruck des christlichen Selbstbewußtseins, der sich denken
läßt! Den wahren christlichen Kosnn)politismus hat Octavius
(^finucius 33) so formuliert: „nos gentes nationesque distinguimus:
deo una donuis est mundus hie totus."
Gerechter politisiert Origenes, aber wie hochfliegend sind seine
Gedanken! In den caj)]). (58 — 75 des 8. Puchs gegen Celsus trägt
er, eine uralte christliche Yorstellung umdeutend und eine pla-
') Vgl. dazu Orig. c. Geis. VIII, 70: «/./.' oi xaW vnodeaiv Ksloov Tiuvrsg
clr rrfioOtrifc; 'Pco/iaToi evyö^isvoi Jisouoovzat tmv no?.Fiu(ov tj ov(^e t)]V uQ/jjv
Tio/.fin'/oovTai, (f()ov(iovfifvoi vjio -Oeiag övvä/iFCo;, ryg dia ctcvti'jxovtu öixaiovg
jiivTE :jö/.tig ö'/.ag i.-cayygi/.afitvr/g öiaocjaai.
Die Botschaft von dem neuen Volk und dem dritten Geschlecht. 225
tonische benutzend, die Idee vor, daß die Kirche — der y.oojnoi;
Tov xoofiov (in Joh. VT, 3S) — in der Zukunft der göttliche Welt-
staat sein werde; sie sei bestimmt, das römische Reich, ja die
Menschheit, in sich aufzunehmen und die Staaten zu verbinden
und zu ersetzen. Cf. c. 6S: „Denn wenn alle es ebenso machten,
wie wir, um mit Celsus zu reden, so würden, darüber kann kein
Zweifel bestehen, auch die Barbaren, die das Wort Gottes an-
nähmen, ganz gesittet und gutartig werden, so würden alle Reli-
gionen ihr Ende finden und die christliche die allein herrschende
sein — sie wird einst auch allein herrschen, da das Wort
immer mehr Seelen gewinnt." Damit ist die urchristliche
Hoffnung umgebogen: die Kirche erscheint als die sittigende und
vereinigende Macht, welche einen einheitlichen Menschheitsstaat
schon im Diesseits schaffen wird. Freilich, ganz sicher ist es dem
Origenes nicht, daß dies im Diesseits wirklich möglich ist; denn
bereits c. 72 schreibt er in bezug auf die Frage, ob Asien,
Europa und Libyen, Crriechen und Barbaren, in der Anerkennung
eines Gesetzes übereinstimmen könnten (Celsus stellte das in Ab-
rede): y.al TOt/a ah]ßco^ ädvraTOv ^aev to toiovto roig eti ev ocouaoi,
ov jiiev äövajov y.al OLTioXvdEloiv avTcöv^. In II, 30 schreibt Ori-
genes: „In Jesu Tagen ging die Gerechtigkeit auf und die Fülle
des Friedens; sie begann mit seiner Geburt. Gott bereitete die
Yölker auf seine Lehre vor und machte, daß der römische Kaiser
die ganze Welt beherrschte ; es sollte nicht mehrere Reiche geben,
sonst wären ja die Yölker einander fremd geblieben und der Voll-
zug des Auftrages Jesu: „Gehet hin und lehret alle Völker", den
er den Aposteln gab, schwieriger gewesen."
Aber der große Kirchenvater, der auch ein großer und ein-
sichtiger Politiker war, trägt in seinem Werke gegen Celsus
(III, 29. 30) noch eine politische Beobachtung vor, die nicht hoch-
fliegend sondern nüchtern ist, aber dafür den Vorteil hat, zu-
treffend und eindrucksvoll zu sein. Obschon sie etwas umfang-
reich ist. setze ich sie hierher, weil sie in der altchristlichen
Literatur nicht ihresgleichen hat:
„Apollo wollte nach Celsus von den Metapontinern, daß
sie den Aristeas für einen Gott halten sollten. Sie aber hielten
den Aristeas für einen Menschen und vielleicht nicht einmal
für einen tüchtigen, und diese ihre Überzeugung war ihnen
sicherer als der Orakelspruch, der ihn für einen Gott erklärte.
^) Die politische Kannegießerei, die Celsus (c. 71) von einem Christen
gehört haben will, verstehe ich so wenig wie Origenes sie verstanden hat.
»Sie stammt schwerlich von einem solchen; was ihr zugrunde liegt, läßt sich.
nicht mehr ermitteln. Ich lasse sie daher beiseite.
Harnack, Mission. 2. Aufl. J5
226 Rie Mii^sionspredigt in Wort und Tat.
dem göttliche Ehre zu erweisen sei. Deshalb wollten sie dem
Apollo nicht gehorchen, und so hielt niemand den Aristeas für
einen Gott. Was aber Jesus betrifft, so können wir sagen,
daß es dem Menschengeschlecht Segen brachte, ihn als Sohn
Gottes anzuerkennen, als Gott, der in menschlicher Seele und
mensclilichem Leibe erschienen ist Gott, der Jesum
gesandt hatte, vereitelte alle Nachstellung der Dämonen und
verhalf auf der ganzen Erde dem Evangelium Jesu zur Be-
kehrung und Besserung der Menschen zum Siege und ließ überall
Kirchen entstehen, die eine andere Politie haben als die Kirchen
dämonenverehrender, ausschweifender und ungerechter Menschen.
Denn so beschaffen sind die Massen, welche überall die städtischen
„Kirchen" bilden. Die Kirchen Gottes aber, die Christus geschult,
sind — wenn man sie mit den „Kirchen" der Volksmassen, unter
denen sie als Fremdlinge wohnen, vergleicht, — „wie Lichter in
der Welt". Denn wer muß nicht bekennen, daß selbst die ge-
ringeren Mitglieder der Kirche und solche, die gemessen an den
Yorzüglicheren tiefer stehen, doch viel besser sind als die Mit-
glieder der profanen Kirchen?"
„Da ist die Kirche Gottes zu Athen; sie ist friedfertig und
liebt die Ordnung: denn sie will Gott, dem Anherrschenden,
gefallen. Die lürclie der Athener aber ist aufsässig und kann
in keinem Sinne mit der dort befindlichen Kirche Gottes ver-
glichen werden. Dasselbe hat man betreffs der Kirche Gottes
in Corinth und der Kirche des Volks der Corinther zu sagen,
sowie betreffs der Kirche Gottes in Alexandrien und der Kirche
des alexandrinischen Volkes. Und wenn ein wohlgesinnter Mami
davon hört und mit Liebe zur Wahrheit den Sachverhalt prüft,
so wird er den bewundern, der den Gedanken gefaßt und ihn
zu verwirklichen vermocht hat, überall Kirchen Gottes einzu-
richten, die da als Fremdlinge mitten unter den Kirchen der
Volksmassen jeglicher Stadt wohnen. Ferner, auch wenn man
den Rat der Kirche Gottes mit dem Rat der Städte, Stadt für
Stadt, vergleicht, so dürfte man finden, daß manche Ratsherrn
der Kirche eine Stadt Gottes zu leiten verdienen, wenn es eine
solche in der Welt gibt; die überall sieh findenden [weltlichen]
Ratsherrn aber haben in ihrem Wandel nichts, was die aus
ihrer amtlichen Stellung fiießende Superiorität rechtfertigte, in
der sie ihre Mitbürger zu überragen scheinen. Und so steht
es auch bei einem Vorgleich zwischen dem Vorsteher der Kirche
jeder Stadt mit den l^ürgermeistern; man wird finden, daß selbst
die Ratsherrn und Vorsteher der Kirche Gottes, welche weniger
vollkomm(m sind und ihren eifrigeren Kollegen gegenüber als
lässig gelten können, auf den Wandel gesehen, generell in den
Die Beurteil, der Christen als drittes Geschlecht seit, ihrer Gegner. 227
Tugenden weiter vorg-eschritten sind, als die städtischen Ilats-
lierrn und Yorsteher.'-'
Hier breche ich diesen Teil der Untersuchung ab. Das An-
geführte wird genügen, um sich ein Bild davon zu machen, wie
sich die Christen als das neue Volk und als das dritte Geschlecht
gefaßt und welche Konsequenzen sie aus diesen Vorstellungen
gezogen haben. Wie aber beurteilten die Griechen und Römer
die Erscheinung der Christenheit und ihre immensen Ansprüche?
In einem Exkurse soll dieser Frage Genüge geschehen.
Exkurs:
Die Beurteilung der Christen als drittes Geschlecht
seitens ihrer Gegner.
Um die Beurteilung der Christenheit seitens der Griechen und Römer
richtig zu würdigen, muß man sich zunächst erinnern, wie die Juden im
Reiche angesehen und beurteilt wurden; denn es war allgemein bekannt,
daß die Christen von den Juden ausgegangen waren.
Nichts ist sicherer, als daß die Juden in dem Römerreiche als ein be-
sonderes Volk gegenüber allen anderen Völkern unterschieden wurden. Ihre
bildlose Gottesverehrung und ihre Ablehnung des Staatskultus (äßenit]?) sowie
ihre Exklusivität (dfii^ia) hoben sie als einzigartig aus allen Nationen heraus*.
Diese Einzigartigkeit hatte Cäsar durch seine Gesetzgebung zur öffentlichen
Anerkennung gebracht. Wurde doch — eine kurze Epoche abgerechnet —
nicht einmal der Kaiserkult von den Juden verlangt. So standen sie allein
und für sich neben allen anderen Völkern , die das römische Reich umfaßte
oder mit denen es Bundesgenossenschaft geschlossen hatte. Die runde
Formel: „Wir und die Juden" findet sich m. W. in der griechisch-römischen
Literatur nicht-, aber die Sache war da, d. h. die Betrachtung war ganz
*) Dazu kamen noch ihre besonderen Sitten (Beschueidung. Verbot des
Schweinefleisches, Sabbath etc.); aber diese wirkten doch nicht so stark, um
den Charakter der Einzigartigkeit zu begründen, wie a&sön^g und dfu^ia.
Zum Teil dieselben, zum Teil ähnliche Sitten fanden sich ja auch bei anderen
orientalischen Völkern. Zu ddeoT)]^ (s. meine Abhandlung: Der Vorwurf des
Atheismus in den drei ersten Jahrhunderten, Texte u. Unters. Bd. 28 Heft 4):
Plinius, bist. nat. XIII, 4, 46: ,gens contunielia uuminum insignis"; Tacitus,
hist. V, 5: „ludaei mente sola unumque numen intellegunt .... igitur nulia
simulacra urbibus suis, nedum templis sistunt; non regibus haec adulatio,
non Caesaribus honor." Juvenal, Satir. XIV, 97: „nil praeter nubes et caeli
numen adorant," etc. etc. Zu /tiiaai'i^fjcojria und d/xi^ia: Tacitus, 1. c: „apud
ipsos fides obstinata, misericordia in promptu, sed adversus omnes alles
hostile odium" ; schon früher Apollonius Molen (bei Josephus, c. Apion. II, 14).
Schürer, Geschichte des jüd. Volks IIP S. 418.
^) Doch s. die epistula Aristeae §16 (ed. Wendland, 1900, p. 6): zöv
^dvTcov ijiöjTTtjv xat xtioxjjv dsov ovioi oißovrai , ov y.al jiärzsg , i'jfisTg ds ur.Qoa-
ovoj-Mi^ovieg irsQCog Zf/va y.al Aia.
15*
228 Die ]\Ii.ssionspredigt in Wort und Tat.
geläufig, daß die Juden eine Volkserscheinung für sich sind, daß dagegen
die anderen Völker gemeinsame Merkmale haben, welche jenen fehlen'. In
allen Provinzen und Städten ferner unterschieden sich die Juden — und nur
sie — durch ihre staatsrechtliche Stellung und ihr bürgerliches Verhalten
von der Bevölkerung, unter welcher sie lebten. Aber eben diese Einzigartig-
keit wurde ihnen als Mangel an Gemeinsinn und Patriotismus, als Schimpf
und Schande ausgelegt — von Apollonius Molon und Posidonius an bis zu
Plinius, Tacitus und den Späteren^, wenn auch einige Einsiehtigere den
„philosophischen" Charakter der Juden nicht verkannten'.
Aus diesem jüdischen Volke sich entbindend, trat nun die Christenheit
den Griechen und Römern entgegen. Einiges, was bei den Juden Anstoß
erregte, fehlte hier, aber das Anstößigste erschien in potenzierter Gestalt —
die udeört]g und die ujui^ia (juioavdgco.-rta). Daher wurde die christliche
Religion als „superstitio nova et malefica" *, als „superstitio prava, immo-
dica" ^ als „exitiabilis superstitio"^, als ,vana et demens superstitio"", die
Christen selbst als „per flagitia invisi" bezeichnet und ihnen das „odium
generis humani" schuld gegeben*.
Wohl urteilten im Laufe des 2. Jahrhunderts und im dritten einige ver-
ständige Leute anders — Lucian sieht in den Christen halbverrückte, leicht-
gläubige Schwärmer, denen er jedoch seine Achtung nicht ganz entziehen
kann, Galen erklärt ihre Lebensweise für philosphisch und spricht mit hohem
Respekt von ihnen ^ Porphyrius behandelt sie und namentlich ihre Theologen,
die Gnostiker und Origenes, als respektable Gegner'", aber die große Menge
der Literaten blieb dabei, daß es sich um eine ganz abscheuliche Erscheinung
handle. ,Latebrosa et lucifuga natio", ruft der Heide Cäcilius bei Minucius
') Eine scharfe Dreiteilung (Ägypter, Hellenen, Juden) fand in Ägypten
statt, s. Schürer, 1. c. IIP S. 2o.
'•') Apollonius Molon bei Josephus, c. Apion. II, 14: „die unfähigsten unter
den Barbaren, äOeoi , faaürdoa>:Toi''. Seneca bei Augustin, de civit. VI, 11:
jSceleratissima gens". Tacitus, bist. V, 8: ..despectissima pars servientium_ —
laeterrima gens". Plinius, 1. c. Marc Aurel bei Ammian XXII, 5. Caecilius
bei Minucius Felix 10: „ludaeorum misera gentilitas".
^) Aristoteles nach Clearch: q-döao^foi .-ragä Zroocg. Theophrast nach
Porj^hyrius: ärs (pilöoocfoi tö yivoc ovTFg. Strabo XVI, 2, 35 p. 760 f. Varro
bei Augustin, de civit. IV, 31.
*) Sueton, Nero 16. — '") Plinius. ep. X, 96 (97).
«) Tacitus, annal. XV, 44. — ') Minuc. Felix 9.
8) Tacitus, I.e., cf. Tertull. Apol. 35: „publici hostes" ; 37: „bestes ma-
luistis vocare generis humani Christianos". Minucius c. 10: ^pravae religionis
obscuritas"; c. 8: ,.homines deploratae, inlicitae ac desperatae factionis" ;
^plebs profanae coniurationis" ; c. 9: ,sacraria taeterrima impiae coitionis";
„eruenda et execranda consensio".
") Die Stelle ist nur im Arabischen erhalten (s. o. im 4. Kap.").
'") Über die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion und
ihre heiligen Bücher Neuen Testaments haben Porphyrius und die Neuplato-
niker im allgemeinen nicht günstiger geurteilt als Celsus, und auch im Alten
Testament landen sie viel Unsinn und Lnge (darin mit den christlichen
Gnostikern übereinstimmend); ja niemand, auch Celsus nicht, hat die evan-
gelische Geschichte so scharf und abschätzig kritisiert wie Porphyrius. Allein
erstlieh erschien ihnen manches, Avas in eleu Büchern Mosis zu lesen stand
und bei Johannes, wertvoll, sodann hatten sie vor der christlichen Religions-
philosoi)hie einen hohen Respekt und suchten sich mit ihr ernsthaft aus-
einanderzusetzen. Dabei erkannten sie, daß ihnen die kirchliche Religions-
philosophie viel näher stand als die gnostische; denn das abschätzige Urteil
über die Welt, welches sie in dieser fanden , und der Dualismus erschienen
Die Beurteil, der Christen als drittes Geschlecht seit, ihrer Gegner. 229
Felix (c. 8f.) aus, „in j)ublicum muta, in angulis garrula; templa ut busta
despiciunt, deos despuunt, rideut sacra" . . . „occultis se notis et insignibus
no.scunt et aniant mutuo paeue antequam noverint" . . . ^cur nullas aras
habent, templa nulla, nulla nota siraulacra . . . nisi illud quod coluut et
interprimunt, aut punienduiii est aut pudendum? unde autem vel quis ille
aut ubi deus unicus, solitarius, destitutus, quem non geus libera, non
regna, non saltem Romana superstitio uoveruntV Judaeorum sola et misera
gentilitas unum et ipsi deum, sed palam, sed temi^lis, aris, victimis caeremo-
niisque coluerunt, cuius adeo nulla vis ac potestas est, ut sit Romanis
numinibus cum sua sibi natione captivus. at iam Christiani quanta monstra,
quae portenta coufingunt!" Man sieht — Cäcilius sieht eine absteigende
Reihe vor sich in bezug auf die numina und den cultus: Romani, Judaei,
Christiani.
So monströs, so widerlich sind diese Christen — Cäcilius erzählt des
weiteren die schlimmsten Dinge von ihrem Glauben und ihrem Leben — ,
daß sie gleichsam aus der übrigen Menschheit herausfallen. So nennt sie
denn auch Cäcilius eine „uatio", obschon er weiß, daß sie sich aus der Hefe
der Völker rekrutieren, also kein Volk im nationalen Sinne sind. Der Christ
Octavius muß sie gegen diesen Vorwurf, eine unmenschliche Erscheinung
zu sein, verteidigen, und noch eingehender tut das Tertullian im Apologeticus
und in der Schrift ad uationes. In beiden Schriften ist die Abwehr des Vor-
wurfs, die Christenheit sei etwas ganz unmenschlich Eigenartiges, ein
Hauptpunkt. „Alia nos, opinor, natura, Cynopennae fCynopaeV] aut Scia-
podes", heißt es Apolog. 8, „alii ordines dentium, alii ad incestam libidinem
nervi? . . . homo est enim et Christianus et quod et tu." Und Apol. 16 muß
Tertullian böse Lügengeschichten in bezug auf die Christen widerlegen, die,
wären sie wahr, die Christen wirklich als eine ganz besondere Art von
Menschen erscheinen ließen. Aber in Wahrheit — „Christiani homines sunt
vobiscum degentes, eiusdem victus, habitus, instructus, eiusdem ad vitam
necessitatis. neque enim Brachmanae aut Indorum gymnosophistae sumus,
silvicolae et exules vitae . . . si caeremonias tuas non frequento, attamen et
illa die homo sum" (Apol. 42). „Cum concutitur Imperium, concussis etiam
ceteris membris eins utique et nos, licet extranei a turbis aestimemur',
in aliquo loco casus invenimur" (Apol. 31). Daß die Christen als etwas ganz
Absonderliches auffielen, trat auch in den Spott- und Schimpfnamen, die
man ihnen gab, hervor (cf. z. B. Apol. 50).
ihnen wie ein frivoles Attentat an der Gottheit. Dagegen erklärte Porphyrius
von Origenes: „Sein äußeres Leben war das eines Christen und widergesetz-
lich; in bezug auf seine Ansichten von den Dingen und von der
Gottheit aber dachte er wie ein Hellene, schob aber die Vorstellungen
der Hellenen fremden Mythen unter" (bei Euseb , h. e. VI, 19). Über Plotins
Stellung zur kirchlichen Gnosis und zum Gnostizismus vgl. Karl Schmidt
in den , Texten u. Unters." N. F. Bd. V Heft 4.
') Daher die wohl verständliche Aufforderung an die Christen: „Packt
euch aus der Welt, in die ihr nicht gehört, und macht uns keine Beschwerde";
vgl. die bereits oben zitierte Stelle aus Justin. Apolog. 11,4, wo die Gegner
zu den Christen sprechen: nüvzeg e.avzovg <povevoavrEQ sroosveade tjdt] ;iaoä xbv
dein' xol ij/iiTy :ioäyi.iaia ///) jiaosyjrs. Tertullian erzählt (ad Scapulam .5),
Arrius Antoniuus, der Prokonsul Asiens, habe den Christen, die sich freiwillig
und scharenweise zur Zeit einer Verfolgung um sein Tribunal drängten , zu-
gerufen: „Ihr Unseligen, wenn ihr sterben wollt, so habt ihr Abgründe und
btricke." Celsus (bei Orig. c. Cels. Vlll. 55) schreibt: „Wenn die Christen es
unter ihrer Würde halten, sich an den religiösen Feierlichkeiten zu beteiligen
und den Vorstehern derselben Verehrung zu erweisen, so sollen sie nicht zu
230 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
Alles dies findet sich ebenso in den beiden gleichzeitig mit dem Apolo-
jreticus geschriebenen Büchern ad nationes, aber hier tritt noch ein Moment
hinzu, welches unsere besondere Aufmerksamkeit erregt. Tertullian sagt.
die Christen würden von ihren Gegnern „genus tertium" genannt. Die Stellen
sind folgende:
„adnat. I, 8: ,,Plaue, tertium genus dicimur. an Cynopennae aliqui
vel Sciapodes vel alic^ui de subterraueo Antipodes? si qua istic apud vos
saltem ratio est, edatis velim primum et secundum genus, ut ita de tertio
constet. Psammetichus quidem putavit sibi se de ingenio exploravisse
Ijrima generis. dicitur enim infantes recenti e partu seorsum a comniercio
hominium alendos tradidisse uutrici, quam et ipsam propterea elinguaverat,
ut in totum exules vocis humanae non auditu formarent loquellam, sed
de suo promentes eam primam notionem designarent cuius sonum natura
dictasset. prima vox „beccos" renuntiata est; interpretatio eins „panis"
apud Phrygas nomeu est; Phryges primum genus exinde habentur . . .
sint nunc primi Phryges, non tamen tertii Christiani. quantae enim aliae
gentium series post Phrygas? verum reeogitate, ne quos tertium genus
dicitis principem locum obtineant, siquidem non uUa gens non Christiana.
itaque quaecumque gens prima, nihilominus Christiana. ridicula dementia
novissimos dicitis et tertios nominatis. sed de superstitione tertium
genus deputamur, non de natione, ut sint Romani, Judaei, de-
hinc Christiani. ubi autem Graeci ? vel si in Romanorum superstitioni-
bus censentur, quoniam quidem etiam deos Graeciae Roma soUicitavit,
ubi saltem Aegyptii, et ipsi, quod sciam, privatae curiosaeque religionis?
porro si tarn moustruosi, qui tertii loci, quales habendi, qui
primo et secundo anteceduntV"
Ferner ad nat. I, 20 [nachdem gezeigt worden, daß die den Christen
gemachten Vorwürfe auf ihre Ankläger, die Heiden, zurückfallen]: .,habe-
tis et vos tertium genus etsi non de tertio ritu, attamen de tertio
sexu. illud aptius de viro et femina viris et feminis iunctum."
Männern heranwachsen, noch Weiber nehmen, noch Kinder haben, noch mit
den Dingen des Lebens sich irgendwie befassen, sondern sich vielmehr von
hier in aller Eile fortmachen, ohne Nachkommen zu hinterlassen, damit diese
Art Ito ToiovTov yevog) auf Erden gänzlich ausgerottet werde." Die Keichs-
und Kaiserfeindschaft sowie die wirtschaftliche Unfruchtbarkeit waren stehende
Vorwürfe gegen die Christen , denen die Apologeten (besonders Tertullian)
entgegenzutreten sich bemühten. Celsus sucht den Christen zu zeigen, daß
sie den Ast abzusägen suchen, auf welchem doch auch sie sitzen (VllI, 68):
„Handelten alle wie du, so wäre der Kaiser (ßaadevg) bald allein und ver-
einsamt, so würden die Dinge auf Erden in kurzem in die Hände der wil-
desten und abscheulichsten Barbaren geraten, und um den Ruhm deiner
Gottesverehrung und um den der wahren Weisheit unter den Menschen wäre
es geschehen." Da unter allen Religionsbekennern fast allein die Christen
iür reichsfeindlich galten, so wurden sie bekanntlich vom Pöbel für die groJ.^en
Kalamitäten verantwortlich gemacht. Die Stellen bei Tertullian sind bekannt;
vgl. aber auch die parallelen Ausführungen bei Origenes, in Matth. comment.
ser. 39. Auch von hier aus erschienen die Christen als eine Gruppe für sich.
Maximinus Daza spricht in seinem Reskript an Sabinus (Euseb , h. e. IX, 9)
von dem „si)voc:" tmv XQioziavcTjv. Daß es den Christon gelungen ist, die
verschiedenen Völker zu einer relativen Einheit durch ihre Gesetze zu ver-
binden, sagt das Edikt des Galerius widerwillig (bei Euseb., h. e. Vlll, 17, 7):
roouvrri avToi'g nlforr'^ia xaT£ayj'jX£i. xai ävoia xazfiXt'jcpsi , w? (xr] t'jieadni roLg
V7TO Töjv jtÜ/mi xutnfiec/^dnaiv . . . aXla xaza if/v avTtöv jigö&eotv xni mq fxnoiog
fßov'/.fio, ovriog iavToTg xal vöfiovg TioiTjoai xnl rovrorg :Tuoa(/ v/.urTfiy xat ev
diaf/.ÖQoig diü(fOiia Ji/.t'/dtj avväysiv.
Die Beurteil, der Christen als drittes Geschlecht seit, ihrer Gegner. 231
Dazu eine Stelle aus der Schrift Scorpiace (c. 10: Anrede an die
martyriumsscheuen Häretiker): „Illic constitues et synagogas Judaeorum,
fontes persecutionum, apud quas apostoli flagella perpessi sunt, et populos
nationum cum suo c^uidem circo, ubi facile conclamant: ,Usque quo
gen US tertium'?"
Aus diesen Stellen geht folgendes hervor:
(1) Die Bezeichnung der Christen als ,genus tertium" seitens der Heiden
war um das Jahr 200 in Carthago ganz geläufig; selbst im Zirkus wurde
gerufen: ,,Usque quo genus tertium?"
(2) Die Bezeichnung bezog sich ausschließlich auf die Art der Gottes-
vorstellung und die Gottesverehrung: als „genus primum" galten Griechen,
Kömer und alle übrigen Völker, sofern sie gegenseitig ihre Götter anerkennen,
bezw. auch fremden Göttern Ehre erweisen, und Opfer und Bilder haben und
sich dem Kaiserkultus unterwerfen; das „genus alterum" waren die Juden
(Nationalgott, Exklusivität, Bildlosigkeit, aber Opfer)*; das „genus tertium"
bildeten die Christen (geistiger Gott, Bildlosigkeit, keine Opfer, „contemnere
deos" wie die Juden) -.
(3) Wenn Tertullian so spricht, als könne sich die ganze Unterscheidung
auf die zeitliche Aufeinanderfolge der Völker beziehen, so ist das nur pole-
mische Dialektik; auch mit der Jungfräulichkeit der Christen oder umgekehrt
mit den ihnen zur Last gelegten geschlechtlichen Ausschweifungen hat die
Bezeichnung „tertium genus" nichts zu tun ^.
Das was sich hier ergeben hat*, ist von hoher Bedeutung für den Ein-
1) Cf. ad nat. I, 8.
-) Vgl. den runden Satz ad nat. I, 8: „de superstitione tertium genus
deputamur, non de natione, ut sint Romani, Judaei, dehinc Christiani"; dazu
1,20: „tertium genus [dicimur] de ritu". Da(3 sich Tertullian in dieser Deu-
tung der Bezeichnung geirrt haben sollte, scheint mir ganz ausgeschlossen
zu sein.
^) Stellen lassen sich wohl nachweisen, in denen die Jungfräulichkeit
(Geschlechtslosigkeit) oder die widernatürliche Uuzucht als „genus tertium"
oder überhaupt als „genus" aufgefaßt wird (TertulL, de virg. vel. 7: „Si caput
mulieris vir est, utique et virginis, de qua fit mulier illa quae nupsit, nisi si
virgo tertium genus est monstruosum aliquod sui capitis"); cf. 1. c. c. 5:
das weibliche Geschlecht als „genus secundi hominis"; Pseudocypr. , de
pudicit. 7: „virginitas neutrius est sexus" ; Clemens Alex., Paedag. II, 10,85:
ov8s yäg atSoTa f^ei t) vcava afia ä/nq^w, äogevog xai ßt'j^.eog, xadcog vjieih'jffaoi
riveg, egfia(poodirovg reQaroloyovvTFg xai ZQirrjv zavztjv fisra^v OrjXsiag xai
äggevog avbgoyvvov xaivoTOjiiodvz sg (pvoiv, cf. andererseits 1. C. 1,4,11:
es gibt ein Drittes. Gemeinsames über den beiden Geschlechtern, das Mensch-
seiu und der Kindesstand; Lampridius, Alexander Sev. 23: „Idem tertium
genus hominum eunuchos esse dicebat" ; aber diese Stellen gehören offenbar
nicht hierher.
*) Merkwürdig ist, daß Tertullian die Charakteristik „tertium genus"
für die Christen überhaupt nur als heidnische Bezeichnung zu kennen scheint
und nicht auch als christliche. Aber selbst wenn er es verschwiege, daß
auch die Christen selbst ihre Religion „die dritte Art" nennen, so müßte
man doch annehmen, daß die Bezeichnung spontan sowohl hei den Christen
als bei ihrem Gegnern entstanden ist; denn es ist nicht wahrscheinlich, wenn
auch nicht unmöglich, daß diese sie der christlichen Literatur entnommen
haben. (Es müßte denn sein, daß Fronto in einer verlorenen Schrift gegen
die Christen von dem „genus tertium", das er in christlichen Schriften fand,
polemischen Gebrauch gemacht hat und durch ihn der terminus in weitere
heidnische Kreise gekommen ist. Aber gerade bei Minucius findet er sich
nicht). Ich erinnere noch einmal an die chronologische Aufeinanderfolge der
232 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
druck, den das Christentum (und das Judentum) * auf die Heidenwelt gemacht
hat. Die Christen selbst haben bereits am Anfang des 2. Jahrhunderts ihre
Gottesverehrung als „ die dritte Weise " bezeichnet (s. oben das aus der
Praedicatio Petri gewonnene Zeugnis) und um das Jahr 240 rund erklärt:
,Wir sind das dritte Geschlecht der Menschen" (s. das Zeugnis der Schrift
de pascha couiputus-) — nun hat sich gezeigt, daß die Heiden ihrerseits
diese Betrachtung aufgenommen haben, auch sie haben (und zwar schon vor
200)^ die Juden als das zweite und die Christen als das dritte Geschlecht
bezeichnet, und zwar aus demselben Grunde wie die Christen selbst: um der
Art der Religion willen.
Das ist erstaunlich! Man ist doch nicht darauf gefaßt, daß sich für
das römisch -griechische Bewußtsein die Juden so stark von den übrigen
Völkern und die Christen von beiden abhoben, daß sie sich als selbständige
j-genera" darstellten und in einer runden Formel so bezeichnet wurden. Eine
größere Anerkennung konnten diese wie jene nicht erwarten*, so wenig die
Unterscheidung als Anerkennung gemeint war.
Eine Bekräftigung, daß die Trias, „Römer usw., Juden, Christen", wirklich
den Gegnern der Christen .stets vorschwebte, bieten die Streitschriften gegen
die Christen. Soweit wir solche kennen, befolgen sie sämtlich das Schema:
die Juden stechen bereits von allen anderen Völkern und Religionen ab und
bilden, nachdem sie die Ägypter verlassen haben, eine häßliche Gattung für
sich; von diesen Juden haben sich nun die Christen g-etreunt, das Schlimmste
Erscheinungen: am Anfang des 2. Jahrhunderts nennt ein Christ (der Ver-
fasser der Praedicatio Petri) die christliche Gottesverehrung ,die dritte Art",
im J. 197 sagt Tertullian: „tertium genus dicimur"; im J. 242/3 schreibt ein
römischer oder africanischer Christ (Pseudocyprian) : „tertium genus sumus".
*) Auch das Judentum; denn wir konnten oben nicht ganz sicher fest-
stellen, daß eine Formel geläufig war, welche die Juden von allen anderen
Völkern in bezug auf ihre Gottesvorstellung und Gottesverehrung unterschied.
Nun sehen wir es klar: Die Juden galten in dieser Beziehung als eine Größe
für sich, als das „genus alterum".
^) l'aß wir oben i-ichtig vermutet haben, daß dem dritten Geschlecht
gegenüber für Pseudocyprian die Römer usw. das erste Geschlecht sind und
die Juden das zweite, ist nun klar.
^) Wie lange vorher, wissen wir nicht — • am Ende des 2. Jahrhunderts
war jedenfalls die Bezeichnung in Carthago geläufig. Man kann daher schwer-
lich daraus ein Argument gegen die Echtheit der Epistula Hadriaui ad Ser-
vianum (s.o.) entnehmen, daß sich hier die Dreiteilung findet: „hunc [num-
mum] Christiani, hunc Judaei, hunc omnes venerantur et gentes". Aber
die Bezeichnung der Römer, Griechen usw. als „gentes" ist allerdings sehr
bedenklich und verrät, wenn ich nicht irre, eine christliche Feder.
■*) Durch Varro, das Genie der Klassifikation, war man zunächst in den
literarischen Kreisen daran gewöhnt worden, auch die Götter und die Reli-
gionen einzuteilen. Es mag sein, daß unter der Einwirkung seiner Schriften
(mit denen sich auch Tertullian in seinen Traktaten ad nationes viel zu
schauen macht) zuerst bei deu Gelehrten die Unterscheidung des Judentums
und des Christentums als ,.zweite und dritte Weise" aufkam und daß sie
dann allmählich ins Volk gedrungen ist. Daß die bei den Ägyptern vs. o.)
geläufige, ganz andersartige Unterscheidung von den drei yhn] (Ägypter,
(iriechen, Juden) auf die neue Klassifikation von P^influß gewesen i.st, ist
völlig unwahrscheinlich. Einmal geschaffen, mußte jene mit eigener Logik
weiter wirken und Judentum und Christentum in ein Licht setzen, welches
ursprünglich gewiß nicht beabsichtigt war: die drei Ringe, die drei mög-
lichen Religionen I Merkwürdig, daß Tertullian im gleichzeitig geschriebenen
Apologeticus nichts von dem „genus tertium" sagt. War ihm die Sache den
Statthaltern gegenüber nicht bedeutend "enugV
Die Beurteil, der Christen als drittes Geschlecht seit, ihrer Gegner. 233
des Judentums beibehaltend und Widerlicheres und Abstoßenderes hinzu-
fügend. So sind Celsus, Porphyrius und Julian in ihren Werken gegen die
Christen verfahren. Celsus spricht von dem yt'ros der Juden und Christen,
stellt beide ysvi] in den schärfsten Gegensatz zu den übrigen Völkern, um
dann zu zeigen, daß sich die Christen, als abgefallene Juden, von diesem
ysvo?, das doch wenigstens ein Volk ist, noch zu ihrem Nachteil unter-
scheiden. Er charakterisiert die Christen (VIII, 2) als ajioTsiyi'QovTf.g savrov<;
xal djTooQijyvvvtsg oltto twv louriin' dvÜQojjicor, dabei ist doch alles bei ihnen
nur Plagiat vom Plagiat und Kopie von der Kopie; au sich haben sie kein
neues /(nOijfia (l, 4; cf. II, 5; IV, 14); nur weil sie von allem das Schlechteste
zurückbehalten haben, stellen sie ein solches dar und infolge ihrer Haltung,
nämlich des oxaoiäCfiv nQog zo xoivöv ^ Porphyrius — er ist wohl der anti-
christliche Polemiker, den Eusebius in der Prae2>aratio (I, 2) berücksichtigt^ —
betrachtet zunächst die Christen als etwas Unmögliches, weil sie weder zu
den Hellenen noch zu den Barbaren gehören wollen und gehören. Dann
heißt es: xal lurjd' avuo reo Jtagä 'lovdaioi? zi/io)/isv(p deo) xaxa tu Jtag'' avioi?
jTQoaav£)^£iv vöfiißa, xaivtjv 8s riva xal eQ-/}^u]v dvoSiav savzoig ovvz£f.isiv fi/jZE rä
'EDJp'Cüv i^irjze zä 'lovöaicov <pv?Mzzovoav. Also auch hier die Dreiteilung. Julian
endlich (Neumann p. 164) befolgt ebenfalls die Unterscheidung: "Elkrjveg,
'lovSaToi, FakdaloL. Die Galiläer sind weder Hellenen noch Juden, sondern
sind vom Judentum ausgegangen, haben sich aber auch von diesem losgesagt
und einen Weg für sich eingeschlagen. „Sie haben verworfen, was an schönen
und bedeutsamen Lehren bei uns Hellenen und bei den auf Moses zurück-
gehenden Hebräern sich findet, von beiden aber für sich abgehoben, was
diesen Völkern wie ein unheilvoller Dämon sich angeheftet hat, die Gott-
losigkeit von der Leichtfertigkeit der Juden, ein leichtsinniges und lockeres
Leben von unserer Sorglosigkeit und Gemeinheit."
Man sieht — durchweg werden auf Grund der Religion Hellenen, Juden
und Christen unterschieden, wenn sich auch die runde Formel „das dritte
Geschlecht" nur im Abendland fiudet. Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts
lernten Kaiser und Keich dieses dritte Geschlecht von Religions Verehrern
auch als „Volk", als Staat im Staate kennen und fürchten. Das instruktivste
Zeugnis ist in dieser Hinsicht das, was Cyprian (ep. 55, 9) von Decius be-
richtet: „multo patientius et tolerabilius audivit levari adversus se aemulum
principem quam constitui Roniae dei sacerdotem". Das furchtbare Verfolgungs-
edikt dieses Kaiser-Si ist zunächst die tatsächliche Antwort des Staats auf die
Ansprüche des „neuen Volks" und auf die politische Betrachtung, welche
Melito und Origenes empfohlen hatten. Die intensive Stärke der neuen
Religion tritt sowohl in der Selbstbeurteilung „Neues Volk", „Drittes Ge-
schlecht" hervor als in dem den Gegnern abgezwungenen Zeugnis, daß hier
wirklich ein neues genus religionis neben den Religionen der Völker und
des Judentums in die Erscheinung getreten ist. Für die extensive Stärke
des Christentums läßt sich hieraus direkt wenig entnehmen; denn jene Be-
urteilung trat bereits zu einer Zeit hervor, wurde geltend gemacht und an-
erkannt, als die Christen noch eine numerisch nicht sehr große Gemeinschaft
waren ^. Aber für die Propaganda der christlichen Religion mußte es von
') Das zqItov yh'og , von welchem Celsus in ziemlich unklarer Weise
V, 61 spricht, hat mit dem dritten Geschlecht nichts zu tun, das uns hier
beschäftigt; denn es handelt sich dort um innerchristliche Unterscheidungen.
^) S. V. Wilamowitz -Möllendorf in der Zeitschr. f. neutestament-
liche Wissensch. I, 2 S. 101 ff.
^) Ganz unbedeutend können sie übrigens nicht gewesen sein; denn
sonst wäre die Beurteilung unverständlich. Sie müssen doch mit den Juden
an Zahl bereits rivalisiert haben.
234 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
höchster Bedeutung sein, daß sie sich so deutlich von allen anderen Reli-
gionen abhob und so ein hohes Selbstbewußtsein zur Schau trug'. Freilich
wirkte dies in weiten Kreisen auch abstoßend, aber es war doch ein Zeichen
von Kraft, und der Kraft fehlt der Erfolg niemals.
Achtes Kapitel.
Die Religion des Buchs und der erfüllten Geschichte.
Religion des Buchs im eigentlichen Sinn des Worts wie der
Islam ist das Christentum nie gewesen und nie geworden (erst
in viel späterer Zeit, im strengsten Calvinismus, drohte die kon-
sequente Ausgestaltung der Religion des Buchs; indessen auch
hier blieb doch die Glaubensregel das Steuer). Allein das Buch
d. h. zunächst das Alte Testament übte doch eine Wirkung aus,
die das Christentum bis an die Grenze brachte, Religion des Buchs
zu werden. Paulus, richtig verstanden, wehrte freilich dieser
EntvV'icklung, und große Kreise in der Christenheit — Gnostiker
und Marcioniten — schritten sogar dazu fort, das Alte Testament
ganz zu verwerfen, bez. es einem anderen Gott, sei es auch einem
gerechten und vom höchsten Gott abhängigen, zuzuschreiben^;
aber in der großen Kirche lehnte man mit Entrüstung die Kritik
der Gnostiker ab, und die komplizierte Stellung des A})ostels Paulus
zu dem Buche verstand man nicht. Es blieb, allegorisch erklärt,
bei diesen Christen das heilige Buch wie bei den Juden, denen
man es entreißen wollte.
Diese Stellung zu dem Alten Testament ist wohl verständlich.
Welche andere Religionsgemeinschaft konnte ein ähnliches Buch
aufweisen ^ ! Wie überwältigend mußte der Eindruck bei Griechen,
bei gebildeten und ungebildeten, sein und bleiben, nachdem man
es kennen gelernt hatte ! Mochten auch noch so viele Einzel-
heiten befremdlich oder anstößig sein — das, was belehrte und
') Schon das Judentum verdankte seine Propaganda zu einem nicht
geringen Teile seiner Apologetik und innerhalb der Apologetik der Selbst-
.schiltzung, die es entwickelte; s. Schürer, Gesch. des Volkes Israel IIP
S. 107 tf.
^) S. l)eispielsweise den Brief des Ptolemäus an die Flora und meine
Abhandlung über ihn in den Sitzungsber. d. K. Pr. Akad. d. Wiss. 1902, 15. Mai.
*) Beides -war von Vorteil, daß es in griechischer Sprache zugänglich
war, und daß man von dem hinter der Übersetzung liegenden hebräischen
Text wußte. Über die Septuaginta s. die Studien von Nestle und Üeiß-
mann, ferner vgl. den Aristeasbrief (edid. Wendland, 1900).
Die Religion des Ruchs und der erfüllten Geschichte. 235
begeisterte, ■wog- sie rciclilicli auf. Allein schon das hohe Alter,
und man steigerte es für einzelne Teile um Jahrtauseiule \ ent-
schied für seinen unvergänglichen Wert; das aber, was man in
ihm las, erschien teils als eine AVeit von Geheimnissen, teils als
ein Kompendium der tiefsten AVeisheit. Durch den unerschöpflichen
Reichtum des Stoifs, seine Mannigfaltigkeit, A'ielseitigkeit und
Extensität, erschien es wie ein literarischer Kosmos, eine zweite
Schöpfung, der Zwilling der ersten-. Das war sogar der stärkste
Eindruck: daß dieses Buch und das AVeltganze zusammengehören
und dem gleichen Urteil unterliegen, war die verbreitetste Meinung
unter den Griechen, die von dem Alten Testament berührt waren.
Mochten sie über das Buch noch so verschieden denken — daß
es eine Parallelschöpfung zur AVeit sei, so groß und umfassend
wie sie, und daß beide Größen auf einen Urheber zurückgehen,
erschien auch den meisten Gnostikern und den Marcioniten das
Sicherste (die Großkirchenleute aber erkannten in diesem Gott den
höchsten Gott selbst) 3. Über welches andere Buch ist jemals in
der Geschichte von denkenden Alenschen ein ähnliches Urteil ge-
fällt worden*!
Daß das Buch die Propaganda der Christen mächtig verstärkt
hat, ist gewiß; vergebens reklamierten die Juden ^. AVir besitzen
aber ein positives Zeugnis dafür, daß das Alte Testament die
eigentliche Brücke zum Christentum für manchen gewesen ist.
') Triumphierend ruft Tertullian in dem Traktat de pallio c. 2 aus:
,Bei euch geht die tieschiehte nur bis zu den Assyriern ; wir sind im Besitz
der Weltgeschichte" (\,Ferme apud vos ultra stilus non solet. ab Assyriis,
si forte, aevi historiae patescunt. c|ui vero divmas lectitamus, ab ipsius
inundi uatalibus compotes sumus').
^) Daher auch die zahlreichen Namen für das Buch, die teils von seinem
Ursprung, teils von seinem Inhalt (acor/jQia yga/ußara) genommen sind.
') Einige Gnostiker unterschieden — abgesehen vom höchsten Gott —
den Schöpfergott und den Gott des Alten Testaments. Diese Unterscheidung
trat überall dort ein, wo man die Natur noch ungünstiger beurteilte als die
religiöse Kultur, wie sie vor Christus bestanden hat. Die Natur ist grausam
und tötet, das Gesetz ist relativ sittlich.
■*) Augriffe der Gnostiker und der Heiden fehlten nicht; aber die der
letzteren müssen im ganzen selten gewesen sein. Wenn sie sich gründlicher
mit dem Buch beschäftigten, gewannen sie fast alle Respekt. „Unde scis
illos libros (Veteris Testamenti) unius veri et veracissimi dei spiritu esse
humano generi ministratos V" (bei Augustin, Confess. VI, 5, 7) ist ein mani-
chäischer bez. gnostischer Einwurf.
•*) Der Besitz des Buchs wurde ihnen einfach abgesprochen; ihr Unver-
ständnis des Buchs beweist, daß es ihnen nicht mehr gehört: ja selbst die
Meinung wurde laut (ep. Barnabae), daß es ihnen niemals gehört habe und
daß sie es sich widerrechtlich angeeignet hätten. „In Judaeorum oieastro
insiti sumus" (TertulL, de testim. 5 nach Rom. 11) — aber eben damit hat
der Oleaster sein Existenzrecht verloren.
236 Die Missiouspredigt in Wort und Tat.
Tatian schreibt (Orat. 20): „Als ich ernstlich das, was frommt,
erwog, fielen mir einige barbarische Schriften in die Hände, älter
als die Lehren der Griechen nnd göttlicher als ihr Irrtum. Diesen
gelang es, mich zu überzeugen, und zwar durch ihren
schlichten xVusdruck und die unstudierte Einfalt ihrer Verfasser,
durch die leichtfaßliche Darstellung der Weltschöpfung, durch die
A orkenntnis der Zukvmft. durch die Yortrefflichkeit ihrer Ver-
ordnungen und weil sie die alles beherrschende Monarchie Gottes
lehren. So wurde meine Seele von Gott unterrichtet, und ich
sah ein, daß die anderen Lehren zur Verdammnis führen, diese
a1)er die in der Welt herrschende Knechtschaft lösen und uns den
vielen Gewalthabern und unzähligen Tyrannen entziehen. Nicht
bringen sie uns etwas, was wir nicht schon empfangen hätten,
wohl aber etwas, was wir, obgleich wir es empfangen haben,
durch den Irrtum verloren hatten ^"
Dieses Bekenntnis ist besonders ausgezeichnet, sowohl durch
die Bestimmtheit, mit der es die Bedeutung des Alten Testaments
für den Übertritt zum Christentum hervorhebt, als durch die Voll-
ständigkeit imd Klarheit der Gründe, die es anführt. Erstlich
machte die Form des Buchs einen tiefen Eindruck; es ist charak-
teristisch für den Griechen Tatian, obschon er kein Grieche mehr
sein will, daß die Form das Erste ist, was er hervorhebt. Die
mächtige Sprache der Propheten und Psalmisten entzückte den
Mann, der durch die Rlietoren- und Philosophenschulen gegangen
war. Kraft gepaart mit Einfachheit — das war es, was ihm das
Buch so ganz anders erscheinen ließ als jene Traktate und un-
geheuren Rollen, in denen sich die Autoren mühsam abquälten,
über die höchsten Fragen ins Klare zu kommen. Das Zweite,
was der Apologet nennt, ist der Schöpfungsbericht der Genesis.
Auch das ist l)edeutsam und wohlverständlich: alle griechischen
Religionsphilosophen sind Kosmologen; hier war ein durchsichtiger
und faßlicher Schöpfungsbericht gegeben. Er schien nicht wie
Philosophie, und er schien auch nicht gewöhnlicher Mythus zu
s(!in; es war eine ganz neue Gattung, zwischen und über beiden.
Das kann nur Gott selbst gelehrt haben! Das Dritte, was Tatian
imponiert hat, waren die Weissagungen des Buchs : ein Blick auf
') S. auch .Justin, Dial. c. Tryph. 71'.: 'FJyh'orrö tlvs; .too jto?.Xov yoövov
ma-nov Tovzoyv töjv ro/ii^oiih'0}v (pilooöcpMv jTa?Mi6Tfoot, fiaxägioi xal biy.aioi y.ai
dforptlei?, dsüo nvEVuaxi )Mh)r,avTS<; xai ra [lüjMVTa dsojiloavTEg , a 8!) vvv yivs-
tuf jtQocpr'jxa? (ik amoin; xa).ovaiv' ovroi ftovot t6 d?,.)]i')i;g xai fiSov xai e^njrov
dv{)gcb:joi; , /irjx' Ei)?Mßt]{)h>Ti;g fu'jrs dvacojrrjßsvTEg zirä .... d?./.d fiöva xama
f('.Toj'Tfc « rjy.ovaar xai a eiäov dyiro jT).i]oioßevTEi; jirsufiaxi. ovyyd/j-fiaTa 8s (wtcov
f'ri xai vvv 8tn!thei xx).. . . . 'Efiov 8s jraoa/ofj/iia :!ZVQ iv xfj y>v/_fj dvr'jq^dij xai
sooj; sr/s /is x(7)v Ttporprjxojv xai xwr dr8ooJi> ixsivcor, ol' slai Xgioxov (pü.oi.
Die Religion des Buchs und der erfüllten Geschichte. 237
die akchrisrliclien Selirifrstcller. besonders die Aiiulo<^eten, zeii^'t,
welche Rolle der AVeissagungsbeweis gespielt, ja wie er alles
beherrscht hat; nur vermittelst des Alten Testaments konnte man
ihn führen. Das vierte Stück sind die Sittengebote: Tatiau hat
hier sicherlich in erster Linie an den Dekalog gedacht, der ja
auch solchen Gnostikern, die sich kritisch zum Ganzen des Buchs
verhielten, nur der A'ollendung zu bedürfen schien, den sie also
aus dem Übrigen hervorhoben '. Der Dekalog hat den Heiden-
christen stets als der Inbegriff der Moral gegolten, der nur durch
die Sprüche der Bergpredigt zu vertiefen sei ^. Das fünfte Stück
endlich, welches der Apologet nennt, ist der strenge Monotheismus,
der dem ganzen Buch das Gepräge gibt.
Damit sind in der Tat die Elemente genannt, die an dem
Buch besonders wichtig erschienen und es zur göttlichen Urkunde
stempelten. Überschaut man aber, welche Dienste es der christ-
lichen Kirche in den zwei ersten Jahrhunderten geleistet hat, so
ist folgendes festzustellen:
(1) Man entnahm dem Alten Testament die monotheistische
Kosmologie und Xaturbetrachtung. Die Evangelien und die pauli-
nischen Briefe setzen sie einfach voraus, aber legen sie nicht
ausführlich dar: in den alttestamentlichen Büchern aber fand man,
was man brauchte, zahllose Stellen, welche den Monotheismus
verkündigen und einschärfen und den Polytheismus bedräuen, so-
dann viele Stellen, welche Gott als den Schöpfer Himmels und
der Erde preisen und seine Schöpfung schildern.
(2) Alan erwies aus dem Buch, daß die Erscheinung und die
ganze Geschichte Jesu bereits vor Jahrlumderten, ja vor Jahr-
tausenden vorausverkündet, ferner daß die Stiftung des neuen
Volkes, welches sich aus allen Nationen bilden würde ^, von An-
beginn geweissagt und vorbereitet worden sei (s. o. S. 206 ff.)*. Die
eigene Religion erschien auf Grund dieses Buchs als die Religion
^) S. den Brief des Ptolemäus au die Flora.
^) Vgl. die „Apostellehre".
^) Die Meinung, die jüdischen Proselyten seien dieses neue Volk — ein
naheliegender Einwand — , wird von den Apologeten widerlegt. Xur die
Christen haben Anhänger ly. ziavxog ysvovg dr&Qcö.-rcov.
•*! Man vergleiche, um nur eine Stelle anzuführen, die Praedic. Petri
(bei Clemens, Strom. VI, 1.5): Hitelg avajiTv^avxEg rag ßt'ß/.ov; (ig sf/ofiev iwv
:joo(p>iTwv, ä fikv dtä niaoaßo/.cöv, ä de 6i airty/jaTOJv, ä ds avdevTiy.iög y.al amo-
/.E^el Tov Xqiotov 'Itjaovr ovoiial^övzwv, evQoiisr y.al rijv :jaoovöcav avzov y.al xov
ßdraroi' y.al tov aravgov y.al rag /.oi:iag y.o'/.äoeig :jäoag , öoag i:TOi)]aav avzw ol
'lordaioi, y.al ri]v eyeocbv y.al tijv elg ovgat'ovg avähpjnv :iq6 tov 'hoooö'/.vua
y.oidijvai, y.adwg eyeyoa^ro xavTa nävta d eöei avTov n.aßeiv y.al /<fr' avTov d
eoraf Tavza ovv i^riyrovreg i.-iiorevoafiev reo dtM öid Tcür yeyoaitixevov sig avTÖv.
Also auch dieser Schriftsteller erklärt, daß er auf das Alte Testament hin
238 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
der crfüllron Gcsehichro ; was ausstand, konnte nur noch eine
Spanne sein, und auch hier wird sich alles so erfüllen, wie es
geweissagt worden ist: dafür bietet das, was sich bereits erfüllt
hat, die sichere Gewähr. Mit Hilfe des Alten Testaments datier-
ten die christlichen Lehrer ihre Religion bis zum Anfang der
Dinge hinauf und verbanden sie mit der Schöpfung. Das wurde
eines der eindrucksvollsten Stücke der Misssionspredigt für Ge-
bildetere. Das Christentum erhielt dadurch einen Halt, wie ihn
außer dem Judentum keine andere Religion hatte. Aber man
muß sich eben deshalb hüten, das Alte Testament im Sinne dieser
Christen lediglich als Weissagung, dem die Erfüllung noch fehle,
aufzAifassen. Es ist allerdings das Ruch der AVeissao-unjyen. aber
eben deshalb lehrhaft bereits die vollständige Offenbarung
Gottes, die irgend welcher Zusätze nicht bedarf und nachträgliche
Änderungen ausschließt. Die geschichtliche Erfüllung — ,,Lex
radix evangeliorum". Tertull.. Scorp. 2 — erweist nur vor aller
Welt die Wahrheit jener Offenbarungen. So stellte man denn
auch aus dem Alten Testament das ganze Evangelium zusammen.
Handbücher dieser Art müssen in verschiedenen, aber ähnlichen
Rezensionen verbreitet gewesen sein.
(3) Man belegte in steigendem Maße Grundsätze und Ein-
richtungen der christlichen Gemeinde (nicht nur die bildlose geistige
Gottesverehrung, die Aufhebung der zeremonialgesetzlichen Vor-
schriften, die Taufe und das Abendmahl, sondern, wenn auch
zögernd, das christliche Priestertum, den Episkopat und die neuen
kultischen Einrichtungen) aus dem Alten Testament.
(4) Man benutzte das Buch zum Zweck der Paränese, indem
man nach dem Schema a minori ad malus verfuhr: wenn Gott
dies und jenes damals so und so belohnt und bestraft hat. wie
viel Größeres haben wir zu erwarten, die wir jetzt in der End-
zeit stehen und „die Berufung zur Verheißung'' empfangen haben.
(5) Man bewies aus dem Alten Testament (aus den Schelt-
reden der Propheten), daß das Judenvolk einen Bund mit Gott
nicht mehr besitze oder überhaupt nie besessen habe (s. o. S. 58 ff.),
und daß sein Untergang als Volk geweissagt sei ^
an Gott, deu Vater Jesu Cliristi, gläubig geworden ist. Tertull., Apol. 46:
„Ostendimus totum statum nostrum, et quibu.s modis probare possimus ita
e.sse sicut ostendimus, ex fide scilicet et antiquitate divinarum
litterarum, item ex confessione spiritualium potestatum'' [d.h. dem Zeugnis,
das die von uns vertriebenen Dämonen ablegen müssen]. Dies sind also die
beiden entscheidenden Beweise.
') Wie eindrucksvoll war das Argument: da seht ihr es. das jüdische
Volk ist zerstreut, der Tempel ist zerstört, die Opfer haben aufgehört, die
Fürsten aus dem Stamme Juda fehlen! Man vergleiche, in welchem Umfange
Eu.sebius in seiner Kirchengeschichte von diesen Tatsachen Gebrauch macht.
Die Religion des Buchs und der erfüllten Geschichte. 2'J9
(6) Man erbaute sich an dem Alten Testament, an den
Sprüchen des Gottesvertrauens und der Gotteshilfe, der Demut und
des heiligen Mutes, an seinen Heldengestalten und seinen Pro-
pheten, vor allem an seinen Psalmengesängen.
Das hier kurz Zusammengefaßte genügt, um die Bedeutung,
die das Buch für die alte Christenheit imd seine Mission hatte,
zu erkennen ^. Immer aber ist dabei vorausgesetzt, daß ein großer
Teil des Inhalts des Buchs allegorisiert, d. h. kritisiert und um-
gedeutet wurde. Ohne solche Umdeutungen war sehr vieles in
dem Buch für die Christen unannehmbar. ^Yer sie also nicht an-
') Eine gründliche Darstellung der Bedeutung und des Gebrauchs des
Alten Testaments in der alten Kirche besitzen wir noch immer nicht. Wie
eine solche anzulegen und durchzuführen sei, hat Wrede in seinen „Unter-
suchungen zum ersten Clemensbrief" (1891) gezeigt. Die Zusammenfassung
(S. 75 f.) stimmt mit der von uns gegebeneu übereiu: „Die Schriftbeuutzung
des Clemens ruht ganz auf der geraeinchristlicheu Voraussetzung, daß das
Alte Testament das eine, von Gott den Christen, ja gerade und eigentlich
den Christen gegebene heilige Buch ist, dessen Worte absolute Autorität
beanspruchen können und das erste und bedeutendste Fundament aller christ-
lichen .-Tctoddooig bilden. Es würde eine historisch ganz ungenügende Be-
zeichnung der Sache sein, wollte man sagen, daß das Alte Testament —
ganz oder teilweise — noch für den Christen in Geltung stehe, als ob der
Anerkennung erst irgendeine Reflexion vorangegangen wäre, und als ob nicht
der Besitz des wunderbaren und unfehlbaren Buches in den Augen der
Christen einer der einleuchtendsten und empfehleudsten Vorzüge der neuen
Religion gewesen wäre. Gar nicht kräftig genug kann mau sich mit der
Vorstellung durchdringen, daß damals jedwede Ahnung fehlte, daß sich einst
die Bildung einer zweiten heiligen Schrift neben, ja über der ersten voll-
ziehen werde." — Im Gottesdienst wurde regelmäßig aus dem Alten Testa-
ment vorgelesen, und seine Kenntnis wurde außerdem noch durch die kurzen
Chrestomathien und durch Schriften wie Cyprians „Tesstimonia" vermittelt.
Private Schriftlektüre hat nicht gefehlt, wie die Akten der Märtyrer von
Scili, mehrere Stellen bei TertuUian und Urigenes und andere Zeugnisse
beweisen. Origenes, Hom. 11 in Num. (t. 10 p. 19), meint, daß ein bis zwei
Stunden Schriftlektüre und Gebet für jeden Christen das kaum ausreichende
Minimum seien; Hom. in Levit. IX, 7 bezeichnet er als ,nutrimeuta spiritus"
die „divina lectio, orationes assiduae et sermo doctrinae". In Pseudoclemeus,
de virgiuit. I, 10 ist von der Schriftlektüre in kleinen Erbauungsversamm-
lungen in den Häusern die Rede. Justin nimmt in der Apologie an, daß
das A. T. leicht zugänglich sei und die Kaiser sich dasselbe daher leicht
verschaft'en könnten. Besonders instruktiv aber ist, was von Pamphilus in
Cäsarea (Hieron., adv. Rufin. I. 9) erzählt wird: „Scripturas sanctas non ad
legendum tantum, sed et ad habendum tribuebat promptissime, nee solum
viris sed et feminis, quas vidisset lectioni deditas. unde et multos Codices
praeparabat, ut cum necessitas poposcisset, volentibus largiretur. " Auch
durch Vorlesen (in kleineren Zirkeln oder öffentlich) verl)reitete sich die
Kenntnis der h. Schriften, s. Pseudoclemeus, de virginit. II, 6. Doch wird
Augustin mit seiner Klage (Confess. VI, 11, 18) nicht allein geblieben sein:
„übi ipsos Codices [seil, der h. Schriften] quaei-imus? unde aut quomodo com-
paramus? a quibus sumimusV"
•240 Die Missionspredigt in Wort und Tat.
erkennen wollte, der mußte das Buch ganz oder teilweise ver-
werfen^.
Nachdem das Xeue Testament geschaffen war — die größte
und selbständigste Leistung der ältesten Kirche, durch die sie ihren
Glauben als neue Religion legitimiert hat — , trat das Alte auf
einigen Linien zurück, aber doch nur auf wenigen; denn es liegt
auf der Hand, daß jenes Buch die Dienste an Hauptpunkten nicht
zu übernehmen vermochte, welche dieses leistete. Für die Dar-
1) Daß der Buchstabe in vielen Fällen unannehmbar sei, hat Origenes
— vor ihm schon Barnabas — mit aller Bestimmtheit ausgesprochen; man
vgl. z. B. Hom. VlI, 5 in Levit. (t. 9 p. 306 f.): .,Si adsideamus literae, et
secundum hoc vel quod ludaeis vel id quod vulgo videtur accipiamus, c[uae
in lege scripta sunt, erubesco dicere et confiteri, quia tales leges dederit
deus. videbuntur enim magis elegantes et ratiouabiles hominum leges, verbi
gratia vel Romanorum vel Atheniensium vel Lacedaemoniorum. si vero secun-
dum haue intelligentiam, quam docet ecclesia, accipiatur dei lex, tunc plane
omues humanas supereminet leges et veri dei lex esse creditur." Es wird
nicht überflüssig sein daran zu erinnern, daß jeder für autoritativ, zumal für
göttlich -autoritativ erklärte Text die allegorische Auslegung fordert; denn
die, welche seine Autorität erkannten oder schufen, verbanden in der Regel
dabei schon ganz andre Vorstellungen in bezug auf den Inhalt des Textes,
als dieser bei der historischen Erklärung darbot. Eben für jene Vor-
stellungen aber verlangten und schufen sie die Autorität. Das
Hohe Lied z. B. erotisch verstehen und dann doch die Autorität eines heiligen
Textes aufrechterhalten, ist der Gipfel des Widersinus, und erst dies wird
zur unerträglichen Last. Aber selbst mit einem Buch wie der Genesis steht
es nicht anders. Die, welche dieses Buch kanonisiert haben, haben nicht
einen jämmerlichen Jakob usw. kanonisieren wollen, sondern sie hatten sich
bereits alles zurechtgelegt und durch allegorische Unideutungen alles An-
stößige weggeräumt. Ja in diesem Falle kann man sogar fragen, ob nicht
schon der letzte Redaktor sich durch allegorische Auslegungen alles geglättet
hat, so daß nur die Quellen des Buchs „historisch" erklärt werden dürfen,
während das Buch selbst bereits (ganz abgesehen von seiner Kanonisierung)
eine allegorische Auslegung verlangt — welche, das müßte aus der Zeit
eben dieser letzten Redaktion festgestellt werden. Ist aber ein Text für
göttlich -autoritativ erkläit, so braucht man überhaupt nicht mehr ängstlich
zu fragen, wie ihn die, welche ihn kanonisierten, allegorisiert haben; denn
indem sie ihn für göttlich -inspiriert erklärten, boten sie ihn den Gläubigen
dar mit der stillschweigenden Anweisung: „Lest ihn so, daß ihr die höchste
Erljauung aus ihm schöpft; dann lest ihr ihn recht." Es muß nur irgend-
eine Brücke — sei es auch die schmälste und willkürlichste — vorhanden
sein zwischen dem Buchstaben des Textes und den hohen Gedanken, die man
an ihn anschließt. Sobald sie da ist, ist alles in Ordnung, und die Gedanken
dürfen als die Gedanken des Textes gelten. Im Grunde und mutatis mutandis
ist es mit menschlichen (iesetzbüchern nicht anders. Sie verlangen alle neben
der historischen Erklärung (im Sinne ihres Gesetzgebers) eine „allegorische"
Erklärung, d. h. sie lassen nicht nur zu, sondern fordern es, daß jede Er-
klärung als zu Recht bestehend anerkannt wird, die mit dem Wortlaut des
Buchstabens — sei es auch in gewagtester Weise — grade noch verbunden
werden kann.
Die Religion des Buchs untl der erfüllten Geschichte. 24 1
Stellung der christlichen Sittlichkeit waren allerilings von Anfang
an die Sprüche Jesu die Hauptquelle gewesen, der gegenüber das
Alte Testament zurücktreten mußte; aber sonst behauptete dieses
seine Stellung. ]S^ur in der Theorie trat ein leiser Umschwung
ein. Der Kampf mit dem Gnostizismus und die in und mit dem-
selben erfolgte Schöpfung des Neuen Testaments hat es den groß-
kirchlichen Theologen klar gemacht, daß eine einfache Identifi-
zierung des Alten Testaments mit dem Evangelium doch nicht
unbedenklich sei. Bereits die ältesten altkatholischen Theologen,
Irenäus und Tertullian, lösen die vollkommene Identifizierung auf
und kommen der Anschauung des Apostel Paulus wieder näher,
daß das Alte Testament und der alte Bund eine andere Stufe
bezeichnen als der neue. Sie erkennen die höhere Stufe dieses
Bundes und deshalb auch des Xeuen Testamentes an. In der
Theorie hatte das manche nicht unwichtige Folgen, ^fan lernte —
die Gnostiker hatten energisch daraufgedrungen — die spezifische
Bedeutimg der christlichen Religion gegenüber dem Alten Testa-
ment besser schätzen. Allein in der Praxis, die Benutzung des
Alten Testaments anlangend, hatte diese Änderung nur geringe
Folgen. Mochte man auch in der Theorie lehren, daß vieles im
Alten Testament durch den neuen Bund „demutatum, suppletum,
impletum, perfectum'', ja sogar ,.expunctum''' sei (Tertull., de orat. 1),
man fuhr doch im 3. Jahrhundert fort, das Alte Testament zu
allegorisieren und in dieser Gestalt als direkte Erkenntnisquelle
für die christlichen Wahrheiten zu gebrauchen. Ja man allegori-
sierte es nicht einmal mehr — jetzt erst und in dem Maße als
sich die Kirchen 7nit heiligen Zeremonien aller Art füllten und
den Priester-. Opfer- und Sakramentsbegriff scharf ausbildeten,
wurde man unbekümmert und kühn bei der Anwendung des
Buchstabens alttestamentlicher Zeremonialgebote auf die christ-
lichen Einrichtungen in Verfassung und Kultus. Indem sich die
Kirche als Gesetzeskirche etablierte, nahm sie das Alte Testament
in einer Weise in Ansnvuch, die Paulus streng gerügt hätte, und
kehrte zu dem Gesetz zurück, dabei noch immer auf die Juden
scheltend und ihre Gesetzesbeobachtung für etwas Unerlaubtes
erklärend. In der Dogmatik wurde man freier vom Alten Testa-
ment, als man im 2. Jahrhundert gewesen war — die christologischen
Probleme traten in den Yordergrvnid, und die theologischen Inter-
essen rückten von dem deög und loyog zu den trinitarischen und
christologischen Problemen sowie zu christozentrischen Mysterien
hinüber — , aber in der Kirchenpraxis begründete man unbe-
kümmerter als es die Vorfahren getan hatten das, was man nötig
zu haben glaubte, mit Hilfe des Alten Testaments: denn das
Neue Testament bot für solche Zwecke wenig.
Harnack, ilission. 2. Aufl. 10
242 Die Missionspredigfc in Wort und Tat.
Das Xeue Testament als Ganzes hat überhaupt in der Mission
und in der Kirchenpraxis nicht die Rolle gespielt wie das Alte
Testament. Zwar die Evangelien traten diesem ebenbürtig zur
Seite, ja überstrahlten es: hier schimmerten und leuchteten die
Worte Christi, und hier war sein Tod und seine Auferstehung
erzählt. Aber die Briefe haben nie die Bedeutung dieser Schriften
erlangt, zumal da viele Ausführungen in ihnen, namentlich in den
paulinischcn, die Kirchenväter in scliwere Verlegenheiten — be-
sonders den Gnostikern gegenüber — brachten ^ Erst durch Augustin
ist das paulinische Evangelium im Abendland in den Vordergrund
getreten; im Morgenland hat es stets im Schatten gestanden. Die
johanneische Theologie aber ist fast spurlos an der alten Kirche
vorübergegangen: nur in einzelnen Fragmenten hat sie gewirkt;
als Ganzes blieb sie ein verschlossenes Buch, was sich übrigens
auch von der paulinischen Theologie sagen läßt'-^.
Neuntes Kapitel.
Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst.
(1) Krieg gegen den Polytheismus führte die alte Kirche,
indem sie die „Dämonen" bekämpfte (s. o. S. Hoff.), und indem sie
gegen die öffentliche Unsittlichkeit zu Felde zog, die mit dem
Polytheismus zusammenliing (s. o. S. ITSff.). Aber sie hat sich mit
diesem Kampf nicht begnügt. Die „ stummen Götzen " wurden
direkt angegriffen, waren sie doch noch eine Macht, zumal in den
Kreisen, aus denen sich die Mehrzahl der Christen rekrutierte.
Uns scheint heute die Polemik gegen die Götter des Olymp, gegen
die ägyptischen Krokodile und Katzen, gegen die geschnitzten,
') I'arüber klagt schon der 2. Petrusbrief, und aus dem großen Werke
des Irenäus erkennt man deutlich, welche Schwierigkeiten die paulinische
Prädestinatiouslehre, seine Lehre von Sünde, Freiheit und Gnade u. a. gemacht
haben. Tertullian hat diese Schwierigkeiten in noch höherem Maße als
Irenäus empfunden, aber als Montani.st sieht er sie jetzt durch Parakleten
gelöst, s. z. B. de resurr. 6:5: „Deus pristina instrumenta maiiifestis verborum
et sensuum luminibus ab omni ambiguitatis oI)scuritate purgavit" (seil, durch
die neue Prophetie).
^) Mit und neben der Bibel, d. h. in erster Linie mit dem A. T. kam
auch eine beträchtliche Literatur von Apokalypsen und verwandten Schriften
in die christlichen (Jemeindeu; sie enthielten auch Kosmologisches und Philo-
sophisches. Tertullian, der übrigens vermutet, daß heidnische Philosophen
von ihr Kenntnis genommen haben, spricht sich (de anima 2) über sie sehr
abschätzig aus: „Quid autem, si philosophi etiam illa iucursaverunt quae
Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst. 243
gegossenen und g(Mneißeltcn Götzenbilder billig und überflüssig
gewesen zu sein. Es ist auch richtig, daß sie nicht schwer war —
Philosophen, wie die Stoiker, Skeptiker und Zyniker, und Satiriker,
wie Lucian, lieferten ein reiches Material; auch waren Intellekt
und sittlicher Sinn jenem Götterwesen längst entwachsen — , allein
überflüssig war sie gewiß nicht; sonst hätten nicht alle Apologeten
von Aristides an bis Arnobius an diesem Punkte so ausführlich
polemisiert, sonst hätte der Märtyrer Apollonius vor dem Senat
sich seine lange Polemik erspart, und Tertullian, der Rechts- und
Gewohnheitskundige, hätte in seiner den Präsides eingereichten
Verteidigungsschrift nicht eine so umfangreiche Widerleo-uns: für
nötig gehalten. Allerdings sieht man eben aus dieser \yiderlegung,
wie heruntergekommen, man kann fast sagen schäbig, das öflfent-
liche Götter- und Opferwesen bereits war. Auf den Bühnen wurde
es verspottet; halbtote und wertlose Tiere wurden als Opfer ge-
bracht^; die Götzenbilder wurden verunehrt, die Tempel profaniert 2.
Eine Last von Überdruß, Verachtung, Spott und Ekel lag auf dem
Ganzen. Aber man würde doch sehr irren, wenn man annähme,
daß dem überall so war. Nicht nur wurde offiziell alles in Gang
erhalten, sondern es hafteten auch noch zahlreiche Gemüter an
diesen Einrichtungen und Zeremonien. Die neu einströmenden
Religionen frischten die alten Kulte auf, und selbst das Rück-
ständigste erhielt manchmal neue Bedeutung. Dazu, das öffentliche
Religionswesen, mochte es nun in Flor stehen oder ganz abgelebt
sein, war nicht allein maßgebend. In allen Provinzen und in allen
Städten, in Rom so gut wie in Alexandrien, in Spanien, Asien und
Ägypten, gab et Haus- und Familiengötzen und häusliche religiöse
Gebräuche, Superstitionen und Zeremonien aller Art. Bis in die
Literatur sind sie selten aufgestiegen, aber die Steine und Grab-
kammern und Zauberpapyri haben sie uns näher gebracht. Da
hatte jede häusliche Funktion ihren Schutzgeist, und jedes Wider-
penes nos apocryphorum confessione damuantur, certos niliil recipiendum
quod non conspiret gennanae et ipso iam aevo pronatae propheticae para-
turae, quando et pseudoprophetarum meminerimus et multo prius aposta-
tarum spirituum etc."; cf. de resurr. 63, wo es von den Gnostikern heißt, daiä
sie ,arcana apocryphorum superducunt, blasphemiae fabulas".
') TertulL, Apolog. 14: „Auch eure Religionsgebräuclie will ich durch-
gehen. Ich verbreite mich nicht über eure Verfahrungsweise beim Opfern,
wie ihr nämlich alles, was abgerackert, hinfällig oder räudig ist, als Opfer
schlachtet, wie ihr von dem fetten und gesunden Vieh nur das abschneidet,
was entbehrlich ist, die Köpfe und Klauen, die ihr zu Hause wohl auch
euren Kindern oder den Hunden bestimmt haben würdet, daß ihr vom Zehnten
des Hercules nicht einmal den dritten Teil auf seinen Altar legt, usw."
^) TertulL, Apol. 42: „Es schmelzen, klagt ihr, die Tempelsteuern täg-
lich mehr zusammen: wie wenige zahlen noch ihre Gebühren!" Cf. Arnob. I, 24.
16*
244 Die Missionspredigfc in Wort und Tat.
fahrnis stand unter einem dirio-ierenden Cfott. Diese religiöse Welt,
diese Religion zweiter Ordnung-, war überall lebendig und wirksam.
Die Apologeten begnügten sich in der Regel damit, die offi-
zielle Grötterwelt zu bekämpfen \ und zwar taten sie es so, daß sie
erstlich den sittlichen Geist gegen sie zu erwecken suchten, indem
sie die Schandtaten der „Götter" brandmarkten, zweitens die Tor-
heit und den Unsinn der Götterlehre und Göttergeschichten ans
Licht stellten, und drittens den Ursprung derselben aufdeckten.
Sie zeigten, daß die Götzen ein IS^ichts seien bez. Blendw^erke der
Dämonen, die hinter den toten Puppen lauern und sie eingeführt
haben, um durch sie die Menschen zu beherrschen, oder sie zeigten,
dem Euhemerus folgend, daß die vermeintlichen Götter nichts
anderes als verstorbene Menschen seien ^, oder sie wiesen nach, daß
alles eitel Fabel und Schwindel, nicht selten aber eigensüchtiger
Priesterbetrug sei. Witz und Ironie, aber auch kraftvollen Abscheu
haben sie dabei zum Ausdruck gebracht. Man weiß freilich nicht,
wieviel davon ihr geistiges Eigentum ist; denn, wie bemerkt, die
stoischen, skeptischen und zynischen Philosophen (aucli z. T. die
epikureischen) waren ihnen hier vorangegangen, und Verspottungen
der Götter waren so billig wie Brombeeren. Es ist daher auch
nicht nötig, sie durch Anführung einzelner Stellen zu illustrieren.
Die Durchsicht der wenig umfangreichen Aj)ologic des Aristides
genügt bereits, um sich ein Bild von dieser Polemik zu verschaffen;
auch die pscudojustinischo Oratio ad Graecos mag man nachlesen,
vor allem aber die betreffenden Abschnitte in Tertnllians Apolo-
geticus.
Die Pflicht, sich von aller Befleckung mit dem Polytheismus
rein zu erhalten, galt als die oberste Christenpflicht, die allen
anderen voranging. Siegalt als die negative Seite der Bekenntnis-
pflicht, und es ist mit „der Sünde des Götzendienstes" in den
christlichen Gemeinden strenger genommen worden als mit irgend
einer anderen Sünde ^. Daß auch für diese Sünde Yoru-ebuno-
^) Jener häusliche Aberglaube schien ihnen wohl zu unbedeutend, oder
sie rechneten darauf, daß er von selbst dem Sturz des öffentlichen folgen
werde. Dabei hatten sie sich allerdings verrechnet. — In der Apostel-
geschichte ist uns eine Szene (aus Ephesus) berichtet, die man hierher ziehen
kann.^ Auf die Predigt des Paulus hin bringen Erweckte die Zauberbncher,
die sie zu Hause hatten, und verbrennen sie (Act. 19, 19). Die Szene hat
aber wenige Parallelen in der altchristlichen Literatur.
'■') Doch ist die euhemeristische P]rkliiruiig Vici den christlichen Lehrern
weder die älteste noch die verbreitetste.
■*) S. Tertull., de idolol. 1: „Principale crimen generis humani, snmmus
saeculi reains, tota causa iudicii idololatria." Tertullian sucht in dem ersten
Kapitel dieser Schrift zu zeigen, dal.') alle llauptsünden im fiötzendienst
stecken, Ehebruch, Mord, usw.
Der Kampf gegen den Polytheismus uud Götzendienst. 245
gespendet werden kann, zu dieser Anerkennung liat sich die
Kirche sehr schwer und spät entschlossen, erst unter dem Druck
der furchtbaren Folgen des decianischen Sturmes (also nach dem
Jahre 250) ^ Das ist wohl verständlich: denn die Exklusivität
war die Bedingung der Existenz der Kirche. Kapitulierte sie an
irgend einem Punkte mit dem Polytheismus, so war es um ihre
Eigenart geschehen. So stand es wenigstens bis gegen die Mitte
des 3. Jahrhunderts. Von da an konnte sie minder ängstlich sein:
denn nun war das Kircheninstitut so mächtig gewachsen und Lehre,
Kultus und Verfassung hatten sich so eigentümlich entwickelt,
daß sie eine scharf umrissene Größe sui generis blieb, auch wenn
sie, wissend oder unwissend, dem verkappten Polytheismus ent-
gegenkam, oder sich nachsichtiger gegen ihn erwies.
Wie aber die Bekenntnispflicht die Pflicht, sich zum Bekenntnis
zu drängen oder gar sich selbst zu denunzieren, nicht einschloßt
(im Brief der Gemeinde von Smyrna an die von Philomelium wird
sogar ausdrücklich dagegen protestiert, und die montanistische
Martyriumssucht ^ wird auch sonst gerügt) ^ so schloß der Protest
gegen den Polytheismus nicht die Verpflichtung ein, aus freien
Stücken öffentlich gegen ihn zu protestieren. Zwar solche Fälle,
in denen ein Christ, als Zuschauer vor Gericht stehend, dem
Konfessor Beifall ausdrückte und nun selbst gefaßt wurde, werden
lobend erwähnt: der Geist hatte ihn erfaßt. Aber öffentliche
Schmähungen gegen den Kaiser oder die Götzen wurden in der
Regel so wenig gebilligt wie Aufruhr , und gar die unprovozierte
Beschimpfung oder das Herabstürzen der Götzenbilder wurde ge-
tadelt^. Hin und her muß dergleichen vora^ekommen sein; denn
') Vorher ist es nm- TertuUian in seinem Kampf gegen die kirchliche
laxe Behandlung der Fleischessünden aufgedämmert, daß unter Umständen
eine unter Foltern abgepreßte Verleugnung eine geringere Sünde ist als
Hurerei und Ehebruch. Bei Cypriau findet sich dann ähnliches.
-) Selbst die rechtzeitige Flucht war nach Matth. 10 gestattet; die
Montanisten und TertuUian erlaubten sie nicht; s. die Schrift des letzteren
„de fuga in persecutione". Sehr besonnen hat hier Clemens gesprochen;
s. Strom. IV, 10, 76 u. 77 u. VII, 11 u. 12.
*) Die Acta Perpetuae erzählen es ohne Tadel, daß sich Saturus frei-
willig als Christ gemeldet hat; aber diese Akten sind montanistisch.
*) Etwas anderes war es, wenn sich die Christen in Scharen zum Tri-
bunal drängten, um den Richter zu nötigen, entweder alle zu töten oder
keinen: s. Tertull. ad Scapul. 5: Arrius Antoninus in Asia cum i^ersequeretur
instanter, omnes illius civitatis Christiani ante tribuualia eins se manu facta
obtulerunt. tum ille paucis duci iussis reliquis ait: oi Öedot, sl dihis äjro-
■&i')'jay.siv, >cnr]/.irovg y ßQü/oug eyexs. Ähnlich ist der heidnische Zuruf (Justin,
Apol. 11,4): JiävTEi; ovv iavrovg (po^'evoavzEg jioQsvsa&s ijÖt] napä zov deov xai
t]/iiTv Jigäy/iiaia fuj jiaQs/Ezs. (S. 0. Seite 229 ^.)
^) Doch gab es auch einige Christen, die darülier frohlockten ; in einigen,
freilich späten Martyrien prägt sich das aus. Mit Beifall berichtet Eusebius
246 Di*3 Missiunspredigt in Wort und Tat.
im 60. Kanon von Elvira heißt es: „Si quis idola fregerit et ibidem
liierit occisus, quatenus in evangelio scriptum non est neque inve-
nietur sub apostolis umquam factum, placuit in numerum eum non
recipi martyrum."
(2) Um den Polytheismus \virksam zu bekämpfen, durfte man
vor den Philosoplien, auch vor den angesehensten, nicht Halt
maclien; denn sie alle standen irgendwie mit dem Götzendienst
in Verbindung. Aber an diesem ]\mkte gingen doch die Apolo-
geten in ihrer Polemik stark auseinander. Daß kein Philosoph
die Wahrheit rein und ganz gefunden habe, darüber zwar waren
sie alle einig, ferner auch darüber, daß keiner von ilmen imstande
gewesen ist, das Wahre, was er gefunden hat, sicher zu beweisen,
allgemein zu verbreiten und zu einer Überzeugung zu machen, für
die man in den Tod geht. Aber die einen ließen es bei diesen
starken Yorbehalten bewenden und fi-euten sich im übrigen an
der Übereinstimmung des Christentums mit der Philosophie, lobten
wohl auch die Philosophen um ihrer sittlichen Absichten und ihrer
tiefen Gedanken willen, so z. B. Justin; ja die alexandrinischen
christlichen Lehrer haben sogar in der hellenischen Philosophie
die Parallelerscheinung zum jüdischen Gesetz erkannt \ Dem
Plato fand man sich in der Gotteslehre und Metaphysik verwandt,
der Stoa in der Ethik, und in Philosophen wie Seneca sah man
partielle Gesinnungsgenossen ^, in Socrates einen Heros und Yor-
läufer der Wahrheit. Allein andere wollten von keinem Philo-
sophen und keiner Philosophie etwas wissen und meinten der
Mission des Evangeliums am besten dadurch dienen zu können,
daß sie jene wie diese gröblich verlästerten. Tatian hat darin
Unglaubliches geleistet und sich empörender Ungerechtigkeit
schuldig gemacht; aber Theophilus gibt ihm wenig nach, und auch
Tertullian, obgleich er doch der Ötoa soviel verdankt, kommt dem
Tatian ziemlich nahe. Diese Apologeten täuschten sich aber,
wenn sie meinten, durch ihre Verunglimpfungen viel zu erreichen.
Soviel wir zu urteilen vermögen, hat nicht die Methode jener
Extremen, sondern die des Justin, Clemens und Origenes auf die
gebildete griechische Welt Eindruck gemacht. Indessen ist es
nicht unwahrscheinlich, daß auch jene ihr Publikum hatten. Die
meisten Menschen denken überhaui)t nicht, oder sie denken in den
rohesten Kontrasten. Auf solche Leute konnten die Schmähreden
(de mart. Palaest. 2) das Vorgehen des Märtyrers Romanus, der, als er in
Antiochien — die diocletianische Verfolgung war eben angebrochen — einen
Festzug von Männern, Frauen und Kindern zu den Götzeuhildern gehen sah,
sie durch laute Warnungen zurückzuhalten suchte.
') S. meine Rede „Socrates und die alte Kirche'', 1900.
^) Tertull., de anima 20: „Seneca saepe noster."
Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst. 247
Tatians wohl Eindruck machen, und ferner, man kann weder bei
ihm noch bei Tertullian verkennen, daß sie ehrlich waren, nicht
bloße Kalumniatoren. Wo sie noch irgendwelche Spuren von
Polytheismus fanden, da empörte sich ihr ganzer sittlicher Sinn,
da waren sie überzeugt, daß nichts Gutes vorhanden sein könne,
da glaubten sie jeder Yerleumdung, welche eine schlechte Literatur
ihnen zutrug. Spuren des Polytheismus waren aber bei allen
Philosophen, auch den sublimsten, immer noch zu finden. Hatte
doch selbst Socrates in der letzten Stunde die Anordnung getroffen,
man solle nach seinem Tode dem Äsculap einen Hahn schlachten.
Die Ironie dieser Anweisung verstand man nicht ; man sah in ihr
nur eine Anerkennung des Götzendienstes. Also auch Socrates,
der Heros, w^ar zu tadeln!
Allein ob halbe Freunde, ob erbitterte Gegner der Philosojjhie
— die Apologeten standen doch sämtlich auf ihrem Boden, und
zwar auf dem Boden des Piatonismus. Obgleich sie ihn be-
kämpften, zogen sie ihn in die Kirche hinein und bauten die
kirchliche Glaubenslehre nach dem Grundriß des Piatonismus und
mit seinen Bausteinen (Näheres darüber s. i. d. „Schlußbetrachtung"
dieses Buchs).
(3) Praktisch von noch größerer Wichtigkeit als der Kampf
gegen die Götterwelt und den Götzendienst war der Kampf gegen
die Menschenvergötterung. Dieser Kampf, der seine Spitze
in der radikalen Verwerfung des Kaiserkultus hatte, bedeutete
zugleich den entschlossenen Protest gegen die Vermischung
von Religion und Patriotismus, also gegen jenen Staatskultus,
in welchem der Staat (seine Repräsentation im Kaiser) selbst
Gegenstand des Kultus war. Ein Hauptzweck und ein Haupterfolg
der christlichen Religion ist es gewesen, eine scharfe Grenze zu
ziehen zwischen der Anbetung Gottes und der Ehrfurcht gegen den
Staat und seine Leiter. Das Christentum hat die politische
Religion entwurzelt.
Der Kaiserkultus ^ hat eine doppelte Gestalt. Er ist in beiden
keine griechisch-römische, sondern eine orientalische Erscheinung,
die sich jedoch ohne Schwierigkeit, ja mit Notwendigkeit den
„caeremoniae religionis Romanae" einfügte, nachdem das Reich
kaiserlich geworden war — Kultus der verstorbenen Kaiser und
Kultus des lebenden Kaisers (Verehrung des Kaiserbildes). Jener
Kultus hatte von Anfang an seinen Hauptsitz in Rom selbst und
wurde als der wichtigste Teil der staatlichen Religion in die
Provinzen getragen ; dieser ist in den östlichen Provinzen entstanden,
') Zu der bekannten deutschen Literatur s. Beurlier, Essai sur le culte
rendu aux empereurs romains, 1890.
248 Die MissioDspredigt in Wort und Tat.
ist aber schon im l. .lahrhundcrt von Gajus und Domitian rezipiert
worden und wurde im 2. Jahrhundert (als Verehrung des Kaiser-
bildes) ganz geläufig. Die Verweigerung beider Kulte fiel sowohl
unter das Verbrechen des Sacrilegiums wie der Majestas. Die
Repression des Staats gegen das Christentum ist fast
ausschließlich an diesem Punkte erfolgt, da der Staat ihm
die iX^achsicht hier nicht gewährte, die er dem Judentum zubilligte.
Hätten sich die Christen nur gegen den Olyni]) gekehrt, aber
einen Kompromiß mit dem Kaiserkultus gefunden, so wären sie
höchst wahrscheinlich ganz unbehelligt geblieben — Tertullian
sagt das im Apologeticus (c. 28 ff.) mit dürren Worten. Auch
sind fast alle Konflikte einzelner Christen mit den Ordnungen des
Staats im Prozeß auf die Majestas hinausgeführt worden. Was
der Kaiserkultus positiv für das Reich bedeutete, das liat jüngst
V. W i 1 a m o w i tz - M o e 1 1 e n d o r ff eindrucksvoll ausgesprochen ^
Die Christen verwarfen den Kaiserkult in jeder Form (bis
in das Leben des Tages hinein, auch die Schwüre und die
') Geschichte der griech. Religion, im Jahrbuch des Freien deutschen
Hochstifts, 1904, Souderabdruck S. 23f.: „Der Gedanke, aus dem heraus
Augustus die Welt erneute, war die Religion des Poseidonios, der Glaube au
die Weltvernunft und die Einheit alles Lebens, an den stoischen Weltgott,
Vorsehung und Notwendigkeit. Er durfte sich als das Organ, den Träger
dieses Weltengesetzes betrachten; er durfte die persönliche Fortdauer seiner
Seele als den Lohn seiner Milde hoffen: das entspricht genau der poseido-
nischen Lehre; aus ihr folgt die Berechtigung des Kultus der divi. Es ver-
steht niemand die Zeit oder den Mann, der das divi filius als leeres Orna-
ment oder als Lug betrachtet. Dem Tiberius, der aller Mystik abhold, aber
dem starren Glauben an die Astrologie ergeben war, lief das freilich wider
Gefühl und Verstand. Ein Gajus ward durch den Glauben au seine Gött-
lichkeit zum Narren; als Claudius von seinen Mördern kousekriert ward, war
dies für die Wissenden eine Farce; aber selbst sie werden den Kaiserkult
sehr ernst genommen haben. Wieder wie nach Alexander mußte der Kultus
der Persönlichkeit sich wandeln in den der Institution. Der Kaiser war
Gott, weil er Kaiser war, nicht Regent der Welt, weil der Gott in ihm zur
Herrschaft Kraft und Recht besaß. Seine Person war der Träger der All-
macht des Reiches; diese machte sich auch dem geringsten und entferntesten
Untertan fühlbar; ihr iJersönlicher Träger war für die Millionen so unnahbar
fern wie ein Weltgott im Himmel, viel ferner als für jeden einzelnen die
Götter seines Dorfes oder seiner Flur. Und wenn er sich zu der Erkenntnis
nicht erheben konnte, daß das gesamte Leben im Himmel und auf Erden
eine Einheit ist: auf Erden war die Einheit von Staat, Kirche, Gesetz und
Sitte eine Tatsache, und wohl verdiente diese Einheit das Prädikat der Gött-
lichkeit; war sie göttlich, so war der Kultus ihrer persönlichen Exponenten
eine unabweisbare religiöse Forderung. So ist denn der Keichskultus, der
Kaiserkultus, das eigentliche Hauptstück der Religion; ihn verneinen ist das-
selbe wie einst in den kleinen Städterepubliken die Verleugnung der jxmfitot.
deoL Alle anderen Gottheiten, denen staatlicher oder munizipaler Kult zuteil
wird, ordnen sich dieser Religion ein und unter; sie hal)en nur noch dadurch
Bedeutung, daß ihr Kult zu dian gehört, was der Staat ordnet. Und wenn
Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst. 2 19
Jxedonsarton, die den Kaiser als ein übermenschliches Wesen er-
scheinen ließen) und riM-hneten ihn ohne Schwanken znm (iiir/.en-
dienst. Sie deckten sich dabei g'cgen den Yorwnrf der Jlespekt-
losigkeit und Untreue durch den Hinweis auf ihre Gebete für
den Kaiser und den Staat ^. Diese Gebete sind in der Tat von
Anfang an eine feste Einrichtung im christlichen Gottesdienst
gewesen-, imd allgemein bezog* man das Wort Christi: „Gebet
dem Kaiser, was des Kaisers ist", nicht nur auf den Gehorsam
und die pünktliche Steuerzahlung, sondern auch auf die Fürbitten.
Selbst die schärfste Kritik, welche einzelne christliche Lehrer am
Wesen des römischen Staats und des Kaisertums übten, hat sie
niemals bestimmt, die Fürbitte zu unterlassen oder von ihr ab-
zumahnen. Daß der Kaiser als „a deo secundus ante omnes et
super omnes deos" bei den Christen galt (Tertull.. Apol. 30), wird
durch zahlreiche Stellen bestätigt, in denen gleich nach Gott der
Kaiser genannt wird^. Tu der Tat, die Christen dui'ften sagen,
daß sie es an Lovalität nicht fehlen ließen in der Theorie und
die Fortuna oder der Silvan oder die Matres Augusti und Augustae werden,
so hat der Kaiserkult sell)st im Westen die alten Götter innerlich aufgesogen.
Großartig genug ist der Inhalt dieses Glaubens: denn alle Gaben der Kultur
von der Sicherheit des physischen Lebens bis zu den höchsten Genüssen des
Geistes erscheinen als Gaben der Gottheit, die in dem Reiche immanent ist
und zurzeit in dem Kaiser oder seinem Genius oder seiner Tyche Persönlich-
keit gewinnt. . . . Daher ist es ganz folgerichtig, daß die Verweigerung, dem
Kaiser zu opfern, Hochverrat ist, und die Christen verweigern es im vollen
(iefühle, damit der rzohrsia rov y.öonov abzusagen; sie fühlen sich ja als
Bürger eines andei-en Reichs. Ebenso folgerichtig ist es, daß sie udroi sind;
di-nn mit dem Staatskult negieren sie alle Götter, die eben von Gnaden des
Staats noch existieren."
^) Vgl. die bekannten neutestamentlichen Stellen, die aijostoliseheu
Väter und die Apologeten (vor allem Tert., Apol. c. 28 tf ). Den Inhalt der
Fürbitte, wie sie in Carthago lautete, gibt uns TertuUian im Apolog. an
(c. 39: ,.oramus etiam pro imperatoribus, pro ministris eorum et potestatibus,
pro statu saeculi, pro rerum quiete, pro mora finis". c. oO: „precantes sumus
semper pro omnibus imperatoribus: vitam illis prolisam, imperium securum,
domum tutam, exercitus fortes, senatum fidelem, populum probum, orbem
quietum, quaecumque hominis et Caesaris vota sunt [a deo oramus]").
-i Der Ursprung fällt in die allerfrüheste Zeit; wir kennen die Erwä-
gungen nicht, die zu der Einrichtung geführt haben.
^) Die Hochschätzung des Kaisers als secundi a deo berührt aber die
Überzeugung nicht (wenigstens bei TertuUian nicht), daß Kaiser niemals
Christen sein können; s. Apol. 21: „Et Caesares credidissent super Christo, si
aut Caesares nou essent necessarii saeculo, aut si et Christiani potuissent
esse Caesares." Sechzig Jahre später dachte man im Orient darüber anders.
Xicht nur erzählte mau sich in weiten Kx-eisen. Alexander Severus und
Philippus seien heimliche Christen gewesen, sondern sogar ein so hervor-
ragender Lehrer wie Dionysius Alex, glaubt diese Legende und nimmt keinen
Anstoß an ihr.
250 Die Missionsi:)redigt in Wort und Tat.
in der Praxis, Sie haben es gelehrt und in die AYeltgeschichte
eingeführt, daß die Anbetung der Gottheit und die Ehrerbietung
gegenüber dem Herrscher etwas ganz Yersehiedenes ist, und daß
Anbetung des Monarchen ein verabscheuungswürdiges und er-
niedrigendes Verbrechen ist; aber sie haben dabei den Gehorsam
gegen die Obrigkeit und die Pietät gegen den Kaiser streng
eingeschärft.
Die Haltung der Kirche im 3. Jahrhundert hat sich in diesem
Punkte im allgemeinen nicht verändert ' : es blieb bei der scharfen
Ablehnung der Menschenvergütterung in Form des Kaiserkultus;
aber an einem anderen Punkte drang langsam, aber mit elemen-
tarer Gewalt die Menschenvergötterung doch ein — bei der Ver-
ehrung der Apostel und Märtyrer. Schon in den um die Wende
des 2. 7Aim 3. Jahrhundert geschriebenen apokryphen Apostel-
geschichten erscheinen die Apostel wie Halbgötter; ja bereits um
das Jahr 1 60 befürchten die Heiden in Smyrna, die Christen würden
den gemarterten Polycarp göttlich verehren, und spottet Lucian,
der Schwindler Peregrinus mit seinem billigen Martyrium gelte
bei ihnen als ein Gott. Befürchtungen und Spott waren damals
wohl noch unbegründet, aber drei Menschenalter später waren sie
es nicht mehr, und gegen das Ende des 3. Jahrhunderts gab es
bereits zahlreiche Kapellen, die Aposteln. Patriarchen und Mär-
tyrern — auch Erzengeln — geweiht waren-, schlief man mit
A^orliebe bei den Gräbern der Heiligen und hatte einen Heiligen-
kultus ausgebildet, der lokal sehr verschieden gestaltet war und
das bequeme Mittel bot, alte Kulte, die in der Bevölkerung be-
liebt waren, zu konservieren. Theoretisch ist im 3. Jahrhundert
die Grenze zwischen der Anbetung Gottes und jenem Nothelfer-
imd Fürbitter-Kultus wohl noch scharf gezogen worden, auch läßt
sich eine christliche Wurzel dieses Kultus nicht verkennen (die
Gemeinschaft der Heiligen) — aber praktisch verwischen sich
erfahrungsgemäß die Grenzen unter solchen Umständen stets '^
') Dionysius Alex, hat allerdings auf Gallienus, der den Christen freund-
lich war, Jesaj. 43, 19 augewendet (bei Euseb., h. c. VII, 2o), aber das ist
Rhetorik.
•') Ö. Euseb., Mart. Tal. S. 102 (Texte u. Unters. Bd. 15 Heft 41.
•'') Schon Origeucs polemisiert nur noch gegen eine Hälfte des polj'-
thcistischen Aberglaubens und seiner Manifestationen, s. Honi. VIII, 4 in Jesum
Nave (t. 11 p. 07): „Uli qui, cum Christiaui sint, solenniitates gentium cele-
brant, anathema in ecclesias introducunt. qui de astrorum cursibus vitam
hominum et gesta perquirunt, qui volatus avium et cetera huiusmodi, quae
in saeculo prius observabantur, inquirunt, de Jericho anathema inferuut in
ecclesiam et polluunt castra domini et vinci faciunt populum dei." Kr hätte
noch anderes nennen küniion und müssen, aber er empfand das l'olytheistiscbe
dort nicht mehr.
Der Kami>f gegcMi den Polytheismus und Götzendienst. 25 1
Am Ende des o. Jahrliuiulerts war die christliche Religion trotz
ihres Monotheismus eine in Heiligen, Engeln, Nothelfern, wunder-
tätigen Reliquien usw. ganz besonders starke Religion, die es
darin mit jedem anderen Kult aufzunehmen vermochte. Porphyrius
(der Heide bei Macarius Magnes), lY, 21 hat das wohl erkannt.
Er schreibt: „Wenn ihr nun behau])tet, daß Engel bei Gott stehen,
die dem Leiden und Tod nicht unterworfen und unvergänglich
seien in ihrer Natur, welche wir Götter nennen, da sie der
Göttlichkeit nahe stehen: was ist dann, den Namen betreffend,
der strittige Punkt? Oder sollen wir es nur für eum Verschieden-
heit der Benennungen halten? .... Mag nun also jemand diese
Götter oder Engel nennen — die Namen sind überhaupt gleich-
gültig: eine und dieselbe Göttin heißt z. B. Athena und Minerva
und führt bei den Ägyptern und Syrern wieder andere Namen — ,
so macht das keinen großen Unterschied, da ja ihre göttliche
Natiu- bezeugt ist, auch bei euch durch Matth. 22, 29. 31 ^"
(4) Der Krieg gegen den Polytheismus^ wurde ferner durch
radikale Bekämpfung des Theaters und aller Spiele geführt. Wer
erwägt, was sie im antiken Leben bedeuteten und wie innig sie
mit dem Götzendienst zusammenhingen^, weiß, was die Polemik
^) Porphyrius fahrt fort, — indem er sich gegen die billige Kritik der
Christen an dem Götzendienst ('s. o.) richtet: „Wenn demnach zugestanden
wird, daß die Engel teilhaben an göttlicher Natur, so glauben andererseits
die, welche den Göttern die geziemende Verehrung erweisen, nicht, daß der
Gott aus dem Holz, Stein oder Erz bestehe, aus welchem das Götterbild
gearbeitet ist, und meinen nicht, wenn irgendein Stück von dem Bilde ab-
gebrochen ist , daß damit etwas von der Macht des betrefi'euden Gottes ge-
nommen sei. Denn um der Erinnerung willen wurden Götterbilder und
Tempel von den Alten aufgestellt, damit die, welche hinzugingen, dadurch
des Gottes gedächten, oder damit sie, feiernd von der Arbeit und rein von
anderen Dingen, Gelübde und Gebete an ihn richteten, und von ihm ein
jeder das erbäte , dessen er bedarf. Denn wenn jemand das Bild eines
Freundes anfertigen läßt, so glaubt er doch nicht, daß der Freund sich auf
dem Bilde befände, oder daß seine Glieder in Wirklichkeit durch die Teile
des Gemäldes eingeschlossen würden, sondern er meint vielmehr, daß die
Ehre, welche er dem Freunde zollt, in dem Bilde ihren Ausdruck finde. Die
Opfer aber, die man den Göttern darbringt, bringen ihnen nicht Ehren, son-
dern sie sollen die Bezeugung des guten Willens ihrer Verehrer sein und
davon, daß sich diese ihnen gegenüber nicht undankbar verhalten." Die
Älehrzahl der Christen dachte über diesen Punkt schwerlich mehr so rein
und spirituell wie dieser „Götzendiener".
■-) Man vgl. zu dem Folgenden Bigelmair, Die Beteiligung der Christen
am öfientlichen Leben in vorconstautinischer Zeit. 1902.
^) Tertull., de spect. 4: „Quid erit summum ac praecipuum, in quo dia-
bolus et pompae et angeli eins censeautur, c^uam idololatriaV . . . Igitur si
ex idololatria universam spectaculorum paraturam constare constiterit, indu-
bitate praeiudicatum erit etiam ad spectacula pertinere renuntiationis nostrae
testimonium in lavacro, quae diabolo et pompae et augelis eius sint manci-
252 i-*ie Missioiispredigt in Wort uud Tat.
g'(\i>-<'ii sie sai^-cn wollte. Darf man doch behaupten, daß sie für
rnzählig-e die andere Hälfte des Lebens waren neben der müh-
samen Arbeit des Tages: „panis et circenses". In den christ-
lichen Gemeinden war es verboten, Schauspieler oder Gladiator
zu sein, die Schauspielkunst zu lehren^ und die Schauspiele zu
besuchen^. Die erste scharfe Polemik findet sich bei Tatian in
der Oratio 3; es folgen andere, sodann die Traktate Tertullians
und Pseudocyprians (Novatians) „de spectaculis'-' und die Aus-
führungen des Lactantius*. Daß die Verbote nicht überall respek-
pata, seil, per idololatriam. commeinorabimus origiues siugulorum, quibus
incunabulis in saeculo adoleverint, exiude titulos quorundara, quibus nomini-
bus nuncupentur, exinde apparatus, quibus superstitionibus instruantur. si
quid ex bis non ad idolum pertinuerit, id neque ad idololatriam neque ad
nostram eierationem pertinebit." Novatian, de spect. 2: „Quando id quod
in honore alicuius idoli ah ethuicis agitur (seil, die Schauspiele) a fidelibus
christianis spectaeulo frequentatur, et idololatria gentilis asseritur et in con-
tumeliam dei religio vera et divina calcatur."
') S. Cyprian, ep. 2.
-) Minucius Felix 12: „Vos vero suspensi Interim atque soUiciti honestis
voluptatibus abstiuetis, non speetacula visitis, non pompis interestis, con-
vivia publica absque vobis, sacra certamina."
■') Orat. 22. 28.
^) Instit. VI, 20. 21; s. auch Aniob. IV, .3."> f. — Mit den Schauspieleu
war auch die Beteiligung an öfientlichen Festfeiern, die immer mit Poly-
theistischem verbunden waren, verboten; s. den 7. Kanon von Ancj'ra: ITefji
T(or nvvForiadh'Ton' fv toQTJj Edvtxfj , tr tÖjto) drfcoQiafihrp ToTg edrixoTg , idia
ßoM/iaTa ßjTixofuaa/ifvtor aal (fayorrmv, f'So^r SiFTi'ar v-rojTFaövTac öeydiivni. Vor
allem kommt hier Tertull., de idol. 1-3 — IB in Betracht. Alle öftentliehen
Feste sind zu vermeiden; denn man macht sie eirtweder aus V^ergnügungs-
.sucht oder aus Furcht mit. „Weim wir uns mit der Welt freuen, so ist zu
Itefürchten, daß wir auch mit der Welt trauern werden." Man sieht freilich
ciuch hier, daß Tertullian bereits zu einer Minorität gehört; die Mehrzahl
der Christen in Carthago sah in der Beteiligung an öffentlichen und privaten
Feiern nichts Schlimmes, ja hielt es für ein gefährliches Frondieren, sich
ihnen zu entziehen. „Eure Werke sollen leuchten," ruft Tertullian klagend
aus, „jetzt aber strahlen unsere Läden und Türen von Licht. Bereits findet
man bei den Heiden mehr Türen unbeleuchtet und unbekränzt als bei den
Christen. Welcher Ansicht bist du betreffs dieses Falles? Soll es eine
l-hrenbezeugung für ein Idol sein, so ist es unzweifelhaft, dati ein Idol ehren
Idololatrie ist; geschieht es aber eines Menschen wegen, so erinnern wir uns,
• laß alle Idololatrie eines Menschen wegen geschieht; denn alle Idololatrie
ist Menschenverehrung (die Götter der Heiden sind früher Menschen gewesen)."
,. Hs ist mir Ixd^annt, wie ein christlicher Mitbruder durch eine Vision noch
in derselben Nacht schwer dafür gezüchtigt wurde, daß seine Sklaven bei
(Jelegenheit einer plötzlich ausgerufenen öffentlichen Freudenbezeugung die
Haustür mit Kränzen geschmückt hatten." Nur ga.nz bestimmte Familien-
feste, wie die Anlegung der toga virilis, Verlobungen, Hochzeiten, Namens-
tage, nimmt Tertullian aus, da sie nicht notwendig mit Götzendienst befleckt
seien und das Gebot, kein Tagewilhler zu sein, hier nicht zutrifft. „Man darf
sich auch zu solchen Festen eiidadeu lassen, nur darf der Titel der geforderten
Der Kuiupf t;'eii'en den rolytheismus und (Jötzeiulienst. 253
tiert wurden, zeigen eben diese Schriften^. Die Lust war fast
unbezwing'licli: muß doch Tertnllian auf das Schauspiel im Jenseits
vertrösten, um den der Spiele beraubten Cliristen einen Ersatz zu
gewähren '^. Aber erfolglos war dov Kampf gegen sie keineswegs,
vielmehr erfolgreicher als auf anderen (iebieten. Als Constuntin
die Kirche ])rivilegierte. war die Sache so weit gediehen, daß der
Staat sofort Maßregeln ergriff, die Schauspiele zu beschneiden
und einzuschränken^*.
(5) Auch gegen den Luxus, sofern er zum Teil mit dem
Polytheismus verbunden war, sicher aber eitlen und heidnischen
Sinn offenbarte, wurde scharf polemisiert; man vergleiche den
Pädagog des Clemens und Tertnllians Schriften „de cultu femi-
narum''. Daß das auf Luxus verwendete (.Teld besser im Dienst
der Armenpflege angewendet werde, wurde stets eingeschärft.
Aber zur Herstellung einer besonderen christlichen Sitte des
äußeren Lebens ist es doch nicht gekommen.
((3) In bezug auf die Frage, wie weit man auf die Sitten,
Gewohnheiten und das Berufsleben des Tages eingehen kömie,
ohne Christus zu verleugnen und sich mit dem Grötzendienst zu
beflecken, hat es sclion im apostolischen Zeitalter Strenge und
Laxe, Gebundene imd Freie gegeben. In jener Zeit scheint aber
nur erst die Frage nach dem Götzenopferfleisch -Essen, bez. ob
man an den Mahlzeiten der Ungläubigen teilnehmen kthme,
brennend geworden zu sein. Die große Mehrzahl der Christen
gehörte damals noch den untersten Ständen an, hatte keine Re-
präsentationspflichten und bestand aus Handwerkern niederer Ord-
Aufmerksamkeit nicht lauten ^Zur Teilnahme am Opfer", und ich muß soviel
tun dürfen als mir beliebt. Weil der JSatan die Welt einmal so ganz in die
Idololatrie verstrickt hat, so wird es erlaubt sein müssen, bei gewissen Ver-
gnügungen zugegen zu sein, wenn wir dabei gegen einen Menschen, nicht
gegen ein Idol, Verbindlichkeiten abmachen."
^) Novatian, de spect. 1: „Quoniam non desunt vitiorum assertores
blandi et indulgentes patroni cjui praestant vitiis auctoritatem et quod est
deterius censuram scripturarum caelestium in advocationem
criminum convertunt, quasi sine culpa innoeens spectaculorum ad remis-
sionem auimi appetatur voluptas — nam et eo usque enervatus est eccle-
siasticae disciplinae vigor et ita omni languore vitiorum praecipitatur in
peius ut non iam vitiis excusatio sed auctoritas detur — , placuit paucis vos
non nunc iustruere [seil, de spectaculis], sed iustructos admonere."
-) De spect. 30 mit dem Schluß: „Ceterum qualia illa sunt, quae nee
oculus vidit uec auris audivit nee in cor hominis ascenderunt? credo, circo
et utraque cavea et omni stadio gratiora.'" Die ganze Ausführung gehört zu
dem Empörendsten, was Tertnllian geschrieben hat, selbst als Entgleisung
betrachtet immer noch unentschuldbar.
^) Gegen die Glücksspiele s. den Traktat Pseudocyprians adversus alea-
tores uud manche verwandte Stellen in anderen Schriften.
254 Die Missionspredigt iu Wort und Tat.
nung. Tagelölmorn. doron einfaches Tagewerk sie kaum in irgend
eine Beziehung zum (iffentliclien Leben und darum auch in keinen
Konflikt brachte. ]^)ahl aber wurde es anders, und nun streunte
ein Heer von schweren und bitteren Fragen auf die Gemeinden
ein. Auch die Laxeren wollten nichts tun, was dem göttlichen
Willen zuwider lief; auch sie hatten ihren Schriftbeweis bei der
Hand und Ableitimgen aus dem christlichen Grundprinzip. „Fliehet
aus einer Stadt in die andere", so lautet das Gebot, sagten sie,
wenn sie vorsichtig der Verfolgung auswichen. „Ich habe Macht
über alles", „Man muß allen alles werden", sprachen sie mit dem
Apostel, wenn sie unbefangenen Yerkehr mit den heidnischen
Xachl)arn gepflogen. Selbst den Besuch der Schauspiele wußten
sie aus der Bibel zu verteidigen. Novatian (de spect. 2) führt
klagend ihre Reden an: „L^bi scripta sunt ista? ubi prohibita?
alioquin et auriga est Hellas et ante arcam David ipso saltavit.
nabla cynaras aera tympana tibias citharas choros legimus. apo-
stolus quoque dimicans caestus et colluctationis nostrae adversus
spiritalia nequitiae proponit certamen. rursus cum de stadio sumit
exempla, coronae quoque collocat praemia. cur ergo homini
christiano fideli non liceat spectare quod licuit divinis litteris
scribere?"
Diese Verteidigung des Besuchs der Schauspiele klingt fast
frivol: aber es gab viel ernstere Konflikte; mit innerer Bewegung
verfolgt man sie.
Schon die Beteiligung an den Festen und geselligen Ver-
einigungen brachte sie in reichem Maße, aber vor allem führte
der tägliche Beruf in sie hinein. Kann der Christ überhaupt
einen Beruf in der AVeit haben, ohne sich mit dem Götzendienst
zu beflecken? Die Strengen verboten zwar kaum einen einzigen
Beruf prinzipiell, aber schränkten die Betätigung in ihm so ein,
daß die Einschränkung einem Verbote nahe kam. Tertullian geht
in der Schrift „de idololatria" eine Reihe von Berufen durch.
Das Ergebnis ist fast immer dies, daß man den Beruf besser
läßt oder ihn jeden Augenblick preiszugeben bereit ist, und auf
die Einwendung „Ich habe nichts zu leboi", erfolgt die Antwort:
„I)(M' Christ darf sich nicht vor dem Hunger fürchten"^.
Allem zuvor verbietet Tertullian das Verfertigen von Götzen-
bildern (c. 4tf.) — das ist verständlich: al)er doch gab es christ-
') S. vor allem die herben Ausführungen in c. 12 unter Berufung auf
evangelische Stellen. Die Ausführung schließt: 3emo eorum, quos dominus
ullegit. Non habeo, dixit, quo vivam. Fides famem non timet. Seit etiam
famem non minus sibi contemnendam propter deum quam omne mortis genus;
didicit non respicere vitam, quanto magis victum? Quotusquisque haec ad-
iniplevitV sed quae penes homines difticilia, penes deum facilia."
Der Kampf gegen den Polytheismus und Götzendienst. 255
liclie Handwerker, die keine andere Kunst verstanden und die
sich mit dem Sprucli (f Cor. 7, 20) zu decken versuchten: „Wie
jeder gefunden wird, so soll er bleiben". Sie verwiesen auch
darauf, daß Moses in der Wüste eine Schlange hat anfertigen
lassen. Man sieht aus Tertullians Klagen deutlich, daß die
Majorität in der Kirche ihnen gegenüber die Augen zudrückte:
,.A'on den Idolen weg gehen Christen zur Kirche; sie kommen
aus der Werkstätte des bösen Feindes zum Hause Gottes; sie
heben ihre Hände, die Schöpfer von Götzenbildern sind, zu Gott
dem Yater; sie bringen sie mit dem Leibe des Herrn in Be-
rührung, nachdem sie den Dämonen Leiber verliehen haben. Und
das ist noch nicht alles! Es ist ihnen noch nicht genug, daß sie
betlecken, was sie aus den Händen anderer empfangen; nein,
sie reichen auch andern noch dar, was durch sie befleckt worden
ist! Werden doch Yerfertiger von Götzenbildern in den geistlichen
Stand aufgenommen !''
Im Gegensatz zu diesen Laxen verbietet Tertullian nicht
nur die Anfertigung von Bildern und Statuen, sondern auch die
Anfertigung aller Dinge, die auch nur mittelbar zum Götzendienst
gebraucht werden. Die Zimmerleute, Stukkaturarbeiter, Tischler,
Dachdecker, Blattgoldschläger, Maler. Bronzearbeiter, Graveure —
sie alle dürfen schlechterdings nichts anfertigen, was zum Tempel-
dienst nötig ist, mid sich an keiner Arbeit für ihn (z. B. keinen
Ausbesserungen) beteiligen (c. &).
Die Profession von Astrologen und Magiern auszuüben ist
ebenfalls verboten — die Magier, auf die sich die Laxen beriefen,
mußten ja [Matth. 2, 12] „auf einem anderen Weg"' in ihre Heimat
zurückkehren (c. 9)^ Auch Schullehrer und Lehrer der Wissen-
schaften kann der Christ nicht sein: demi sie kommen vielfach mit
der Idololatrie in Berührung-. Sie müssen die Kenntnis der heid-
nischen Götter verbreiten, ihre ]S[amen, Abstammung, Mythen
angeben, ihre Feste und Feiertage beobachten, „weil sie nämlich
an denselben ihre Honorare zusammenrechnen". Das erste Schul-
geld der neuen Schüler widmet der Lehrer der Minerva. Ist die
Befleckung mit dem Götzendienst darum geringer, weil sie in diesem
Fall noch etwas einbringt? Aber wenn man die heidnische Wlssen-
*) TertulL, de anima 57: „Quid ergo dicemus magiam? quod omnes
paeue — fallaciainl sed ratio fallaciae solos non fugit Christianos, qui
.spiritalia nequitiae, non quidem socia conscientia, sed inimica scieutia novi-
mus, nee invitatoria operatione, sed expugnatoria domiuatione tractauius
multiformem luem mentis humanae, totius erroris artifieem, salutis pariter
animaequae vastatorem. sie etiam magiae, seeundae scilieet idololatriae etc."
-) Auch die mathematischen Wissenschaften waren verdächtig. Noch
am Anfang des 4. .Jahrhunderts wollte man in Emesa den Euseb nicht zum
Bischof, weil er diese Studien betrieb (Socrates, h. e. II, 9).
25() I^iL' ^^issionspredigt in Wort und Tat.
Schaft nicht loliren darf, darf man sie dann lernen? Hier ist
Tertiillian znr Xaclisicht bereit; denn „wie können wir die welt-
lichen Studien verwerfen, ohne welche doch die religiösen
nicht bestehen können?^' Ein bemerkenswerter Satz (c. 10)^.
Es folgt der Handel. Tertiillian ist sehr geneigt, ihn ganz
zu verbieten'-; d(>nii der Handel entstammt der Habsucht und ist
') Das Lesen schlechter und verführerischer Bücher ist natürlich stets
untersagt w-orden, sobald sich eine Gefahr hier bemerkbar gemacht hat.
Darf man blasphemische oder ketzerische Reden nicht einmal anhören, so
darf man sich noch viel weniger mit Büchern dieses Inhalts beschäftigen.
Das. was Dionysius Alex, (bei Euseb., h. e. YII, 7) von sich selbst erzählt,
bestätigt nur die Regel: ,Ich habe mich", schreibt er dem römischen Pres-
l)yter Philemou, , sowohl mit den Schriften als auch mit den Überlieferungen
der Häretiker beschäftigt und dadurch zwar meine Seele einige Zeit durch
ihre verabscheuungswürdigen Einfälle befleckt, aber doch daraus den Nutzen
gezogen, daß ich sie bei mir selbst widerlegt habe und sie mm noch viel
mehr verabscheue. Ein Bruder unter den Presbytern wollte mich davon ab-
halten aus Furcht, ich möchte mich von dem Schlamme ihrer Schlechtigkeit
fortschwemmen lassen, und wie ich selbst fühlte, hatte er vollkommen recht,
daß ich dadurch meine Seele befleckte. Da schickte aber Gott eine Ei-schei-
nung, die mich stärkte. Und es erging eine Stimme an mich, welche mir
mit deutlichen Worten befahl: ,Lies nur alles, was dir in die Hand kommt;
denn du bist befähigt, alles zu beurteilen und zu prüfen, und dieses Ist dir
vom Anfange an auch die Ursache zum Glauben geworden.' Ich glaubte der
Erscheinung, da sie übereinstimmend war mit jeuer Aufforderung des Apostels,
die er an die Stärkeren richtete: ,Werdet geschickte Geldwechsler'." S. Didasc.
apost. C.2 (S. 5 ed. Achelis): ,Von allen Schriften der Heiden halte dich
fern; denn was willst du mit den fremden Worten oder den Gesetzen und
falschen Prophezeiungen, die junge Leute sogar vom Glauben abbringen?
Was fehlt dir denn an dem Worte Gottes, daß du auf diese Geschichten der
Heiden dich stürzest? Wenn du Geschichtsberichte lesen willst, so hast du
das Buch der Könige, wenn aber die Weisen und Philosophen, so hast du die
Propheten, bei denen du mehr Weisheit und Verstand findest, als bei den
Weisen und Philosophen; denn es sind die Worte des einen, allein weisen
Gottes. Und wenn du Hymnen liegehrst, so hast du die Psalmen Davids,
und wenn etwas über den Anfang der Welt, so hast du die Genesis des
großen Moses, und wenn Ge.setze und Vorschriften, so hast du das Gesetz. . . .
Aller jeuer fremden Dinge also, die dawider sind, enthalte dich gänzlich."
Generelle Verbote bestimmter Bücher unter Androhung von Strafen beginnen
mit der Anordnung Constantins in bezug auf die Schriften des Arius und
anderer Ketzer (s. Eu.seb., Vita Const. III, 66; Verbot der Bücher des Euuo-
mius, s. Philostorg., h. e. XI, 5). — Ob und in welcher Weise man heidnische
Philosophen und Dichter zu zitieren hal)e, blieb ein Problem. Die Apologetik
hat von ihnen bekanntlich reichen Gebrauch gemacht. Die profanen Zitate
l)ei Paulus erschienen aber doch auffallend (Tit. 1, 12; I Cor. 15, ;>^; Act. 17, 28);
sie sind, seitdem Origenes sich über sie geäußert hatte, oft besprochen und
in liberalem Sinn angerufen worden. Origenes meinte (Hom. XXXI in Lucam
t. 5 p. 202j: ,.ldeo assumit Paulus verba etiam de his, cr.i foris sunt, ut
sanctificet eos."
-) Tertullian steht damit ziemlich allein; selb.st von einem Manne wie
Irenäus wissen wir, daß er gegen den Handel der Christen nichts einzuwenden
hatte, s. IV, 30, 1.
Der Kampf gegen den Polytheismus und C4ötzendien.st. 257
mit der rdololame verknüpft, wenn auch nicht mit der direkten.
Er schafft — das genügt — die Mittel für den Tempehlienst.
„Mögen immerhin dieselben Waren, ich meine den Weihrauch imd
die übrigen ausländischen Waren, die zu Götzenopfern gehören,
den Leuten auch 7ai medizinisclien Salben und vor allem auch
uns Christen zur Ausstattung bei Begräbnissen dienen, du stehst
aber ganz sicher als ein Förderer des Götzendienstes da, wenn
Aufzüge, Gottesdienste und Opfer für die Idole infolge von Ge-
fahren, Yerlusten, Unglücksfällen, Plänen, Gesprächen oder Ge-
schäftsunternehmungen veranstaltet w^erden''. ,3Iit welcher Stirn
kann ein christlicher Spezereihändler, wenn er an den Tempeln
vorbeigeht, den Qualm der dampfenden Altäre verabscheuen und
von sich wegblasen, da er sie selber damit versorgt hat?" (c. 11)^.
Strikt verboten w^urde das Zinsnehmen, welches von dem W^ucher
nicht unterschieden worden ist. Allein das Verbot wurde nicht
gehalten. Immer wieder mußte sogar gegen Kleriker, Bischöfe
und Gemeindewitwen geeifert werden, welche Zins nahmen oder
wucherische Handelsgeschäfte trieben-.
Kann der Christ Beamter sein? Joseph und Daniel waren
es und haben sich vom Götzendienst frei gehalten, sagen die
Freieren. Tertullian ist nicht überzeugt. „Geben wir zu, daß es
jemand gelingen könne, als Inhaber irgend einer Ehrenstelle mit
dem bloßen Titel derselben aufzutreten, ohne zu opfern, oline die
Opfer durch seine Anwesenheit zu autorisieren, ohne Lieferung
von Opfervieh zu vergeben, ohne die Abgabe für die Tempel an
andere zu übertragen, ohne die Tempelsteuern zu verwalten, ohne
selbst oder von Staats wegen Spiele zu veranstalten oder bei den
veranstalteten zu präsidieren, ohne bei einer Feierlichkeit zu
sprechen oder sie anzusagen, ja ohne auch nur zu schwören,
ferner, was auch Handlungen der Amtsgewalt sind, er spreche
ein Urteil über Leben und Tod oder die bürgerliche Ehre eines
Menschen . . . und verurteile dabei nicht und gebe keine Sh'af-
verordnungen, er lasse niemanden fesseln, niemand einkerkern oder
foltern: wenn das glaublich ist, dann könnte man nielits dagegen
haben, daß der Christ Beamter sei." Dazu — die Abzeichen der
Beamten hängen alle mit dem Götzendienst zusammen. „Wenn du
der Pracht des Teufels abgeschworen hast, so wisse, es ist jedes-
mal Idololatrie, weimi du etwas von ihr anrührst" (c. 17. 18).
') Aber selbst den Klerikern konnte man das Hiindeltreiben nicht völlig
untersagen, sondern es nur einschränken, s. den 19. Kanon vori Elvira.
^) S. Funk. Zins und Wucher im christlicben Altertum, in der Tüb.
Theol. Quartalscbr. Bd. 57, 1875, S. 214fF. S. Euseb., h. e. V, 21 ; Cypr., de
lapsis 6; testim. III, 48. Commod., instruct. II, 24. Konzil von Elvira,
can. 20.
Harnack, Mission. 2. Aufl. 17
25S ^-'iö Missionspredigt in Wort und Tat.
Die Unmöglichkeit, daß der Christ Offizier sei, ist damit schon
ausgesprochen. Kann er aber nicht Gemeiner sein und niedere
Chargen liekleiden? Sie brauchen nicht zu opfern und haben mit
Urteilen über Leben und Tod nichts zu tun. Indessen — „es fügt sich
nicht, unter dem Fahneneid Gottes und der Menschen, unter dem
Feldzeichen Christi und des Teufels, im Lager des Lichts und in
dem der Finsternis zu stehen, eine und dieselbe Seele kann nicht
zweien verpflichtet sein, Christus und dem Teufel.^' Aber man
beruft sieh auf die israelitischen Krieger, auf Moses, auf Josua,
auf die Soldaten, die zu Johannes kamen, auf den Hauptmann,
der gläubig wurde. „Der Herr hat nachmals in der Entwaffnung
des Petrus jedem Soldaten das Schwert abgeschnallt. Selbst im
Frieden soll man es nicht führen" (c. 19).
Es gibt noch vieles im Leben des Tages, was man ganz ver-
meiden muß. Alle Redensarten sind zu verbannen, in denen Götter-
namen vorkommen; man darf also nicht sagen „Beim Hercules"
oder „Medius Fidius" oder ähnliche Beteuerungen aussprechen
(c. 20). Auch soll man Schwüre bei den Götzen nicht aus Furcht
(als Christ erkannt zu werden) schweigend auf sich nehmen ^.
Jeder heidnische Segenswunsch ist abzulehnen; denn das heißt
bei Gott verflucht werden. „Es verleugnet jeder, der bei irgend-
einer Angelegenheit sich verstellt und sich für einen Heiden halten
läßt. Jede Yerleugnimg ist natürlicli ein Götzendienst, sowie jeder
Götzendienst eine Verleugnung, sei es in Worten, sei es in Werken"
(c. 21.22). Aber auch der Eidschwur, den man sich bei Leih-
geschäften von dem Gläubiger vorsagen läßt, um ihm Sicherheit
zu bieten, ist eine Verleugnung, auch wenn man selbst nicht mit
dem Mund geschworen hat (c. 23).
„Das sind die Klippen, Untiefen und Meerengen der Idolo-
latrio, zwischen denen der Glaube hindurchsteuern muß, die
Segel vom Hauche Gottes geschwellt" — die große Mehrzahl der
Christen dachte seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts darüber
anders und führte ihr Schiff ohne diese Sorgen über die Fähr-
nisse-. Die ü'robe Tdololatrie wui'de verabscheut und strenj»- be-
') „Ich kenne einen Christen, der, als ihm auf der Straße im Streit zu-
gerufen wurde: ,Juppiters Zorn möge dich treti'en', antwoitete: ,Nein dich'."
IIif!r ist nach Tertullian nicht nur die Verwünschung unerlaubt, sondern vor
allem die Anerkennung .Tuppitors.
^) Man lese das II. und III. Buch des Pädag. des Clemens; er gehört
gewiß nicht zu den „Laxen'", aber soweit wie Tertulliau geht er längst nicht.
Andererseits geißelt schon er (l'aedag. III, 11,80) das Sonntagschristentum:
„Den in der Kirche empfangenen himmlischen Sinn streift man mit dem
Wechsel des Orts ab und wird der großen Masse ähnlich, mit der mau ver-
kehrt, oder viehnehr es wird nach Ablegung der affektierten und erheuchelten
Sittsamkeit ersichtlich, daß man seine wahre Gestalt nur maskiert hat, und
Der Kampf gegen den rolytlieisnius und Götzendienst. 259
fitrafr, abor die feine, sofern es überhaupt eine solche war,
wenigstens zu Tertulliaiis Zeit nicht mehr viel beachtet. TcrtuUian
selbst ül)ri<i-ens rühmt im Apologeticus, da es ihm hier so paßt,
gegenülxn- dem Vorwurf der sträflichen Isolierung der Christen:
„Wir treiben Schiffahrt und tun Kriegsdienste mit euch
zusammen und sind im Ackerbau und Handel beschäftigt"
(c. 42). Auch bemerkt er triumphierend, daß die Christen überall
zu finden seien, auch in allen Staatsstellen nnd im Heere, selbst
im Senat. „Nur die Tempel haben wir euch überlassen." So war
es; die Tatsachen lehren uns, daß Christen in allen Berufen zu
finden waren \ und daß Konflikte, die aus dem Berufe entsprangen,
im ganzen (mit Ausnahme des Soldatenberufs, s. darüber später)
sehr selten gewesen sein müssen. Auch die herbe Kritik am Staat
als solchem und am Rechtsleben, wie sie Tatian, Tertullian und
Hippolyt, bez. auch (von anderen Prämissen freilich) Ürigenes
geübt haben, ist selten ins Praktische übersetzt worden-. Mochte
nachdem man dem Worte Gottes ehrfurchtsvoll gelauscht, läßt man es dort
drinnen, wo man es gehört hat, draußen aber ergötzt man sich in Gesell-
schaft der Atheisten mit Musik usw."
') Doch — bemerkt TertulL, Apol. 43, witzig — „beklagen können sich
mit Grund über die Nutzlosigkeit der Christen die Kuppler, die Gelegenheits-
macher, die Meuchelmörder, Giftmischer und Zauberer, ebenso die Opfer-
beschauer, Wahrsager und Sterndeuter". Schon in der Apostelgeschichte
(c. 19) wird erzählt, daß sich in Ephesus die Handwerker, welche vom Kult
der Diana lebten, durch die Christen beeinträchtigt fühlten.
-) Doch sagt Cäcilius bei Minucius Felix von den Christen (c. 8): ,.natio
in publico muta, in angulis garrula" .... „honores et purpuras despiciuut".
Tatian, Orat. 11: ßaoileveiv ov ßelco, jr/Mvreir ov ßovXo(.iai, ri/v oToaT7p/iav Jiao/j-
Tr}/w.i .... öo^o/iiavi'ag ajiv]'k'lMyiiai. Speratus (Martyr. Scilit.): „Ego imperium
huius saeculi non cognosco." Tertullian, Apolog. 46: „Christianus uec aedili-
tateni alFectat." Kritik der römischen Gesetze 1. c. c. 4 — 0. Zum Vorwurf
der ,infructuositas in negotiis" s. TertulL, de pallio 5 [was hier vom Pallium
gesagt ist, gilt vom Christen]: „Ego, inquit, nihil foro, nihil campo, nihil
curiae debeo, nihil officio advigilo, nulla rostra praeoccupo, nulla praetoria
observo, canales non odoro, cancellos non adoro, subsollia non coutundo, iura
non conturbo, causas non elatro, non iudico, non milito, non reguo, secessi
de populo. in nie unicum negotium mihi est; nisi aliud non curo quam ne
eurem, vita meliore magis in secessu fruare quam in promptu. sed iguavam
iufamabis. scilicet patriae et imperio reicjue vivendum e.st. erat oHjn ista
sententia. nemo alii nascitur moriturus sibi. certe cum ad Epicuros et Zenones
ventum est, sapieutes vocas totum quietis magisterium, qui eam summae
atque unicae voluptatis nomine consecravere." S. auch das Folgende.
Apol. 38 f.: „nee ulla magis res aliena quam publica" .... „una,m omnium
rempublicam agnoscimus, mundum". Kein Heimatsgefühl bei den Chi-isten;
s. Dioguet. 5, 5: naxqibag oixorair idi'ag , d^Ä' d)g jrÜQOixof /ifTf/ovai jkxvtwv
ojg nollxai , y.ai n6.v&' vjrofieyovoir wg ^sroi • jräoa ^Evrj jiarQtg ioziv avzöjv, Kai
jiüoa TiaToig |i')'>/. Clemens, Paed. III, 8, 41 : naTQlÖa ejiI yfjv ovx f'^ofiev. Vita
Polycarpi 6: ttuviI 8ov}.<o deou Jiäg 6 y.öoftog noXig , Tiarglg de i) IjiovQaviog
'lEQovauh)i.f erravda Ss jiaooixeZv, älV ov xaioiXETv, ojg ^eroi y.al JzaQEJiidijfioi
17*
260 1^'*^ Missionspretligt in Wort and Tat.
man gogon den ^vil•klicllcn Staat das Reich Christi oder den
stoischen Weltstaat oder einen ])hitonisclien Staat der christlichen
Philosophen als die höchste gottgewollte A'erbindnng ausspielen —
das Leben. \v(Miigstens seit dem Ende des 2. Jahrhunderts, blieb
davon unberülirt; der Pädagog des Clemens gibt bereits An-
weisungen, wie man sich „christlich" in der Welt einzurichten
habe. Am Ende unserer Periode war der Hof, die Beamtenschaft,
das Heer von Christen angefüllt K
Aber daß man den groben und eigentlichen Götzendienst bis
zuletzt bekämpfte, bedeutete etwas, bedeutete viel. Das Christen-
tum hat hier nicht praktiert-.
TSTuyftfOa, cf. auch c. 30. Celsus sagt (bei Origenes VIII. 68) wohl nicht
grundlos seinem christlichen Gegner: ,Wenn alle so handeln würden wie du,
so wäre der König liald allein und vereinsamt, und es würden die DingO'
auf Erden in Kürze in die Hände der wildesten und scheul.Uichsten Barbaren
geraten.'' Im folgenden weist er darauf hin, daß das Christentum unter
solchen Umständen gar nicht existieren würde, daß also das römische Reich
es trägt. Die Christen sagten umgekehrt: Wir stützen allein das R'eich.
Zwischen dem 2. und 3. Jahrhundert (die Grenze mag c. 180 liegen) bestand
ein großer Unterschied. In jenem erschienen die Christen größtenteils als
eine lichtscheue, vom öffentlichen Leben zurückgezogene, unzüchtige und
ruchlose Baude und hielten sich wirklich vom Leben fern; in diesem sah
das Heidentum im Christentum erschreckt einen Gegner, der ihm auf allen
Gebieten, dem religiösen, politischen und sozialen, öffentlich und machtvoll
entgegentrat. Die Lehre war bereits elienso bekannt wie der Kultus, die Dis-
ziplin und die Verfassung, und wie .sich seit der Zeit des Gallienus überall
christliche Basiliken erhoben neben den alten Tempeln, so waren in allen
.Staatsämtern Christen. In Ansehung der staatliehen und gesellschaftlichen.
Stellung der Christenheit gehört die Zeit von c. 250 überhaupt mehr zum
4. Jahrhundert als zu der vorherliegenden Periode.
') Daß Origenes eine zahlreiche Klasse von Christen konstatiert, die
alles glaubt, dem Priester gegenüber devot ist, aber sittlich jeden Halt ent-
behrt, ist nicht auffallend; aber auffallend ist, daß er ihnen deu Himmel
zuspricht, weil sie doch Gläubige sind! (s. Hom. X, 1 in Jesura Nave t. 11
p. 102, hom. XXI, 1 p. 182 ff'.). Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch, daß
Monica, die Mutter Augustins, zwar in Sorge ist um der Hurerei ihres jugend-
lichen Sohnes willen, aber ihm die Tischgemeinschaft erst kündigte, als er
Manichäer geworden war (Confess., Buch 3).
'■') Auch die christlichen Sekten wohl nur selten; in einigen Fällen hat
der sublimierte Intellektualismus der (inostiker und ihr pneumatisches Selbst-
gefühl mit allem äußeren Handeln auch die Berührung mit den Götzen für
etwas Indifferentes, das öffentliche Bekenntnis für etwas Unnützes, ja für
Selbstmord erklärt (s. die Polemik bei Iren. IV, 33, 9; Clemens, Strom. IV, 4, IG;
Tertull., Scorpiace adv, Gnost.). Aber die Ketzerbestreiter haben die Guostiker
auch in solchen Fällen der prinziiiiellen Verleugnung des Christenstandes
geziehen, wo eine solche gar nicht vorlag (s. das über Heracleon oben S. 182
Bemerkte), und sie haben auch ihre freiere Stellung zum Götzenopfertleisch-
Essen als Abfall l)ezeichnet.
Die volle Ausgestaltung des Christentums als synkretist. Religion. 261
Schlußbotraclituiig.
Die volle Ausgestaltung des Christentums
als synkretistische Religion.
Mit welch einem Reichtum und in welclier Fülle von Be-
ziehungen stellt sich doch die christliche Religion schon in ihren
frühesten Anfängen auf heidenchristlichem Boden dar! Und jeder
Punkt scheint die Hauptsache, ja das Ganze zu sein. Sie ist die
Predigt von dem ßi^og TraTijQ jiavjoxQärcoQ, von seinem Sohne
Jesus Christus, dem Herrn, und von der Auferstehung. Sie ist
das Evangelium vom Heiland und von der Heilung, der Erlösung
und der Neuscln'ipfung; sie ist die Botschaft von der Vergottung.
-Sie ist das Evangelium der Liebe und Hilfleistung. Sie ist die
Religion des Geistes und der Kraft, des sittlichen Ernsts und der
Heiligkeit. Sie ist die Religion der Autorität und des unbedingten
Glaubens, und wiederum ist sie die Religion der Vernunft und
der hellen Erkenntnisse; aber sie ist auch Mysterienreligion. Sie
ist die Botschaft von der Entstehung eines ganz neuen Volkes,
welches aber in der Verborgenheit vom Anfang der Dinge an
bestanden hat. Sie ist die Religion eines heiligen Buches.
AVas nur immer als Religion gedacht werden kann, das hat sie,
ja das ist sie.
Schon hierin zeigt sie sich als Synkretismus, aber sie offen-
bart einen Synkretismus besonderer Art: es ist der Synkretismus
der Universalreligion. Aller Kräfte und aller Beziehungen hat
sie sich bemächtigt vmd sie in ihren Dienst genommen; wie arm,
w'ie dürftig, wie beschränkt nehmen sich die anderen Religionen
im Reiche daneben aus! Und doch hat sie von vielen gelernt
und entlehnt, ohne es zu wissen, und sie wäre in dieser ihrer
Fülle und Stärke nicht denkbar, wenn sie nicht Saft und Kraft
auch aus ihnen gezogen hätte. Jene Religionen haben den Boden
für sie gedüngt; auf dies Erdreich ist das neue Samenkorn ge-
fallen, hat seine Wurzeln in dasselbe gesenkt und ist zum mäch-
tigen Baume geworden. Was umschließt diese Religion nicht
alles, und doch läßt sie sich noch immer auf einen ganz einfachen
Ausdruck bringen, und ein Name umfaßt noch alles, der Name
Jesu Christi!
Der Synkretismus dieser Religion zeigt sich auch in der
Fähigkeit, die verschiedensten A'olker in sich hineinzuziehen,
Parther und Medcr und Elamiter, Griechen und Barbaren. Sie
spottet der Völkerschranken. Indem sie alle Elemente an sich
gezogen hat, hat sie nur eines abgestreift, das jüdisch-nationale.
262 Die Missionwpredigt in Wort und Tat.
Die Abstrcifung- dii^ses EleiTKMits bedeutete den Univcrsalismiis;
denn di(! jüdische Religion, ihres Nationalismus entkleidet, war
bereits universal, nur dieser hatte sie zwei Jahrhunderte hindurch
noch in engen Grenzen gebannt gehalten. Und wie universal
zeigt sie sich in bezug auf die Anlagen und die Bildung der
Menschen! Zeitgenosse des Ilermas ist Valentin, beide sind
Christen; Zeitgenosse des Clemens Alexandrinus ist Tertullian,
beide sind kirchliche Lehrer; Zeitgenosse des h. Antonius ist
Eusebius, beide dienen derselben Gemeinschaft.
Aber das, was man Synkretismus im eigentlichen Sinn des
Wortes nennt, ist mit dem allen noch nicht gedockt. Das Chri-
stentum ist seit der Mitte des 3. Jahrhunderts als synkretistische
Religion im vollsten Sinne zu betrachten ^; als solche steht es den
beiden anderen großen synkretistischen Schöpfungen des Zeitalters,
der mit dem Sonnendienst verbundenen neuplatonischen Religion
und dem Manichäismus gegenüber-. Man kann es jetzt ebenso
gut eine hellenische Religion nennen wie eine orientalische, eine
einheimische wie eine ausländische. Synkretistisch war es von
Anfang an auf heidenchristlichem Boden — nicht als pures Evan-
gelium ist es erschienen, sondern mit allem ausgestattet, was die
jüdische Religion in ihrer langen Geschichte an sich gezogen
^) Einer meiner Rezensenten, de Grandmaison (Etndes, Rev. par des
peres de la comp, de Jesus, T. 96, [>. Aug. 1903, p. 817. SL-hreibt: „Comment
une religion syncretiste peut-elle rester exclusive? C'est ce qu'on ne voit
pas." Aber wenn sie alles, was sie übernommen und sich augeeignet hat,
stets als ihr Eigentum und ihr Eigentümliches ausgibt, ja zu ihrem Eigen-
tum macht — warum soll sie da nicht exklusiv sein können?
-j Vgl. mein Lehrbuch der Dogmengesch. Bd. 1' S. 76(jlf. 785 ff. : „Drei
große Religionssysteme haben seit dem Ausgang des 8. Jahrhunderts in West-
asien und Südeuropa einander gegenübergestanden: der Neupia tonismus,
der Katholizismus und der Manichäismus. Alle drei dürfen als die
Endergebnisse einer mehr als tausendjährigen Geschichte der religiösen Ent-
wicklung der Kulturvölker von Persieu bis Italien bezeichnet werden. In
allen dreien ist der alte nationale und i^artikulare Charakter der Religionen
abgestreift; es sind Weltreligionen mit universalster Tendenz und mit
Anforderungen, die in ihrer Konsequenz das gesamte menschliche Leben, das
öffentliche und private, umgestalten. An die Stelle des nationalen Kultus
ist hier ein System getreten, welches Gotteslehre, Weltanschauung und Ge-
schichtsbetrachtung sein will und zugleich eine bestimmte Ethik und ein
gottesdienstliches Ritual umfaßt. Formal sind sich also die drei Religionen
gleich, und auch darin sind sie sich ähnlich, daß jede von ihnen sich die
Elemente verschiedener älterer Religionen angeeignet hat. Ferner zeigen
sie sich darin gleichartig, daß die Ideen der Offenbarung, der Erlösung,
der asketischen Tugend und der Unsterblichkeit in allen dreien in
den A^ordergrund treten. Aber der Neuplatonismus ist die vergeistigte Natur-
religion, der durch orientalische Einflüsse und durch philosophische Spekula-
tion verklärte und zum Pantheismus entwickelte griechische Polytheismus;
tler Katholizi.smus ist die monotheistische Weltreligion auf dem Grunde des
Die volle Ausgestaltung des Christentums als synkretist. Religion. 263
hatte, und sofort auf alles das, was dort etwa noch fehlte, ein-
gehend. Aber nun erst, um die Mitte des 3. Jahrhunderts, war
die neue Religion fertig als die synkretistische Religion par
excellence, und dabei doch exklusiv! Ihr Kirchentum hatte alle
Elemente in sich, die das Zeitalter bot, einen mächtigen Priester-
stand, einen Hohenpriester sowie dienende Geistliche, und dieser
Priesterstand führte sich auf Christus und die Apostel selbst zurück;
die Bischöfe rühmten sich ihrer Sukzession und ihrer von den
Aposteln stammenden Weihe. Was der Begriff „Priestertum"
irffend umfaßte, das besaß sie. In ihrem Grottesdienst samt den
Sakramenten stellte sich wirksames göttliches Handeln dar. Die
zukünftige Welt und die Kräfte des ewigen Lebens ragten in den
Kultus und durch ihn in diese Welt hinein und konnten ergriffen
und geistleiblich zur Vergottimg angeeignet werden. Was die
Begriffe „geoffenbarte Erkenntnis", „Mysterien", „Kultus" irgend
umfaßten, das eröffnete sie ihren Gläubigen. In ihrer Lehre hatte
sie alles in sich aufgenommen, was der Synkretismus des Zeit-
alters, wie wir ihn S. 21 ff. kurz skizziert haben, bot; sie mußte
diesem System eine andere Orientierung geben und es an wichtigen
Punkten korrigieren, aber im übrigen hat sie es sich angeeignet.
In dem Lehrsystem des Origenes, welches in der zweiten Hälfte
des 3. Jahrhunderts die denkenden Christen des Orients beherrschte,
ist die Vereinigung von Evangelivmi und Synkretismus perfekt.
Was der Begriff „Hellenische Religionsphilosophie" erhält, das
besaß sie in geläuterter, aber auch mit neuem Aberglauben be-
Alteu Testaments und des Evangeliums, alier auferbaut mit den Mitteln der
hellenischen Spekulation und Ethik; der Manichäismus ist die dualistische
Weltreligion auf dem Boden des Chaldäismus, aber versetzt mit christlichen,
parsistischen und vielleicht buddhistischen Gedanken. Dem Manichäismus
fehlt das hellenische Element, dem Katholizismus das chaldäisch -persische
fast ganz (soweit nicht schon das Spätjudeutum von ihm beeinflußt war).
Entwickelt haben sich diese drei Weltreligionen im Laufe von zwei Jahr-
hunderten (c. 50 — 250). Der Katholizismus geht voran, und der Manichäismus
ist die jüngste Schöpfung. Überlegen aber sind beide dem Neuplatonismus
schon deshalb, weil dieser keinen Stifter besessen hat; er hat deshalb keine
elementare Kraft entfaltet und den Charakter einer künstlichen Schöpfung
nicht verloren. Versuche, einen Stifter für ihn zu erfinden, die gemacht
worden sind, sind natürlich gescheitert. Der Katholizisiuus aber ist wiederum
— von dem Inhalte der Religion noch abgesehen — dem Manichäismus
überlegen, weil in ihm der Stifter nicht nur als Otfenbarungsträger, sondern
auch als die persönliche Erlösung und als Sohn Gottes verehrt wird." Diese
drei synkretistischen Weltreligionen stehen dem Kaiserkult gegenüber. Often-
kuudig feindlich war ihm nur das Christentum; die neuplatonische Sonnen-
religion ist sogar darauf bedacht gewesen, ihn zu stärken. Allein in Wahr-
heit war auch sie sein Feind. Auch sie versetzt die Religion in das Innen-
leben, und damit ist der Kaiserkult schon entwurzelt. Es war die größte
Täuschung Juliaus, daß er glaubte, die ueuplatonische Sonnenreligion mit.
der politisclion Religion verbinden zu können.
264 Die MLs.sionspredigt in Wort und Tat.
lastcter Gestalt ^ trächtig und stark, ihrer Eigenart sicher und
vor dem Zerfließen in andere Religionen geschützt, glaubte sie nun
liberaler und nachsichtiger sein zu können, wenn man sich ihr nur
unterwarf. Ihre Missionsmethoden änderten sich langsam aber
bedeutend im Laufe des 2. Jahrhunderts. Derselbe Gregorius
Thaumaturgus, der sich in seiner religionsphilosophischen Zu-
sammenfassung des Christentums als ein Schüler des Origenes
beweist, der als Hellenist den Meister noch übertrifft, ist als
Bischof den heidnischen Neigungen der von ihm Bekehrten in
überraschender Weise entgegengekommen. Wir werden von ihm
noch hören. Heilige und Nothelfer, also Halbgötter, dringen in
die Kirche ein^; Lokalkulte und lokale heilige Stätten werden
gegründet; die Gebiete des Lebens werden an Schutzgeister aufs
neue verteilt; die alten Götter ziehen ein, nur mit neuen Masken;
rauschende Jahresfeste werden gefeiert; Amulette und Sakramen-
talien, Reliquien und heilige Knochen werden l)egehrenswerte
Gegenstände^. Hie Religion — einst, als streng geistige, jede
^) Die religioiisphilo.soplii.sche Stufe, welche durch Miiniier wie Posido-
nius und Philo begründet worden ist und in dem Neuplatoui^mus gipfelte,
hat sich in der christlichen Religionsphilosophie, wie sie sich bis zum Anfang
des 3. Jahrhunderts entwickelt hat und in Origenes kulminierte, vollendet.
Blindheit gegenüber dem sinnlich Wirklichen und Kritiklosigkeit haben dabei
auf der christlichen Linie in erschreckender Weise zugenommen; aber das
Innenleben ist vertieft und die philosophische Gotteslehre durch die Ein-
führung der Schöpfungslelire modifiziert worden, in die Spekulation ist die
Idee der Gottmenschheit eingeführt, und noch heute meinen hervorragende
Denker, darin den eigentlichen Wert der christlichen Religion und ihre Haupt-
bedeutung in der Geschichte des Geistes sehen zu dürfen. Den Kampf gegen
die materialistische, skeptische und epicureische Philosophie haben die Apo-
logeten, liesonders aber Origenes und Dionysius Alex, geführt.
^) Auch das Däumehi (Orakelaufschlagen ) in der h. Schrift gehört hier-
her. Bezeugt ist es m. W. erst für das 4. .Jahrhundert, aber gewiß ist es
älter; s. Augustin, ep. 5."), 37 : „hi qui de paginis evangelicis sortes legunt,
etsi optandum est, ut hoc potius faciant ciuam ad daemonia concurrant,
tarnen etiam ista mihi dLsplicet consuetudo, ad negotia saecularia et ad
vitae huius vanitatem jiropter aliam vitam loquentia oracula divina velle
convertere." Das ist doch laxer als sich Hernias (Mand. 11) in Bezug auf
den Pseudopropheten geäußert hat. ^'gl. auch das „tolle, lege" iu Augustins
eigner (beschichte.
•') Man hat nicht zu fragen, was die Kirche an Mythologien, Aber-
glauben und Sakramentalien aufgenommen hat, sondern vielmehr in welcher
Abfolge sie es aufgenommen und was sie nicht rezipiert hat. In bezug
auf die erste Frage handelt es sich nicht sowohl darum, was von Anfang an
dort und hier von dergleichen Vorstellungen und Dingen in den Gemeinden
vorhanden war — es war natürlich alles Syrische vorhanden, sobald ein paar
Dutzend Syrer bekehrt waren, und alles Hellenische, sobald die Gemeinden
Hellenen in ihrer Mitte zählten usw. — , sondern darum handelt es sich, wann
diese Vorstellungen und Dinge von der Kirche geheiligt worden und in
den öffentlichen Gebrauch oder in den öffentlichen Ausdruck
Die volle Ausgestaltung des Christentums als synkretist. Religion. 205
Materialisienini!,' verbietend und beküinpfeiid — materialisiert sieh
in jeder Bezieliun«^. Sie hat die Welt und Natur getötet, nun aber
beginnt sie sie wiederzuerwecken, freilich nicht die ganze, sondern
Partikeln und Ausscdinitte, und zwar die abgestorbenen und häß-
lichen. Die Wunder in den Kirchen werden zahlreiclier, äußer-
licher und plumper. Was apokryphe A})Ostelgeschichten faboliul
erzählt haben, wird in die Gegenwart hineingezogen und von der
Gegenwart behauptet.
Diese Kirche, an deren Religion Porpliyrius die unverschämte
Kritik an dem Weltganzen, die Lehre von der Menschwerdung^
des Gebets und der Lehre (in der Stadt, in der Provinz, in der ganzen
Kirche) gekommen sind. Die Geschichte dieser Rezeptionen ist noch nicht
geschrieben worden und kann auch nur in Fragmenten geschrieben werden ;
auch ist vieles von Anfang an nebeneinander hergegangen. Aber eine Frage,
wie die. wann bestimmte heidnische Mythologumeneu und Riten mit geän-
derten Etiketten in den öffentlichen Ausdruck der kirchlichen Religion ge-
kommen sind, läßt sich in einigen wichtigen Fällen wohl beantworten. Nur
muß die Antwort mit mehr Umsicht und Skepsis gesucht werden, als das
heute üblich ist. Versuche, wie die, die ur christliche Feier des Sonntags,
die urchristliche Abendmahlsfeier, die Vorstellung von der Jungfraueu-
geburt, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt usw. auf den
Einfluß eines bestimmten (obskuren oder publiken) heidnischen Kultus
zurückzuführen, scheinen mir gründlich verfehlt und bisher an keinem Punkte
geglückt (eine andere Frage ist, wie diese Einrichtungeu und Vorstellungen
sehr bald aufgefaßt worden sind). Im allgemeinen wird man sagen dürfen,
wenn man nicht auf einzelne gnostische Kreise, sondern auf die großen Ge-
meinden sieht — aber das Recht dieser Unterscheidung wird zurzeit auch
bestritten! — , daß zuerst die Grundgedanken der idealistischen Philosophie
rezipiert worden sind und ihnen die Rezeption der Mythologien und Riten
gefolgt ist. Was die zweite Frage betrifft, so ist es am w'iehtigsten zu kon-
statieren, wie lange und wie kräftig sich die Kirche gegen die Astrologie,
diesen Todfeind der Moral und Freiheit, gesträubt hat. Wer überschlägt,
welche Macht in der Kaiserzeit — beim allgemeinen Niedergang der Natur-
wissenschaften — die Astrologie gewesen ist, wie sie sich in das Gewand
der Wissenschaft zu hüllen verstanden hat, wie sie sich überall eindrängte,
und wie sehr sie der passiven und müden Stimmung des Zeitalters entgegen-
kam, wird den Widerstand, den die Kirche — der Gno&tizismus war auch
hier ziemlich wehrlos — geleistet hat, zu würdigen wissen. Hier ist eine
Großtat der Kirche zu verzeichnen! Jüngst hat Schür er in seiner Abhand-
lung über die siebentägige Woche im Gebrauche der christlichen Kirche der
ersten Jahrhunderte (Ztschr. f. NTliche Wisseusch. Bd. 6, 1905, S. 1 ff. 43 ff.)
die Stellung der Kirche zur Astrologie sachkundig eröi'tert. Im 2. Jahrhundert
hört mau noch so gut wie nichts von ihr in der Kirche, d. h. sie wird als
heidnische Afterweisheit, so schlimm und schlimmer als der Polytheismus,
bekämpft. Im 3. Jahrundert erhebt sie auch in der Kirche ihr Haupt; im
4. muß sie innerhalb der Kirche aufs schärfste zurückgewiesen werden. Die
kirchlichen Theologen haben sie zu allen Zeiten entrüstet verurteilt, aber
sie wurden seit dem Ausgang des 3. Jahrhunderts in den Gemeinden ihrer
nicht mehr Herr und konnten es nicht verhindern, daß sie eindrang und
Gedanken und Sprache durchsetzte.
') Der Heide bei Macarius Magnes IV, 22: El öl y.ai la imv 'Ei.h'ivon'
266 Pie Missionspredigt in Wort und Tat.
und die Bolianptung der Auferstehung des Fleisches zu tadeln
fand ^ hat in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts missioniert,
und sie ist zum Siege gekommen; aber hätte man sie vor Gericht
gefordert und sie gefragt, mit welchem Rechte sie die j^euerungen
zugelassen habe, so hätte sie antworten können: Ich bin un-
schuldig; denn ich habe nur Keime zur Entfaltung gebracht, die
man in mich eingesenkt hat von Beginn meines Daseins an! Den
übrigen Religionen hat erst diese Religion den Boden entzogen,
imd ihre Religionsphilosophie hat als Kulturmacht die antike
Philosophie ersetzt^. Aber das. was der christlichen Religion
damals den Sieg gegeben hat, verbürgt nicht die Dauer dieses
Siegs in der Geschichte. Diese Dauer ruht vielmehr auf den
einfachen Elementen, auf der Predigt von dem lebendigen Gott
als dem Yater und auf dem Bilde Jesu Christi. Sie ruht eben
deshalb auf der Fähigkeit, jenen gesamten Synkretismus auch
wieder abzustreifen und sich mit anderen Koeffizienten zu verbinden.
Damit hat die Reformation den Anfang o-emacht.
ovTCO y.ovcfoi; ii]v yvwinp', cog tr roTg dyükuaoiv evöov otKetv vofii^eii' rovg deovg,
rro/./.(J> >cadao<!jTeoor slyer t!jv eWoiav rov jnoTEVovrog, ort eig rijv yaarioa Maotag
rr)? Tiaodh'ov FtaäÖv rö {^sTov, i'ftßox'öv te fvsvsto y.ai TsyJ)h' £on:aoyavoji}i], fisau'n'
aniaiog yöoiov y.al yo)S]g y.ai tcov etc jto/./.öj roinco7' aTOJicoTsgov.
') Schon die Übereinstimmungen zwischen Celsus und Origenes sind
frappant und lehrreich, obschon Celsus keine religiöse Natur war; viel frap-
panter noch sind die Übereinstimmungen zwischen Porphyrius und den orien-
talischen Kirchenlehrern seiner Zeit. Die scharfsinnige, an vielen Punkten
berechtigte Kritik des Porphyrius an den Evangelien (namentlich dem vierten)
und an dem ihm so unsympathischen Apostel Paulus kann darüber nicht
täuschen, daß er, abgesehen von jenen oben genannten drei Punkten, mit
den Christen wesentlich einer Meinung war und in derselben religiösen
Stimmung lebte. Der Hauptj>unkt der Ditferenz war, daß er mit der Gottheit
auch das Weltganze ehrfürchtig umfaßte und die Gottheit nicht von ihm
abtrennte, obgleich er „den befleckten Piock des Fleisches" ebenso haßte wie
die christlichen Lehrer.
^) Vgl. die von Heinrici, Das Urchristentum (1902) S. 3, aufgeworfene
Fraj^e.
Drittes Buch.
Die Missionare;
Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Erstes Kapitel.
Die christlichen Missionare (Apostel, Evangelisten,
Propheten, bez. Lehrer; nicht berufsmäßige Missionare).
I.
Bevor wir in die eigentliche Untersuchung eintreten, sei eine
kurze Übersicht über den Gebrauch des Wortes „Apostel"' im
weiteren und engeren Sinne in den ältesten christlichen Schriften
vorausgestellt ^
(1) Bei Matthäus, Marcus und Johannes ist „Apostel" kein
besonderer und auszeichnender Name für den engeren Jüngerkreis
Jesu. Die Mitglieder desselben heißen vielmehr fast stets die
„Zwölf"' ^, bez. die zwölf Jünger^. Ihre Auswahl erfolgte, wie
aus Matth. 19, 2S geschlossen werden kann, vielleicht im Blick
') Nur um Apostel Christi handelt es sich; indessen mag doch bemerkt
werden, daß Paulus II Cor. 8, 23 von u:i6aTo/.oi fy.y.bjaion' gesprochen, und daß
er den Epaphroditus, der ihm eine Spende der philippischen Gemeinde ge-
bracht, „Apostel" der Philipper (Phil. 2, 25) genannt hat. Hebr. 3. 1 wird
Jesus , Apostel* und Hohepriester unseres Bekenntnisses genannt. In Joh. 13, 16
ist „Apostel"* nur als Beispiel gebraucht: ovy. egtiv öovIoq fuiCcov tov xvqiov
ai'zov, ovde äjtöaTo/.og fiei'Qoiv tov :Tefiy>avzog avröv. — Literatur: s. meine Aus-
gabe der Lehre der 12 Apostel in den Texten u. unters. Bd. 2, 1884. Lehr-
buch der Dogmengesch. P, 1894, S. 153 tt'. Se ufert. Der Ursprung und die
Bedeutung des Apostolats in d. christl. Kirche, 1887. Weizsäcker, Apostol.
Zeitalter, 2. Aufl., 1892, vv. 11. Zahn. Skizzen aus dem Leben der alten
Kirche, 2. Aufl., 1898, S. 383. Haupt. Zum Verständnisse des Apostolats im
N.T., 1896. Wernle, Die Anfänge unsrer Religion, 2. Aufl., 1904. Monnier,
La notion de TApostolat des origines a Irenee, 1903.
•-) Matth. 10. 5: 20, 17: 2G. 14. 47; Marc. (3. 14): 4. 10; 6, 7: 9.35; 10, 32;
11,11; 14.10.17.20.43: Joh. 6, 67. 70. 71; 20.24.
^) Matth. 10, 1; 11, 1; 26.20. — Hierher sind auch die Fälle zu rechnen,
in denen sie „die Elf" Marc. 16,14). bez. .die elf Jünger" genannt werden
(Matth. 28, 16).
'2()b I'i'" i^iiri^sional•o; Mud;iiitiiten und (iegenwirkungen der Mission.
anf (lio zwölf Stäinnic Israels '. Die Tatsache der Auswahl selbst ist
m. E. historisch, ebenso wahrscheinlich die Überlieferung, daß
Jesus sie bertMts bei seinen Lebzeiten einmal zur Verkündigung
des Evangeliums ausgesandt und mit unter diesem Gesichtspunkt
erwählt hat. Dennoch sah man in der Urgemeinde ihre besondere
AVürde nicht darin, daß sie Apostel, soiulern daß sie die zwölf
(von Jesus erwählten) Jünger waren. J»ei Johannes heißen sie
niemals die Apostel-, bei Matthäus scheinbar einmal „die zwölf
Ajjostel'"' (10,2)''; doch ist das Korrektur; Hyrus Sinait. schreibt
,. Jünger". Marens schi'eibt einmal ((>, 130) „die Apostel", aber im
Zusammenhang der Erzählung von ihrer zeitweisen Missionstätig-
keit z. Z. Jesu. Alle drei Evangelisten kennen also das Wort
„Apostel" als Bezeichnung der Zwölfe nicht: es gibt nur einen
Fall, in welchem ad hoc das Wort auf sie angewendet wird'*^.
(2) Anders steht es bei Paulus; er braucht den Terminus „die
Zwölfe" niemals — denn I (Joi-. 15,5 gibt er eine Formel der Ur-
gemeinde wieder-' — , sondern er braucht ausschließlich den Begriff
„Apostel"; aber sein Sprachgebrauch ist hier nicht eindeutig:
(a) er nennt sich selbst Apostel Jesu Christi und legt darauf,
daß er es ist, das höchste Gewicht''. Geworden ist er es so, wie
^j Ausdrücklich sagt dies Baniabas ; ep. 8 : oraiv öry.advo clg /KunfQiov
Tojy (jv}.cov Ötl iß' ai (/i'^.ai tov '/öouv//..
-) Eine merkwürdige Tatsache! In den Johannesbriefen komujt ^Apostel"
nlierhaupt nicht vor. Indessen sind diese Briefe von einem Manne geschrieben,
der — wer es auch immer sei — apostolische Rechte über eine Mehrzahl
von Gemeinden in Anspruch nahm und ausübte. Das ist namentlich nach
dem o. Briefe deutlich (s. meine Abhandlung in dem 15. Bd. der , Texte u.
Unters.". Heft 3). Näheres darüber wird unten folgen.
') Also -nicht einfach „die Apostel". Der Ausdruck „die zwölf Apostel"
findet sich sonst nur noch Apok. 21, 14. Auch hier ist ^Zwölf'' nicht mü(5ig;
denn die Apokal^-pse befolgt einen weiteren Sprachgebrauch in bezug auf
Apostel (s. u.).
*) Es wird dem ursprünglichen Sachverhalt entsprechen, wenn es Marc. 3, 14
heißt: yrrolijöf)' ÖojÖfy.a irn (hnir iif.t'' avTor y.al Iva ujiootfX?.!/ (vnovg y.yjQva-
anv y(u l'yj-ty y^ovaiav r^ßdllfir tu ()a(fi('n'ia. Die Aussendung (innerhalb
Israels) wird von Anfang an ein Zweck der Auswahl gewesen sein; s. auch
das Wort von den „Mensehenfischern" Marc. 1, 17. — Zu achten ist übrigens
in diesem Zusanunenhang auch auf die Stellen in den Evangelien, in denen
d.-rnnTf7./.Fjv gebrauclit wird. d. h. wo Jesus es von seiner Sendung braucht
mid von den Jüngern. di(( er sendet, s. besonders Job. 20,21: xa&ws n.TtaTcd-
yJv iiF 6 jraTi'jo, auyd) jry/ijro) viiä^.
*) Man könnte aus dem Fehlen der ..Zw()lf' bei Paulus scliließcn, dal.>
der ßegritf überhaupt erst jung sei (trotz der Eviingelien); aber eben I Cor. 15, .5
beweist das Gegenteil.
"/ S. den Eingang aller Paulusbriefe außer 1 und IIThess. , Philipp.,
Philem. Dazu Höni. 1,5; 11,13; 1 Cor. 4,9: 9, 1 ff. ; 15,9; llCor. 12, 12;
(iaiat. 1, 17; (2, 8). In bezug auf l Cor. 4, 9 (()oxlo, 6 Osog y/iäs tov:; d:jooT6-
).ov; foy/aov^ d.-rtdfi^yr d>; i'.Tiöarari'in'^) kann man schwanken, ob taxüroi'g
Die cliri.stlithcn Missionare. 269>
man es allein McM'deii kann, nänilicli (Ini'cli Gott (Ix^z. (Jhi'istus);
er hat ihn IxM'iit'en nnd ihm Jon Apostolat gegeben^; erwiesen
ist dieser A])()st<)lat durch diisWerk, wcdches er geleistet Init, mid
wie er es geleistet hat''^.
(b) Apostel sind auch seine Mitmissionare wie liarnabas und
Silvanus, nicht aber seine ihn unterstützenden Schüler wie Timotheus
und Sosthenes^.
(c) A])ostel sind auch andere, z. Ji. wahrscheinlich Andronicus
und Junias*; ja der Begriff" läßt eine feste Abgeschlossenheit
überhaupt nicht zu; denn wie Gott Propheten und Lehrer „in die
Kirche stellt", so stellt er auch Apost(d als den ersten Stand in
dieselbe^; diese charismatischen Beruf'sstände sind numerisch unbe-
schränkt, denn sie folgen dem Bedürfnis, wie Gott es erkennt.
Zum Apostolat gehören, außer der Berufung cUircli Christus bez.
Gott (s. 0.), beglaubigende Wundertaten*^ und ein Werk'' (sowie
attributivisch zu a.Too7:o'/.or^- zu ziehen ist udcr pnldikativiseh ; ich ziehe jenes
vor (s. I Cor. 15, 8f. i, und es ist mir daher wahrscheinlich, dal.^ die 1. Person
Flur, hier schriftstellerischer Plural ist.
') Gal. 1, Iff. ; Rom. 1, 5 (slaßofiEv xÜqiv y.al cutootoX)']]'); ob i^iüßofiev
wirklicher Plural ist. und welche Apostel iu diesem Fall miteingeschlossen
sind, ist schwer zu sa,gen.
■-) I Cor. 9, 1. -J; 15, 9tf.; II Cor. 12, 12; Gal. 1. 2.
') Barnabas als Apostel folgt aus I Cor. 9, 4ff. und Gal. 2,9, Silvanus
sehr wahrscheinlich aus 1 Thess. 2, 7. In den Thessalonicherbriefen (Adresse)
und im Philipperbrief (Adresse) nennt sich Paulus selbst nicht Apostel, weil
er sich mit Timotheus enge zusammen nennt, der niemals , Apostel" heißt
(1 Thess. 2, 7 braucht nicht auf ihn bezogen zu werden). Wenn diesem
II Tim. 4, 5 das Werk eines „Evangelisten" zugeschrieben wird, so ist das -
also ganz korrekt. Auch Apollo heißt niemals Apostel. — Zu svayyshoi/jg
ist zu bemerken , daß es außer im II. Timotheusbrief im Neuen Testament
noch zweimal vorkommt, nämlich in der Wirquelle der Apostelgeschichte
(Act. 21,8 heißt der Siebenmann Philippus so) und Ephes. 4, 11 (hier sind
Evangelisten neben Aposteln wohl deshalb genannt, weil der Brief au solche
Gemeinden gerichtet ist, die nicht von Paulus, sondern von nicht-aposto-
lischen Missionaren gegründet worden waren ; so ist auch im Hebräerbrief 2, 3
das Wort „Apostel" vermieden [dafür steht oi uHovoavTsg seil, zöv xvqiov],
weil die Adressaten ihren Christenstand nicht von Aposteln erhalten hatten).
*) Rom. 16, 7 (i:Ti'a7]/joi h' toTs ajrooT.öXois , oi xal jtqo i/iov yiyovav tv
Xoiaxcp); f'r ist wahrscheinlicher mit „unter" als mit „bei" zu übersetzen (mit
Lightfoot gegen Zahn), weil im letzteren Fall der Zusatz ziemlich müßig
wäre und auch der Umfang des Begriffs oi ujiöoto/.oi undurchsichtig. Ist „er"
mit „bei" zu übersetzen, so ist unsre Stelle den Zeugnissen zuzuordnen, in
denen oi ujiöoto/.oi die ürapostel sind; denn das i>t in diesem Fall die ein-
fachste Deutung des Wortes. Das o'i bezieht sich jedenfalls a,uf Andronicus
und Junias und nicht auf djrooToloig.
■'} I Cor. 12, 28f.; Ephes. 4, 11. Auch Ephes. 2, 20 und 3, 5 können nicht
die sog. ürapostel ausschließlich verstanden werden; sonst v/ürde sich Paulus
hier ja selbst desavouieren.
«) II Cor. 12, 12. — ') I Cor. 9, 1. 2.
27() D't^ Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
besondere Rechte) ^ Wer dies aufweisen kann, ist Apostel. Auch
die Polemik ge^en rseudoapostel - und „Überapostel'-' ^ beweist,
daß« der Begriti' ..Apostel" dem Paulus kein numerisch abge-
schlossener ist, sonst müßte die Polemik anders gestaltet sein.
Endlich zeigt die Stelle 1 Cor. 1 5, 7 vgl. mit v. 5 aufs klarste, daß
Paulus von den Zwölfen einen weiteren Kreis von A])osteln unter-
scheidet und zwar schon für die früheste Zeit und Palästina'^.
(d) Aber Apostel ist einer zunächst und im strengen Sinn
nur für die, bei denen er wirkt ■", und auch die chronologische
Reihenfolge der zum Apostolat Berufenen ist nicht gleichgültig''.
Als die ältesten Apostel haben die von Jesus bei Lebzeiten
berufenen Zwölf zu gelten'': sie. ihre Qualitäten und Funk-
tionen sind vorbildlich und maßgebend für die späteren Apostel.
Also treten die Zwölf und zwar als Apostel in den
Tordergrund. Paulus hat sie als Apostel in den Vordergrund
geschoben. Um die Würde seines eigenen Amtes in das rechte
Licht zu stellen, hat er jene unter den Gesichtspunkt des Ur-
apostolats gestellt (und die persönliche Jüngerschaft derselben
terminologisch zurücktreten lassen) ; er hat sie also damit erhoben
über alle anderen Apostel, aber doch nicht höher gehoben als
auf die Stufe, die er selbst in Anspruch nahm. Daß die Zwölfe
fortan in der Geschichte als die zwölf Apostel, ja als die Apostel
gelten, das hat Paulus begründet, und er hat es begründet —
paradox genug — , um seine eigene Bedeutung zu fixieren. Aber
sicher hat er es noch nicht herausgearbeitet; er konnte und wollte
ja den allgemeineren Begriff des Apostolats nicht aufheben. So
finden wir die Beschränkung des Begriffs „AposteP' auf die Zwölf
') Aus I Cor. 9. 1 läßt sich nicht — wenigstens nicht mit höherer Wahr-
scheinlichkeit — schließen, dal5 man den Herrn gesehen haben müsse, um
als Apostel auftreten zu können. Die vier Aussagen sind steigernde (ovh e^u
fJ.EvdenoQ; oi'X sifii driöarolog ; ovyi ' Ljaovv rov y.VQio%' t]fuüv eÖQay.a; ov r.ö
e'oyov ftov vfiFig fote ev h^<qi(o} , wie das Verhältnis der zweiten zur ersten
beweist. Daß die dritte und vierte Aussage die zweite beglaubigen
sollen, ist klar; daß sie aber eine schlechthin notwendige Beglaubigung
enthalten, ist zweifelhaft.
-) II Cor. 11, 13. - 3) II Cor. 11, 5; 12. 11.
^) H. Origen.. Homil. in Num. XKVII, 11 (t. 10 p. 353 Lomm.): ,In quo
ajiostolus ostendit [seil. I Cor. 15, 7] esse et alios apostolos exceptis illis
duodecim".
^) I Cor. 9, 2 und Gal. 2 (Juden- und Heidenapostolat), s. auch Rom. 11, 13:
eOv(j)v ä.Tooro/.os- Petrus hat (Ual. 2, )S) die (LtooTolij t. nsQuo/^iyg. Ideell ge-
nommen gibt es nur einen Apostolat, weil es nur eine Kirche gibt, aber
die konkreten .'\ufgaben der Apostel sind verschieden.
'■) Köm. l(i, 7.
'•) Der Apostolat ist der vornehmste Stand (I Cor. 12, 28); also muß
auch au den Zwölf-Jüngern das das Vornehmste sein, daß sie Apostel sind.
Die christlichen Missionare. 271
auch nur zweimal — und selbst da nicht ganz sicher — bei Paulus^,
nämlich im ersten Kapitel des Galaterbriefs und I Cor. 9, 5.
Gal. 1. 17 ist von ol jiqo e^uov äjiooToloc die Rede, und darunter
sind aller AVahrscheinlickeit nach die Zwölfe ausschließlich zu ver-
stehen; doch zeigt der folgende Satz (1, 19): ersoov tcöv unoorökov
ovy. eidov ei uIj 'Idxcoßov lov ddelqov tov xvoioi\ daß es Paulus
nicht an einer starren Einschränkung des Begriffs gelegen ist.
I Cor. 9, 5 liest man: //>) ovx eyojuev iiovoiav ädel(f))v yvvalxa
TiEQidyeiv, cOs y^ox ol XoitioI äjiöoroXoi xal oi ädeXq)ol tov xvqiov xai
Kr]q)äg; Die Zusammenordnung der Aoi:iä)v änooTÖXov mit den
Herrnbrüdern macht es sehr wahrscheinlich, daß er hier bei den
„Aposteln^' ausschließlich an die Zwölfe und nicht an alle vor-
handenen Apostel gedacht hat. Ergebnis: Paulus hält den weiteren
Apostelbegriff fest, aber die zwölf Jünger sind ihm der Urstock
des Apostolats.
(3) Der Sprachgebrauch des Lucas ist sowohl durch den der
ältesten Zeit (synoptische Tradition) als durch den nachpaulinischen
bestimmt. Jenem folgend nennt er die vertrauten Jünger Jesu
„die Zwölf''- (bez. ,,die Elf'')^. diesem nachgebend nennt er sie
in der Apostelgeschichte fast überall einfach „ die Apostel "' —
als gebe es überhaupt keine anderen'^ — und erzählt im Evan-
gelium. Jesus selbst liabe sie Apostel genannt^. Demgemäß nennt
er sie auch im Evangelium ein paarmal „die Apostel"'^. Man ist
demnach geneigt, den Satz aufzustellen, Lucas kenne keine anderen
Apostel als die Zwölfe oder wolle keine anderen kennen; allein
das wäre vorschnell; denn c. 14. 4. 14 wird nicht nur Paulus, son-
dern auch Barnabas als Apostel bezeichnet'. Man sieht — der
') Abgesehen von 1 Cor. 15, 7 vji-l. mit v. .5), wo die Zwölf als der
[Jrstock der Apostel erseheinen, und vielleicht von Röru. 16. 7 (s. S. 269 An-
merk. 4) und 1. b.
2) Luc. 8, 1; 9, 1. 1-2: 18. :31 : 22, ;3. 47. Act. 6, 2 (also mir einmal in der
Apostelgeschichte werden sie so genannt; mir scheint, daß Lucas hier einer
ausgezeichneten Quelle folgt).
^) Luc. 24, 9. oo (cf. Act. 2, 14: IJhoog ahv loT; evÖsy.a).
*) Act. 1, 2; 2, 37. 42. 43; 4, 33. 35.36. 37; 5, 2. 12. 18. 29. 40; 6, 6; 8, 1.
14.18; 9,27; 11,1; 15,2.4.6.22.23; 16,4. In den späteren Kapiteln des
Buchs kommt das Wort „Apostel" überhaupt nicht mehr vor. Einmal
(Act. 1, 26) findet sich auch der Ausdruck „oi evöey.a ä.-zuoTo/.ot" .
") Lue. 6, 13.
«) Luc. 9, 10: 17,5: 22.14; 24,10. Das Petriisevangelium ist vorsich-
tiger; es spricht von /naOtjTai (v. 30). bez. von ol do'jÖsy.a ttui)7]Tai (v. 59), nie-
mals aber von cl-t6ozo/.oi. Ebenso schreibt die Petrusapokalypse (v. 5): 7jfieTg
oi öcodeaa fia&ijiai.
') Die Apostelwürde des Barnabas steht also nach Paulus (s. o.) und
Lucas fest. — In bezug auf die 70 Jünger hat Lucas wohl von einem djio-
oiekhiv gesprochen und sie in Rücksicht auf die zwölf Apostel „70 andere",
272 l'ie ]\li.-^.sionare: Modalitäten und Gegenwirkuni^eu der Mission.
Sprachgobraueli ist docli noch nicht völlig fixiei't. AuffalhMid bleibt
CS immerhin, daß Paulus nur bei einer Gelegenheit im ganzen
Buch „A])ostel" genannt ist. Unter die Beschreibung der Qualitäten
des Apostülats. den Lucas Act. I. 2 1 ff '. im Auge hat — diese
Beschreibung ist für die Folgezeit mehr und mehr maßgebend
geworden — fällt Paulus nicht ^. Also kann er für Lucas nur ein
et
x\.postel im weiteren Sinn gewesen sein.
(4) In der Johannes-Apokalypse wird von solchen gesprochen
(2, 2), die sich selbst Apostel nennen und es nicht sind '^ ; vor-
ausgesetzt also ist, daß sie es sein könnten: man sieht, daß der
Yerfasser den weiteren (ursprünglichen) Apostelbegriff befolgt.
Die Stelle IS. 20 ist mindestens nicht dagegen^ und ebensowenig
die Stelle 21. 14 (s. o.), wenn auch die Zwölfe hier als Apostel
allein genannt sind und die Aussage mit ihrem symbolischen
Charakter gewiß viel dazu beigetragen hat. dem engeren Apostel-
begriff zum Siege zu verhelfen.
(5) Im I. und IL Petrusbrief (l. 1) ist Peti'us als Apostel Jesu
Christi bezeichnet. Jud. 1 7 und II Pet. o, 2 (tu g/j^uara to. ttoo-
eio)]jLitra vno jö)v äTTOOJoXoyv tov xvgt'ov tjjtiow 'I. Xq., bez. xä
7TQoeiQ}]Ufva [>i)uara vtto tcov ayiMV 7T00(prjTCi)v y.ru fj tojv oltiootoIcov
vjLwrv hioXi] TOV y.voiov y.al ocoryjQog) sind an der zweiten Stelle
sicher, an der ersten sehr wahrscheinlich nur die zwölf Jünger
zu verstehen.
(()) Daß der I. Clemensbrief unter „Apostel" nur die ürapostet
und l'aulus versteht, folgt ganz deutlich aus c. 42, l ff. (die Apostel
waren schon vor der Auferstehung erwäldt) und 47. 4 (an letzterer
Stelle wird Apollo als ävvjo öedoxi/Kaofievog Tino dTxomoXon; von
diesen bestimmt imterschieden); sonst siehe noch c. 5, li und 44, \.
Liber die Vorstellung des Clemens vom Apostolat siehe später.
Der Baruabasbrief spricht c. 5, 9 von der Erwählung der l'dioi am)-
oroloi durch den Herrn, scheint also noch andere Apostel zu
aber nicht rund Apostel genannt. Irenäus (11.21. 1), TertuUian (adv. Marc. IV, 24),
Origenes (zu liöni. 16, 7; u. a. aljer haben sie als Apostel bezeichnet, und
Personen, deren Zugehörigkeit zu den Siebzig mau vermutete, wurden auch
später noch Apostel genannt.
') l'er zu wählende Apostel soll mit .Jesus von der .Tohannestaufe an
gewandelt haben bis zur Himmelfahrt und Zeuge der Auferstehung sein,
s. auch Luc. 24, 48; Act. 1, 8. Dieser Apostelbegritt' wird allmählich den ur-
sprünglichen gänzlich verdrängen, Paulus aber dennoch die A])ostelwürde
als eine Ausnahme behalten.
'^j Vgl. oben die Verurteilung falscher Ai)0stel bei Paulus.
^) Krff oairar ovoavk y.ai oi üyiot y.al oi d.-zöoTO/.ot xal oi jTgo(ft~jTai. Zu-
sammenstellung mit den alttestamentlichen Propheten auch Luc. 11, 49;
II Petr. 'S, 2. Doch ist es sehr möglich, daß an unserer Stelle christliche
Propheten gemeint .sind, wie Ephes. 2, 20; 3, 5; 4, 11.
Die christlichen Missionare. 273
kennen; e. S. 15 spricht er nur von den Zwcilfen. ..die nns die
Sündenvergebung- als frohe Botschaft verkündigt^ und die Kom-
petenz des Evangeliums, es zu predigen, erhalten haben", ohne
sie ausdrücklich Apostel zu nennen'-. Daß das Kerygma Petri,
"WO es von den Aposteln spricht, nur die Zwölfe im Sinne hat,
ist, da es sich als wirkliehe Petrusschrift ausgibt, selbstver-
ständlich ^.
(7) Die Stelle Sim. IX. 1 7, I läßt es zweifelhaft, ob Hermas
unter den Aposteln die Zwölfe oder einen weiteren Kreis ver-
standen hat. Allein die vier übrigen Stellen, an denen in dem
Buche Apostel vorkommen (Vis. III, 5, 1: Sim. IX, 15, 4; 15, 5;
25, 2), machen es ganz deutlich, daß der Verfasser auschließlich
einen weiteren, wenn auch, wie es scheint, festen Kreis im Auge
hat und den Zwölfen dabei keine besondere Beachtung schenkt
(siehe darüber und über die Zusammenordnung von Aposteln,
Bischöfen, Lehrern und Diakonen, bez. Apostehi und Lehrern,
später). Ebenso hat die Didache ausschließlich einen weiteren
Kreis von Aposteln im Sinn: sie will zwar selbst, wie die Auf-
schrift lehrt, eine didayi) y.voiov d(u Ton' iß' aTiooTohov sein, aber
eben diese Aufschrift deutet bereits durch die Ilinzufügung der
Zahl an. daß das Buch noch andere Apostel kennt, und es handelt
auch c. 11, o — () ausschließlich von Aposteln im weiteren Sinn
(Xäheres siehe später).
(8) In dem Dutzend von Stellen, an denen bei Ignatius das
"Wort Apostel vorkommt, findet sich keine einzige, die einen
weiteren Gebrauch des Worts wahrscheinlich macht, dagegen
mehrere, an denen nur die Beziehung auf die Li'apostel möglich
ist. Also ist zu urteilen, daß Ignatius unter Apostel lediglich die
Zwölfe imd Paulus (s. Rom. 4, 3) verstanden hat*. L^nsicherer ist
die Entscheidung bei Polycarp (ep. 6, 3; S, 1); doch wird es bei
ihm schwerlich anders stehen als bei Ignatius. Seine Gemeinde
hat ihm aber das Prädikat eines ,. apostolischen und prophetischen
Lehrers'' beigelegt (Ep. Smyrn. lü, 2).
') Ol oavTiCovzF; amds; ol svayys/uaäfiEvoi /jfuv rrjv äqjEaiv äfiaoTicov y.(i.l
zov äyviGtwv T»)c y.aodiag , oig eSoy.ei' xov svayye/.lov zip' egovalav — ovoiv
Ssfiaövo etg jiuotvoiov tojv (^i'/.wr, an Ssxa^i'O (fv'/.ul tov Yaoa/j/. — slg t6
Htjovaaew.
-) Das ist aber nach c. 5, 9 bloßer Zufall.
') S. Dobschütz in den Texten u. Unters. XI, 1. Jesus spricht in
diesem Kerygma: 'Eie/.egdfnjv i^mö? 6 oj 8 ey.a /ladtjzäg y.oirag d^iovg ifioü y.a.t
djiooTÖ/.oi'g :rtOTOvg tjyi]oÜ!,ierog slvai , ^rhctcov i.-rl tov y.öofiov evayye'/.ioao&ai
Tovg y.arä tijv oiyovith'tjv dv&oconovg xx'/..
*) Ignatius lehnt an mehreren Stellen die apostolische Würde von sich
ab: das ist immerhin ein Beweis dafür, daß die Möglichkeit bestand, ein
Nicht-Urapostel könne doch ein Apostel sein.
Harn ack, Mission. 2. Anfl. 18
274 Die i\Iissionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der ili^sion.
Diese Übersieh r ülxu" den ältesten Gebrauch des AVortes
,. Apostel'' zeigt, daß eine doppelte Auffassung- nebeneinander
gestanden hat, daß aber die engere siegreich vordrangt.
2.
Noch eine z^yeite Voruntersuchung ist nötig, bevor wir zu
dem Thema dieses Kapitels übergehen können: Apostel, Pro-
pheten und Lehrer werden wir als die christlichen Missionare bez.
als die Prediger kennen lernen; es fragt sich, ob sich diese
Trias aus dem Judentum erklären läßt.
Die Ableitung aus dem Judentum hat jedenfalls daran ihre
Schranke, daß die drei Stände dort keine Trias gebildet haben,
wälirend die feste Zusammenordnung für das Urchristentum
charakteristisch ist. Im einzelnen ist über jeden dieser Stände
folgendes zu bemerken.
(1) Apostel-. Jüdische Beamte unter diesem Namen kennen
wir erst seit der Zerstörung des Tempels und der Einrichtung des
palästinensischen Patriarchats; allein es ist ganz imwahrscheinlich,
daß es voi'her keine „Apostel" gegeben hat; nach dem Auftreten
der christlichen Apostel werden die Juden schwerlich sich Beamte
mit dem Namen ..Apostel" geschaffen haben. Die Sache — autori-
tative Beamte, welche die Geldzahlungen für den Tempel in der
Diaspora einzogen mid die Beziehungen der Gemeinden mit Jeru-
salem und untereinander aufrecht erhielten — war jedenfalls da,
und gewiß aucli der Name'^. Die Gegenmaßregeln gegen die christ-
liche Mission, die von Jerusalem aus ganz systematisch schon zur
Zeit des Paulus betrieben worden sind, sind nach Justin (Dial. 17.
108. 117) von den Hohenpriestern imd Lehrern ausgegangen; sie
haben Männer (urSoag yeiooTrnn'jonvT^g exhxTovg) in alle Welt ge-
') Daß andere Personen als die büdischen Apostel oder die in der Bibel
, Apostel" genannten noch als „Apostel" bezeichnet werden, wird im Laufe
des 2. Jahrhunderts immer i^eltener. Clemens Romanu.s ist von Clemens Alex,
so genannt worden (Strom. IV, 17, 105; ; auch Quadratus heißt einmal Apostel.
-) Der klassische (attische), sehr eingeschränkte Gebrauch des Worts ist
bekannt (Herod. I, 21, V. 88: ein Abgesandter; Hesychius: ä.-rooTokog- oroanjyö^
y.arä :t}.ovv .Tf/^.To/<s)'Os). lu der LXX kommt das Wort nur I Kon. 14, 6 vor
(der Prophet Ahia wird so genannt; im Hebräischen steht mVi). Justin muß
sich auf ä-TooTH/leiv berufen, um zu beweisen, daß die Propheten im Alten
Testament iL-tooto/.oi heißen (Dial. 75). Josej^hus nennt den Varus, das Haupt
einer jüdischen Ge.sandtschaft . die nach Kom ging, „oui6azo?.og nhötv"
(Antiq. XVII, 11, 1). Der klassische Sprachgebrauch erklärt den jüdisch-
christlichen nicht. Also ist es wahrscheinlich , daß o..-röoio/.og auf jüdischem
Boden die technische Bedeutung „der Gesandte" erhalten hat.
^) Hätte Paulus II Cor. 8, 23 und Philipp. 2, 25 von „Aposteln" ge-
sproclien, wenn das Judentum keine Apostel gekannt hätte?
Die christlichen Missionare. 275
sandr, die den Mahren Bericht über Jesus und seine Jünger geben
sollten, also „Apostel'"' S bez. sie haben die den Verkehr Jerusalems
mit der Diaspora aufrecht erhaltenden „Apostel" mit jener Auf-
gabe betraut '■^.
Daß wir die von Justin gekennzeichneten und auserwählten
Männer mit den „Aposteln" zu identifizieren haben, das bezeugt
uns Eusebius (in Jes. IS, 1 f.). Die Stelle ist bereits oben (S. 51)
abgedruckt worden, mag hier aber um ihrer Wichtigkeit willen
noch einmal stehen: evoofiev iv roi^ tcov nalaiMv ovyyguu^uaoiv,
o3s Ol TrjV 'Ie.oovoa/.}jjit oiy.ovvxeg rov T(7n' 'lovöauor edvov? leoelg xai
Tioeoßvxeooi yoduuaca dia'/aouiavreg eig jidvia öieTTeiapavxo rä edv}]
ToJg aTiavTcr/ov "lovdaioig diaßu/J.ovTeg r7]v Xotorov ÖtdaoyJuav d)g
ai'oeon' xairiji' y.al äXXorQiav rov &eov, Tiao/jyye/.Äöv ts dt i7noToÄ(7)v
jiir] Jiagade^aoüai avT)]v . . . . oi te aTiooxoloi aurcbv imoro/Mg
ßißUvag y.OjUiCojuevoi^ . . . anavxayov yi]g öiexos/ov, xov Jiegl rov
oojxrjoog yiicov IvÖiaßdkXovxeg loyov. UTioaxakov g de erohi y.al
vvv [also war es keine neue Institution] e&og ioxlv 'lovdaioig ovo-
uäQeiv xoig lyy.vy.ha yQaixfxaxa nuqd rcbv äoyovxcov avxcör E7iiy.0f.ii-
QoiiEvovg. Bei den jüdischen „Aposteln" seiner Zeit hebt also
Eusebius als Hauptfunktion diese hervor, daß sie enzyklische brief-
liche Anweisungen von der Zentralstelle aus in die Diaspora zu
tragen haben. Es ist nicht verwunderlich, daß in dem Rechtsbuch
(Theodosianus Codex XVI, S, 14) eine andere Seite hervorgehoben
wird: „Superstitionis indignae est, ut archisynagogi sive presbyteri
Judaeorum vel qnos ipsi apostolos vocant, qui ad exigendum
aurura atque argentum a patriarcha certo tempore diriguntur etc."
Dieselbe Seite hebt, wie der Zusammenhang lehrt, Julian, ep. 25
(Hertlein p. 513) hervor, indem er von der /.EyojtiEV)] nao^ vijXv
äiiooxoX)) spricht. Hieronymus (ad Gal. 1,1) sagt nur: „Üsque hodie
a patriarchis Judaeorum apostolos mitti". Sehr viel mehr erfahren
wir von Epiphanius; er spricht haer. 30, 4 von einem gewissen
Joseph und schreibt: ovxog jöw Txao avxoig ä^uouaxry.cöv ävdocöi'
Evaoiduiog ijv. eIo'i dt u^xoi jUExä xbv 7iaxoido-/j]v dnooxoXoi y.aXov-
jUEvoi, jxoooEÖQEvovot ök xoj naxoido/j] y.al ohv avxM Tiolkdxig y.al
^) Die Stellen sind oben (S. 51) abgedruckt. Das /etooTov/jcim-Te; weist
auf den .Apostolat", s. Act. 13, 3.
-| Über diesen Verkehr s. u. a. Act. 28, 21: ovte yoäauaia .isol aov
efti'iafteda 0.710 rr]; lovöaiag — sagen die römischen Juden in bezug auf
Paulus — OVIS n:aoayEv6uev6g Tig röJv ade'/.cfon' djTt'/yyEi/.sv. Hierher gehören
auch die II Cor. 8, 1 erwähnten E:iioro).ai ovararixaL
^) Bezieht sich nuf Jes. 18, 1.2, wo die LXX lesen: oval . . . 6 djro-
gteV.wv ev ■daläoo}) 6'/,itjoa y.al ijziazo/.äg ßißUvag ijidvco rov vöato; , wo aber
Symmachus für o/ii7]oa vielmehr d.-ToaT6?.ovg bietet. Eusebius bezieht also
diese Stelle auf die falschen jüdischen , Apostel", die Worte .-tooeioovrai yäg
ayy£?.oi y.ovcpoi y.i'/.. auf die wahren Apostel.
18*
270 Die Missionare; Modalitüten und Gegenwirkungen der Mission.
^'j' vvy.Ti y.al et' fjfieoa ovyf/Mg didyovni, öia to ovfißov/.even' xal
avu(f Eoeiv avTOj tu y.ma löv vöfiov, mul c. 1 ! erzählt er, wann
(lieser Joseph „Apostel" geworden sei (die evxaojria rrjg äjTooToh~]g
erhalten habe), nnd fährt dann fort: y.al juct' ejnoToXöjv omog
änooTekkerai eJg 7i]v Ktlixarv yfjr. ög ävekdcov ixelae unb ey.nm}]g
jiuAecog Tj)s Ki/uyJag rä liridexaTa xal rag äjiaoyug Tiaga tcov h rfj
ETiaoyia 'lovdaicov eloeTioajjev .... tTiel ovr, oia ajiooTo/.og (ovrojg
yag nao' amoTg, cog trp7]v, t6 äiicojna xakeTrai), i/ußgiäeoraTog xal
y.adaoevcüv drj{^sv tu eig y.UTuoTuoiv evvofiiag, ovToyg ijinsÄelv
TiQoßaXlöjxevog, noXkohg tojv xuxojv xaTUOTa&evTCOv uoyjovva-
yc'jycov xal legiorv xal nQEoßvTeoayv xal ä^aviTCÖv . . . xa^aioöjv ts
xal jusTaxircov tov u^icoi^iUTog vjib ttoX/mv Ivsxotsito xt}..
Faßt man diese Fnnktionen der „Apostel" zAisammen^, so
ergibt sich, (1) sie waren geweihte Personen nnd nahmen einen
sehr hohen Rang ein, (2) sie wurden abgesandt in die Diaspora,
um den Tribut für die Zentralstelle einzuholen, (3) sie brachten
enzyklische Briefe dorthin, hielten den Zusammenhang mit dem
Mittelpunkt aufrecht, berichteten über die Intentionen der Zentral-
stelle bez, des Patriarchen, hatten Ordre in bezug auf gefährliche
Bewegungen und sollten ihre Bekämpfung veranlassen, (4) sie
übten in der Diaspora eine gewisse Aufsich ts- und Disziplinar-
gewalt aus, (5) sie bildeten, in die Heimat zurückgekehrt, eine
Art von Ratsversammlung für den Patriarchen, welche mit ihm
über dem Gesetze wachte.
Pliernach kann man schwerlich einen gewissen Zusammenhang
der christlichen Apostel mit diesen jüdischen leugnen. Nicht nur
feindlich hat Paulus imd haben andere mit ihnen zu tmi gehabt^,
vielmehr kommt der Institution selbst etwas Vorbildliches für den
christlichen Apostolat zu, so groß auch wiederum die W^rschieden-
heiten sind. Sind sie nicht zu groß? Die jüdischen Apostel sind
doch finanzielle Beamte! Nun, in dem Moment, in welchem die
Urapostel l*aulus als A])ostel anerkennen, machen sie ihm auch
eine finanzielle /Vuflage (Gal. 2, 10) — er soll für die jerusalemische
Gemeinde überall in der Diaspora sammeln! Welche Bedeutung
Paulus dieser Seite seiner Tätigkeit von da an beigelegt hat, ist
bekannt; bildete sie doch einen Hau])tgegenstand seiner unauf-
*) Inschrif'tlich wind die Apostel bisher einmal nachgewiesen, nämlich
zu Venosa auf der Grabschrift eines Hjiihrigen Mildchens: „quei dixerunt
trenus duo apostuli et duo rebbites (Hirschfeld, Bullet, dell Instit. di
corrisp. archeol. 1867 p. 152).
-) Aber ist nicht Paulus selltst, bevor er (.'hrist wurde, ein jüdischer
„Apostel" gewesen V Er trug Briefe gegen die Christen in die Diaspora und
hatte sich eine gewisse Disziplinargewalt vom Hohenpriester und Synedrium
übertragen lassen; s. .\ct. 8,2; 22, 4 f. ; 26, 10 f Diese Angaben sind genau 7,u
erwägen.
Die cliristlicbon Missionare. 277
hörlicbcn Sorge, trotzdem sie ihn in die größten Wider\Yärtigkeiten
und zuletzt in den Tod geführt hat. Es ist an sich nicht leicht
verständlich, wie ihm die Xlrapostel gerade diese Auflage machen
konnten und er sie ruhig hinzunehmen vermochte. Es wird aber
verständlich, sobald man annimmt, die jerusalemische Gemeinde
samt den üraposteln habe sich als die christliche Zentralstelle
betrachet und zugleich als die Vertretimg des wahren Israel; eben
deshalb habe sie den Aposteln, die sie anerkannte, eine ähnliche
YerpHichtung auferlegt, welche den jüdischen „Aposteln" zukam,
nämlich den „Tribut" in der Diaspora einzusammeln. Paulus wird
das selbst wohl etwas anders aufgefaßt haben, aber daß die Ur-
apostel es so auffaßten, ist recht wahrscheinlich. Dann aber ist
der Zusammenhang zwischen jüdischem und christlichem Apostolat,
der auch sonst bei aller Yerschiedenheit schwerlich zu leugnen ist,
sehr wahrscheinlich^.
Diese x^usführungen über die jüdischen Apostel sind von Monnier,
a. a. 0. p. 16ft'. bestritten worden. ,Pour appuyer sa theorie, Harnaek prend
uo texte de Justin, et il le fortifie par un texte d'Eusebe. Ainsi, il prouve
Texistence dune institution du premier siecle par un texte du second, et il
iuterprete ce texte a l'aide d"un ecrivain du quatrienie! C'est trop facile."
Aber es ist noch leichter, hinter solch einer blendenden Abstraktion die
Gründe verschwinden zu lassen, die es in diesem Falle gestatten und nahe
legen, das Zeugnis des Justin durch das des Eusebius zu erläutern und
wiederum mit jenem Zeugnis das zu verbinden, was wir über die antichrist-
liche Mission, die von Jerusalem aus getrieben wurde, und über Pseudapostel
im Zeitalter des Paulus wissen. Daß wir kein direktes Zeugnis dafür be-
sitzen, daß die jüdischen Emissäre, wie Saulus einer war, im 1. Jahrhundert
tlen iS'amen ..Gesandte" führten, habe ich nicht verschleiert.
(2) Propheten. Die vulgäre Meinung ist, Propheten seien
im Zeitalter Jesu und der Apostel im Judentum längst ausgestorben
gewesen; allein das neue Testament selbst protestiert gegen diese
irrige Ansicht. Yor allem aber ist auf Johannes den Täufer hinzu-
weisen, der gewiß ein Prophet war und auch so bezeichnet wird,
ferner auf die Prophetin Hanna (Luc. 2, 36), auf den jüdischen
Propheten Barjesus in Cypern bei dem Proconsul (Act. 13, 7) und
auf die \Yarnungen vor Pseudopropheten'-. AYeiter aber: von den
Essenern wird berichtet, daß sie die Gabe der Prophetie besessen
') Ob auch die Johannesjünger (der engere Kreis des Täufers, der nach
dem Bericht der Evangelien durch Fasten und besondre Gebete zusammen-
gehalten war) „Apostel" besaßen, wissen wir nicht; sicher ist nur, daß sie
auch in der Diaspora (vielleicht in Alexandrien Act. 18, 24 tf., jedenfalls in
Ephesus Act. 19, 1 ft'.) Anhänger hatten. Apollo ist vielleicht ursprünglich
ein berufsmäßiger Missionar der johanneisch-täuferischen Bewegung gewesen;
doch ist die Apostelgeschichte in bezug auf diese ganz besonders übermalt
und unklar.
-; S. Matth. 7, 15; "24, 11. 25 (Marc, lo, 22); I Joh. 4, 11; II Pet. 2, 1.
27S r»ie Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mis.-<ion.
habend von Thoiulas lieißt es: ,,7Toorf)'jTrjg e'Afyev elvcu'-^-. ebenso
vom „Ägypter'''^: Joscplius, der Goschichtsschreibcr, npielre sich
fVirinlicli und mit Glück als Prophet Yespasian gegenüber auf-^;
J'hilo nannte sich einen Propheten: von jüdischen Tranmdeutern
imd Zanberproi)heten in der Diaspora hiiren wir'". Aber Avas mehr
als dies alles sagen will — die Fülle der jüdischen Apokalypsen,
Orakelsprüche und dergleichen aus jener Zeit zeigt, daß die Pro-
phetie. weit entfernt ausgestorben zu sein, in üppigster Blüte stand,
und daß Propheten zahlreich waren und Anhänger und Leser
fanden. Für sehr weite Kreise im Judentum muß es gar nichts
Auffallendes geliabt haben, daß ein Prophet auftrat: Johannes der
Täufer und Jesus wurden ohne weiteres als Propheten begrüßt.
Auch an die bevorstehende AViederkehr alter Propheten glaubte
nian'^. Der christliche Prophetismus, wie er von Anfang an erweckt
VN'urde, war somit, formal betrachtet, nichts Xeues. sundern eine
Erscheinung, die sich ähnlichen und gleichzeitigen Erscheinungen
im Judentum einfach zuordnet. Auch die hohe Schätzung der
Propheten dort und hier ist etwas Selbstverständliches; sie sind
ja Gottes Stimme; sind sie also als echte Propheten anerkannt,
so ist die Autorität ihrer Predigt und ihrer Anv>'eisungen eine
■) S. Josepbus, Belhim I. 3. 5; II, 7, 3; IJ, 8, VI; Antiq. X!I1, 11, 2;
XV, 10,5; XVII, 3,3.
^) Joseph.. Antiq. XX, 5. 1.
3) Act. 21, 38; Joseph., 1. c. XX, 8, 0; Bellum II, Vi. 5.
*) Bellum III. 8, Jt, cf. Sueton, Vesp. b und Cassius Dio LXVI, 1.
^) Vgl. Hadrian. ep. ad Servian. (Vopisc., Saturn. 8). — Nicht berufen
darf man .sich natürlich auf das Evang. Pseudo-Matthaei c. 13 („et prophetae
qiii fuerant in Jerusalem dicehant haue stellam indicare nativitatem Christi"');
denn die Worte sind nur eine späte Paraphrase des echten Matthäus.
") Gewiß ist, daß die 8adducäer von Propheten nichts wissen wollten,
und daJ.^ bei einem Teile der strengen Gcsetzesheobachter neben dem Gesetz
nichts mehr aufkommen konnte. Daß auch die Priester und ihre Partei
Propheten nicht gelten ließen, ist selbstverständlich, t^ine halboffizielle oder
offizielle Lehre muß es (nach dem Abschluß des Kanon) bei den Synedristen
gewesen sein, daß die Propheten abgeschlossen seien (s. Psalm 74, 9: rä
orjuda tjfu'n' ory. eI'Öoiiev, ovx Iöto' aV« :ToorjyT}]g, xui i'/ttä.; ov yvcoaszac eri und
vgl. I Macc. 4, 40; 9,27; 14,41), und diese Überzeugung kam auch in die
Kirche (s. Murat. Fragm.: „prophetae completo numero" u. a. St."). Das Buch
Daniel ist nicht mehr zu den Propheten gestellt worden, und die späteren
Apokalypsen konnten überhaupt nicht mehr rezipiert werden. Die „Diadoche
der Projjheten" sei abgerissen, behauptet Josephus, gewiß eine verbreitete
Meinung wiedergebend (c. Apion. I. 8, s. auch Euseb., h. e. III. 10, 4: «.tö de
'Aoza^to^ov in/fji rov y.aiT i'/fiäg yoüvor ytyita-rrui iiiv inaöTa , :TioTFcog (V o)'/_
ofiocug y^i'roTd.i roTg jr^iö auröjr , () i ä tu /i ij yeviod ui r)]v röiv tt ooff 7]T(Jöv
(ly.oiß)} <)t((()o/7'j7'). Julian c. Christ. 198 C: tÖ Jiao' 'Eßgaioig [.ynorpijriy.ov
:Tveviiu] fny'/.inn'. Allein wenn auch die Kette der „kanonischen" Projiheten
schon vor d<'m Auftreten Jesu abgerissen war. l)rauchte deshalb nicht die
Prophetie in jedem Siini erloschen zu sein.
Die christlichen Missionare. 279
imbedingto. Solchen traute man auch nicht nui- Wunder zu,
sondern hielt sie für selbstverständlich. Sof^'ar daß ein l'rophet
durch Gottes Kraft von den Toten auferstehen könne, erschi(;ii
g-laublich: so haben Herodes und ein T(m1 des Volkes <;-enieint,
Jesus sei der wiedererstandene Johaiuies der Täufer (vg-l. auch
Apoc. .loh. II, 11)^
{?>) Lehrer. Welche Bedeutung- die »Schriftgidehrten und
Lehrei" im jüdischen Yolke, zumal in Palästina, besaßen, darüber
braucht man kein Wort zu verlieren; aber wichtig ist es, um das
Ansehen geschichtlich zu erklären, welches die christlichen Stöd-
GxaXoi forderten und genossen, auf das Ansehen der jüdischen
Lehrer zu verweisen. „Von seiten ihrer Schüler forderton die
Rabbinen die unbedingteste Ehrerbietung, welche selbst die Ehr-
furcht gegen Vater und Mutter übertreffen sollte." „Die Ehre
deines Freundes grenze an die Achtung vor deinem Lehrer, und
die Achtimg für deinen Lehrer an die Ehrfurcht vor Gott." „Die
Ehrerbietung gegen den Lehrer geht der Ehrerbietung gegen den
Vater vor; denn Sohn und Vater sind dem Lehrer Ehrerbietung
schuldig." „Wenn jemandes Vater und Lehrer etwas verloren
haben, so geht der Verlust des Lehrers vor; denn sein Vater hat
ihn nur in diese Welt gebracht; sein Lehrer, der ihn Weisheit
lehrt, bringt ihn aber zum Leben in der zvikünftigen AVeit. Tragen
jemandes Vater und Lelirer Lasten, so muß er zuerst dem Lehrer
und hernach dem Vater abhelfen. Sind Vater und Lehrer in der
Gefangenschaft, so muß er zuerst den Lehrer loskaufen." Über-
haupt machen die Rabbinen überall auf den ersten Rang An-
spruch. „Sie lieben die ersten Plätze bei den Gastmählern und
die ersten Sitze in den Synagogen und haben es gerne, daß sie
gegrüßt w^erden auf den Märkten und von den Menschen Rabbi
genannt werden" (Matth. 23, 6 f. cum parall.). Auch ihre Tvleidung
war die der Vornehmen-."
Es sind also die drei Elemente der christlichen Trias „Apostel,
Propheten, Lehrer" im gleichzeitigen Judentum vorhanden gewesen,
und die Schätzung jedes einzelnen Standes war eine hohe, aber
zusammengeordnet sind sie nicht worden (wären sie es, so hätten
die Propheten weit voran stehen müssen). Die Zusammenordnung
und die besondere Ausbildung des Apostolats ist ein originales
') Sehr merkwürdig' ist das Wort Jesu, daß alle Propheten und das
Gesetz bis Johannes geweissagt haben (Matth. 11. 13): er scheint also — wohi
um des nahen Endes willen — an das Aufhören der Prophetie gedacht zu
haben. Allein der Spruch läßt auch eine Deutung zu, nach welcher das
Aufhören der Prophetie nicht ins Auge gefaßt ist.
2) Schürer, Gesch. des jüd. Volkes IP S. 317 f.
2S0 Die Missionare ; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Werk der christlichen Gemeinde, ^yclches die größten Folgen ge-
habt hat.
3.
Indem wir die Untersuchung über die Missionare mid Lehrer
in Angriff nehmen, setzen wir bei der Didache (Apostellehre) ein^.
In dem 4, Kapitel der Didache, in welchem der Verfasser die
besonderen Pflichten der Christen als Gflieder einer Gemeinde
zusammengefaßt hat, ist als erstes Gebot die Ermahnung voran-
gestellt; TeKVOV juov, Tov kaXovvTo;; ooi rbr köyov jov deoT' fivi]o&/]ojj
vvy.Tog y.nl yuegag, Tifi/joeig de aviov cbg xuqiov 6&ev yag y y.vQiOTi]^
hüelrfu, sxeT HVQiög eoTiv^. Das ganze Buch aber — namentlich
das c. 15 über die Episkopen und Diakonen Gesagte — zeigt,
daß der Verfasser nur eine Klasse von Gelehrten in den Ge-
meinden kennt, nämlich lediglich diejenigen, welche das Wort
Gottes verkündigen, in ihrer Eigenschaft als niinistri evangelii^.
Wer aber sind die XaXovvieg rör Aoyov tov deov nach der
Didache? Nicht ständige, gewählte Beamte einer Einzelgemeinde,
sondern zunächst freie Lehrer, die auf ein göttliches Mandat oder
Charisma ihren Beruf zurückführten. Unter ihnen werden (l)
Apostel, (2) Propheten, (o) Lehrer unterschieden. Diese Prediger
sind z. Z. des Verfassers der Didache und für den Kreis der Ge-
meinden, die er kennt, erstens die berufsmäßigen Missionare des
Evangeliums (die Apostel), zweitens die Träger der Erbauung,
also die geistlichen Stützen des Lebens der Gemeinden (die Pro-
pheten und Lehrer)*.
(1) Sie sind nicht von den Gemeinden gewählt: denn
nur in bezug auf die Bischöfe und Diakonen heißt es (15,1):
XeigoTorijoaTi- favToTg ijrioy.ojTOvg y.al diaxuvovg. Dagegen liest
man I Cor. 12, 2b: xal ovg juh e'Dero 6 deog h> ri] ry.xhjoia TfQtorov
änooT(')/.ovg, Ösvtsqov jroocfi'jiag, tqItov öiÖaayAXovg (cf. Ephes, 4, 1 l :
>) Im folgenden ist der Abschnitt S. 'So fi". meiner großen Ausgabe (1884)
benutzt.
^) Man vgl. die Schätzung der Lehrer bei den Juden, wie sie oben an-
gegeben worden ist. Barnabas (19, 9. 10) schreibt an der der Didache par-
allelen Stelle: aya:;i))aEi<; mc: y.öqrjv tov öqyOa}.(i.ov oov jiävTa tov hi^.ovvTd aot
tüv h'iyov y.vQiov, livrjoO/jO)) {jjiFQav XQiascag vvxxog xal ij/iega?-
^) Auch der Verf. des Hebräerbriefs (IB, 7) charakterisiert die „fjyov/isroi"
durch die nähere Bestimmung: oaiveg el6.h]oav vf-ilv tov ?.6yov tov OeoP. Der
Ausdruck ,,yyov/(yyoi", ,,jTQoyyov/isvoi" (s. auch Hebr. l;i, 17) — besonders in
der römischen Gemeinde üblich, aber auch sonst zu ßnden — ist in der
älteren Zeit nicht technisch gewesen ; daher ist es im einzelnen Fall oft nicht
möglich, sicher zu bestimmen, wer unter ihm verstanden werden soll, die
Lehrer oder die Bischöfe.
^) In zweiter Linie gehören nach c. lö auch die Bischöfe und Diakonen
hierher, sofern sie an Stelle der l'ropheten und Lehrer durch das Wort die
Gemeinde erbauen.
Die christlichen Missionare. 281
^al nvTog edcoy.sr Tovg /ih' änoaroXovs, Tovg de TiQocpifjrac;, rohg ök
evnyyeXiorug, rohg ()i-: Tjoiuivag xal diöaoxdXovg). Wie diese gött-
liche Bestellung" in bezug auf die Apostel zu denken ist. davon
gibt die alte, in Act. lo aufgenommene Urkunde eine gute Vor-
stellung. Dort heißt es, daß die in der Gemeinde zu Antiochien
Avohnenden fünf Propheten und Lehrer (Barnabas, Simeon, Lucius,
Menaen, Saulus) nach Gebet und Fasten die Weisung vom heiligen
Geist erlialten hätten, den Barnabas und Saulus als Missionare
<l. h. als Apostel auszusenden^. Wir dürfen annehmen, daß auch
in anderen Fällen sich die Apostel auf eine solche außerordent-
liche Berufung bezogen haben ^. Die Propheten hatten ihre
Legitimation an ihrer in der Form einer Botschaft des heiligen
Geistes vorgetragenen Verkündigung, sofern sich dieselbe als
geisteskräftig erwies. AVas aber die Lehrer betrifft, so läßt sich
nicht bestimmt feststellen, auf welche Weise man als solcher an-
erkannt wurde. Jedoch scheint Jacob. 3, 1 einen Fingerzeig zu
geben. Dort heißt es: Mi] ttoXXoi öiÖdoxaXMi yiveode, eidoreg öti
juelCov xQifia k^j/iy^'öfieda. Hieraus geht hervor, daß Ijchrer zu
werden Sache eines persönlichen Entschlusses — natürlich auf
Grund eines Charismas, dessen man sich bewußt war — gewesen
ist. Auch der Lehrer galt als einer, der zu diesem Berufe den
heiligen Geist empfangen habe^; ob er aber ein wahrhaftiger
Lehrer sei (Did. 13, 2), das hatten die Gemeinden ebenso festzu-
stellen wie die Wahrhaftigkeit der Propheten (11, II ; 13,1). Aber
sie konstatierten nur das Vorhandensein eines göttlichen Auftrags,
übertrugen also nicht im entferntesten damit ein Amt. Übrigens
bildeten die besonderen und schweren Verpflichtungen, die die
Apostel und Propheten zu erfüllen hatten (s. u.), in der Pegel eine
natürliche Schranke, sodaß nicht allzuviele Unberufene sich in
das Predifft- und Missionsamt eindrän2:ten.
') Die Aussendung erscheint ganz als ein Werk des h. Geistes selbst:
äqpogiaare 8i) fioi xov BaQvdßav xal ^avlov elg ro sgyov o jTOoaxexXtjfiai avxovg,
spricht der Geist. Die also Aufgeforderten handeln lediglich als ausführende
Orgaue.
-) Timotheus ist in den Timotheusbriefen als „Evangelist" vorgestellt,
d. h. als Apostel zweiter Ordnung, aber deshalb auch als Träger eines charisma-
tischen Amts. Infolgedessen heißt es — ganz wie in Act. 13 — I, 1. 18:
ravT7]v zijv jiagayysXuav jzagaTi&sfiai ooi, texvov Tifio&ss , Piarä rag jrgoayovaag
sjil as jiQoqujTEiag , und 4, 14: /lij ajielfi rov ev ool yagloi^iaiog, o t-8ö&)j aoi ()iä
jTOoq)i]Z£('ag [/lerä ijnßsaacog rcov yeiQwv zov jigsaßviegtov].
^) Das kann man vielleicht schon aus I Cor. 14, 26 schließen, wo öiöayjj
ueben a:joxälvifHg steht ; ganz klar wird es aus dem Hirten des Hermas,
•erstens weil er ajiöoioloi und SidäaxaXoi überall zusammenordnet, zweitens
weil er Sim. IX. 25. 2 von den Aposteln und Lehrern schreibt: didäiavieg
ae/.ivüjg xai äyröjg rov löyov rou {ffov .... y.aOojg xal TrageAaßoi' ro jirsv/ita
ro äyiov.
2S2 Die Missionare; ^Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
(2) T)io l'n to rschoi dunc^ ,. Aposfel. Propheten und
Lehrer'' ist eine uralte und in der ältesten Zeit der
K i r c h e all y e m eine gewesen. Der Verfasser der Didache setzt
voraus, daß allen Gremeinden Apostel, Propheten und Lehrer be-
kannt sind. C. 11. 17 erwähnt er die Propheten besonders, c. 12, 3 f.
nennt er Apostel und Propheten, c. 13, 1. 2 und 15, 1. 2 aber
Propheten und Lehrer zusammen (niemals Apostel und Lehrer:
anders Hermas). Hieraus folgt, daß die Reihenfolge „Apostel,
Propheten, Lehrer" in seinem Sinne ist. und daß unter gewissen
Gesichtspunkten die Propheten eine Kategorie mit den Aposteln
gebildet haben, während sie unter anderen Gesichtspunkten zu
den Lehrern gestellt werden mußten (s. u.j. Die Reihenfolge ist
mit der von Paulus (I Cor. 12. 2S) angegebenen identisch: somit
ist ihr Ursprung bis in die fünfziger Jahre des I . Jalirhunderts
hinaufzuführen, ja mit Sicherheit in eine noch frühere Zeit: denn
wenn Paulus sagt: ovg fdv l'd^To 6 ßeög iv Tfj iy.x/jjoirt Tcoänov
aTiooTo/.ovg ktI., so hat er zweifelsohne eine Einrichtung in der
Kirche im Auge, die für die judenchristlichen Gemeinden, die
ohne sein Zutun gestiftet waren, ebenso galt wie für die Ge-
meinden Griechenlands und Kleinasiens. Diese Annahme aber
bestätigt sich durch Act. 11.27: 15.22. 32 tmd 13, If. An der
ersten Stelle lesen wir von Propheten, die aus der jerusale-
mischen Gemeinde in die antiochenische hinübergewandert sind^;
aus der dritten geht hervor, daß in Antiochien fünf Männer, die
als Propheten und Lehrer bezeichnet werden, eine Sonder-
stellung in der Gemeinde einnahmen und aus ihrer 3Iitte nach
AVeisimg des Geistes zwei als Apostel ausgesondert haben (s. o.)^.
Der Apostelberuf w\ar also nicht sofort durch den Beruf des Pro-
pheten oder des Lehrers gegeben, sondern es bedurfte noch einer
besonderen Weisung des Geistes für denselben. Geht aber aus
Act. 13, l fl". die Ordnung „Apostel, Propheten, Lehrer''' indirekt
aber deutlich hervor, so ist sie damit — da der Bericht als zu-
verlässig gelten darf — für die älteste heidenchristliche Gemeinde
und für eine Zeit bezeugt, die von dem Jahre der Bekehrung des
Paulus vielleicht nicht einmal durch ein Jahrzelint getrennt war.
Zwischen den Ereignissen, von denen Act. 13. If. berichtet, und
der Schlußredaktion der Didache ma»- ein Jahrhundert liegen.
') Zu zeitweiligem Aufenthalt; einer derselben, Agabus. hat noch etwa
15 Jahre später seineu dauernden Aufenthalt in .Judäa gehabt, reiste aber
dem Paulus nach Cäsarea entgegen , um ihm eine prophetische Kunde zu
bringen (Act. 21, 10 f.).
-) Nach den an der Stelle gebrauchten Partikeln, ist es wahrscheinlich,
daß Harnabas, Simeon und Lucius die Propheten. Menäen und S)aulus die
Lehrer gewesen sind. Ein Prophet und ein Lehrer sind somit als Apostel
Die christlichen Zvlissionare. 283
Mittelglieder felilon niclit. AVir Imbon orstlieh das Zono'nis dos
I. Corintherbriefs (12, 2b)^: wir besitzen aber sodaTin iiocli zwei
Zeugnisse, nämlich in dem Epheserbrief (ist der Brief nneciit. so
ist das Zeugnis um so wichtiger) und im Hirten. Beide Zeugnisse
sind aber insofern nicht von vollem Gewicht, als sie bereits die
alte Ordnung der berufsnnißigen /xüovvTFq rov hr/ov tov i)eov als
Apostel, Propheten und Lehrer nicht mehr ganz rein darstellen,
sondern zeigen, wie dieselbe durch die auf anderen Grundlagen
erwachsene Organisation der geschlossenen Einzelgemeinde leise
modifiziert worden ist.
AVie Did. 11,3 werden Ephes. 2. 20 und 3,4 die Apostel und
Propheten zusammen genannt und ihnen ein überaus hoher Rang
zugewiesen. Alle Gläubigen, heißt es, sind erbaut auf dem Grunde
der Apostel und Propheten, und ihnen ist zuerst das Geheimnis
offenbart worden, daß die Heiden Miterben der Verheißung Christi
seien. Daß hier nicht die alttestamentlichen Propheten, sondern
evangelische gemeint sind, zeigt sowohl der Kontext als die Vor-
ausstellung der Apostel. C. 4. 11 folgt nun eine Aufzählung, in
der zwar die Reihenfolge ,, Apostel, Propheten, Lehrer^' gewahrt
ist, jedoch so, daß nach den Propheten ,. Evangelisten" einge-
schoben und zu den Lehrern (und zwar vorantretend, aber mit
ihnen eine Gruppe oder Stufe bildend) „Hirten" gestellt sind^.
Aus diesen Einschiebungen geht ein Dreifaches hervor: erstlich,
daß der Verfasser (bez. Paulus) Missionare kennt, die nicht die
Apostelwürde besitzen^, daß er sie aber nicht sofort nach den
ausgesandt -worden. Baruabas hatte als der ältei-e zunächst die Führung
(Barnabas' Prophetengabe kann mau auch aus dem Namen „Barnabas", der
ihm gegeben worden ist = vwg .-raoaxh'jOEtog [Act. 4, 36] schließen; denn
I Cor. 14, 3 heißt es: o sioo(f>rjrevo}v uvdgoj.-ioig ).aAei :raoäx/.7jan').
^) Hier ist zu beachten, daß Paulus nach Aufzählung der Apostel, Pro-
pheten und Lehrer nicht mehr Kategorien von charismatisch begabten Per-
sonen anführt, sondern nur noch Charismen, ferner, daß er innerhalb dieser
Charismen Rangunterschiede nicht macht, sondern mit einem doppelten
e'jiEira sie in eine Ordnung stellt, während die Apostel, Proj^heten und
Lehrer in Rangordnung durch jigonov, öevzeoov, rgizov aufgezählt sind. Hier-
aus ergibt sich, daß nur der Apostolat, das Prophetenamt (nicht die Glos-
solalie) und das Magisterium die Träger dieser Amter zu Personen von Rang
in den Gemeinden erhoben, während die öwdusig , iäuuTa, dvTt/.rjfnfstg xt'/..
keine sonderliche Stellung der mit diesen Charismen Begabten begründet
haben. Es konstituiert also auch nach Paulus lediglich die Verkündigung
des Wortes Gottes einen Rang in der Ey.y.h^aia. rov ßsov. Das stimmt geuau
mit der Ansicht des Verfassers der Didache überein.
-) Daß, weil rovg dk vor , Lehrer" fehlt, diese als identisch mit den
„Hirten" zu erachten seien, folgt nicht; wohl aber, daß der Verfasser bez.
Paulus beide als eine Gruppe betrachtet.
^) Oben S. 269^ habe ich es zu erklären versucht, warum gerade im
Epheserbrief Evangelisten genannt sind.
2'5-4 L)ie Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Aposteln aiiftulii't. weil die Zuf>ainiiienstollung „Apostel und Pro-
pheten"' ein Xoli nie tangere war (nicht ebenso die Zusammen-
srellung „rro])heten und Lehrer"), zweitens, daß er die Leiter der
Einzelgemeinde (jioifih'sg) in die Rangordnung der der ganzen
Kirche geschenkten Prediger einordnet — die Einzelgemeinde
machte sich also geltend — , drittens, daß er die Lehrer als einer
bestimmten Gemeinde zugehörige Personen ins Auge faßt, wie
die enge Verbindung derselben mit Tioißh'eg und die Nachstellung
(wenn auch Gleichordnung) beweist. Der L^nterschied zwischen
dem Yerfasser des Epheserbriefs und dem der Didache ist jedoch
in diesen Punkten kein bedeutender, wenn man erwägt, daß auch
dieser die jioijLieveg (emoxojr.oi) der Einzelgemeinde neben die Lehrer
gestellt hat und darum wie diese geehrt wessen wollte (15, 1.2),
und wenn man ferner beachtet, daß er die ständige Niederlassung
von Lehrern in einer Einzelgemeinde (1^5, 2) als das Regelmäßige
zum Gegenstand einer besonderen Anordnung gemaclit hat (beim
Propheten scheint nach 13, 1 die Niederlassung der Ausnahmefall
zu sein). Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die Ordnung der
Didache der von Paulus im Corintherbriefe befolgten näher steht
als die des Epheserbriefes: aber es wäre mehr als vorschnell,
aus dieser Beobachtung zu folgern, daß die Didache älter sein
müsse als jener Brief. Wir haben bereits gesehen, daß die engere
Auffassung des Apostolats neben der weiteren sehr alt ist und
somit die weitere nicht einfach abgelöst hat, vielmehr zeitweilig
neben ihr hergegangen ist; und es ist ferner daran zu erinnern,
daß aus Act. lli, 1: II, 27: 21, 10 u. a. St. hervorgeht, daß die
Propheten, vor allem aber die Lehrer, wenn sie auch der ganzen
Kirche mit ihrem Charisma zu dienen hatten, schon in ältester
Zeit doch einen ständigen Aufenthalt besitzen konnten und für
längere Zeit bez. für immer Glieder einer bestimmten Gemeinde
waren. Als solche koimten sie daher frühe schon ins Auge ge-
faßt werden unbeschadet ihrer Eigenschaft als der Kirche ge-
schenkte Lehrer.
Was den Hirten des Hermas betrifft, so ist zunächst die auf-
fallendste Beobachtung, welche er bietet, die, daß die Propheten
in seinem Buche, so oft Klassen von Predigern und Hütern in
dei- Christenheit aufgezählt werden, ungenannt bleibend Infolge
hiervon stehen die äjiooToloi und öiöi'wxaloi regelmäßig zusammen'-^.
1) Sim. IX, 15, 4a sind die alttesfcamentlichen Propheten gemeint.
^) S. Sim. IX, 15,4b: oi ös fi ajroozoloi y.nl dtÖäoxaXoi rov xi]ovyftaTog rov
viov rov äeov. IG, 5: oi ujiootoXoi y.al oi hthäoxaloi ol xijov^avzE^ zo oi-Ofia
Tov VIOV Tov deov. 25, 2: aTzdozoloi y.(u ()ii)äoy.akoi oi xrjov^avrsg ek ölov rov
aöo/inr y.nl oi <)i<)aiarry:: ayiiroj; yal ayru)^ rov köyov zov xvQiov. Auch
Vi<. lli.5,1 (s. u.i gehört liierker. Die Zusammenstellung „uTzöoroXog , dt-
Die christlic'lion Missionare. 285-
Da ncnna.s selbst als Propliot aut'tritf, da sein T^uch oiiuMi <i;r()(5eii
Abschnitt (Mand. XF) umfaßt, in Avelchem ausführlich von den
falschen und von den wahren Propheten gehandelt wird, da (uid-
lich die Wirksamkeit des wiihreu Propheten im „Hirten" nach-
drücklicher als in irgendeinem anderen urchristlichen Puche
betont und als eine universale vorausgesetzt wird, so darf vielleicht
die Nichterwähnung des Propheten in der „Hierarchie" des Hermas
als eine absichtliche aufgefaßt werden. Hermas überging die Pro-
pheten, weil er sich selbst zu ihnen rechnete. Ist das wahrschein-
lich^, so haben wir ein Recht, überall da, wo er „Apostel" und
„Lehrer" zusammen nennt, „Propheten" zu suppliereu und so in-
direkt auch von Hermas die Trias „Apostel, Propheten, Lehrer"
bezeugt sein zu lassen-. Dann aber steht die Auffassung, welche
der Hirte in der 9. Similitudo kundgetan hat, in genauer Parallele
zu der des Verfassers der Didache. Die Apostel, (Propheten) und
Lehrer sind die von Gott gesetzten, das geistliche Leben der Ge-
meinden begründenden Prediger, und an sie schließen sich erst
(s. c. 25 — 27) die Episkopen und Diakonen"^. Dagegen Yis. HI, 5, l
hat der Verfasser die Reihenfolge geändert. Er schreibt: ol juev
ovv )d&oi ol TSTQäyojvot xal Xevy.ol xal ov/.i(pcovovvT£g rmg aQ/noyalg
avTcov, ovTol eIoiv ol änooxoXoi xal imoxoJtoi xal dibdoxaXoi xal
didxovoi ol TioQEvdh'TFg xard rifv ofjUJ'SrrjTa tov deov xal ejiioxojn]-
oavreg xal didd^avieg xal Öiaxor/joavreg äyvcög xal nefivojg xoTg
ExXexTolg tov dsov, ol /lev xexotfirjfievoi, ol de e'zt övreg. Auch nach
dem Verfasser der Didache sind die sjiioxojioi und didxovoi den
äjiöoroXoi imd öiödoxaXoi anzureihen; der Unterschied aber besteht
hier darin, daß Hermas die Episkopen — wie der Verfasser des
däaxaloQ" findet sich sonst nur noch in den Pastoralbriefen (I Tim. 2, 7.
II Tim. 1, 11), indessen die Stellen dort beweisen nichts, da Paulus der
Sprechende ist bez. sein soll.
*) Lietzmann (Gott. Gel. Anz. 1905 Nr. 6 S. 486) schlägt eine andere
Erklärung vor: „Apostel und Lehrer gehören nach Hermas der vergangenen
Generation an; ein Prophetenamt kennt er auch, aber nur im A. T.
(Sim. IX, 15, 4). Wenn er trotzdem viel von der Wirksamkeit des wahren
Propheten handelt und sich sicher auch als solchen fühlt, so faßt er das
TTooqvjTsveiv als eine durch göttliche Begabung ermöglichte private Wirk-
samkeit ohne Amtscharakter: genau wie sein Zensor, der Muratorische Frag-
mentist". Vielleicht ist dies die richtige Erklärung des merkwürdigen
Problems; aber soll Hermas wirklich über Propheten so gedacht haben wie
der Fragmentist V
-) , Evangelisten" im Unterschiede von „Aposteln" kennt Hermas eben-
sowenig wie der Verf. der Didache; auch er braucht das Wort , Apostel"
im weiteren Sinn (s. o. S. 273).
^) Die Reihenfolge der letzteren ist c. 26. 27 invertiert infolge eines
dem Gleichnisse entnommenen Gesichtspunktes; die richtige Pieihenfolge s.
Vis. III, 5, 1.
2S6 Die Missionare; ]\Iodaiitiiten und Gegenwirkungen der Mission.
Eplieserbriefs die rroiiifycg — den Lelirern vorangestellt hat.
Aus welchen Gründen dies geschehen ist, wissen wir nicht; wir
können nur konstatieren, daß auch hier die faktische Organisation
der Einzxdgenieiiule bereits die Auffassung von der Organisation
der Gesanitkirche. welclie Hernias mit dem Verfasser der Didache
teilt, modifiziert hat^.
Also eine alle Quellenschrift der Apostelgeschichte, Paulus,
llermas und der Verfasser der Didache bezeugen es, daß in den
ältesten christlichen Gemeinden die XalovvTeg töv löyov tou &eov
den höchsten Rang einnahmen -, und daß sie in Apostel, Propheten
und Lehrer zerfielen. Sie bezeugen es aber auch, daß diese
Apostel, Propheten und Lehrer nicht als Beamte einer Einzel-
gemeinde angesehen, sondern als von Gott eingesetzte und der
ganzen Kirche geschenkte Prediger geehrt wurden. Die Vor-
stellung, daß die professionsmäßigen Prediger in der Kirche von
den Gemeinden gewählt worden seien, ist ebenso unrichtig wie
die andere, daß sie durch eine menschliche Übertragung ihr „Amt''
erhalten haben. Soweit Menschen dabei mitwirkten, führten sie
nur einen direkten Befehl des Geistes aus.
Es ist aber schließlich die Bedeutung der Beobachtung, daß
die Apostel, Propheten und Lehrer nach der übereinstimmend ■.m
Auffassung der ältesten Zeugen nicht der Einzelgemeinde, sondern
der Gesamtkirche geschenkt sind und angehören, genauer zu
erwägen. Li diesem Besitze hatte die zerstreute Christenheit eine
Verbindung und ein Band der Einheit, welches oft unterschätzt
worden ist. Diese Apostel und Propheten, die von Ort zu Ort
wandern und in allen Gemeinden mit dem höchsten Respekte auf-
genommen werden mußten, sie helfen es erklären, wie die Ent-
wicklung der Gemeinden in den verschiedenen Provinzen unter
den so disparaten Bedingungen doch das Maß von Gleichartigkeit
bewahren konnte, welches sie bewahrt hat. Sie haben auch ihre
Spuren nicht nur in den wenigen Urkunden zurückgelassen, wo
nielit viel mehr als die ÜS^amen genannt sind und die Verehrung
bezeugt ist, sondern in weit höherem Grade haben sie sich in
einer ganzen Gattung der ältesten christlichen Literatur zum Aus-
druck gebracht, in den sog. katholischen Briefen und Schrift-
1) Es ist übrigens zu beachten, daß im Sim. IX von den Aposteln und
Lehrern als von einer vergangenen Generation die Rede ist, während Vis. III
von der ganzen Gruppe gesagt ist, daß eiu Teil derselben bereits entschlafen,
ein anderer noch am Leben sei. Näher kann hier auf .''i^ wichtigen Auf-
lassungen des Hirten nicht eingegangen werden.
'-) So auch der Verfasser des Ilebräerbriefs. Man vgl. aber auch I Pet.
4, 11 : «' zig ?.a/.eT, mq ).6yia {)eov- ei zig ÖiaxovsT, d>g i'f loyvog yg yofjT/^^ " ^^'^^
[diese Stelle illustriert den Bericht Act. 6j.
Die christlichen Missionare. 287
Stücken. Man kann die Entstehung, Verbreitung- und das Ansehen
dieser eigentüniliclien und in vieler Hinsicht so rätsclliaften Tiiteratur-
gattunü' nur verstehen, wenn man sie zusammenhält mit dem, was
wir von den urchristlichen „Aposteln, Propheten und Lehrern"
wissen. Betrachtet man, daß diese von Gott in der Kirche d. h. in
der ganzen Christenheit, nicht in der Einzelgemeinde, gesetzt sind,
also den Beruf für die Gesamtkirehe gehabt haben, so leuchtet
ein, daß die sog. katholischen Briefe und Schriftstücke mit ihrer
Adresse an die ganze Christenheit die hier entsprechende lite-
rarische Gattung sind, welche daher verhältnismäßig frülie auf-
kommen mußte. Ein Brief wie der des Jacobus mit seiner Adresse
„an die zwölf Stämme in der Zerstreuung", mit seinen prophetischen
Ausführimgen (c. 4. 5), mit seinen Anweisungen selbst an die Pres-
byter (5, 14), mit seinen dezidierten Versicherungen (5, 15f.) — er
wird, da er von dem Apostel Jacobus nicht herrühren kann, erst
verständlich, wenn man an die wandernden Propheten denkt, die
das Bewußtsein hatten, von Gott für die Christenheit berufen zu
sein, und daher die Verphichtung fühlten, der ganzen Kirche zu
dienen. Es begreift sich, wie katholische Briefe ein hohes An-
sehen erlangen mußten, auch wenn ursprünglich nicht der Name
eines der zwölf Apostel sie auszeichnete ^. Hinter denselben
standen die von Gott berufenen Lehrer, die man zu ehren hatte
wie den Herrn. Es würde zu weit fülircn, dem angedeuteten
Gesichtspunkte hier nachzugehen; aber es mag noch darauf hin-
gewiesen werden, welche Verbreitung vmd Bedeutung gewisse
„katholische" Briefe in den Gemeinden erlangt haben, und wie
sie kaum in geringerem Maße die Entwicklimg der Christenheit
in ältester Zeit bestimmt haben als die paulinischen Briefe. Hier
haben also, sei es Apostel, sei es Propheten vmd Lehrer, in den
letzten Dezennien des ersten und im Anfang des zweiten Jahr-
hunderts ein bleibendes Denkmal ihrer außerordentlichen "Wirk-
samkeit hinterlassen. Zu demselben gesellen sich Schriften wie
die des Hirten, deren Verfasser Hermas es nicht anders weiß, als
daß seine Offenbarungen allen Gemeinden mitzuteilen seien. Er
ist eben nicht römischer Prophet, sondern als Prophet Lehrer
der gesamten Christenheit.
Nicht mit Unrecht hat man gesagt, daß die Christenheit erst
Kirchenämter — im Unterschied von Gemeindeämtern — erhalten
^) Diese Zeit war freilich damals vorbei, als man unter anderen Vor-
würfen dem Montanisten Themison auch den machte, er habe einen katho-
lischen Brief geschrieben und damit in die Prärogative der Urapostel ein-
gegriffen; s. Apollonius bei Euseb., h. e. V, 18, 5: Oe/liiouh' hö/.utjos, i^iifiovfievog
Tov d:i6oxolov , y.adoXiy.}']v iira. avviagünei'og Ejziaro/.ijt' y.aTijytlv lov; äixeivov
avTOv :i:E7nazevy6zag.
28S Die Mi.ssionure; Modalitiiteii und Gegenwirkungen der ]\Iissiou.
habe, naeluleni der Episkopat für eine Einrichtung* erklärt ■worden
wai'. in der sicli das Apostolat so fortsetze, daß jeder einzelne
Biscliof nicht nur der Träger ehies Gemeindeamtes, sondern als
Bischof der katholischen Kirche (und in diesem Sinne als Nach-
folger der A])Ostel) zu gelten habe. Aber man hat diese richtige
Beobachtung durch den Hinweis darauf zu ergänzen, daß in der
ältesten Zeit eigentümliche Einrichtungen bestanden haben, die
sich in einer Hinsicht als Analogie zu dem späteren katholischen
Amte fassen lassen. Die „Aa/ot'j'Tfs jov loyov tov Oeou'^ waren
,.dtddayMÄot y.a&o/uxol'-'' ^. In der Zeit aber, in der diese alten
Lehrer sukzessive verschwanden, hatte auch schon jene Entwicklimg
begonnen, die mit dem Triumphe des monnrchischen Episkopats,
nämlicli mit der Anerkennung seiner apostolisch-katholischen Be-
deutung geendet hat. Die Vorstufen dieser Entwicklung beol)acliteteii
wir dort, wo, wie in dem Epheserbrief, im Hirten und in der
Didache, die ständigen Beamten der Einzelgemeinde an die Ordnung
„Apostel, Propheten und Lehrer" herangeschoben oder bereits in
sie eingerückt sind. Damit Avar die fundamentale Bedingung ge-
schaffen, auf Grund deren die Bischöfe schließlich die Bedeutung
der „Apostel, Propheten und Lehrer'' erliielten. Faßt man die
*) Das Quellenmaterial über die Trias soll liier zusammenstehen:
(a) Die /.a/.of itsc tov /.oyor tov Oeor, und ursprünglich wahrscheinlick
nur sie, d. h. die Apostel, Propheten und Lehrer, i-iud die fjyoi\u£rot bez. die
TETiinjuivoi in den Gemeinden; dies ergibt sich (a) aus Didache 4, 1; 11, .3 f.;
13; 15. 1. 2 kombiniert, (b) aus Hebr. 13, 7. 17. 24, wo die tjyovfierot ausdrück-
lich als /.(dovvreg tuv /.öyov rov Ofov bezeichnet werden, (c) vielleicht aus
I Clem. 1, 3; 21, 6, (d) aus Act. 15, 22. 32, wo dieselben Männer erst ijyorftevoi.,
dann TiQorpijTai genannt sind, (e) aus dem Hirten des Hermas.
(b) Apostel, Propheten und Lehrer: Paulus, I Cor. 12, 28 f. (angereiht
sind f)i'vüaEi?, yaoiofiaTa iaiiänov , dvTc/.i'j/upei? , xvßsovi'joeig, yevij y/.coaaiöv).
Die Väter, die in späteren Jahrhunderten sich dieser Stelle erinnern, tun so,
als be.stünde die Trias noch zu Recht, ja vergessen manchmal neiien ihr die
herrschende Kirchen Verfassung ganz. Novatian schreibt, nachdem er von den
Aposteln, die der Paraklet stärkt, gesprochen hat (de trinit. 29): „hie est
qui prophetas in ecclesia constituit, magistros erudit". Cyrill. Hieros. (catech.
18, 27) sieht in bezug auf die Kirche nur die an unsrer stelle genannten
Amter für wesentlich an, nicht aber die Bischöfe. Ambro.sius (Hexaem.
III, 12, 50) schreibt: „Circumdedit enim vineam velut vallo quodani caelestiuni
praeceptorum et angelorum custodia .... posuit in ecclesia velut turrim
apostolorum et prophetarum atque doctorum, qui solent pro ecclesiae pace
praetendere" (cf. in Ps. 118, sernio 22 c. 15). "Viucentius Lerin. (Comuionit.37. 38)
spricht von Pseudaposteln, P.scudopropheten, Pseudolehrern; in c. 40 erwartet
man, die Bischöfe genannt zu lesen, aber nur Apostel, Propheten und Lehrer
werden genannt. Paulin von Nola (Opp. ed. Harte I I p. 411f.) richtete an
Augustiu eine .anfrage über Apostel, Propheten und Lehrer, Evangelisten und
Hirten. Sehr Inr/.eichuend .sagt er: „in omnibus his diversis nominibus simile
et prope unum doctrinae ofticium video fuis.se tractatum" , und er nimmt
Die christlichen Missionare. 289
Stelle I Cor. 12, 2S oder Didachc c. II ins Auge („die Propheten
sind eure Hohenpriester" ; vgl. dazu die Nachricht des Polycrates
von Ephesus, daß „Johannes" das nhalov als legevg getragen habe
[Euseb., h. e. V, 24] und Tertull., adv. Valent. 37, der von einem
valentinianischen Lehrer sagt: „insignior apud eos magister, qui
et ponrificali sua auctoritate in hunc moduni censuit") und sodann
solche Stellen bei Cyprian und aus der nachcyprianischen Zeit,
in denen die Bischöfe als die Apostel, Propheten und Lehrer und
als die Hohenpriester der Kirche gefeiert werden, so hat man
die Anfangs- und Endpunkte einer der wichtigsten Entwicklungen
vor sich. Hervorragende Bischöfe wie Polycarp von Smyrna hatten
sie längst antizipiert; er wurde von seiner Gemeinde und in Asien
als „apostolischer und prophetischer Lehrer" gefeiert.
AVas den L^rsprung der Trias betrifft, so ist gezeigt worden,
daß sich ihre einzelnen Elemente zwar im Judentum fanden, die
Zusammenordnung aber von dort nicht erklärt werden kann. Man
richtig an, daß die Propheten nicht die alttestameutlicheu sein können,
sondern christliche Propheten sein müssen.
fc) Propheten und Lehrer, welche aus ihrer Mitte Apostel aussondern:
Act. 13, 1.
(d) Apostel, Propheten und Lehrer: Didache (angereiht werden Bischöfe
und Diakonen).
(e) Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer: Ephes. 4, 11.
(f) Apostel und Lehrer (aber Propheten mit Absicht ausgelassen), an sie
sich anreihend Bischöfe und Diakonen: Hermas, Simil. IX.
(g) Apostel (Propheten), Bischöfe, Lehrer, Diakonen: Hermas, Vis. IIL
(h) Apostel, Lehrer, Prophet: Clem. Hom. XI, 35: f(htv)]o&E u:i6axolov
r] Sibäay.alov i) .i:oo(p7'jT>]r.
(i) Apostel und Propheten (die enge Zusammengehörigkeit beider er-
gibt sich schon aus Matth. 10, 41): Apoc. 18, 20 (2, 2. 20); Ephes. 2, 20; 3, 5.
Didache 11, 3. (Nach Irenäus III, 11, 4 ist der Täufer Johannes Prophet und
Apostel zugleich: „et pi-ophetae et apostoli locum habuif; nach Hippol.,
de antichr. 50 ist Johannes der Jünger Apostel und Prophet zugleich). Der
Gegner der Aloger bei Epiphan., haer. 51,35 etc., cf. Didasc. de charism.
[Lagarde, Reliq. p. 4, ly sq.]: oi jioorftjzm e(f' t/iudy :TQO(j:)jzevoavTsg ov
TiaQS^ETEivav EavrovQ xoTg aJiooTÖ'/.oic .
(k) Propheten und Lehrer: Act. 13, 1. (II Pet. 2, 1). Didache 13, 1. 2;
14, 1. 2. Pseudoclemens, de virg. I, 11: „Xe multi inter vos sint doctores ne-
que omnes sitis prophetae" (1. c. : '/.öyo? diSa/yjg i) ziQorf-ijrEiag i] fiiay.oviac).
Man findet sie, bez. Pseudopropheten und Pseudolehrer, in den späteren Lite-
ratur noch häufig zusammengestellt, s. z. B. Orig., Homil. 2 in Ezech. (Lom-
matzsch T. XIV p. 33. 37); Vincent. Lerin., I. c. c. 15. 23. In den pseudo-
clementinischen Homilien (III, 12) heißt Jesus selbst „unser Lehrer und
Prophet".
(1) Apostel und Lehrer: (Hermas); I Tim. 2, 7; II Tim. 1, 11; Clemens
Strom. VII, 16, 103: ol iiay.6.oioi ä:i6oto}.oi te y.al bibdoy.aloi, Eclog. 23.
(m) Polycarp wird im Briefe seiner Gemeinde (c. 16, 2) also bezeichnet:
ZV ToTg xad' i'jiiug yQovoig Öiöüoy.alog ajioozoliy.og nal :jiQorfrixiy.6g , yeröfisvog
Harnack, ilission. 2. A;ifl. 19
290 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission,
könnte geneigt sein, sie auf Jesus Christus selbst zurückzuführen
— seine Jünger hat er einmal als Missionare (Apostel) ausgesandt,
und von Propheten, die er erweckt, und die predigend umherziehen,
scheint er nach Matth. 10, 41 gesprochen zu haben. Allein die
Geschichtlichkeit der letzteren Stelle ist zweifelhaft ' : daß sich die
Jünger nicht „Lehrer" nennen lassen sollen, hat Jesus aus-
drücklich gesagt-, und eine solche Anweisung, wie sie sich in der
Schöpfung jener Trias darstellt, fügt sich überhaupt nicht zu seiner
ganzen Predigt und den übrigen Anweisungen. Mithin muß man
annehmen, daß die Trias und ihre Schätzung in der jerusalemischen
Gemeinde (und zwar schon in ältester Zeit) entstanden ist im Zu-
sammenhang mit dem „Geist", der über die Gemeinde kam. Auf
christliche Propheten wird im Zusammenhang von Act. 2 (s. v. 1 b)
hingewiesen; sie werden (cf. Act. 4, 36) sehr frühe aufgetreten sein.
f:iiay.onog Ttji; ii> ^/ivov)] xadohy.ii^ ry.y.h]oia<; (cf. Acta Pion. 1: u:rooTohy.ög
dvl]o tön' yaä' tj/^täg yeröiiFvog). Hier sind die alten hohen Prädikate sämt-
lich zusammengefaßt und mit „Bischof" verbunden. Aber augenscheinlich
gilt es als etwas ganz Seltenes, daß noch „zu unseren Zeiten" ein aposto-
lischer und prophetischer Lehrer gelebt hat. .Sehr bezeichnend ist die Aus-
drucksweise des Eusebius (Mart. Pal. 11, 1); er sagt von einer Gruiipe von
zwölf Märtyrern, sie sei teilhaft gewesen .-rgoqijriyov xivog i] xal dnoozoXry.ov
■/aoloi.iaTog y.al doidi(ov.
(n) Von dem Phrygier Alexander heißt es in dem lugdunensischen
Briefe (Euseb. V, 1 , 49) : yrcoaiog ayedöv -räot Sid rrjv TiQog -deov dydjirjv y.ai
rraoo-i]oi'av tov ).6yov rjv yäo xal ovx äuoioog dnoazohyov xagtofiazog.
Ein sehr schönes Zeugnis dafür, daß die Propheten der Gesamtkirche
und nicht einer Einzelgemeinde geschenkt sind — bei den Aposteln ist das
selbstverständlich — , besitzen wir aus valentinianischen Kreisen (Excerpta
ex Theodot. 24) : Xiyovoiv oi OvaXn'Tiviavol ön o xaza tig xGiv :iQO(fr]iwv e'o/FV
jn'eVf,ia i^ai'oerov sig diaxoviav , tovto iai .-rüi'Tag rovg Tfjg iyxlrjocag i^eyvi}»)'
Sio xal TU nrji^iFla tov jtvEVjiaTog tdoftg xal 7ioorf}]TsTai dici Tr]g exxXrjaiag f.T(-
TflovvTai. Vgl. die Ansprüche der montanistischen Propheten und die Ge-
schichte des Hirten in der Kirche.
Die sub (1) oben angemerkte Stelle aus den Eklogen des Clemens lautet :
"Qo.180 Stä TOV oo'juazog 6 aonijg sXd'/.n xal läzo , ovzoyg xal noörtnov ,,8id t(oi>
71 no'i t]Z(7)v" , rvv Sk ,,Sid. zwv djzoazöÄcov xal 8iöaoxd/.iov" .... xal .idvioze
av&nconor 6 cfi}.äv{}oo}jzog £vSi'f:iai {^sög slg zijv dr&QWJZ(ov oonrjgi'av, jzgözeoov
n'fv zovg TZQorprjzag , vvv 8k zijv Exxh]oiav. Diese Stelle ist lehrreich; aber
die alte Trias ist, wie man .sieht, bereits gesprengt: die Propheten sind nur
noch als alttestamentliche bekannt und zugela.ssen. — Ob die .-zvfvuazty.oi
des Origenes (de orat. 28) mit unsrer Gruppe der Lehrer zusammenhängen,
lasse ich dahingestellt. Die zd^(g :zoofpr]rcüv ^laozvgoyv zs xal d.-zooTÖX.Mr (Hipp.,
de antichr. 59) gehört nicht hierher.
M Nicht auf das Wort Matth. 11, 1.3 f.^dvTfg o! .igoqijzai xal 6 vd/Aog
i'o)g ^Iwdvrov sjzgorp/jzsvaar) möchte ich mich berufen (denn dieses Wort
schließt vielleicht, s. o. S. 279', eine neue Gattung von Propheten nicht aus),
wohl aber darauf, daß die Situation, aus der 10, 40if. gesprochen zu sein
scheint, die begonnene und dauernde Missionstätigkeit bereits voraussetzt.
2) Matth. 23, 8.
Die christliehen Missionare. 291
Näheres ist leider niibekanut, und der wirkliche Ursprung der
enthusiastischen Trias „Apostel, Propheten und Lehrer*' so dunkel,
■wie der Ursprung- der Trias „Bischöfe, Presbyter und Diakonen"
und der sehr viel spätere des Komplexes der sog. niederen
Weihen. Überall handelt es sich hier um bewußte Schöpfungen,
die von einem bestimmten Punkte ausgegangen sind, sich aber aus
den tatsächlichen Verhältnissen heraus aufgedrängt haben mögen.
4.
Die Didache faßt zunächst (11, 3) Apostel und Propheten
zusammen, indem sie die Anweisung gibt, daß für sie das Dogma
des Evangeliums in Geltung bleiben soll. In den späteren
Kapiteln dagegen faßt sie vielmehr Propheten und Lehrer zu-
sammen und schweigt über die Apostel. Hieraus folgt, worauf
bereits oben hingewiesen w^orden ist, daß die Propheten einerseits
mit den Aposteln, andererseits mit den Lehrern ein Merkmal
gemeinsam hatten. Jenes Merkmal ergibt sich aus dem Ausdruck
y.azd t6 doypa tov evayye/uov, sowie aus den nun folgenden Spezial-
anweisungen ^ Unter dem „ Dogma des Evangeliums " können
nur die Regeln verstanden sein, die wir Marc. 6 cum parall. lesen'-.
Diese Annahme wird dadurch noch verstärkt, daß Matth. 10, wo
Gebote für die Apostel zusammengestellt sind, auch von wandern-
den Propheten die Rede ist (v. 41) und sie als besitzlos vorgestellt
werden. Die Besitzlosigkeit wurde also als ein notwendiges
Erfordernis für die Apostel und Propheten erachtet. Das sagen
auch der 3. Johannesbrief, Origenes und Eusebius. Johannes
bemerkt über die Missionare, sie wanderten predigend, ohne etwas
von den Heiden anzunehmen. Auf „Annehmen"' waren sie also
angewiesen. Origenes (c. Geis. III, 9) schreibt: „Die Christen
bieten alles auf, was sie können, den Glauben über die ganze
Erde zu verbreiten. Darum machen es sich einige förmlich zu
ihrer Lebensaufgabe, nicht bloß von Stadt zu Stadt, sondern selbst
*) IJäi 6 anöozo'/.oi eoyoj^iFro:; rtqo^ vfiäg dsx&V^'^^ ''-'^ >'-i'oio;- ov fisvel
de el /iit] 7]/nioav fiiav iav dk fj /osia, y.al zt]v äkhjv iQeT; de iäv /^sivtj,
t^>EVÖo:iQO(pt]zrig soxiv. i^soyousvog 6s 6 a:;t6oToXog fA.rj8h> Xa/.ißavsTCO et ixij
äoTOV i'wg ov ai'}.ioi)f]' iäv dk aoyvQiov ahf) , rpEv8ojtQO(py)rr]g zoxiv (c. 11,4 — 6).
■2) Lietzmann (a. a. 0. S. 486) wendet ein, die Worte könnten nicht
besagen, was die Propheten und Apostel tun müssen, sondern wie die Ge-
meinde ihnen begegnen soll: also sei au Stellen wie Matth. 10, 40 f. zu denken.
Allein, so nahe dieser Einwand liegt, so scheint er mir durch das, was v, 4iF.
in der Didache (c. 11) folgt, ausgeschlossen: gewiß handelt es sich um eine
Anweisung an die Gemeinde, aber die Gemeinde soll bei ihrer Aufnahme
jener Herren sich das „Dogma" zur Richtschnur gereichen lassen, was für
dieselben im Evangelium aufgestellt ist, und das findet sich in Marc. 6
cum parall.
19*
292 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
von Flecken zu Flocken und von Dorf zu Dorf 7A\ gehen, um dem
Herrn neue Gläubige 7A\ gewinnen. Und man wird nicht sagen
können, daß sie das eines Gewinnes wegen tun, da sie oft nicht
einmal soviel nehmen wollen, als sie zum Leben nötig haben;
und wenn die Xot sie manchmal zwingt, etwas anzunehmen, so
begnügen sie sich mit der Befriedigung der dringendsten Bedürf-
nisse, obgleich so manche bereit sind, ihnen noch weit mehr zu
geben. Und wenn in unsern Tagen bei der großen Anzahl derer,
die zum Glauben übertreten, einige reiclie und hochgestellte
Männer und zartfühlende und edle Frauen den Glaubensboton
gastliche Aufnahme gewähren, getraut sich da jemand zu behaupten,
daß einige aus Verlangen nach Ansehen deu christlichen Glauben
verkündigen? In den ersten Zeiten, wo gerade den Predigern des
Glaubens große Gefahr drohte, konnte man einen solchen Arg-
wohn nicht so leicht haben, heutzutage aber ist die Gering-
schätzung, mit welcher ihnen Andersgläubige begegnen, größer
als die Ehre, welche die Glaubensgenossen, und nicht alle, ihnen
erweisen." Eusebius schreibt (h. e. III, 37): ,,Sehr viele von den
damaligen Jüngern (den Schülern der Apostel), deren Herz das
göttliche Wort zu einer brennenden Liebe für die „Pliilosophiir'
hingerissen hatte, erfüllten zuerst das heilbringende Gebot des
Herrrn und verteilten ihre Habe unter die Dürftigen. Dann aber
begaben sie sich auf Reisen und verrichteten das Amt der Evan-
gelisten, indem sie sich eifrigst bestrebten, denjenigen, welche
noch gar nichts vom Worte des Glaubens vernommen hatten,
Christum zu predigen und die Schrift der heiligen Evangelien
mitzuteilen. Sie legten aber in fremden Ländern nur allein den
Grund des Glaubens; dann stellten sie andere als Hirten auf und
vertrauten diesen die Pflege der neuen Pflanzung an; sie selbst
aber eilten mit der göttlichen Gnade und Mitwirkung wieder zu
andern Völkern und Ländern." Dazu h. c. V, 10, 2, wo es in bezug
auf das Ende des 2. Jahrhunderts heißt: „Es gab noch bis zu
dieser Zeit mehrere Evangelisten des Wortes ^^l'vdeov 'Qyjlov ano-
oro/.ixor idjuijjLiaTog ovveiocpegeiv ^'-t av^ijoti y.ai ory.odotifj Ton
■i%lov Xoyov 7TOOiiii]ßovuEvoi, d)v etg yi-röfuvog y.al ILivTarrog^. —
') Das Wort „Evangelist" kommt Ephes. 4, 11; Act. "21,8 und IT Tim. 4, 5
vor, sodann in der „Ai)ostol. Kireheuordnung" (c. 19). Hierauf findet man es
erst wieder bei Tertull. de praescr. 4 und de Corona 9 (Hippel., de antichr. .56,
heij.H Lucas Apostel und Evangelist). Das ist ein Beweis, daß die Unter-
scheidung von Aposteln und Evangelisten in ältester Zeit selten gemacht
worden ist (dagegen werden die Apostel selbst häufig als oi Evayye/.ioäfteroi
bezeichnet, s. (jal.1,8; IClem. 42, 1; Polyc, ep. 6, 3; von Barnabas c. 8 , 3
sogar die Zwölf ohne die Bezeichnung „Apostel"). f]usebius bezeichnet die
Evangelisten als Nachahmer der Apostel; in ältester Zeit galten sie den
meisten einfach als Apostel.
Die christlichen Missionare. 293
Das zweite Erforde niis für die Apostel, welches die „Apostellehre"
neben der Besitzlosigkeit angibt, >lie rastlose Missionstätigkeit
(keine Niederlassung), bestätigen Origenes und Eusebius ebenfalls^.
Durch die „Apostellehre" wissen wir, daß diese wandernden
Missionare noch am Anfang des 2. Jahrhunderts Apostel geheißen
haben. Origenes und Eusebius bestätigen uns, daß sie noch im
2. Jahrhundert existierten — Origenes weiß sogar noch von solchen
in der Gegenwart — , aber den Namen „Apostel" führten sie nicht
mehr-. Nicht mir die gesteigerte Verehrung der L'rapostel ver-
bot das, sondern auch die Theorie, die sich schon im Laufe des
2. Jahrhunderts einbürgerte, daß bereits die Urapostel das Evan-
gelium auf der ganzen Welt verkündigt hätten. War dem so,
dann waren alle folgenden Missionare nicht mehr Apostel, da
sie nicht mehr die ersten waren, die das Evangelium in den
Ländern verkündigten ^.
Wie es zu der exorbitanten Hochschätzung der Urapostel
gekommen ist*, ist schon angedeutet worden. Ihre Tätigkeit soll
als Ersatz dafür angesehen werden, daß Jesus Christus selbst nicht
in allen Ländern missionierend gewirkt hat. Dazu: der Glaube
an das nahe Weltende erzeugte mit einer gewissen Notwendigkeit
die Yorstellung. daß das Evangelium schon überall verkündigt sei;
denn erst nach der universalen Terkimdigung kann das Ende ein-
treten; den Aposteln aber gebührt das Verdienst dieser wmider-
baren Verbreitung. Endlich, das was heute als christlich gilt,
kann als solches nur durch den Rückgang auf das Alteste, also
auf das Apostolische, legitimiert werden-'. Aus diesen Gründen
^) Xur die Verkündigung des Wortes, schlechterdings keine andere
Tätigkeit haben die Apostel auszuüben. Diese Vorstellung ist schon Act. 6
ausgeprägt und ist so lange festgehalten worden, als das Gedächtnis die Zeit
wirklicher Apostel festhielt. In der Abgar-Quelle, welche Eusebius (h. e. 1, 13)
ausgeschrieben hat, wird auch bestätigt, daß der Apostel kein Geld nehmen
darf; außerdem fügt sie noch einen wertvollen Zug zu den Verpflichtungen
des Apostolats hinzu: Thaddäus sagt, als er aufgefordert wurde, in kleinem
Kreise das Wort Gottes zu verkündigen : „Ich werde jetzt schweigen; da ich
aber abgesandt bin, das Wort öffentlich zu verkündigen (y.)-iov:ai), versammle
mir morgen alle deine Bürger, und ich werde zu ihnen predigen".
-) Es ist natürlich nur Hohn, wenn Cyprian von den Aposteln Novatians
spricht (ep. 55, 24).
*) Eusebius ist fi-eilich mit seiner eigenen Darstellung in Konflikt ge-
raten; man halte die Stellen II, 3; III, 1—4 und III, 37 zusammen.
■*) Die Vorstellung von gemeinsamen Kundgebungen aller Apostel findet
sich schon in der Didache (s. die Aufschrift), in dem Judas- (und II Petrus-)
Brief und bei Justin (s. Apol. I, 62).
*) S. TertulL, de carne 2: „apostolorum erat tradere". Die Idee der
apostolischen Überlieferung, an sich uralt und eines geschichtlichen Kerns
nicht ermangelnd, hat sich zuerst in Rom — und gewiß nicht ohne Einfluß
294 Die ^lissionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
ist das Ansolioii der TTrapostel so iin2,-elieucr gesteigert worden;
es wurde ihre Aiissendung in alle AVeit geradezu ins ,, Credo" auf-
genommen ^ AVir sind heute nicht mehr imstande, das — jeden-
falls höchst bescheidene — Maß von "Wirklichkeit festzustellen,
welches dem Glauben an die universale Missionstätigkeit der
Apostel zugrunde liegt. Sicher aber sind alle Vorstellungen von
der universalen und einheitlichen kircheuorganisatorischen Tätig-
keit der zwölf Apostel für die lleidenkirchen ins Reich der
Legenden zu verweisen-.
Von der Tätigkeit der Missionare (Apostel) des 2. Jahrhunderts
wissen wir leider in concreto so gut wie nichts und hören, außer
dem Namen Pantänus und der Mission dieses alexandriuischen
Lehrers nach „Indien" •^, auch keine Namen. Vielleicht haben wir
des geuus loci et imperii — zu der Vorstellung und Theorie der durch
Sukzession sich vermittelnden Überlieferung verdichtet und schematisiert.
Später ist diese Theorie gemeinchristlich geworden und konstituiert den
Begrift' des Katholischen. Origeues vertritt sie mit derselben Sicherheit wie
Tertullian, s. z.B. de prineip. IV, 9: „Regula et discipliua, quam ab Jesu
Christo traditam sibi apostoli per successionem posteris quoque suis sanctam
ecclesiam docentibus tradiderunt"'.
') S. das Nähere in meinem Lehrbuch der Dogmeugesch. 1 ^ S. 153 — 156;
unten im 1. Kapitel des 4. Buches komme ich auf die Missionslegende zurück;
aber eine Erschöpfung des unendlichen Stotfes ist nicht beabsichtigt; ich
werde ihn nur streifen. Das Höchste und Ausschweifendste iu bezug auf die
Bedeutung der Zwölfapostel findet sich in der Pistis Sophia e. 7 (Schmidt
p. 7). Jesus spricht zu den Zwölfen: „Freuet euch nun und jubelt, denn als
ich mich aufmachte zur Welt, führte ich von Anfang an zwölf Kräfte mit
mir, wie ich es euch von Anfang an gesagt habe, welche ich von den zwölf
Erlösern (oioTrjQi'g) des Lichtschatzes gemäß dem Befehle des ersten Myste-
riums genommen hatte. Diese nun stieß ich in den Mutterleib eurer Mutter,
während ich in die Welt kam, d. h. diese, die heute in eurem Körper sind.
Denn es wurden euch diese Kräfte vor den Augen der ganzen Welt gegeben,
■weil ihr die seid, welche die ganze Welt retten werden, und damit ihr im
stände seid, die Drohung der Archonteu der Welt und die Leiden der Welt
und ihre Gefahren und alle ihre Verfolgungen .... zu ertragen\ Vgl. e. 8 p.9:
„Freuet euch nun und jubelt, denn ihr seid selig vor allen Menschen, die auf
der Erde, weil ihr es seid, die die ganze Welt retten werden". Übrigens
heißen auch iu den Eklogen des Clemens (c. 16) die Apostel „ocoTr/of^ riöv
drß()w:Ton'"; Origenes nennt sie „Könige" (Hom. XII, 2 iu Num. t. 10 p. lo2f.),
und er mißbilligt (De prineip. II, 8, 5) jene Auslegung des Herrnworts: „Meine
Seele ist betrübt bis zum Tode" nicht, nach welcher Jesus unter seiner Seele
die Apostel verstanden habe; die multitudo eredentium sei das corpus Christi
und die Apostel seien die Seele!
-) Beachtenswert ist, daß nach altchristlicher Vorstellung sich auch das
inosaische Gesetz über die ganze Welt verbreitet hat. Die Predigt der zwölf
Apostel in der ganzen Welt findet also die Wirkungen vor, welche jenes Ge-
setz hervorgerufen hat (s. z. B. die Ausführungen Eusebs im 1. lindi der
Kirchenge-schichte).
3) Euseb., h. e. V, 10.
Die christlichen Missionare. 295
den Piipylus in den Acta Carpi et Papyli als Missionar zu betrachten;
denn er sagt im Verhöre (c. 32): h Jidof] Enag^iu y.al ttöXh eloiv
fwv Tey.va xmd {^eov. Vielleicht war Attahis in Lyon ein Missionar
(Euscl). h. c. A*. l); aber beides ist unsicher. Ein Name wäre
freilich /ai nennen, der der Thecla (nach der Acta Pauli), wenn
wir auf diesen Roman etwas geben könnten. Sie ist die einzige
Frau, welche den Ehrentitel „>/ djrdaTo/los" erhalten hat. Aber es
ist sehr zweifelhaft, ob ihre Verehrung außer der Legende von
ihr irgend eine tatsächliche Grundlage gehabt hat; doch kann die
Legende einen historischen Kern einschließen. Selbsterlebte Fälle,
daß ein Missionar und Lehrer später zum Bischof der von ihm
Bekehrten erwählt worden ist, hat Origenes im Auge ^ ; aber damals
hatte sich schon der Unterschied von ,,Missionar" und „Lehrer"
verwischt und die alte Trias existierte nicht mehr.
Können wir auch von der Tätigkeit der Apostel im 2. Jahr-
hundert nichts Bestimmtes aussagen — am Anfang des 3. sind wohl
nur noch letzte Nachzügler dieses Standes vorhanden gewesen;
daß die Kirche wächst ovöe tcöv didaoy.f'dcov TtAeovatövjcov, sagt
Origenes de princ. IV, 1, If. ausdrücklich — , so ist doch die
Schöpfung und Existenz dieser heroischen Institution an sich von
großem Interesse. Ihre Erfolge dürfen freilich nicht zu hoch
geschätzt werden; denn erstlich trifft die „Apostellehre" haupt-
sächlich Bestimmungen, um vor dem Mißbrauch des Amtes zu
schützen — es mul.l schon am Anfang des 2. Jahrhunderts der Ge-
fahr der Verwilderung unterlegen sein, was sehr begreiflich ist — ,
zweitens hätte sich die stilisierte Vorstellung von der grundlegenden
und eigentlich schon abschließenden Missionstätigkeit der Urapostel
gar nicht bilden und so fest einbürgern können, wenn lebendige
Apostel im 2. Jahrhundert noch eine große Rolle gespielt hätten.
Vielleicht ist es dalier nicht zu kühn zu sagen, daß die Kirche in
Wahrheit nur zwei wirkliche Apostel besessen hat, einen großen
und einen kleinen, den Paulus und Petrus, dazu etwa noch den
ephesinischen Johannes. Schwerlich haben jene anderen berufs-
mäßigen Apostel, die besitzlosen und rastlos wandernden, das
Hauptverdienst an der Ausbreitung des Christentums — wir müßten
sonst von ihnen hören oder doch ihre Namen kennen : aber schon
Eusebius war über sie so unwissend wie wir. Das Hauptverdienst
der Ausbreitung wird den nicht berufsmäßigen Aposteln gebühren
und dazu den „Lehrern".
') S. Hom. XI, 4 iu Num. t. 10 p. 113: ,Sicut in aliqua, verbi gratia,
civitate, ubi nondum Christiani nati sunt, si accedat aliquis et docere in-
cipiat, laboret, instruat, adducat ad fidem, et ipse postmodum iis, quos docuit,
princeps et episcopus fiat".
296 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
5.
Die Propheten^, obschon sie nach der „Apostellehre" und
anderen Zeugnissen aucli besitzlos sein sollten wie die Apostel,
sind doch nicht zu den l)erufsmäßigen Missionaren zu rechnen;
aber sie haben wie die Lehrer indirekt für die Mission eine
Bedeutung- gehabt. Ihr charismatisches Amt befähigte sie zur
Verkündigung des Wortes Grottes und wies sie dazu an: ihre be-
geisterten Reden wurden auch von Heiden gehört, und Paulus
setzt (I Cor. 14. 24) gewiß mit Grund voraus, daß die prophetische
Rede und die prophetische Herzenskündigung auf diese einen be-
sonderen Eindruck machen. Bis gegen Ende des 2. Jahrhunderts
haben sich die Propheten als Stand in der Kirche erhalten; ein
Prophet war noch der Bischof Melito von Sardes-; die monta-
nistische Bewegung hat den urchristlichen Prophetismus gesteigert
und zu Ende geführt. Yereinzelte Zeugnisse sind auch später noch
vorhanden^: aber für die Kirche bedeuten solche I'ropheten nichts
mehr, ja sie wurden vom Klerus wohl kurzerhand als falsche Pro-
pheten beurteilt. Wie die Apostel, so waren auch die Propheten
in einer gefährlicJien Lage und konnten leicht verwildern. Die
Bestimmungen der „Apostellehre" (c. II) lehren, welche Vorsichts-
maßregeln man schon am Anfang des 2. Jahrhunderts gebrauchen
mußte, um die Gemeinden vor Schwindelpropheten zu schützen.
Lucian zeigt in Peregrinus Proteus einen solchen: auch das stimmt
mit der „Apostellehre" überein, daß Peregrinus als Prophet sich
bald in einer Gemeinde niederläßt, bald umherzieht in Begleitung
von ihn besonders verehrenden Christen: die Propheten waren
*) Sie wurden in der Heideukirche stets von den Wahrsagern ifu'a-TFi;)
unterschieden (s. Hermas, Mand. 11; Iren, fragm. 2o [ed. Harvey]: oüro^
oiy.hi c/jc :jooq^}jT>]g «/./.' oj; närrig /.oytad/jOETat), aber nicht immer werden die
unterscheidenden Merkmale deutlich gewesen sein. Das „aliquid praenun-
tiare" gehört z. B. nach Tertulliau (de carne 2) auch zum Beruf des Propheten.
-) Tertullian (de praescr. 3) zählt die Propheten als besonderen Stand
nicht mehr mit: „Quid ergo, si episcopus. si diaconus, si vidua, si virgo, si
doctor, si etiam martyr lapsus a regula fuerit." In einem sehr alten christ-
lichen Stück, das uns Grenfell und Hunt geschenkt haben (The Oxyrhyn-
chus Papyri I, 1898, Nr. V ]>. 8f., s. Sitzungsber. der Preuß. Akad. 1898
S. ölGff. ). linden sich die Worte: rö -TQfx/ tjroidr jrvevfia id oco/iaTFiöv egtiv zfjg
:roor/r]Tix)ig ra|«w?, o Forir ro atoua tTjc aagy-o? 'hjoov Xqiotov tÖ fttyn- ri]
avlhjomcnqTi Siä Mania?. Leider ist das Fragment, welches vielleicht aus der
verlorenen Schrift Melitos Tiftn .-rnocpipeUn stammt, so kurz und abgerissen,
daß ein sicheres Urteil nicht möglich ist. Aber zu dem Ausdruck i) :TQO(pr]-
TiyJj tück; ist Serapion v. Antiochia, ep. ad Caricum et l-'ontium (Euseb., h. e.
^^ 19, 2) zu vergleichen: >} h'Fnyfta jiji y>Fv8ovg tavttjg lä^EW? rfjg L-Tthyofih'r]g
vm; ntjo'fijTfiag. Der Ausdruck »y nQOfj ijrty.t] rä^tg war also noch um das
J. 200 ein geläufiger.
*) S. Firmilian bei Cyiir., ep. 75, 10.
Die christlichen Missionare. 297
iiichr an eine bestimmte Gemeinde gebunden. Auch Proitlierinneii
haben niclit gefehlt; man findet sie sowohl in der großen Kirche
als namentlich bei den Gnostikern^.
Unser Quellenmaterial in bezug auf die urchristliciien l'ro-
pheten ist sehr umfangreich, und viele noch unerledigte Fi-agen
knüpfen sich an dasselbe; so ist z. B. das Yerhältnis der christ-
lichen Propheten zu den zahlreichen Kategorien heidnischer
Propheten (ägyptischer, syrischer, griechischer), die Avir aus der
liiteratur und den Inschriften kennen, noch niemals untersucht
worden -: ebenso fehlt noch eine gründliche Untersuchung über
die Idee der prophetischen Sukzession. Aber für die Zwecke,
die wir hier verfolgen, bietet das Material nichts; denn über die
Missionstätigkeit der Propheten erhalten wir keine Kunde.
^) Aus der kojitischen Übersetzung der Acta Pauli (Briefwechsel des
Paulus mit der coriuthischen Gemeinde) haben wir gelernt, daß der dort
genannte corinthische (jemeindeprophet nicht ein Mann, sondern eine Frau
gewesen ist (Name: Theonoe. nicht Theouas). Noch eine zweite Proiihetin,
Namens Myrte, kommt in diesen Akten vor. Origenes schreibt (Hom. V, 2
in Judic. t. 11 p. 250): „Cum plurimi iudices viri in Israel fuisse referuntur,
de nullo eorum dicitur, quia propheta fuerit, nisi de Debbora muliere. prae-
stat et in hoc non minimam consolationem mulierum sexui etiara prima
ipsius literae facies et j^rovocat eaa, ut nequaquam pro infirmitate sexus
desperent, etiam prophetiae gratiae capaces se fieri posse, sed intelligant et
credant, quod meretur hanc gratiam puritas mentis, non diversitas sexus."
^) Sofern sich hier und dort Schwindler unter die Propheten mischten,
hat ein Unterschied überhaupt nicht bestanden. Eine interessante Charak-
teristik hat Celsus von den Propheten gegeben (Orig. c. Cels. VII, 9. 11): „Es
gibt viele, die, obgleich sie Leute ohne Ruf und Namen sind, mit der
größten Leichtigkeit und bei dem nächsten besten Anlaß sowohl innerhalb
der Heiligtümer als außerhalb derselben sich gebärden, als wären sie von
prophetischer Ekstase ergriflen: andere als Bettler umherschweifend und
Städte und Kriegslager umziehend geben dasselbe Schauspiel. Einem jeden
sind die Worte geläufig, ein jeder ist damit sofort bei der Hand: .Ich bin
Gott' oder (und) , Gottessohn' (.-raT; dsov) oder , Geist Gottes'. ,Ich bin ge-
kommen, weil der Untergang der Welt schon im Anzug ist, und ihr, Menschen,
fahret wegen eurer Ungerechtigkeiten ins Verderben ! Aber ich will euch
retten, und ihr werdet mich bald wiederkommen sehen mit himmlischer
Macht! Selig der, welcher mich jetzt ehrt! Alle übrigen werde ich dem
ewigen Feuer übergeben, die Städte sowohl als die Länder und die Menschen.
Diejenigen, welche jetzt die ihnen bevorstehenden Strafgerichte nicht erkennen
wollen, werden dereinst vergeblich anderen Sinnes werden und seufzen! Die
aber, welche an mich geglaubt, die werde ich ewiglich bewahren!' ....
Diesen großartigen Drohungen mischen sie dann noch seltsame, halbver-
rückte und absolut unverständliche Worte bei, deren Sinn kein noch so ver-
ständiger Mensch herauszubringen vennag, so dunkel und nichtssagend sind
sie; aber der erste beste Schwachkopf oder Gaukler vermag sie zu deuten,
wie es ihm beliebt .... Diese angeblichen Propheten, die ich selbst mehr
als einmal mit meinen Ohren gehört, haben, nachdem ich sie überführt, mir
ihre Schwächen bekannt und eingestanden, daß sie ihre unfaßbaren Worte
selbst erfunden hätten.''
29S Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
6.
Die „Apostellehre'' erwähnt die Lehrer an zwei Stellen (13, 2:
15, 1. 2). und zwar als einen besonderen Stand in den Gemeinden.
Sie leisten ihnen denselben Dienst wie die Propheten, nämlich
den Dienst am Wort, gehören deshalb zu den „Geehrten" und
können, wie die Propheten, Anspruch auf Unterhalt erheben.
Dagegen sind sie augenscheinlich nicht zu Besitzlosigkeit ver-
pflichtet^, auch wandern sie nicht pflichtmäßig, sondern bleiben
in der Regel in der Gemeinde seßhaft.
Diese Angaben empfangen erstlich eine Bestätigung aus jenen
Quellenstellen, in welchen Apostel, Propheten imd Lehrer zu-
sammengenannt sind (s. o. S. 288 0".), sodann aus einer Reihe von
einzelnen Zeugnissen, die da zeigen, daß die l^ehrer ein Stand in
der Christenheit waren, und daß sie hohes Ansehen im 2. Jahr-
hundert und zum Teil, wie wir sehen werden, auch noch in der
Folgezeit genossen haben. Zunächst beweist schon die niclit selten
begegnende Versicherung eines Schriftstellers, daß er nicht in der
Eigenschaft eines Lehrers schreibe, resp. Vorschriften gebe, ein
wie bedeutendes Ansehen der wahrhaftige Lehrer genoß, und wie
man ihm das Recht zusprach, allgemein gültige, verpflichtende
Anweisungen zu geben. So versichert Barnabas zweimal (1, 8;
4, 9): eyo) Öl ovy cbg öiödoxalog (Vd' (bg eig e^ v/licöv vnodei^co,
und Jioklu de i')£?,(ov yodrpeiv ovy Mg dtddoxa?Mg'^. Ignatius er-
klärt (ad Eph. 3, 1): ov öiaTuooofiai vfuv cog Cbv Jig . . . 7tooo?mAco
v/üv cbg ovrdiöaoyMh'jaig jiioi<'-\ und noch im 3. Jahrhundert schreibt
Dionysius von Alexandrien (ep. ad Basil.): eyoj de ov-/, <^'^^ öiÖd-
oxalog, uir cbg juercl 7iäot]g aTrXcjTijTog Ttgoorjxov fjjudg äXltjAoig
StriXeyeodai^. Die Warnung des Jacobusbriefes (3, l); fit] noXlol
öiödoxaloi yiveode, beweist, wie gesucht dieser Stand in der Ge-
meinde war, von dem Hermas (Sim. IX, 25, 2) ausdrücklich sagt,
daß seine Vertreter den heiligen Geist für denselben empfangen
hätten^. Derselbe Ilermas beruft sich (Mand. IV, 3, I) auf einen
') Wenn von Origenes erzählt wird (Euseb., h. e. YT, 3), daß er den
evangelischen Spruch, nicht zwei Stöcke usw. zu haben, befolgt hat, so ist
das ein freier Entschluß von ihm gewesen. Kurz vorher wird erzählt, daß
er sich durch Verkauf seiner Bücher eine Leibrente verschafft habe, um ganz
sorgenfrei zu sein.
^) Aber andererseits sagt er c. 9, 9: oiöev ö r}]v I'ikj'vxov bioQtav rf/g
öii)ayjj? aviov -Of/ifvog ir tj/iiv.
^) Man beachte hier „diardaaofua", welches Ignatius (Trall. ■'>, 3; llöni. 4, 3)
von den Aposteln braucht; s. Trall. 7, 1 : tü öiaräyfiara xihv änooTolMr.
*) Vgl. auch noch Counuodian, Instruct. 11,22,15; „Non sum ego doctor,
sed lex docet" ; 11, 16, 1: „Si quidem doctores, dum exspectant munera vestra
aut tinient personas, laxant singula vobis; et ego non doceo."
'') Atöüaxakoi Ol diSä^arzsg asfiröjg xai uyviog rov /Myov tot xiujtov ....
xuOöjg y.al aaoi'/.ußov tu nrevfia zu äyior.
Die chfistliehen Missionare. 2',)0
von ihiii g-ohörten Ausspruch einiger Ijelirer betreffs der Buße,
der dann von dem Engel finsdrücklich bestätigt wird. Diese Stelle
zeigt, daß es zur Zeit des Hernias in Rom diönoxaloi gab, die in
hohem Ansehen standen. Eine ganze Reihe von Lehrern nennt
uns Clemens Alex. (Strom.!, I, 11). Die Stelle zeigt zugleich,
wie international sie waren: „^lein Werk soll ein einfaches Rild
und Gremälde jener klaren und lebendigen Lehren, sowie jener
seligen und wahrhaft verehrungswürdigen Männer sein, welche ich
zu li(tren gewürdigt worden bin. Der eine von ihnen, der lonier,
war in Griechenland, zwei andere in Großgrieehenland — der eine
von ihnen stammte aus Coelesyrien, der andere aus Ägypten — ,
wieder andere traf ich im Orient, und zwar einen aus dem Lande
der Assyrer, einen anderen, einen geborenen Hebräer, in Palästina.
Bei dem letzten aber, den ich traf (seiner Bedeutung nach war er
wohl der erste) ließ ich mich nieder. Ich hatte ihn in Ägypten, wo
er verborgen war, aufges])ürt, die sicilische Biene (Pantänus).^'
Eine ausfülirliche Anweisung über Lehrer besitzen wir in den
pseudoclementinischen Briefen de virginitate (I, II): „Doctores
esse volunt et disertos sese ostendere . . . neque adtendunt ad id
quod dicit [Scriptura]: ,Ne multi inter vos sint doctores, fratres,
neque omnes sitis prophetae' . . . Timeamus ergo iudicium quod
imminet doctoribus; grave enim vero iudicium subituri sunt doc-
tores illi , qui docent et non faciunt ^, et illi qui Christi nomen
mendaciter assumunt dicuntque se docere veritatem, at circum-
cursant et temere vagantur seque exaltant atque gloriantur in
sententia carnis suae . . . Verumtamen si accepisti sermonem
scientiae aut sermonem doctrinae aut prophetias aut ministerii,
laudetur deus . . . illo igitur charismate, quod a deo accepisti (seil.
yaQiojuaTi di6ayj]g)^ illo inservi fratribus pneumaticis, prophetis, qui
dignoscant dei esse verba ea, quae loqueris, et enarra quod acce-
pisti Charisma in ecclesiastico conventu ad aedificationem fratrum
tuorum in Christo." Diese Stelle zeigt, daß es in den Gemeinden
noch Lehrer und Propheten gab, daß jene diesen nachstanden,
resp. sich eine Kontrolle gefallen lassen mußten, und daß — man
vergleiche das ganze Kapitel — schwere Mißstände in diesem
Stande zu bekämpfen waren. Naturgemäß traten schon frühe aus
dem Stande der freien, der ganzen Gemeinde dienenden Lehrer
einzelne hervor, die sich eine besonders tiefe Erkenntnis der
dixaicoinaTa rov ßeov zutrauten und sich daher nicht an die Christen
ohne Unterschied, sondern an die Geförderten oder Gebildeten
d. h. an irgend welche Auslese richteten. Auch ging das
^) Vgl. Apostellebre 11, 10: ngocf/jT»]? , et ä SiSdoy.ei ov noiei, yevdoJZQo-
;}()0 Die Missionare ; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
charismatische Lehrertum unvermerkt in das profane
über, liier ist der Punkt gegeben, von Avelchem ans eine Vm-
bihhmg der Institution der Lehrer eintreten mußte und eingetreten
ist; denn es lag nun selir nahe, auch in der Christenheit Schulen
zu errichten, wie solche, von griechischen und römischen Philo-
sophen begrüiulet, in jener Zeit zahlreich bestanden. Diese Schulen
konnten in der Gemeinde sozusagen eingebettet bleiben : sie
konnten sich aber auch sehr leicht sektiererisch entwickeln; denn
jeder Schule haftet diese Tendenz an. Hierher gehört die Tätig-
keit der wandernden christlichen Apologeten, die wie Justin^ und
Tatian- in den großen Städten Schulen stifteten; hierher gehören
Schulgründungen wie die des Rhodon und der beiden Thoodoti
in Rom ^; hierher gehören die Unternehmungen vieler sogenannter
Gnostiker, hierher gehört vor allem die alexandrinische Katechen-
schule (und ihr Ableger in Cäsarea Pal.), deren Ursprung freilich
in tiefes Dunkel gehüllt ist^ und die Schule des Lucian in An-
tiochien (hier hören wir von ^LvXXovxiavioxai^ also von einem Zu-
sammenschluß ähidieh denen in den Philosophenschulen). Aber
gerade der Gefahr gegenüber, die Kirche Christi in Schulen zu
zersplittern und das Evangelium der weltlichen Bildung, dem
Scharfsinn und dem Ehrgeiz einzelner Lehrer zu überliefern''',
erstarkte schließlich das kirchliche Bewußtsein, und das Wort
^) Die Tätigkeit des .Tustin kennen wir am besten aus den Acta Justini.
Mit seinen Schülern steht er vor dem Kichter Rusticus. Der Richter tragt:
Wo kommt ihr zusammen? Justin antwortet erst ausweichend, bez. er will
das Mißverständnis abwehren, als besäßen die Christen einen heiligen Ort für
den Kultus. Auf die drängende Frage: Wo versammelst du deine Schüler?
erwidert Justin dann: fj'w indro) /ihro tivoc: MuQTtvov lov TiinoTirov ßakareiov
y.ai jia()ä jrävTa zov yQÖvor tovtov — t.^eS/jiDjoa dg rfj 'Pco/iauor jtöXsi tovto
<)EVTEQ0V — ov ytriony.oi tilhp' rirä ovvD.fvatv fl /li/ tijv gy.Elrov. Auch in
Ephesus hatte Justin eine Schule.
-) Über die Schule des Tatian, die sektiererisch wurde, s. Iren. 1, 28:
ou'jliaji öidaay.ülov kTaQdt'U .... l'Öior yaijay.Tijoa Scdaoxa/.yi'uv övyFOTi'/oaTO.
Tatian stammte aus Justins Schule.
^) Zu Rliodon Euseb., h. e. V, 13 (Rhodon stammte selbst ans der Schule
Tatians), zu den Theodoti, deren Schule sektiererisch wurde und dann den
Versuch machte, sich in eine Kirche zu verwandeln, s. Eu.seb, V, 28. .Einen
,.d()ctor'' nennt Tertullian den Praxeas, der seine Lehre in Asien, Rom und
Carthago verbreitete, vgl. auch die Schule des Epigonus, Cleomenes und
Sabellius in Rom.
*) Cf. Euseb. V, 10: i/ynro n' 'Ah'^avdQsia rTjg tmv jriazöjr avröüi öiaT()ißij<;
Toiv d.Tu jTaiÖKÜxg uvi/ij fjiiöo^örarog , oi'0/xa avKo JlavTaTvog , e^ ug^atov rüong
<)i<)aoy.a/.fi'()v t(7jv igQÖJV Xöyon' jiuq' avroTg ovvtozwTog. Hieron., de vir. iul. 36:
-Alexandriae Marco evangelista instituente semper ecclesiastici fuere doctores."
Clem., Strom. I, 1, 11.
^') Hermas rühmt von den guten Lehreru (Sini. IX, 25, 2), daß sie /ojöh
(7/.c/>? trootj inuvTo t:tg i;jridv/uo.v jrovijfjür; dagegen s. über solche Lehrer, welche
()idaxui ^ivai einfuhren, Sim. IX, 19, 2. 3; Sim. VIII, 6, 5; Vis. HI, 7, 1.
Die christlichen Missionare. ;{0|
„Sclmle'' wiirdo fast ein Sclnnäliwort für eine kirrliliclio HoikUu'-
gemeindo'. indosson desliall) starbon die ^^doctova^'-^ (Siödny.alot)
— icli nioiiio hier dio chai'ismatischon, die das liecht bosaßeii,
in (l(>n (vofrosdieusttMi zu sprechen, oltg-leich sie niclit Kleriker
waren — in den Gemeinden nicht sofort aus, ja sie liaben sich
länger in ihnen gehalten als die „Apostel" und „Propheten". Von
Anfang an fehlte ihnen das enthusiastische Element, welches jene
charakterisiert und ihnen den Untergang bereitet hat. Ferner:
die Unterscheidung von „Milch" und von „starker Speise", von
verschiedenen Grraden der christliehen oocpla, ovveotg, ejnoTi'j/i)] und
yvMoig war zu allen Zeiten nicht zu entbehren^. Deshalb mußten
sich naturgemäß die ,^öiddaxaloi'-' so lange in den Gemeinden
halten, als die Verwaltungsbeamten resp. die Priester noch niclit
überall die Qualitäten von Lehrern besaßen , und der Bischof
(samt den Presbytern) noch nicht Beschlag auf die kirchliche Er-
ziehung und Unterweisung gelegt hatte. Dies aber ist in manchen,
auch in großen Gemeinden, erst spät d. h. erst in der 2. Hälfte
des 3. oder im Anfang des 4. Jahrhunderts eingetreten. So lange
aber haben sich nachweisbar hier und dort „Lehrer" erhalten ^.
Neben der neuen und straffen Organisation der Gemeinden (durch
^) Die Kirche der Theodotianer in Rom wird von ihrem Gegner (bei
Euseb., h. e. V, 28) als eine Schule geschildert; Hippolyt nennt die Kirche
seines Gegners Callist, sie schmähend, ein ÖibaoKcdeXov (Philos. IX, 12 p. 458, 9:
462, 42); ebenso spricht Rhodon (Euseb., h. e. V, 13, 4) von einem marcioniti-
schen Si8aoy.a?.ecov. — Beachtenswert ist, daß Constantin in dem berühmten
Schreiben nach Alexandrien, durch welches er den arianischen Streit be-
schwichtigen wollte (Euseb., Vita Coust. II, 71), den streitenden Parteien die
Praxis in den Philosophenschulen vorhält; aber die Weise, in der er es tut,
zeigt deutlich, daß ihm nichts ferner liegt, als die Kirche für eine Philosophen-
schule zu halten: (Va i^uxqöj Tzagadsr/fian rijv v/neregav avveoiv vjio/:iv7'jaatt(i,
i'aie Si'j.^ov xai rovg cpdoaotpov? avrovg cog kvl fih änavieg döy^iari avvridn'Tai,
jT0?2d}ctg Öf:: sJiEiduv fv Tivi zöjv aTrocpäaecov /lifqsi öiacpcovcban', £i xai ifj rT/g
i,-ziOT)'jfi)]g üqetij ;^ft)ß<'cov7:a< , xfj /isvToi zov 86y/farog h'föasi jiüXiv etg dlh'iXovg
orfisTveovaiv. Interessant ist hier auch der Unterschied von /} icoot'Covaa T7]g
i.^iazi'j/iitjg agsTt] und »/ rov ödy/iaiog ercooig.
^) S. die paulinischen Briefe, den Hebräer- und Barnabasbrief usw.
Atd. XI, 2: 8i8äaxeiv eig ro Ttoooüelvac diy.aioovvip' y.ui yyojoiv y.VQiov.
*) Man vgl. die Bemerkungen von Bonwetsch zu Methodius' Schrift
„Vom Aussatz" (Festschrift f. Oettingen, 1898, S. 51): „Neben dem Bischof
nehmen die Lehrer noch eine hervorragende Stellung in der Gemeinde ein.
Sie bilden mit dem Bischof zusammen die feste Ordnung der Kirche. Beiden
gilt jene Mahnung, sich mit heiligen Erkenntnissen zu nähreu und himmlisch
gesinnt zu sein. Die Lehrer sind mit als die Schriftkuudigen und Inhaber
des Lehrstuhls bezeichnet, welchen eben hierdurch die Gefahr der Selbst-
überhebung droht. Zwar auch die Bischöfe sind, wie dieselben Stellen zeigen,
Inhaber des Lehramts, aber weil wohl offenbar noch nicht alle Bischöfe die
Gabe der Lehrhaftigkeit faktisch besitzen, können neben ihnen die Lehrer
noch ihre eigentümliche Stellung behaupten."
^}(I2 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
den Bischof, das Presbytorkollegiuin und die Diakonen) standen
diese Lehrer wie Säulen eines zertrümmerten Gebäudes, welche
der Sturm verscliont hatte. Sie paßten nicht in die neue Ordnung
der Dinge liinein. und es ist interessant zu sehen, wie man sie
von einer Stelle zur anderen geschoben hat. Tortullian ordnet
(de praescr. '•)): „Bischof, Diakon, Witwe, Jungfrau, Lehrer,
Märtyrer ^" Er reiht also den Lehrer nicht in den Klerus ein,
sondern stellt ihn in die Reihen der geistlichen Heroen, und zwar
weist er ihm — die Aufzählung ist eine aufsteigende — in dieser
Reihe die zweite Stelle (die erste nach dem Märtyrer) an. In den
Acta Perpet. et Folie, sowie — ebenfalls in Africa — in den
Acta Saturnini et Dativi (Zeit Diocletians, s. Ruinart, Acta Mart.,
Ratisb. IS50, p. 418) begegnet uns der Titel presbyter doctor, und
auch nach Cyprian (ep. 2'J) muß man schließen, daß die l^ehrer
in einigen Gemeinden in das Presbyterkollegium eingereiht und
als solche mit der Prüfung der Lektoren betraut worden sind ^.
Dagegen stehen sie in dem Bericht des Hippolyt ap. Epiph. h. 42, 2
(der Bericht bezieht sich auf Rom und auf die Zeit des Marcion)
neben den Presbytern (nicht im Presbyterkollegium); ol ijneiHeig
7iQEoßvT£Qoi xal <)i(VioxaXoi, und in derselben Stellung finden wir
sie noch nach der Mitte des '.\. Jahrhunderts in ägyptischen Dörfern ;
denn Dionysius von Alexandrien berichtet von seinem Aufenthalt
in denselben (Euseb., h. e. VIT, 24, 0): ovvey.dXeoa rovg ngea-
ßvTEQovQ xal öidaoxdlovq tcov ev raig xcojuaig ddelfföyv. Da in
diesen Dörfern keine Bischöfe vorhanden waren, so folgt, daß die
Lehrer neben den Presbytern damals noch an der Spitze dieser
Dorfgemeinden standen.
Aus Ägypten kommt uns diese Kunde; wenn nicht alles trügt,
hat sich überhaupt in Ägypten, speziell auch in Alexandrien, das
Institut der Lehrer neben der episkopalen Organisation der Ge-
meinden am längsten erhalten (doch war ihr Recht, in den Gottes-
diensten zu sprechen, erloschen: s. u.). In den Werken des
( )rigones begegnen die Lehrer noch häufig ^ ; aber was mehr sagen
will; nach ihm sind die „doctores"-' neben den „sacerdotes^' noch
') Auch de praescr. 14 wird der ^doctor" genannt.
-) Cyprian spricht auch (1. c.) von ,doctores audieutium" ; die Beziehung,
in welche er die Lektoren zu diesen setzt, ist nicht zu bestimmen. Als die
Katecheten sind die Doktoren hier und dort in den Klerus eingestellt worden
und zwar in das Presbytcrkollegium. In den Honiil. Clem. Hl, 71 ist in dem
Satze: Tt/iurs ngsaßvitgoii? p<;«r>;;^?;ras, (iiaxovovg yQqnl/^iovg, j^tjtjac; fv ßfßiaixviag,
nach 7ioi;nßvT^Qor)g kein Komma zu setzen (gegen Lagarde).
') Auch in denen des Clemens. Nach Quis div. salv. 41 soll der Christ
sich einen Lehrer wählen, der wie ein Beichtvater über ihn wacht. Im
Paedag. III, 12, 97 hat Clemens den Unterschied von Püdagog und Lehrer
uuseinandcrgeietzt; jener steht tiefer.
Die christliclieu Missiouare. 303
ein besonderer, dorn Stande der Pru^stor paralleler Stand in der
Kirche. Er spricht von solchen, „die bei uns das Lehramt weise
verwalten" (c. Geis. TY; 72), von ,,doctores ecclesiae" (llom. XIV
in Gen.). Er sagt (llom. IT, 1 in Num. t. 10 p. 19): „Nam saepe
accidit, ut is qui humilem sensuni gerit et abiectum et qui terrena
sapit, exeelsum sacerdotii gradum vel cathedram doctoris
insideat, et ille qui spiritalis est et a terrena conversatione tarn
liber ut possit examinare omnia et ipse a nomine iudicari, vel
inferioris ministerii ordincm teneat vel etiam in plebeia
multitudine relinquatur'-' ^ und llom. YI, 6 in Lcvit. t. 9 p. 284
liest man: „Possunt enim et in ecclesia sacerdotes et doctores
filios generare sicut et ille qui dicebat (Gal. 4, 19) et iterum alibi
dicit (I Cor. 4. 15). Isti ergo doctores ecclesiae in huiusmodi
generationibus procreandis aliquando constrictis femoralibus utuntur
et abstinent a generando, cum tales invenerint auditores, in quibus"
sciant se fructum habere non posse". Diese Stellen, die aus den
Werken des Origenes vermehrt werden könnten (s. z. B. liom. II
in Ezecli. und Hom, III: Unterschied von magistri und presbyteri),
zeigen, daß es in Alexandrien (und wohl auch in Cäsarea) im
ersten Drittel des 13. Jahrhunderts noch einen Stand von Lehrern
neben dem Bischof, den Presbytern und den Diakonen gegeben
hat. Doch der Schriften des Origenes bedarf es hier kaum, da
ja die Person des Origenes selbst, sein Leben und sein Geschick
das deutlichste Zevignis ablegen. Was ist er denn selbst anders
gewesen als ein öiddoxa^^og t?)s ixxX)]oiag. als solcher auf unge-
zählten Reisen geschäftig, die rechte Lehre einzuprägen oder zu
schützen, und was war der Kampf seines Lebens gegen den „ehr-
geizigen" und ungebildeten Bischof Demetrius anders als der
Kampf des freien Lehrers der Kirche wider den Bischof der
Einzel gemeinde? L'nd wenn in diesem Kampfe, der mit dem
vollen Sieg der Hierarchie geendet hat, unter anderem auch die
Frage abschließend verneint worden ist, ob „Laien", d. h. Lehrer,
in der Kirche in Gegenwart von Bischöfen Yorträge halten dürfen;
wenn selbst noch Bischöfe wie Alexander und Theoctistus diese
Frage unter Hinweis auf das Herkommen bejaht haben 2, was ist
') An dieser Stelle ist auch der „spiritalis"' fyvioorixög, jzrsvfiaity.ö;) nicht
nur den Priestern, sondern auch den Lehrern ge^^enübergestellt. Nach Clemens
Alex, ist der Pneumatiker Apostel, Prophet und Lehrer, und steht über allen
irdischen Würdenträgern; auch Origenes huldigt dieser Auffassung.
-) Euseb., h. e. VI, 19. Ihre Begründung zeigt freilich, daß das Recht
von „Laien" — die Lehrer waren Laien — , in den Gottesdiensten zu sprechen,
in Äg3'pten, Palästina und den meisten Provinzen erloschen war; denn die
beiden bischöflichen Freunde müssen ihren Beweis für das Recht aus der
Ferne und aus verhältnismäßig abgelegenen Gemeinden holen. Sie schreiben:
„Wo sich Leute finden, die imstande sind, den Brüdern nützlich zu sein, da
304 Die Missionare; Modalitäten nnd Gegenwirkungen der Mission.
das anders als die letzte Reminiszenz an eine Oi'ganisation der
Gemeinden, die älter und ehrwürdiger war als die bereits alles
iimsj)an!UMHle kl(>rikale Organisation? Die „Lehrer'-' wurden im
Laufe des 3. Jahrhunderts aus der Kirche d. h. dem Gottesdienst
herausgedrängt^; ein Teil von ihnen mag sich auch mit den
Lektoren verschmolzen haben -. Gewiß ist der Stand der Lehrer
derjenige gewesen, der in besonders hohem Maße und frühe der
Gefahr der akuten Hellenisierung und damit der Yerweltlichung
ausgesetzt war: die <)iddo>iaXoi des 3. Jahrhunderts mögen den
diddoxaloi, die als Genossen neben den Propheten gestanden
hatten, sehr unähnlich gewesen sein. Aber die Hellenisiei-ung ist
schwerlich die entscheidende Ursache des Untergangs des Standes
der Gemeinde-Lehrer gewesen: es war auch hier der Episkopat,
der kein Amt zu dulden vermochte, das sich ihm nicht streng
unterordnen und in den einfachen und stratfen Organismus der
vom Bischof geleiteten Hierarchie eingliedern ließ. Seit der Mitte
des 3. Jahrhunderts sind nicht alle, aber fast alle Lehrer der
Kirche Kleriker gewesen, und die Unterweisung der Katechumenen
übernahm entweder der Bischof selbst oder ein Presbyter. Der
geordnete Katechumenat hat dem freien Lehrertum allmählich ein
Ende bereitet.
Die alten Lehrer der Kirche waren auch Missionare^: Heiden
(nicht nur Katechumenen) traten in ihre Schulen ein und hörten
sie. Von Justin wissen wir das bestimmt (s. o.); Tatian hält seine
„Rode'*, um dem heidnischen Publikum mitzuteilen, daß er nun
werden sie auch von den heiligen Bischöfen aufgefordert, Vorträge an das
Volk (die (Gemeinde) zu halten, wie in Laranda Euelpis von Neon, in Iconium
Paulinus von Celsus und in Synnada Theodorus von Atticus, unsern seligen
Brüdern. Wahrscheinlich ist dies auch an anderen Orten geschehen, wir
wissen es aber nur nicht." Die drei Genannten sind die letzten uns be-
kannten ,.alten'' Lehrer.
^) Vielleicht darf man hier auch an die wichtige Nachricht des Bischofs
Alexander von Alexandrien erinnern, da(.^ Lucian in Antiochien während
dreier bischöflicher Regierungen außerhalb der Kirche von Antiochien
(d::ioorrüycoyoc/ gestanden hat (bei Theodoret., h. e. 1, oj. Lucian war Haupt
einer Schule.
-) iS. über dieses ursprünglich charismatische .\rat, welches unter Um-
ständen auch die Pflicht in sich schloß, die h. Texte zu erklären, meine
Nachweise in den Texten und Unters. Bd. II Heft 5 S. 57 tf.: „ÜI)er den Ur-
sprung des Lektorats und der anderen niederen Weihen."
■'') TertuUian beklagt sich darüber, daß die häretischen Lehrer nicht
Mission treiben, sondern nur katholische Chiüsten zu gewinnen suchen; s. de
praescr. 42: „De verbi autem adrninistratione quid dicam, cum hoc sit nego-
tium haereticis, non ethnicos convertendi, sed uostros evertendi .... Ita fit,
ut ruinas facilius operentur stantium aedificiorum quam exstructionem iacen-
tiuni ruinarum" (cf. adv. Marc. II, 1). Ich komme später auf diese Klage
zurüi'k.
Die christlichen Missionare. ;]()5
ein christlicher Lehrer geworden ist, und ebenso ist uns die
missionierende Lehrtätigkeit der alexandrinischen Vorsteher der
Katechetensehule überliefert. Origenes hatte auch heidnische Zu-
hörer, unterrichtete sie in den Elementen der christlichen Glaubens-
lehre und bekehrte sie nicht selten (s. Euseb. h. e. VI, 3). Bekannt
ist, daß ihn sogar die Kaiserin Mutter, Julia Mamäa, nach Antio-
chien kommen ließ, um seine Vorträge zu hören (Euseb. VI, 21),
Auch Hippolyt hat an diese einen Lehrbrief geschrieben, von dem
sich Bruchstücke in syrischer Sprache erhalten haben. Als in
Rom eine vornehme Frau des Christentums wegen in Anklage
versetzt wurde, wurde sehr bald auch ihr Lehrer Ptolemäus {6idd-
oy.aÄog Ixeivi]^ t(ov Xoioriavcbv fiaih-jadTCov yevoue.vog) gefänglich
eingezogen (Justin., Apol. II, 2). In den Akten Saturnini et Dativi
aus der Zeit Diocletians (Africa) liest man (Ruinart, Acta Mart.,
Ratisb. 1859, p. 417) folgende Anklage gegen den Christen Dativus,
die Fortimatianus (,,vir togatus") in bezug auf seine zum Christen-
tum bekehrte Schwester erhob: ,,Hic est qui per absentiam patris
nostri, nobis hie studentibus, sororem nostram Victoriara seducens,
hinc de splendidissima Carthaginis civitate una cum Secunda et
Restituta ad Abitinensem coloniam secum usque perduxit, quique
nunquam domum nostram ingressus est, nisi tunc quando quibus-
dam persuasionibus puellares animos illiciebat." Auch die ganze
Tätigkeit der christlichen Apologeten gehört hierher, deren Erfolge
für den inneren Ausbau des Christentums wir sehr hoch veran-
sehagen dürfen^, während wir über das Maß ihrer "Wirksamkeit
bei den Heiden nichts wissen. Keine Kunde verrät uns, ob die
^) Aufgabe des Apologeten und Lehrers war es, das Christentum stufeu-
mäßig darzulegen und zu beweisen. Von dem Gnostiker Apelles sagt Rhodon
(bei Euseb. V, 13) : ^i^äc>>ia).og eivui /.eycov ohy. jjdei t6 öiSaoy.öiiei'ov v:z' avrov
y.oarvveiv. „Non difficile est doctori", schreibt Cyprian ep. 73, 3, ,vera et
legitima insiuuare ei qui haeretica pravitate damuata et ecclesiastica veri-
tate couperta ad hoc venit ut discat, ad hoc discit ut vivat." Welche Be-
deutung die Apologetik für die Propaganda des .Judentums hatte, ist bekannt;
die Christen haben auch hier ein großes Erbe angeti-eten. indem ihre Lehrer
die Grundzüge und das Material der jüdischen Apologetik übernehmen konnten.
Wahrscheinlich die meisten christlichen Apologeten sind direkt oder indirekt
von Philo abhängig und von den apologetischen Chrestomathien der alexan-
drinischen .Juden, dazu von philosophischen Kompendien, in denen die
Mythologie kritisiert war. — Was die Vei-breitung der Apologien in der
Kirche betrifit, so gilt wenigstens von der des Justin, daß sie sehr bald in
den verschiedensten Teilen der Christenheit gelesen worden ist. Irenäus
kennt sie in Lyon, TertuUian in Carthago, wahrscheinlich Athenagoras in
Athen und Theophilus in Antiochien. Dem Tertulliau war am Ende des
2. Jahrhunderts ein ganzes Coii^us apologetischer Schriften zur Hand; s. de
testim. 1: „Nonnulli quidem, quibus de pristina litteratura et curiositatis
labor et memoriae tenor perseveravit, ad eum modum opuscula penes nos
condiderunt, commemorantes et contestificantes in singula rationem et originem
Harnack, Mission. 2. Aufl. 20
',]{)() Die Missionaro; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Adressaten der meisten Apologien, nämlich die Kaiser, diese
Schriften wirklich in die Hand bekommen haben, niemand sagt
uns. ob das gebildete Publikmii von ihnen N^otiz genommen hat.
.Ad nostras litteras nemo venit nisi iam Christianus'-', klagt Ter-
tullian (de testim. I), und das wird auch in der Regel von den
Apologien gegolten haben. Celsus berücksichtigt sie, soviel ich
sehe, gar nicht, obgleich zu seiner Zeit schon mehrere Apologien
vorlagen. Nur den Dialog des Aristo von Pella nennt er; aber
er war schwerlich für die ganze Gattung charakteristisch, denn
sonst wäre er uns erhalten.
Die Apologeten haben sich in ihren Schriften eine ganze
Reihe von Aufgaben gestellt, bald die eine, bald die andere stärker
betonend und ausführlicher lösend. Sie kritisieren das Rechts-
verfahren des Staates gegen die Christen: sie widerlegen die em-
pörenden Vorwürfe, die man ihnen zuschleuderte, die sittlichen
und die politischen; sie kritisieren die heidnischen Mythologien
und den Staatskultus; sie nehmen — in sehr verschiedener Weise —
Stellung zur griechischen Philosophie und suchen sich teils mit
und neben ihr, teils wider sie zu behaupten^; sie unterziehen das
Leben, das öffentliche und das private, wie es gelebt wird, einer
Prüfung; sie kritisieren die Kulturerrungenschaften und die kon-
ventionelle Bildung, ihre Ursprünge und ihre Erfolge. Aber weiter,
wie stellen das Wesen des Christentums dar, seine Gottes-, Vor-
sehungs-, Tugend-, Sünden- und Vergeltungslehre, das Recht
dieser Religion, sich auf Offenbarung zu berufen und sich als die
einzige zu behaupten; sie entwickeln die Logoslehre und setzen
sie mit Jesus Christus in Verbindung, dessen Ethik, Wahrheits-
predigt und Sieg über die Dämonen sie schildern. Endlich, sie
suchen den Beweis für den metaphysischen und ethischen Inhalt
dieser Religion zu erbringen, sie von der Stufe einer blolk^i
Äfeinung auf die Stufe einer sicheren Erkenntnis zu erheben, und
zugleich — durch das Mittel des Alten Testaments — gegenüber
dem Vorwurf der Neuheit als die uralte, als die Menschheits-
religion zu erweisen"-. Unter den Beweisen sind die aus der er-
et traditionem et argumenta sententiarum, per quae recognosci possit nihil
nos aut novum aut portentosum suscepisse, de quo non etiam comniunes et
publieae litterae ad sutt'ragium nobis patrocineutur , si quid aut erruris
eiecimus aut aequitatis admisimus."
') Drei verschiedene Stellungen zur griechischen Philosophie ergaben
sich dal)ei: es sind wirkliche Wahrheitserkenntnisse in ihr, die aus Logos-
wirkungen stannnen, oder es sind wirkliche Wahrheitserkenutnisse in ihr,
aber es sind Plagiate aus dem A. T., oder es sind in ihr nur dämonische
Nachäffungen der Wahrheit zu finden, wie in der Mythologie.
*) Literarische Fälschungen spielen dabei auch eine Rolle — sie fehlen
auch sonst nicht ganz (das falsche Josephuszeugnis und anderes) — , aber
L'ie christlichen ^lissionare. ;}()7
füllren AVois.sa<;-u]ig. aus der Kmft, ein sittliches Leben herzusrellon,
aus der einleuchtenden Yernünftigkeit und aus der Tatsache der
Dänienenbezwingung- ihnen die wichtig-sten.
Auch auf (»Henrliche Disputationen mit Heiden (Justin. Apol. 11 :
der zynische Philosoph Crescens; Minucius Felix, (^ctavius) und
Juden (Justin. Dial. mit Trypho; Tertull., adv. Jud. 1) ließen sicli
die Apologeten ein. In ihren Schriften nehmen einige von ihnen das
Recht in Anspruch, ausdrücklich im Xamen Gottes und der Wahr-
heit zu sprechen: „von Gott Belehrte'' nennen sie sich'-, obgleich
sie im strengen Sinn nicht zu den charismatischen Lehrern gehörten.
Die Schulen, welche diese Lehrer einrichteten, konnten vou
dem Publikum und der Polizei nur als Philosophenschulen be-
trachtet werden, ja einige Apologeten haben sich selbst als Philo-
sophen gegeben- und ihre Lehre als Philoso])hie-'. Sie werden
infolgedessen hier und dort an den Vorteilen leilgenonnuen haben,
welche die Philosophenschulen genossen, d. h. vor allem an der
Freiheit der Bewegung, die diese besaßen. Allein das kann immer
nur vorübergehend gewesen sein. Die Obrigkeit mußte bald ein-
sehen, daß in ihnen doch nicht der wissenschaftliche Charakter
überwog, sondern daß sie Ilervorbringungen der religio Christiana
waren, die nicht zu den erlaubten ü'ehörte*.
die im 2. Jahrhundert erscheinenden Fälschungen scheinen mir größtenteils
iüdischen Ursprungs: im o. Jahrhunderfc steht es anders.
M Vgl. z. B. Aristides. Apol. 2: „Von Gott selbst wurde mir verliehen,
weise über ihn zu reden." Diognet.. ep. 1: zoD dsoü rov y.al tö /Jyeir y.al rö
d.y.ovEtv yiuy yon^yovvrog ahoviiai Sodrjvai hiol iiiv el.Tfh' oinoig xt/..
-) Einige von ihnen behielten selbst den Philosophenmantel bei: Justin
heißt schon frühe in der Kirche „der Philosoph und Märtyrer".
') Tl yüo: — läßt Justin, Dial. c. Tryph. 1, von der zeitgenössischen
Philosophie den Tryphon sagen — ovy ol qü.ooocpoi jreol dsou t6v anavTa
noiovvTai /.öyor, y.al :tsoi fiovagylag avroi-; y.al jcgovoiag at C^jzt'joei'; yiyvoviat
hy.äoTOTE ; y ov tovto eoyov ioTi ffiloooffiag, e^siäCsiv ttsoI xod dfi'ov; Melito:
j'l y.aO' fjiiäg (füooorfia, ähnlich andere.
*) Die Apologeten beklagen sich einerseits, daß die Heiden im besten
Fall das Christentum für eine menschliche Philosophie halten, und fordern
andererseits, daß — da das Christentum als Philosophie betrachtet wird —
ihm auch die Freiheit derselben gewährt werde. Tertullian hat sich Apol. 46 ft".
hierüber sehr ausführlich verbreitet; augenscheinlich handelte es sich um
eine praktische Frage, und hin und her mag wohl ein christlicher Apologet
daran gedacht haben, wenn man nicht die volle Anerkennung durchzusetzen
vermöge . wenigstens eine gewisse Freiheit als Philosophenschule für sich
und seine Brüder zu erhalten. „Wer zwingt denn einen Philosophen zu
opfern oder zu schwören oder mitten am Tage zwecklos Lampen heraus-
hängen? Niemand. Vielmehr bekämpfen sie öffentlich eure Götter und
klagen in ihren Schriften eure Religionsgebräuche an — und ihr lobt sie.
Sehr viele kläffen auch gegen die Kaiser"' (c. 46). Auch die vielen christ-
lichen Sekten konnten wohlwollende Gegner in der Annahme bestärken, es
handle sich um Philosophenschulen (c. 47).
20*
;}08 Die Missionare; ^Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
7.
,.1'hiros cfficinnir qnotioiis metimur a vobis; semcn est san-
guis Christiaiioriini .... illa ipsa obstinario, quam ex{)robatis.
magistra est" — ruft Tertullian den Präsides zu (Apol. 50). Die
zahlreichsten und erfolgreichsten Missionare der christlichen Religion
waren nicht die berufsmäßigen Ijehrer, sondern die Christen selbst,
sofern sie treu und stark waren. Wie wenig hören wir von den
Erfolgen jener und wie viel von den Wirkungen dieser! Vor
alhnn war der Konfessor und Märtyrer ein Missionar: er stärkte
nicht nur die schon Gewonnenen, sondern er warb durch sein
Zeugnis und seinen Tod neue Mitglieder. Zahlreich sind die
Berichte in den Märtyrerakten, die dies erzählen; es würde viel
zu weit führen, sie hier wiederzugeben. Während sie in den
Gefängnissen saßen, während sie vor dem Richter standen, auf
dem Wege zum Richtplatz und durch die Exekution gewannen
sie Gläubige; sogar noch nach ihrem Tode: von Potamiäna, der
alexandrinischen Märtyrerin zur Zeit des Septimius Severus, wird
in einer zeitgenössischen Quelle berichtet (bei Euseb. VI, 5), sie
sei gleich nach ihrem Tod auch Nicht- Christen in der Stadt er-
schienen, und diese seien dadurch zum Übertritt bewogen worden.
Das ist keineswegs unglaublich; denn die Märtyrerexekutionen —
man lebte doch in einem Rechtsstaat — mußten auf weite Kreise
einen erschütternden und aufregenden Eindruck machen und sie
vor die Frage stellen, wer hier der Schuldige sei, der Gerichtete
oder der Richter^. Sahen sie aber den Ernst, den Opfermut und
die Standhaftigkeit dieser Christen, so war es schwer, sie für die
Schuldigen zu halten. Sicher ist also die Behauptung, die sich
übrigens nicht nur bei Tertullian findet, keine Phrase, daß das
Blut der Christen ein Same sei.
lndess(>n waren nicht nur die Konfessoren und Märtyrer
Missionare — dieser Religion war es eigentümlich, daß jeder
(n-nste Bekennor auch der l^ropaganda diente -. Die Christen
sollten „ihr Licht leuchten lassen, damit die Heiden ihre guten
') Schon in dem alten Briefe der Gemeinde von tSmyrnii ülier den Tod
Polycarps heißt es, daß die Heiden überall von ihm reden. In der Vita
Gypriani liest man c. 1 in Ijezug auf diesen: „Non (|uo aliquem gentilium
lateat tanti viri vita."
-) fiehr bezeichnend sagt Tertulian, Apol. 4(5: „Honum huius sectae usu
iani et de commercio innotuit" ; de pallio 6: ,,Elinguis philosphia vita contenta
est." Was Tertullian das ralllum sagen läßt (c. 5), gilt von den Christen:
„ich ])tiegc an jeder Schwelle und bei jedem Ilausaltar zu stehen und Heil-
mittel für die Sittlichkeit anzugeben, welche den Staaten, den Städten, den
Länderu mit mehr Erfolg die Gesundheit verschatfen würden als die An-
strengungen der Toga." Vgl. auch, was im 2. Buch Kap. 4 ausgeführt
worden ist u)id was unten im 4. Kap. dargelegt werden wird.
Die christlichen Missionare. 309
Werke sehen und den Vater im Himmel jireiscn". Waren sie
vuii ihrer Sache durchdrungen und lebten sie nach den Vorschriften
ilirer Religion, so koimten sie gar nicht verborgen bleiben: ihr
Wandel mußte eine deutliche und laute Missionspredigt sein^
Die Überzeugung, daß der Gerichtstag bevorstehe, und daß man
ein Schuldner der Heiden sei, kam dazu. Ferner, die Exklusivität,
weit entfernt das Christentum abzuschließen, war durch das ent-
schiedene Entweder-Oder, welches sie in sich schloß, ein kräftiges
Mittel der Mission.
Wir können nicht zweifeln, daß die große Mission dieser
Religion sich ganz wesentlich durch die nicht -berufsmäßigen
Missionare vollzogen hat. Justin und Tatian sagen uns das auch
mit deutlichen Worten. Was sie zum Übertritt bewogen hat, war
der Eindruck des sittlichen Lebens, den sie von den Christen über-
haupt empfangen hatten. Wie sich dieses Leben auch im gewöhn-
lichen Gang des Tages von dem der l^icht-Christen abheben, wie
es eine fortwährende Predigt sein sollte, das hat uns Tertullian
lebhaft geschildert dort, wo er seine Frau beschwört, nach seinem
Tode keinen heidnischen Mann zu heiraten (ad uxor. II, 4 — 6).
Wir dürfen auch mit Sicherheit annehmen, daß gerade die Frauen
eine sehr bedeutende Rolle bei der Ausbreitung dieser Religion
gespielt haben (s. u. Buch 4, Kap. 2). In einem besonderen Stande
innerhalb der Gesellschaft aber einen Hauptträger der Propaganda
zu erkennen vermögen wir nicht. Speziell das Heer darf hier
nicht genannt werden. Wohl gab es auch im Heere Christen;
aber das Soldatenhandwerk und die christliche Religion waren
nicht leicht zu verbinden. Das Christentum kann in der vorcon-
stantinischen Zeit unmöglich Lagerreligion gewesen sein wie der
Mithraskult und andere Kulte'-.
') Von den Gemeindewitwen hören wir in der Didascalia apostolorum,
daß sie Proselyten machen, s. Achelis in den Texten u. Unters. Bd. 25 Heft 2
S. 276. S. bO. 76 f.
-) Nur in bezug auf Africa kann man geneigt sein, eine etwas engere
Beziehung zwischen dem Christentum und dem Heere anzunehmen.
310 Die Missionare; ^Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Exkurs.
Reisen, brieflicher und literarischer Austauscht
Die ,. Apostel" und auch viele Propheten wanderten rastlos
im Interesse der Mission. Die Reisen des Apostel Paulus von
Antiochien bis Rom, ja wahrscheinlich bis Spanien, stehen im Licht
der 0 esellichte; aber auch seine Mitarbeiter und Regleiter sind
nach seinen Briefen teils mit ihm, teils neben ihm auf beständiger
AVanderschaft-. Man eriimere sich hier vor allein des missionieren-
den Ehepaars Prisca und Aquila. Tm einzelnen die Reisen des
Paulus und aller dieser Missionare zu untersuchen mul darzulegen.
V) Vgl. Zahn, Weltverkehr und Kirche während der drei ersten Jahr-
hunderte, 1S77. B-amsay, Travel and correspondence aiuong the early
Christians, im Expositor VIII, 1908 Decmb. p. 401tf. Derselbe, The Church
in the Roman Kmpire p. o64 ff. und in Hastings' Diction. of the Bible
T. V („Travel"). „It is the simple truth that travelling, whether for business
er of pleasure. was contemplated and perfornied under the Empire with an
indiÖereuce , confidence, and, above all, certainty, whieh were unknown in
after centuries until the introduction of steamers and the consequent inerease
in ease and sureness of communication." Man vgl. die ausdrücklichen oder
indirekten Zeugnisse des Philo, der Apostelgeschichte, i'linius, Appian,
Plutarch, Epictet, Aristides usw. Irenaeus IV, ;')0, 8: „Mundus pacem habet per
Romanos, et nos sine timore in viis ambulamus et navigamus quocumcjue
voluerimus." Auf einem Grabstein in Hierapolis in Phrygien rühmt sich ein
Kaufmann, die Reise von Kleinasien nach Rom zweiundsiebzigmal gemacht
zu haben (GIG 3920). Die Reise des Paulus von p]phesus nach Jerusalem
und wieder zurück auf dem Landwege behandelt der Verfasser der Apostel-
geschichte (18, 21—82) wie einen Abstecher. Die Überwindung der Ent-
fernungen forderte nicht übermäßig viel Zeit. Man konnte in 12 Tagen von
Neapel in Alexandrien, in 7 Tagen von Corinth ebendort sein. Bei günstigem
Wind dauerte die Fahrt von Narbo in 8üdfraukreich nach Africa nur 5 Tage
(Sulp. Sev., Dial. I, 8), von den Syrten nach Alexandrien 6 Tage (1. c. I, G).
Die Landreise von Ephesus nach Antiochien Syr. kostete allerdings etwa
einen Monat (s. Evagr., Hist. eccl. 1,8); aber es gab auch Schnellboten, die
das Reich in unglaublich kurzer Zeit durchmaßen; von einem solchen sagte
man (Socrat. VII, 19): ovro? 6 naX/Mbiog fifycorrjv ovaar tön' 'Pio/i.aia>r UQXW
/(ty.oav FÖFt^g ifi rayvT7)Ti. Vgl. Friedländer, Sittengesch. Bd. 2 (init.). Zu
den „Briefen" s. Deißmann, Bilielstudien , 1895, und Neue Bibelstudien,
1S97. Wehofer, Unters, zur altchristl. Epistolograj)hie (Wiener akad.
Sitzungsber., Philos.-Hist. Klasse Bd. 148, 1901), s. besonders S. 102ff. Norden,
Antike Kunstpro.sa S. 492: „Die Briefliteratur, selbst die kunstlose, hat nach
den An.schauungen der damaligen Welt doch eine viel größere literarische
Existenzberechtigung gehabt, als wir heute nachempfinden können: der Brief
war allmählich eine literarische Form geworden, in der man alle mög-
lichen Stolfe, gerade auch wissenschaftliche, in zwangloser Art niederlegen
konnte."
'^ ]\Ian lese vor alhin das l(i. Kaidtel des Römerbriefs; wie viele per-
sönliche i'ekaniite des Pauhjs sind in Kuni!
Reisen, brieflicher und literarisclier Austausch. ',] \ \
würde hier zu weit führen und ist für unsere Zwecke niclit nötig.
l*auhis ist sich bewußt gewesen, d;iß der Geist Gottes ihn treibe
und ihm die Ziele und Straßen weise; aber das schloß verständige
eigene Erwägungen nicht aus. Solclie lassen sich in bezug auf
seine Reisen an melireren Stellen nachweisen. Auch Petrus ist
als Missionar gereist und nach Rom gekommen.
Indessen hier interessieren uns nicht sowohl die Reisen der
berufsmäßigen Missionare als vielmehr die Reisen anderer hervor-
ragender Christen; denn sie lehren uns, wie lebendig der persön-
liche Austausch und Yerkehr in den ersten Jahrhunderten gewesen
ist. Dabei tritt die römische Gemeinde in überraschender Weise
in den Vordergrund : sie ist der Zielpunkt der meisten Christen,
die wir als Reisende kennen^.
Christliche Lehrer, die besonders viel gereist sind, bez. sich
in einem großen Teil der Kirchen nmgesehen haben, waren Justin,
Hegesipp, Julius Africanns und Origenes. Justin, aus Samarien
stammend, war in Ephesus und Rom zu Hause; Hegesi])p hat um
die Mitte des zweiten Jahrhunderts vom Orient aus eine mehr-
jährige Reise angetreten, in der er viele Kirchen besucht hat und
zuletzt über Corinth nach Rom gekommen ist; Julius Africanus
ist von Emmaus in Palästina ans in Edessa, Rom und Alexandrien
gewesen; die meisten Reisen aber hat Origenes gemacht: er ist
teils von Alexandrien, teils von Cäsarea (Pal.) aus in Sidon, Tyrus,
Bostra, Antiocliien, Cäsarea (Capp.), Nicomedien, Athen, Nicopolis,
Rom nnd in anderen Städten (zum Teil wiederholt) gewesen'-^.
Nach Rom sind von auswärts folgende berühmte Christen
gereist ^ :
Polycarp, Bischof von Smyrna (Euseb., h. e. IV, 14; V, 24).
Valentin, Gnostiker, aus Ägypten (Iren. III, 4. 3).
Cerdo, Gnostiker, aus Syrien (Iren. I, 27, 1 ; III, 4, o).
Marcion, Häretiker, aus Sinope (Hippel, bei Epiphan,, liaer. 42
c. 1 f.).
Marcellina, Häretikerin (Iren. I, 25, G).
Justin, Apologet, aus Samarien (s. die Apologie u. Euseb. h. e.
IV, n).
Tatian, Assyrer (Orat. 35).
') Vgl. Caspari, Quellen z. Taufsymbol, Bd. III (187.5).
") Auch Abercius ist von Hieropolis in Phrygien aus in Rom und am
Euphrat gewesen.
^} Vom apostolischen Zeitalter sehe ich ab. Daß auch Simon Magus
wirklich nach Rom gekommen ist, ist mir sehr wahrscheinlich. Iguatius
wurde unfreiwillig von Antiochien nach Rom gebi'acht; aber es begleiteten
ihn freiwillig mehrere Christen. Nach einer wenig glaubwürdigen, aber alten
Legende soll auch der ephesinische Johannes nach Rom gekommen sein.
312 Die I\ii»sionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Hegesipj). aus dorn Orient (Euseb., h. e. lY, 22 nach Hegesipps
Hypomnem.).
Euelpistus, Schüler Justin«, aus Cappadocien (Acta Justini).
Hierax. Schüler Justins, aus Iconium (Acta Justini) ^.
Rhodon, aus Asien (Euseb., h. e. V, 1.3).
Trenäus, aus Asien (Euseb., h. c. V, l — 4: [Mart. Polyc. Append.]).
Apelles, Schüler Marcions, aus ? (Tertull., de praescr. 30: doch
kann Apelles ein geborener Römer gewesen sein).
Florinus, aus Asien (Euseb., h. e. V, 15. 20).
Procius und andere Montanisten aus Phrygien oder Asien (Euseb.,
h. e. II, 25; III, 31; VI, 20; Tertull. adv. Prax. 1).
[Tertullian, aus Carthago (de cultu fem. I, 7; Euseb., h. e. II, 2)j.
Theodotus, aus Byzanz (Epiphan., haer. 54 c. 1).
Praxeas, aus Asien (Tertull., adv. Prax. 1).
Abercius, aus Hieropolis (die Inschrift).
Julius Africanus, aus Emmaus (KsotoiJ.
Alcibiades, aus Apamea in Syrien (Hipp., Philos. IX, 1 3).
[Prepon, Marcionit, Assyrer (Hipp., Philos. VII, 31 )j.
Epigonus, aus Asien (Hippel., Philos. IX, 7).
Sabellius, aus der Pentapolis (Theodoret., haer. fab. II, 0).
Origenes, aus Alexandrien (Euseb., h. e. VI, 14).
Viele Africaner um das J. 250 (Cypriani epp.)'-.
Melito von Sardcs ist bald nach der Mitte des zweiten Jahr-
hunderts nach Palästina gereist (Euseb., h. e. IV, 26), ebendorthin
Alexander aus Cappadocien (Euseb., h. e. VI. II) und Pionius aus
Smyrna (um die Mitte des dritten Jahrhunderts, Acta Pionii);
Julius Africanus reiste nach Alexandrien (Euseb., h. e. VI, 31);
Hermogenes, ein Häretiker, siedelte aus dem Orient nach Carthago
über (Thcophilus von Antiochien hat ihn bekämpft und Tertullian);
Apelles ging von Rom nach Alexandrien (Tertull., de praescr. 30);
römische Christen werden z. Z. der decianischen Verfolgung und
nach derselben nach Carthago gesandt (Cypr. epp.); mehrere
römische Brüder waren in Alexandrien anwesend zur Zeit der
VcM'folgung des Valerian (Dionys. Alex, bei Euseb., h. e. VII, 11);
Cl(>mons Alex, ging nach Cappadocien (Euseb., h. e. VI, 1 1). Diese
Liste ist nicht vollständig, aber sie wird ein Bild davon geben.
^) Diese beiden sind aV^er wahrscheinlich unfreiwillige Reisende; sie
scheinen als Sklaven nach Rom gekommen zu sein.
^) Mau reiste nach Rom aus verschiedenen Motiven: um dort eine Wirk-
samkeit als Lehrer zu entfalten, um auf die dortige Kirche Einfluß zu ge-
winnen, um diese berühmte Kirche zu sehen usw. Der Zug nach den großen
iStädten. oer alle neuen Religionsunternehmuugen auszeichnet, führt allem
zuvor in d;e Iluuptstadt. Wie hat Paulus gestrebt, nach Rom zu kommen!
Reisen, brieflicher und literarischer Austausch. 313
wie groß der AuHtaiiscli durch ]\eison hcrvorragciKlcr lichrin- go-
weson ist.
Was (Ion brieflichen Verkehr betrifft ^ so beschränke i(;h mich
darauf, das Wichtigste anzuführen. Auch hier steht die römische
Gemeinde im Vordergrund. Wir wissen von folgenden Briefen und
Übersendungen dieser Gemeinde :
Das Gemeindeschreiben nach Corinth (= I. Clemensbrief) um
das J. 96.
Das Buch des Hermas, das nach Vis. 11, 4 an die auswärtigen
Gemeinden geschickt worden ist.
Das Gemeindeschreiben nach Corinth von dem Bischof Soter
(d. h. seine dorthin gesandte Predigt := II. Clemensbrief). Das
Antwortschreiben des Dionysius von Corinth zeigt, daß Rom da-
mals und seit Jahrzehnten an viele Gemeinden Briefe gerichtet
und Unterstützungen gesandt hat.
Im montanistischen Streit sind unter (Soter), Eleutherus und
Yictor Briefe nach Asien, Phrygien und Gallien gegangen.
Im Osterstreit hat Victor Briefe an alle auswärtigen Gemeinden
gerichtet.
Pontian hat nach Alexandrien geschrieben und der Verurteilung
des Origenes zugestimmt.
In der Zeit der Sedisvakanz nach dem Tode des Bischofs
Fabian sind Briefe nach Carthago, an andere africanische Ge-
meinden und nach Sicilien gegangen; auch schrieben die römischen
Märtyrer an die carthaginiensischen.
Der Bischof Cornelius hat nach Africa zahlreiche Briefe ge-
schrieben, ferner nach Antiochien und Alexandrien.
Der Bischof Stephanus hat nach Africa, Alexandrien, Spanien
und Gallien geschrieben, sowie im Ketzertaufstreit an alle aus-
wärtigen Kirchen.
Derselbe Stephanus hat Briefe und Unterstützungen nach
Syrien und Arabien gesandt, und bereits seine Vorgänger haben
dasselbe getan.
Briefe des Bischofs Xystus IL nach Alexandrien.
Briefe des Bischofs Dionysius nach Alexandrien.
Brief des Bischofs Dionysius nach Cappadocien und Unter-
stützungen.
Brief des Bischofs Felix nach Alexandrien.
Briefe nach Antiochien z. Z. der Wirren des Paul v. Somosata.
Unter den nicht -römischen Briefen seien hervorgehoben: die
Briefe des Ignatius an asiatische Gemeinden und nach Rom, der
^) Die Gemeinden sandten sich auch untereinander die Eucharistie zu.
Das älteste Zeugnis steht bei Irenäus in dem Brief an Yictor von Rom
(Euseb. V, 24, 15).
;;i4 l'ie Missionare; Modaütäteu und Gegenwirkungen der Mission.
"Brief des Polycarp von Smvrna nach Philip])] sowie an andere
benachbarte Gemeinden, die große Briefsaminlnng des Dionysius
von Corinth (nach Athen. Lacedämon. jS^icomedien, Greta, Pontus,
Rom), die großen IJriefsammkmgen des Origenes (nicht erhalten),
des Cyprian (an africanische Kirchen, nach Rom, Spanien, Gallien,
Cappadocien). des Novatian (nicht erhalten, an sehr viele Gemeinden
in der ganzen Christenheit), des Dionysius von Alexandrien (bruch-
stückweise erhalten; sogar an die Brüder in Armenien hat er ge-
schrieben). Von Cappadocien, Spanien, Gallien aus wurde an
Cyprian, bez. auch nach Rom geschrieben; die in Antiochien gegen
Paul V. Saniosata versammelte Synode schrieb an alle Gemeinden
der Christenheit; Alexander von Alexandrien und Arius schrieben
Briefe an sehr viele Gemeinden der Osthälfte des Reichs usw.^
Überraschend schnell verbreiteten sich auch die bedeutenderen
christlichen Schriften-. Aus der Fülle des Materials sei folgendes
hervorgehoben:
Die vier Evangelien scheinen noch vor Ablauf der ersten
Hälfte des zweiten Jahrhimderts in die meisten, jedenfalls in sehr
viele Gemeinden des ganzen Reichs gekommen zu sein.
Eine Sammlung von Paulusbriefen kennen schon Clemens
Romanus. Ignatius, Polycarp und alle hervorragenden Gnostiker.
Der I. Clemensbrief (nacli Corinth gerichtet) ist in Polycarps
Händen (in Smyrna) und ist dem Irenäus in Lyon bekannt, ebenso
dem Clemens Alexandrinus.
Die Tgnatiusbriefe sind wenige AVochen oder Monate nach
ihrer Abfassung gesammelt und nach Philipp! gesandt worden;
Irenäus in Lyon und Origenes in Alexandrien kennen sie.
Die Schrift „Apostellehre" verbreitete sich im 2. Jahrhundert
in Ost und AVcst.
Das ganze Buch des „Hirten'' ist schon im 2. Jahrhundert
in Lyon. Alexandrien und Carthago bekannt gewesen.
Justins Apologie (nnd andere Schriften) war dem Irenäus in
Lyon bekannt, dem Tertullian in Carthago usw.: Tatian wurde in
Alexandrien gelesen.
Werke des Melito, Bischofs von Sardes (z. Z. Marc Aureis),
las man am Ende des 2. .Jahrhunderts in Ephesus, in Alexandrien,
in Rom und in Carthago.
') Die Nachweise für alle diese Hriefo findet man in meiner Geschichte
der altchristliohen Literatur, Bd. J.
■-/ Ich darf auch hierfür auf meine Literaturgeschichte verweisen, in
der die alten Testimouia für jede Schrift genau verzeichnet sind. Die Zahl
der christlichen Schriften, wenn man von den häretischen absieht, war etwa
bis ■/.. Z. des Commodus nicht sehr bedeutend, mit jenen zusammen genommen
aber sehr grol.'>. Sie müssen aber mitgerechnet werden.
Reisen, brieflicher und literarischer Austausch. 315
"Werke de^ Trcnüu^; von T.yon. der um 100 schrieb, las man
bereits um das ,Iahr 2(H> in Koni, in Carthago und in Alexandrien;
später kennt ihn aucli (ebenso wie den Justin) Methodius in Lycien.
Die Werke mehrerer klcinasiatischer Schriftsteller aus der Zeit
31. Aureis las man in Alexandrien, in Carthago und in Rom.
Marcions, des Häretikers. ,.Antithesen''' waren am Ende des
2. Jahrhunderts in allen größeren Gemeinden in Ost und West
bekannt.
Die apokryplie Schrift ,.Acta Pauli", die von Asien ausge-
gangen ist. wurde am Ende des 2. Jahrhunderts wahrscheinlicli in
den meisten Hauptgemeinden, gewiß aber in Rom, Carthago und
Alexandrien gelesen.
Hippolyts, des Römers, zahlreiche Werke haben sich im Orient
weit verbreitet. Wieviele christliche Werke aus allen Weltgegenden
in die Bibliothek nach Cäsarea (Pal.) gekommen sind, lehrt uns
die Kirchengeschichte des Eusebius. die auf Grund dieser Werke
verfaßt worden ist. Dieser Bibliothek, in ihrer Art gewiß einem
Seitenstück zur alexandrinischen. verdanken wir es in erster Linie,
daß wir heute eine zusammenhängende Kenntnis des christlichen
Altertums, wenn auch in bescheidenen Grenzen, besitzend Aber
auch schon vorher: wenn man aus den Werken des Celsus, Ter-
tullian, Hippolyt, Clemens Alex, und Origenes ihre christliche
Bibliothek zusammenstellt — es ist das eine leichte Mühe — ,
gewahrt man, daß sie über einen umfangreichen Bestand christ-
licher Bücher aus allen Teilen der Kirche verfügt haben.
Diese Daten sollen nur eine annähernde Vorstellung davon
geben, wie stark der persönliche, der briefliche und der literarische
Verkehr sowohl der Gemeinden untereinander als der hervor-
ragenden Lehrer gewesen ist. Die Bedeutung, die diese Tatsache
für die Mission und die Propaganda des Christentums gehabt hat,
kann nicht leicht überschätzt werden: die Teilnahme und Brüder-
Vj Hier sind auch die beiden Tabellen zu vergleichen, welche ich in der
Literatur- Gesch. Bd. I S. 883 — 886 gegeben habe: -Alte lateinische Über-
setzungen altchristlieher griechischer Schriften"; „Alte syrische Übersetzungen
altchristlicher griechischer Schriften". In eine fremde Sprache wird eine
Schrift erst übersetzt, wenn sie für die Erbauung oder Bildung unentbehrlich
scheint. Nun vergleiche man, welche außerordentlich große Anzahl altchrist-
licher Schriften in das Lateinische oder Syrische frühe übersetzt worden
sind, ^samentlich interessant ist es aber, festzustellen, welche Schriften so-
wohl in das Lateinische als auch in das Syrische übertragen worden sind.
Auch ihre Zahl ist nicht klein, und sie ist ein sicherer Wegweiser in bezug
auf die Beantwortung der Frage, welche altehristiichen Schriften die ver-
breitetsten und einflußreichsten waren. In das Griechische aus dem Latei-
nischen ist in der vorconstantinischen Zeit nur sehr weniges übersetzt worden
(Tertullians Apolog., Briefe Cyprians}.
*^ I 5 l)ie Mi>sioiiiire; ]\Iüda!itäten und Gegenwirknugen der Mission.
liehkcit und wiederum die geistige Regsamkeit der Christen springt
hier in die Augen; sie waren starke Hebel der Yerbreituuff; sie
mußten den außen Stehenden mächtig imponieren: sie sicherten
auch (une gewisse Einlieitliclikeit der Entwicklung und bewirkten
es. daß ein Ohrist, wenn er aus dem Osten in den Westen oder
aus einer entfernten Gemeinde in eine andere kam, sich nicht als
ein Fremdling fühlte. In der Tat siml bis zur Zeit Constantins,
jedenfalls bis gegen die Mitte des o. Jahrhunderts die centripetalen
Strebungen stärker gewesen als die centrifugalen; Rom aber war
der Mittelpunkt jener Strebungen; die römische Gemeinde war
die katholische; sie war nicht nur das Symbol und die Repräsen-
tantin der Einheit, sondern ihr vor allem verdankt man die Einheit.
Untersuciiungen über die technische Art der Verbreitung der
christlichen Schriften sind m. W. bisher nicht angestellt worden
imd werden leider auch nur geringe Ergebnisse erzielend Man
muß sich aber vergegenwärtigen, daß ein großer Teil dieser
Schriften — unter ihnen die ältesten und wichtigsten und ferner
fast die gesamte Briefliteratur — in technischem Sinn niemals
oder erst nach Generationen ediert worden ist. Editionen des
Neuen Testaments (und des Alten?) hat es vor Origenes bez. den
Theodütianern in der großen Kirche überhaupt nicht gegeben (doch
muß man Marcions Treues Testament eine kritische Rezension und
Edition nennen, und wenn sich die Kirchenväter über Ver-
fälschungen der Bibeltexte durch die Gnostiker beklagen, so
haben sie rezensierte Editionen im Auge), und für den größten
Teil der altchristlichen Schriften haben erst die Exemplare, die
zu Cäsarea lagen, die Unterlagen für Editionen (seit dem 4. und
5. Jahrhundert), bez. für Abschriften abgegeben. Aber auch nach-
') Doch mag hier stehen, was Öulpicius Severus (Dial. T, 23; zu ergänzen
ist die Stelle durch III, 17) von seinem eigeuen Büchlein ,Vita S. Martini"
erzählt. Der Interlocutor Postumianus sagt: ^Numquam a dextera mea liber
iste discedit. nam si agnoscis, ecce — et aperit librum, qui veste latebat —
eu ipsuni! hie mihi, inquit, terra ac mari comes, hie in peregrinatioue tota
•socius et cousolator fuit. sed referam tibi saue, quo liber iste penetrarit, et
»juam nullus fere in orlje terrarum locus sit, ubi non materia tarn felicis
historiae jicrvulgata teueatur. primus eum Romanae urbi vir studiosissimus
tui Paulinus invexit; deinde cum tota certatim urbe rapei'etur, exultantes
librarios vidi , quod nihil ab bis quaestiosius haberetur, siquidem nihil illo
promptius, nihil carius venderetur. hie navigationis meae cursum longe ante
praegressus , cum ad Af'ricam veni, iani per totam Carthaginem legebatur.
solus eum C.'yrenensis ille presbytcr non habebat, sed me laigiente descripsit.
nam quid ego de Alexandria loquarV ubi paene omnibus magis quam tibi
notus est. hie Aegyptum, Nitriani, Thebaidam ac tota Memphitica regua
transivit. liunc ego in cremo a quodam sene legi vidi elc." Hier handelt
es sich allerdings um ein um das J. 400 erschienenes christliches Buch ; aber
die Schilderung ist, wenn man einiges abzieht, doch au(h für die frühere
Zeit lehrreich.
Reisen, brieflicher uinl literarischer Auj^tausch. ;{ ] 7
dem es Editionen der li. ScliriftcMi g-e^'eben hat, wurden sie viel-
fach M-illkürlieh nach diesem odei- jenem verwilderten Exem])lar
abgeschriel)en. Ediert worden sind von vornherein die Apolon-ien,
die gnostischen Werke, welche für Gelelirte bestimmt waren, und
jene kirchlichen Werke, weiclu^ die Kirchenväter seit Frenäus für
das gebildete cliristliche I*ublikum bestimmt haben. Das erste
Beispiel, daß ein Bisclu)f seine Briid'e selbst gesammelt und als
Sammlung ediert hat, bietet uns, in der Zeit ]\rarc Aureis, Dioiiysiiis
von Corinth (s. Euseb., h. e. lY, 21)).
Xicht edierte Schriftstücke unterlagen natürlicli den Gefahren
der Verfälschung in besonderem Maße. Die Kirchenväter sind
voll von Klagen darüber. Aber auch die edierten waren nicht
hinreichend zai schützen^.
AVie weit die christliche Literatur in die Hände der Gegner
gekommen ist, darüber wissen wir fast nichts; Tertullian hat sich
ganz pessimistisch darüber ausgesprochen (detestim. I), und Norden
(Kunstprosa S. 517 f.) hat mit dem Urteil gewiß Recht: „Man kann
sich den Kreis derjenigen Heiden, welche das N. T. überhaupt
lasen, gar nicht kloin genug denken .... ich glaube nicht zu
irren, wenn ich behaupte, daß Heiden nur dann das N. T. gelesen
haben, wenn sie es widerlegen wollten." Celsus hat sich, wie
bemerkt, eine recht beträchtliche christliche Bibliothek angeschafft
oder von einer solchen Kenntnis genommen, bevor er gegen die
') Nur ein paar Zeugnisse: Dionysius Cor. erlebte es, daß bei seineu
Lebzeiten seine Briete verfälscht zirkulierten (1. c.); er tröstet sicli uiit dem
leidigen Trost, daß das auch den h. Schriften passiere (derselbe Trost iu
bezug auf die , Verfälschung" der Schriften des Origenes bei Sulp. Sev.,
Dial. 1, 7). Irenäus beschwört die zukünftigen Abschreiber seines Werks,
dasselbe nicht zu verfälschen und diese Beschwörung mit abzuschreiben (bei
Euseb. V, 20). Das stärkste Beispiel aber für die herrschende Unsicherheit
ist, daß mau 150 Jahre nach Cyprian es in der Kirche wagen konnte, alle
seine über die Ketzertaufe geschriebenen Briefe für Fälschungen zu erklären.
Wie sich Augustin dazu äußert, ist ebenso charakteristisch (ep. 9o, 38). Er
hält die Hypothese für sehr wohl möglich, obgleich er ihr nicht beipflichtet:
„non desunt, qui hoc Cyprianum prorsus non sensisse contendant, sed sub
eins nomine a i^raesumptoribus atque meudacibus fuisse confictum. neque
enim sie potuit integritas atque notitia litterarum unius quamlibet inlustris
episcopi custodiri quemadmodum scriptura canonica tot linguarum litteris
et ordine ac successione celebrationis ecclesiasticae custoditur, contra cj^uam
tamen non defuerunt qui sub nominibus apostolorum multa confingerent
frustra quidem, quia illa sie commendata, sie celebrata, sie nota est." —
Wie es Tertullian mit seiner zweiten Ausgabe des iVnti- Marcion ergangen
ist, erzählt er uns selbst: „hanc eompositionem non dum exemplariis
suffectam fraude tunc fratris, dehinc apostatae, amisi, qui forte descri-
pserat quaedam mendosissime et exhibuit frequentiae." — Von den Werken,
Predigten und Briefen des Polycarp behauptet der Verfasser seiner „Vita-*,
daß sie durch Raub der Ungläubigen bei der Verfolgung entwendet worden
seien.
;{15 Die Missionare; Mcdalitäteu und Gegenwirkungen der Mission.
(Miristen schrieb. Athenagoras setzt (Suppl. 9) voraus, daß die
Kaiser das Alte Testament kennen — das ist doeli wohl nur eine
Ivcdensart. Das Verfahren der Apologeten in bezug auf die
h. Schriften — mögen sie nun zitieren oder nicht zitier(>n — zeigt,
daß sie Kenntnis derselben nicht voraussetzen (Norden, a.a.O.).
Des Origenes Werke aber wurden — wenigstens teilweise — von
neuj)latonischen Philosophen gelesen, und in ihren Händen waren
auch die Schriften des alten Testaments, die Evangelien und die
Paulusbüclier. Aon Porphyrius und Amelius wissen wir das (s. u.).
Die kunstlose, z. T. stilistisch anstößige Form der griechischen
Bibel war für ihre Verbreitung ein nicht geringes Hindernis ^. In
noch größerem Maße galt es aber von der altlateinischen l^Der-
setzung, die in vielen Abschnitten einfach ungenießbar war. Wie
abstoßend mußte es wirken, wenn man las (Barucli 2, 2VI): ,,Dicens:
si non audieritis vocis meae, si sonos magnos hagminis iste avertatur
in minima in gentibus. hubi dispergani ibi-." Auch Schriftsteller
hatte die christliche Religion im Abendland nicht aufzuweisen,
deren Werke tiefer in die allgemeine Literatur eindrangen, während
sich Origenes und seine Schüler den Eintritt erzwangen. Lactantius,
ein unverdächtiger Zeuge •', berichtet (Inst. V, \ ff.), daß die Christen
in der lateinischen Gesellschaft noch immer als die „stulti" gelten'*,
') Daß die Propheten ..scliniueklos" geschrieben haben, suchen fast alle
Apologeten (s. auch Clemens Alex., Protrept. 8, 77) zu rechtfertigen, gesteheu
also den Mangel ein. Orig., Hom. VIII, 1 in lesu Nave t. 11 p. 74: „Depre-
camur vos. o auditores sacrorum volmninum, non cum taedio vel fastidio ea.
quae leguntur. audire pro eo quod minus delectabilis eorum videtur esse
uarratio", vgl. Hom. VIII, 1 in Levit. t. 9 p. 313: de princip. IV. 1, 7; IV. 26
[die Göttlichkeit der Bibel springt aus ihrem dürftigen Stilgewand um .so
deutlicher hervor]: Cohortat. ad (-ir. 35. 36. 38.
-) Der griechische Text ist freilich auch nicht anmutig: Aiyov f(U' /uj
ay.ovr))]Xf ri]^ (/ corTj^ iinv, Fi iiijv )) ßoftßijoig ij fifyäXtj // .to/JJj ai'T7j djToazQsysi
.'(V luy.oäv h' ToT; Pdvhciv ov ()taajTfo(7> avrol'.; f>cFT. Vgl. über die Sprache
des Neuen Testaments Norden, Die antike Kuustiirosa, 1898, S. 516 ff. („die
gebildeten Kreise mußten die religiösen Urkunden der Christen als stilistische
Monstra betrachten"). — Arnobius sciireibt I, 58 von den h. Schriften: „ab
indoctis liominibus et rudibus scripta sunt et idcirco non sunt facili auditione
credenda". Er gibt heidnische Urteile über die Bibel wieder, wenn er I, 59
i-chreibt: „Barbarismis, soloecisniis obsitae sunt res ve.strae et vitiorum de-
formitate pollutae." Vgl. die Bemerkungen des Sulp. Severus und die Motive,
die ihn zur Abfassung seiner Weltchronik für die gebildeten Südgailier ge-
führt hal)en , ferner Augustin, Confess. III, 5 (9). Der Briefwechsel zwischen
Paulus und Seneca ist zu dem Zweck gefälscht worden, um die Anstöl.V^ zu
beseitigen, welche der schlechte Stil der Paulusln-iefe in lateinischer Über-
setzung bot {s. meine Litt. Gesch. I S. 765).
■'j Allerdings will er seine eigene Leistung ins Licht sl' llen.
■*) Dazu vgl. man die sehr lehrreiche Abhandlung ,,Ad p. ",anos" in den
Iiseudo-augustinischen Quaest. in Vet. et Nov. Test. nr. 114. Ihr liegt der
Missionsmethoden; Katechese u. Taufe; Eingriffe in das liäusl. Leben. 319
und konstatiert selbst, daß es an geeigneten und erialironen Jiclirern
und Schriftstellern feidc: Minucius Felix und Tertullian konnten
,,satis eelebritatis^' nicht finden: Cyprian. bei allen seinen vortreff-
lichen Eigenschaften als Iledner und Schriftsteller: „placere ultra
verba sacramentum ignorantibus non potest. quoniani mystica sunt
quae locutus est et ad id praeparata. ut a solis fidelibus audiantur:
denique a doctis huius saeculi. quibus forte scripta eins innotuerant,
derideri solet. audivi ego quendani hominem sane disertum, qui
eum immutata una littera ,,Coprianum-' vocaret, quasi quod elegans
ingenium et melioribus rebus aptum ad aniles fabulas contulisset."'
Die christliche Literatur hat im lateinischen Abendland, ob-
gleich Minucius Felix und Cyprian (ad Donatum) weltmännisch
geschrieben haben, doch an der Verbreitung der christliehen Religion
nur sehr geringen Anteil gehabt: im Morgenland dagegen hat sie
eine große Bedeutung seit der 2. Käute des 3. Jahrhunderts ge-
wonnen.
Zweites Kapitel.
Missionsniethoden; Katechese und Taufe;
Eingriffe in das häusliche Leben.
Fragt man im allgemeinen nach den Missionsmethoden, so
ist auf das zu verweisen, was im zweiten Buche dargelegt worden
ist: in der Missionsp redig t ist auch die Missionsmethode ent-
halten. Der eine Gott. Jesus Christus der Sohn und der Herr
nach der apostolischen Überlieferung, das zukünftige Gericht und
die Auferstehung wurden gepredigt. Das Evangelium vom Heiland
und von der Heilung, von der Liebe und Hilfleistung wurde ver-
kündigt. Als Geist und Kraft wurde die neue Religion dargelegt
und bewährt, als Kraft auch eines neuen sittlichen Lebens und
als Kraft der Enthaltung. Kunde wurde gebracht von der Offen-
barung Gottes, der sich die Menschheit im Glauben zu unterwerfen
habe. Von dem neuen Volk wurde gepredigt, das nun erschienen
sei und alle Yölker umfassen solle, mid das uralte, heilige Buch
wurde überliefert, in welchem die Geschichte von den Tagen des
Anfangs bis zum Ende der Welt aufgezeichnet war.
Im Corintherbrief (I c. l und 2) sagt Paulus ausdrücklich,
daß er die Yerkündiffimo- des s^ekreuzio'ten Christus in den Mittei-
gegen die Christen erhobene Vorwurf zugrunde, sie seien die Dummen („stulti''
kommt c. dreißigmal in der Schrift vor). Natürlich sucht der Verf. zu
zeigen, die Heiden seien die Dummen.
:}20 Die Missioniu-e; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
punkt gestellt und alles in diese Predigt 7Aisaramengeschlossen
habe, d. h. er hat Christus als den Heiland, der die Sünde ge-
tilgt habe, verkündigt. Diese Verkündigung setzt aber voraus,
daß er den Iltirern ihre Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit (aoeßeia
xal aöiy.la) zuerst aufgedeckt und zu Geinüte geführt hat; denn
nur unter dieser Voraussetzung konnte die Predigt von der Er-
lösung wirksam werden und eine Stätte finden. Als den schlagenden
Beweis der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit hat er dabei die
selbstverschuldete Unwissenheit in bezug auf Gott und somit den
Götzendienst hingestellt. Bei dem Nachweise der Verschuldung
hat er an das Gewissen der Hörer und an einen Rest von Gottes-
erkemitnis, der ihnen geblieben, appelliert. Der Aufriß des Römer-
briefs (c. 1 — 3) darf daher als Aufriß der paulinischen Missions-
predigt in Anspruch genommen werden. Paulus hat seine Hörer
zuerst zur Anerkennung: „Wir sind allzumal Sünder" gebracht;
er hat sie dann zum Kreuze Christi geführt und hat darauf das
Kreuz Christi als göttliche Kraft und Weisheit entwickelt. Eigen-
tümlich verflochten mit diesem Gang waren Auseinandersetzungen
über Fleisch und Geist und der Hinweis auf das nahe Gericht.
Die Erlösungsbedeutung Jesu Christi ist, soviel wir zu urteilen
vermögen, erst von Paulus so entscheidend in den Vordergrund
geschoben und zum Mittelpunkt der Predigt gemacht worden,
obgleich auch die älteren Missionare verkündigten, daß Christus
für die Sünden gestorben sei (I Cor. 15. ;>). Aber es lag für sie
(sofern sie zu Juden sprachen oder zu solchen, die mit dem
Judentum längst in Berührung getreten waren) nahe, sich auf die
Predigt vom Gericht, das denuiächst eintreten wird, zu beschränken
sowie auf den aus dem Alten Testament zu führenden Nachweis,
daß der gekreuzigte Jesus als der Richter und als der Herr des
messianischen Reichs wiederkommen werde. Die Aufforderung
ergab sich dann ganz von selbst: Erkennt ihn an, tretet zu seiner
Gemeinde hinzu und haltet seine Gebote.
Wir brauchen nicht zu zweifeln, daß so im Anfang und zwar
auch zu vielen eingeborenen Heiden gepredigt worden ist, sofern
sie das Alte Testament in gewissen Grundzügen seines Inhalts
schon kannten. Die petrinischen Reden in der Apostelgeschichte
zeigen uns das; die dem Paulus beigelegte Missionsrede in c. ]'.\
stellt sich als eine Mischung dieser vulgären . Missionsweise mit
der paulinischen dar. In c. 17 aber, wo das i\ruster einer Missions-
rede an (i ('bildete (in Athen) gegeben wird, ist trotz einer schein-
bar stai-kcn Dilf'ei'enz die paulinische Weise der Missionspredigt
ganz deutlich ^ liier wird mit dei" Darlegung der richtigen Gottes-
') Verwandt ist die Trodigt Act. 14, 15 tf.
Missionsmethoden; Katechese u. Taufe; Eingrifl'e in das häusl. Leben. ;52 l
lehre begonnen und diese nacli ihren Ilauptseiten vorgeführt (Mono-
theismus, Geistigkeit, Allgegenwart und Allwirksanikeit, religiöse
Anlage, geistige Gottesverchrung). Der bisherige Zustand der
Menschheit wird als „Unwissenheit" und deshalb als etwas zu
Bereuendes bezeichnet: Gott will ihn übersehen. Nun setzt die
neue Zeit ein: Buße und Gericht, daher Glaube an Jesus Christus,
den Gott gesandt und auferweckt hat, und der der Erlöser und
der Richter zugleich ist^ In diesem Sinne haben gewiß manche
gebildetere Missionare, vor allem Lucas selbst gesprochen; die
christlichen Apologien und Schriften wie das Kerygma Petri be-
weisen es. Die christliche Predigt hat sowohl bei dem zu
erweckenden Gefühle der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit, als
auch bei dem natürlichen Gottesbewußtsein eingesetzt: immer aber
war sie begleitet von dem Hinweis auf das nahe Gericht.
1) Wie immer die Predigt Act. 17, 22 — 31 und der ganze Bericht über
die Predigt des Paulus in Athen entstanden sein mag — er ist das wunder-
vollste Stück der Apostelgeschichte und ist in höherem Sinn (vielleicht auch
an wichtigen Punkten in streng geschichtlichem Sinn) voll Wahrheit. Vor
allem hätte man nicht verkennen sollen, daß er sich streng an das anschließt,
was wir aus I Cor. 1 f. und Rom. 1 f. über die paulinische Missionspredigt
festzustellen vermögen. Folgende Punkte seien hervorgehoben:
(a) Nach dem Bericht (c. 17, 18) waren in der Predigt des Paulus , Jesus
und die Anastasis'' entscheidend hervorgetreten; das entspricht dem, was wir
I Cor. 1 f. entnehmen können.
(b) Die r>arlegung der natürlichen Gotteserkenntnis muß. wie Rom. 1, 19if.
und 2, 14f. beweisen, ein Hauptstück der paulinischen Missionspredigt gebildet
haben. In der Predigt zu Athen nimmt sie den breitesten Raum ein.
(c) In eben dieser Predigt ist die Verkündigung von Jesus als dem
Richter unmittelbar an die „Unwissenheit" angeknüpft, die an Stelle der
ursprünglichen Gotteserkenntnis getreten ist (y.adöii eaujasv tj/iigav iv f]
fte/J.ei y.Qiren' rljv oiy.ovuivtjv h' biy.aioavvj] h> uvdol o) ö'jQtoer). Genau so folgt
im Römerbrief auf 2, 14 f. der 16. Vers (iv yiiiioa öte y.otvsi 6 ßsog tu y.nvn^rä
T<üv ävdodj:i<jjv bia Xgiozov 'Irjoov/.
(d) Gemäß der Predigt liegt zwischen der Zeit der „Unwissenheit" und
dem Gericht die Gegenwart, die dadurch charakterisiert ist, daß in ihr der
rettende Glaube angeboten wird (v. 31). Das echt Paulinische dieses Ge-
dankens bedarf keiner Bestätigung.
(e) Dieser rettende Glaube hat sein Objekt am auferstandenen Christus
(1. c); auch dieser Gedanke bedarf keiner Bestätigung.
Der eiuzige Unterschied zwischen der aus den paulinischen Briefen fest-
zustellenden Missionspredigt und der Rede in Athen liegt darin, daß in dieser
die Verschul düng der Menschen nicht stark hervortritt; aber implicite ist
die „Unwissenheit" deutlich genug als Verschuldung bezeichnet, und der
Ausgangspunkt der Rede (o dyroovi're; evosßsTze, tovto «/w yaTayyE/./.cj v/nv)
machte es nicht wohl möglich, die negative Seite stärker zu betonen. —
Wie Paulus als grundlegender Missionar gewirkt hat, läßt sich in
einigen wichtigen Zügen auch aus dem I. Thessalonicherbi-ief (vgl. mit Act.
20, 18 ff.) erkennen. Doch liegt eine genauere Darstellung des Details nicht
im Plane dieses Werks.
H arnack, ilission. 2. Aufl. 21
322 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Eigentümlich und ganz unpaulinisch (doch s. die Predigt des
Paulus vor Nero) ist die Predigt, welche in den „Acta Pauli*-' dem
Paulus in den Mund gelegt ist (Acta Theclae 5. 6): sie ist auch
keine Missionspredigt im strengen Sinn. Der Apostel spricht in
Seligpreisungen, die denen Jesu nachgebildet, aber ins Asketische
gesteigert sind. Wichtiger ist, daß der Inhalt der christlichen
Predigt als 6idnoxa?Ja Ti/g te yervj'jOECog xal T)~jg ävamäoeoK tov fiyanr]-
jusvov und als Xöyog Trjg syxgaTeiag xal ävaoräoECog bezeichnet ist ^.
Die Wirkung zusammenhängender Predigten in bezug auf
die Mission darf nicht überschätzt werden : eine erschütternde,
das Herz bewegende Einzelheit ist zu allen Zeiten ein stärkerer
Hebel gewesen als eine lange Predigt. Die Apostelgeschichte
berichtet uns von Bekehrungen vieler auf einmal gleichsam im
Sturme; das wird nicht unhistorisch sein. Paulus ist ohne einen
Missionar bekehrt worden durch eine Vision. Der Kämmerer aus
dem Mohrenland ist durch Jes. 5o zum Glauben an Jesus gebracht
worden. Wie vielen mag dieses Kapitel die Brücke geworden
seini Thecla, die Heidin, ist durch den Xoyog Tijg Tiagdsviag xal
jrig JiQooevxrj? gewonnen worden (c. 7) — die apokryphen Apostel-
geschichten berichten Gleichartiges so häufig, daß man an der
Tatsächlichkeit und Bedeutung dieses Motives nicht zweifeln kann;
Askese, namentlich geschlechtliche, entband sich damals aus dem
religiösen Synkretismus für weite Kreise. Daß die von den Christen
geübten Exorzismen auf viele einen tiefen Eindruck machten und
sie zum Übertritt bewogen, wird von den Apologeten gewiß nicht
ohne Grund behauptet. Daß die erschütternde Predigt vom Gericht
und seiner Nähe Tausende dem Christentum zugeführt hat, dürfen
') Ein kurze, inhaltsreiche Missionspredigt eines gebildeten Christen ist
in den Akten des Apollonius (v. 36 tf.) enthalten (der Richter hatte ihn auf-
gefordert, kurz das Christentum auseinanderzusetzen): Ovrog 6 oonijQ jj/nön'
Irjoovg Xoiazdg (bg ävOQwi^og yevöfifi'og iv rf] 'lovdaia y.arh ^ärra dixaiog y.ai
jTfjT^rjncofiivog 'ÖF.ia oo<fin , rpilav&QOiJicog edida^sv ij/iiäg iig o r<üv (V.cov Oeog xai
T< T^'Ao? aQF.rr}g sttI os/ivijv jioXiiEiav agfiö^oj' jiQog rag rcör avÜQO)j:<ov rjwxdg'
og diä rov jtaßeTv mavoev Tag agycig röJv d/Aagncör. Nun folgt der ganze
Tugendkatalog; hier findet sich auch die schuldige Ehrerbietung gegenüber
dem Kaiser, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die Vergeltung;
dies alles habe Jesus fiezä noXkrjg djiod8i^ea>g gelehrt. Dann wurde er „von
den Ungebildeten", wie die Gerechten und Philosophen vor ihm, verfolgt und
getötet; hat doch auch einer von den Hellenen gesagt, der Gerechte werde
gegeißelt, verspieen, gebunden und zuletzt gekreuzigt werden. Und wie
Socrates von den athenieusischen Sycophanten ungerecht verurteilt worden
ist, so haben auch einige Böse unseren Lehrer und Heiland geschmäht und
verurteilt. Dasselbe haben sie früher den Propheten angetan, die sein
Kommen und sein Tun und seine Lehre vorausgesagt haben (:tQoeTjtov oti
roioviög Tig dcpi^erai yiävza öixawg xal h'ÜQsrog , og elg Jidvrag ev jroirjoag
dvi')Qo'):jovg fji doftf/ tifioei ofßeiv tov :nrdvTO}V üeöv, ov i'jfJEig (p&doaviEg Tifidj/nsv,
Oll t/iuOo/{Ev Oi/irug ivToldg dg ovy. >jSst/ii£v, xal ov :if.-TXavij/teOaj.
Missionsmethoden- Katechese u. Taufe; Eingriffe in das hiiusl. Leben. ,'323
^vil• iinnohmon. Wie viele mcigen sich auch einfacli unter die
Autoritär des Alten Testaments in christlicher Beleuchtvuig i>ei)eugt
haben I \\'o Beweise verlangt wurden, da war dieses Buch zur Stelle ^.
Der Wandel der Christen und Christinnen unterstützte die
^rission und wirkte geradezu missionierend. Paulus spricht öfters
davon, und im I. Petrusbrief (c. o, I) heißt es. daß die, so da nicht
glauben an das Wort, durch der Weiber Wandel ohne Wort ge-
wonnen werden sollen-. Zu Justin hat das sittliche Leben der
Christen mit besonderer Eindringlichkeit gesprochen. Die Martyrien
wirkten auf weite Kreise. Nicht selten wurden Außenstehende
so erfaßt, daß sie sich plötzlich und ohne Besinnen dem Christen-
') Missionsschrifteu im strengen Sinn de.s Worts sind uns außer den
Bruchstücken des Kerygma Petri und den Apologien (die aber auch apologe-
tische Zwecke in bezug auf die schon gewonnenen Christen verfolgen) nicht
erhalten. Speziell im Neuen Testament findet sich keine einzige Missions-
schrift ; denn die synoptischen Evangelien dürfen nicht unter diesem Gesichts-
punkt betrachtet werden. Sie sind katechetische Schriften, dienen also der
Unterweisung solcher, die die Gründzüge der Lehre schon gehört haben und
in ihr bereichert und befestigt werden sollen (s. Luc. 1. 4). Mit dem meisten
Recht könnte man das 4. Evangelium als eine Missionschrift bezeichnen
(namentlich der Prolog legt das nahe): aber auch hier wäre dieser Titel doch
nicht zutreffend. Mindestens in erster Linie ist auch hier an christliche
Leser gedacht: denn die, welche c. 20, 31 angeredet werden, sind gewiß
keine Heiden, sondern Christen. Eine Missionsgeschichte stellt die Apostel-
geschichte dar, und zwar mit Absicht des Verfassers. Der 8. Vers des
1. Kapitels gibt zwar nicht das einzige, wohl aber das Hauptthema des
Buches an.
'-) Xäheres über die christlichen Frauen s. im 2. Kapitel des 4. Buchs:
doch sei hier die lehrreiche Schilderung des täglichen Lebens einer christ-
lichen Frau mitgeteilt, die Tertullian (ad uxor. II, 4ff.) bietet. Daß sie in
bezug auf eine Frau, die einen heidnischen Mann neben sich hat, gegeben
wird, erhöht ihren Wert:
„Wenn ein Stationsfasten zu halten ist, bestellt der Mann am frühen
Morgen ein Bad. wenn ein Fasttag, richtet er für denselben Tag ein Gast-
mahl an, und wenn sie ausgehen sollte, dann grade kommen die dringensten
häuslichen Geschäfte in den Weg. Denn wer möchte seiner Gattin erlauben,
straßenweise in die fremden und gerade in die ärmsten Hütten einzutreten,
um die Brüder zu besuchen? Wer wird es gerne sehen, daß sie, wenn es
so erfordert wird, sich zu nächtlichen Zusammenkünften von seiner Seite
wegbegebe V Wer wird zur Zeit der Osterfeierlichkeiten ruhig dulden, daß
sie die ganze Nacht wegbleibt? Wer wird sie zu dem bekannten Mahle
des HeiTn, das sie so in Verruf bringen, ohne Argwohn gehen lassen? Wer
wird sie in die Kerker schleichen lassen , um die Ketten eines Märtyrers zu
küssen? oder gar erst sich irgend einem Bruder zum Friedenskuß zu nahen?
oder Waschwasser für die Füße der Heiligen zu bringen? .... Wenn ein Mit-
bruder aus der Fremde kommt, welche Bewirtung wird er in einem solchen
Hause finden, wenn ihm, dem man die ganze Vorratskammer anbieten müßte,
selbst die Brotschränke verschlossen sind!" .... ,Wird es wohl unbemerkt
bleiben, wemi du dein Bett und dich selbst mit dem Kreuze bezeichnest?
wenn du etwas Unreines von dir wegbläst? wenn du sogar nachts aufstehst,
21*
324 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
tum 7Anvandten. Beispiele aber, daß die Christen durch die Unter-
stützungen, welche sie gewährten, Proselyten fangen wollten und
gefangen haben, sind uns nicht bekannt. Wohl wissen wir, dal5
Schwindler, die die christliche Ih'üderlichkcit ausbeuten wollten,
sich eingeschlichen haben: aber selbst die Heiden haben den
Vorwurf nicht erhoben, daß die Christen mit Plilfe des Geldes
missionieren. Daß sie mit Schreckreden die Leichtgläubigen für
sich gewinnen, daß sie den Beladenen und Schuldigen leere Hilfe
und unerlaubte Vergebung versprechen, das haben sie behauptet.
Im 3. Jahrhundert haben sich die Kanäle, durch welche das
Christentum in die Massen eindrang, vervielfältigt. Zwar schien
es auf dem Höhepunkt des Streits mit dem Gnostizismus einen
Augenblick so, als könne die Kirche nur bestehen, wenn sie jede
Berührung mit der Teufelsbuhlerin, der Philosophie, verbiete: die
„simplices et idiotae" wollten von Wissenschaft schlechterdings
nichts hören ^ Allein selbst ein Tertullian sah sich genötigt, gegen
diesen Standpunkt zu kämpfen, und die pseudoclementinischen
Homilien richten einen scharfen Angriff gegen die Methode, durch
Träume und Visionen Unterweisung und Lehre ersetzen zu wollen;
das sei die Methode des Simon Magus'-^. Vor allem aber hat die
alexandrinische Katechetenschule, haben Clemens und Origenes
in geduldiger und unermüdlicher Arbeit das Recht der AVissen-
schaft in der Kirche erkämpft. Von nun an missionierte das
Christentum auch durch seine Wissenschaft in Wort und Schrift
(im Orient: im Occident spürt man davon wenig). Das stärkste
Mittel der Mission aber im 3. Jahrhundert aber wurde die Kirche
um zu beten? Wird es da nicht scheinen, als wolltest du eine magische
Handlung vornehmen? Dein Mann wird nicht wissen, was das ist, was
du vor jeder andern »Speise heimlich genießest." Die Schilderung zeigt, wie
das ganze Leben des Tages ein Bekenntnis des Christentums und in diesem
Sinn auch eine Missionspredigt sein sollte.
*) Tertull., adv. Prax. 3: „Simplices quique, ne dixerim iniprudentes et
idiotae, quae maior semper credeutium pars est. cf. de resurr. 2. Am Anfang
des 'i. Jahrhunderts bezeichnet Hippolyt sogar den römischen Bischof Zephyrin
als einen ISionijg und dynufifiaTog (Philos. IX, 11). Origenes führt öfters Klage
über die große Anzahl unwissender Christen.
*) S. Hom. XVII, 14 — 19. Getadelt wird der Satz, daß es sicherer sei
f:7Ö ojiTuaiag uxovfiv i) Trag' uvTi]g iraoyEiag (14). o djizaot'a Tiiaxfvcov, heißt
es, t) oQUfiaTi xuL kvvjivUo ayvon rivi TTiorevet , et'. 17: xai noFßeTg ogciiiaTa xal
fvvjTVM dlijdtj ßltnovoiv .... xoj svofßn FfUfi'tqj aal xaditfio) uvaßXvC^i t(J>
v(o tö üÄrjO/g , ovh dvFioro ojiovSal^oi^iEvov , aXld avvsast dyaüoTg Siöotirvor.
18: Petrus erklärt, daß sein eigenes Bekenntnis (Matth. 16) für ihn selbst
erst dadurch wertvoll geworden sei, daß Jesus ihm gesagt habe, der Vater
sei es gewesen, der ihm diese Offenbarung habe zuteil werden lassen. To
F^foßfv hl' d.7Tnnit~jj' xai tvvjTin'cov 8r]?M)ßrjvai ii ovx f.miv d7ioy.alm^^E(X>g u)J.ä
oQyyg. In 5; lU wird die Frage, d' zig (5«' djiraaim' jiQog diöaoxcdiav aoc/ lodf/vai
(irrarui, verneint.
Missionsmethoden; Katechese u.Tiiuf'e; Eiugrift'e in das häusl. Leben. 325
selbst in ihrer Totalität. Indem sie sich als große synkretistisehe
Religion ausgestaltete und eine Wandlung vollzog, die ihr der
Gnostizismus im 8turin aufnötigen wollte, wirkte ihr bloßes Dasein
und die Macht ihi'er Erscheinung anziehend und hinreißend.
Bei der Aufnahme in die christliche Gemeinde wurde der
Zugelassene getauft. Der Ritus (,,])urifici roris perfusio", Lactant.
lY. 15; viel wertvolles Detail bei Tertull., de bapt.), dessen Urge-
schichte für uns im Dunklen liegt, ist gewiß nicht eingeführt
worden, um der heidnischen Mysteriensucht entgegenzukommen,
aber tatsächlich kann keine Handlung gedacht werden, die bei
aller ergreifenden Einfachheit jenem Begehren willkommener sein
konnte. Daß überhaupt ein solcher Ritus da war, war bereits ein
hoher Trost — in den reinen religiösen Spiritualismus vermochten
sich doch nur w^enige zu finden — ; die Zeremonie des Unter-
taucliens und Wiederauftauchens gab die Bürgschaft, daß nun das
Alte abgewaschen und vergangen und der Mensch ein neuer sei;
die Aussprechung des Xamens Jesu oder der drei Namen während
des Aktes setzte den Täufling in die innigste Gemeinschaft mit
ihnen und erhob ihn zu Gott hinauf. Mysterienspekulationen haben
sofort begonnen^; das Untertauchen ein Sterben; das Untertauchen
mit der Beziehung auf Christus ein Sterben mit ihm, ein Yer-
senktwerden in seinen Tod; das Wasser das Symbol seines Blutes.
Paulus hat bereits so gelehrt, aber er hat die in Corinth ver-
suchten Spekulationen, den Täufling auch mit dem Täufer in
geheimnisvolle Beziehungen zu bringen, abgelehnt (I Cor. 1, 13 ff.).
Merkwürdig, er dankt Gott, daß er in Corinth nur wenige Personen
eigenhändig getauft hat. Als eine Nichtachtung der Taufe ist das
natürlich nicht zu verstehen — Paulus sah wie die anderen in
der Taufe etwas schlechthin Notw^endiges — , sondern er erinnert
sich, und zwar in diesem Falle mit Freude, an die Schranke des
Apostelberufs. Dieser Beruf legt ihm nur das Predigen des
Wortes Gottes auf; das Taufen gehört strenggenommen nicht zu
seiner Kompetenz; er kann es ausüben, aber in der Regel ist es
Sache anderer; denn es setzt bei den meisten eine längere Unter-
weisung und Prüfungszeit voraus. Soviel Zeit aber hat der Apostel
nicht; er soll nur den Grund legen. Die Taufe ist somit nicht
eigentlicher Initiationsakt, sondern Abschluß der Initiation.
„Fiunt, non nascuntur Christiani'' — dieses Wort Tertullians
(Apol. IS, cf. de testim. 1 : ,,fieri non nasci solet Christiana anima";
^) Magische Yorstellimgen waren von Anfang an mit der Handlung ver-
bunden; man vergleiche das Taufen ?^Tfo tmv vey.oöjv in Corinth, und wie
sich Paulus dazu gestellt hat (I Cor. 15. 29j.
'52B Die Missionare; Modalitäten und Gegouwirknngen der Mission.
die in clirisrliehor Familie Geborenen hießen ,,vernacnli ecclesiae".
s. de anima 51) mag noch bis über die Mitte des 2. Jalirhnnderts
überwiegend gegolten haben; aber dann trat ihm die natürliche
Ausbreitnng des Christentums dnrch Eltern anf Kinder zur Seite.
Seit dieser Zeit beginnt auch die Praxis der Ivindertaufe, wenig-
stens vermögen wir sie früher nicht sicher zu belegend Aber
ob nun Erwachsenen- oder Kindertaufe — als ein Mysterium mit
natürlich-übernatürlichen Folgen zwingender Art galt sie in beiden
Fällen. Daß sie, ohne Rücksicht auf die gr()ßere oder geringere
Empfänglichkeit der Täuflinge, alle vergangenen Sünden sicher
tilge und daher der aus dem Taufliade auftauchende Mensch ganz
rein und ganz heilig sei, stand allgemein fest. Das Sakrament
der Taufe hat innerhalb der Mission eine sehr bedeutende Rolle
gespielt. Es war eine ebenso verständliche wie trostreiche Hand-
lung; die Zeremonie war nicht so ungewöhnlich, daß sie Befremden
und Anstoß erregen konnte wie die Beschneidung oder die Tauro-
bolien, und sie war doch etwas Greifbares, an das man sich zu
halten vermochte"-^. Nahm man aber noch den Bericht von der
Taufe Christi durch Johannes liin:ai — er war überall bekannt.
') Daß hier das Wort gilt: ..ab initio .sie non erat", scheint mir sieher.
-) Zartere Emfindungen verletzte freilich auch die Taufe mit der an
sie geknüpften Behauptung, nun seien alle Sünden getilgt. Porphyrius, dem
Julian in dieser Beurteilung gefolgt ist, sehreibt bei Macarius Magnes (IV, 19):
„Wir müssen uns darüber wundern und sind wirklieh in Not um unsere Seele,
wenn ein Mensch von so vieler Schande und Befleckung durch eine einmalige
Waschung rein dastehen sollte, wenn einer, der vom Schmutze so vieler
Schwelgerei in seinem Lehen befleckt ist, von Hurerei, Ehebruch, Trunken-
heit, Diebstahl, Knabenliebe, Giftmischerei und von vielen anderen schand-
baren und abscheulichen Dingen, wenn ein solcher Mensch dadurch, daß er
einfach getauft wird und den Namen Christi anruft, leichtlich davon befreit
wird und die ganze Schuld von sich wirft, wie eine Schlange die alte Sehuppen-
haut abwirft. Wer wird sich da nicht an nennbare und unnennbare Schand-
taten machen und Dinge tun, die man weder in Worten ausdrücken noch in
der Tat ertragen kann, wenn er erfährt, daß er von so vielen schuldvollen
W^erken Losspreehnng erlangen wird, falls er nur glaubt und getauft wird
und die Hoffnung hegt, daß er hiernach bei dem Verzeihung finden wird,
welcher richten wird über die Lebendigen und die Toten V Diese Worte
müssen ja den, welcher sie vernimmt, zum Sihidigen anleiten; sie lehren
immerdar unrecht tun; sie verstehen es, auch die Zucht des Gesetzes zu ver-
bannen und die Gerechtigkeit selbst, so daß sie überhaupt keine Macht mehr
gegen die Ungerechtigkeit hat; sie führen ein gesetzloses Leben in die ge-
ordnete Welt ein; sie erheben es zum Grundsatz, sich vor der Gottlo.sigkeit
überhaupt nicht mehr zu scheuen, wenn der Mensch durch die einfache Taufe
einen Haufen unzähliger Sünden von sich tut. — So also steht es mit dieser
großsprecherischen Erdichtung." Ob Porphyrius hier ganz aufrichtig gewesen
ist, sowohl bei seinem Abscheu vor heil wirkenden Sakramenten überhaupt
als bei .seiner Schilderung der die Sittlichkeit verheerenden Wirkung der
Taufe? In l'/tzterer Hinsicht ist freilieh zu sa<jren, dal.*! die Praxis, die Taufe
Missionsmethoclen ; Katechese u. Taufe; Eingriffe in das hilusl. Leben. 327
denn das Evangelium begann mit ihm — , so war nicht nur ein
neues Fehl für tiefsinnige Kombinationen und Spekulationen er-
öffnet, sondern jener Vorgang gab auch der Taufe, der man sich
unterzog, eine neue Weihe und einen vertieften Inhalt. Der Geist
war bei jener Taufe auf Jesus herabgekommen: der Geist Gottes
schwebt bei jeder Taufe über dem Wasser und macht sie zu
einem Bad der Wiedergeburt und Erneueruno;. Was hat nicht
schon Tertullian alles in seinem Traktat ,.De baptismo" von der
Taufe ausgesagt; aber auch der einfältige Christ Hernias, sechzig
Jahre früher, kann sich nicht genugtvm, wenn er von der Taufe
redet: die Apostel sind in die Unterwelt herabgestiegen und haben
die längst Entschlafenen getauft.
Als Mysterium ist die Taufe von Anfang an in der Heiden-
kirche empfunden worden^; das zeigt auch die Geschichte ihrer
Ausgestaltung: mit dem einfaclien Tauf bade begnügte man sich
nicht melir. Der Ritus ist vermehrt, neue Zeremonien sind an-
gefügt worden; die Handlung wuchs wie alle Mysterien. Die
neuen Zeremonien verselbständigten sich allmählich; auch dies
ist ein bekannter Prozeß. Tertullian in der eben genannten Schrift
zeigt uns diese Entwicklung bereits auf einer hohen Stufe-; aber
im Kerne verändert sich wenig oder nichts: die Taufe ist die
zu verschieben, schon im 2. Jahrhundert und fort und fort geübt worden ist,
um den vollen Ernst des Christenlebens nicht übernehmen zu müssen und
noch ungescheut sündigen zu können (s. z. B. TertulL, de poenit. 6). Selbst
strenge christliche Lehrer rieten dazu oder rieten nicht ab, weil ihnen die
Verantwortung, welche die Taufe auferlegte, als eine furchtbare erschien
und weil sie kein sicheres Mittel sahen, um die nach der Taufe begangenen
Sünden zu tilgen. Sie kamen aber dadurch in ein schweres, von ihnen
selbst empfundenes Dilemma, d. h. sie mußten dem Leichtfertigen Recht
geben. Man vgl. TertulL, 1. c. u. de baptismo; aus späterer Zeit s. das
2. Buch der Konfessionen Augustins. Übrigens sagt schon Justin, die Taufe
soll nur der erhalten, der zu sündigen wirklich aufgehört hat (Apol. 1,61 f.).
^) Doch wurde am Anfang und auch noch längere Zeit hindurch der
Vollzug nicht geheimgehalten ; erst seit dem Ende des 2. Jahrhunderts kommt
die Geheimhaltung auf, teils aus pädagogischen Gründen, teils weil sich der
Mysteriencharakter stärker geltend machte. Die Bedeutung, die dem Ritus
als solchem zukommt, ergibt sich aus der „Apostellehre" c. 7. In erster
Linie, so heißt es dort , soll man fließendes Wasser bei der Taufe brauchen ;
findet man solches nicht, so stehendes kaltes Wasser; hat man auch dieses
nicht, warmes Wasser (Badebassin); ist auch dieses nicht in genügender Menge
vorhanden, so ist die bloße Besprenguug erlaubt. Die relative Freiheit, die
hier noch waltet, ist in späterer Zeit nicht ganz aufgehoben, aber ängstlich
eingeschränkt worden. Viele müssen die volle Gültigkeit der Besprengungs-
taufe bezweifelt oder sie doch für ergänzungsbedürftig gehalten haben.
-) Über die Auffassung und Ausgestaltung der Taufe als Mysterium s.
Anrieh, Das antike Mysterienwesen in seinem Einfluß auf das Christentum
(lb94j S. 84tf. 168 ff. 179ff. und Wobbermin, Religionsgesch. Studien z. Frage
32S i^ie Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Handlung, durch Avelclie die vergangenen Sünden sämtlicli getilgt
werden.
Sie ist mysteriuni salutare, aber auch mysterium tremendum;
denn die Kirche besaß kein zweites Mittel wie dieses. Wer ge-
tauft war, mußte rein bleiben („das Siegel rein und unverletzt
bewahren", nannte man das, s. z. B. den IL Clemensbrief). Sekten,
z. B. die Marcioniten, haben versucht, wiederholte Taufen einzu-
führen, aber sie sind nicht durchgedrungen; die Unwiederholbarkeit
der Taufe wurde festgehalten. Doch schuf man sich allmählich
das Bußsakrament, welches die nach der Taufe verlorene Gnade
wiederherstellte. Trotzdem gab man die Gewohnheit, die Taufe
zu verschieben, um sich erst kurz vor der Todesstunde dieses
Universalmittels zu bedienen, nicht auf.
Nicht minder wichtig als die Taufe selbst war die Vorbereitung
für sie: hier kam die geistige Art dieser Religion zum vollen
Ausdruck, und hier hat sie ihre sittlich -soziale Kraft offenbart.
AVas wir schon früher wußten, aber unsicher, hat uns die „Apostel-
lehre" bestätigt und zur Klarheit gebracht. Der Heide , welcher
Christ werden wollte, wurde nicht sofort getauft. Wenn ihm in
großen Zügen der eine Gott und der Herr Jesus Christus, der Hei-
land und Erlöser, gepredigt waren und das Herz bewegt hatten,
dann wurde ihm gezeigt, was der Wille und das Gesetz Gottes sei
und was es heiße, den Götzendienst abzutun. Nicht summarische
Lehren wurden da geboten, sondern in umfassendster und ein-
gehender Weise wurden ihm „die beiden Wege" vorgeführt; die
Sünde wurde in ihre Schlupfwinkel verfolgt. Ihr mußte er ent-
sagen und dem Gesetz Gottes zustimmen, und getauft wurde er
nach dieser Bußerziehung nur, wenn sich die Gemeinde, bez. der
Bisehof überzeugt hatte, daß er die Sittenlehre kenne und sie
befolgen wolle (Justin, Apol. I, 65: lovom tov jiFJxaofierov xal
ovyy.araTeßttjtieroi')^. Schon die Synagoge hatte einen Proselyten-
katechismus aufgestellt und die Sittlichkeit zur Bedingung der
Religion gemacht; schon sie hatte für die Religion erzogen. Die
(I. Beeinflussung des üreliristentums durch das antike M3^sterienwesen (1896)
IS. 143 ff. Wobbermin bespricht die Tauftermini orpQayig, oq^QayiCstv, (pontoiuk,
<j foTi^gir, avfißolov. Die ausgeführtesten Mysterien bietet die Pistis Sophia.
') Vgl. Origenes c. Gels. III, 51: „Die Christen prüfen zuvor, so gut sie
es können, die Herzen derer, die ihre Hörer werden wollen; sie unterrichten
sie einzeln, und erst wenn diese Hörer genügende Proben dafür abgelegt
haben, daß sie ein gutes Leben führen wollen, werden sie in die Gemein-
schaft eingelassen Elinige bei den Christen sind damit betraut, das
Leben und den Wandel derer zu überwachen und zu prüfen, welche herzu-
treten, damit sie denen die Aufnahme in die Gemeinschaft versagen, welche
sich sclilechter Handlungen schuldig gemacht haben, die anderen aber mit
voller Freudigkeit aufnehmen und sie Tag um Tag besser machen."
Missiousmethoden: Katechese u. Taufe; Eingriffe in das häusl. Leben. 329
Christenheit nahm das anf uiui vertiefte es. Die stärksten Motive
bestimmten sie hier: nur so konnte sie den „Götzendienst" in
allen seinen Gestalten abwehren, und nur so vermochte sie das
zu verwirklichen, was sie sein sollte, die heilige Gemeinde Gottes.
Mehr als hundertundfünfzig Jahre lang hat sie neben ihrer sitt-
lichen Auffassung alles andere fast wie ein Zweites behandelt.
Sie kannte keinen Glauben und keine Vergebung, die als Ruhe-
kissen dienen konnten, und daß sie des Gnostizismus nicht früher
Herr geworden ist, kam zum Teil daher, daß sie Leute, welche
Christum als Herrn anerkannten und ein strenges Leben führten,
nicht ausschließen mochte. In ihrem Taufunterricht als einer
großen und bindenden Sittenlehre, durch welche sie zugleich in
die h. Schrift einführte \ lag ihre Stcärke, und man half und stützte
den Bruder, damit er Kraft behalte, zu tun, w^as er versprochen.
Seit dem großen Kampf mit dem Gnostizismus und Marcionitismus
kam auch eine Unterweisung in der Glaubensregel hinzu. Man
begnügte sich nicht mehr mit einigen grundlegenden Sätzen in
bezug auf Gott und Christus, sondern man gab auch eine aus-
führliche, polemisch und apologetisch gefärbte Darlegung des
dogmatischen Glaubensbekenntnisses auf der Grundlage der Tauf-
formel. Doch besitzen wir aus der vorconstantinischen Zeit wohl
Ansprachen an Katechumenen (bez. jüngst Getaufte), aber keine
Katechesen do2rmatischer Art"^.
Schmerzlich vermissen wir es, daß wir Biographien aus den
drei ersten Jahrlumderten. die uns die Bekehruns; oder das innere
^) Man vgl. die Testimonien Cvprians.
-) Daß die sittliche und intellektuell -religiöse Erziehung der Katechu-
menen je nach den Bedürfnissen ihres Standes und ihrer Erkenntnis eine
verschiedene sei, sagt Origenes ausdrücklieh (c. Geis. III, 53). Über die Päda-
gogik der Kirche hat nach Zez schwitz am gründlichsten gehandelt Holtz-
mann. Die Katechese der alten Kirche (Abhandlungen f. Weizsäcker. 1892,
S. 59 ff.). Man wird sich aber hüten müssen zu meinen, der katechetische
Unterricht sei schon im .3. Jahrhundert überall so eingehend und umfassend
gewesen, wie etwa in Jerusalem im 4. (Katechesen des Cyrill). In der Mehr-
zahl der Gemeinden fehlten die Kleriker, die eine solche Unterweisung hätten
erteilen können. Aber die Forderung war da, durch religiös -sittliche plan-
mäßige, öffentliche und individuelle Unterweisung in die Religion einzuführen,
und in dieser Forderung schwang sich die christliche Religion über alle
heidnischen Religionen und Mysterienkulte empor und schloß sich mit der
Erkenntnis und Bildung zusammen. Auch wenn sie — schon im 3. Jahr-
hundert — einen Teil des Lehrstoffs mit dem Mysterium umkleidete, blieb
sie doch eine öffentliche und allen zugängliche Botschaft. Über die stufen-
mäßige Unterweisung in der christlichen Religion in der valentinir.nischen
Schule belehrt der Brief des Ptolemäus an die Flora.
;]'.]{) Die 2>Iisi^ionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
AVacJistum und "Werden einer christlichen Persönlichkeit schildern,
nicht besitzen. Sie sind nicht untergegangen: denn sie sind nicht
«reschrieben worden. Auch die innere Geschichte des Paulus bis
zum Tag von Damascus kennen wir nicht: Avir kennen nur den
Durchbrucli. den Paulus selbst als ein plötzliches Ereignis emp-
funden hat. Justin erzählt uns die A^orgeschichte seines Übertritts
zum Christentum (im Dialog mit Trypho c. 1 ff.), wie er durch die
Philosophenschulen hindurchgegangen sei und zuletzt die Wahrheit,
die auf Offenbarung beruht, ergriffen habe. Die Darstellung ist
augenscheinlich eine stilisierte und wenig lehrreich. Etwas tiefer
schauen wir bei Tatian auf Grund seiner „Oratio" in seine innere
Entwicklung hinein, aber ein wirkliches Bild vermögen wir uns
auch nicht zu machen. Am meisten bietet noch die kleine Schrift
des Cyprian „Ad Donatum": nach einer Kraft, die ihn aus einem
unwürdigen Leben erretten sollte, hat er gesuciit und hat sie im
christlichen Glaubeu gefunden. —
Wie tief müssen die Bekehrungen in das eheliche und häus-
liche Leben eingegriffen, wie viel Spannung. Unfriede und Zer-
spaltung müssen sie erzeugt haben, wenn der eine Teil christlich
wurde, der andere aber bei der alten Religion verblieb! „Es
wird aber ein Bruder den anderen zum Tode überantworten, und
der Yater den Sohn, und die Kinder werden sich empciren wider
ihre Eltern und ihnen zum Tode helfen." „Ich bin nicht ge-
kommen Frieden zu senden, sondern das Schwert: denn ich bin
gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Yater und die
Tochter wider ihre Mutter, und die Schnur gegen ihre Schwieger,
und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen
sein. Wer Yater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist
meiner ni(;ht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn
mich, der ist meiner nicht wert" (Matth. 10, 21. :]A — 37). Diese
Weissagungen, sagt Tertullian (Scorp. D), sind an keinem Apostel
erfüllt, also gelten sie uns; „nemo enim apostolorum aut fratrem
aut patrem passus est traditorem, quod plerique iam nostri."
S. auch c. 1 1 : „Wir werden von unseren nächsten Angehörigen
ausgelicifert." Dasselbe hat schon Justin bemerkt (Dialog 35):
„Wir werden hingemordet von unseren AngeJiörigen." „Der Yater,
der Nachbar, der Sohn, der Freund, der Bruder, der Ehemann,
das Eheweib sind gefährdet; suchen sie auf Zucht zu halten, so
stehen sie in Gefahr, denunziert zu werden" (Apol. IT, 1). „Wenn
einer einen gottlosen Yater oder Bruder oder Sohn hat und (>r
wäre ein Hindernis des Glaubens und ein Hemmnis des höheren
Ijcbens, mit diesem soll er nicht zusammenstimnum und eines
Sinnes sein, sondern ci' soll die fleischliche Ilausgenossenschaft
der geistigen Feindschaft wegen auflösen", sclu'oibt Clemens (Quis
Missionsmethoden; Katechese u. Taufe; Einj^riffe in das häusl. Leben. 331
dives22)^ In den Rekognitionen dos Clemens (11,29) heißt es;
,,Tn nnaquaque domo, cum inter oredcntem et non credentem
coeperit esse diversitas. necessario pugiia fit, incredulis quidem
contra fidem dimicantibus. fidelibus vero in illis errorem veterem
et peccatorum vitia coniutantibus." Eusebius (Theophan. IV. 12)
schreibt zu Luc. 12, 51 ff.: ,,Ferner aber sehen wir. daß kein Wort
der Menschen, weder der Philosophen noch der Propheten, weder
der Griechen noch der Barbaren, jemals wie diese Worte Kraft
gezeigt hat. wie Christus auch hierdurch die ganze Welt beherrscht,
alle Häuser spaltet, alle Geschlechter durchteilt und trennt, so
daß die einen das Seine denken, die anderen aber sich dazu im
Gegensatz befinden." N^ur sehr wenig aus diesen Tragödien —
der Rhetor Aristides, Orat. 46, spielt auf sie an; die Stelle wird
sp.äter mitgeteilt werden — ist uns überliefert. Justin (Apol. II)
erzählt uns von einem vornehmen Ehepaar in Rom, das in Lastern
lebte; die Frau bekehrt sich zum Christentum, hält es schließlich
bei dem lasterhaften Mann nicht mehr aus und trägt auf Scheidung
an; er denunziert sie- und ihren Lehrer als Christen beim Stadt-
präfekten. Thecla will als Christin von ihrem Bräutigam nichts
mehr wissen — das muß oft vorgekommen sein, ebenso, daß sich
bekehrte Frauen der ehelichen Pflicht entzogen — : der Bräutigam
denunziert ihren Lehrer dem Richter; Thecla verläßt das Eltern-
haus. Celsus (Orig. c. Cels. II I, 55) malt mit sehr drastischen
Farben aus, wie christliche Fanatiker niedersten Standes in den
unteren Schichten Unfrieden in den Familien säen. Das Bild ist
jedenfalls beobachtet und soll deshalb hier nicht fehlen: ,,Wie wir
sehen, wagen in den Privathäusern die Wollarbeiter, die Schuster
und Walker, völlig ungebildete und völlig ungeschliffene Leute,
in Gegenwart ihrer durch Alter und Weisheit hervorragenden
Herren den Mund nicht aufzuthun; sobald sie sich aber ohne
Zeugen mit jungen Leuten und solchen Weibspersonen allein
'; Er fährt fort (c. 23 : ^Denke dir. die Sache sei ein Streit. Es kommt
dir vor, als träte der Vater herbei und sagte; Ich habe dich gezeugt und
genährt, folge mir und tue mit mir Unrecht und folge nicht dem Gesetze
Christi — und was sonst immer ein gotteslästerlicher, von Natur toter Mensch
sagen könnte. Auf der anderen Seite aber höre den Erlöser; Ich habe dich
wiedergeboren, dich, der du unheilvoll von der Welt zum Tode geboren
warst; ich habe dich befreit, geheilt .... Rufe nicht für dich an einen
Vater auf Erden: die Toten sollen ihre Toten begraben usw. Wenn du nun
von zwei Seiten her so reden hörst, so entscheide .... zu deiner eigenen
Rettung. Und wenn ein Bruder ähnlich redet, wenn ein Kind, wenn Weib,
wenn irgendein anderer, so sei Christus in dir Sieger."
-) Daß heidnische Männer ihre christlichen Frauen dadurch im Schach
hielten, daß sie sie jeden Augenblick denunzieren konnten, sagt Tertullian
(ad uxor. II, 5} ausdrücklich.
'V.]'2 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
wissen, clio ebenso unverständig wie sie selbst sind, dann sind
sie wunderbar beredt und w^eisen nach, daß man verpflichtet sei,
ihnen zu folgen, nicht aber dem eigenen Vater und den Lehrern;
diese seien verrückte und aberwitzige Leute; in eitlen Vorurteilen
befangen, seien sie nicht imstande, einen w'ahrhaft hohen und
guten Gedanken zu fassen und zu verwirklichen; nur sie allein
wüßten es, wie man leben müsse: würden ihnen die jungen Leute
folgen, so würden sie selig werden und das ganze Haus glücklich
machen. Sehen sie dann, während sie so reden, einen Lehrer
oder einen verständigen Mann oder den Vater selbst kommen,
so geraten die Furchtsamen unter ihnen in die größte Angst, die
Unverschämten aber reizen die jungen Ijeute auf, das Joch abzu-
werfen und die Zügel abzustreifen, indem sie ihnen zuflüstern, daß
sie sie, solange sie bei ihrem Vater oder ihrem Lehrer seien,
etwas Gutes wieder lehren könnten noch wollten; denn sie hätten
keine Lust, sich der Torheit und Grausamkeit dieser ganz ver-
dorbenen und in die Sünde tief verstrickten und versunkenen
Menschen auszusetzen, deren Verfolgung und Rache sie zu fürchten
hätten; wollten sie etwas Gutes lernen, so müßten sie die Eltern
und Lehrer verlassen und mit den Weibern und Spielkameraden
in das Frauengemach oder in die Schusterei oder in die Walke
kommen, um dort das Vollkommenere zu vernehmen. Und mit
solchen Worten setzen sie es wirklich durch." Das ist eine
Schilderung, wie sie, wenn man das Übelwollen abstreift, in der
Zeit der Antonine gew'iß zutreffend war. Als Origenes sie wider-
legte, galt sie freilich kaum noch. Ganz empört ist er darüber,
daß man christliche Lehrer unter den Wollarbeitern, Schustern
und Walkern suchen soll. Aber daß die jungen Leute und Frauen
ihren Lehrern und Vätern entzogen w'erden, kann auch er nicht
in Abrede stellen. Er behauptet nur, daß sie dadurch verbessert
vrerden (ITT. ,')()).
Erschütternd sind die Szenen zwischen Perpetua („honeste
natu, libcraliter institufa. matronaliter nupta, habens patrem et
niatrem (!t fratrcs duos, alterum aeque catechuminum, et filium
infantem ad ubera") und ihrem Vater. Erst sucht er sie mit
(jiewalt zurückzuführen („tunc pater mittit se in me. ut oculos
mihi erueret, sed vexavit tantum .... tunc paucis diebus quod
caruissem ])atrem, domino gratias egi ot refrigeravi absentia illius",
c. 3), dann l)estürmt er sie mit Tränen und Litten (c. 5)^ Der
') ^Su])ervenit de fivitate pater meus, consumptus taedio et adscendit
ad lue, ut nie deiceret dicens: Filia, miserere canis meis, miserere patri, si
dignus suni a te pater vocari; si his te nianibus ad hunc florem aetatis pro-
vcxi, si te jiraeposui Omnibus fratribus tuis: ne nie dederis in dedecus honü-
nuni. aspice fiatres tuos, aspice niatreni tuain et materteram, asjnce tilium
Missiousmethoden; Katechese u. Taute; Einj^nite iu das häiisl. Leben. ',V.\'.)
Märtyrerin Agathonicc in l*orgaiiiuiu rief das Volk zu: ,,Erl)annt'
dich doch deines Sohnes." Sie erwiderte: „Er hat Gott, der sich
seiner zu erbarmen vermag." Mitleidig rufen heidnische Zuschauer
bei Christon-Exekutionen aus: „et puto liberos habet, nam est illi
societas in penatibus coniux, et tarnen nee vinculo pignerum cedit
nee obsequio pietatis abductus a proposito suo deficit" ^ „Uxorem
iam pudicam maritus iani non zelotypus, filium iam subiectum pater
retro patiens abdicavit, servum iam fidelem dominus olim mitis ab
oculis relegavit" (Tertull.. Apol. :i). Manche Märtyrerakten bieten
Ahnliches-. Genesius sagt, daß er seine christlichen Eltern und
Yer\Yandten verflucht habe (Ruinart p. 312); aber auch das
Umgekehrte kam vor: der jugendliche Origenes, fest noch Knabe,
schreibt seinem des Glaubens wegen gefangen gesetzten Yater:
„Hüte dich, unsertwegen deine Gesinnung zu ändern" (Euseb.,
h. e. YT, 2)^. AYie zahlreich waren die Fälle, in denen der Mann
Heide war. und die Frau Christin (s. unten Buch 4. Kap. 2)!
tuum, qui post te vivere nou poterit .... haec dicebat quasi pater pro sua
l^ietate, basians mihi nianus, et se ad pedes uieos iactans et lacrimaBS lue
iam non filiam nominabat, sed dominam.- Cf. c. 6: „cum staret pater ad nie
deiciendam iussus est ab Hilariano [dem Richter] proici, et virga percussus
est. et doluit mihi casus patris mei, quasi ego fuissem percussa: sie dolui
pro senecta eins misera." C. 9: „intrat ad me pater meus consumptus taedio
et coepit barbam suam evellere et in terram mittere et prosternere se in
faciem et inproperare annis suis et dicere tanta verba quae moverent uni-
versam creaturam."
') Xovatian, de hiude mart. 15.
-) Christliche Mädchen aus guter Familie (Thessalonich) flüchten sich
und irren ohne Wissen ihres Vaters wochenlang im Gebirge umher (Acta
Agapes, Chioniae, Irenes bei Ruinart, Acta Mart., Ratisb. 18-59, p. 426) z. Z.
der Verfolgung Diocletians. Wie bitter beklagt sich der vornehme Fortuna-
tianus in den africanischen Akten des .^aturuin und Dativus 'z. Z. Diocletians)
vor dem Richter, daß Dativus sich in Abwesenheit des Vaters in das Haus
geschlichen und seine [des Fortun.] .Schwester zum Christentum bekehrt, ja
sogar nach Abitini mit sich genommen habe (s. o. S. 305). Vgl. die Szene
zwischen dem Christen Marcianus, einem Soldaten, und seinem heidnisch
gesinnten Weibe in den Acta Marciani et Xicaudri (Ruinart, 1. c. p. 572);
das Weib spricht, als der Mann zur Hinrichtung geht: ,Vae miserae mihi!
non mihi respondes? miserator esto mei, domine; aspice filium tuum dulcissi-
mum, convertere ad nos, noli nos spernere. quid festinasV quo tendisV cur
nos odistiV" Vgl. dazu die Acta Irenaei c. 3 (1. c. p. 433): Eltern und Gattin
beschwören den jugendlichen Bischof von Sirmium, sich nicht zu opfern. —
Von der Märtyrerin Dionysia heißt es: i) .To/t'jra«? iifv, ovy v:zko xov y.voiov
8e dyam'joaoa iavrrjg rä zsy.va (Euseb., h. e. VI, 41, 18).
^) Vgl. die Frau des Xicander in den Acta Marciani et aSTicandri (1. c),
namens Daria; sie redet ihrem Manne zu, fe.st zu bleiben; s. auch die Acta
Maximiliani (1. c. p. -340 ff.), in denen der Vater dem Märtyrer zuspricht und
sich über den Märtyrertod des Sohnes freut, und die Acta Jacobi et Mariani
(1. c. p. 273) , in denen die Mutter des Marianus über den Märtyrertod ihres
Sohnes frohlockt.
;i34 Die Missionare: Modalitäten uud Gegenwirkungen der Mission.
()frers mag das Verhältnis so leidlich geblieben sein, wie später
in dem Elternhause Augustins ^ : aber welche Summe von Kummer
und Leid mögen in den meisten Fällen diese Ehen umschlossen
haben! Vgl. Arnobius (II, 5): „Malunt solvi coniuges matrimoniis,
exheredari a parentibus liberi quam fidem rumpere Christianam
et salutaris militiae sacramenta deponere."
Besonderer „Methoden" bedarf ein lebendiger Glaube nicht,
um sich fortzupflanzen: über alle Schwierigkeiten hinweg setzt er
sieh durch, und auch die mächtigsten Gefühle der Natur vermögen
ihn nicht zu ersticken. Aber diese ideale Betrachtung darf man
für das 3. Jahrhundert nur noch in sehr bescheidenem Maße an-
wenden. Seit dieser Zeit wirkt das Christentum vornehmlich als
die Mysterienreligion des Monotheismus und als die mächtige
Kirche, welche heilige Personen, heilige Bücher, eine heilige
Glaubenslehre und einen heiligenden Kultus in ihrer Mitte hat.
Auch schmiegt es sich den Bedürfnissen der Massen in ganz
anderer Weise an als früher und nimmt auf die kultischen Ge-
wohnheiten und die polytheistischen Neigungen Rücksicht, indem
es Feste, Nothelfer. Heilige, lokale heilige Stätten nach ihnen
schafft und einrichtet. Die Missionsmethode des Gregorius Thau-
maturgus — wir haben bereits oben S. 264 seiner gedacht — ist
hier charakteristisch: sie geht auf das alles ein, läßt sich einen
gewissen Sykretismus nicht nur gefallen, sondern befördert ihn
und erzielt die glänzendsten Erfolge, was die Zahl der Bekehrten
betrifft. In dem nächsten Buche sind (Kap. 3, III. 9 B) nähere
Nachweise hierüber s-egeben.
Drittes Kapitel.
Die Namen der Christgläubigen.
Jesus hat die. welche sich um ihn sammelten, „Schüler"
(/iadi]TaiJ. sich selbst den Lehrer genannt- — das ist eine sichere
Tatsache — , und die, welche er gesammelt hatte, redeten ihn
*) Confess. I, 11 (17): ,Iam [als puer] credebam et mater et omnis domus,
nisi pater solus, qui tarnen non evicit in me ins maternae pietatis, quo-
niinus in Christum crederem." Der Vater wird als gleichgültiger, schwacher
und ganz oberflächlicher Mann von dem Sohne geschildert.
'^) Merkwürdig ist das Wort Matth. 23, 8 an die Jünger: vueig /itj xXrj&rjis
ijaßßfi' fig yän lOTiv v/iojv o diddoxa?.og , JiävzFg St' vfift'; döe/.(f,oi kots. Man
erwartet ita&tjral, doch das ist selbstverständlich; Jesus will aber die Gleich-
artigkeit aller seiner Jünger und ihre Verpflichtung zur Liebe untereinander
Die Namen der Christgläubigeu. 335
als den Lehrer aii^ und bezeichneten sich selbst als Schüler (wie
auch die Anhänger Johannes des Täufers Schüler des Johannes
hießen). Hieraus folgt, daß das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern
bei seinen Lebzeiten nicht durch den Gedanken des Messias,
sondern durch den des Lehrers bestimmt gewesen ist. Die Messias-
würde Jesu — sie sollte sich ja erst bei der Wiederkunft ent-
hüllen — war ein noch nicht sicher erfaßtes Glaubensgeheimnis,
Jesus selbst hat diese Würde erst bei dem Einzug in Jerusalem
öffentlich in Anspruch genommen.
Xach der Auferstehung bezeugten die Jünger voll Zuversicht
öffentlich, daß Jesus der Messias sei: aber sie nannten sich auch
weiter noch — ein Beweis für die Zähigkeit einmal gegebener
Namen — „die Schüler"', und die zwölf Vertrauten hießen „die
zwölf Schüler'' (oder „die Zwölf-')-. Aus der Apostelgeschichte
(s. c. \. 6. U. 11. 13 — iO. IS. 21) erkennt man. daß der eigentlich
nicht mehr passende Xame „Schüler-' ein paar Jahrzehnte hin-
durch von den Christen, namentlich von den palästinensischen, als
Selbstbezeichnung festgehalten worden ist^. Aber Paulus hnt ihn
nie gebraucht, und nun beobachtet man, daß der Name „o< fiadi}-
rar^ (mit dem Zusatz tov y.vgioi') allmählich ausschießlich eine
Bezeichnung für persönliche Jünger Jesu wird, d. h. in erster
Linie für die Zwölf, sodann auch für andere*. So finden wir es
bei Papias, Irenäus u. a. Es wird also der Name ein Ehrenname
für solche, die den Herrn selbst noch gesehen haben (ob auch
für palästinensische Christen der ältesten Zeit überhaupt?), und
die daher als Zeugen gelten können gegenüber Häretikern, welche
die Person Jesu doketisch auflösen. Außerdem wurden aber
Konfessoren und Märtyrer im 2. und 3. Jahrhundert mit dem
Ehrentitel „Schüler des Herrn-' beehrt. Auch sie sind nämlich
betonen. — Übrigens ist es bemerkenswert, daß die Apostel nicht oder nur
ganz selten .die Lehrer" genannt worden sind mit Ausnahme des Paulus.
') Parallel ist die Bezeichnung f.Tfordo;,-, die sich mehrmals bei Lucas
findet.
-) Ol i.iad>]zai ist keine exklusive Bezeichnung der Zwölf in ältester Zeit,
sondern alle Christen hießen so; auch ij i.m&t)roia findet sich; s. Act. 9, 36
und Petrus-Ev. v. 50.
^) Act. -21. 16 heißt ein gewisser Mnason oLoyalog ija\}i]Tr'ig . er soll da-
durch wohl als persönlicher Schüler Jesu, jedenfalls als Schüler der ersten
Generation bezeichnet werden. — Man beachte auch, daß nach der Quelle
des Epiphanius (haer. 29, 7j sämtliche aus Jerusalem nach Pella übergesiedelte
Christen „uadr/Tai" heißen. Daß Lucas in der Apostelgeschichte, einem
unberechtigten Archaismus folgend, den Namen ,.Jünger'' so häufig braucht,
möchte ich nicht annehmen.
*) Kündigt sich nicht schon eine Verengung des Begriffs in Matth. 10.42
an (og äv noTioij sva töjv /.iixoojv zoviov rcoir'joioy ipvyood f.i6vov elg ovoua
f.iadt]xov) i
;]^() Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkunj^en der Mission.
persönliche Schüler des Herrn geworden. Sofern sie sich durch
ihr Bekenntnis zu ihm bekannt haben und er zu ihnen (Matth. 1 0, 32),
rücken sie auf eine Linie mit den alten persönlichen Jüngern
Jesu: sie sind dem verklärten Herrn so nahe, wie jene dem auf
Erden Aveilenden waren ^
Der Name „Schüler" kam in AVegfall, weil er das Verhältnis
nicht mehr ausdrückte, in welches man sich gesetzt fand — er
besagte zu wenig, und er besagte zu viel. Dafür kamen andere
Namen auf, die aber nur zum Teil technisch geworden sind.
Zunächst gaben die Juden ihren abgefallenen Stammesgenossen
eigene Namen, nämlich „Graliläer", „Nazoräer" und vielleicht auch
^) MaürjTni ohne den Zusatz tov xvqiov (oder Xqlotov) ist in der Zeit
nach der Apostelgeschichte als Selbstbezeichnnng aller Anhänger Jesu m. W.
nicht mehr zu belegen (nicht hierher gehören natürlich solche Stellen, in
denen das Wort nicht technisch ist; sie sind nicht ganz selten). Auch mit
dem Zusatz tov hvqIov ist der Name im 2 Jahrhundert keine Bezeichnung
für die Christen im allgemeinen mehr. — Nicht täuschen lassen darf man
sich durch späte apokryphe Bücher, auch nicht durch die Apologeten des
2. Jahrhunderts. Die letzteren bezeichnen nicht selten Christus als ihren
Lehrer und sich selbst (die Christen überhaupt) als Schüler. Das hat mit
der alten Terminologie keinen oder höchstens einen ganz losen Zusammen-
hang und ist — aus apologetischen Gründen — der Terminologie der Philo-
sophenschulen nachgebildet (aus denselben Gründen sprechen die Apologeten
von „Dogmen" der christlichen Lehre und von der „Theologie", s. mein Lehr-
buch der Dogmengesch. 1 ä S. 4S2f.). Die Apologeten wissen bekanntlich sehr
wohl, daß Christus nicht eigentlich ein Lehrer, vielmehr TOftodhijg, röftog,
loyog, o(OT)'jQ und y.QiTyg ist. Deshall) ist auch der Ausdruck wie „xvQiax)i
öiöaaxaUa" (Apologg. und Clemens, Strom. VL 15, 124; VI, 18, 165; VII, 10, 57:
VII, 15, 90; VII, 18, 165) nicht zum Beweise dafür anzuführen, daß die Apolo-
geten sich Jesus wesentlich als Lehrer gedacht haben. Etwas mehr besagen
will „dtönyj] hvqIov" (Buchtitel für den bekannten alten Katechismus) und
Stellen wie I Clem. 13, 1 : tmv Xöycov zod >tvQiox' 'Iijoov ov? flälrjosv 8i8äay.(ov,
Polyc. ep. 2: /nnjfwvEvovTsg cbv sLiet' 6 xvQiog Siädoxcov, Ptolem. ad Floram
C.5: ■>) Öcöaay.alia roD amzfjQog , Ap. Kircheuordn. S. 25 (Texte u. Unters.
Bd. II Heft 5): :rnonQwvT(x? rovg hiyovg tov didaaxäXov t)/uov, S. 28: Sie ijn^OEV
6 b lÖüoy.aXog zov uqtov, S. oO: JTQ0f?,8yev ots fÖiÖaa>tFV. Bei diesen Stellen
hat man sich al)er zu erinnern, daß die Ap. Kirchenordnung eine Fiktion ist,
welche die Apostel sprechen läßt (ebenso heißt Jesus in der Gruudschrift der
Apost. Konstitutionen „6 Scäa.ox:a?.og", d. h. die Jünger nennen ihn in dieser
gefälschten Schrift so). — Daß die Märtyrer und Konfessoren diejenigen (und
zwar die einzigen) sind, denen auch noch in der Gegenwart das Prädikat
„Jünger Jesu" zukommt, geht aus vielen Stellen hervor (sie sind die wirk-
lichen Nachahmer und Nachfolger Jesu). Man vgl. z. B. Ignat. ad Ephes. 1:
i:ljriC.(0 F.jTizv^^Fiv iv 'Pihiijj ■drjQiof/axyoai, i'va sjiizi'xsiv Svvijdto fiadrjztjg sivai,
ad Rom. 4 : zöze l'oo/tai. /cadrjzi/g altiOtjg zov Xgcazov , öze ovöe z6 ocofid /.lov o
HÖo/iog oyezat, ad Rom. 5: iv zolg äbiy.rjfiaaiv nvzwv fiäXlov /na&tjzEvofiai, Mart.
Polyc. 17: (zöv inov zov iJeov jiQooyvvov[i.Fr,) zovg Öe juÜQZVQag cbg /iiaß)]Tug xal
fiilii7]T<\g zov y.vQiov dya7i(7)fiev. Als Novatian seine katharische Kirche schuf,
scheint er versucht zu haben, den Begriff des Schülers und Nachahmers
Christi für jeden Christen wieder zu beleben.
Die Namen der Christgläubigen. 337
„Arme" (doch ist die letztere Bezeiclinung- wahrscheinlich richtiger
als Selbstbezeiehnung der Judeneliristen zu erklären, denn „Ebionim"
ist nach dem A. T. ein Ehrenname). Wirklich durchgedrungen sind
diese Namen nicht; nur „Nazoräer" hat eine größere Verbreitung
erlangt und hat sich lange erhalten^.
Die Christen selbst nannten sich „Volk Gottes". „Israel y.ajä
jiv£vua''\ „Samen Abrahams", „ Auserwähltes Volk " , „Zwölf
*) Die ersten Jünger -Jesu sind (s. Act. 1,11; '2,7) als „Galiläer" be-
zeichnet worden (es war zunächst eine geographische Bezeichnung der Her-
kunft, sollte aber auch die Jünger verächtlich macheu als halbheidnische
Leute); doch ist der Name selten technisch geworden. Epictet braucht ihn
einmal für die Christen (Arrian., Diss. IV, 7, 6). Dann hat ihn Julian wieder
ausgegraben (Gregor Naz., Orat. 4: y.atvoroiisi o 'lovhavog jts(>1 rtjr jTQooijyoQiar,
ra'/.UMiox'g uvTi XotOTiavtov oro/iiäoag te xal y.alEiodai vonodsTtjoag orofia
[ralü.aiot] zcjr ovx eIw&ötwv) und als Schmähnamen verwendet. Vielleicht
aber hatte Julian auch hier, wie ia anderer Hinsicht, an Maximinus Daza,
bez. an dessen christenfeindlichem Beamten Theotecnus, einen Vorgängei*.
Nach den Acta Theodoti Ancyrani hat ein Theotecnus [ob mit dem gleich-
namigen Beamten des Daza identisch V] den Theodotus „TTgooTar)]? rwr Fa/u-
?.aicor" genannt (c. :-'>l). Die Akten sind aber nachjulianisch. Nicht unwahr-
scheinlich ist es doch, daß in den christusfeiudlichen Pamphleten, die Daza
verbreiten ließ, die Christen als Galiläer bezeichnet waren. Pseudo-Lucians
Philopatris (hier finden sich auch die „Galiläer") kommt für die Frage über-
haupt nicht in Betracht; denn die Schrift ist eine spätbyzantinische Fäl-
schung. Vergleichen kann man zu der Bezeichnung der Christen als „Galiläer"
die Bezeichnung der Montanisten als „Phrygier". — Nicht ganz erhellt ist
der Name Arme („Ebionim"). Es ist möglich, daß die jüdischen Gegner die
Christgläubigen so genannt haben, weil sie wirklich arm waren, und daß
diese den Namen rezipiert haben; es ist aber wahrscheinlicher, daß sich die
palästinensischen Christen in Hinblick auf das A. T. selbst so genannt haben.
In neuerer Zeit hat nicht nur Hilgenfeld behauptet, den Kirchenvätern
Tertullian, Epiphauius (haer. 30, 18) und andern folgend, man müsse die
Ebiouiten auf einen Sektenstifter Namens Ebion zurückführen, sondern auch
Dal mau hat diese Ableitung empfohlen. Im Reiche haben die Christen
technisch nie die Armen geheißen; Minuc, Oetavius c. 36 reicht nicht
aus, um die Annahme zu begründen. In der Heidenkirche Avurde „Ebioniten''
die geläufigste Bezeichnung für die als Häretiker erachteten Judenchristen. —
Der Name „Nazaräer", „Nazoräer" (nach Hierouymus Bezeichnung aller Juden-
christen seitens der Juden, ep 112,13; bei den Persern und überhaupt im
Islam für die Christen geläufig) kommt zuerst in der Apostelgeschichte (24, .5)
vor, wo Paulus von dem Ankläger Tertyllus als TTQcoTooTarrjg Tf/g xöJv JVauo-
Qaiutv aiQtoecog bezeichnet wird. Da Jesus selbst o JVuLcoQatog in den Evan-
gelien heißt, so scheint kein Zweifel zu sein, daß seine Anhänger hiernach
den Namen von ihren Gegnern empfangen haben, xluffallend ist das aller-
dings, wenn auch nicht beispiellos. Aber die Bezeichnung Jesu als 6 Nauo-
QaTog ist selbst bekanntlich ein Problem. Stammt der Name wirklich von
der Stadt NaCagh (NaLaod) ? Ferner bietet ja auch Matth. 2, 23 ein schweres
Problem. Endlich kennt Epiphanius eine vorchristliche, jüdische Sekte der
Nazaräer (liaer. 18; die Vorchristlichkeit wird haer. 29, 6 noch einmal aus-
drücklich behauptet) in der Galaaditis, der Basanitis und anderen trans-
jordanischen Strichen mit bestimmten Eigentümlichkeiten, unterscheidet von
H am ack. Mission. 2. Aiill. 99
3oS Die Missionare; Modalitäten und Gegeuwii-kungeu der Mission.
Stämme", „Erwählte". „Knechte Gottes", „Gläubige", „Heilige",
„Brüder". „Kirche Gottes" ^ Von diesen Namen sind die sieben
ersten (und ähnliche) als einzelne nicht technisch geworden, wohl
aber sozusagen in ihrer Gesamtheit. Sie sind ein Beweis, wie
sich die neue Gemeinde empfand, nämlich als die Erbin aller
Verheißungen und aller Rechte des jüdischen Volks. Übrigens
ihr die gleichnamige judeuchristliche Sekte (haer. 29) und auch die Nasiräer
(s. haer. 29. 5) und bemerkt außerdem (zwischen haer. 20 und 21 am Schluß
des 1. Buchs), daß am Anfang alle Christen von den Juden Nazoräer genannt
worden seien. Endlich teilt er mit, die Christen hätten, bevor sie diesen
Kamen in Antiochien empfingen, eine kurze Zeit hindurch auch Jessäer
geheißen und verbindet diese mit den Therapeuten Philos. Daß nun P]pipha-
uius gerade in bezug auf die ältesten Sekten die größten Konfusionen ge-
macht hat, ist bekannt und ist auch hier deutlich; man könnte also über
seine vorchristlichen Nazaräer schweigend hinweggehen, läge nicht in der
Bezeichnung Jesu als o NaCogaTog (und in der seiner Jünger als Nazaräer)
wirklich eine Schwierigkeit. Sie ist längst empfunden worden, aber erst
W. B. Smith hat sie in seinem zu St. Louis gehalteneu Vortrag (abgedruckt
in der Ztschr. ,The Monist" 1905 Jan. p. 25 — 45) durch eine kühue Hypothese
zu beseitigen gesucht. Er meint, Jesus habe nichts mit Nazareth zu tun, ja
diese Stadt sei überhaupt nur (auf Grund der Mißdeutung des Namens Naza-
räer) erfunden und dann von Christen gegründet worden; 6 i^ai^aoaiog sei als
Appellativum zu verstehen = Nazar-ja (Gott ist Hüter), dem Sinne nach
= o oon/jQ, = Jesus, usw. Zu einer Prüfung dieser Hypothese, die der „Reli-
gion.sgeschichte" willkommen sein wird, ist hier nicht der Ort. Daß hier
ein ungelöstes Problem steckt, ist sicher; aber vielleicht wird sich doch —
trotz Epiphanius und Smith — die traditionelle Lösung als die gebotene
erweisen, zumal da die vorchristlichen Nazaräer nichts haben, was an die
alten Christen erinnert. Epiphanius charakterisiert sie (1. c.) also: sie sind
Juden und leben wie Juden (Beschneidung, Sabbat, Feste; Ablehnung des
Fatums und der Astronomie); sie erkennen die Väter von Adam bis Moses
(Josua) an, aber den Pentateuch verwerfen sie (!!); Moses habe zwar ein
Gesetz empfangen, aber ein anderes als das bekannte. Daher beobachten sie
das Gesetz mit Ausnahme der Opfervorschriften und essen auch kein Fleisch,
die Bücher Mosis für gefälscht erklärend. Mehr weil^ Epiphanius nicht.
Soll man hiernach wirklich glauben, daß es vor Christus im Ostjordanland
eine jüdische Sekte gegeben hat, die sich Nazaräer nannte und die Opfer
und den Fleischgenuß verbot? Und — angenommen, das wäre glaublich —
welche Verbindung zwischen Jesus und ihnen kann bestanden haben, da das
einzige Charakteristikum dieser jüdischen Sekte, welches Epiphanius bekannt
geworden ist, das Fleisch- und Opferverbot, auf Jesus und die ältesten Christen
nicht zutrifft? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß Epiphanius, der übrigens
nur von einer zu ihm gekommenen „Kunde" sjjricht, entweder gnostische
Judenchristen, über die er unvollständig unterrichtet war, für vorchristlich
gehalten oder eine vorchristliche jüdische Sekte, die wie die Judenchristen
im Ostjordanland lebte, irrtümlich Nazaräer genannt hat? Oder liegt nicht
doch eine Verwechselung mit Nasiräern vor?
') Vom Namen „Jesus" ist m. W. niemals in ältester Zeit eine Ableitung
versucht worden. — Ob sich die Christen technisch je „ Freunde "■ genannt
haben, darüber s. den ersten Exkurs am Schluß des Kapitels.
Die Namen der Christgläubigen. 339
kamen die Bozciclmungen „Erwählte"^ und „Knochto Gottes" ^
doch nalie an technisclie heran.
Daß „Gläubige" (thotoi) eine technische Bezeichnung ge-
wesen ist, folgt aus dem Sprachgebrauch des Paulus, der Apostel-
geschichte und späterer Schriften^. Indem sich die Christen
„Gläubige" nannten — man darf vermuten, daß der IS^ame auf
heidenchristlichem Boden entstanden ist — . empfanden sie die
Botschaft, die sie zu dem gemacht hatte, was sie waren, als die
entscheidende Hauptsache. Die Botschaft aber war die Predigt von
dem einen Gott, von seinem Sohne Jesus Christus und von dem
zukünftigen Leben.
Die charakteristischen Xamen sind die drei zusammenge-
hörigen „Heilige". „Brüder" und „Kirche Gottes". Indem diese
Selbstbezeichnungen* die Bezeichnung „Schüler" ablösen, wird
^) Vgl. Minucius Felix c. 11. Den Erwählten stehen die „oi nolloi"
gegenüber. Deshalb nennt Papias die falschen Christen so (bei Euseb., h. e.
III. 39), während umgekehrt der Gnostiker Heracleon die gemeinen Christen
so bezeichnet (bei Clemens, Strom. IV, 9, 73j.
-) Vgl. das Xeue Testament und vor allem den Hii-teu Hermas.
') Wohl mit Recht hat v. Wilamowitz-Moellendorff auch Minucius
Felix c. 14 herangezogen, wo Octavius von Cäcilius ,,pistorum praecipuus et
postremus philosophorum" genannt ist. Die ^pistores" sind hier nicht ..Mühl-
knechte", sondern es steht für „Tiioxoyv". So nennt auch der Heide bei
Macarius Magnes (III, 17) die Christen >; zwv jiiaxwv (poaroia. Auch aus
Celsus kann man schließen, daß die Bezeichnung moxoi technisch war (Orig.
c. Geis. I, 9). Die Heiden verspotteten mit diesem Namen, den die Christen
als Ehrennamen führten, ihre Gegner: sie seien, .statt Erkennende und
Wissende zu sein, eben nur „Gläubige", d. h. sowohl Leichtgläubige als auch
Leute, die Unsinniges glaubten (s. Lucians Urteil über die Christen im
Peregriuus Proteus). — In Noricum ist eine Inschrift gefunden worden
saec. IV (CLL. Vol. III, Suppl. Pars Poster. Nr. 13529), auf welcher eine
Frau als „Christiana fidelis" bezeichnet wird. Das heißt wohl, daß sie eine
getaufte Christin war. In den Cauones von Elvira bezeichnet „fidelis" den
getauften Christen, „Christianus" ist auch der Katechumen. Der Name
„Pistus'' wurde später auch als Eigenname bei den Christen beliebt; zwei
Bischöfe, die das Konzil von Nicäa besucht haben, heißen so. Dem „fidelis"
steht der „paganus" gegenüber (s. u.).
*) Bei Paulus sind siedle geläufigen; aber keineswegs hat er sie zuerst
gebraucht, vielmehr muß er sie schon von den judenchristlicheu Gemeinden
Palästinas her übernommen haben; aber sie empfingen allerdings durch seine
Lehre einen intensiveren Inhalt. Die Meinung, daß die Christen zu Jerusalem
y.ax e'Soyjqv „die Heiligen" hießen, die man aus dem Neuen Testament er-
schließen wollte, läßt sich m. E. nicht halten. Ebensowenig ist die Hypo-
these richtig, daß es innerhalb der Christenheit im apostolischen und nach-
apostolischen Zeitalter einen besonderen engeren Kreis gegeben hat, dem der
Name „Heilige" allein und ausschließlieh zukam; weder aus I Tim. -5, 10,
noch aus Hebr. 13, 24, noch aus Didache 4, 2, noch aus anderen Stellen läßt
sich das erschließen, wenn es auch einen Kreis von Asketen und in diesem
Sinn von besonders heiligen Christen sehr frühe schon gegeben hat. Sehr
22*
340 Die Missionare : Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
der wichtigste Fortschritt bei den Jesus - Gläubigen offenbart
„Heilige-' nannten sie sich, weil sie durch den von Jesus gesandten
heiligen Geist von und für Gott geheiligt waren und sich trotz
aller anklebenden täglichen Sünde als wahrhaftig heilig und der
zukünftigen Herrlichkeit teilhaftig wußten 2. Das Wort bleibt die
technische Selbstbezeichnung der Christen bis zur montanistischen
Ki'isis (s. 1 Clemens, Hermas, Didache etc.); dann verschwindet es
allmählich^: die Christen hattten nach allen Erfahrungen, die sie
an sich selbst gemacht, nicht mehr den Mut, sich „Heilige" zu
nennen, und als nun gar der Unterschied von Klerus und Laien
(Leitenden und Bevormundeten) der bestimmende wurde, fiel die
Bezeichnung „Heilige" völlig dahin (nur in schweren Yerfolgungs-
zeiten erinnerte man sich wieder an sie). Dafür entstanden
„heilige Stände" (Märtyrer, Konfessoren, Asketen, zuletzt — im
3. Jahrhundert — auch die Bischöfe), und die heiligen Mittel
(Sakramente), unter deren stoßweisem Einfluß die an sich unheiligen
Christen stehen, rückten noch stärker in den Vordergrund als im
1. Jahrhundert. Man wußte sich selbst nicht mehr als heiligt, aber
man besaß heilige Märtyrer, heilige Asketen, heilige Priester,
heilige Handlungen, heilige Schriften und eine heilige Lehre.
Enge verbunden mit dem jN^amen „Heilige" war der Name
„Brüder" (und „Schwestern"); drückt jener das Verhältnis zu Gott
und zum zukünftigen Leben (bez. zur ßaodeia xov '&eov) aus, so
dieser das neue Verhältnis, in das man sich zu den Mitmenschen,
vor allem zu den Glaubensgenossen, gesetzt wußte (vgl. dazu die
nicht seltene Formel „Bruder im Herrn"). Der Name war seit
der Zeit des Paulus so geläufig, daß er auch bald den Heiden
auffallend sind „die heiligen Apostel" Ephes. 3, 5; ich halte es nicht für
■wahrscheinlich, daß Paulus so geschrieben hat. — Man beachte, daß das
älteste Prädikat bei dem Wort „Kirche" das Wort „heilig" gewesen ist; s.
die Stelleusammlung bei Hahn-Harnack, Bibliothek der Symbole * S. u88,
vgl. auch , heiliges Volk" (k'drog äyior, /.aog ii/iog), „heiliges Priestertum".
1) Vgl. Weizsäcker, a. a. 0. ' S. 36 ff.
2) An den heiligen Mitteln, den „Charismen", und an der Macht, die
Dämonen auszutreiben, hatten sie die tatsächliche und sinnenlallige Gewähr
der Heiligkeit. Diese hatten sowohl einen dinglichen als einen persönlich-
sittlichen Charakter; zum ersteren vgl. 1 Cor. 7, 14: i)yiaoTm 6 dvijQ 6 ujiiorog
h> rf/ yvvaiHL, xai yyiafnui i) yvvlj t) u:tioiog t:v lo) äbehi'io ' fJTfi äoa ta rexra
vtiojv u>iä.daQT<j. f:oriv, rvv Sk äyid mriv.
^) Doch nennt z. B. noch Gregorius Thaumaturgus iu dem 7. seiner
Canoues die Christen generell „die Heiligen".
*) Die in der Mitte des 3. Jahrhunderts gebildete novatianische Kirche
nannte sich „die Reinen" (xaßuQoi). Ob diese Selbstbezeichnung neu ge-
schatlen war, oder ob diese Kirche einen alten Namen wieder belebt hat,
■wissen wir nicht. — Auf die Namen einzelner christlicher Sekten und Kreise
(Gnostiker, Spiritualen etc.) ist hier nicht einzugehen.
Die Namen der C'hristgläubigen. 341
bekannt wurde — sie haben ilni verspottet, in den Schmutz ge-
zogen, aber sieh seinem Eindruck doch nicht entziehen können,
da das Verhalten der Christen dem Namen entsprach ^ Nicht
nur als ädelcpoi bezeichneten sich die Christen, sondern auch als
adslcpoT}]? (I Pet. 2, 17; 5, 9 und sonst). Wie sicher und geläufig
der Name war, und wie ihm wirklich das Verhalten entsprach-,
muß man, abgesehen von den neutestamontlichen Schriften (schon
Jesus selbst hat die Bezeichnung gebraucht und sie stark betont) ^,
an dem I. Clemensbrief, der Didache und den Schriften der Apolo-
geten studieren*. Auch der Name „Bruder" trat aber, obschon
er sich länger hielt als die Bezeichnung „Heilige", seit dem Ende
des H.Jahrhunderts zurück*'', oder vielmehr — nur die Geistlichen
nennen sich untereinander wirklich noch Brüder^, und es galt als
besondere Ehre, wenn ein Priester einen Laien mit „Bruder"
titulierte'^. Fast nur in der Predigt erhielt sich das „fratres",
^) S. die Urteile der Heiden bei den Apologeten, vor allem bei TertulL,
Apol. 39 und Minucius, Octavius 9; 31; cf. Lucian, Peregi-. Prot. Tertullian
konstatiert, daß sich die Heiden über die Brüderlichkeit der Christen ei--
stamit haben: „Sehet, wie lieb sie sich untereinander haben." — In heid-
nischen Vereinen findet man den Brudernamen auch, doch ni. W. nicht oft.
Nach Act. 22, 5 und 28,21 muß man annehmen, daß sich auch die Juden
untereinander „Brüder" genannt haben; doch kann die Bezeichnung nicht von
der Bedeutung gewesen sein wie bei den Christen. Weiter, wie der jüdische
Lehrer seine Schüler „Kinder" bez. Söhne (und Töchter), sie ihn „Vater"
nennen, so finden sich diese Bezeichnungen sehr häufig auch in dem Verhält-
nis der christlichen Apostel und Lehrer zu ihren Schülern (s. die zahlreichen
Stellen bei Paulus, Barnabas etc.).
-) Näheres darüber und über die Bedeutung dieser Tatsache für die
Mission s. im 3. Kapitel des 2. Buches.
*) Cf. Matth. 23, 8 (s. c); 12, 48: Jesus spricht von den Jüngern: Idov rj
fit]Tr]Q fiov xal Ol ä8elq}oi fiov. Sie sind also nicht nur Brüder, sondern auch
seine Brüder. Aber diese "Wendung — dem Paulus geläufig, s. Rom. 8, 29:
jiQwröroyog iv nolloT? aÖelffoTg — ist später nicht mehr häufig. Doch nennt
Tertullian sogar das Fleisch „Christi soror", s. de resurr. 9, vgl. auch de
carne 7 fin.
*) Stoisch gerichtete Apologeten wie TertuUiau beschränkten den
Namen „Brüder" nicht auf die Glaubensgenossen, sondern bezogen ihn auf
alle Menschen (Apol. 39): „Fratres etiam vestri sumus, iure naturae matris
unius."
5) Im 3. Jahrhundert findet sich die Bezeichnung noch , aber etwas
spärlicher, s. z. B. Hippolyt in den Philosoph., Acta Pionii 9. „Theoretisch"
bestand natürlich der Name noch lange, s. z. B. Lactant., Div. inst. V, 15:
„nee alia causa est cur nobis invicem fratrum nomen impertiamus, nisi quia
pares esse nos credimus." Augustin, ep. 23, 1: „non te latet praeceptum esse
nobis divinitus. ut etiam eis qui negant se fratres nostros esse dicamus:
Fratres nostri estis."
*) Sie nennen sich aber auch untereinander bereits im 3. Jahrhundert
„dominus".
■') Mit besonderer Freude berichtet Eusebius (Vita Const. III, 24) , daß
342 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
aber Konfessoren durften Geistliche, selbst Bischöfe, als Brüder
anreden (s. Cypr. ep. 53)^.
Weil sich die Christen im apostolischen Zeitalter als „Heilige''
und als „Brüder" und in diesem Sinn als das wahre Israel und
zugleich als Neuschöpfung Gottes wußten^, so bedurften sie einer
solennen Bezeichnung, in welcher ihre geschlossene, gottgesetzte
Natur mid Einheit hervortrat. „M^eÄ^ioT?;?" (s. o.) reichte hier
nicht aus; der JS^ame, den man wählte, war ixy.hjoia (txy.Xijoia rov
■&eov). Es war ein meisterhafter Griff; nicht dem Apostel Paulus
verdankt man ihn, aber auch nicht schon Jesus selbst, sondern
den palästinensischen Gemeinden (die sich also als hnj^ bezeichnet
haben) •'^. Das Wort ist vu'sprünglich gewiß Gesamtbezeichnung ge-
wesen* — der feierlichste Ausdruck, den das Judentum für seine
gottesdienstliche Gesamtheit brauchte, wurde übernommen^ — ;
er ist aber sehr frühe auf die einzelnen Gemeinden und wiederum
auf die gottesdienstliche Zusammenkunft der Gemeinde übertragen
worden. Dieser vielseitige Gebrauch zusammen mit der religiösen
Färbung — „die von Gott berufene Gemeinde'' — und der Mög-
lichkeit der Personifizierung ließ den Begriff" und das Wort rasch
in den Yordera-rund treten*'. Eben weil man diese Bezeichnunc:
der dreimalselige Kaiser in seinen zahlreichen Schreiben au Bischöfe und
an die christlichen Bevölkerungen sie mit „äSEÄgol xai ovvdeodjrovTsc" au-
geredet habe.
^) Die allmähliche Einschränkung des Brudernameus auf den Klerus
und die Konfessoren ist der sicherste Gradmesser für die fortschreitende Ent-
rechtung der Gemeinden.
*) Über die Bezeichnungen , Neues Volk" und „Drittes Geschlecht* s. das
6. Kapitel des 2. Buches.
*) Paulus hat ihn augenscheinlich schon vorgefunden; bereits die
Christengemeinden in .Terusalem und Judäa nannten sich ty.y.h]aiui (Gal. 1, 22).
Jesus hat den Begriff nicht geprägt; nur Matth. 16, 18 und 18, 17 ist das
Wort als aus seinem Munde stammend überliefert, aber beide Stellen sind
kritisch mehr als verdächtig (s. Holtzmanu z. d. St.). Dazu kommt, daß
das, was wir von seiner Predigt wissen, die Möglichkeit nahezu ausschließt,
er habe an die Schöpfung einer besonderen fxy.Xi^ala gedacht (s. Matth. 16, 18)
oder gar schon die Existenz mehrerer fxxX}]o[ai (so Matth. IS, 17) ins Auge
gefaßt.
*) Das kann man noch dem paulinischen Sprachgebrauch entnehmen;
außerdem ist bei solchen Worten die spezialisierende Anwendung immer das
Spätere. Ol ano i»)g saxlrjoiag = Christen findet sich zuerst Act. 12, 1.
^) ^Cif (^" ^^^' LXX in der Regel mit ty.xXrjoia übersetzt) ist die Ge-
meinde in ihrer Beziehung zu Gott und ist daher feierlicher als das mehr
profane ül" (welches von den LXX stets mit ovvaywp) übersetzt worden
ist). Die Rezeption von ExyJ.yjokt ist also ebenso zu vorstehen wie die von
„Israel", „Samen Abrahams" usw. Im praktischen Gebrauch trat bei den
Juden fxy/.t]oia weit hinter owaywyi'i zurück, und das war für die Christen
sehr günstig.
*) Verwandt mit dem Begriff „>) tyxhjoi'a" ist die auch nicht .selten
Die Namen der Christgläubigen. 343
besaß, war es unnötig-, das Wort „Synagoge" 7A\ übernehmen^.
Dadurch, daß man es nicht übernahm, hoben sicli die Christen
auch terminokigisch scharf vom Judentum und seinen religiösen
Yersammhmgen ab, nachdem die innere Trennung eingetreten war.
Als „Kirche" und als „Kirchen" haben die Heidenchristen die neue
Religion von Anfang an kennen gelernt. Ein autoritatives Element
war ursprünglich damit nicht gegeben; aber jede geistige Größe,
die sich als ideal -reale Gemeinschaft gibt, birgt ein solches von
Anfang an in sich: sie hat ihre Ordnungen und Überlieferungen,
ihre besonderen Kräfte und (Organisation; diese sind autoritativ;
dazu: sie selbst trägt den einzelnen und versichert ihm zugleich
den Inhalt, den sie bezeugt. So lesen wir schon im T. Timotheus-
brief (3, 15): olxog &eov, fjrig toxlv t/ixltjoia 'dsov QibvTOi;, oxv'/.og
xal idgaico^ua jfjg äh]&eiaq. „Ecclesia mater" findet sich in der
Literatur des 2. Jahrhunderts öfter. Den vollen Ausdruck braucht
Tertullian (ad mart. 1): „Doraina mater ecclesia." Am wichtigsten
aber war. daß Ey.y.h^oia nicht nur als eine irdische, sondern in
erster Linie als eine himmlische, transzendente Größe gefaßt
wurde "^. AVer zur iy.y.hjoia gehörte, der hatte kein Bürgerrecht
mehr auf Erden ^, dafür aber ein sicheres Bürgerrecht im Himmel.
Diese transzendente Bedeutung des Wortes ist noch im 2. Jahr-
hundert höchst lebendig gewesen, aber im 3. trat sie mehr und
mehr zurück'^.
sich findende Bezeichnung „o Xaog" (im Gegensatz zu „tä k'drif'); sie ist
natürlich auch alttestamentlich bedingt.
') Über den Gebrauch dieses Wortes bei den Christen s. meine .A.n-
merkung zu Hermas, Mand. 11. Man scheute das Wort nicht ängstlich (selbst
Marcioniten haben es für ihr Versammlungsgebäude gebraucht), aber tech-
nisch ist es, ein paar Fälle ausgenommen, nie geworden. Dagegen heißt es
Epiphan. haer. 80, 18 von den Judenchristeu: i^rgeoßvzsgovg ovroi t'/ovoi y.al
aoyiovvaycoyovg. awaycoyt/v 8k ovrot y.alovoi rijv iavitöv sxy.Xrjoiav y.al ovyi
exyJ.rjciav reo Xoioico 8k 6v6f.iari jiwvov oeuvvvovTut. Ob die Judenchristen
wirklich den Namen br,p (iy.yJ.rjoia) verworfen haben, darf man dennoch be-
zweifeln; daß sie ihre Versammlungen und Versammlungsorte owayioyal ge-
nannt haben, ist anzunehmen.
'-) Die Ekklesia ist im Himmel, sie ist vor der Welt geschaffen, sie ist
die Eva des himmlischen Adam, sie ist die Braut Christi, sie ist gewisser-
maßen Christus selbst. Diese paulinischen Gedanken sind nicht vergessen
worden. Im Hermas, bei Papias, im II. Clemensbrief, bei Clemens Alex. etc.
finden sie sich. Tertullian schreibt (de paenit. 10): -In uno et altero Christus
est, ecclesia vero Christus, ergo cum te ad fratrum genua protendis, Christum
contrectas, Christum exoras."
') Die Selbstbezeichnung der Christen als „Fremdlinge und Paröken"
ist im 1. Jahrhundert nahezu technisch geworden (s. die Briefe des Paulus,
I Pet. und Hebräerbrief) ; wirklich technisch aber wurde naooiyJa (und .-ragoi-
xeTv) zur Bezeichnung der einzelnen in der Welt lebenden Gemeinden (zur
Sache vgl. auch Hermas, Similit. I).
*) Das Wort .secta" wird bis tief in das B. Jahrhundert hinein (s. den
344 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Zu der Bezeichnung „«?<xA>;a/a" trat im Laufe des 2. Jahr-
hunderts das Attribut „katholisch" (neben das Attribut „heilig").
In diesem Prädikat liegt an sich kein Moment, welches eine Ver-
weltlichung der Kirche bedeutet. „Katholisch" heißt ursprünglich
die Christenlieit in ihrer Gesamtheit im Gegensatz zu den einzel-
nen Gemeinden (ixxhjoia xa&ohx}/ = jtäoa i) exxXrjoia). Somit
sind die Begriffe „alle Gemeinden" und „die allgemeine Kirche"
identisch. Ein dogmatisches Element lag aber insofern von Anfang
an in dem Begriff der allgemeinen Kirche, als man sich vorstellte,
daß sie durch die Apostel über die ganze Erde hin verbreitet
worden sei, womit die Überzeugung gegeben war, daß nur das
wahr sein könne, aber auch sicher wahr sei, was sich überall in
der Kirche fände. Somit galten die Begriffe „die ganze Christen-
heit", die „über den Erdkreis verbreitete Christenheit" und „die
wahre Kirche'" schon frühe für identisch. Dadurch wurde der
Begriff „kath<>lisch" zu einem prägnanten und hat scliließlich einen
dogmatischen und politischen Inhalt erhalten. Da dies eingetreten
ist, so ist es nicht unzweckmäßig, von vorkatholischem und katho-
lischem Christentum zu sprechen. Der Ausdruck „katholische
Kirche" kommt zuerst bei Ignatius vor (Smyrn. S, 2): o:nov av
(pavfi 6 imoxojTog, txn t6 jrlfjiJ^og torco' (OOJieg onov äv >'/ Xgiorog
'I}]oovg, exFA i) xaOohxi] €xxh]oia, aber es ist hier noch nicht Be-
zeichnung eines neuen Begriffs der Kirche, in welchem sie als
empirische und autoritative Gemeinschaft vorgestellt ist. In dem
Martyr. Polyc. inscr. ; 16, 2: 19, 2 ist das Wort vielleicht inter-
poliert (hier ist nämlich katholisch = rechtgläubig: ;; iv Zjuvqvij
xaOohxi) Exxhjoia). Aus Iren. III, 15, 2 („Valentiniani eos qui
sunt ab ecclesia ,communes'' et ,ecclesiasticos'' dicunt") folgt, daß
zu seiner Zeit die Yalentinianer die rechtgläubigen Christen
„Katholiken" und „Ecclesiastiker" genannt haben ^. Irenäus selbst
braucht das Wort noch nicht; er hat aber die Sache (s. I, 10, 2;
11. 9, l etc.; ähidich Serapion bei Euseb., h. e. V, 19: näoa f] ev
xoofioj ädeXq)(')Tt]g). Als Bezeichnung der' rechtgläubigen, siclitbaren
Kirche findet sich xnf)ohx6g — nach dem Mart. Polycarpi — im
Sprachgebrauch des Cyprian) unbefangen von den Christen selbst zur Be-
zeichnung ihrer Gemeinschaft gebraucht. Es ist aber natürlich nicht tech-
nisch, sondern ganz neutral.
') 'ExxXrjaiaTiHol. war aber auch im 3. Jahrhundert eine Selbstbezeich-
nung der rechtgläuliigen Christen gegenüber den Häretikern. Das geht aus
den Werken des Origenes hervor; s. Hom. in Luc. XVI t. 5 p. 143: „ego quia
opto esse ecclesiasticus et non ab haeresiarcha aliquo, sed a Christi vocabulo
nuncupari", cf. auch Hom. in Jesaj. VII t. 13 p. 291; Hom. in Ezech. II, 2
t. 14 p. 34: „dicor ecclesiasticus"; Hom. in Ezech. III, 4 t. 14 p. 47: „eccle-
siastici" f im Gegensatz zu Valentinianeru und Basilidiauern] ; Hom. Ezech. VI, 8
t. 14 p. ÜO, cf. 120 etc. etc.
Die iSameu der Christgläubigen. ;}45
Muratorisclien Fragment (hier schon ..eatholica" ohne „ecclesia",
Avie später im Abendhmd hänfig). beim antimontanisrischen Ano-
nymns (Enseb., h. e.Y, 16, 9), bei Tertullian (z. B. de praescr. 2(). 30:
adv. Marc. lY, 4; III, 22), Clemens Alex. (Sti-om. YII, 17. lOlif.),
Ilippolyt (Phiios. IX, 12): Mart. Pionii 2. 9. 13. 19), Cornelius papa
(bei Cypr.. ep. 49. 2), Cyprian. Der Ausdruck „eatholica traditio"
bei Tertull., de monog. 2, „fides eatholica" bei Cyprian ep. 25.
y.avojv y.ado/uy.ög im Mart. Polyc. rec. Mosq. fin. und Cypr. ep. 70. 1.
„eatholica fides et religio" im Mart. Pionii Is. Sonst kommt das
AYort noch in verschiedenen Yerbindungen in der altchristlichen
Literatur vor. Li abendländische Symbole ist der Zusatz „eatholica"
erst verhältnismäßig spät. d. h. frühestens im 3. Jahrhundert, ge-
drungen: im alten römischen Symbol fehlt er. —
Wir kommen zum Xamen „Christen". Er ist der Hauptname
geworden. Ihn brauchte die römische Obrigkeit sicher seit der
Zeit des Trajan (Plinius: „cognitiones de Christianis", Reskripte),
wahrscheinlich schon 40 — 50 Jahre früher (I Pet. 4. 16: Tacitus);
unter diesem Xamen waren die Anhänger der neuen Religion im
Yolke bekannt (Tacitus; auch die berühmte Suetonstelie ist hierher
zu ziehen).
Lucas hat uns mitgeteilt, wo der Xame entstanden ist. Nach-
dem er die Gründung der (heidenchristlichen) Gemeinde in Anti-
ochien erzählt har. fährt er fort (11. 26): yoijuaTioai Troojiojg Iv
\Avrtoyeia rovg juaß)jTa.g Xgionavovg [Xoyjoriavovg] . Die Annahme
ist nicht notwendig, der Xame sei sofort nach der Stiftung auf-
gekommen: aber einen langen Zeitraum zwischen ihr und der
Xamengebung wird man nicht annehmen dürfen^. Lucas sagt
nicht, wer den Xamen gegeben hat, aber er deutet es doch hin-
länglich an-. Xicht die Christen selbst haben ihn sich gegeben —
M Die Zweifel, die Baur und Lipsius gegeu die Nachricht der Apostel-
geschichte erhoben haben, sind m. E. nicht schwerwiegend. Allerdings sind
die Adjektivbildungen auf „-mj-d," lateinische und zwar spätlateinische
Bildungen (in der Grammatik von Kühner- Blaß werden sie gar nicht
erwähnt). Allein sie müssen durch den Verkehr bereits im 1. Jahrhundert
auch in die griechische Vulgärsprache gedrungen sein. Im Neuen Testament
liest man 'HgcoSiaroi (Marc. 3, 6; 12, 13: Matth. 22, 16), Justin schreibt
Dial. 35 : Maoy.iavol , Ova'/.evjiviavoi, Baoi/.iÖiaroi, ^azoovt/.iavoi , und ähnliche
Bildungen finden sich dann häufig. Will man sehr vorsichtig sein, so mag
man annehmen, daß der Name von römischen Richtern in Antiochien zuerst
geprägt worden und dann ins Volk übergegangen ist. Daß die Christen
selbst lange gezögert haben, sich ,. Christen" zu nennen, ist doch nichts
weniger als auffallend und kann daher nicht gegen den frühen Ursprung des
Wortes angeführt werden.
^) Daß er nicht deutlicher mit der Sprache herausrückt, hat vielleicht
darin seinen Grund, daß der heidnische Ursprung des Namens ihm unbequem
ist; doch ist diese Annahme nicht notwendig.
346 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Lucas hätte sonst nicht /o>//iaT<aat gesagt — ; sie können ihn
sich aber auch nicht selbst gegeben haben: denn das verbietet die
saclilicli unzutreffende Bildung. Eben deshalb kann er auch nicht
von den Juden stammen: nur bei Heiden kann die Bezeichnung
autgekommen sein. Sie haben gehört, daß ein Mann namens
„Christus" [Chrestus] der Herr und Meister der neuen Sekte sei
und haben darnach — als wäre Christus ein Eigenname — das
AVort gebildet ^ wie sie von „Herodiani", „Marciani"usw. sprachen'^.
Audi die Existenz einer Jesus-gläubigen Gemeinde aus den Heiden
setzt der Name voraus: denn solange nur Juden in Antiochien
Jesus -gläubig waren, lag für die Heiden kaum ein Grund vor,
eine innerjüdische Bewegung mit einem besonderen Namen zu
bezeichnen. „Christian!" ist der Name der Heidenchristen-^
Die Christen haben zunächst den Namen nicht adoptiert; er fehlt
') Daß sie von Anfang an gemeint haben, der Name sei „Chrestus" zu
schreiben (nicht Christus), ist möglich — im 2. Jahrhundert ist diese falsche
Meinung bei den Gegnern der Christen allgemein verbreitet, s. Justin,
Apol. I, 4; Theophil, ad Autol. I, 1; Tertull., Apol. 3; Lactant., Inst. IV, 7, 5;
auch Sueton, Claud. 25 und Tacitus (s. unten) — ; aber notwendig ist die
Annahme nicht. Allerdings besaßen die Heiden einen ziemlich gebräuch-
lichen Eigennamen „Chrestus" (aber keinen Namen „Christus") und konnten
daher von Anfang an meinen, ein Mann dieses Namens sei der Stifter der
Sekte.
-) Demgemäß heißt „Christiani" nichts anderes als Zugehörige zu
einem Manu namens Christus. Aristides, Apol. 2: oi XoioTtavol yevsa/.oyovvzai
djio 'h]oov XotoTov. Anders ist der Name bei Eusebius (Demonstr. I. 5) er-
klärt: „Wie wir X^ianavoi heißen, so hießen im alten Bund die Freunde
Gottes XoiazoL"' Das ist natürlich unrichtig. Justin schreibt (Dial. 63): xal
6'n ToTg slg avrov Jiiozevovoi^', wg oi'Oi /mä yv/fj sv ;M<ö ovvaywyij aal /niä
ixiilrjoiq , 6 ?.6yog zoii &sol> (hg ßvyazoi, zi) iy.y.h]aia zi] i^ övöftazog avzov yevo-
fievfi xai ^itzaoyovoY] zov ovoiiazog avzov — Xoiaziavol yag jzävzeg xakovße&a —
[£l'f)r]zai] , ouoicog r/aveowg oi löyoi y.>jovooovoi y.z).. Trj'pho erwidert (c. 64):
eaxoj vf-uv, zcjv s^ Idvwv, y.vQiog xal X^iozog y.ui deög yvüigiCoiierog , (bg ai
ygacfal G7]f.iaivovoiv, oi'zivsg xal ajio zov ovofiazog avzov XQioziavoi xa/.sTa&ac
jzävzF.g eoyjixazE- ^fisTg di , zov üeov zov xat ainov zovzov 7ioi))oavzog /.azgevzai
ovzeg, ov ösö/ns&a zfjg öfio/.oylag avzov ovdk zFjg :joooxvfyo£iog. Origenes, Hom.
in Luc. 16 t. 5 p. 143: „Opto a Christi vocabulo nuncupari et habere nomen
quod benedicitur super terram, et cupio tarn opere quam sensu et esse et
dici Christianus. "
•■') Judenchristen sind zunächst und wahrscheinlich lange Zeit hindurch
mit diesem Namen niemals genannt worden. Ich kenne ein bisher nicht
publiziertes altchristliches Fragment, in welchem sich der Ausdruck Xginziavoi
ZF, xal 'lovbaToi Xqlotov of/oÄoyovvzeg findet (Lietzmann, Gott. Gel. Anz.
Nr. 6 S. 488, vergleicht dazu den Zauberspruch bei Dieter ich, Abraxas
S. 138: ooxi'Qoy ae xaza zov iJsov 'EßgaUov h]oov). Ob Aristo von Pella in
.seinem Dialog die Bezeichnung für Jason „Hebraeus Christianus" selbst ge-
braucht oder der lateinische Übersetzer sie eingeführt habe, weiß man nicht.
Auch im ersteren Fall läge hier keine Instanz gegen die Annahme vor, daß
„Cliristiani" zunächst eine Bezeichnung für die Heidenehristen gewesen ist.
Die Namen der Christgliiubigen. ',)-\~
bei Paulus ganz; er fehlt im Xeueii Testament als Selbstbczeich-
nmig der Christen; denn in den beiden einzigen Fällen, in denen
er sich hier findet, ist er dem Munde der Gegner entnommen K
Vergebens sucht man ihn aucii bei allen sog. apostolischen Vätern,
mit Ausnahme des Ignatius, bei dem er ganz geläufig ist^. Das
ist eine schöne Bestätigung der Apostelgeschichte; denn Ignatius
ist Antiochener^. In Antiochien also ist der Xame nicht nur ent-
standen, sondern er ist dort auch u. W. zuerst zur Selbstbezeich-
nung der Christenheit geworden. Wahrscheinlich aber hatten ihn
z. Z. Trajans auch die kleinasiatischen Christen schon seit längerer
Zeit rezipiert. Allgemeine Rezeption ist erst seit dem Ende der
Regierung Hadrians und der des Pius nachweisbar. Tertullian
aber behandelt den Xamen bereits so, als hätten die Christen ihn
sich selbst gegeben'^.
Schließlich noch ein AVort zur Tacitusstelle (Annal. XV. 44).
Daß die von ihm erwähnte Verfolgung wirklich eine Christenver-
folgimg (keine Judenverfolgung) war, ist gewiß: nur daran könnte
man zweifeln, ob nicht der Gebrauch des Wortes „Christiani^'
(„ quos per flagitia invisos vulgus Christianos appellabat'') ein
Hysteron-Proteron ist. Allein auch dieser Zweifel scheint mir
ungerechtfertigt. Sind die Christen etwa um die Jahre 40 — 45
in Antiochien so genannt worden, so ist nicht abzusehen, warum
der Name nicht im Jahre 64 in Rom bekannt gewesen sein kann,
auch wenn ihn die Christen nicht selbst verbreiteten, sondern er
nur wie ein Schatten mit ihnen ging. Auch sagt Tacitus (bez.
seine Quelle) nicht, daß der Xame eine Selbstbezeichnung sei,
sondern er sagt ausdrücklich das Gegenteil: das Volk nennt sie
so. Die Mitteilung des Tacitus schien aber insofern bisher nicht
ganz verständlich, als er zuerst die Erfindung der Bezeichnung
„Christiani" dem „Volke'' zuschreibt, dann aber selbst fortfährt
und berichtet, der „autor nominis" sei Christus. Ist dem so, dann
hat das „Volk" doch etwas sehr Selbstverständliches getan, indem
es die Anhänger des Christus „Christen" nannte! Warum markiert
also Tacitus die Bezeichnung „Christen" als eine appellatio vulgi?
') I Petr. 4, 16: /U7j rig vfiöJv :raa%ha) w? (povevg 7} H?J.-TT>jg ....?(' Sk
(bg XQiaziavög , also handelt es sich hier um offizielle tituli criminum. Act.
26, 28 sagt Agiüj^pa: h' d/Jyco fie :;Tsid£ig Xoioziavov :xoLpjoai.
■) Ignatius braucht ihn sogar als Adjektiv (Trall. 6: xQioziavtj igocp^)
und bildet das neue Wort Xgcariaviafiög (Magn. 10; Rom. 3; Philad. 6).
^) Auch Lucas ist wahrscheinlich Antiochener von Geburt gewesen
(s. d. alte Argumentum zum Ev. und Eusebius); ebendaher weiß er von dem
Ursprung des Namens.
*) Apol. 3: ^Quid novi, si aliqua disciplina de magistro cognomentum
sectatoribus suis inducit? nonne philosophi de autoribus suis nuncupaiitur
Platonici, Epicurei, Pythagorici?"
348 Die Missionare ; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Um das Rätsel zu lösen, habe ich früher daran gedacht, das Volk
habe die Christen in einem obscönen oder verächtlichen Sinn so
genannt (ich erinnerte mich an „crista", bez. auch an das m. W.
nur einmal bei Arnobius IT, US vorkommende „panchristarii"; „quid
fullones", heißt es dort, „lanarios, phrygioues, cocos, panchristarios,
muliones, lenones, lanios, meretrices?"), und dies habe Tacitus
andeuten wollen, dabei aber selbst den wahren Ursprung des
Wortes aufdeckend. Allein diese Annahme war prekär. Durch
eine neue Yergleichung der Tacitus-IIandschrift (s. G. Andresen,
Wochenschr. f. klassische Philol., 1902, Nr. 28, Kol. 780 f.) ist das
Rätsel m. E. gelöst. In der Handschrift hat, wie ich mich selbst
nach dem Faksimile überzeugt habe, ursprünglich „Chrestianos"
gestanden und erst nachträglich ist das Wort korrigiert worden
(dagegen ist gleich darauf „Christus", nicht „Chrestus" geschrieben).
Nun ist alles klar. Tacitus sagt, das Volk nenne diese Sekte
„Clirestiani": er aber — auf besseres Wissen gestützt, wie ja auch
Plinius „Christiani" schreibt - korrigiert stillschweigend diese
Bezeichmmg, indem er den „autor nominis" richtig „Christus"
nennt. Übrigens hat Blaß die neue Lesung in der Tacitusstelle
schon im voraus konjiziert, und er hat Recht bekommen. Schließlich
ist noch darauf hinzuweisen, daß das „appellabat" auffallend ist.
Warum schrieb Tacitus nicht „appellat"? Wollte er andeuten,
daß man jetzt allgemein über den Ursprung des Namens auf-
geklärt sei ^ ?
Noch ist eines Namens zu gedenken, der freilich niemals wirk-
lich technisch, aber sozusagen halbtechnisch geworden ist: oTon-
Tiwrrjg Xqiotov (miles Christi)^. Bereits dem Paulus ist das Bild
so geläufig gewesen, daß er es in den verschiedensten Wendungen
gebraucht; man vergleiche die großen Schilderungen II Cor. 10, 3 — 6
(oTQaTsvojue&n — tu ojiXa rrjg orgaTeim; — ■ Jigog y.a&algeoiv oivqo)-
jiidTO)v — koyiojLiovi; y.aOaioodvTeg — aiyjialaniCovTeg) und die aus-
geführten Bilder Ephes. (3, 10 — 18, ferner auch I Thess. 5, 8 und
1) Lietzmann (Gott. Gel. Anz. 1905 Nr. 6 S. 488) hält die oben ge-
sehene Erklärung für zu künstlich: „Tacitus will nur sagen .Nero bestrafte
die sogenannten Christiani, qui per flagitia invisi erant', aber in seiner
Manier zieht er das zu einem Satze zusammen, wodurch das für , erant'
richtige Tempus auf das weniger geeignete , appellabat' übertragen wird.
Daran knüpft sich dann ganz natürlich eine historische Bemerkung über
Herkunft und Art der erwähnten Sekte." Aber sollte das Zusanmieutreffeu
eines , weniger geeigneten" Tempus mit dem Wechsel von „Chrestiani Christus"
zufällig seinV
■■^) Nach dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Werks habe ich ausführ-
licher über dieses Problem gehandelt in dem Büchlein: ,,Militia Christi.
Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jabr-
hundetten", 1905.
Die Namen der Christgläubigen. 349
1 Cor. 9, 7; TI Cor. 11,S; man beachto weiter, daß er seine Mit-
gefangenen „^ritkriegsgefangene" nennt (Rom. 16, 7; Col. 4, 10;
Philem. 2;>), seine Mitarbeiter „Mitsoldaten" (Phil. 2, 25; Philem. 2).
In den Pastoralbriefen treffen wir dasselbe Bild wieder (I Tim. 1,18:
Iva oTQarev}] i)]v y.alip' orgmeiav, II Tim. 2, 3f. : ovvxaxoTiddi^oov
cos y.albg OTQarKÖTijg Xq. '/.• ovÖ8ig OTQaTsvojiievog ifi7i?JxFTai TaTg
xov ßiov nQayjiiazEiaig, Tra to> oioaTaXoyijoavTi ugeoi]. eäv dk ä&h'jo^j
Tig, ov otecparovTni ear /<>) rouiuMg di^h'jo}], II Tim. 3,6: alyjiaXcoTi-
CovTeg ywaiHaoia). Die beiden militärischen Grnndsätze waren schon
im 1. Jahrhundert für die Apostel und Missionare festgestellt: (l) sie
haben Anspruch ihren Lebensunterhalt („Sold") von anderen (den
Bekehrten, den Gemeinden) zu empfangen, (2) sie dürfen sich
nicht in die bürgerlichen Geschäfte verflechten. Das Bild ist seit-
dem in der Kirche nicht mehr untergegangen'^ und hat sich
namentlich bei den Lateinern (vor allem für die Märtyrer, aber
auch für die Christen überhaupt) so fest eingebürgert^, daß „milites
Christi" als Selbstbezeichnung der Christen bei ihnen fast technisch
geworden ist; man vgl. die Schriften Tertullians und vor allem den
Briefwechsel Cyprians — es findet sich kaum ein Brief von ihm,
der nicht die Christen als milites dei et Christi oder als milites
Christi bezeichnet. Hier heißt auch Christus der „impenitor" der
Christen^. Daß die Abendländer das Bild bevorzugten und in
ihre festen Vorstellungen aufnahmen, kann man aus dem mehr
') Man vgl. z. B. Ignat. ad Polyc. 9 (wo auch die lateinisch -technischen
Ausdrücke sehr bemerkenswert): dgecxere (<> OTQaTEvea&e, acp'' ov xai rä (jt^xüria
y.ouiaeoOE- fiijn; v/uov Öeaeormg evQEdfj- ro ßä:inofia vficöv t.i£vhoi dx; Öji?m
[Schild], 7j aioTig w? TiEQixtqiaXaia , r) dyu.i}] cog bögv , i] Vjiofiovlj wg .lavojiUa-
rä ÖE.-TÖatia v/iojv tu k'oya vucör , Iva xö. äxxSTiTa v/iöii' ä'gia yoinatjods (cf. ad
Smj'rn. 1 : Iva änij ovaoijfior Eig loig alcdrug).
-) Schon der I. Clemensbrief ist hier sehr charakteristisch. Nicht nur
braucht er militärische Bilder (z. B. c. 21 : fu) hnoxaxzETv tjjuäg djro rov {^e)J]-
fiaxog avtov , cf. c. 28: xiöv avxofio^.ovrrwr' dji' ainov), sondern er stellt c. 37
das römische Militär den Christen als Muster und Vorbüd auf: ZrQarEvow-
/iiE&a ovv, ärdgEg dÖEkqoi, fiExu ndai-jg ExxEVslag iv xoig dfiojf(Oig jrQooxdyjiiaoiv
avxov' xaravor]ocofM£v xovg oxgaxEVO/iiEvovg xoTg rjyovfdvoig rji.icov, jröjg EVzÜHXcog,
7io)g EVEiHxwg , jiwg v:;ioxexayf(Evcog ejuxeIovoiv ra 8iaxaoo6/HEra ' ov jidvxEg Etoiv
EJiaQxoi ov8e yüdaQXOi ov8e ExaxövxaQXOi ovöe 7i£VTi]x6vxaQXOc ovSe t6 xa^E^T/g,
«A/' k'xaoTog Ev toj ISicp xdyfian zu EJKTaaaöiiEva v.-io xov ßaoilscog xcu xcov i/yov-
J.IEVOJV e.-iixe/.e7.
') Cf. ep. 1.5, 1 (au die Märtyrer und Konfessoren): „nam cum omnes
milites Christi custodire oportet praecepta imperatoris sui [ebenso Lactan-
tius, Instit. VI, 8 und VII, 27], tunc vos magis praeceptis eins obtemperare
plus convenit." Der Ausdruck „castra Christi" ist Cyprian besonders geläuing;
vgl. auch im Zusammenhang mit dem militärischen Bilde den Ausdruck
„unitas sacramenti" ep. -54, 1. Cf Pseudoaugustin (Aug. Opp. V App. p. 150):
„Milites Christi sumus et Stipendium ab ipso donativumque percepimas." —
Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß in der alten Christenheit das
;>Ö0 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
aggressiven und zugleich aufs Praktische gerichteten Sinn derselben
erklären. Unterstützt wurde die Einbürgerung durch den Umstand,
daß im Abendland das Wort „sacramentum" (für jedes juvar/joiov,
aber auch für alles Heilige) sehr geläufig war, und daß speziell
auch die Taufe bez. das Gelöbnis bei derselben „sacramentum"
hieß. „Sacramentum" war aber ein militärisches Wort („Fahnen-
eid"): somit empfanden sich alle abendländischen Christen auf
Grund des Sakraments notwendig als Soldaten Christi (man ver-
gleiche besonders Tertullians Schrift De Corona milit.). Daß von
hier aus das Aufkommen des Wortes „pagani" für die Heiden
zu erklären ist, ist jüngst wahrscheinlich gemacht worden (Zahn,
Neue kirchl. Zeitschrift 1S99 S. 2Sff.). Man kann nämlich nach-
weisen, dali) das Wort schon im Gebrauch war (erste Jahre Valen-
tinians L, s. Theodos. Cod. XYI, 2, Ib), als die Entwicklung noch
lange nicht so weit vorgeschritten war, daß man alle Nichtchristen
als „Dörfler" bezeichnen konnte. Dann aber muß das Wort den
auch sonst nachweisbaren Sinn „Zivilisten" haben im Gegensatz
zu „milites". Die NichtChristen sind Leute, die Gott bez. Christo
den Fahneneid nicht geleistet, also am Sakrament nicht Anteil
haben (Lactant.; „sacramentum ignorantes"), d. h. Zivilisten, also
„pagani" ^.
christliche Kriegertum stets ein Bild geblieben ist (im stärksten Unterschied
zum Islam). Nur Tertullian hat im Apologeticus mit dem Gedanken gespielt,
die Christen könnten einmal gegen die Römer die Waffen erheben wie die
Parther und Marcomannen. Aber eben nur gespielt hat er mit dem Gedanken;
er weiß sehr wohl und sagt es, daß den Christen das „occidere" nicht erlaubt
sei, sondern nur das „occidi".
1) Auf Tertull. de corona 11 („perpetiendum pro deo, quod aeque fides
pagana condixit" .... „apud Jesum tam miles est pagauus fidelis, quam
paganus est miles fidelis", s. de pallio 4) darf man sich dafür, daß paganus
= heidnisch sei, nicht berufen; denn hier bedeutet , fides pagana" nicht, wie
man vermuten könnte, den heidnischen Glauben, sondern die Glaubenspflicht
derer, die nicht dem Militärstande angehören, also der Zivilisten. Die gleich-
folgende Ausführung macht das klar; aber sie zeigt auch, daß ,, paganus"
als „Zivilist" ganz geläufig gewesen ist. In der Tat läßt sich das Wort in
dieser Bedeutung schon bei Tacitus (an sieben Stellen) belegen. Diese
Bedeutung ist sicherlich aus der Soldatensprache in den allgemeinen Sprach-
gebrauch im Laufe des 1. und 2. .Jahrhunderts übergegangen. Die gewöhn-
liche Erklärung des Worts = Dörfler stützt man (so noch Schubert, Lehr-
buch der Kirchengeschichte I S. 477) auf Ulfilas, der entsprechend das Wort
, Heiden" (von Heide = der pagus) geprägt habe, ferner auf die späteren
lateinischen Kirchenväter, die jjagaui als Dörfler erklären (s. z. B. ürosius,
adv. paganos, praef c. 9: „pagani alieni a civitate dei ex locorum agrestium
conpitis et pagis pagani vocantur"). Allein Wilh. Schulze (Berliner Akad.
Sitzungsber. 1905, 6. Juli) ist der Meinung, daß das Wort , Heiden" bei Ulfilas
nichts mit der „Heide" zu tun hat, sondern ein Fremdwort ist, nämlich =
yßvo;. das damals auch nh'og gesprochen worden sei, wie die Wiedergabe bei
den Kopten und Armeniern beweise. Sollte diese Ableitung aber auch
Die Namen der Christgläubigen. 3Ö1
Die Heidon haben die christlichen Selbstbezeichnungen, wie
sie sie aus dem Munde der Christen hörten, zum Teil rezi{)iertK
aber natürlich am häufigsten den von ihnen selbst geprägtem
iSTamen „Christen" gebraucht. Daneben finden sich Schimpf- und
Spottnamen wie „ Cxaliläer", „Eselsanbeter" (Tertull., Apol. IG,
cf. Minucius). „Magier" (Acta Theclae, Tertull.), „Drittes Ge-
schlecht", „copria" ^. „sarmaticii" und „semaxii" ^ (Tertull., Apol. 50).
Zu den „Xamen" der Christen gehört auch die Behandlung
der Frage, ob die einzelnen Christen sich selbst als Christen neue
Namen gegeben haben bez. wie sich die Christen in den ersten drei
unrichtig sein, so kann doch weder Ulfilas noch einer der späteren Lateiner
entscheiden, was paganus ursprünglich bedeutet hat. Sie kannten eben den
ursprünglichen Sinn nicht mehr. Um das Jahr 360 — von der Inschrift
CIL X, 2. 7112 sehe ich ab — können die nicht-christlichen Religionen noch
nicht als , Bauernreligionen " bezeichnet worden sein. Jeder Zweifel wäre
beseitigt, wenn die Aufschrift des sog. Carmen apolog. des Commodian (wie
Gennadius, de vir. inl. 15 nahelegt) „Adversus paganos" gelautet hätte. Leider
entbehrt das einzige uns erhaltene Manuskript des Titels. — Der Ursprung
des militärischen Bildes liegt — bevor im Abendland das Wort „sacrameu-
tum" seine Folgen geltend machte — in dem großen Kampf, den jeder Christ
mit dem Satan und den Dämonen zu kämpfen hat (Ephes. 6, 12: ovx sonv
7]fiTv rj iiäXr) Tioog aiua y.ai aäoHa, aU.ä jioog zag dg/dg, jiQog rag i^ovaiag, jcgog
Toi'g y.oa^ioy.QÜzooag lov oxözovg zovzov, nQog za Jivev[-mziy.a zfjg jiovtjQiag sv roTg
EJiovQavLotg). Nachdem sich der Staat feindlich gegen die Christen gestellt
hatte, ergab sich auch hier das Bild vom Soldatenstand und Kampf wie von
selbst. Gott schaut auf seine Kriegerscharen herunter: .in congressione
nominis sui desujjer spectans volentes conprobat, adiuvat dimicantes, vin-
centes corouat etc." (Cypr., ep. 76, 4). Ausgeführte militärische Bilder fehlen
nicht, vgl. z. B. den 77. an Cyprian gerichteten Brief (c. 2) : „tu tuba canens
dei milites caelestibus armis instructos ad congressionis proelium excitasti
et in acie prima spiritali gladio diabolum interfecisti, agmina quoque fratrum
liinc et inde verbis tuis composuisti, ut insidiae inimico undique tenderentur
et cadavera ipsius publici hostis et nervi concisi calcarentur.'" Die africa-
nischen Märtyrerakten sind angefüllt von militärischen Ausdrücken und
Bildern, s. z.B. die Acta Saturnini et Dativi c. 15 (Ruinart, Acta Mart.
p. 420). Daß die „milites'- des Mithras auf die christlichen Vorstellungen
vom Christenstand als einem Kriegerstand eingewirkt haben, läßt sich nicht
nachweisen und ist auch nicht wahrscheinlich (bei Mithras sind die ,.milites''
ja nur eine der sieben Stufen, und direkte Entlehnungen aus einem heidnischen
Kult, die schon in ältester Zeit universal-kirchlich geworden wären, sind über-
haupt nirgends anzunehmen). Dagegen ist es wahrscheinlich, daß Christen
im Heere für sich dieselbe Behandlung und Rücksicht wünschten, die dort
die Mithras -Verehrer genossen. So erklärt sich auch die Handlungsweise
jenes Soldaten, die Tertullian in der Schrift De Corona besprochen hat.
') Celsus spricht z. B. von der Kirche bez. „der großen Kirche" (im
Unterschied von den kleineren christlichen Sekten).
^) S. Commod., Carmen apolog. 612; Lactant. V, 1, 27.
^) Verhöhnung der Todesarten der Christen als Märtyrer.
352 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Jahrhunderten zu den gebräuchlichen heidnischen Namen gestellt
haben. Der Exkurs Ji, der diesem Kapitel angehängt ist, soll auf
diese Fragen Antwort geben.
Exkurs I.
Ol ^PiÄoi,.
Der Name (PIXoi (oixeioi) tov Deov („amici dei'^ „cari deo")
wurde von den Christen nicht selten, wenn auch nicht eigentlich
technisch, als Selbstbezeichnung gebraucht. Er geht auf das
Prädikat Abrahams, der in der jüdischen ITberlieferung ,,Freund
Gottes" hieß, zurück^ und besagte, daß jeder einzelne Ohrist —
später freilich wurde die Bezeichnung vornehmlich auf die Märtyrer
und Konfessoren angewendet — in demselben Verhältnis zu Gott
stehe wie Abraham 2. Nach zwei Stellen in den Evangelien hat
Jesus seine Jünger seine „Freunde" genannt: aber diese Be-
zeichnung (bez. o? yvoxjfuof) hat später nur selten nachgewirkt '■^.
') S. Jacob. 2, 2o mit den Noten der Ausleger. Auch die Propheten
wurden manchmal so genannt, s. HippoL, Philos. X, 33: dixatoi urdoeg ysys-
vip'iai (fÜMi §Eov- ovToi nooffrjxaL yJy.}.i]yTai. Justin nennt die Propheten, die
Verfasser der alttestamentlichen Schriften, Xoiotov qiloi (Dial. c. Tryph. 8).
Johannes der Täufer als qllog 7)/oor, .loh. 3, 2'J. Cf. Euseb., Demonst. I, 5.
-) Ephes. 2, 19: ovxhi eoze ^iroi xal uüooiHoi, all' eois ovi.i7ioiTTai t&v
äyUov xoX oiy.fini Tor Ihov. Valentin (bei Clemens, Strom. VI, 6, 52): Xaög 6
lov ■>Y/am]itfvov , 6 (j dovnero? Hat (/ iltov avröv. Clemens, Protrept. 12, 122: el
y.oira tä f/ iloiv, dsocfiUjg de 6 ävd()cojTog zco ßeö) — xal yag oi-r (j?i}.og fisanEV-
ovtog Tov ?.öyov — yivsTai öl] ovv zä mnvza zrw uvOqmjtov, ozi za jzdvza zov Oeov,
y.al y.oiva afupoTv zolv (pü.oiv zu mirza, zov dsov xal zov dv&Qcojzov. Paedag. I, 3:
(pi/Mg 6 är&QMjiog zo> dsM [um der x^rt der Schöpfung willen; also sind alle
Menschen Freunde Gottes]. Origenes, de princ. 1,6, 4: „amici dei". Tertull.,
de poenit. 9: ,,cari dei" [die Märtyrer]; Cypv., ad Demetr. 12: ,cari deo".
Pseudocleraens, Recogn. I, 24: „Ex prima voluntate iterum voluutas; post
haec mundus; ex mundo tempus; ex hoc hominum raultitudo; ex multitudine
electio amicorum, ex (piorum unaniniitate pacificum construitur dei regnum."
Pseudocypr., De singul. der. 27: „amici dei".
^) Luc. 12, 4: Uyoi v/nh', zoTg cplloig fiov. Job. 15,1311'.: vfuTg cpÜMi /lov
iOZE , Euv :zoif/zE u EVZEX'/.oitai vfuv. ovyJ.zi ?Jyco vfiäg 6ov/.ovg .... {\näg öe
El'Qfjy.u (pü.ovg , özi jrärza ä yxovaa nagä zov jzazQÖg f(ov iyrojgioa viitr. Daher
die Jünger als yrojQtfioi Jesu (Clemens, Paedag. I, 5 init. Iren. IV, 13,4: „In
eo quod aniicos dei dicit suos discipulos, manifeste ostendit, se esse verbum
dei, quem et Abraham . . . sequens amicus factus est dei . . . quoniam ami-
citia dei ovyyo)g>jziy.i'i eoti zijg äüaraaiug zolg Ejrdaßovan' avzyv'^). Ein apo-
kryphes Ilerrnwort sind vielleicht die von Clemens (Quis dives 33) zitierten
Worte: öwom ov /wvor zoTg rpü.oig, uU.a yal zotgifü.otg zmv cpi'hor, doch ist die
Herkunft dos Satzes nicht sicher (s. Jülicher, Theol. Lit. Ztg. 1894 Nr. 1).
Ol ^iloi. 353
Zu unterscheiden von dem Ausdruck „(p'doi xov d^eov (Xqiotov)"
ist der andere „ol cpiXot". Haben sich die Christen auch als „die
Freunde" untereinander bezeichnet? Man weiß, welche JJedcutung
die Freundschaft in den o;riechischen Philosophenschulen gewonnen
hatte. Niemand hat über sie edler und wärmer gesprochen als
Aristoteles; nirgendwo ist sie lebendiger verwirklicht worden als
in den Schulen der Pythagoreer und Epicureer, und wenn jene
sogar bis zur Gütergemeinschaft fortschritten , so hat der Samier
sie noch übertroffen durch die Anweisung: juij xmazideodai läg
ovatag e^g to noivbv UTnoTovvTCov ya.Q to roiourov' f.i S ämoxwv,
ovöt- qihov. An dem Verkehr des Socrates mit seinen Schülern,
die zugleich seine Freunde waren, besaß man ein fortwirkendes
Yorbild : wie er mit ihnen gelebt hat, wie er bis zur Todesstunde
aufgeschlossen und tätig für sie geblieben war, wie alle Erkenntnis,
die er sie lehrte, sie als Freundeswort ergriffen hat, blieb unver-
geßlich. Die auf die Bedürfnislosigkeit des vollkommenen Weisen
gestellte Ethik der Stoa ließ zwar keinen Raum für die Freund-
schaft: aber, wie so oft, durchbrach auch hier der Stoiker die
Theorie seiner Schule: Seneca ist nicht der einzige unter den
stoischen Moralisten gewesen, der die Freundschaft verherrlicht,
ihre sittliche Notwendigkeit nachgewiesen hat. Kein Wunder,
daß sich die Epicureer, wie vor ihnen schon die Pythagoreer,
einfach „die Freunde" genannt haben. Es war der schlichteste
und zugleich tiefste Ausdruck für die innere Lebensgemeinschaft,
in die man sich durch den Eintritt in den Schulverband versetzt
wußte. Mochte man an die gemeinsame Verehrung des Meisters
oder an die Gremeinschaft der Gesinnung imd der Bestrebungen
oder an die Hilfeleistung denken, die man den Genossen schul-
dig war — die Bezeichnung „die Freunde" deckte alle diese
Begriffe.
Man sollte denken, daß sich auch die Christen „die Freunde"
genannt haben; allein kaum ein Ansatz findet sich dafür. In
einem der „Wirstücke" der Apostelgeschichte (27, 3) heißt es,
es sei dem gefangenen Paulus gestattet worden ngog rorg (plXovg
jTOQev&EVTi ETiLfXEkEiag Tvxelv. Wahrscheinlich bedeutet hier ol rpiloi
nicht spezielle Freunde des Apostels, sondern Christen überhaupt
(die sonst in der Apostelgesch. stets ol äöeXcpoi heißen). Dies ist
aber auch die einzige Stelle in der ältesten Literatur, die ange-
führt werden kann — der klassisch gebildete Lucas hat sich
einmal die klassische Bezeichnung zu wählen erlaubt. In
III Joh. 15 (dojidCovrai oe ol (pilof äojid^ov rovg (piXovg xax
övojiia) sind mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht alle Christen
in Ephesus und am Ort des Adressaten, sondern spezielle Freunde
gemeint. Augenscheinlich hat sich die naheliegende Bezeichnung
Harnack, Mission. 2. Aufl. 23
354 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
ol (piloi in dor großen Kirche nicht eingebürgert, weil man eine
noch innigere und wärmere bevorzugte: ol ädeXtpoi (s. o.
S. 340 ff.). In gnostischen Eo-eisen dagegen, die stärker unter dem
Einflüsse der griechischen Philosophie standen, scheint die Be-
zeichnung „ol (piAoi" im 2. Jahrhundert nicht gefehlt zu haben.
So hat Valentin eine Homilie geschrieben jieqI (pllwr (s. Clemens,
Strom. VI, (), 52), Epiphanes, der Sohn des Carpocrates, gründete
einen christlichen kommunistischen Verein nach dem Vorbild der
Pythagoreer und vielleicht auch nach dem Vorbild der epi-
cureischen Schulorganisation (Clemens, Strom. III, 5 — 9), und in
der wahrscheinlich gnostischen Abercius - Inschrift heißt es, daß
der Glaube überall den Fisch (joTg) cpikotg als Nahrung darge-
boten habe. Clemens Alex, würde auch nichts gegen die Be-
zeichnung des Kreises der wahren Grnostiker als „Freunde" ein-
gewendet haben. Von ihm stammt das schöne Wort (Quis dives 32):
Ol) jU7] ovo' eItifv 6 y.vQiog (Luc. 19, 6) Aög, ij Uagcioxeg , t)
EvEQyhi'joov, i) Bo})di]oov <PiXov dh Jiolrjoai' 6 dk (piXog ovx
ex ßiäg döoecog ylverai, dX?,' i^ öXr]g ävajiavoecog y.ai ovvovoiag
jnaxgdg.
Exkurs II.
Die Rufnamen der Christen.
Reichen die biblischen Rufnamen schon in die drei ersten
Jahrhunderte zurück? Die Antwort auf diese Frage umschließt
einige lehrreiche Beobachtungen.
Schlagen wir die ältesten Synodalakten auf, die wir besitzen,
die Akten einer nordafricanischen Synode vom Jahre 256 (in den
Werken Cyprians). Siebenundachtzig Bischöfe haben hier ihr
Votum abgegeben. Unter den siebenundachtzig Namen, von denen
die Mehrzahl lateinisch, eine beträchtliche Anzahl griechisch ist,
findet sich kein einziger alttestamentlicher Name, und nur zwei
neutcstamentliche, nämlich Petrus (Nr. 72) und Paulus (Nr. 47).
Man brauchte also in der Mitte des dritten Jahrhunderts in Nord-
africa noch ganz unbefangen die alten heidnischen Namen; das
Bedürfnis, sich christliche Namen zu geben, regte sich kaum noch.
So finden wir es auch in allen andern Gebieten der Christenheit:
Inschriften und Schriftwerke bezeugen es. daß die Christen bis
über die Mitte des dritten Jahrhunderts in Ost und West aus-
schließlich oder fast ausschließlich die alten heidnischen Namen
ihrer Gegend gebraucht haben, ja sehr häufig Namen aus der
Die Rufnamen der Christen. ',]')')
heidnischen ^lytlioUtgie und dcv ^Fantik. Apollinaris. Ai)()U()nius,
Heraclius, Saturninus, Mercurius. Bacchyhis, Bacchylide^, Serapion,
Satyrus. Aplirodisius, Dionysius, Hermas, Origenes usw., ferner
Faustus, Felix. Felicissimus finden sich als ISTaiuen von Christon.
j.Die Märtyrer starl)en. weil sie sich weigerten, den Göttern zu
opfern, deren Xamen sie trugen!"'
Merkwürdig — die älteste Kirche tilgte in ilirer Mitte alle
Vielgötterei aus und verbannte die heidnische ^lytliologie als teuf-
lisch, sie lebte mit den Gestalten der Bibel und von ihren Sprüchen;
aber sie brauchte unbefangen die bisher üblichen heidnischen
Xamenl Das Problem wird noch größer, wenn man bedenkt,
daß in der Bibel selbst Beispiele für Umnennungen zu finden sind \
daß Zunamen und Xamensänderungen im römischen Reich häufig
vorkamen, ja von Kaiser Caracalla im Jahre 212 allen Freien
gesetzlich gestattet wurden, und daß der Xame im Alterrum von
den meisten keineswegs als etwas Gleichgültiges angesehen wor-
den ist.
Man kann geneigt sein, diese Gleichgültigkeit gegen die
Namen bei den ältesten Christen auf verschiedene Gründe zurück-
zuführen. Man kann darauf verweisen, daß eine Reihe heidnischer
Namen von der frühesten Zeit da:durch gleichsam geheiligt sein
mußte, daß sie von hervorragenden Christen getragen worden
waren. Man kann ferner daran erinnern, daß die Christen sehr
früh in die Lage gekommen sind, energisch darauf hinzuweisen,
daß Namen etwas Indifferentes sind. A\"urden sie doch seit Trajan
auf den bloßen Namen ,. Christ" hin verurteilt, ohne daß man eine
X'ntersuchung darüber für nötig hielt, ob sie auch wirklich etwas
Schlimmes getan hätten. Demgegenüber haben die christlichen
Apologeten Justin, Athenagoras und Tertullian betont, daß der
Name ein hohles Gefäß sei, daß es eine ,,Klage gegen Wörter"
vernünftigerweise nicht geben dürfe, doch — fügt Tertullian hinzu
— außer wenn der Name barbarisch lautet oder unglückbedeutend
ist oder einen Schimpf oder eine Unanständigkeit enthält. „Un-
glück bedeutend" — aber bedeuteten „dämonische" Namen wie
Saturnin. Serapion. Apollonius. Aplirodisius im Sinne der Christen
kein Unglück, und legten umgekehrt die Christen nicht selbst dem
W'ortlaut gewisser Formeln, ähnlich wie die Heiden, eine heil-
same Kraft bei, z. B. dem Aussprechen des Jesusnamens beim
Exorzismus und sonst? Also von hier aus läßt sich die Gleich-
') So heißt es in den Evangelien, Jesus habe den Simon „Kephas" und
die Söhne Zebedäi „Boanerges" genannt. In der Apostelgeschichte (4, 36)
liest man. daß die Apostel einen Manu namens Joseph ^Barnabas" genannt
haben (nicht hierher gehört Saulus Paulus).
23*
356 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
gültigkeit der Cliristen gogen mythologische Rufnamen doch nicht
verständlich machen? Aber wie ist sie dann zu erklären?
Es gil)t auf diese Frage schwerlich eine andere Antwort als
die, daß die allgemeine Sitte der Welt, in der man lebte, zunächst
stärker gewesen ist als jede Reflexion. Das Argument gegen
neue Xamen: „Ist doch niemand in deiner Freundschaft, der also
heiße (Luc. 1. 61)", ist zu allen Zeiten eine Macht gewesen. So-
dann — man behielt die Namen bei, wie man vieles Weltliche
tragen und erti'agen mußte, solange man noch in dieser Welt war.
Es lohnte sich auch nicht, den Namen, mit dem man sich vor-
fand, zu korrigieren. Hatte doch jeder, mochte er nun Apollonius
oder Serapion heißen, durch die Taufe, ja schon als Katechumen,
bereits einen zweiten, eigentlichen und bleibenden Namen emp-
fangen, den Namen „Christ". Ihn führte jeder Gläubige wie einen
Eigennamen. In den Akten des Car])us (zur Zeit ]Marc Aureis)
fragt der Richter den Angeklagten: „Wie heißt du?" Der Ge-
fragte erwidert: „Als ersten und vorzüglichen Namen führe ich
den Namen „Christ", wenn du aber auch meinen weltlichen
Namen verlangst — ich heiße Carpus." Man führte den „welt-
lichen" Namen fort, aber er galt sozusagen nicht als der wahre
Name. Von dem Christen Sanctus wird in dem Bericht über
die Märtyrer in Lyon erzählt, er habe dem Richter nicht seinen
Eigennamen genannt, sondern auf alle Fragen luu' erwidert: „Ich
bin ein Christ^."
Mit diesem einen Namen hat man sich bis gegen die Mitte
des dritten Jahrhunderts begnügt und daneben die weltlichen
Namen getragen, „als trüge man sie nicht". Auch Beinamen mit
christlichem Sinn sind höchst selten. Es ist eine Ausnahme, daß
sich der Bischof Ignatius am Anfang des zweiten Jahrhunderts
als Christ auch Theophorus nennt-. Anders wurde es erst etwa
') Ähnlieh Euseb., Mart Pal. y. 82 (Vi ölet): ^Die Konfessoren unter-
ließen es, auf die Frage des Richters , woher sie wären , von ihrer irdischen
Heimatsstadt zu sprechen, führten dagegen ihre wahre Heimat an und sagten,
sie wären aus dem oberen Jerusalem" (vgl. dazu Eugipii epist. ad Pascasium 9,
wie sich der h. Severin über seine Herkunft geäußert hat). Daß ^Christianus"
wie ein Name betrachtet wurde, bezeugt auch noch Augustin. Auf seine
Kindheit zurückblickend schreibt er (obgleich er doch erst als Mann getauft
worden ist): „In ecclesia mihi nomen Christi infanti est indituni" (Confess.
VI, 4, 5).
-) Andere Beinamen (nicht christliche) kommen auch sonst bei Christen
vor, vgl. Tertull. ad Scapulam 4: „Proculus Christianus, qui Torpacion
cogiiominabatur." Dergleichen war damals gebräuchlich. Der christliche
Soldat Tarachus (Acta Tarachi bei Ruinart, Acta Mart., Ratisb. 1859 p. 452)
sagt: „A parentibus dicor Tarachus, et cum militarem, nominatus sum Victor."
Cyprian hat sich (nach Hieronymus, de vir. ill. 67) Caecilius genannt nach
einem Priester dieses Namens, der ihn bekehrt hatte. Außerdem aber trug
Die Rufnamen dei* Christen. 357
kurz vor der Mitte des dritten Jalirhuiiderts. Und merkwürdig
— der sich Langsam anbahnende Umschwung fällt nicht in eine
Zeit religiöser Erhebung, sondern vielmehr in jene Periode, in der
die Kirche stärker als früher mit der Welt paktiert hat. Die
Scheidelinie zwischen Christenheit und AVeit war in jenen Tagen,
da die Christen nur heidnische Namen führten, viel fester, als in
der Zeit, da sie anfingen, sich Petrus und Paulus zu nennen! Wie
so oft stellten sich auch hier Formen erst ein, als der Geist gefähr-
det war. Das Nomen est omen wird nicht Lügen gestraft, aber
es erhält eine überraschende Bedeutung: der Name zeigt an, daß
man Einrichtungen treffen muß, um etwas festzuhalten, was zu
schwinden droht.
Mit Bewußtsein mag das in vielen Fällen nicht geschehen
sein, vielmehr waren hier drei Ursachen wirksam. Die eine habe
ich schon genannt, die im ganzen Reiche (auch bei den Heiden)
anzutreffende Häufigkeit der Umncnnungen, auch zugelegter Bei-
namen seit dem Erlaß Caracallas (im Jahre 212). Die zweite
war in der sieh nun erst vollkommen einbürgernden Kindertaufe
gegeben. Legte man bei diesem feierlichen Akte dem Kinde
einen Namen bei, so mußte es sich empfehlen, einen spezifisch
christlichen Namen zu wählen. Endlich drittens — und das ist
die Hauptsache — je mehr die Kirche in die Welt einzog, um
so mehr zog auch die Welt in die Kirche ein. Mit der Welt zog
aber auch der alte heidnische Aberglaube immer stärker ein — ■
das Nomen est omen, die 8cheu vor Worten und außerdem der
alte Trieb, Nothelfer, Engel, geistliche Heroen für sich zu ge-
winnen, der „fromme'"' Glaube, sich einen Pleiligen zu Schutz und
Schirm willig zu machen, indem man seinen Namen annimmt.
Ganz hat solcher Aberglaube in der Christenzeit zu keiner Zeit
gefehlt; denn auch die ältesten Christen waren nicht nur Christen,
sondern auch Juden, Syrer, Asiaten, Griechen oder Römer; aber
er war doch durch andere Stimmungen zurückgedrängt. Im Laufe
des dritten Jahrhunderts aber kamen überall die Lokaltöne wieder
an die Oberfläche. Jetzt nannte man seine Kinder zwar nicht
er den Beinamen Thascius, so daß sein voller Name lautete: „Caecilius
Cyprianus qui et Tbascius" (Ep. 66). Eben dieser Brief ist an einen Christen
gerichtet namens ,.Floreutius qui et Puppianus". Cumont (Les Inscr. ehret,
de l'Asie min. y>. 22) hat aus den Inschriften eine Reihe von Beispielen dieser
Art gesammelt, von denen einige sicher christlich sind : Ffqojv 6 xal KvQiaxög,
'"ÄTiakog EJiixhjv ^Hoatag, Optatina Resticia sive Pascasia, M. Caecilius Satur-
ninus qui et Eusebius, Valentina Ancilla quae et Stephana, Ascia vel Maria.
Unter den 40 Märtj'rern von Sebaste tragen zwei solche doppelte Namen,
nämlich Asövriog 6 xal Qtöy.xioioi und BtxQdrtog 6 xal Bißiavög. Im Martyrium
des h. Conen findet sich ein NaödMoog 6 xal 'AjTslliii;. Der Märtyrer Achati us
sayt : „vocor Aiiathos-anselus''.
35S Die Missionare: Modalitäteu und Gegenwirkungen der Mission.
mehr so gern Baechylus oder Aphrodisius. aber man fing an,
sie in dem Sinne IVtrus und l'aul zu nennen, in welchem
die Heiden ihre Kinder Dionysius und Serapion nannten.
Sehr langsam hat sieh der Prozeß der Verdrängung der
mythologischen Namen durch die christlichen vollzogen und ist
nie völlig zum Abschluß gekommen; denn nicht wenige jener
Namen waren allmählich durch ruhmreiche Träger zu christlichen
o-eworden und hatten ihren ursprünglichen Sinn vollkommen ver-
loren. Einige Tatsachen aus der Geschichte dieses Prozesses
mögen hier angeführt sein.
Genau in derselben Zeit, in der wir die Liste von siebenund-
achtzig Bischofsnamen nur zwei biblische (Petrus und Paulus)
fanden, schreibt der Bischof Dionysius von Alexandrien. daß die
Christen ihre Kinder gern Petrus und Paulus nennen^. Eben
damals begannen auch die christlichen Umnennungen häufiger zu
werden-. Daß Gregorius Thaumaturgus den Namen Theodor mit
Gregor vertauscht habe, wird berichtet ^ Doch ist dieser Fall
nicht durchsichtig*. Von einer Saljina hören wir in der Zeit des
Decius (im Jahre 250), daß sie sich vor Gericht, nach dem Namen
befragt, Theodota genannt habe"'. In den Märtyrerakten eines
Balsamus (vom Jahre oW) sagt der Beklagte: „Nach dem väter-
lichen Namen heiße ich Balsamus, nach dem geistliclien aber,
den ich in der Taufe empfangen luibe, Petrus •*." Interessant ist,
was der Kirchenhistoriker Eusebius von fünf ägyptischen Christen,
die in der diocletianischen Verfolgung Märtyrer wurden, erzählt".
Sie trugen alle fünf ägyptische Namen. Als aber der Richter
den ersten fragte, nannte sich dieser statt mit dem eignen Namen
') Bei Euseb., h. e. VII, 25, 14: i'öo.-tfo xul 6 IJar/.o^ ttoHq y.a't Öi) xal 6
ÜFTQog iv zoTg xöjv ttiotwv natolv ovoitüCfrat. Dies wird auch bestätigt durch
die Inschrift saec. III (de Rossi im Bullett. di archeol. crist. 1867 p. 0):
DM M. ANNEO. PAVLO. PETRO. M. ANNEVS. PAVLVS: FILIO. CARISSIMO.
Die Inschrift ist auch deshalb interessant, weil Seneca aus diesem Geschlecht
stammte.
-) Man hat behauptet, daß Poniponia Gräcina als Christin den Namen
Lucina erhalten oder angenommen habe (De Rossi, Roma sotterr. I p. 319;
II p. :!G2ff., u. a.), aber das ist sein- zweifelhaft. — Umnennungen waren
übrigens auch bei den Juden in der Diaspora üblich; s. Corp. Inscr. Gr. T. IV
ur. iJ905: „Beturia Paula — , r^ue bixit ann. LXXXVI meses VI proselyta
ann. XVI nomine »Sara mater synagogarum Campi et Bohimni."
») Euseb., h. e. VI, ;'.0.
■*) Hat er sich als „Erweckter" Gregorius genannt?
'') S. Acta Pionii 9; doch ist dieser Fall hier kaum anzuluhrcn, da
Pionius der ÖaV)ina geraten hatte, sich Theodota zu nennen, damit nicht ihre
Identität konstatiert werde.
") In Lampsacus heißen drei Märtyrer Petrus, Paulus und Andreas
(s. Ruinart, Acta .Mart. 1859 p. 205f.)-
') Mart. Pal. XI, 7 f.
Die Rufnamen der Christen. 359
mit dem eines alttestamentlichen Propheten. Dazu bemerkt
Eusebius :
„Das kam daher, weil sie an der Stelle der von den Eltern
ihnen beigelegten, wahrscheinlich von Götzen entlehnten Namen
solche Namen angenommen hatten. Daher konnte man denn
hören, wie sie sich Elias \ Jeremias, Jesajas, Samuel und Daniel
nannten und sich so nicht allein durch Werke , sondern schon
durch ihre Namensbezeichmmg als Juden im Geiste und als
echte und wahre Israeliten Gottes kundgaben."
Man sieht, noch ist es nicht die Idee des Schutzheiligen, die
hier leitet, sondern die Propheten sind als Vorbilder gewählt;
auch ist die Umnennung selbst noch etwas Neues. Das bezeugen
auch die Festbrief'e des Bischofs Athanasius im vierten Jahr-
hundert. Außerordentlich viele Namen von Christen kommen
hier vor; aber fast alle sind sie die altbekannten heidnischen
(griechischen oder ägyptischen). Biblische Namen sind noch immer
selten. An einer Stelle allerdings schreibt Athanasius von einem
gewissen Gelous Hieracammon und bemerkt: „er nannte sich
selbst aus Scham über seinen Namen Eulogius" '\
Sehr bemerkenswert ist aber, daß bis zur Mitte des vierten
Jahrhunderts von neutestamentlichen Namen fast nur die Namen
Petrus und Paulus begegnen und alttestamentliche Namen vollends
so selten sind, daß jener Fall von den fimf Ägyptern, die sich
Prophetennamen beigelegt haben, als Ausnahme zu betrachten ist.
Auch der Name Johannes kommt meines Wissens erst im vierten
Jahrhundert langsam auf. Dagegen läßt sich eine bereits oben
ins Auge gefaßte Stelle bei Dionysius von Alexandrien nicht an-
führen; denn wenn er schreibt: „Nach meiner Anschauung haben
[im apostolischen Zeitalter] viele den gleichen Namen mit dem
Apostel Johannes gehabt: denn aus Liebe zu ihm, aus Bewunde-
rung und Nacheiferung und aus Verlangen, gleich ihm von dem
Herrn geliebt zu werden, nahmen viele denselben Namen an
gleichwie es ja auch viele Paulus und Petrus unter den Kindern
der Gläubigen gibt" ~ so ist das über den Namen Johannes
Gesagte eben nur Vermutimg in bezug auf das apostolische Zeit-
alter, während Dionysius indirekt, aber deutlich genug sagt, daß
Christen zu seiner Zeit zwar Petrus und Paulus, nicht aber
Johannes genannt wurden ^. Diese Bevorzugung der Namen der
') Cf. einen Märtyrer dieses Namens 1. e. X, 1.
-) Festbriefe, herausgegeben von Larsow, S. 80.
^) Es fehlen auch älterere Zeugnisse sonst. Wenn nach dem Papstbuch
der Vater des römischen Bischofs Anicet „Johannes" geheißen haben soll,
so ist das kein Gegenbeweis; denn — abgesehen von der Unzuverlässigkeit
der Nachricht — er soll ein Syrer gewesen sein, und er führte den Namen
360 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
beiden Apostelfürsten in Ost und West ist lehrreich^; sie wird
bestätigt durch eine Stelle bei Eustathius, einem Zeitgenossen des
Athanasius und ]5ischof von Antiochien. Er schreibt: „Viele
Juden nennen sich nach den Erzvätern und Propheten und tun
doch Frevelhaftes; viele [christliche] Griechen heißen Petrus und
Pavdus und handeln doch höchst schimpf lieh." Xoch also über-
ließ man in der Regel die alttestamentlichen Namen den Juden,
und von neutestamentlichen Namen scheinen noch immer Petrus
und Paulus allein wirklich gebräuchlich zu sein. Erst seit der
zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts oder vielmehr, da die
Namengebung der Kleriker dieser Zeit c. 40 — 50 Jahre früher
fällt, in der ersten Hälfte änderte sich das 2. Wie von dieser
Zeit ab die „Heiligen", Propheten, Erzväter usw. an die Stelle
der entthronten Götter traten, wie die Göttergeschichten zu
Heiligengeschichten umgeformt wurden, so begann eigentlich erst
gewiß nicht nach dem Apostel. Nach den Acta Johannis (Prochorus) nennen
Basilius und Charis das ihnen durch den Apostel Johannes geschenkte Kind
„Johannes" ; aber diese Akten sind nachconstantinisch.
^) Der Name Paulus — aber ob er überall, wo wir ihn bei Christen
finden, auf den Apostel zurückweisen soll? — ist noch etwas häufiger als
der Name Petrus. Zum erstenmal finden wir ihn als Namen eines christ-
lichen antiochenischen Gnostikers, der mit dem jugendlichen Origenes zu-
sammen bei einer wohlhabenden Frau in Alexandrien wohnte (Euseb., h. e.
VI, 2, 14). Es sei sodann an Paulus von Samosata und an den Märtyrer
Paulus (Mart. Pal. !S. 65), sowie an einen zweiten Märtyrer desselben Namens
aus Jamnia (1. c. S. 86) erinnert.
^) Die Bischöfe, die am Nicänum teilgenommen haben, haben ihre
Namen zwischen 250 und 290 empfangen. Von den 2o7 Namen der Teil-
nehmer, die uns überliefert sind, sind sechs Siebentel die geläufigen heidni-
schen Namen; selbst Namen wie Aphrodisius, Orion usw. fehlen nicht. Etwa
18 Namen sind „fromme", aber konfessionell indifferente Namen, wie Eusebius
(fünfmal), Hosius, Theodorus, Theodotus, Diodorus, Theophilus; unter ihnen
darf aber Pistus (zweimal, und zwar auf der Balkanhalbinsel) mit einer ge-
wissen Wahrscheinlichkeit als christlicher Name betrachtet werden. Die
ül^rigen 19 Namen verteilen sich so: sechsmal Paulus (in Palästina. Cölesyrien,
Asien [procons.], Phrygieu, Isaurien, Cappadocieu), viermal Petrus (Palästina
[zweimal], Cölesyrien, Ägyijten; Petrus fehlt also in Asien, was nicht ohne
Interesse ist), dreimal Marcus (Lydien, Calabrien, Achaja — es ist aber
mindestens sehr fraglich, ob der Name nach dem Evangelisten gewählt ist),
einmal Johannes (Persien) und einmal Jacobus (Nisibis) — auch hier ist es
fraglich, ob die gleichlautenden Apostelnamen maßgebend gewesen sind;
denn dort im äui-^ersten Osten waren jüdische Namen häufig — , einmal
Moses (in Cilieion, vielleicht ein geborener Jude; Juden waren dort zahl-
reich), zweimal Stephanus (in Cappadocien und Isaurien — die Beziehung
auf den biblischen Stephanus ist sehr ungewiß) und einmal Polycarp in
Pisidien (die Beziehung auf den großen Bischof von Smyrna ist wohl mög-
lich; unter den 87 Bischöfen der Synode zu Carthago findet sich übrigens
auch ein Polycarp). Was die alttestamentlichen Namen anlangt, so sind die
illtesten und immer noch sehr seltenen Beispiele für den Gebrauch der-
Die Rufnamen der Chri.sten. 361
jetzt die kräftige Zurückdräiigung der iiiytliolegisehen Namen ^
Nun ersr begegnen Namen wie Johannes, Jacobus, Andreas. Simon,
Maria häufig und daneben aucli — doch viel seltener im Abend-
lande — spezifiscii alttestamentliche Namen. Am Ende des
vierten Jahrhunderts ermahnte z. 15. Chrysostomus die Gläubigen,
sie sollten ihren Kindern die Namen von Heiligen geben, damit
sie sich an den Heiligen ein Beispiel der Tugend nähmen (s.
Hom. 52 in Matth., Migne Bd. 6(> Col. 3(35). Er hat aber damit
noch nicht das durchschlagende Motiv genannt. Das nennt der
Bischof von Cyrus in Syrien, Theodoret, dreißig Jahre später:
man soll den Kindern die Namen von Heiligen und Märtyrern
beilegen, um ihnen den Schutz und Schirm dieser Heroen zuzu-
wenden 2. Diese Absicht beherrschte damals und in der Folge-
zeit die Namengebung. Eine Auswahl, nach Ländern und Pro-
vinzen verschieden, war die Folge. Neben der Bibel kam der
provinzielle Heiligenkalender, kamen die Namen berühmter ent-
schlafener heimischer Bischöfe in Betracht. In Antiochien nannte
man schon am Ende des vierten Jahrhunderts die Kinder gern
nach dem großen Bischof Meletius. Daneben haben Zufall und
Willkür in der Auswahl stets eine Rolle gespielt; auch vermochte
sich nicht jedes Ohr an den Klang barbarischer semitischer Namen
selben (iu der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts gegeben) fast alle ägyp-
tisch. Noch eine Liste — ich folge einer Anregung Lietzmanns — sei
hier herbeigezogen. Hilarius bietet in den uns erhaltenen Fragmenten seiner
Dokumeutensammlung zum römischen Streit (II u. III) für Sardica 134 (61
orthodoxe und 73 semiarianische) Bischofsnamen, und Athanasius (Apol. c.
Arian. 50) bietet 284 Namen orthodoxer Bischöfe in bezug auf dieselbe
Synode (leider hat er die Bischofssitze nicht angegeben). Alle diese Bischöfe
haben ihren Namen in der Zeit c. 270—310 empfangen. Unter den 134 Namen,
die Hilarius bietet, findet sich je ein Moses, Isaak, Jonas (V) und Paulus (der
Moses im thessalischen Theben, der Isaak in Luetum [= Aoveiüd, Arab.
Petr.?]). Alle übrigen führen die landläufigen, z.T. grob heidni-
schen Namen (die Träger der heidnischen Namen können aber sehr wohl
geborene Juden sein). In bezug auf die 284 Namen, die Athanasius über-
liefert, gilt von 270 dasselbe! Die 14 übrigen (nur 5 %) verteilen sich also:
Paulus (fünfmal), Petrus (einmal), Andreas (einmal, in Ägypten; es bleibt
fraglich, ob der Name sich auf den Apostel bezieht), Elias (dreimal, iu
Ägypten), Jesajas, Isaak, Joseph, Jonas (je einmal, außer Jonas sämtlich in
Ägypten). Es bestätigt sich also, was oben bemerkt worden ist. Die heid-
nischen Namen sind ganz unerschüttert; nur „Paulus" und — schwach —
, Petrus" setzen ein; die alttestamentlichen Namen sind noch auf Ägypten
beschränkt, aber auch noch selten.
') Unecht und spät ist der 30. der arabischen Cauones des Nicänums:
^Fideles nomina gentilium filiis suis nou impouant; sed potius omnis uatio
Christianorum suis nominibus utatur, ut gentiles suis utuntur, imponanturque
nomina Christianorum secundum scripturam in baptismo."
2) Graec. affect. curat. VIII p. 923 ed. Schulze.
;}(i2 Die Missionare; Moualitäten und Gegenwirkungen der Mission.
ZU ^-ew-filincn. AVic bemerkt, den alttestamentlichen Namen gegen-
über ist die abendlihidisclie Kirche zurückhaltend gewesen — bis
der Calvinismus aufkam.
Yiertes Ka])itel.
Die Gemeindebildung in ihrer Bedeutung für die Mission \
Die christliche Predigt wollte in der ältesten Zeit nichts als
Seelen gewinnen und die einzelnen zu Gott führen, „damit die
Zahl der Erwählten voll werde", aber sie ist von Anfang an in
einer Gemeinschaftsform wirksam gewesen und hat sich eine
Vereinigung der Christgläubigen zum Ziele gesetzt. Zuerst
war es die Vereinigung der Schüler Jesu, aber — wie wir bereits
gesehen haben — diese Schüler W'ußten und faßten sich selbst als
das wahre Israel und als die Ekklesia Gottes. Sie führten
damit die Form und den engen Zusammenschluß der Judenkirche
zu sich hinüber, vergeistigten und verstärkten sie und waren, man
kann sagen mit einem Schlage, im Besitze einer festen und
exklusiven Organisation.
Allein diese Organisation, welche alle Christen auf Erden
umfaßte, bestand zunächst doch nur in dem religiösen Gedanken.
Als rein ideale wäre sie auf die Dauer schwerlich wirksam ge-
blieben, hätte sich nicht die lokale Organisation zu ihr gesellt.
Diese hat das Christentum ursprünglich ebenfalls von dem Juden-
tum entlehnt, nämlich von der Synagoge; die Urapostel sowäe
die J3rüder Jesu haben den Grund gelegt. In der Diaspora ent-
wickelten sich die christlichen Gemeinschaften zunächst ebenfalls
aus den Synagogen mit ihrem Anhang von Proselyten. Ihrem
Wesen n a c h auf einen Bruderbund angele g t u n d a u s
den Synagogen hervorgegangen, bildeten die christ-
lichen Vereine die lokale 0 r g a n i s a t i o n m i t doppelte; r
Stärke aus, fester noch, als es die jüdischen Gemeinschaften
getan liattcm'-. Eine der lokalen Organisation in ihrer Bedeutung
höchst f(')rdei'li(!he Betrachtung kam noch hinzu: jede Gemeinde
') Vgl. hierzu v. Do b schütz, Die urchristlichen (.iemeinden, 1902.
-) Von dem Kinüuß, den etwa das griechisch-römische Vereinswesen
ausgeübt hat, muß hier abgesehen werden. Er kann sich immer nur auf
gewisse Formen bezogen haben, nicht aber auf die Sache selbst und ihre
Festigkeit.
Die Gemeindebildung in ihrer BeJeutuug für die Mission. 'J\{]'.\
ist in sich abgeschlossen und ein Ganzes, ist ein Abbihl der ge-
samten Kirche Gottes und soll sich als solches wissen und betätigen ^
Eine solche religiös-soziale Gemeinschaft — ohne jede politisch-
nationale Unterlage, aber das ganze Privatleben umspannend —
war auf griechisch-römischem Boden u. W. etwas Unerhörtes und
Neues. Religiös -soziale Gemeinschaften gab es überhaupt dort
nur in rudimentären Formen — die das ganze Leben bestimmende
Konfession fehlte — ; man müßte denn an einige Philosophen-
schulen und ihr gemeinsames Leben denken, welches auch ein
religiöses war. Hier aber stellte sich eine Verbindung dar, welche
die Glaubensgenossen aller Stände in einer Stadt auf das engste
zusammenschloß, lebenslängliche Zugehörigkeit als selbstverständ-
lich voraussetzte, ihren Mitgliedern nicht nur eine einmalige oder
wiederholte Weihe gewährte, sondern sie täglich zusammenband,
ihnen Tag um Tag geistige Güter zuführte und Yerpflichtungen
auferlegte, sie ursprünglich täglich, dann wöchentlich versammelte,
sie gegen andere abschloß, sie in einem Kultverein, einem Unter-
stützungsverein und einem (^rden zu bestimmter Lebensführung ver-
einigte und sie lehrte, sich als die Gemeinde Gottes zu betrachten.
An eine Gemeinschaft dieser Art mußten die Neophyten natür-
lich erst gewöhnt, bez. für sie erzogen werden: widersprach sie
doch allen Anforderungen, die sonst ein Kultus oder eine Weihe
an die Geweihten stellte, mochte auch das Yereinsleben, welches
schon bestand, in mancher Hinsicht eine Vorbereitung sein. Daß
die gemeinsame Erbauung das Ziel sei, daß die Gemeinde
daher wie ein Leib mit vielen Gliedern sein solle, daß jedes
*) Wie diese merkwürdige Überzeugung entstanden ist, wissen wir nicht;
aber sie liegt ganz deutlich im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter
vor. Aus dem Judentum stammt sie nicht; denn m. W. hat sich die einzelne
Synagoge so nicht betrachtet. Mit einem Schlage hat sich die Vorstellung
nicht entwickelt. Noch bei Paulus stehen zwei sich widersprechende Vor-
stellungen ungeklärt nebeneinander. Einerseits betrachtet er jede Gemeinde
sozusagen als souverän, als selbständige und selbstverantwortliche , Kirche
Gottes-*, anderseits sind seine Gemeinden auch seine Schöpfungen, stehen
daher unter seiner Aufsicht, werden von ihm erzogen, ja sogar mit der Rute
droht er ihnen. Er ist ihr V-^ater und Pädagog. Die apostolischen Gewalten,
und zwar die allgemeinen und die speziellen des Apostels als Stifters, greifen
hier ein und begrenzen die Gewalt der Einzelgemeinde. Was der Apostel in
allen seinen Gemeinden als Richtschnur vorhält und durchführt, das soll auch
die einzelne Gemeinde respektieren und befolgen. Er darf das verlangen;
aber Konflikte waren unvermeidlich; wir sehen sie in den Corintherbriefen,
namentlich im zweiten. Sodann besitzen wir im '6. Johanuesbrief eine wich-
tige Urkunde: hier hat sieh der Leiter einer Lokalgemeinde gegen den kon-
trollierenden Apostel , der durch Boten die Gemeinde zu regieren versucht,
offenbar aufgelehnt und will unabhängig sein. Als Ignatius. nicht viel später,
nach Asien kam, war der Gedanke der Souveränität der Eiuzelgenieinde zum
Siege gekommen.
304 Dit^' Missionare; Modalitäteu und Gegenwirkungen der Mission.
(jlied sich dorn Cianzcn unterordnen, ein Glied mit dem andern
leiden und sich freuen solle, daß Jesus Christus zwar einzelne,
jeden für sicli. berufe, aber sich zugleich eine Gemeinschaft erbaue,
in der der einzelne seine Stelle finde — das alles mußte gelehrt
werden. Wie energisch und unermüdlich der x^postel Paulus dies
getan hat, davon legen seine Briefe Zeugnis ab. Es ist vielleicht
die größte Erscheinung wie an dieser Religion so an dem Wirken
des Paulus, daß der hier so hoch gesteigerte Individualismus —
denn wie kann er stärker gesteigert werden, als durch die alles
beherrschende Maxime „Rette deine Seele"? — , weit entfernt, den
Gemeinschaftstrieb zu unterdrücken, ihn auf das stäi'kste anspannte.
Die Bruderliebe ist liier der Hebel gewesen, und diese Bruder-
liebe hat zugleich die reichste Erbschaft angetreten — die Erb-
.schaft der fest verfaßten jüdischen Kirche. Dazu kam nun noch
die oben berührte wunderbar ])raktische Konzeption, die Gesamt-
kirche (als ideale Gemeinschaft) und die Einzelgemeinde in eine
solche Korrespondenz zu setzen, daß, was von jener galt, auch
von dieser ausgesagt werden durfte: die Gemeinde von Corinth,
von Ephesus usw. ist die Gemeinde Gottes. Von dem Inhalte
der Schöpfungen ganz abgesehen — jeder Staatsmann und Politiker
muß die Lösung aufs höchste bewundern, die hier eines der
schwierigsten Probleme jeder großen Organisation gefunden hat:
die volle Selbständigkeit der lokalen Gemeinde aufrecht zu er-
halten und mit ihr eine starke und einheitliche, das ganze Reich
umspannende Gesamtordnung, die allmählich auch zu einer Ge-
.samtverfassung wurde, zu verbinden.
Welchen Halt mußte eine solche Schöpfung dem einzelnen
gewähren! Welche Anziehung mußte sie ausüben, sobald sie in
ihren Zwecken verstanden war! Sie, nicht dieser oder jener
Evangelist, war der kräftigste Missionar. In der Tat, wir dürfen
als sicher annehmen, daß die bloße Existenz mid die stetige Wirk-
samkeit der einzelnen Gemeinden die Verbreitung des Christen-
tums vor allem bewirkt liat^
') Einen detaillierten Bericht über die Ent.steliung einer Christengemeinde
besitzen wir nicht; denn die Apostelgeschichte erzählt sehr summarisch (sie
hat kein Interesse für die Lokalgemeindeu; sie kennt nur bekehrte Brüder
und spiegelt so in ihrer Berichterstattung das vorwärts Stürmende der christ-
lichen Mission wieder, bis sie sich in den Prozeß des Paulus verliert), und
die Briefe des Paulus setzen die schon entstandenen Gemeinden voraus. Die
a])okryplien Apostelgeschichten sind kaum brauchbar. Doch lassen sich aus
<leni 1. Thessalouicher-, dem I. Corintherbrief und der Apostelgeschichte einige
Züge gewinnen. Paulus knüpft überall, wo Juden vorhanden sind, bei diesen
au und predigt in den Synagogen. Der Erfolg aber ist in der Hegel der, daß
die kleinen Gemeinden, welche entstehen, sich zum größeren Teil aus ,.gottes-
fürchtigen" Heiden und überhaupt aus den Heiden, nicht aber aus den Juden
Die Gemeindebildung in ihrer Bedeutung für die Mission. ;]{)')
Dalici- aber audi (li(> stetig- wiederholte Emialinunii,-: „Lasset
uns unsere Versaiiiinlungeii nicht vorlassen"; „wie etlich(? pflegen",
fügt der irebräerbrief (c. 10, 25) liinzu. Es gab natürlich von
Anfang an und zu allen Zeiten soU-he, die da meinten, man könne
die cliristlichen "Weihen und Güter empfangen, wie man die Weihen
der Isis oder der Magna Mater empfängt, um sich nach dem
Empfang zurückzuziehen. Oder, wo man so kurzsichtig nicht
war, w^erden Leichtsinn und Trägheit oder I'berdrnß oft genug
geraten haben, sich langsam oder schnell der Gemeinscliaft wieder
zu entziehen. Auch das eingebildete Bewußtsein, auf der Höhe
zu stehen und die geistliche Hilfe der Gemeinschaft entbehren
zu können, hat manchen bewogen, sich von der Vereinigung und
von dem gemeinschafrliehen Gottesdienst zurückzuziehen. Manche
bestimmte auch die Furcht vor der Obrigkeit; man scheute sich,
die Gottesdienste zu besuchen, um nicht als Christ erkannt zu
werden ^.
„Trachtet nach dem, was gemeinschaftlichen Nutzen für alle
bringt", schreibt Clemens Romanns (1 c. 4S): „Zieht euch nicht
auf euch selbst zurück und isoliert euch nicht, als wäret ihr schon
Gerechtfertigte, sondern kommt gemeinsam zusammen und traclitet
nach dem, was der Gemeinschaft nützlich ist", mahnt Barnabas
(ep. 4, 10). Ahnliche Stellen sind häufig-. Der Sonntagsgottes-
dienst ist natürlicli obligatorisch; aber auch sonst sollen die Brüder
möglichst häufig zusammenkommen. „Aufsuchen sollst du täglich
bilden. Für die Organisation haben die Erstbekehrteu natürlich Bedeutung
(I Clem. 42: oi ärrooToloi xara '/ojoag xal .tö/.fi^ y.tjQvaoovzf^ .... y.aOiozavov
tÖ? äjiao/äg avTOjr, doy/udaavzeg reo n^rsviiuTi, sig grtiay.öjroi'g >cai öiay.övovg rwj'
fxelXörTcov jTioTF.veir) ; eine Art von lokaler Leitung ist in einigen Gemeinden
sofort eingetreten, wie wir aus I Thess. 5, 12 ff. und Philii^p. 1, 1 erkennen.
Aber was für die macedoniscben Gemeinden gilt, gilt, wenigstens anfangs,
keineswegs für alle. In Galatien und in Corinth hat, wie es scheint, ein
Jahrzehnt laug (vielleicht auch länger) gar keine Leitung bestanden.
Die Brüder ließen sich vom „Geiste" regieren. Der Berieht der Apostel-
geschichte C. 14, 23 fyeiQOTO%'riaavreg avroTg yar'' tyy/.rjoiav croeaßvrsgovg) mag in
bezug auf einige Gemeinden zutreffend sein (vgl. auch I Clem. 44). aber in
bezug auf die Voraussetzung, daß ..die Apcstel" stets und überall Beamte
eingesetzt haben, und daß diese überall „Presbyter" waren, ist er sehr frag-
würdig. Erwähnt wird in der Ai^ostelgeschichte nur für Jerusalem (c. 15, 4)
und für Ephesus ein Gemeindeamt (Presbyter, die als Bischöfe eingesetzt
sind, c. 20, 28).
^) S. Tertull., de fuga 3: „Timide conveniuut in ecclesiam; dicitis enim,
quoniam ineondite convenimus et simul convenimus et complures concurrimus
in ecclesiam, quaerimur a natiouibus et timemus, ne turbeutur nationes."
^) Hermas, Simil. IX. 20: ovtoi oi fv :jo/.}.aTg y.al noiyAlaig :iqay(.iaTtiaig
tUTiEtpVQiiivoi ov yo/./.ojvrai loTg dovloig rav deov , a/.Ä' d.TO.T/.arwiTat. IX, 26 :
yevöfxsvoi EQrjfiojdeig, fit] y.o/.'/.wfisvoi loTg dovloig zov deov, ä/J.a ((oräLorreg ä:iol-
Xvovai zag iavzöjv ipv/dg.
;}(;6 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
(las Angesicht der Heiligen, auf daß du durch ihre Gespräche
erquickt werdest", heißt es in der „Apostellehre" (c. 4, 2). „Wir
sind stets beieinander", schreibt Justin (Apol. I, 67) nach Schilde-
rung des Sonntagsgüttesdienstes, um auszudrücken, daß er nicht
die einzige Stätte für die Gemeinsamkeit ist. Zu häufigeren Zu-
sammenkünften ermahnt Ignatius wiederholt^: ja seine Briefe
sind in erster Linie zu dem Zwecke geschrieben, den einzelnen
aufs strengste an die Gemeinde zu fesseln und ihn so vor Irrlehre,
Verführung und Abfall zu bew^ahren. Das Mittel dazu ist die
Steigerung der Bedeutung der Gemeinde,. Nur in ihr sind alle
Güter vorhanden, und zwar nur in ihren Ordnungen und Ein-
richtungen. Nur die fest verfaßte Gemeinde mit dem Bischof,
den Presbytern und Diakonen, mit ihrem gemeinsamen Gottes-
dienst und ihren Sakramenten ist die Schöpfung Gottes 2. Daher
ist außer ihr nichts Göttliches zu finden, sondern nur Irrtum und
Sünde. Eben deshalb aber sind auch alle AVinkelgottesdienste zu
verbannen und ist keinem von auswärts kommenden Lehrer, wenn
er nicht von der Gemeinde approbiert ist, Gehör zu schenken.
Niemals ist die absolute Unterordnung unter die Lokalgemeinde
peremptorischer verlangt und die Lokalgemeinde rhetorischer ge-
feiert worden als in diesen so frühen Schreiben. Man erkennt
aus den aufgeregten Admonitionen die Größe der Gefahr, die dem
einzelnen Christen drohte, wenn er sich von der Gemeinde auch
nur leise emanzipierte; er wurde eine Beute der „Irrlehrer" oder
fflitt ins Heidentum zurück. Hier drohte selbst den Heroen eine
Gefahr, die wohl bemerkt worden ist. Als Männern, die ein be-
sonderes Yerhältnis zu Christus haben und zu denen dieser sich
öffentlich bekannt hat, konnten ihnen die Gemeinden nicht wohl
Yorschriften machen : aber daß sie, wenn sie „aufgeblasen" waren
') S. Ephes. 13: ajiGvöd^eze :i:vy.v6T£Q0v avveQXSodm sh sir/aniaziar dsov,
Polyc. 4: Jivy.rörgQor axtrayioyal yivio&oyoav, cf. auch Magn. 4.
-) Der gemeinsame Gottesdienst, und in ihm wiederum die Feier des
A})endmahls, steht im Mittelpunkt. Eine solche Feier in ihrer Erhabenheit
und Weihe, ihrer Brüderlichkeit und Vielseitigkeit hatte schwerlich ein
anderer Kultus aufzuweisen. Jede Empfindung und jedes geistige Bedürfnis
fand hier seine Nahrung. Die Zusammenstellung von Gebet, Gesang, Schrift-
verlesung und Predigt war dem synagogalen Gottesdienst nachgebildet und
mußte bereits auf die Heiden den tiefsten Eindruck machen; aber indem die
P'eier des Abendmahls dem zugesellt wurde, war eine Handlung miteingeführt,
die, so einfach sie war, unter den verschiedensten Gesichtspunkten betrachtet
werden komite und betrachtet worden ist. Sie war eine geheimnisvolle, gött-
liche Gabe der Erkenntnis und des ewigen Lebens; sie diente der Sünden-
vergeltung; sie war eine Dank.sagung, sie war ein Opfer, sie war eine Ver-
gegenwärtigung des Todes Christi, sie war ein Liebesmahl der Brüderlichkeit
und ein Band der Einheit, sie war eine Unterstützung der Hungernden und
Notleidenden; sie war eine Vorausdarstellung und ein Unterpfand der himm-
Die Gemeinde] )ilduiig in ihrer Bedeutung für die Mission. 367
und sich von der Gemeinschafr ontfernten. leicht Schaden nehmen
konnten, hat man schon frühe erkannt. Als dann zuletzt in
Cartliago und Rom während und nach der decianischen Verfolgung
die stolzen ^lärtyrer in den Gemeinden Quertreibereien versuchten
und sich gegen das Amt erhoben, entschlossen sich die großen
Bischöfe endlich, sie unter das allgemeine Gemeindegesetz zu
beugen.
Der einzelne Christ hatte seinen Halt an der Gemeinde-
organisation, aber er verlor dabei ein Stück seiner Selbständigkeit
nach dem andern. Der sog. montanistische Kampf ist im letzten
Grunde nicht nur ein Kampf für eine strengere Lebensordnung
gegen ein laxere gewesen, sondern aucli ein Kampf einer selb-
ständigeren religiösen Haltung und Betätigung gegen eine vorge-
schriebene und uniforme. Die Hervorragenden, die Individualitäten
mußten leiden, damit die vielen nicht verwilderten oder abfielen:
so ist es in der Geschichte immer gewesen, und so wird es bleiben.
Erst nach dem montanistischen Kampf ist die Kirche als Einzel-
und als Gesamtkirche in ihrer Entwickung zum Abschluß gelangt :
nun war sie ein begehrenswertes Objekt für jeden, der sich nach
Macht umschaute, geworden; denn sie verfügte über außerordent-
liche Gewalten. Den Einzelnen hat sie jetzt fest an sich gekettet,
hält ihn. zügelt ihn und beherrscht sein religiöses Leben in jeder
Richtung. Allein bald begann die mönchische Bewegung, welche
diese Kirche zwar in der Theorie anerkannte — - eine Bezweiflung
war nicht mehr möglich — . aber in der Praxis beiseite schob.
Der Aufstieg der rechtlichen Yerfassuugs- Entwicklung von
der festorsranisierten Einzelkirche "■ zur Provinzialkirche -. von der
lischeu Mahlzeit. Mehr kann eine Handlung schwerlich sein, und sie be-
wahrte diesen Charakter noch lange, auch nachdem sie ganz ins -Mysteriöse
gerückt war. Geweihtes Brot brachten die Gemeindeglieder aus dem Gottes-
dienst nach Hause und zehrten die Woche davon. In welchem Maße die
Gemeinden als gottesdienstliche auch ünterstützungsvereine waren und wie
anziehend sie dadurch wirken mußten, darüber ist oben S. 128 tf. gehandelt
worden. — Daß die Predigt, die man sonntäglich im Gottesdienst hörte, die
Stärkung der Sittlichkeit in erster Linie zum Zwecke hatte, folgt aus einer
Kette von Zeugnissen vom Brief des Plinius an bis Arnobius IV, '66: „In con-
venticulis summus oratur deus, pax cunctis et venia postulatur magistratibus
exercitibus regibus familiaribus inimicis, adhuc vitam degentibus et resolutis
corporum vinctione. in quibus aliud auditur nihil nisi quod humanos faciat,
nisi quod mites verecundos pudicos castos. familiaris communicatores rei et
cum Omnibus vobis solidae germanitatis necessitudine copulatos."
*) Die Christen nannten sich von Alters her (s. o. S. 343) Traooixovvrs;,
die Gemeinde hieß technisch rj sy.y.ltjoia rj TiaQoixovoa xijv Ji6?.ir, aber sie
wurde schnell ein sehr festes Gebilde und erschien keineswegs wie ein Gebäude
auf Abbruch.
-) Inwiefern diesem Aufstieg von anderen, ebenfalls wirksamen Prä-
missen aus ein Abstieg entsprach, darüber s. den folgenden Exkurs.
368 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Provinzialkirche zum <;-ir)ßorou Kirclionbunde, der auf Synodon,
die viele Provinzen umfaßten, sich verwirklichte, zuletzt zu der
allgemeinen Kirche, die sich als organisierte freilich nie ganz ver-
wirklichte, in der Idee aber stets vorhanden war — diese Ent-
wicklung trug auch dazu bei, das Selbstbewußtsein der Christen
zu erhöhen und ihre Missionstätigkeit zu verstärken^. Es bedeutete
doch etwas, wenn man verkündigen durfte, diese Kirche umspanne
nicht nur im religiösen Gedanken die Menschheit, sondern sie
stelle sich auch sichtbar als ein großer Bund dar, der von einer
Grenze des Reichs bis zur anderen reiche, ja diese Grenzen noch
überschreite. Durch ein Zusammenwirken des christlichen Ideals
mit dem Reiche war diese Kirche entstanden, und so haben alle
großen Gewalten, die es auf diesem Gebiet überhaupt gab, an
dem Bau der Kirche teilgenommen : der universale christliche
Gedanke eines Menschheitsbundes (im Grunde freilich nur der
zerstreuten Auserwählten innerhalb der Menschheit), die Juden-
kirclie und das römische Reich. Letzteres hat sich, wie man mit
Recht gesagt hat, an dieser Kirche bankerott gebaut^. Man
könnte dasselbe von der Judenkirche behaupten. Ihre Anziehungs-
kraft auf weite Kreise hat aufgehört, nachdem die Kirche, die
ihr das Wasser abgrub, sieh entwickelt hatte; sie ist auf diese
übergegangen^. Mochten aber die Gemeinden so freie Bildungen
sein, wie in dem ersten Jahrhunderte, mochten sie sich so feste
äußere Ordnungen gegeben haben und in einem so großen Zu-
sammenhang stehen , wie im dritten Jahrhundert — in beiden
Formen ihres Daseins haben diese Gemeinden wie Magneten auf
Tausende gewirkt und der Mission in außerordentlicher Weise
gedient.
Innei'lialb der Gemeindeverfassung war die bedeutendste und
wichtigste Schöpfung der m o n a r c h i s c he Episkopat*. Die
Bischöfe haben recht eigentlich die einzelnen in den Gemeinden
') TertulL, de praescr. 20: ,Sie omnes [seil, ecclesiae] primae et omnes
apostolicae, dum una omnes. probant unitatem conimnnicatio pacis et ap-
pellatio fraternitatis et contesseratio hospitalitatis, quae iura non alia ratio
regit quam eiusdem sacramentiuna traditio."
-) Doch ist es in der abendländischen Kirche wieder auferstanden!
-'*) Aber auch mit Bewußtsein und Willen hat sich die Judenkirche seit
dem Fall des Tempels mehr und mehr auf sich seil ist zurückgezogen und
den griechischen Geist wieder entlassen.
*) Ich lasse alle Vorstufen beiseite. Das Amt ist erst mit dem monar-
chischen Bischof eine Macht in der Christenheit geworden. Die Unter-
suchungen ülier die Vor.stufen, schwierig bei der Lückenhaftigkeit der Quellen
und ))ei der Verschiedenheit der ursprünglichen Organisationen in den ver-
schiedenen Kirchen, fallen nicht in diese Darstellung.
Die Gemoindebildung in ihrer Bedeutung für die Mission. 369
zusammengehalten; mit ihrem Auftreten schließt die Periode ab,
in der Charismen und Amter duroheinander wogten und man sich
nur auf Gott, sich selbst und den begeisterten liruder ven-ließ.
Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts waren die Bischöfe
die Lehrer, die Oberpriester, die llichter. Schon Tgnatius hat
ihre Stellung in der Einzelgemeinde mit der Stellung Gottes in
der Gesamtkirche verglichen. Diese Vergleichung trat bald zurück
hinter der förmlichen Qualität, die sie seit dem gnostischen
Kampf, zuerst in Rom und dem Abendland, erhalten haben, Träger
des apostolischen Amts zu sein. Nach Cyprian sind sie „iudices
vice Christi", vmd bereits Origenes, trotz der bösen Erfahrung, die
er mit Bischöfen gemacht hat, schreibt (Hom. XII, 2 in Num.,
t. 10 p. 133 Lomm.); „Si reges a regendo dicuntur, omnes utique,
qui ecclesias dei regunt, reges merito appellabuntur." Von dem
Verhalten der Bischöfe hing in der zw^eiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts Wohl und Wehe der Gemeinden fast ganz ab. Wie
dieses Amt geworden ist, erscheint es als eine originale Schöp-
fung, eben weil es von allen Seiten Kräfte und Formen an sich
gezogen hat.
Wie sehr der Episkopat zusammen mit den anderen Klerikern,
die er kommandierte, der Halt der Gemeinde war^, zeigt der
große Kampf, den der Staat im 3. Jahrhundert (Maximinus Thrax,
Decius, Valerian, Diocletian, Daza, Licinius) gegen ihn geführt
hat, und lehren viele einzelne Tatsachen. Dionysius von Corinth
schreibt z. Z. Marc Aureis (Euseb., h. e. IV, 23) an die Gemeinde
von Athen, sie sei beinahe vom Glauben abgefallen, seitdem ihr
Bischof Publius den Märtyrertod gefunden habe, der neue Bischof
Quadratus aber habe sie wieder gesammelt und mit neuem Eifer
für den Glauben erfüllt. Tertullian (de fuga 11) sagt, die Herde
werde, wemi die Hirten schlecht sind, eine Beute der wilden
Tiere, „quod nunquam magis fit quam cum in persecutione desti-
tuitur ecclesia a clero." Cyprian erzählt (ep. 55, 11), in der Ver-
folgung sei der Bischof Trophimus mit dem größten Teile der
Gemeinde vom Glauben abgefallen und habe geopfert; als es aber
^) Natürlich galt er auch mehr und mehr als der Gott wohlgefällige
und Gott näher stehende Stand; das liegt schon in dem Terminus „Priester",
der sich seit dem Ende des 2. Jahrhunderts einbürgerte. Die Kirche besaß
also neben dem höheren Stand der Heroen (Asketen, Virgines, Konfessoren)
einen zweiten höheren Stand der Kleriker. Das war auch den Heiden im
3. Jahrhundert wohl bekannt. So schreibt der Heide bei Macarius Magnes
(III, 17) zu der Stelle „So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn" (Matth. 17, 20);
21, 21): „Wer solchen Glauben nicht hat, ist sicherlich nicht wert, zur Brüder-
schaft der Gläubigen gerechnet zu werden; also darf die Menge der Christen
den Gläubigen nicht zugezählt werden, ja nicht einmal von den Bischöfen
und Presbytern ist irgendeiner dieses Namens würdig."
Harnack, Mission. 2. Aufl. 24
370 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
sich zurückwandte und Buße tat, da folgten ihm auch die anderen,
,qui omnes regressuri ad ecclesiam non essent, nisi cum Trofimo
comitante venissont". Als Cyprian während der Verfolgung des
Decius im Versteck weilte, drohte die ganze Gemeinde zu zer-
fallen. Da sieht man klar die Bedeutung, welche der Bischof
für die Gemeinde hatte: mit ihm fällt sie, mit ihm steht sie^
Eine Sedisvakanz oder ein Schisma ist in jenen Zeiten stets eine
schlimme Krisis für die Existenz der Gemeinde gewesen. Das hat
auch noch Julian gewußt und darnach seine Politik eingerichtet.
Ohne eigentlich Missionar zu sein, übte der Bischof eine Missions-
wirkung aus 2. Er schützte vor allem die einzelnen vor Rückfall
in das Heidentum, und ein Bischof, der seinen Platz ausfüllte,
gewann viele neue Mitglieder, wie wir das z. B. von Cyprian und
Gregorius Thaumaturgus wissen. Eine Steigerung, aber auch ein
Gegengewicht erhielt die Würde des Bischofs durch die Ein-
richtung der Synoden, die, in Asien und Griechenland entstanden
(wohl nach dem Vorbild der Landtage)'^, sich seit dem Anfang
des 3. Jahrhunderts in sehr vielen Provinzen einbürgerten. Durch
dies bischöfliche Kartell waren die Laien vollends entmündigt;
es nützte ihnen nun bald nichts mehr, ihre heimatliche Gemeinde
zu verlassen, um sich in einer anderen anzusiedeln. Aber doch
zog die Synode der Willkür des einzelnen Bischofs auch Schranken
imd stellte sich als ein kirchliches forum publicum dar, welchem
er verantwortlich war. Die cyprianische Briefsammlung bietet
mehrere Beispiele, daß auf Synoden der Willkür mid Sünde
einzelner Bischöfe gesteuert worden ist. Sehr bald (von Anfang
an?) erschien die Synode, diese „repraesentatio totius nominis
Christiani", als ein besonders zuverlässiges Instrument des heiligen
1) So sagt auch der heidoisc-he Richter zu dem Bischof Achatius, ,scutum
quoddam ac refugium Antiochiae regionis", (Ruiuart, Acta Mart. Ratisb. 1859
p. 201) : „Veniet tecum [seil, wenn du zu den alten Göttern zurückkehrst]
omuis populus, ex tuo pendet arbitrio." Natürlich antwortet der Bischof:
,1111 omnes non meo nutu , sed dei praecepto reguutur; audiaut me itaque,
si iusta persuadeam, sin vero perversa et nocitura, contemuant." — Hermas
sagt von den „Hirten" (Sim. IX, 31): ,Sin aliqua e pecoribus dissipata in-
venerit dominus, vae erit pastoribus. quodsi ipsi pastores dissipati reperti
fuerint, quid respondebunt pro pecoribus his? numquid dicunt, a pecore sc
vexatosV non credetur illis. incredibilis enini res est, pastorem pati posse a
pecore. "
^) Daß umgekehrt ein hervorragender Missionar (Lehrer), der eine Ge-
meinde begründet hatte, nun ihr Bischof wurde, darüber s. Origeues, Hom. XI, 4
in Num. [die Stelle ist oben S. 295 mitgeteilt].
^) S. TertulL, de ieiuu. 13: „Aguutur per Graecias [zu dem Plural vgl.
Euseb., Vita Const. 111, 19] illa certis in locis concilia ex universis ecclesiis, per
quae et altiora quaec^ue in commune tractantur et ipsa repraesentatio totius
nominis Christiaui raa<?na veneratione celebratur."
Die Gemeindebildunac in ihrer Bedeutuog für die Mission. 371
Oeistes. Die Synoden, die sich aus Provinzialsynoden im Lauf
des o. Jahrhundorts zu größeren Konzilien erweiterten und die
diocletianische Reiohseinteihing im Orient antizipiert zu liaben
scheinen, haben natürlich das Ansehen und die Macht der Kirche
außerordentlich vermehrt und daher auch ihre Anziehungskraft
gesteigert. Das ganze Synodalwesen hat aber nur im Orient
wirklich floriert (und etwa noch in Africa). Im Okzident ist es
ebensowenig zum Durchbruch gekommen wie die Metropolitan-
verfassung. Das ist für die Stellung Roms und seines Bischofs
sehr wichtig gewesen ^.
Es ist aber hier schließlich noch einer Frage zu gedenken,
die für die kirchliche Statistik von großer Bedeutimg ist: Wie
stark war die Tendenz zur selbständigen Gemeindebildung, d. h.
zur Bildung kompleter bischöflicher Gemeinden? Bezeichnet
die Anzahl der bischöflich verfaßten Gemeinden im wesentlichen
die Anzahl der Gemeinden überhaupt oder gab es, sei es überall,
sei es in einer größeren Anzahl von Provinzen, zahlreiche Ge-
meinden, die keinen Bischof besaßen, sondern nur Presbyter bez.
Diakonen, und von einem auswärtigen Bischof abhängig waren?
Der Beantwortung dieser wichtigen Frage ist der folgende Exkurs
gewidmet 2. Er wird zeigen, daß die Schöpfung kompleter bischöf-
licher Gemeinden bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts in den meisten
Provinzen (nicht in Ägypten) die Regel gewesen ist, so klein
auch die Zahl der Christen, die sich an einem Orte fand, gewesen
sein mag, und so klein der Ort selbst war. an dem diese Christen
wohnten.
Ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, war es aber, daß
von Anfang an die Tendenz darauf gegangen ist, alle Christen
an einem Ort zu einer Gemeinde zu verbinden. Hausgemeinden
'■) Auf die Verfassungsentwicklung im einzelnen ist hier nicht einzu-
gehen, obgleich sie in ihrer engen Beziehung zur Reichseinteilung noch
manche wichtigen Beziehungen zur Missionsgeschichte enthält (s. Lübeck,
Keichseiuteilung und kii-chliche Hierarchie des Orients bis zum Ausgang des
4. Jahrhunderts, 1901). Nur soviel sei bemerkt, daß die immer stärkere An-
lehnung der orientalischen Kirche an die (nationalen Abgrenzungen folgende)
Reichseinteilung alimählich die kirchliche Einheit und den christlichen Uni-
versalismus bedrohte. Zunächst schöpfte die Kirche hier Ordnung und Stärke,
aber bald wurde sie von den zentrifugalen Kräften beeinflußt. Schon im
Osterstreit um das J. 190 zwischen Rom und Asien spürt man etwas von
ihnen: im Ketzertaufstreit sind sie bereits lebendiger; doch erst im 4. und
ö. Jahrhundert treten sie desorganisierend hervor. Im Abendland hat sie der
römische Bischof mit einer bewunderungswürdigen zähen und zielsicheren
Energie zu bändigen verstanden.
-) Gelesen in der K. Preuß. Akad. der Wissenschaften am 28. Nov. 1901
(S. 1186 ff.).
24*
372 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
hat man ursprünglich, wie die paulinischen Briefe beweisen, ge-
duldet ^ : aber sie standen augenscheinlich (entweder von Anfang
an oder doch sehr bald) als Teile innerhalb der örtlichen Ge-
samtgemeinde. Das ursprüngliche Verhältnis ist uns freilich ebenso
dunkel wie die Auflösung dieser Hausgemeinden. Konflikte mögen
anfangs nicht gefehlt haben, auch Versuche nicht, mehrere selb-
ständige christliche -diaooi in einer Stadt 7a\ etablieren: die
„Schismen" in Corinth, welche Paulus bekämpft hat, scheinen
darauf hinzudeuten. Auch ist es nicht ganz gewiß, ob nicht noch
nach der Zeit der Ausbildung des monarchischen Episkopats hin
und her in einer Stadt zwei oder mehrere bischöfliche Ge-
meinden waren; aber wenn das auch in einigen Fällen vorge-
kommen sein mag, so muß die Zahl dieser sehr gering gewesen
sein und vermag die allgemeine Signatur der Verfassungsverhältnisse
nicht zu ändern. Sie besteht darin, daß jeder Ort, an welchem
sich Christen befanden, seine eigene, selbständige, von Klerikern
geleitete Gemeinde hat, und daß er nur eine Gemeinde haf^.
Diese so einfache und natürliche Organisation hat sich als eine
Organisation von außerordentlicher Stärke bewährt. Freilich nötigte
sie die Gemeinde bald, ihre antiheidnische Exklusivität mit voller
') Wie lange, ist nicht sicher zu sagen; aber nach dem N.T. hören
•wir fast nichts mehr von ihnen. Das ist auch ein Argument gegen die Ver-
suche, die paulinischen Briefe ins 2. Jahrhundert zu schieben. S. über die
Hausgemeinde die betreffenden Abschnitte in Weizsäckers Apostol. Zeit-
alter, 2. Aufl. Der Hebräerbrief ist höchst wahrscheinlich an eine spezielle
Gemeinde in Rom gerichtet. Schiele hat jüngst mit beachtenswerten
Gründen zu zeigen versucht (The American Journal of Theology 1905 p. 290tt'.),
daß sich diese spezielle Gemeinde aus und an der iuschrittlich nachweis-
baren ^vvaycoyr] rwv 'Eßgauov in Rom entwickelt hat. Ich habe sie (Ztschr.
f. NTliche Wissensch. I 1900 S. 16 ff.) mit Prisca und Aquila in Verbindung
gesetzt. Beides schließt sieh nicht aus.
-) Recht dunkel ist für uns auch das Verhältnis christlicher „dtöaaxahm"
(k. 0. S. 300 ff.) zur Ortsgemeinde. Was wir wissen (Justins „Schule", Tatians
Rhodon, Theodotus' Praxeas', Epigonus' und Cleomenes' , Schulen" in Rom,
Übergang der tbeodotianischen Schule in eine Gemeinde — das ist der inter-
essanteste Fall die.ser Art, den wir kennen — , Katechetenschule zu Alexan-
drien ; Hippolyt nennt höhnend die zu Callist in Rom haltenden Christen,
d. h. die Majorität der Gemeinde, eine „Schule" ; die verschiedenen gnostischen
Schulen, die Schule Luciaus in Antiochien neben der Kirche), reicht keines-
wegs aus, um ein Bild zu gewinnen; denn über die Tatsache der Existenz
der Schulen hinaus erfahren wir sehr wenig. Jemand könnte versuchen zu
zeigen, daß in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts die Gefahr für die
Kirche generell bestanden habe, sich überhaupt in „Schulen" aufzulösen.
Ein anderer könnte es unternehmen nachzuweisen, daß hier und dort absicht-
lich auch das vulgäre Christentum den Charakter von philosophischen Schulen
angenommen hat, um so Freiheit zu gewinnen und sich gegen den Staat und
die feindselige Gesellschaft zu schützen (daß einzelne so verfahren sind, unter-
liegt schwerlich einem Zweifel, s. o. S. 307^ Beide würden Beachtenswertes
Geraeindebildung und Bistum iu der Zeit von Pius bis Constantin. 37,'}
Schärfe auch gegen solche Bi-üder zu richten, die sich aus
irgendeinem Grunde der Gemeinde nicht unterordnen wollten.
Die traurige Leidenschaft der Ketzermacherei — schon
bei den Christen des 2. Jahrhunderts — ist nicht nur eine
Folge ihres Fanatismus für die wahre Lehre, sondern
ebensosehr eine Folge ihrer geschlossenen Organisation
und der hohen Prädikate, mit denen sie sich selbst
als „Kirche Gottes" beehrten. liier erkennt man die Kehr-
seite der Medaille: die Selbstschätzung der Gemeinde, in sich
die exxhjoin Tod i^eov darzustellen (die „Kirche Gottes" bez. die
„katholische Kirche" in Corinth, in Ephesus, usw.), hatte die
Folge, daß sie schlechterdings kein Christentum außerhalb ihrer
Grenze anzuerkennen und zu ertragen vermochte^.
Exkurs I :
Gemeindebildung und Bistum (Provinzial-, Stadt- und Dorfbistum)
in der Zeit von Pius bis Constantin.
„Der Apostel Paulus hat I Tim. H (— es sind hier nur Bisehöfe und
Diakonen genannt — ) die Presbyter nicht vergessen, sondern dieselben Amts-
personen führten am Anfang sowohl den Namen „Presbj^ter" als auch den
Namen „Bischof. Die aber, welche die Kompetenz der Ordination hatten
und jetzt „Bischöfe" heißen, standen nicht einer Kirche, sondern einer ganzen
Provinz vor und führten den Namen „Apostel". So hat der selige Paulus
den Timotheus über ganz Asien gestellt und den Titus über Greta. Ebenso
hat er offenbar auch über andere Provinzen andere einzeln aufgestellt: es
sollte ein jeder von ihnen Sorge für die ganze Provinz tragen und somit alle
Gemeinden in ihnen durchwandern, die für den kirchlichen Dienst nötigen
Kleriker ordinieren, schwierige Fragen, die sich unter ihnen erhoben hatten,
lösen, durch Lehrreden sie berichtigen und bessern, schwere Sünden heilend
behandeln und überhaupt alles tun, was einem Vorgesetzten zu tun obliegt
— während alle Städte damals die von mir obengenannten Presbyter hatten,
anzuführen vermögen, aber zu einem Beweise würde es nicht reichen. Soviel
ist indes gewiß, daß die „Schulen" im 2. Jahrhundert und vielleicht noch
sporadisch im 3. wirklich eine gewisse Gefahr für die einheitliche, bischöf-
liche Gemeiudeorganisation bedeutet haben, daß es der Bischofskirche aber
bereits am Anfang des 3. Jahrhunderts gelungen ist, die Haujjtgefahreu zu
beschwören. Die Frage verdient trotz des spärlichen Quellenmaterials eine
eigene Untersuchung.
') Die Ketzermacherei und die Leidenschaft, mit der sich die Christen
untereinander bekämpften, hat schon Celsus (V. 63) scharf betont: ßlaaq^rj-
f.iovoiv eig alXr]Xovg ovxoi jidrdsiva gtjia nai UQQrjxa , xal oux uv sl'Saiev ov(is
xad' oiiovv sig ofi-övotav Jidvir] äXX>)Xovg djiooxvyouvTEg .
374 Di*? Mist^ionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
die die ihnen zu:^teheuden Gemeinden verwalteten. Somit wai-en iu jener alten
Zeit die, die jetzt Bischöfe heißen, damals aber Apostel genannt wurden, für
eine ganze Provinz das, was jetzt für eine einzelne Stadt und ein einzelnes
Doi-fgebiet die [zu Bischöfen] Ordinierten sind. So beschauen war in jener
Zeit die kirchliche Verfassung. Als sich aber die Religion mächtig aus-
gebreitet hatte und nicht nur Städte, sondern auch Dörfer mit Gläubigen
erfüllt', die seligen Apostel aber gestorben waren, da kamen die, welche
danach zur Leitung des Ganzen [der ganzen Provinz] bestellt wurden, jenen
Früheren nicht mehr gleich; auch vermochten sie nicht das Zeugnis durch
"VVundergaben , wie jene, für sich geltend zu machen vind erschienen wohl
auch in sehr vielen anderen Beziehungen geringer als sie. Daher empfanden
sie es als eine Last, den Namen „Apostel'' zu führen, die anderen [bisher
identisch gebrauchten] Bezeichnungen aber verteilten sie: den Namen „Pres-
byter" überließen sie den Presbytern, den „Bischof"' wiesen sie dem zu, der
zu ordinieren befugt sein sollte, so daß er nun mit der Leitung des Ganzen
betraut wäre. Es wurden ihrer aber mehrere, zuerst des Bedürfnisses wegen,
sodann aber auch infolge der Freigebigkeit derer, die diese Veranstaltung
trafen-. Am Anfang waren in einer Provinz in der Eegel zwei oder höchstens
drei Bischöfe — so stand es vor nicht langer Zeit im Abendland in den
meisten Provinzen; in einigen aber findet man die Ordnung auch jetzt noch
bewahrt — : im Laufe der Zeit aber gab e.s Bischöfe nicht nur in Städten,
sondern auch in kleinen Ortschaften, während doch dort ein Bedürfnis,
jemanden mit dem bischöflichen Amte zu betrauen, nicht vorlag."
So hat Theodor von Mopsvestia im Kommentar zum ersten Timotheus-
brief geschrieben*. Die Behauptung, daß in den ältesten Zeiten die Be-
zeichnungen „Presbyter" und ., Bischof" identisch gewesen seien, findet sieh
mehrfach in der Zeit um das Jahr 400; aber im übrigen sind die Ausführungen
Theodors meines Wissens singulär; sie stellen den Versuch dar, die älteste
Organisation der Kirchen zu beschreiben und den wichtigsten Umschwung in
der Geschichte der kirchlichen Verfassung zu erklären. Theodors Meinung
ist in Kürze folgende : Von Anfang an — d. h. in der Zeit der Apostel bez.
durch urapostolische Einsetzung — hat es in den Kirchen ein monarchi-
sches Amt gegeben, an welchem die Komjjetenz der Ordination
haftete; dieses Amt war ein provinzial- kirchliches (jede Provinz be-
saß einen Vorsteher), und der Amtstitel lautete „Apostel"; die einzelnen
Gemeinden aber wurden von Bischöfen (Presbytern) und Diakonen regiert.
Aber bereits nach dem Tode der Apostel * (d. h. der Urapostel) trat ein Um-
.schwung ein. Theodor motiviert denselben doppelt, nämlich erstlich durch
die Ausbreitung der christlichen Religion, zweitens durch die von der zweiten
*) Gr. : fxiyiozai (ih ov tiÖIfi; j-iÖvov a/j.u y.al •/Jh^ui nur jiFniOTFi'xnTociv tjoav,
Vers. Lat.: „repletae antem sunt non modo civitates credentium, sed regiones."
Also ist fiEozal für fisyiarai zu lesen.
*) Gr.: 8ia /uiv zip' ygeiav z6 jiqwiov, vötfoov öf xal v.-fo (/ i/.oTiitias töjv
noiovvzoiv. Man vermutet, daß der Ehrgeiz als Triebfeder genannt sei ; aber
dann mül.He rtür jioiovvzon' fehlen. Also bedeutet '///.on/iid „Freigebigkeit",
und so hat auch die Vers. Lat. den Text verstanden: „postea vero et illis
adiecti sunt alii liberalitate eorum qui ordinationes faciebant."
*) S. Swete, Theodori episcopi Mopsvesteni in epj). b. Pauli commen-
tarii. Vol. II (1882) p. 121 ff.
*) Hier findet sich die erste Unklarheit im Bericht Theodors: „Die
seligen Apostel' sind nicht alle die Männer, die er unmittelbar vorher
, Apostel" genannt hat, sondern .sind entweder die Apostel im engsten .Sinn
oder diese und dazu Männer wie Timotheus und Titus.
Gemeindebildung und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 375
Generation der Apostel selbst gefühlte Schwäche. Daher beschlossen diese
Apostel 1. den Namen , Apostel" abzulegen und ihn damit in Wegfall zu
bringen ', 2. die monarchische Gewalt, d. h. die ')rdinations-Kompetenz, meh-
reren Personen in der Provinz zu übertragen. So ergab sich der Zustand,
daß in einer Provinz zwei oder drei Bischöfe — das Wort nun im Sinne der
monarchischen Gewalt — existierten. Dieser Zustand sei bis vor kurzem in
den meisten Provinzen des Abendlandes die Regel gewesen und dauere in
einigen Provinzen dort jetzt noch fort. Aber im Morgenland sei es auch
dabei nicht geblieben. Teils das Bedürfnis (das Wachstum der Christenheit
in den Provinzen;, teils .die Freigebigkeit" ^ habe die Zahl der Bischöfe
vermehrt, so daß zuletzt nicht nur die Städte, sondern selbst Dörfer Bischöfe
erhalten hätten, während doch für eine solche Einrichtung kein wirkliches
Bedürfnis vorhanden sei.
Zunächst ist es dem Theodor anzurechnen, daß er für die universal ein-
setzende und absteigende Organisation der Kirchen in ältester Zeit einen
Sinn besessen hat. Es ist in der Tat so; das Ganze war früher als der Teil,
d. h. die durch die Apostel bewirkte Organisation war zunächst eine uni-
versale und provinzial-kirchliche. Judäa, Samarien, Syrien, Cilicien, Galatien,
Asien, Macedouien usw. stehen den Aposteln vor der Seele und figurieren
in ihren Berichten. Wie die heute missionierenden, aus dem Auslande
kommenden Sekten , Brandenburg", ,.Sachsen", ,,Bayeni" erobern, indem sie
in Berlin, Dresden, München und etwa noch ein paar anderen namhaften
Städten festen Fuß fassen, wie sie sofort in Gedanken und in einigen Maß-
nahmen die Provinz umspannen, so war es auch damals. Auch die Aus-
dehnung des Namens , Apostel' ist an sich richtig beobachtet. Aber frei-
lich schon hier beginnen die Bedenken. Daß die Apostel, d. h. die Zwölf
und Paulus, die anderen „Apostel'" — das Wort im weiteren Sinn — sämt-
lich , eingesetzt" haben, ist an sich unwahrscheinlich, wird durch positive
Zeugnisse widerlegt^ und erklärt sich bei Theodor sehr einfach aus dem
Vorurteil, letztlich müsse doch alles auf die Anordnung der Urapostel zurück-
gehen. Ferner, daß jeder Provinz ein Apostel -Bischof vorgesetzt worden
sei, ist eine Annahme, die nicht auf wirklicher Kunde beruht, und die alles
gegen sich hat. was wir von der universal kirchlichen Natur des Apostel-
amts wissen. Endlich, die Ausschließlichkeit, in welcher die Ordinations-
kompetenz mit dem Apostel-Bischofsamt verknüpft wird, ist mindestens nicht
zu kontrolieren. In allen diesen Beziehungen scheint Theodor lediglich
herrschende Vorstellungen und gewagte Hypothesen in das Bild eingetragen
zu haben, welches er von der ältesten kirchlichen Organisation entworfen
hat. Wir können übrigens noch nachweisen, auf welchen schmalen Grund-
lagen seine Annahmen beruhen. Sehe ich recht, so hat er nichts anderes
zur Verfügung gehabt als das traditionelle Bild von der kirchlichen Stellung
des Timotheus und Titus, welches man aus den Pastoralbriefen abstrahierte,
sowie die kirchlichen Nachrichten und Legenden über das Wirken des Johannes
*) Dies muß man supplieren (und das ist die zweite Unklarheit); im
Text steht nur: ßagv vouiaavreg rtjv läv ujiootöXcov s/eiv jigoorjyootav. Was
aus ihnen selbst geworden ist, nachdem sie den Namen und die Kompetenz
abgelegt haben, verschweigt Theodor.
^) Hier ist die dritte Unklarheit des Berichts. Unter der „(pi^.ozifua zöjv
jioioivzcov" scheint die Freigebigkeit der abtretenden „Apostel" verstanden
werden zu müssen; aber der Prozeß setzte sich — auch nach der Meinung
Theodors — noch fort, nachdem die , Apostel" längst abgetreten waren.
^) Man vergleiche, was Paulus und die Didache über Apostel, Pro-
pheten und Lehrer bemerken. Gott setzt die Apostel ein, bez, der „Geist".
376 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
in Asien ^ Dies hat er generalisiert und daraus die Vorstellung einer all-
gemeinen Einsetzung von , Aposteln" = Provinzbischöfen geschaifen^
„Apostel" = Provinzbischöfe — dies Gebilde Theodors ist ein Phantasie-
gebilde: aber vielleicht birgt es doch ein Korn geschichtlicher Wahrheit in
sich. Wir werden sehen; zunächst müssen wir Theodors Ausführungen weiter
folgen.
Er hat richtig erkannt, daß jede Orientierung über den Ursprung der
kirchlichen Organisation bei den Aposteln und ihrem Missionswirken ein-
zusetzen habe. Man wird hinzufügen dürfen: die in der Mission und durch
sie gesetzte Organisation wird sich zu behaupten versuchen, auch nachdem
lokale Gewalten und Ordnungen geschaffen waren, die sich nun mit eigenem
Rechte geltend machten. Aber das Eigentümliche in Theodors Auffassung
besteht darin, daß er ein vom Ursprung her bestehendes eigenes
Recht der lokalen Gewalten gar nicht kennt. Alles, was die ueu-
testamentlichen und überhaupt die ältesten christlichen Schriften darüber
enthalten, sieht er nicht; denn es muß auch hier alles von urapostolischer
Anordnung bez. Konzession ausgegangen sein, d.h. von oben nach unten.
Zwar die „Schwäche" der „Apostel" in der zweiten Generation konstatiert
er — eine ganz merkwürdige Behauptung, deren Grundlage das Aufhören
der Wundergalien ist* — , aber die „Apostel" sind kraft eigenen Entschlusses
vom Schauplatz abgetreten und haben ihre Gewalten auf andere verteilt:
nur so konnte die lokale Kirchengewalt entstehen! Eine höchst
künstliehe Theorie, ganz beherrscht von dem Zauberbegriff des Apostolischen.
Die lokale Kirchengewalt (bez. der monarchische und souveräne Episkopat)
innerhalb der Einzelgemeinde hat durch Übertragung ihren Ursprung von
der „apostolisch"-provinzialeu Gewalt erhalten. So lauge die Apostel lebten,
war jene ganz unselbständig. Aber auch dann entstand nicht sofort die
souverän -bischöfliche Gewalt innerhalb jeder geschlossenen Einzelgemeinde.
Vielmehr — behauptet Theodor — seien es ursprünglich nur zwei oder drei
Städte in jeder Provinz gewesen, die einen Bischof (nun im neuen Sinn des
Worts) besessen hätten. Erst später und nach und nach seien zu diesen
Städten noch andere, ja auch Dörfer hinzugekommen, während sich in den
1) Es ist sogar wahrscheinlich, daß ihm neben Tit. 1, 5 ff", und I Tim.
;n Iff. vor allem die bekannte Stelle bei Clemens Alex., Quis dives salv.
(s. Euseb., h. e. III. 23) vorgeschwebt hat; denn seine Schilderung der Auf-
gaben des Apostel-Bischofs deckt sich in wesentlichen Zügen mit dem, was
dort von dem Wirken des Johannes erzählt ist (§ 6: öjioy fisr sjiioxö.^ovg
y.azaazijooiv , Öjtov Öe o/la? F.y.xhjolai dofwooyv, öxiov dk xh)Qq) sva ys rtva x?.}]0(o-
OMV rojv vjio rov m'evfiaToc; orj/iaivonh'on', dazu die Schilderung, wie Johannes
hier einen schweren Fall behandelt hat).
2) 1 Clem. ad Cor. 40 ff. kann ihm nicht vorgeschwebt haben, denn an
diesem Berichte wäre seine merkwürdige und künstliche Vorstellung von
„Aposteln" = Provinzbischöfen gescheitert. Ganz klar beißt es hier (c. 42),
dal.") die Apostel xurä -/mqu; xal Jiöhig xtjnvaaovrfg xal rov? v.-raxovorTag zf]
ßovh'jCFi ToT> deov ßaJiri'QovzFQ xadlozavov zag sjiaQ'/ug avziöv, Öoxi/iidaavzFg z(p
jirf.vnazi, Eig fjiinxöjiovg xal Öiaxövovg zun' /iF./J.nvz(ov .riazsvsiv , und in
c. 44 v/ird nicht eine Sukzession von Aposteln nach Aposteln, sondern von
Bischöfen nach Bischöfen erzählt.
') Theodor scheint so verstanden werden zu müssen, daß er das Auf-
hören der den Aposteln bisher geschenkten Wundermacht als ein göttliches
Zeichen für sie betrachtet hat, sie sollten sich nun selbst quiesziereu. —
Das Aufhören der apostolischen Wund^-rmacht in irgendeinem Moment der
Geschichte war eine weitverbreitete Überzeugung (s. darüber Origenes an
mehreren Stellen, den Theodor fleißig gelesen hat). Wuudermacht und
apostolische Wundermacht sind übrigens nicht identisch.
Gemeindebilduug und Bistum in der Zeit von Pius l>is Constantin. ;}77
meisten Provinzen des Abendlandes der ältere Zustand noch bis vor kurzem
(und in einigen sojiar bis zur Gegenwart) erhalten hal)e'.
Diese ganze Theorie über den Ursprung des lokalen, monarchischen
Episkopats ist an sich undiskutierbar *: denn man darf unbedenklich sngen,
dal.^ Tlieodor keine urkundliche Unterlage für sie besessen hat. Während,
er für seine „Apostel" = Provinzbischöfe wenigstens den Schein historischer
Beglaubigung durch Berufung auf Timotheus, Titus bez. Johannes geltend
machen konnte, fehlt hier jede Beglaubigung. Man mul5 fragen, wer waren
denn jene abtretenden Apostel, woher weiß man von ihrem Verzichte, woher
weiß man von der Gewalten-Übertragung, die sie vorgenommen haben sollenV
Auf diese Fragen hätte Theodor — wir dürfen das bestimmt sagen — die
Antwort schuldig bleiben müssen ; denn in welchen Urkunden war darüber
etwas zu lesen? Nicht ohne Grund hat Theodor daher auch den Moment
des Verzichts verschleiert; man kann nur ahnen, daß er etwa um das Jahr
100 eingetreten sein soll ^.
Dennoch hat mau Grund. Theodors Ausführungen nicht einfach bei-
seite zu werfen; denn sie regen einen Komplex von Fragen an, dem die
Aufmerksamkeit der Historiker bisher nicht genügend zuteil geworden ist:
wie verhalten sich Gemeinde -Bischof, Territoria]-(Provinz-j Bischof — wenn
es einen solchen gegeben hat — und Metropolit? In bestimmterer Fassung:
hat es Territorial- (Provinz-) Bischöfe in frühester Zeit gegeben, und ist der
Territorial-iProvinz-)Bischof vielleicht sogar älter als der Gemeinde-Bisehof?
Ferner, sind etwa die durch diese zwei Ämter bezeichneten disparaten Organi-
sationen gleichzeitig erwachsen und haben sich erst später ausgeglichen ?
Endlich, ist die erst in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts erkennbare
Metropolitenwürde älteren Ursprungs, ist sie vielleicht nur die Fortsetzung
eines früher bestehenden provinzial- kirchlich monarchischen Amtes? Diese
Fragen haben für die Verbreitungsgeschichte, ja für die Statistik der ältesten
Christenheit eine hohe Bedeutung; denn angenommen, daß es in zahlreichen
Provinzen Generationen hindurch die Regel gewesen ist, es bei einem, zwei
oder drei Bistümern zu belassen, so könnte man aus der geringen Zahl von
Bistümern in gewissen Provinzen nicht schließen, daß das Christentum nur
spärlich in ihnen vorhanden gewesen sei. Die Untersuchung dieser Frage
ist aber um so dringlicher, als jüngst Duchesne sie gestreift*, auf Theodors
Ausführungen, wenn auch mit Zurückhaltung, sich berufen und in bezug
auf die Organisation der Kirche in Gallien weittragende Schlüsse gezogen
hat. Wir werden zunächst seine Aufstellungen (p. 1 — 59) kennen zu lernen
habend Ich gebe das Hauptresultat in seinen eigenen Worten:
') Theodor scheint diesen älteren Zustand für den idealen zu halten,
jedenfalls gibt er seinem Mißfallen über die Dorf- Bistümer Ausdruck.
-) Um so mehr, als Theodor auf die Frage, wie die Einzelgemeinde
am A n f a n g regiert worden ist ( kollegial oder durch einen Presbyter-
Bischof), nicht eingeht. Wie es in der Einzelgemeinde zur Monarchie ge-
kommen ist, darüber schweigt er. Man scheint annehmen zu müssen, daß
nach seiner Meinung die Einzelgemeinden Generationen hindurch kollegial
regiert worden sind.
') Einen „Beweis" bringt Theodor lediglich für die Behauptung bei,
daß ursprünglich nur zwei oder drei Bistümer in jeder Provinz gewesen
seien; er verweist auf die abendländischen Verhältnisse, wie sie jüngst be-
standen hätten und zum Teil noch bestünden. Aber hier ist zu fragen, ob
dieser Zustand richtig beobachtet ist, und ob er mit dem, was um das Jahr
100 eingetreten sein soll, wirklich verknüpft werden darf.
*) Fastes episcopaux de l'ancienne Gaule I (1894j p. 36 ff'.
*) Man beachte, daß Duchesne diese Schlüsse nur für Gallien gezogen,
378 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
P. 32. .,Dans les piiy.s situes a quelque distance de la Mediterranee et
de la basse vallee du Rhone, il ne s'est fonde aucune eglise (Lyon exceptee)
avant le milieu du III t' siecle environ."
P. 08 f. tII en resulte que, dans Paucienne Gaule celtique, avec ses
grandes subdivisious en Belgique, Lyonnaise, Aquitaine et Geruianie, une
seule eglit-e existait au II e siecle, celle de Lyon" Ce que nos documents
nous apprennent, c'est que Peglise de Lyon etait, en dehors de la Narbonnaise,
non la premiere, mais la seule. Tous les chretieus epars depuis le
Rhin jusqu'aux Pyrenees' ne forniaient qu'une seule commu-
naute; ils reconnaissaieut un chef unique, l'eveque de Lyon."
P. 59. , Avant la fin du III ^ siecle — sauf toujours la region du bas
Rhone et de la Mediterranee. — peu d'eveches en Gaule et cela seulenient
dans les villes les plus importantes. A l'origine, au premier siecle chretien
pour notre pays (150 — 250), une seule eglise, celle de Lyon, reunissant dans
un menie cercle d'action et de direction tous les groupes chretiens epars
dans les diverses provinces de la Celtique."
I)uchesne ist zu diesem Ergebnis auf Grund folgender Beobachtungen
gelangt :
L Kein glaubwürdiges Zeugnis für irgend eines der gallischen Bistümer
außer Lyon reiche über die Mitte des o. Jahrhunderts hinauf'-. Die Bischofs-
listen, soweit sie überhaupt in Betracht kommen, führen auch nicht weiter;
so werde Verus von Vienne, der bei dem Konzil von Arles im Jahre 314 zu-
gegen gewesen ist, in den Listen als der 4. Bischof gezählt. Also könne der
Ursprung des Episkopats daselbst schwerlich vor + 250 angesetzt werden.
2. In dem bekannten Schreiben von Vienne und Lyon (Euseb., h. e. V, 1)
laute die Aufschrift: ol h' Bih'r>j x(d AovydovvM rrj? FaVaa? craooixovvreg
SovXoi Xqioxov. Diese Aufschrift sei analog den Aufschriften: ■>) Fxy.kr^oia tov
deov rj jiarjotxovan 'Pwftt]v bez. KÖQivdov, ^>iXinjiovg, Sf-ivQvav u. s. w. imd stelle
somit nach der nächstliegenden Auffassung die beiden Gemeindtn als eine
Einheit dar^.
ö. In dem Schreiben werde „der Diakon Sauctus von Vienne" erwähnt;
diese Formel erkläre sich schwer, wenn es sich um einen der Diakonen des
Bischofs von Vienne gehandelt hätte, sie sei aber sehr natürlich, wenn Sanctus
der die unselbständige (iemeinde von Vienne leitende, von dem Lyoneser
Bischof delegierte Diakon von Vienne gewesen sei, Vieime selbst also keinen
Bischof gehabt habe.
4. Irenäus spreche in seinem großen Werk von Kirchen in Germanien
sowie bei den Iberern, Gelten und Libyern; nun stehe es aber fest, daß es
und daß er in bezug auf andere Provinzen sein letztes Wort noch nicht
gesprochen bat. Ich habe Grund zu der Annahme, daß seine und meine
Beurteilung nicht sehr verschieden sind. Ich polemisiere daher im folgenden
nicht gegen ihn, sondern gegen Schlüsse, die aus seinen Darlegungen gezogen
werden können.
') Die Erwähnung der Pyrenäen macht es klar, daß Duchesne in das
Gebiet, in welchem Lyon das einzige Bistum gewesen sein soll, auch Aqui-
tanieu und den äußersten Südwesten Frankreichs einschließt.
-j Nur Arles hat sicher vor dem Jahre 250 bestanden, wie aus dem
Briefwechsel Cyprians hervorgeht; aber es liegt in der Narbonensis, und
diese Provinz ist von der hier schwebenden Betrachtung ausgeschlossen.
^; Dieses Argument ist allerdings vorsichtig gefaßt (p. 40): ,Cette for-
mule semble plutot designer un groupe ecclesiastique que deux groupes
ayant chacun son Organisation distincte; en tout cas, eile n"otfre rien de
contraire ä l'indistinction des deux eslises."
Gemeindebildung und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 37;)
in Germanien (den römischen Militärproviuzen Germanien; an das freie Ger-
manien sei nicht zu denken) damals organisierte Kirchen noch nicht gegeben
hat; spreche hier Ireuäus doch von , Kirchen", so meine er also Kirchen, die
nicht Bischofskirchen waren ^
5. Theodor (s. 0.) bezeuge, daß im Abendland in den meisten Provinzen
bis vor kurzem nur zwei bis drei Bischöfe gewesen seien, und daß dieser
Zustand noch eben in einigen andauere; da für Süd-, Mittel -Italien und
Africa eine große Anzahl von Bistümern bezeugt ist, so müsse man an die
anderen abendländischen Länder denken ; zwar decke das Zeugnis Theodors
streng genommen nur seine eigene Zeit, aber es füge sich tretflich zu den
Argumenten 1 — 4, und es liege in der Natur der Sache, daß die Bistümer in
der früheren Zeit nicht zahlreicher waren als in der späteren.
6. Eusebius (h. e. V, 23) erwähne einen Brief twv xazä ra).ltav nagoi-
Hicüv äg ElQrjvaiog EJieoxönei. Allerdings bezeichne Jiaooixla gewöhnlich die
bischöfliche Diözese, und Eusebius habe das Wort in diesem Sinn in dem-
selben Kapitel gebraucht; aliein man müsse dem Wort hier doch eine
andere Bedeutung geben. „Le verbe EJiioy.ojinr ue saurait s'enteudre d'une
simple presidence comme serait celle d'un metropolitain ä la tete de son
concile. Cette derniere Situation est visee daus le meine passage d'Eusebe;
en parlaut de l'eveque Theöphile, qui presida celui du Pont, il se sert de
l'expression jiQovihaxro.'^ Also bedeuten in diesem Falle miQoixiai „grouj)es
detaches, disperses, d'une meme grande eglise" — ,plusieurs groupes de
chretiens, epars sur divers points du territoire, un seul eeutre ecclesiastique,
un seul eveque, celui de Lyon."'
7. Auch in anderen großen Provinzen fänden sich analoge Erscheinungen
(daß zunächst und längere Zeit hindurch nur ein Bischof vorhanden gewesen
sei); allein der Nachweis würde zu weit führen^; Duchesne begnügt sich
daher, einen besonders schlagenden Beleg anzuführen. Der anonyme Anti-
montanist, der in Jahre 192 (193) geschrieben hat (Euseb.. h. e. V, 16), erzählt,
er habe, als er nach Ancyra in Galatien gekommen sei, die pontische
Kirche (lijv xaia TIövxov exxlrjolav) von der neuen Prophetie angefüllt und
verwirrt gefunden. Ancyra liegt nicht im Pontus und — „ce n'est pas des
nouvelles de l'eglise du Pont qu'il a eues ä Ancyre, c'est l'eglise elle-
meme, l'eglise du Pont, qu'il y a rencontree. Hieraus folge mit
Wahrscheinlichkeit •\ daß die Kirche des Pontus noch zur Zeit des Septimius
Severus um das Jahr 200* ihren „chef-lieu" in Ancyra hatte.
8. Eine Bestätigung für die äußerst langsame Zunahme der Bistümer
in Gallien biete noch das Konzil von Arles (314); daselbst seien vier Pro-
vinzen (la Germanie L, la Sequanaise, les Alpes Grees et Pennines, les Alpes
*) So glaube ich Duchesnes Argumentation verstehen zu müssen (p. 40 f.);
ganz klar ist sie mir nicht geworden.
^) P. 42: „D'autres eglises que celle de Lyon ont eu d'abord un cercle
de rayounement tres etendu et ne se sont en quelque sorte subdivisees
qu'apres une indivision d'assez longue duree. Je ne veux pas entrer ici dans
l'histoire de l'evangelisation de l'empire romain: cela m'entrainerait beau-
coup trop loin. 11 me serait facile de trouver en Syrie, en Egypte et ailleurs
des termes de comparaison assez interessants. Je les neglige pour me borner
a un seul exemple etc."
*) Duchesne verweist auch noch auf die Nachrichten über die Christen
im Pontus, die wir bei Gregorius Thaumaturgus besitzen.
*) In diese Zeit setzt also Duchesne den Anonymus; meines Erachtens
etwas zu spät.
SSO Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Maritimes) nicht vertreten gewesen, also könne man annehmen, daß sie
autonome Kirchen überhaupt noch nicht besessen haben'.
Zu diesen Argumenten für die Annahme der Existenz von Bischofs-
kirchen, die sich über weite Gebiete und zahlreiche Städte, ja über mehrere
Provinzen zugleich erstreckt hätten, möclite ich. bevor ich sie prüfe, noch
eine Reihe von Beobachtungen stellen, die zugunsten der Hypothese zu
sprechen scheinen :
1*. Paulus (II Cor. 1, 1) schreibt: . . . rfi ixxXijola tov Oeov rfi oi'o/j iv
Kogiv&fi} orr roTg ayiotg Jiäaiv röig ovoiv ir ohj rfi 'Ayjun.
2*. In den Ignatiusbriefen (um das Jahr 115) heißt Antiochien nicht nur
al'solut ■)] fV ^vQin }HxX}]oia (Kom. 9, Magn. 14, Trall. 18), sondern Ignatius
selbst nennt sich auch 6 sjiioxojjo? ^vQlag (Rom. 2).
3*. Dionysius von Corinth (Euseb., h. e. IV, 23. 5) schreibt einen Brief:
7/7 Exxh]oln rfj jiaQoixovo)] Fofiivrav a/ia raTg /o^7«^c xarä Koi'jtijv, 'Pi'/.i.-tjtov
£jTiaxo:^ov avrcöv djrodeyö/iievog.
4*. Ebenderselbe (a. a. 0. ^ 6) schreibt einen Brief: ri] ixxXtjot'n rfi
jTnooixot!G)/'AfiaoTQiv OLfia raig xarü IIöviov, Baxyvllöov /tkr xai 'EX^jicotov (haäv
ui'Tüv ijTi TU yQmpai jTQoz^eij'dvTMr ftefirr/fdrog . . . fjiioxojrov avTcor drü/iari
Half luv vjTOotjfiah'ior.
5*. Euseb., h. e. 111,4,6 heißt es: Ttfw&EÖg ya fo/)' tTjc tr 'Eq^iow
-innoixiug laTonsnai jtowto? tijv t.yioxo.-Tijv sthj/erni , wg xai Ti'rog töjv im
Ko/jztjg ixxhjGiwv.
6*. Euseb., h. e. V, 24, 11: 6 EiQtjvaiog ix jtpoomjtoi' lor i'jytTTo xard Ttjf
Falliav adFlqHov imoTslXag , vgl. VI, 46: Aiorvoiog zoig xaiä 'Agfitri'ar uösX'i'oTg
iniGTeXlEi, (jjv ijreoxdjisin; Msoovl^mn^g.
1*. Euseb., h. e. VI, 2, 2: zöw Ök iv Aiyvjzzo) :raf>oixtojt' zijv i.-Tiaxo.-zi/v
vKoazl zöze fieza UovXiavov AtjfujzQiog imEiXy'jqtEi.
8*. Euseb., h. e. VII, 14: zijg fter 'Piofiaicov ixxXi]olag . . . Evozog, zyg ds
ijz' 'Ai'zioyEiug . . . Atj/Djzgiavög , 'PiQ/.itXiardg 8f. Katoagsi'ag rfig Kajznaöoxöjv,
y.ai EJzl Tovzoig ziöv xaTÜJIörzov i x x X >j o i lo r Fgtjyogiog xai d zoinov d8s/^(p6g
AdtjvndcoQOg.
9*. P]useb., h. e. VII, 28: 'PigfuXiavdg [üv zT/g Kajzjzadoxwv Kataagsiag
i.-zioxojzog tjv, Fgi^yögiog dk xal'AOtjvoÖcogog dftfX.q'oi zöiv xazäTIövzor jzagoi-
X I cöv jzoi/iivsg, xai im rovzotg "EXerog zfjg iv Tdgoo) jzagoixiag, xai Nixofiäg Tijg
iv Fxovup, xzX.
10*. Euseb., h. e. Vll , 32, 20: MsXJziog nor xazd Ilürzov ixxXijouJjv
i7ilaxo:iog.
11*. Eusel>., h. e. VII, 26. 3: BaniXu'öijg 6 p^arä zijv nevzd.ToXiv .-ragoixuov
ijTt'oxojzog.
12*. Euseb., h. e. VIII, 13,4.5: ^iXßarug töjv d/;<)i zlp-'E/aoav ixxXijotöJr
iixioxojzog .... ^iXßavdg inlaxojzog rojv dfi(pl zljv /«C«'' ixxX)]oia)v.
13*. Subscr. Nicaenae syuodi (ed. Geizer et socii) : KaXaßglag. Mdgxog
KaXaßglag. — AagÖaviag. Adxog MaxsSovi'ag. — (-^moaXiag . KXavÖiardg (-haoa-
Xiag, KX.sdvixog (•JijßcTjv. — llavvoviag. Aöfi.vog Tlavvoviag. — Eozdiag. OsüffiXog
l'ozOiag. — Boojzögov. Kdö/iog Boö:jdgov.
') Ein Gegenargument hat Duchesne berücksichtigt. Cypr. ep. 68 heißt
es, Eaustinus, Bischof von Lyon, habe an den Papst Stephanus (um das
.hihr 254) geschrieben, sowohl in seinem Namen als in dem der „ceteri coepis-
copi nostri in eadem provincia couslituti". Duchesne räumt ein, daß die
fiühesten Pistümer (nach Lyon) bereits damals in der Lugdunensis bestanden
habim könnten, er meint aber, es liege näher, an die Bischöfe an der unteren
Rhone und am Mittelmeer, also in der l^ruvinz Narbonensis zu denken, die
ja längst Bischöfe besessen habe.
Gemeindebilduug und Bistum in der Zeit von Pins bis Constantin. 381
14*. Apost. Constit. VII, 40: Koiiaxtj: xwv xarn raXarlav txy.Xrjouov,
lAxvXa? Ök xal NixtjTt]? rwr xaza 'Aatar TraQoiy.iwv^.
15*. Sozomenus (VII, 19) sagt, Scythion habe nur einen Bischof, ob-
gleich viele Städte daselbst seien (vergl. dazu Theodoret, h. e. IV, .'31, wo
Bretanio der Hohepriester aller Städte in Scythien heißt).
Ad 1. Das erste Argument Duehesnes ist ein argumentum e .silentio.
Dazu kommt, daß wir keine Schriften haben, in denen direkte Angaben über
alte gallische Bistümer zu erwarten wären; also ist das argumentum e silentio
kaum als Argument in Betracht zu ziehen. Es ist aber das einzige absolut
zuverlässige Zeugnis, welches wir für die Geschichte der gallischen Kirche
aus der Mitte des 3. .Jahrhunderts besitzen, von Duchesne zwar gestreift,
aber nicht gewürdigt worden — Cypr. ep. 68 -. Dieser Brief Cyprians an den
römischen Bischof Stephanus sucht diesen für die Absetzung des novatianisch
gesinnten Bischofs Marcian von Arles zu gewinnen und beginnt mit den
Worten: „Faustinus coUega noster Lugduni consistens semel adque iterum
mihi scripsit significans ea quae etiam vobis scio utique nuntiata tam ab-
eo quam a ceteris coepiscopis uostris in eadem provincia constitutis." Daß
hier unter „eadem provincia" die Narbonensis zu verstehen ist, ist sehr
unwahrscheinlich; denn (1) Lyon lag nicht in der Narbonensis, (2) wenn die
Bischöfe der Narbonensis selbst Gegner des Marcian gewesen wären und ihn
hätten abschütteln wollen, so müßte der Brief Cyprians auders lauten, als
er lautet, und es wäre schwerlich nötig gewesen, daß die drei größten
Bischöfe des Abendlandes, der von Lyon, Carthago und Rom, in die An-
gelegenheit eingi-ift'eu, (3) c. 2 schreibt Cyprian: „quapropter faeere te oportet
plenissimas litteras ad coepiscopos nostros in Gallia constitutos, ne ultra
Marcianum pervicacem et superbum . . . collegio nostro insultare patiantur"
und c. 3; „dirigautur in provinciam et ad plebem Arelate consisten-
tem a te litterae quibus abstento Marciano alius in loco eins substituatur".
Augenscheinlich handelt es sich hier um zwei (bez. drei) Briefe, nämlich um
einen an die Bischöfe Galliens, und einen zweiten (bez. 2. und 3.), der nicht
nur an die plebs Arelate consistens, sondern auch an die provincia — dar-
unter kann nur die Narbonensis, in der Arles lag, verstanden werden — zu
richten sei. Hieraus folgt, daß die ,coepiscopi uostri in Gallia constituti"
(c. 2) schwerlich identisch sind mit den Bischöfen der Narbonensis, und dar-
aus ergibt sich weiter — was an sich bereits als die nächstliegende Er-
klärung erscheint — , daß die „coepiscopi nostri in eadem provincia con-
stituti" (c. 1) die Bischöfe der lugdunensischen Provinz sind. Also besaß
die Lugdunensis zur Zeit Cyprians mehrere Bischöfe, die be-
reits zu einer Synode zusammengeschlossen waren^ und mit
Rom korrespondierten. Wie alt die Bistümer waren, können wir aus
der Stelle nicht enträtseln ; daß sie sämtlich eben erst gegründet gewesen
sind, ist jedenfalls nicht das Wahrscheinliche. Nun verweist aber Duchesne
in diesem Zusammenhang darauf, daß der auf dem Konzil zu Arles (314) an-
wesende Bischof Verus von Vienne in einer alten Liste als der vierte Bischof
^) Nur der Vollständigkeit wegen sei angeführt, daß der liber Prae-
destinatus „Diodorus episc. Cretensis" (c. 12), „Dioscurus Cretensis episc." (c. 20),
„Craton episc. Syrorum" (c. 33), „Aphrodisius Hellesponti episc." (c. 47), „Basi-
iius episc. Cappadociae" (e. 48), „Zeno Syrorum episc." (c. 50), „Theodotus
Cyprius episc." (e. 56) anführt.
-) Siehe die Anmerkung auf der vorigen Seite.
^) So wird man das ,tam a Faustiuo quam a ceteris coepiscopis nostris
in eadem provincia constitutis" Cyprians verstehen müssen.
3^2 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
von Vienne gezählt werde : somit könne der Ursprung des Bistums daselbst
schwerlich vor +_ 250 fallen. Allein die Liste selbst ist .jung und frag-
würdig; und selbst zugestanden, sie sei zuverlässig, so ist es willkürlich, eine
mittlere Durchschnittszeit von 18 Jahren für die Dauer eines Episkopats
anzunehmen. Gesetzt aber auch, dies wäre zutreffend, so wäre eben nur zu
folgern, daß Yienne (obschon in der Narbonensis gelegen, wo auch nach
Duchesne Bistümer in früher Zeit gegründet worden sind) sein Bistum erst
später erhalteu hat. Für die Städte der Lugdunensis wäre aus dieser Tat-
sache nichts zu folgern.
Ad 2. Duchesne meint, die Aufschrift des Briefs (Euseb., h. e. V, 1):
Ol SV Bihrij y.ai Aovyöovvco rfjg FakUag jzaootxovvteg dov?.oi Xqiotov scheine
die Christen von Vienne und Lyon als eine einheitliche Gemeinde zu be-
zeichnen. Allein wenn dem so wäre, müßte man erwarten, daß Lyon voran-
stünde, da ja nur in Lyon ein Bischof gewesen sein soll, nicht aber in Vienne.
Ferner, nicht von iy.y.hjolai oder exy.hjoia, sondern von öovloi Xqiotov ist die
Rede, wie ja auch in der Adresse o'i y.axä Ttp' 'Aaiav y.al <Pov)'iav adelqpoi,
nicht aber „Kirchen" genannt werden. Also läßt sich über die Organisation
der Christen aus dieser Stelle überhaupt nichts entnehmen. Vienne und
Lyon lagen, obgleich sie zu verschiedeneu Provinzen gehörten, sehr nahe
bei einander, und die Christen daselbst hatten dieselbe Kalamität erlebt: so
erklärt es sich, daß sie ad hoc einen gemeinsamen Bericht abgestattet haben.
Es kommt aber noch hinzu, daß § 13 ausdrücklich von den beiden Kirchen
gesprochen wird (ovllsyrjvai ey. töjv ovo tyxhjouov Jiävzag rovg ojtovöaiovg).
Ad 3. 'EvEoytjipsv t) ogyi} Jiäoa Fig Zäyxzov rov'^ didyorov utto Bievv)]g.
Duchesn es Erklärung. Sanctus sei hier als der die unselbständige Gemeinde
leitende, von dem Lyoneser Bischof delegierte Diakon von Vienne bezeichnet,
ist möglich, aber keineswegs sicher. 'Ajio ist in diesem Sinn ungewöhnlich
(wenn auch nicht unerträglich)-; man kann sehr wohl übersetzen: „der aus
Vienne stammende Diakon" [seil, der Gemeinde von Lyon]^. Gesetzt aber
auch, Sanctus sei hier als Diakon der Gemeinde von Vienne bezeichnet, was
auch ich für das Wahrscheinlichere halte, so scheint mir die Folgerung doch
vorschnell und bedenklich, Vienne habe nur einen Diakon und keinen
Bischof (auch keinen Presbyter) besessen. Da ist doch auf den Artikel vor
öiö.y.ovov zu viel gebaut! Indes, es mag dem so sein; wir kommen später
noch einmal auf diese Stelle zurück. Nur soviel sei hier noch gesagt, daß
die ausdrückliche Bezeichnung des Pothinus in dem Brief nicht als „unser"
Bischof, auch nicht als „der" Bischof, sondern als 7>)v Ötayoviav t>)c l^i-
oxoTiiig Tfjg sv Aovyöovvco jismotevfisvog , der Hypothese, nur Lyon, nicht
aber Vienne habe damals einen Bischof besessen, wenig günstig ist.
Ad 4. Die Stelle Iren. I, 10, 2 (yal oihe ai iv FsQ/naviatg lögv/iarai iy.xb}-
oi'ui äXlcog TiEJiioisvxaaiv i] ä).loig nagaöiööaoiv , ovzs ev xdig 'IßrjQiaig, oi'rs h'
KflzoTg, ovzs xazlx zag ävazoläg ovts iv Alyvjizo) , ovzs iv Aißmj ovzs ai xazä
nson zov y.ooitov iS^v/isvai) ist bei sehr skeptischer Auslegung neutral — wie
die Kirchen in Germanien und bei den Kelten organisiert waren, geht aus
') So liest mit Recht Schwartz.
■^) Vgl. Euseb., h. e. V, 19: Ailtog TlovjrXiog Fov/uog djTo Asßshov y.o/.(ovsiag
zyg Soüy.t^g i:iioxo7Tog. Die Parallele ist freilich nicht schlagend, da sich
Julius" damals auf einer Versammlung in Phrygien befand, als er selbst die.se
Worte niederschrieb.
') Vgl. das gleich folgende elg 'AzTa?Mv IIsQynfup-ov zö> yivsi, ferner § 49:
'A?J^av()(jög xig , <Pqv'^ /.isv zo ysvog , iazQog ds zijv ijiiozyfnjv. Neu mann (Der
römische Staat und die allg. Kirche I [1890] S. 30) schreibt: „Erscheint der
Diakon Sanctus von Vienna vor dem Tribunal des Legaten der Lugudunensis,
so ist Sanctus in Luguduuum ergriifen worden."
Gemeiudebilduug und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 3S3
deu Vv orten nicht hervor — : aber die nächstliegende Erklärung ist doch die,
daß diese ,, Kirchen" ebenso vollständig und in sich geschlossen waren wie
die mit ihnen auf gleicher Stufe genannten Kirchen des Orients, Ägyptens,
Libyens und des zentralen Südeuropas. Jedenfalls läßt sich aus der Stelle
nichts für Duch esn es Ansicht folgern; die Meinung, in Germanien könnten
in sich geschlossene Kirchen nicht vorhanden gewesen sein, ist eine petitio
principii.
Ad 5. Theodors von Mopsvestia Zeugnis kann für die älteste Zeit an
sich nicht ins Gewicht fallen; auch setzt er voraus, daß nach dem Abtreten
der , Apostel" {^=- Proviuzbischöfe) jede Provinz zwei bis drei Bischöfe erhalten
habe; Duchesne will nachweisen, daß die drei Gallien etwa 100 Jahre hin-
durch nur einen Bischof besessen hätten.
Ad 6. Dieses Argument scheint auf den ersten Blick besonders schlagend,
erweist sich aber bei näherer Prüfung als hinfällig, ja kehrt sich in sein
Gegenteil. Der Ausdruck: tüjv xarä FaDÄar naqoixiön' «s Etof/raTo; ejisoxoTisi,
soll nicht von bischöflichen Diözesen, die Irenäus als Metropolit leitete,
sondern nur von zerstreuten christlichen Gruppen verstanden werden können
(obgleich dicht daneben )) Ttaooixia die bischöfliche Diözese bedeutet), da
e.-tiay.07TFh- nur von direkter bischöflicher Funktion verstanden werden dürfe;
allein h. e. VII, 26, 3 bezeichnet Eusebius den Basilides als „6 y.arä tjjv Uevid-
^o'/.iv TtaQoixiüw tjrtoy.ojTog" (ad 11*) und h. e. VII, 82, 26 den Meletius als
„rcöv y.arä Jlövror' iy.y./.t]Oiü)v ijrlay.OTiog" (ad 10*). Es steht aber fest — und
zwar bezeugt das Eusebius selbst — , daß es in der Pentapolis und im Pontus
damals mehrere Bistümer gegeben hat ^ Also bezeichnet hier „ejii-
oyojTog jraQoi yiüjv" die Met rop oliten würde -. Ebenso ist „naQoixiag
eTnay.ojisTv" auch in bezug auf Irenäus zu verstehen: er war im Sinne des
Eusebius Metropolit der gallischen bischöflichen Diözesen. Weit entfernt
also, daß unsere Stelle bezeugt, es habe um das Jahr 190 in Gallien nur
einen Bischof gegeben, bezeugt sie vielmehr, daß es ihrer mehrere
waren*.
Ad 7. Dieses Argument ist ganz unhaltbar: die Kirche des Pontus soll
noch um 200 ihren bischöflichen Mittelpunkt in dem galatischen Ancyra be-
sessen haben ! Aber um 190 hatte sie doch bereits einen eigenen Metropoliten ;
denn im Osterstreit führt Eusebius (V, 23) ein Schreiben an rcöv y.azä Tlövrov
i.riayörrcor , dn- IJcV./jag wg ägyaiÖTaTog jioovreray.iol Daß Duchesne diese
Stelle übersehen konnte, ist um so auffallender, als er kurz vorher das Kai^itel
zitiert hat. Dieser Palmas residierte aber nicht etwa in Ancyra, sondern in
Amastris, wie aus Dionysius Cor. bei Euseb., h. e. IV, 23, 6 folgt*. Ferner
aber: an der fraglichen Stelle kann nicht IIövzov, sondern mul.^ (trotz dem
M Das Bistum Berenice in der Pentapolis nennt Eusebius in demselben
Kapitel.
-) Über die Stelle Euseb., h. e. VI, 2,2 s. unten.
*) Von der Metropolitenwürde des Irenäus ist somit auch der Aus-
druck Euseb., h. e. V, 24, 11: o EigijvaTog iy. jzqooo)jiov wv tjysizo xarä rijv
ra/liav abelfpMv sjitmsü.ag zu verstehen, da er mit dem obigen Ausdruck
(V, 23) einfach wechselt. Propst (Kirchliche Disziplin in den drei ersten
christlichen Jahrhunderten S. 97) und andere gehen sogar soweit, unter den
abshpoi gallische Bischöfe zu verstehen. Diese Auslegung ist möglich und
hat an den „Parochien" V, 23 eine starke Stütze, aber sie ist nicht not-
wendig. — Aus den beiden auf Irenäus und Gallien sich beziehenden Stellen
folgt, daß sich nicht feststellen läßt, ob Meruzanes, von dem es h. e. VI, 46
heißt, daß er Bischof der Brüder in Armenien gewesen sei, zur Zeit der
einzige Bischof daselbst gewesen ist oder der Metropolit (ad 6*j.
*) Über diese Stelle s. unten.
384 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
SjTer) Tfl-roj' (mit Schwartz) gelesen werden'; denn IJövrov ist sinnlos, selbst
wenn in Ancyra der Territorialbischof des Pontus damals residiert hätte.
Nicht vom Pontus nämlich, sondern von Phrygien und Galatien wissen wir,
daß sie vom Montanismus bewegt wurden; dazu — die pontische Kirche
konnte man unmöglich in Ancyra kennen lernen, auch wenn sie dort ihren
Chef gehabt hätte. Kann man denn die heutige abessynische Kirche in
Alexandrien kennen lernen?
Ad 8. Das letzte Argument Duchesnes endlich beweist deshalb nichts,
weil es nicht sicher ist, daß die genannten vier jungen Provinzen im Jahre
ol4 noch keine Bischöfe besessen haben. Daraus, daß sie zu Arles nicht
vertreten waren, läßt sich das nicht schließen. Die Beschickung der großen
Synoden war stets eine sehr zufällige. Aber auch angenommen , sie hätten
noch keine gehabt, so kann das für die Lugdunensis nicht beweisen.
Zu den Argumenten Duchesnes habe ich noch 14 andere Stellen hin-
zugefügt, die für seine Hypothese zu sprechen scheinen. Drei von ihnen
(6*. 10*. 11*) sind bereits oben unter 6 besprochen worden, und es hat sich
ergeben, daß sie über Provinzbischöfe nichts aussagen, sondern vielmehr
von Metropoliten handeln. Es erübrigt noch, die anderen elf kurz zu durch-
mustern.
Daß, als Paulus den 2. Corintherbrief schrieb, alle Christen Achajas
zur corinthischen Kirche gehörten (1*), darf man aus c. 1, 1 nicht folgern;
denn Rom. 16, 1 f. wird eine gewisse Phöbe „Siäxorog rfjg ixxh]oiag t»J? iv
KsvxQEaTg"' genannt, und Paulus rühmt von ihr, sie sei TTgooTÜTig itoXX&v xal
t/iov avTov gewesen. Mögen also auch manche in Achaja zerstreute Christen
ihre Kirche zeitweilig in Corintli gehabt haben, so gab es doch bereits auch
eine , Kirche" iu Cenchreä, und wir haben keinen Grund ?a\ der Annahme,
daß sie eine „unvollständige" Gemeinde gewesen ist.
Die Selbstbezeichuung des Ignatius als ,, Bischof Syriens" und die Be-
zeichnung der Kirche von Antiochien als i/ fv ^vi^ia ixxXrjoia scheinen es
schlagend zu erweisen, daß es damals in .Syrien nur einen Bischof, den
antiocheuischen, gegeben hat (2*); aber Philad. 10 liest mau, daß die Nachbar-
gemeinden Antiochiens teils Bischöfe, teils Presbyter und Diakone gesandt
haben (<hg y.al ai eyyiaza IxxXtjoiai kTre/iyar i:iioxö::iovg , al Sk TiQeoßvzfQOvc
y.ul biaxövovgj. Also gab es in Syrien , und zwar in nächster Nähe von
Antiochien, um das Jahr 115 Bistümer'^; der Bischof von Antiochien aber
nannte sich „Bischof von Syrien" um seiner metropolitanen Stellung
willen.
Nach Euseb., h. e. IV, 23, 5. 6 scheint es, daß es um 170 iu Greta und
im Pontus nur einen Bischof gegeben hat (o*. 4*); denn Dionysius Cor. be-
zeichnet den Philippus als Bischof von Gortyna und der übrigen Kirchen
Gretas und den Palmas als Bischof von Amastris und der pon tischen
Kirchen. Allein mag der Ausdruck dem Dionysius selbst zuzuschreiben
sein, mag er, was wahrscheinlicher, dem Eusebius gebühren — in derselben
') IjQOO(f(ir(og yEvöfirrog ir 'Ayxvoa rfjg FaXaTiag y.al yaraXaßMV ti/v xara
TÖjTov (nicht IIövTov) fxxXtjniav vjio zfjg veag iavr/)]g .... yjEvdojrQq'rjret'ag SiaTf-
■i)QvXi]/ifvj]v. Auch an einer anderen Stelle bei Eusebius, nämlich IV, 15. 2.
ist xutä IIÖVTOV ein Fehler für xurä jrävTa ro.-ror.
*) Die Bistümer um Antiochien, von denen Euseb.. h. e. VII, 30, 10 ge-
sprochen wird (L^ioitojioi. twv o/wqmv uyQöJv rs xai ttöXemv), waren also teil-
weise schon um das Jahr 115 vorhanden. — Daß in Philad. 10 der Ausdruck
„ui f-yyiara Kxx?a]oiai" auf Philadelphia zu beziehen sei, scheint mir unmög-
lich. Auch J.,ightfoot bezieht ihn auf Syrien. Genauer hätte er sagen
müssi'n „auf die Kirche in Antiochien"; denn diese ist vorher genannt.
GemeindebilduDg und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin, 385
Briefsammlung des Dionysius war auch ein Brief an die Gemeinde von Cnossus
auf Greta, bez. an ihren Bischof Pinytus, enthalten (a. a. 0. § 7), und
daß Palmas nicht der einzige Bischof im Pontus gewesen ist, haben wir oben
(ad 7) gesehen. Philippus und Palmas waren also nicht Provinzbischöfe,
sondern Metropoliten, die andere Bischöfe neben sich hatten.
Die Behauptung des Eusebius (5*), Titus sei Bischof der Kirchen von
Greta gewesen, ist aus Tit. 1, 5 unrichtig abstrahiert und ohne geschicht-
lichen Wert.
Nach dem konstanten Sprachgebrauch des Eusebius (7*) bezeichnet der
Satz: Twv de iv Aiyvjiicp cragoixiwv ti)v sn:ioxo:zr]v röte Ar]i.irjzoiog v3iF.i}J]cpEi, den
Demetrius als Metropoliten, aber nicht als Pi-ovinzbischof (s. o. ad 6). Doch ist
es aus anderen Zeugnissen, über die Lightfoot im Kommentar zum Philipper-
brief (8. edit. p. 228ff.) gehandelt hat, wahrscheinlich, daß Demetrius wirklich
im Jahre 188/89 der einzige Bischof (im monarchischen Sinne) in Ägypten
gewesen ist. Allein diese Tatsache beweist deshalb nichts für den alexanch-i-
nischen Bisehof als „Provinzbischof", weil es nicht ausgeschlossen ist, daß
Demetrius in Alexandrien selbst der erste monarchische Bischof gewesen ist,
indem bis dahin überall in Ägypten nur Gemeinden existierten, die von
Presbytern oder Diakonen geleitet wurden. Die Verhältnisse sind freilich
sehr dunkel; immerhin scheint es, daß erst Demetrius und sein Nachfolger
Heraclas Bischöfe (im eigentlichen Sinne des Worts) gewesen sind und solche
für Ägypten ordiniert haben (Demetrius 3, Heraklas 20). Aber daß die ägyp-
tischen Gemeinden gegenüber der alexandrinischen in jener Zeit, da Alexandria
selbst noch keinen Bischof hatte, unselbständig gewesen sind, ist zwar recht
wohl möglich, läßt sich aber nicht erweisen.
An den beiden Stellen (8*. 9*) , an denen Gregor und Atheuodor als
Bischöfe der pontischen Kirchen bezeichnet werden, zeigt schon die
Zweiheit, daß es sich weder um Provinzbischöfe noch um Metropoliten
handelt. Eusebius hat sich hier unbestimmt ausgedrückt, vielleicht weil er
die Bistümer der beiden nicht gekannt hat.
In Euseb., h. e. VIII, 13, 4. 5 werden zwei Bischöfe, die zufällig denselben
Namen „Silvanus" führen, als Bischöfe der Kirchen „um Emesa" bez. „um
Gaza" bezeichnet (12*). Von Provinzbischöfen kann hier jedoch keine Rede
sein, da jene Gegenden bekanntlich sehr viele Bistümer hatten. Die Sach-
lage ist aus der Geschichte von Emesa und Gaza zu verstehen. Beide Städte
blieben, wie wir wissen, lange heidnisch und duldeten keine christlichen
Bischöfe. Somit konnten diese dort nicht residieren; aber — so notwendig
schien im Orient die bischöfliche Verfassung — die um jene Städte liegenden
christlichen Dörfer hatten, jede Gruppe für .sich, einen Bischof. Diese beiden
Bischöfe waren also Emesa und Gaza gegenüber wahrscheinlich Bischöfe in
partibus infidelium, sonst aber Regionarbischöfe, jedoch auf ganz beschränktem
Territorium.
Auf die Subskriptionen von Nicäa (13*) scheint man sich, Provinz-
bischöfe anlangend, berufen zu können, nämlich auf die fünf Fälle, in denen
der Name der Provinz bei dem Bischof wiederkehrt. Es ist dies bei Calabrien,
Thessalien, Pannonien, Gothien und dem Bosporus der FalP. Allein bei
Thessalien steht neben dem Bischof Claudianus von Thessalien noch der
Bischof Cleonicus von Theben; also war jener nicht Provinzbischof, sondern
Metropolit. Ferner ist es sicher, daß Calabrien und Pannonien im Jahre
325 mehr als einen Bischof besessen haben, wenn auch zu Nicäa nur die
Metropoliten dieser Provinzen zugegen waren (wie ja auch aus Africa nur
') Die Subscriptio AugSaviag- Adxog MaxeSovla? ist undeutlich und daher
beiseite zu lassen.
Harnack, Mission. 2. Anfl. 25
386 ■ Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
der Metropolit anwesend gewesen ist). Somit l)leihen nur Gothien und der
Bosporus übrig. Da sie außerhalb des Römischen Reichs lagen und hier
gewiß ganz singulare Zustände obwalteten, so können die Verhältnisse dort
nicht maßgebend für die Organisation der Kii-chen im Reiche sein. Die
genannten Bischöfe mögen die einzigen daselbst gewesen sein.
Auf die Angaben der Apost. Constit. (14*) und des Liber Praedestinatus
ist gar nicht.-:; zu geben. Jene fußen in ihrer ersten Hälfte auf einer will-
kürlichen Abstraktion aus 11. Tim. 4, 10, in ihrer zweiten sind .sie völlig
nichtig, da daneben mehrere asiatische Stadtbistümer genannt sind. Diese
bezeichnen, sofern sich der Fälscher überhaupt etwas gedacht hat, Metro-
politen, wie zum Überfluß die Eintragung „Basilius episcopus Cappadociae"
beweist. Die Mitteilung des Sozomenus endlich (15*), von ihm selbst als eine
Kuriosität bezeichnet, bezieht sich auf ein barbarisches Land.
Es hat sich somit ergeben, daß die beigebrachten Zeugnisse
für die Hypothese von Provinzbischöfen an Stelle von Lokal-
(Stadt-)Bischöfen und Metropoliten innerhalb des Reichs nichts
beweisen. Aus dem durchforschten Material bleibt nichts übrig, was für
diese Annahme spricht. Geblieben ist nur die belanglose Möglichkeit, daß
Vienne im Jahre 178 (und auch noch bis gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts)
keinen selbständigen Bischof besessen hat. Notwendig ist, wie gezeigt worden
ist, auch diese Annahme nicht, und sie hat das bestimmte Zeugnis des
Eusebius gegen sich, der einen Brief der gallischen Parochien aus der Zeit
um 190 kennt ^; sollte sie aber doch zutreffend sein, so wäre anzunehmen,
daß die Christen in Vienne um das Jahr 178. bez. noch einige Jahrzehnte
später, nicht nach Hunderten, sondern nur nach Dutzenden gezählt haben.
Daß in den ersten beiden Generationen der Propaganda des Christen-
tums eine gewisse innere Spannung zwischen zwei Organisationsformen be-
standen hat, ist gewiß (s. o. S. 363); die Gemeinde als Missionsgemeinde, als
Schöpfung eines Missionars (Apostels), als sein Werk, und wiederum die
Gemeinde als in sich geschlossene Lokalgemeinde (als solche Abbild und
Auswirkung der himmlischen Kirche). Als Schöpfung eines apostolischen
Missionars ist die Gemeinde ihrem Stifter gegenüber verantwortlich, ist von
ihm abhängig und verpflichtet, die Grundsätze einzuhalten, die er bei seiner
gemeindestiftenden Tätigkeit überall befolgt ; als geschlossene Lokalgemeinde
trägt sie die Verantwortung selbst und hat niemanden über sich als den
himmlischen Kyrios. In der Person ihres irdischen Stifters steht sie in einer
realen Verbindung mit den anderen von diesem gestifteten Gemeinden; als
') Gab es um 190 in Gallien mehrere (bischöfliche) Parochien, so wird
auch Vienne eine solche gewesen sein. Es erfährt aber die Annahme, daß
es im mittleren und nördlichen Gallien zur Zeit des Irenäus mehrere Bistümer
gegeben hat, eine Verstärkung durch die Tatsache, daß Irenäus (I, 10) — ich
kehre zu dieser Stelle zurück — nicht von Christen in Gennanien. sondern
von „den in Germanien gegründeten Kirchen" spricht. Hätte er von
solchen gesprochen, wenn diese Kirchen keine Bischöfe besessen hätten?
Besaßen sie aber Bischöfe — und nach 111,8, 1 kann in jeder Kirche die
auf die Apostel zurückgehende bischöfliche Sukzession erkannt werden — ,
wie sollen im mittleren und nördlichen Gallien noch keine Bischöfe vorhanden
gewesen sein? Die Stelle 111,3,1 lautet: „Traditionen! apostolorum, in toto
mundo manifestatum, in omni ecclesia adest perspicere omnibus qui vera
velint videre, et habemus annumerare eos qui ab aiiostolis instituti sunt
episcopi in ecclesiis et successiones eorum usque ad nos .... Sed quoniam
valde longum est, in hoc tali volumiue omni um ecclesiarum eniunerare
successiones etc."
Gemeindebilduug und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantiu. 387
Lokalgemeinde steht sie für sich, und jede Beziehung zu andern Gemeinden
liegt in der Sphäre der Freiwilligkeit.
Daß die Selbständigkeit der Gemeinden von den Stiftern selbst gewollt
war, ist in bezug auf den Apostel Paulus ganz deutlich, und wir wissen
nicht, daß andere Stifter es anders gehalten haben (s. die Römer-Gemeinde).
Wenn sie dennoch die Gemeinden pädagogisch zu ermahnen und partiell zu
bevomiunden fortfuhren, so waren diese Fälle nicht die E.egel, sondern die
Ausnahme — der , Geist" trieb sie, die apostolische Gewalt berechtigte sie
dazu, und der unfertige Zustand der Gemeinden schien es zu verlangen^.
In der alten Bestimmung, wie lange sich ein Apostel in einer Gemeinde auf-
halten sollte, und in ähnlichen tritt geradezu ein gesetzlicher Schutz der
Gemeinden zutage. Wahrscheinlich ist die geschlossene Organisation der
jerusalemischen Gemeinde mutatis mutandis überall vorbildlich gewesen:
nicht exxlrjaiai Ilavlov oder IJhoov waren die Gemeinden, die da entstanden,
sondern jede von ihnen war eine ixyj.tjaia rov ■&sov.
Daß Konflikte nicht gefehlt haben zwischen der Gemeinde and ihrem
lokalen Regiment einerseits und dem „Apostel" andererseits, dafür bietet der
dritte Johannesbrief einen sicheren Beleg. Derselbe .Johannes (oder ein
anderer, wie viele meinen) hat übrigens als Missionssuperintendent seine
Mahnungen an die asiatischen Gemeinden nicht direkt erteilt, sondern den
„Geist" sie sprechen lassen; er hat nicht sein strafendes Kommen, sondern
das Kommen des richtenden HeiTU angekündigt. Indessen auf diese Ver-
hältnisse brauchen wir hier nicht näher einzugehen. Die apostolische Ge-
walt ist bald erloschen ; als ganze ist sie auch nicht transformiert worden ;
nur ein beschränkter Teil von ihr ist auf den monarchischen Episkopat über-
gegangen.
In der apostolischen Gewalt und Praxis war eine gewisse Verbindung
mehrerer Gemeinden zu einer Gruppe gegeben. Mit dem Erlöschen dieser
Gewalt hörte diese Gruppenverbindung einfach auf. Eine andere Art Ver-
bindung aber lag für die Gemeinden einer Provinz in dem provinzialen
Zusammenhange. Bereits die paulinischen Briefe und die Apokalypse des
Johannes bieten dafür Belege. Nicht nur der Galaterbrief. der an alle christ-
, liehen Gemeinden Galatiens gerichtet ist , kommt hier in Betracht , sondern
noch vieles andere. Dem Apostel Paulus gliederte sich sein Missionsgebiet
nach den Provinzen: Asien, Macedonien, Achaja usw. stehen ihm vor der
Seele; das große Kollektenwerk betreibt er, indem er die Gemeinden je
einer Provinz zusammenschließt, und der sogenannte Epheserbrief ist nach
Meinung vieler Gelehrter an eine Mehrzahl asiatischer Gemeinden gerichtet.
Johannes schreibt an die Kirchen Asiens'-. Schon früher ist von Jerusalem
aus ein Brief au die Gemeinden Syriens und Ciliciens ergangen (Act. 15) *.
Die Gemeinden von Judäa waren mit der von Jerusalem so enge verbunden,
daß man die Hypothese aufgestellt hat, die alte jerusalemische Bischofsliste,
in der die große Anzahl von Namen auffallend ist, sei eine verwirrte Bischofs-
liste Jerusalems und anderer palästinensischer Christeugemeinden *. Zwischen
1) Was sie getan haben, taten aber unter Umständen die Gemeinden
selbst; so hat die römische Gemeinde die corinthische in einer schweren
Krisis (um das Jahr 96) ermahnt, ja bevormundet.
2) Sofern er sich auch an die Gemeinde zu Laodicea wendet, greift er
in das benachbarte Phrygien über; die anderen sechs Gemeinden aber sind
asiatisch.
') Singular ist die Zusammenfassung der Christen mehrerer großer Pro-
vinzen in dem I. Petrusbrief. Da die Adresse dieses Briefes möglicherweise
eine künstlich gemachte ist, so lasse ich sie beiseite.
*) Zahn, Forschungen VI, S. 300.
25*
388 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
dem apostolischen Zeitalter und der Zeit um 180, für die uns zuerst pro-
vinzialkirchliche Synoden bezeugt sind, sind ähnliche Zeugnisse eines pro-
vinzialkirehlichen Zusammenschlusses nicht selten. IgTiatius sorgt nicht nur
für die antiochenisehe, sondern auch für die syrische Kirche ; Dionysius von
Corinth schreibt an die Gemeinden auf Greta und an die Gemeinden im
Pontus; von Lyon aus schreiben die Brüder an die Brüder in Asien und
Phrygien; die ägyptischen Gemeinden bildeten ein in sich geschlossenes
Gebiet, und die Kii-chen Asiens stehen nicht nur dem Irenäus als eine Ein-
heit vor Augen.
Nicht überall ist eine bestimmte Stadt, die Hauptstadt, der beherrschende
Mittelpunkt auch der kirchlichen Provinz gewesen. Zwar Jerusalem — so-
lange es bestand — , Antiochien \ Corinth -, Rom, Carthago und Alexandrien
waren nicht nur die Zentren der betreffenden Provinzen, sondern griffen
zum Teil noch über dieselben weit hinaus, sowohl kraft ihrer Bedeutung als
Großstädte, als auch kraft der energischen chi-istlichen Tätigkeit, die sie
entfalteten '. Aber z. B. Ephesus ist lange Zeit hindurch nicht die kirch-
liche Metropole Asiens in vollem Sinne des Worts gewesen — Smyrna und
andere Städte rivalisierten mit ihm — ^ ; in Palästina standen sich Alia
(Jerusalem) und Cäsarea gleich; gewisse Provinzen, so Galatien und ausge-
dehnte Striche Cappadocieus, hatten überhaupt keine hervorragenden Städte,
') Man vgl. die bedeutungsvolle Adresse Act. 15, 2o: oi aTiöoTokoi xai
Ol cTgeoßvTegoi dd£^.(fol roTg /iaia lifv 'Ävtiöyeiav y.al 2volax> y.al Küiy.iav
aÖfXffoig. Für unsere Zwecke ist es gleichgültig, ob der Brief echt ist
oder nicht.
-) Nach den Eegesteu der Briefsammluug des Dionysius von Corinth,
die Eusebius (h. e. IV, 23) gegeben hat, scheint der corinthische Bischof zu
den Gemeinden von Lacedämon und Athen ein anderes Verhältnis als zu den
außerhalb Griechenlands gelegenen Gemeinden gehabt zu haben.
^) Für Rom braucht das nicht erwiesen zu werden. Die Gemeinde von
Jerusalem hat weit über Palästina hinausgegriffen, dem Apostel Paulus in
der Diaspora viel zu schaffen gemacht und seine Mission sogar zu durch-
kreuzen gesucht; im o. Jahrhundert hat der Bischof Firmilian die „observa-
tiones" des heidenchristlichen Jerusalem denen von Rom gegenübergestellt,
also ihnen zweifellos em gewisses Ausehen über Palästina hinaus für die
Gesamtkirche beigelegt. Der Bischof von Antiochien griff nach Cilicien,
Mesopotamien und Persien über, der von Carthago nach Mauretanien, der
von Alexandrien in die Pentapolis. Man vgl. den 2. Kanon des Konzils von
Constantinopel (381), der das Übergreifen eines Bischofs oder Metropoliten
in eine fremde Diözese verbietet, aber die barbarischen Gebiete unter Be-
rufung auf die alte Praxis ausdrücklich ausnimmt: rag 8s iv xoTg ßaoßaoixolg
sOvF.ai Tov Osov sxxlrjaiag oly.ovoi.ieTa{}ai ygtj xarä rtjv xgart'jaaoav avvrjdsiav rcöv
TiaxEQOiv. — Die alexandrinische Einflußsphäre hat übrigens schon vor Atha-
nasius, Cyrill und Dioscur manchmal nach Palästina und Syrien hinüber-
gereicht. Sehr merkwürdig ist z. B., daß am Ende des 3. Jahrhunderts und
am Anfang des 4. drei .\lexandriner auf dem Stuhl von Laodicea Syr. gesessen
haben, nämlich P]usebius, Anatolius und Gregorius (s. Euseb., h. e. VII, 32;
Philostorg. VIII, 17). Die spätere Patriarchatseinteilung ist schon in der Zeit
vorher gewohnheitsrechtlich vorgebildet gewesen. Im Verkehr der Kirchen
vertritt der römische Bischof bereits das ganze Abendland (später auch Illyrien).
Sowohl der antiochenisehe als der alexandrinische Bischof scheinen gewohn-
heitsrechtlich die Befugnis besessen zu haben, sich an das ganze Morgenland
zu wenden. Aber abgesehen von dieser Befugnis war die Machtsphäre von
Alexandrien (Süden), Antiochien (Mitte und Norden) abgegrenzt. Nun aber
entwickelte sich Cäsarea Capp. und Ephesus zur Selbständigkeit.
*) Es hängt das freilich auch mit der politischen Verfassung Asiens
zusammen.
Gemeindebildung und Bistum in der Zeit von Pius bis Constautin. 389
und wenn es für die Provinzen Pontus, Numidien und Spanien bezeugt ist,
daß dort immer der älteste Bischof den Vorsitz in der Bischofsversammlung
führte . so folgt daraus , daß in kirchlicher Hinsicht keine bestimmte Stadt
das Übergewicht hat erlangen können.
Es erhebt sich aber nun die Frage, ob die „Metropoliten", die bereits
längst existierten, bevor sie kircheurechtlich anerkannt und bevor ihre
Kompetenzen bestimmt waren, die Tendenz auf die Vermehrung selbständiger
Gemeinden innerhalb der Provinz etwa niedergehalten, ferner, ob die Bischöfe
im Interesse ihi-er Macht ebenfalls die Organisation neuer selbständiger,
bischöflich verfaßter Gemeinden zu hindern gesucht haben. An und für
sich wäre das ja nicht auffallend; denn Ehrgeiz und Herrsehsucht werden
überall entfesselt, wo sich Kompetenzen und Rechte entwickeln.
Um die aufgeworfene Frage zu beantworten, ist zunächst zu behaupten,
daß die Tendenz der alten Christenheit zur Bildung in sich geschlossener
selbständiger, bischöflich verfaßter Gemeinden eine sehr starke war*.
Ferner, es ist mir aus der Zeit vor Gallienus schlechterdings
kein Beispiel bekannt, welches auf eine Tendenz — sei es der
Metropoliten, sei es der Bischöfe — schließen läßt, die selb-
ständige Gemeindebildung niederzuhalten. Ei-st seit dem Anfang
des 4. Jahrhunderts beginnt — nach unseren Quellen — der Kampf gegen
den Chorepiskopat-, wenigstens ist vor dieser Zeit meines Wissens auch
') Wie Iguatius sich eine Gemeinde ohne Bischof gar nicht vorzustellen
vermag, so urteilt auch Cj'prian, daß jeder Gemeinde ein Bischof schlechthin
notwendig ist und ohne einen solchen ihr Wesen aufgelöst erscheint (s. be-
sonders den 66. Brief Kaj). 5). Die Tendenzen, die Ignatius in seinen Briefen
zum Ausdruck bringt, forderten, daß überall, sei die Christengemeinde an
einem Ort auch noch so klein, Bischöfe gewählt würden, und wir haben allen
Grund zu der Annahme, daß die bereits bestehende Praxis in Syrien und
Asien seinen Tendenzen entsprochen hat. Ortsgemeinden sehen wir von
Anfang au überall entstehen im Gegensatz zu unsicheren und fließenden Ver-
bindungen, und andere Formen der christlichen Gruppierung (bloße Kult-
vereine und Schulen) finden sich zwar wohl, aber sie werden bekämpft und
unterdrückt. Benachbarte Städte, wie Laodicea, Colossä und Hierapolis,
haben von Anfang an ihre eigenen Gemeinden. Die Hafenstadt Corinths hat
eine solche schon z. Z. des Paulus; die .,sehr nahe" von Antiochien (Syr.)
gelegenen Ortschaften hatten z. Z. Trajans eigene Gemeinden (Ignat. ad
Philad. 10), und bald sind auch Dorfgemeinden bezeugt. Sobald wir aber
vom monarchischen Episkopat hören, hören wir- auch in bezug auf kleine
Gemeinden von ihm. Jene bei Antiochien gelegenen Orte hatten ihre Bischöfe
(1. c), und ein paar Jahrzehnte später ist uns in Phiygien ein Bischof für
das Dorf Cumane bezeugt (Euseb., h. e. V, 16). Auf dem nicänischen Konzil
waren syrische, cilicische, cappadocische , bithyuische und isaurische Dorf-
bischöfe zugegen mit wesentlich gleichen Rechten wie die Stadtbischöfe. In
der sog. apost. Kirchenordnung (saec. II med.) lesen wir: „Wenn die Zahl
der Männer gering ist imd sich an einem Ort keine zwölf Personen finden,
die in bezug auf die Bischofswahl stimmfähig sind, so soll man an die
Nachbarkirchen, wo eine befestigte ist, schreiben, damit von dort drei
auserwählte Männer herbeikommen und sorgfältig den, der würdig ist,
prüfen usw." Es wird also vorausgesetzt, daß selbst in solchen Fällen eine
komplette d. h. bischöfliche Gemeinde bestehen soll. Wir müssen also an-
nehmen, daß es mindestens in einigen, wahrscheinlich in vielen Provinzen
die Regel gewesen ist, jeder Gemeinde einen Bischof zu geben , so daß .sich
die Zahl der Gemeinden dort mit der der Bistümer wesentlich gedeckt hat.
^) Vgl. Gillmann, Das Institut der Chorbischöfe im Orient, 1903. Die
Namen dieser Kleriker sind yo^oETrioxonoi, ijiiostojioi rcöv dygütv (iv raig y.cofiatg
rj rdig /coQat;), ovkksizovQyoi [seil, der Stadtbischöfe]. Ursprünglich standen
390 Die Missionare ; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
nicht eine Spur desselben nachgewiesen, und ebenso beginnt erst seit dieser
Zeit — nach unseren Quellen — das Bestreben der Bischöfe, in den Dörfern
die EiTichtung von Bistümern zu untersagen und die Bistümer benachbarter
kleinerer Städte eingehen zu lassen, um ihre Diözese zu vergrößern. Da
wir aber für das letzte Drittel des 3. Jahrhunderts Quellen überhaupt kaum
besitzen und der Anfang des 4. Jahrhunderts (vor 322) kirchengeschichtlich
keinen Einschnitt darstellt, so wird man sagen müssen, der Kampf mit dem
Chorepiskopat hat wahrscheinlich seinen ersten Anfang in jener Epoche ge-
nommen, die der constantinischen mimittelbar vorherging'.
sie, wie schon der Name ejiiaxonoi besagt, den Stadtbischöfen gleich; aber
wie von Anfang an ein tatsächlicher Unterschied zwischen dem Bischof der
Provinzialhauptstadt und den Bischöfen der anderen Städte in den meisten
Gebieten bestanden hat, so wird auch von Anfang an ein Landbischof tat-
tächlich etwas Geringeres gewesen sein als sein städtischer Kollege und
häufig in einer faktischen Abhängigkeit von ihm gestanden haben (s. Gill-
mann S. 30ff.).
') Die Hauptstadien dieses Kampfes im Orient (erst wurden die Dorf-
bischöfe durch eben diesen Namen deklassiert, dann wurden ihnen gewisse
Rechte entzogen, die die Stadtbischöfe besaßen, vor allem das Ordinations-
recht, dann wurden sie zum Aussterben gebracht) bezeichnen folgende Be-
stimmungen. Konzil von Ancyra (314) can. 13: XcoQejiiaxojiovg [xi] s^eTvat
jiQEoßvTEQovg >) Öiaxövovg ;(£«po7:oj'£r»' xrX. (Näheres s. hierzu bei Gillmann
S. 74ft". ; er zeigt, daß den Chorbischöfen noch immer eine gewisse Ordina-
tionsgewalt damals gelassen worden ist). Konzil von Neu-Cäsarea can. 13:
Ol '/cogs^i'axojzoi eioi ßkv sig tvjTov röjj' f-ßSofirjxovta' (Lg 8e oidlsiTOvgyol öia zip
Gaov8i}v Trjv slg rovg jirco/ovc 7iQoo(pEQovoi Ti/ico/iievot. Konzil von Antiochien
(341) can. 8: „Priester auf dem Lande dürfen keine Friedensbriefe a,usstellen;
nur an die benachbarten Bischöfe dürfen sie Briefe schicken ; tadellose Chor-
episkopen aber dürfen Friedensbriefe erteilen." A. a. 0. can. 10: „Die Bischöfe
in den Dörfern und Landschaften, die sogenannten Chorbischöfe, wenn sie
auch die Weihe als Bischöfe erhalten haben, sollen doch ihre Grenzen kennen
und die ihnen untergeordneten Kirchen verwalten und mit der Besorgung
und Pflege dieser sich begnügen, wohl Lektoren und Subdiakonen und Exor-
zisten anstellen und mit der Beförderung dieser zufrieden sein, nicht aber
einen Priester oder Diakon zu weihen wagen ohne den Bischof der Stadt,
zu welcher der Laudbischof selbst und die Landschaft gehört. Wenn aber
jemand diese Verordnungen zu übertreten wagt, so soll er auch der Würde,
die er besitzt, beraubt werden. Ein Laudbischof aber soll von dem Bischof
der Stadt, zu der er gehört, bestellt werden" (s. dazu Gillmann S. 90ff.).
Konzil von Sardica (343) can. 6: „Licentia vero danda non est ordinaudi
episcopum aut in vico aliquo aut in modica civitate, cui sufficit unus pres-
byter, quia non est necesse ibi episcopum fieri, ne vilescat nomen episcopi
et auctoritas. non debent illi ex alia provincia invitati facere episcopum,
uisi aut in his civitatibus, quae episcopos habuerunt, aut si qua talis aut
tam popuIo.sa est civitas, quae mereatur habere episcopum" (der griechische
W^ortlaut, eine gleichzeitige Übersetzung, deckt sich nicht mit dem Original.
Die zweite Hälfte lautet: «^A' oi n)c fjiagyjac, ibg jTqoeTjtov, sjiioxozioi Iv xavraig
rmg ttöXeoi xadtorav F.-rioxöjrong offEtlovaiv, i'vßa xal tiqöteqov ETi'y/avov vFyovözEg
Emaxonoi. el fik euoioxoito ovho nlr]{h'n'ovod zig ev jioXX<ö ugißtioj Aaov ::i6hg,
ojg d^iav avztjv xui E.TiioKOTrflg rofilCEO'Sai , ÄufißavEzco). Konzil von Laodicea
can. 57: ,ln den Dörfern und auf dem Lande dürfen keine Bischöfe aufgestellt
werden, sondern Visitatoren (jTEQtoÖEvrai) ; die aber bereits angestellten sollen
nichts tun ohne Zustimmung des Stadtbischofs." Der Prozeß war um das
Jahr 430 soweit gediehen, daß Sozomenus, h. e. Vll. 19 als Kurio.sität ver-
merkt hat: f.v dXXoig eOveoiv eoziv öjtr) xai iv xwfiatg ejiioxottoi iFQOvvxai , (og
Ttagä 'Agaßloig xal KvstQoig syvcov xai Jiagä zoTg ev <l>Qvyiaig NavaziavoTg xal
MovzavtazaTg (nach Theodor von Mopsvestia war das Institut in dem Gebiet,
welches er überschaute, um das Jahr 400 zu seiner Unzufriedenheit noch in
Gemeindebildung und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 391
Weiter, nicht nur um ein argumentum e silentio handelt es sich hier,
vielmehr zeigt die Übersicht über die um das Jahr 325 nachweisbaren
Christengemeinden, die ich im 4. Buche geben werde, daß weitaus in den
meisten römischen Provinzen eine Tendenz, die Bistumsbildung zu beschränken
— fast alle dort aufgeführten Gemeinden sind nachweislich bischöfliche Ge-
meinden — gar nicht bestanden haben kann. Wir werden also zu schließen
haben: Wo bischöflich verfaßte Gemeinden spärlich waren, da
waren die Christen überhaupt spärlich; hatte eine Stadt keinen
Bischof, so war die Zahl der Christen daselbst unerheblich. Ge-
wiß ist in manchen Fällen der Gang der Mission der gewesen , daß Jahr-
zehnte hindurch in einer Provinz oder in einem weiten Gebiet nur ein Bischof
existierte. Auch das ist a priori anzunehmen, daß in unkultivierteren oder
in städtelosen Gebieten — namentlich an den Grenzen des Reichs und außer-
halb desselben — eine Zeitlang überhaupt kein Bischof vorhanden gewesen
ist, sondern die zerstreuten Christen daselbst unter der Leitung des Bischofs
der nächsten, vielleicht weit entfernten Stadt gestanden haben. Daß sich
dieser Bischof, auch nachdem eine vollständige Hierarchie in dem betreffen-
den exzentrischen Gebiete eingerichtet war, noch gewisse Superintendenten-
rechte vorbehalten hat, ist glaublich — nicht nur seine Herrschsucht, sondern
auch erworbene Kompetenzen kommen hier in Betracht. Für uns ist es aber
heute nahezu unmöglich, einen sicheren Einblick in diese Verhältnisse zu
gewinnen, weil die Fälle dieser Art bereits seit dem Ende des 2. Jahrhunderts
unter dem Gesichtswinkel einer dogmatisch -kirchenpolitischen Theorie be-
trachtet und überliefert worden sind — nämlich der Theorie, daß die Kom-
petenz der Ordination ausschließlich den Uraposteln zugestanden habe und
daß daher alle Bistümer entweder direkt auf sie oder auf die von ihnen
Eingesetzten zurückzuführen seien. Die tatsächlich große Missionswirksam-
keit, die von Antiochien (in den Osten bis tief nach Persien hinein), Alexan-
drien (in die Thebais, Libyen, die Peutapolis und später Äthiopien) und Rom
ausgegangen ist, schien die Theorie zu bestätigen. Zu den beglaubigten
älteren Fällen — denn von den Kirchen des Bosporus und Gothiens wissen
wir nichts Genaueres — mag man die Oi-dinationsgewalt des alexandrinischeu
Bischofs über vier Provinzen rechnen. Doch ist schon bemerkt worden, daß
uns die ursprünglichen Verhältnisse dort dunkel sind. Ferner gehört hierher
die wohl glaubwürdige Überlieferung, daß der erste (katholische) Bischof
von Edessa vom antiochenischen Bischof geweiht worden ist\ sowie daß
die persische Kirche längere Zeit hindurch von Antiochien abhängig ge-
wesen ist und ihren Metropoliten von dort empfangen hat-. Als sich dies
zutrug, stand aber in der Reichskirche die Theorie schon fest, daß die
Kraft gewesen, s. Opp. ed. Swete II, 44). Dagegen in Nordafrica hat kein
Kampf gegen die kleinen Bischöfe stattgefunden. So hat noch Augustin in
seiner Diözese ein neues Bistum errichtet (ep. 261), und die Zahl der Bis-
tümer ist augenscheinlich in Nordafrica auch noch über das Jahr 400 hinaus
immer mehr gewachsen. Es ist anzunehmen, daß in den Provinzen, in welchen
sich zahlreiche Dorfbischöfe befanden (also in der Mehrzahl der kleinasiati-
schen Provinzen, ferner in Syrien und Cyperu), die Zahl der Bistümer nach
dem Jahre 325 nicht mehr wesentlich gewachsen ist, ja vielleicht sogar ab-
genommen hat.
>) Doctr. Addaei p. 50.
*) Hoffmann, Auszüge aus syrischen Akten persischer Märtyrer, 1880,
S. 46, und Uhlemann. Ztschr. f. d. bist. Theol., 1861, S. 15. Doch liegt die
ältere Geschichte des Christentums in Persien völlig im Dunkeln, bez. sie ist
unter Legenden begraben.
392 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
bischöfliche Ordination nur innerhalb apostolischer Sukzession übertragen
werden könne.
Nun gibt es freilich auch Beisi>iele, daß in der zweiten Hälfte des
S.Jahrhunderts — aus älterer Zeit sind, von Ägypten abgesehen, keine sicheren
Belege vorhanden — Gemeinden auf dem Lande bestanden haben, die nicht
von einem Biscliof, sondern von Presbytern bez. auch nur von Diakonen ge-
leitet worden sind, aber sie sind wenig zahlreich*. Erst in und nach der
diocletianischeu Zeit werden sie häufig-. Vorher gab es meines Wissens nur
ein großes Gebiet, in dem die Presbyterial Verfassung sogar die Regel war, das
ist Ägypten. Aber es ist schon bemerkt worden, wie dunkel für uns die
ägyptischen Verhältnisse sind: es gab höchstwahrscheinlich hier lange Zeit
hindurch überhaupt keine monarchischen Bischöfe, sondern die einzelnen
Gemeinden, gauweise zusammengeschlossen, wurden von Presbytern regiert.
Sukzessive bereitete sich dann die bischöfliche Verfassung im Laufe des S.Jahr-
hunderts aus; doch gab es noch im 4. gi'oße Dorfgemeinden, die eines
Bischofs entbehrten. Wir müssen uns aber hüten, von Ägypten her Schlüsse
für irgend eine andere römische Provinz zu ziehen. Aus den Subski'iptionen
der Akten der Synode von Elvira ist geschlossen worden, daß einige spanische
Städte, die auf dem Konzil nur durch Presbyter vertreten waren, keine
Bischöfe besessen haben. Das ist möglich; indessen wie unsicher der Schluß
ist, geht aus den Akten der Synode von Arles hervor. Auch hier haben
zahlreiche Presbyter unterschrieben; aber es kann in fast allen Fällen nach-
gewiesen werden, daß die Stadtgemeinde, als deren Vertreter sie fungierten,
einen Bischof besessen hat: er ist verhindert gewesen, die Synode persönlich
zu besuchen, und hat sich — wie der römische Bischof — durch einen Pres-
byter bez. durch eine Deputation von Klerikern vertreten lassen. Dennoch
steht es für Spanien auf Grund des 67. Kanons von Ellvira („Si quis diaconus
regens plebein sine episcopo vel presbytero etc.") fest, daß daselbst Gemeinden
ohne Bischof, ja selbst ohne Presbyter existiert haben. Aber über ihre An-
zahl wissen wir ebensowenig wie über die Bedingungen, unter denen es in
solchen Gemeinden nicht zur Anstellung eines Bischofs bez. eines Presbj'ters
gekommen ist. Die Verwaltuno- einer Gemeinde durch einen Diakon kann
') Für Nordafi-ica ist in der vorconstantinischen Zeit meines Wissens
kein Beispiel bekannt. Auf Grund des 1. und 58. Briefs Cyprians könnte
mau annehmen, daß zu Furni und zu Thibaris keine Bischöfe vorhanden
waren; allein aus den Sentent. episc. n. 59 und 37 geht hervor, daß auch
diese Gemeinden von je einem Bischof geleitet worden sind. Wahrscheinlich
war der Bischofssitz vakant, als Cyprian den 1. Brief schrieb; in bezug auf
den 58. Brief ist diese Annahme nicht notwendig. Die Berufung auf Cypr.
ep. 62, 5 ist höch.st unsicher. Auch für Mittel- und ünteritalien ist es unwahr-
scheinlich, daß dort Gemeinden ohne Bischöfe im 8. Jahrhundert bestanden
liaben. Aus c. 4 und 7 des Briefs des Firmilian von Iconium (Cypr., ep. 75)
darf man nichts zugunsten bischof loser Gemeinden schließen, so auffallend
der Ausdruck „seniores et i)raepositi" bez. „praesident maiores natu" an jenen
Stellen ist. Wohl findet sich eine bischoflose Gemeinde im Dorf Malus bei
Ancyra (s. Acta Mart. Theodot. 11. 12), aber das Zeugnis ist kaum von Wert,
da die Akten nicht zeitgenössisch sind.
^) Micht berufen darf man sich natürlich auf die Fälle, in welchen zur
Zeit einer bischöflichen Sedisvakanz die Presbyter bez. die Presbyter und
Diakonen die Gemeinde geleitet haben. Auch wenn sie eine Sprache führen,
die bischöflich genannt werden muß (s. das von dem römischen Klerus her-
rührende 8. Schreiben in der cyprianischen Briefsammlung), sind sie doch nur
eine Regentschaft; vgl. das römische Schreiben ep. 30, 8 : „ante constitutionem
epiacopi nihil inuovandum putavimus".
Gemeindebildiing und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 393
immer nur eine Ausnahme gewesen sein (vor allem ein Notbehelf in Ver-
folgungszeiten); denn es war unstatthaft, daß sie das heilige Opfer vollzogen
(s. den 15. Kanon von Arles). Ob unter den im 13. Kanon von Neocäsarea
genannten ,,i.-iixMQioi TigsaßvreQoi" selbständige Presbyter in Landgemeinden
zu verstehen sind, oder ob es Presbyter sind, die einen Chorbischof über sich
hatten, läßt sich nicht entscheiden. Möglich ist das letztere; denn für das
benachbarte Cappadocien muß eine besonders starke Entwicklung des Chor-
episkopats angenommen werden, da zu Nicäa nicht weniger als fünf cappa-
docische Chorbischöfe anwesend waren. Andererseits folgt aus dem Testament
der vierzig Märtyrer von Sebaste, daß im angrenzenden Armenien Gemeinden
vorhanden waren, die durch einen Presbyter geleitet wurden; aber auch
Chorbischöfe haben dort nicht gefehlte Allerdings war Armenien eine
Grenzprovinz, deren Verhältnisse nicht einfach auf die pontischen und
cappadocischen übertragen werden können. Sicher sind die im 8. Kanon
von Antiochien (341) genannten „Priester auf dem Laude" solche, die an
ihrem Orte die oberste Leitang hatten; aber die Synode von Antiochien fällt
bereits in die nachconstautinische Zeit, und die Verhältnisse um das Jahr 341
sind nicht ohne weiteres für die ältere Zeit maßgebend. Nahe liegt die
Annahme, daß in Gallien die dortige Gauverfixssung^ welche die Städte-
entwicklung verzögerte, auch ein Hemmnis für die Durchführung der bischöf-
lichen Verfassung gebildet hat, so daß man vermuten könnte, daß unvoll-
ständig organisierte Gemeinden dort häufig gewesen seien (ebenso in England).
Allein uns ist darüber schlechterdings nichts bekannt, und außerdem existierte
doch bei"eits im 2. Jahrhundert in den gallischen Provinzen eine nicht ganz
kleine Anzahl von Städten, in denen die Verhältnisse wesentlich ebenso lagen
wie in den übrigen römischen Städten '.
Es läßt sich somit nicht nachweisen, daß es Jahrzehnte hindurch Terri-
torial-Bischöfe (Provinz -Bischöfe), die mehrere unselbständige christliche
Stadtgemeinden regiert haben, gegeben hat, vielmehr ist anzunehmen, daß.
wenn Bischöfe tatsächlich in mehreren Städten bisehöfliche Rechte ausgeübt
haben, diese Städte nur verschwindend wenige Christen in ihren Mauern
zählten. Wer das Gegenteil für irgend eine Provinz behauptet, kann zwar
nicht sicher widerlegt werden, aber er ist zum Beweise verpflichtet. Die
Behauptung z. B., Autun, Rheims, Paris usw. hätten um 240 bereits ziemlich
viele Christen gehabt, die christlichen Gemeinden daselbst aber hätten keinen
Bischof besessen, kann nicht strikt als unrichtig dargetan werden; denn es
fehlt uns dafür das Material. Aber nach aller Analogie gilt auch hier der
Schluß: wenn die Christen in Autun, Rheims, Paris usw. um 240 bereits
zahlreich waren, so besaßen sie Bischöfe; besaßen sie keine Bischöfe, so
■waren sie ganz spärlich. Meines Erachtens ist zu sagen: (1) es ist sehr
') S. Gillmann S. 36.
^) Siehe Mommsen, Rom. Gesch. V, S. 81 ff., dazu Marquardt, Rom.
Staatsverwaltung I, S. 7 ff.
^) In der Zivilverwaltung herrschten zwei Systeme in bezug auf die
Landdistrikte: entweder standen solche Distrikte unter der Jurisdiktion der
Magistrate einer benachbarten Stadt, oder sie hatten ihre eigenen Magistrate
(s. Hatch-Harnack. Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen, S.202).
Dem letzteren Fall entspi-achen die Chorbischöfe, dem ersteren die direkte
bischöfliche Jurisdiktion und Administration des Stadtbischofs. Aber das
gemischte System — mehr oder weniger selbständige Landpresbyter, Reservat-
rechte des Bischofs — ist das jüngste und in der zweiten Hälfte des 3. Jahr-
hunderts eben erst im Entstehen. Übrigens wurden manchmal auch mehrere
kleine Ortschaften zu einer Kommune vereinigt; der Ort, in welchem sich
die Verwaltung befand, hieß dann fiTjZQoxco/Ma.
394 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
wohl möglich, ja sehr wahrscheinlich (s. das Zeugnis Cyprians), daß es vor
der Mitte des 3. Jahrhunderts bereits einige andere bischöfliche Kirchen in
(lallien, auch abgesehen von der „Provinz", gegeben hat, (2) sollte Lyon
wirklich die einzige bischöfliche Kirche daselbst gewesen sein, so gab es in
Gallien Christen außerhalb Lyons nur in verschwindender Zahl.
Wir kehren zu einem Satze Theodors zurück. Er hatte geschrieben:
.,Am Anfang waren in einer Provinz in der Regel zwei oder drei Bischöfe —
so stand es vor nicht langer Zeit im Abendland in den meisten Provinzen,
in einigen aber findet man diese Ordnung auch jetzt noch bewahrt." Der
Satz bringt uns in keinem Sinne Aufschlüsse; denn „was am Anfange war",
darüber wußte Theodor nicht mehr als wir heute wissen; die Behauptung,
daß es in den meisten abendländischen Provinzen „vor nicht langer Zeit*
nicht mehr als zwei oder threi Bischöfe gegeben habe, ist positiv unrichtig
und beweist nur, daß Theodor geringe historische Kunde von abendländischen
Kirchen besessen hat; die Mitteilung endlich, daß einige abendländische
Pi'ovinzen auch jetzt noch nicht mehr als zwei oder drei Bischöfe besitzen,
wird richtig sein, aber sie ist unerheblich; denn wir wissen auch ohne das
Zeugnis Theodors, daß die Zahl der Bistümer in den an der langen Nord-
grenze des römischen Reichs gelegenen Provinzen sowie in England nur ge-
ring war. In der Spärlichkeit der dortigen Bistümer hat sich aber nicht
ein alter, später beseitigter Verfassungszustand der Kirche zäh konserviert,
sondern sie war eine Folge der Bevölkerungsverhältnisse daselbst und der
Spärlichkeit der Christen in jenen Gegenden. Freilich, insofern waren die
Verhältnisse dort denen, in welchen sich das Christentum am Anfang im
ganzen Reich befand, ähnlich, als die Christen jener Landstriche noch immer
in der Diaspora lebten, die Christen und — die Römer.
Hier könnten wir schließen, enthielte der merkwürdige historische Auf-
satz Theodors nicht ein Element, welches mit der Wirklichkeit der Dinge
zusammenhängt. Wir haben im Verlauf unserer Abhandlung mehrfach die
besondere Stellung des Metropoliten, bez. eines führenden Bischofs der
Provinz, berührt'. Daß zu Eusebius' Zeit der Metropolit häufig einfach als
,der Bischof der Provinz" bezeichnet worden ist, geht aus mehreren Stellen
deutlich hervor; aber auch schon zur Zeit des Dionysius von Corinth, ja zu
der des Ignatius, ist der führende Bischof so genannt worden. Für die Ver-
breitungsgeschichte des Christentums — sofern es sich darum handelt, die
Stärke der Tendenz zur Bildung selbständiger Gemeinden festzustellen — ist
diese Tatsache neutral; aber nicht neutral ist sie in bezug auf das Bild,
welches man sich von dem Gang der Verfassungsgeschichte zu machen
hat. Leider lassen hier jedoch unsre Quellen das meiste zu wünschen übrig.
Die unsicheren Einblicke, die sie uns gestatten, machen es nicht möglich,
ein wirkliches historisches Bild zu gewinnen oder gar eine Entwicklungs-
geschichte zu rekonstruieren. Wie alt ist der Metropolit V Hängt seine
Stellung mit einer ui'sprünglich nur einem Einzelnen in der Provinz über-
tragenen Ordinationsgewalt zusammen? Reicht der Ursprung der Metropolitan-
gewalt bis in die Zeit zurück, da es noch Apostel gab? Besteht hier irgend
*) Was Augustin einmal (ep. 22, 4) von der carthaginiensischen Kirche
in ihrem Verhältnis zu den Kirchen der Provinz sagt: „si ab una ecclesia
inchoauda est medicina [Abstellung eines Mißbrauchs], sicut videtur audaciae
mutare conari quod Carthaginiensis ecclesia tenet, sie magnae impudentiae
est velle servare quod Carthaginiensis ecclesia correxit" — das wird eine
weitverbreitete Meinung (und nicht erst im 4. .Jahrhundert) in bezug auf
die Autorität der Metropolitankirche gewesen sein.
Gemeindebildung und Bistum in der Zeit von Pins bis Constantin. 395
ein Zusammenhang? Ist zwischen Bischof und Bischof zu unterscheiden, so
daß es in alter Zeit Bischöfe gegeben hat, die nicht ordiniert haben oder
nur als Vikare eines Hauptbischofs ^ ? Alle diese Fragen sind wahrschein-
lich generell zu verneinen, vielleicht aber für einzehie Fälle zu bejahen.
Sicherheit kann man nicht gewinnen, wenigstens ist es mü- trotz wiederholten
Bemühungen nicht gelungen, etwas Haltbares zu ermitteln. Öfters mögen
die faktischen Verhältnisse so stark gewirkt haben wie Rechtsverhältnisse,
d. h. ein einzelner Bischof mag im Anfang und längere Zeit hindurch Rechte
ausgeübt haben ohne Rechtstitel , vielmehr als Ausfluß einer persönlich oder
durch das bürgerliche Ansehen und den Reichtum seiner städtischen Ge-
meinde erworbenen Machtstellung-. Auch die staatliche Provinzial-Verfassung
und -Administration, sowie die Bedeutung, die sie einzelnen Städten verlieh,
mag schon früh hier und dort Einfluß auf die Kompetenzen einzelner Bischöfe
in einzelnen Provinzen ausgeübt und dieselben verstärkt haben'; aber wahr-
scheinlich sind das alles so zu sagen irrationale Elemente, die weder eine
Generalisierung, noch eine Verdichtung zu rechtlichen Kompetenzen für die
älteste Zeit dulden. Die Ausbildung eines metropolitanen Rechts kann nicht
früher nachgewiesen werden als seit der Zeit, da sich die Synodalverfassung
gebildet hatte, und dieses Recht hat die strenge Selbständigkeit, die wesent-
liche Gleichartigkeit und die feste Zusammengehörigkeit aller Bischöfe einer
Provinz zu seiner Voraussetzung. Alle „Vorstufen" sind mit Nebel bedeckt,
und die spärlichen Lichter, die hier erscheinen, können leicht in die Irre
führen.
Als Resultat dieser Unter.suchuugeu in bezug auf die Fragen der Ver-
breitungsgeschichte des Christentums ergibt sich, daß die Zahl der Bis-
tümer in den einzelnen Provinzen des römischen Reichs einen wesentlich
') Auf diese Frage wird man geführt, wenn man hört, daß seit dem
Anfang des 4. .lahrbunderts Bestimmungen getroflen worden sind, welche den
Chorbischöfen das Recht der Ordination verschränkten (s. 0. S. 390). Geht
diese VerscLränkung auf eine ältere Zeit zurück? Schwerlich auf eine sehr
viel ältere; aber Gillmann (a.a.O. S. 121) wird darin Recht haben, daß
die Beschlüsse von Ancyra und Neo-Cäsarea nicht aus der Pistole geschossen
kamen, sondern etwas kodifizierten, was vorher schon in weiten Kreisen
zum Teil in Übung war. Man wird also wohl bis in die Zeit, die mit
Gallienus' Edikt beginnt, zurückgehen müssen. Darüber aber, ob der Land-
bischof von Anfang an dem Stadtbischof einigermaßen untergeordnet war
(namentlich als Ordinator), wissen wir nichts; a priori ist es unwahr-
scheinlich.
^) Man erinnere sich hier z. B. des oben S. 152 besprochenen 2. Briefs
des Cyprian: die carthaginiensische Gemeinde ist bereit, den Unterhalt eines
ehemaligen Lehrers der Schauspielkunst zu übernehmen, falls seine heimische
Gemeinde dazu nicht imstande ist. Daß die carthaginiensische Gemeinde,
bez. ihr Bischof, wenn sich solche Fälle wiederholten, eine übergeordnete
Stellung im Kreise der provinzialen Schwestergemeinden erhalten mußte, ist
deutlich. Man vergleiche auch den 62. Brief, in welchem die carthaginien-
sische Gemeinde für die Loskaufung von Christen Africas, die in die Gefangen-
schaft der Barbaren geraten waren, 100000 Sestertien spendet und ihre Bereit-
willigkeit erklärt, im Bedarfsfalle noch mehr zu senden. Daß das Ansehen
der römischen Gemeinde und ihrer Bischöfe durch solche Spenden, die sie
oft und auch entfernten Gemeinden gewährt hat, gewachsen ist, ist bekannt.
') Die lehrreichen Untersuchungen von Lübeck, , Reichseinteilung und
kirchliche Hierarchie des Orients" (Kirchengeschichtliche Studien, herausgeg.
von Knöpf 1er, Schrörs und Sdralek, V. Bd. 4. Heft, 1901), geben hier
manche Fingerzeige.
396 Die Missionare; Modalitätea und Gegenwirkungen der Mission.
zuverlässigen Maßstab zur Bestimmung der Stärke der christlichen Bewegung
abgibt. Ausgenommen ist nur Ägypten; abgesehen von dieser Provinz, sind
in der Zeit von Antonius Pius bis Constantin nicht bischöflich verfaßte
Gemeinden im Orient und Okzident ganz spärlich gewesen ^ Nicht nur
Städtchen, sondern auch Dörfer besaßen Bischöfe. Cyprian hat etwas wesent-
^) Vor der Mitte des 3. Jahrhunderts kenne ich überhaupt kein einziges
Beispiel (außerhalb Ägyptens). Alles, was man aus älterer Zeit angeführt
hat. beweist nur, daß es Christen auf dem Lande gegeben hat, oder daß
Landbewohner hin und her in die Städte zum Gottesdienst kamen, also über-
haupt keine heimische gottesdienstliche Stätte, somit auch keine Presbyter
besaßen. Dazu kommt, daß die ursprüngliche und bis in das 3. Jahrhundert
hinein nachweisbare Natur des presbyterialen Amtes eine Diö'erenzieruug in
einzelne selbständige presbyteri gar nicht zuließ: der einzelne Presbyter ist
nur als Mitglied eines Kollegiums das, was er ist (vgl. auch Hatch-Harnack,
Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen S. 76f. 200ff.: das Recht der
Presbyter, zu taufen, ist ursprünglich nur ein übertragenes gewesen. Hatch
setzt den Beginn der Pfarreien auch erst in spätere Zeit). Ich veiToute, daß
die Organisation presbyterial verfaßter Dortgemeinden erst begonnen hat,
nachdem in den größeren Städten die Stadtgemeinde in diakonal-presbyteriale
Bezirke eingeteilt worden war und der einzelne Presbyter relativ selbständig
wurde. Diese Einteilung ist in Rom etwas älter als die Mitte des 8. Jahr-
hunderts und ursprünglich der Kegionen -Einteilung (nicht der synagogalen)
angepaßt. Die Notwendigkeit, auf dem Lande — auch wo es keine Bischöfe
gab — Kleriker zu installieren, ergab sich ferner im Orient überall da, wo
ein Märtyrergrab oder überhauj^t ein Kirchhof zu besorgen war (man ver-
gleiche z. B. das Testament der 40 Märtyrer von Sebaste). Weiter wissen
wir aus der Geschichte des Gregorius Thaumaturgus und aus anderen Quellen
(Acta Theodoti Ancyr.), daß nach der Mitte des 3. Jahrhunderts der große
Prozeß begonnen hat, heidnische heilige Stätten und Kulte auf dem Lande
in christliche umzuweihen und für Reliquien Kapellen zu bauen. Auch in
diesen Fällen war ein Presbyter oder mindestens ein Diakon nötig, um das
Heiligtum zu versorgen. Endlich haben die großen Verfolgungen des Decius,
des Valerian, des Diocletian und Maximinus Daza Tausende von Christen zur
Flucht auf das Land genötigt; Maximinus Daza hat außerdem die Christen
aus den Städten zu verdrängen versucht und Tausende zur Zwangsarbeit auf
dem Lande (in den Bergwerken) verurteilt. Wir wissen — Dionysius Alexan-
drinus und Eusebius sagen es uns — , daß in diesen Fällen gottesdienstliche
Gemeinden auf dem Lande entstanden sind, die natürlich keinen Bischof
hatten, wenn nicht zufällig ein solcher vorhanden war. Man darf annehmen,
daß alle diese Verhältnisse zusammen die Organisation presbyterialverfaßter
Gemeinden bewirkt haben, die dann, von den Stadtbischöfen unterstüzt, in
eine siegreiche Konkurrenz mit dem alten Chorepiskopat getreten ist. Häufig
aber wird auf dem Lande nicht die Gemeinde, sondern das Sacrum — solche
christliche Sacra gab es auch schon vor den Um weihungen heidnischer, näm-
lich die Märtyrergräber und Kirchhöfe — das Frühere gewesen sein. Mit
diesen Erwägungen trete ich in dem Streit, der zwischen Thomas sin und
Binterim geführt worden ist, auf Thomassins Seite: die „ Landpfarrei " hat
sich erst seit etwa 250 langsam entwickelt; aber — gegen Thomassin —
bin ich der Ansicht, daß das „Landbistum" älter ist. Es kann ja mit Sicher-
heit für Phrygien bis in die Zeit der ersten montanistischen Kämpfe hinauf-
geführt werden. In bezug auf die Entstehung der Landpfarreien vgl. die
neuen und einschneidenden Untersuchungen von Stutz und seinem Schüler
(Stutz, Gesch. des kirchl. Benefizialwesens I, 1895; Schäfer, Pfarrkirche
und Stift im deutschen Mittelalter, 1903; Stutz, Anzeige von Imbart de
la Tour, Les paroisses rurales du 4« au ll^ siecle, 1900, in den Gott. Gel.
Anz., 1904, Nr. 1 p. 1 — 86). Obschon die Untersuchungen die Verhältnisse
der vorconstantinischen Zeit nicht berühren, sind sie zur Vergleichung doch
jedem nötig, der die älteste Verfassungsgeschichte der Kirche erhellen will.
GenieindebilduDg und Bistum in der Zeit von Pius bis Constantin. 397
lieh Richtiges behauptet, wenn er (ep. 55, 24) an Antonian schreibt: „lam
pridem per omnes provincias et per urbes singulas ordinati sunt episcopi" ' ;
und was zur Zeit des Sozomenus (h. e. VII, 19) eine Singularität gewesen ist
— daß in Scythien trotz vieler Städte nur ein Bischof regierte^ — , das
wäre auch schon 150 Jahre früher eine Singularität gewesen.
Erinnert sei zum Schlüsse noch daran, daß sich diese ganze Unter-
suchung lediglich auf die Zeit von Pius bis Constantin bezieht, nicht aber
auf die früheste Periode, in der sich der monarchische Gemeindeepiskopat
selbst erst entwickelt hat. In dieser frühesten Periode — in einigen Provinzen
bis zur Zeit Domitiaus und Trajans, in vielen anderen noch bedeutend länger
— war die kollegiale Regierung der Einzelgemeinde durch Bischöfe und
Diakonen (bez. durch ein Presbyterkollegium , Bischöfe und Diakonen) die
Regel. Wie dieser Zustand in den andern (den der monarchischen Regierung)
übergegangen ist, stand hier nicht zur Frage. Die Vermutung aber, daß,
wo sich im dritten Jahrhundert nicht-bischöflich verfaßte Gemeinden finden,
diese als solche zu betrachten seien, welche die älteste Organisation fest-
gehalten haben, ist nicht nur unbeweisbar, sondern auch unrichtig; denn
diese nicht-bischöflich verfaßten Dorfgemeinden sind augenscheinlich junge
Gemeinden, und sie sind nicht von einem Presbyter-Kollegium, sondern
von einem oder zwei Presbytern geleitet worden; es sind „Landpfarreien",
deren exponierte „Presbyter" mit den Mitgliedern des uralten Presbyter-
Kollegiums nicht viel mehr als den Namen gemeinsam haben. Eine Aus-
nahme macht hier, wie ich nochmals erinnere, Ägypten, sofern große
christliche Gemeinden in diesem Lande noch in der Mitte des dritten Jahr-
hunderts kollegial geleitet worden sind. Hier steht nichts der Annahme
entgegen, daß diese Gemeinden die älteste Verfassungsform zäh festgehalten
haben. Scheinen doch in Ägypten neben den Pi-esbytern bis über die Mitte
des dritten Jahrhunderts sogar noch „8i8äaxaloi" zur Repräsentanz der Ge-
meinden gehört zu haben (Dionys. Alex, bei Euseb., h. e. VII, 24).
^) Dabei bleibt vorbehalten, daß sich in einigen Provinzen die Tendenz
zur selbständigen Gemeindebildung energischer geltend gemacht hat als in
anderen. Indessen können wir dies nur vermuten, nicht streng beweisen.
Die bischöflichen Gemeinden sind im 3. Jahrhundert in Nordafrica, Palästina,
Syrien, Asien und Phrygien am zahlreichsten gewesen; aber es spricht viel
dafür, daß auch die Christen in diesen Provinzen am zahlreichsten waren.
Besondere Umstände, die zu einer schnellen Vermehrung selbständiger d. h.
bischöflicher Gemeinden geführt haben, möchte ich nur für Nordafrica an-
nehmen; aber welche sie waren, weiß man nicht.
^) Wenn Sozomenus fortfahrt : sv äXXoig de k'&veoiv iozlv öjti] xal Iv
}i(ji)[.iaig EJiioxonoi legovvrai, cbg Jtaga 'Agaßioig xai KvjiQiotg syvcov xai jrafja
TOig ev <pQvyiaig Navatiavolg xal Movraviaxmg , so erkennt man, daß Dorf-
bischöfe zu seiner Zeit (um das Jahr 430) in den meisten Provinzen nicht
mehr existiert haben. Daß sie früher häufiger waren, lehrt eben die Tat-
sache, daß sie sich noch bei den phrygischen Novatianern und Montanisten
fanden; denn diese Sekten hielten altertümliche Einrichtung-en fest.
398 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Exkurs IL
Die katholische Konföderation und die Mission.
Bevor es Generalsynoden und Patriarchen in der Kirche gegeben hat,
ja bevor noch das Metropolitansystem vollständig ausgebildet war, gab es
eine katholische Konföderation der meisten christlichen Gemeinden in Ost
und West. Sie hat sich in den Kämijfen mit den Gnostikern gebildet, hat
iu den montanistischen Krisen ihren relativen Abschluß erhalten und hatte
ihren Mittelpunkt au der Gemeinde von Rom. Sie war eine Tatsache, ob-
gleich kein geschriebeues Recht und auch nicht ein Buchstabe eines ge-
meinsamen Statuts bestand. Aber gemeinsam war die apostolische Glaubens-
regel, der apostolische Schriftenkanon und die Überzeugung von der aposto-
lischen Einsetzung des Episkopats; ja schon bevor diese gemeinsamen Güter
überall als Besitz anerkannt waren , wußte man sich durch die Behauptung
derselben Lehre als eine Einheit. Äußerlich trat diese Einheit in der Inter-
kommuuion, in der brüderlichen Aufnahme der Zugereisten und Wandernden,
in der regelmäßigen Anzeige des Wechsels der Amtspersonen, hin und her
auch schon in der Beschickung der Synoden über den Kreis der eigenen
Provinz hinaus und in der Sendung von Unterstützungen hervor. Was von
Anfang an in fi-eier Weise, aber eben deshalb auch oft willkürlich und Un-
würdigen gegenüber geschehen war, erhielt nun eine gewohnheitsrechtliche
Ordnung und feste Formen.
Für die Ausbreitung der Kirche bedeutete die Tatsache dieser katholi-
schen Konföderation sehr viel. Überall war der Christ nun heimisch und
konnte sich so empfinden; überall war er beschützt und überall kontroliert.
Die Kirche schuf sozusagen in ihren Kreisen ein neues einheitliches Reichs-
bürgerrecht. Eben in derselben Eiooche, in welcher Caracalla das römische
Bürgerrecht an die Pi-ovinzialen verlieh — eine ziemlich wirkungslose Kon-
zession, die nicht erreichte, was sie sollte — , wurde das katholische Bürger-
recht eine wichtige Sache.
Exkurs III.
Der Primat Roms und die Mission.
Die römische Gemeinde besaß seit dem Ende des 1. Jahrhunderts einen
faktischen Primat in der Christenheit. Als Gemeinde der Welthauptstadt, als
die Kirche des Petrus und Paulus, als die Ekklesia, welche das Meiste für
die Katholi.sierung und Unitizierung der Kirchen getan hat, endlich als die
Gemeinde, welche überallhin die Augen offen hatte, aber auch stets bereit
war, annen oder bedrängten Gemeinden im ganzen Reich mit Gaben bei-
zustehen *, hatte sie ihn erwor})en^ Die Frage erhebt sich, ob diese Kirche
') Wir haben dafür ans dem 2. und 8. Jahrhundert Zeugnisse, und zwar
in bezug auf Coriuth, Arabien, Cappadocien und Mesopotamien, s. darüber
S. V)2 if. und das folgende Buch. Die Fälle, in denen sie mit dem Wort und
Ratschlägen eingriff, sind noch zahlreicher.
■■') Ein großer Teil des einschlagenden Quellenmaterials ist in meinem
Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. V S. 4.55 tf. zusammengestellt unter dem
Titel: -Katholisch und Römisch".
Gegenwirkungen. • 1399
nicht auch für die Mission, sei es von Anfang au, sei es in bestimmten
Epochen des vorconstantinischeu Zeitalters, besonders tätig gewesen ist. Die
Antwort muß negativ hiuteu. Alles, was in bezug hierauf behauptet worden
ist, gehört offenkundig der Teudeuzlegende, und zwar einer späten Tendenz-
legende an. Alle die Berichte über Kirchengründungen des Petrus in West-
und Nordeuropa (durch abdelegierte Schüler) sind Fabeln; ebenso fabelhaft
ist, was von den ältesten römischen Bischöfen in dieser Hinsicht erzählt
worden ist, z. B. die Kirchengründung in Britannien durch Eleutherus. Was
übrigbleibt, ist, soviel ich sehe, einzig die abgerissene, aber zuverlässige
Nachricht, welche der ebenerwähnten Legende zugrunde liegt, daß um das
J. 200 eine Beziehung zwischen Rom und Edessa bestanden hat. Aber auf
eine beabsichtigte Missionstätigkeit ist daraus nicht zu schließen. Die
Christianisierung von Edessa ist spontan erfolgt. Wohl mag Abgar bei
seinem Aufenthalt in Rom den dortigen Bischof gesprochen haben, und ein
Brief, der schon vorher von Eleutherus an Abgar gei'ichtet worden sein soll,
wird auch historisch sein, wohl mag der römische Bischof auf die Katholi-
sierung Edessas und der osroenischen Bischöfe eingewirkt haben, aber von
einer Missionstätigkeit in irgendwelchem Sinn kann nicht die Rede sein.
Femer, hätte Rom eine förmliche Missionstätigkeit in bezug auf Nordafrica
(oder Spanien, oder Gallien, oder Oberitalien) je unternommen, so müßten
wir, mindestens Nordafi-ica anlangend, davon hören. Aber dort wußte man
zur Zeit Tertullians nur, daß die römische Kirche apostolischen Ursprung
habe, die eigene nicht, und daß man sich deshalb an die „auctoritas" jener
Kirche halten müsse. Vielleicht liegt darin auch eine Erinnerung, daß das
Christentum von dort nach Carthago gekommen ist, aber nicht einmal das
ist sicher. Unbekannte Säemänner haben auch in Carthago den ersten Samen
gestreut, im Auftrage Gottes und nicht der Menschen. Schon im 2. .Jahr-
hundert kannte man in Africa selbst ihre Namen nicht mehr.
Den Vorwurf einer Pflichtversäumnis darf man der römischen Kirche
deshalb nicht machen: bewußte, planvolle Missionsunternehmungeu seitens
einzelner Kirchen sind in den ersten Jahrhunderten überhaupt nicht nach-
weisbar und lagen nicht in ihrem Horizonte. Wohl aber war es eine wich-
tige Pflicht, „die Brüder zu stärken", und das hat Rom in reichem Maße
getan.
Fünftes Kapitel.
Gegenwirkungen.
Von der ersten systematischen Gegenwirkung gegen das
Christentum und seine Verbreitung, der von Jerusalem aus in
Szene gesetzten jüdischen Kontramission, ist bereits oben S. 50 f.
gehandelt worden. Sie erlosch mit dem Untergang Jerusalems,
doch, wie es scheint, erst zur Zeit Hadrians; aber in den bösen
Vorwürfen gegen die Christen, welche die Juden aufgebracht
hatten, wirkte sie noch lange im Reiche nach. Die Synagogen
400 Die Missionare ; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
und einzelne Juden setzten den Kampf gegen das Christentum
durch Anfeindungen und Aufhetzungen fort^.
Die Gegenwirkungen des römischen Staats, wie sie sich in
den Yerfolgungen darstellen, können im einzelnen hier nicht ge-
schildert werden-. Nur gewisse Hauptpunkte sind hervorzuheben
mit besonderer Beziehung auf die negative und positive Bedeutung,
welche die Yerfolgungen für die Mission gehabt haben.
Sobald sich das Christentum für das Auge des Gesetzes und
der Polizei als eine von der jüdischen Religion unterschiedene
Religion darstellt, war auch sein Charakter als religio illicita
zweifellos. Es bedurfte keines ausdrücklichen Gesetzes, um ihn
zu konstatieren; das „non licet" ist vielmehr die Voraussetzung
aller speziellen kaiserlichen Reskripte. Nach der wahrscheinlich
von den Juden (s. S. 51) angezettelten^ neronischen Verfolgung,
die sich auf Rom beschränkte imd weitere Folgen nicht gehabt hat,
hat Trajan entschieden, daß die Statthalter nach ihrem Ermessen
mit der Koerzition gegebenen Falls einschreiten*, nicht aber die
Christen aufsuchen sollen ^. Hingerichtet — und zwar aufs schimpf-
lichste (s. die neronische Verfolgung, Hermas usw.) — wurden sie,
^) Man vgl. das Martyrium des Polycarp und das des Pionius. In dem
Mart. Cononis sagt der Richter zu dem Angeklagten : tl Tilaräaüs , ävdQcojiov
■deov kiyovtf.g , nai zovrov ßiodavfj; chg f'/.iai)ov Jiagu 'lovöaiMv dxgißwi; , aal ri
t6 yivog avzov aal öoa ivEÖsi^aro toj sdvei aviöjv nal jTÖJg djtsi^avfv oraiiQW&flg.
nQOHOt.doavreg yag aviov xa vTTOfxvt'jjjiaza ['??] ijraveyvModv fioi (v. Gebhardt,
Acta Mart. Selecta p. 131). Celsus ließ in seiner Streitschrift einen Juden
gegen die Christen auftreten. Das entsprach der Tatsache, daß die Heiden,
wenn sie dem Christentum kritisch näher traten, zunächst von den Juden
lernen mußten. — Daß es umgekehrt die Christen nicht an schärfster Ver-
urteilung der Juden fehlen ließen , ist oben S. 58 ff. gezeigt worden. Der
von Hippolyt (Philos. IX, 12) in bezug auf den römischen Christen Callist
berichtete Fall ist gewiß singulär, aber doch symptomatisch. Um sich ein
billiges Martyrium zu verschaffen, stellt sich Callist am Sabbat an eine
Synagoge und verhöhnt die Juden.
^) S. Neu manu, Der römische Staat und die allg. Kirche I, 1890;
Mommsen, Der Religionsfrevel nach röm. Kecht (Hist. Ztschr. Bd. 64 [N.F.
Bd. 28]) Hefts S. 389— 429; Harnack, „Christenverfolgungen" in der Protest.
REncykl. IIP; Weiß, Christen Verfolgungen, 1899; Linsenmayer, Die Be-
kämpfung des Christentums durch den römischen Staat, 1905.
^) Ohne diese Hypothese ist die Verfolgung m. E. schwer begreiflich;
dazu s. meine Abhandlung in den Texten u. Unters. Bd. 28 Heft 2, 1905.
*) Trajan billigt das Verfahren des Plinius, angeklagte Christen, die bei
der Verweigerung der Opfer verharren, hinrichten zu lassen, fügt aber hinzu:
„in Universum aliquid quod quasi certam formam habeat constitui non potest."
^) Die kriminelle Behandlung in gewissen Fällen nach dem Ermessen
der Statthalter ist damit natürlich nicht ausgeschlossen; auch .sind im Laufe
des 2. Jahrhunderts Spezialbestimmungen in bezug auf die Behandlung der
Christen erlassen worden. Das Richtige über das koerzitive und kriminelle
Verfahren bei Au gar, Texte u. Unters. Bd. 28 Heft 4, 1905.
Gegenwirkungen. 4()1
wenn sie, die sämtlich des Majestätsverbrechen h bez. des Sakri-
legiums^ verdächtig waren, bei der Weigerung, vor den Götter-
bildern und dem Kaiserbilde zu opfern, verharrten und sich somit
jener Ycrbrechen offenkundig schuldig machten. Beim Kaiser-
kultus, und eigentlich nur hier, stießen Staat und Kirche
aufeinander'-^. Die Behauptung der christlichen Apologeten, das
„nomen ipsum" werde mit dem Tode bestraft, ist im Grunde nicht
richtig oder nur mit Zufügung des auf Erfahrung beruhenden
Satzes, daß kein wirklicher Anhänger dieser Sokt(! jemals opfert'',
also Atheist und hostis publicus ist.
Die Reskripte der Kaiser, von denen wir wissen, hatten bis
zu den letzten Jahren M. Aureis den Zweck, nicht die Christen
zu schützen, sondern die Rechtspflege und Polizei gegen Eingriffe
des den Christen feindlichen Pöbels* und gegen Übergriffe der
Landtage, die durch Christenprozessc ihre Loyalität auf billige
Art beweisen wollten, sicher zu stellen. Anonyme Anklageschriften
hatte schon Trajan verboten; die Versuche des asiatischen Land-
tags, durch Massenpetitionen die Statthalter zum Einschreiten
gegen die Christen zu bewegen, hat Hadrian zurückgewiesen;
Pius hat in mehreren Reskripten alle „Neuerungen" im Verfahren
untersagt: es sollte bei dem „quaerendi non sunt" und der Straf-
losigkeit verleugnender Christen verbleiben. Die Akkusation
Privater im Strafprozeß ist in dieser Zeit überhaupt und so auch
in Majestätsprozesson immer mehr eingeschränkt worden (auch
die öffentliche Meinung wurde ihr in steigendem Maße ungünstig) ^,
und das kam den Christen zugut; denn die meisten Statthalter
sahen sich nicht veranlaßt, von sich aus einzugreifen, sondern sie
') „Atheismus": s. meine Abhandlung hierüber in den Texten u. Unters.,
a. a. ().
-) Tertul]., Apol. 10: „Sacrilegii et maiestatis rei convenimur. summa
haec causa, immo tota est." Aber das „sacrilegium" wurde faktisch kaum
mehr von der „maiestas" unterschieden.
^) Plinius (ep. 96, 5): ,cjuorum nihil posse cogi dicuutur qui sunt re
vera Christiani."
*) Man beobachtet, daß die Gresellschaft und das Volk bis etwa zur Zeit
Caracallas (incl.) dem Christentum höchst feindlich sind und der Staat sie
sogar zügeln muß; aber seit dieser Zeit hört der Fanatismus des Pöbels und
die Abneigung eines Teils der Gesellschaft mehr und mehr auf. Augenschein-
lich fing man an, sich an die Tatsache der Existenz dieser Religion zu ge-
wöhnen (Tertullian, Scorp. 1, sagt, die „ethnici de melioribus" sprächen:
„siccine tractari sectam nemini molestam? perire homines sine causa"). Nun
aber mußte sich die Sorge römisch empfindender Kaiser und Staatsbeamten
verdoppeln.
^) Tertullian sagt freilich (Apolog. 2): In reos maiestatis et publicos
hostes omnis homo miles est", aber dabei handelt es sich um deklarierte
Verbrecher, nicht um Verdächtige.
Harnack, Mission. 2. Aufl. 26
402 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
ließen die Christen, von ihrer faktischen Ungefährlichkeit über-
zeugt, gewähren. Je höher eine Persönhchkeit im öffentlichen
Leben stand, nm so größer war natürlich die Gefahr für sie, al8
Christ in Konflikt mit der Staatsordnung zu kommen. Nur auf
der tiefsten Stufe der Gesellschaft war die Gefahr etwa gleich
groß; denn das Leben dieser Leute galt überhaupt nicht viel.
Christen aus dem mittleren Bürgerstand blieben im ganzen un-
behelligt, sofern es nicht einer Litrige gelang, sie vor den Richter
zu zerren. Märtyrer aus dieser großen Schicht hat es bis zur Mitte
des '•]. Jahrhunderts nur in ganz geringer Anzahl gegeben. Irenäus
schreibt um 185: „Mundus pacem habet per Romanos, et nos
[Christiani] sine timore in via ambulamus et navigamus quocumque
voluerimus". Exponiert waren die Soldaten, sobald sie öffentlich
von ihrem Christentum Gebrauch machten, exponiert auch alle die
Christen, welche zu den zahlreichen kaiserlichen Domänen gehörten.
Diese Haltung des Staats — von der dezidierten Christen-
feindlichkeit einiger weniger Prokonsuln und von der strengeren
Aufsicht des Stadtpräfekten abgesehen — hat bis zur Zeit des
Decius, also bis zum Jahre 249, gedauert. Lidessen haben in
diesem langen Zeitraum dreimal Versuche zu Yerschärfungen statt-
gefunden. Nur von Versuchen kann man sprechen; denn alle drei
haben verhältnismäßig schnell ihre Kraft verloren. Der Kaiser
Marcus hat den Statthaltern schärfere Überwachung der religiösen
Umtriebe, und damit auch der christlichen, zur Pflicht gemacht:
die Resultate dieses Reskripts sehen wir in den Verfolgungen der
Jahre 176 bis 180; aber unter Commodus schlief die Verordnung
ein. Septimius Severus hat im Jahre 202 den Übertritt zum
Christentum verboten und damit natürlich auch eine strengere
Überwachung der Christen überhaupt angeordnet: die Neophyten-
und Katechumenen -Verfolgungen des Jalires 202/3 beweisen, daß
das Reskript nicht vergeblich war, aber sehr bald erlahmte es.
]\Iaximinus Thrax gebot, die Kleriker hinzurichten — das setzt
eine obligatorische Aufspürung voraus, bedeutet also eine grund-
sätzliche Neuerung — . allein das Gesetz ist außerhalb Roms wahr-
scheinlich nur in wenigen Provinzen befolgt worden: wir wissen
nicht, was seiner Durchführung im Wege gestanden hat. Die
Kleriker scheinen übrigens bis zur Zeit des Maximinus Thrax nicht
sehr viel exponierter gewesen zu sein als die Laien, und das
Edikt des Maximinus hat nicht viele getroffen. Es war aber be-
deutungsvoll, weil es offenbar machte, daß der Staat sich nun
der maßgebenden Stellung des christlichen Klerus bewußt ge-
worden ist.
Während die Verschärfungsversuche von kurzer Dauer waren,
hat die relative Christenfreundlichkeit des Commodus, Alexander
Gegenwirkungen. 403
Severus und IMiilippus Arabs die Lag-c der Christen jahrzehnte-
lang noch verbessert.
Äußerlich betrachtet waren also die Verfolgungen bis zur
Mitte des 3. Jahrhunderts nicht so schlimm, wie sie landläufig
vorgestellt werden, und Origenes bemerkt ausdrücklich, daß die
Zahl der Märtyrer klein sei und leicht zu zählen^. Ein Blick auf
Carthago und Xordafrica (nach den Schriften Tertullians) bestätigt
das. Vor dem Jahre 180 hat es dort überhaupt keine Märtyrer
gegeben, und bis zur Zeit des Todes Tertullians schwerlich mehr
als ein paar Dutzend (ISTumidien und Mauretanien cinbegriflFen) —
es sind stets nur Exempel statuiert worden. Dennoch würde
man sehr irren, wenn man sich die Lage für die Christen ganz
erträglich vorstellte. Gewiß, sie haben sich fiiktisch im Reiche
einbürgern können, allein über jedem Christen schwebte das
Damoclesschwert, und jeder Christ stand gegebenenfalls unter der
schweren Versuchung zu verleugnen, denn die A^erleugnung machte
ihn frei. Die christlichen Apologeten haben sich über dieses viel
mehr beschwert als über jenes, und mit Recht. Die Staatsprämie,
die auf die Verleugnung gesetzt war, dokumentierte in ihren
Augen, daß die Rechtspflege unter dem Einfluß der Dämonen stehe.
Man darf also, trotz der kleinen Anzahl der Martyrien, den
Mut nicht unterschätzen, der dazu gehörte. Christ zu werden und
als Christ zu leben; man muß vor allem aber die Überzeugungs-
ti"eue der Märtyrer hoch schätzen, die ein Wort oder eine Hand-
lung des Moments straflos machen konnte, und die den Tod der
Straflosigkeit vorzogen '^.
^) S. c. Geis. III, 8. Wichtig ist es auch, daß er (Comment. ser. in
Matth. 39 t. 4 p. "270 ed. Lomm.) ausdrücklich bemerkt, generelle Verfolgungen
werde erst die Endzeit bringen, bisher habe es nur partielle gegeben:
„nunquam quidem conseuserunt oinnes geutes adversus Christianos ; cum
autem contigerint quae Christus praedixit. tunc quasi succendendi sunt
omues a quibusdam gentilibus incipientibus Chi-istiauos culpare, ut tunc fiant
persecutiones iam non ex parte sicut ante, sed generaliter ubique
adversus populum dei" (s. auch p. 271). Um das Zeugnis des Origenes, daß
die Zahl der Märtyrer bisher noch klein sei, nicht zu überschätzen, erinnere
man sich an Irenäus IV, 33, 9: .eccle-sia omni in loco multitudinem martyrum
in omni tempore praemittit ad patrem".
^) Freilich wurden die Märtyrer und Konfessoren auch maßlos in den
Gemeinden gefeiert, und der „ewige"^ Ruhm mochte manchen auch locken
(Marc Aurel beurteilt in seinen Meditationen die Todesbereitschaft der Christen
einfach als Fanatismus und Prahlsucht; vgl. dazu Luciaus Peregrinus Proteus).
Den Konfessoren wurde ein besonderes Verhältnis zu Christus beigelegt;
hatten sie sich zu ihm bekannt, so hatte er sich eben dadurch auch zu
zu ihnen bekannt. Sie waren schon angenommen; sie waren schon gerettet;
aus ihnen sprach fortab Christus. Ferner hatten sie ein Anrecht, in den
Klerus aufgenommen zu werden (älteste Stelle de fuga 11 des Tertullian),
und ihr Votum mußte man in wichtigen Gemeindeangelegenheiten, nament-
26*
404 Die Missionare; Modalitäten nnd Gegenwirkungen der Mission.
Für die Propaganda der christlichen Religion bildete ihre
Unerlaubtheit unstreitig ein starkes Hemmnis; ob es aufgewogen
wurde durch den Reiz des Verbotenen und durch das heroische
und zündende Yerhalten der Märtyrer, ist schwer zu sagen. Die
Christen selbst sprechen von jenem Hemmnis der Propaganda
nicht viel, um so mehr von dem Zuwachs, den sie durch die
Martyrien fort und fort erhalten ^. In der Tat lehrt die Geschichte
überall, daß die religio pressa stets zunimmt und wächst, daß also
die Verfolgung ein gutes Mittel der Verbreitung ist^.
Moralisch war freilich der Zustand, stets unter dem Schwerte
zu stehen, während es doch selten herniederfiel, eine schwere Ge-
fahr. Die Christen konnten sich dauernd als die verfolgte Herde
fühlen und waren es doch in der Regel nicht; sie konnten sich
in Gedanken alle die Tugenden des Heroismus zubilligen und
lieh in allen Bußfragen (s. z.B. Tertull. ad mart. 1: sie erteilen den Ex-
kommunizierten wieder die pax) entgegennehmen. Es war schwierig, von
ihm abzuweichen. Das vergossene Märtyrerblut aber galt als sündentilgend
wie das Blut Christi (s. z. B. Origenes, Hom. XXIV, 1 in Num. t. 10 p. 293,
Hom. VII, 2 in ludic. t. 11 p. 267). Hymnen auf Märtyrer gab es schon z. Z.
Tertullians, s. Scorp. 7: „cantatur et exitus martyrum". Indessen darf man
als Kehrseite zu dem allen nicht vergessen, wie abschätzig die Christen
selbst die MartjTien beurteilt haben, wenn die Märtyrer nicht ihrer eigenen
Kirchenpartei angehört haben. Mit welchen Verleumdungen haben die
Gegner der Montanisten die montanistischen Konfessoren überschüttet , aber
wie gemein hat sich auch andererseits Tertullian am Ende seines Lebens
über die katholischen Märtyrer geäußert (s. z. B. de ieiunio 12)! Was hat
Tertullian über den Konfessor Praxeas, Hippolyt über den Konfessor Callist,
Cj'prian über ihm unbequeme Märtyrer behauptet! Und waren das alles
Verleumdungen? Von Prahlsucht sprechen sie ebenso wie M. Aurel.
*) S. z.B. Justin, Apol. II, 12 [er sagt, daß er selbst durch die christ-
lichen Martyrien zum Übertritt mitbestimmt worden sei], Dial. 110; Tertj^ill.,
Apol. 50; Lactant., Inst. V, 19; Augustin. ep. 3.
^) Man muß jedoch darauf hinweisen, daß es auch unter den Christen
einzelne Kreise gab, die das offene Bekenntnis und das Martyrium aus guten
Gründen scheuten. Clemens Alex, und Tertullian (Scorp. 1) sagen das von den
Valentinianern und einigen anderen Gnostikern; es hat aber augenscheinlich
auch in der großen Kirche solche gegeben. „Nesciunt simplices animae" — so
sprachen sie — ^quid quomodo scriptum sit, ubi et quando et coram quibus
confitendum, nisi quod nee simplicitas ista, sed vanitas, immo dementia pro
deo mori, ut qui me salvum faciat. sie is occidet, qui salvnm facere debebit?
semel Christus pro nobis obiit, semel occisus est, ue occideremur. si vicem
repetit, num et ille salutem de mea nece expectat? an deus hominum san-
guinem Hagitat, maxime si taurorum et hircorum recusatV certe peccatoris
paenitentiam mavult quam mortem." Dazu c. 15: sie sagen, das Wort .Jesu
von der Bekenntnispflicht beziehe sich nicht auf das Forum irdischer Menschen
(,non in terris confitendum apud homines, minus vero, ne deus humanum
sanguinem sitiat nee Christus vicem passionis, quasi et ipse de ea salutem
consecuturus, exposcat"), sondern auf das Forum jener himmlischen Menschen
(Äonen), durch deren Bereich die Seele nach dem Tode aufsteigen muß.
Gegenwirkungen. 405
wurden doch selten auf die Probe gestellt; sie koimtcn sich als
die hoch über die Welt Erhabenen vorstellen und schmiegten sich
ihr doch faktisch immer mehr an. Die christliche Literatur zeigt,
daß dieser ungesunde Zustand ungünstige Folgen gehabt hat^
Er steigerte sich noch in den Jahren 259 bis 303. Von der
Zeit der Alleinherrschaft des Grallienus an, der den Christen sogar
ihre Grundstücke und Kirchen, die von Yalerian eingezogen waren,
zurückgab, bis zum 19. Jahr Diocletians haben die Christen einen
Frieden genossen, der einer Toleranzerklärung fast gleichkam^.
Aurelians Yersuch blieb in den Anfängen stecken: im übrigen
hat niemand verfolgt: die Kaiser und die Statthalter, sodann der
Reformator Diocletian hatten für andere Dinge zu sorgen. Die
große Ausbreitung der Religion fällt in diese Zeit. Längst besaßen
die Christen (wohl unter den Namen von Strohmännern) auch
Gebäude und Grmidstücke; jetzt konnten sie ungescheut damit
an dio Öffentlichkeit treten ^ als wären sie eine anerkannte Kor-
poration^.
Aber zwischen den Jahren 249 und 258 liegen die beiden
prinzipiellen und schweren Verfolgungen des Decius und Yalerian,
und im Februar 303 begann die letzte und heftigste Verfolgung.
Jene beiden haben nur je ein Jahr gedauert, aber das genügte,
um schreckliche Verwüstungen anzurichten. Viel, sehr viel größer
als die Zahl der Märtyrer war die Zahl der Gefallenen. Decius'
Reskript war brutal und eines Staatsmanns nicht würdig. Mit
einem Schlage sollten alle Christen, Weiber und Kinder ein-
geschlossen, zur alten Religion zurückkehren oder ihr Leben ehi-
*) Dabei sind die heimlichen Abmachungen mit den lokalen Behörden,
sowie die Durchstechereien und Bestechuugeu noch nicht in Anschlag ge-
bracht. Nach TertuUiaus Schrift de fuga kam es in Africa häufig vor, daß
die christlichen Gemeinden der Ortskasse d. h. wohl den Beamten etwas
zahlten und sich dafür zusichern ließen, daß ihre Mitglieder unbehelligt
blieben. Die Behörden selbst rieten öfters dazu; s. Tertull., Apol. 27: „Datis
consilium, quo vobis abutamur" ; ad Scapul. 4: „Cincius Severus [proconsnl]
Thysdri ipse dedit remedium, quomodo responderent Christiaui , ut dimitti
possent."
-) Aus den Resten der Streitschrift des Porphja-ius und aus den Werken
dieses Gegners überhaupt sieht man, daß die Christen damals in der Gesell-
schaft wie eine anerkannte Partei augesehen wurden, die Gewalt nicht mehr
zu fürchten hatte.
') Unter welchem Titel, wissen wir nicht.
*) S. den Heiden bei Macarius Magnes lY, 21 (Porphjrius) oi Xßioziavol
(xifiov/iievoi röi aaraoxsväc zcöv vaöJv ßeyiozovg ol'xovg oty.oöofxovaiv. Vorher
schon Cäcilius bei Minuc. c. 9: „Per Universum orbem sacraria ista taeterrima
impiae coitionis adolescunt." Näheres über Kirchenbau s. unten. — Das
Epitheton „XQioriavög" findet sich m. W. zum erstenmal im Jahr 279 ganz
offen auf einem Grabstein in Kleinasien gesetzt (s. Cumont, Les Inscr. ehret,
de PAsie minem-e p. 11).
406 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
büßen. Staatsmännisch Avaren die Reskripte Valerians: sie betrafen
nur die Kleriker, die höheren Stände und die Caesariani; den
übrigen geschah nichts, wenn sie die Gottesdienste mieden; Grund-
stücke und Kirclicn wurden eingezogen^. Die tragischen Ausgänge
beider Kaiser — mortes persecutorum ! — setzten ihren Ver-
folgungen ein Ziel. Beide hatten es auf Ausrottung der Kirche
abgesehen, der eine auf kürzestem Wege, der andere durch
indirekte Mittel^. Die Restauration der Kirche vollzog sich in
beiden Fällen rasch und glatt, und der nun aufgestellte Grundsatz,
auch Gefallene können wieder aufgenommen werden, füllte die
großen Lücken schnell wieder.
Die letzte Verfolgung, die sog. diocietianische. war die schwerste
und längste. Am heftigsten und längsten wütete sie im Osten und
Südosten im Gebiet des Maximinus Daza, gleich heftig, aber nicht
so lange im Gebiet des Galerius; weniger stark, aber immer noch
sehr empfindlich im Reichsteil des Maximianus und seiner Nach-
folger, schwach im Westen. Die Verfolgvmg setzte mit Reskripten
ein, die den staatsmännischen des Valerian nachgebildet waren,
ja sie an Klugheit noch übertrafen, aber sie ging bald in eine
Form über, die sich mit der von Decius vorgeschriebenen deckte,
sie aber an Grausamkeit im Orient noch überbot. Positive Gegen-
maßregeln hat nur Daza versucht: er hat Pilatusakten erdichten
und überall (vor allem in den Schulen) verbreiten lassen^, die
das Bild Christi verzerren sollten; er hat auf Grund erpreßter
Geständnisse die alten abscheulichen Vorwürfe gegen die Christen
erneuert und in allen Städten durch die Behörden bekannt ge-
macht (Euseb., h. e. I, 9: IX, 5. 7); er hat eine Widerlegungsschrift
gegen die Christen von einem hohen Staatsbeamten abfassen
lassen*; er hat die Städte aufgefordert, ihm Petitionen gegen
die Christen einzureichen ^. und er hat — das war das Wichtigste —
^) Die private Religion ist vom Staate niemals bekämpft worden; be-
kämpft hat er die Verweigerung , die Kultzeremonien zu vollziehen (s. die
prägnante Fassung in den Acta Cypriani 1: „sacratissimi imperatore.s prae-
cei)erunt, eos qui Romanam religionem non colunt, debere Romanas caere-
monias recognoscere"). Systematisch haben dann Valerian und Diocletian
auch die christlichen Gottesdienste zu unterdrücken versucht.
-) Sie hatten augenscheinlich erkannt, daß das bisher innegehaltene
Vorfahren sinnlos war und der Kirche nichts schadete. Richtig urteilten sie,
daß, wenn man di(! Christen nicht gewähren lassen wolle, man sie ausrotten
müsse: ,quaerendi et punieudi sunt"'.
*) „Auch die Schullehrer sollten sie den Kindern anstatt der gewöhn-
lichen Schulfächer eifrigst vortragen und sie auswendig lernen lassen." ,Die
Kinder in den Schulen führten täglich den Namen Jesus und Pilatus, sowie
die zum Hohne gegen uns erdichteten Pilatusakten im Munde."
*) Hinter Hierocles steckt wahrscheinlich der Kaiser selbst.
'') Die Städte apportierten diesen Befehl, s. die Inschrift von Arycanda
und Euseb., h. e. IX, 7.
Gegenwirkungen. 407
eine Restauration und Neuordnung aller Kulte (natürlich unter
dem Prinzipat des Kaiserkults und in Anlehnung an die neue
Provinzialeinteilung) versucht, um sie dem Christentum gegen-
über stärker und anziehender zu machen^; „er befahl, in allen
Städten Tempel zu erbauen und die durch die Länge der Zeit
verfallenen mit allem Fleiß wiederherzustellen; auch bestellte er
Götzenpriester in allen Orten und Städten und setzte über sie
in jeder Provinz einen Oberpriester, der sich in jeglichem öffent-
lichen Dienst in hervorragender Weise ausgezeichnet haben mußte;
diesem gab er eine militärische Ehrenwache bei" (Euseb., h. e.
YIII, 14). Vgl. Euseb. IX, 4: „In allen Städten wurden nun Götzen-
priester und außerdem von Maximinus selbst Oberpriester aufge-
stellt. Hierzu nahm er solche Männer, die infolge ihrer ausge-
zeichneten Verwaltung aller Amter im Staate hohes Ansehen
besaßen. Sie ließen sich auch die Besorgung des Dienstes ihrer
Gottheiten aufs eifrigste angelegen sein". — Das kirchliche Synodal-
institut mit seinen Metropoliten hatte sich seit dem Ende des
2. Jahrhunderts als Nachbildung der Provinziallandtage bez. in
Analogie zu denselben gebildet. Es hatte sich aber so viel kräftiger
ausgestaltet, daß nun, nach hundert Jahren, der Staat dieses
Synodalinstitut mit seinem fest zentralisierten und sittlich hervor-
ragenden Priestertum zu kopieren versuchte. Das war vielleicht
der größte, jedenfalls der augenfälligste Triumph der Kirche vor
Constantin !
Die Verfolgung — der Umfang des Abfalls, der zunächst
eintrat, ist uns nicht bekannt; er muß aber sehr groß gewesen
sein — endigte mit dem Siege Constantins über Maxentius, dem
Siege Constantins und Licinius' über Daza, und endlich mit dem
Siege Constantins über Licinius 2. Überall hatten sich die Ge-
meinden in den letzten Jahren der Verfolgung von dem ersten
furchtbaren Schrecken erholt und innerlich und äußerlich gekräftigt.
Constantin fand keine niedergeworfene und verzagte Kirche, als
') In allen diesen Maßnahmen bat ihn Julian einfach kopiert. Die Seele
dieser Gegeubewegung ist Theotecnus gewesen (Euseb.. h. e. IX, 2ff.j; dem
barbarischen, den niedrigsten Ausschweifungen ergebenen Kaiser kann man
sie nicht zutrauen.
^) In der Not, sich Constantin gegenüber zu halten, ist Licinius zuletzt
noch zum Christeuverfolger geworden (s. den Schluß der Kirchengesch. und
lib. I fin., II iuit. der Vita Constant. des Eusebius). Unter seinen Gesetzen
gegen die Christen ist das in bezug auf die Ordnung in den Gefängnissen,
welches wir oben S. 142 besprochen haben (h. e. X, 8), bemerkenswert, sodann
die Reskripte gegen den Verkehr der Bischöfe untereinander, gegen die Ab-
haltung von Synoden, gegen den gemeinsamen Besuch der Gottesdienste durch
Männer und Frauen und gegen den Unterricht der letzteren durch Bischöfe
(Vita Const. I, ol. 53).
408 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
er ihr seinen kaiserlichen Arm bot, sondern eine feste Kirche,
deren Priesterstand sich in der Verfolgung geläutert hatte. Er
hat sie nicht aus dem Staube erheben müssen — wäre das not-
wendig gewesen, so hätte der Politiker schwerlich einen Finger
gerührt: aus vielen Wunden blutend, aber ungebeugt und stark
kam sie ihm entgegen. Alle Gegenwirkungen des Staats hatten
sich als machtlos erwiesen; sie waren freilich im Anfange des
4. Jahrhunderts nicht mehr wie im zweiten von der öffentlichen
Meinung imterstützt. Damals hatte der Staat diese in ihrem
Fanatismus gegen die Christen niederhalten müssen; jetzt sah er
nicht viele mehr, die seine harten Maßregeln billigten. Daher hat
Galerius selbst noch (auf dem Totenbett) die Yerfolgungsgesetze
zurücknehmen müssen. Sein unfreundlich stilisiertes Reskript
(Euseb., YTII, 17) hat Constantin durch das große und wohlwollende
Toleranzedikt (Euseb., X, 5; Lactant., de mort. 4S) ersetzt.
2.
Wie die Christen im 2. Jahrhundert von der griechisch-
lömischen Gesellschaft und vom Volke beurteilt worden sind,
haben wir oben (Kap. 4 und 6 des 2. Buchs) an einigen Beispielen
gesehen^. Freundlichere Stimmen waren selten. Man hörte wohl
auch solche Urteile: „Gajus Sejus ist ein trefflicher Mann, nur
daß er ein Christ ist", oder: „Ich wundere mich, daß Lucius Titus
— doch ein weiser Mann — plötzlich Christ geworden ist" (Tert.,
Apol. 3), oder: „N. N. denkt über die Dinge und über Gott wie
wir; aber er schiebt die hellenischen Gedanken fremden Fabeln
unter" (Euseb., VI, 19)^. Die Vorwürfe unbegreiflicher Leicht-
^) Eine vollständige Zusammenfassung s. in meiner Gesch. der alt-
christl. Litt. I S. 865 ff.
^) Das ist das Urteil des Porphyrius über Origenes, Um der Einzig-
artigkeit dieses Zeugnisses willen soll es hier stehen: „Einige [Christen]
bestrebten sich, anstatt von der Erbärmlichkeit der jüdischen Schriften ab-
zufallen, eine Lösung derselben zu suchen. Sie nahmen dazu ihre Zuflucht
zu unzusammenhängenden und dem Texte widersprechenden Erklärungen,
worin sie nicht so fast jene fremde Sekte verteidigten, als vielmehr ihrer
eigenen Lehre Lob und Beifall zu verschaffen suchten. Denn ihre Erklärungen
bestehen darin, daß sie die klaren Worte Mosis prahlerisch für Rätsel aus-
geben, sie als Aussprüche Gottes voll verborgener Geheimnisse vergöttern
und durch diesen Dunst die Urteilskraft der Seele blenden . . . Die Art dieser
Ungereimtheit aber kann an einem Manne ersehen werden, mit dem auch
ich in meiner frühesten Jugend [in Cäsarea] zusammengetroffen bin, und der
sich damals einen großen Kuhm erworben hatte, sowie er auch jetzt noch
durch die Schriften, die er hinterließ, in hohem Ansehen steht — ich meine
an Origenes, dessen Ruhm bei den Lehrern dieser Religion weit verbreitet
ist. Dieser Origenes war nämlich ein Schüler des Ammonius, des größten
Philosophen unsrer Zeit, und hatte, was wissenschaftliche Kenntnisse anbe-
Gegenwirkungen. 409
gläubigkeit und totaler Urteilslosigkeit, der „ coiitemptissima iii-
ertia" und der „infructuositas in negotiis" ^ waren noch die ge-
ringsten; man sagte überhaupt, die christliche Lehre und Ethik
sei mit ihren Absurditäten sowie mit ihren barbarischen und
fanatischen Ansprüchen ^ eines freien gebildeten Mannes unwürdig
(so namentlich Porphyrius)^. Die Masse der Gebildeten und Unge-
bildeten war im 2. Jahrhundert noch feindseliger. Im Vordergrund
standen die zwei bösen Vorwürfe (ödipodeische Laster und thye-
steische Mahlzeiten), sowie der Vorwurf der fremden ausländischen
Sitten und weiter des Atheismus und des Hochverrats. Daneben
schwirrten zahlreiche andere Anklagen: daß die Christen Magier
seien und Zauberei trieben*, daß sie einen Götzen mit einem
Eselskopf, das Kreuz, die Sonne, die Genitalien ihrer Priester
langt, aus dem Untemcht seines Lehrers großen Nutzen geschöpft, in Hin-
sicht auf den richtigen Lebensweg aber eine dem Ammonius gerade entgegen-
gesetzte Richtung eingesehlagen .... Als Grieche unter Griechen erzogen,
iiTte er zur barbarischen Hartnäckigkeit ab. Dadurch schändete er sich und
seine erlaugten Kenntnisse : deuu sein äußeres Leben war das eines Christen
und widergesetzlich: in bezug auf seine Ansichten von den Dingen und von
der Gottheit aber helleuisierte er und schob die Vorstellungen der Griechen
den fremden Mj-theu unter. Plato war nämlich sein immerwälrrender Gesell-
schafter, ebenso hatte er die Schriften des Numeuius, Cronius, Apollophanes,
Longinus , Moderatus , Nicomachus und der berühmtesten Männer unter den
Pythagoräern täglich in seinen Händen. Auch gebrauchte er die Schriften
des Stoikers Chäremon und des Cornutus. Von diesen lernte er die alle-
gorische Erklärungsweise der Geheimnisse der Griechen und übertrug sie
sodann auf die jüdischen Schriften."
') S. den Vorwurf gegen den Konsul T. Flavius Clemens (bei Sueton).
Apolog. 42: „infructuosi in negotiis dicimur." Was TertuUiau (de pallio 5)
das Pallium sagen läßt (es kümmere sich nicht um öffentliche Angelegen-
heiten, um das Vaterland und das Imperium, sondern lebe besser in der
Zurückgezogenheit), ist als Rede der Cliristen zu verstehen. Die Heiden er-
widern darauf, das sei „ignavia".
^) S. Tertull., Scorp. 7: .funesta religio, lugubres ritus, ara rogus, pol-
linctor sacerdos."
^) Man gebe sich darum auch nicht die Mühe — klagen die Apolo-
geten — , festzustellen, was das Christentum sei (Tertull., Apol. 1 fl'.), ja auch
ein heidnischer Denker werde bereits verdächtig, wenn er Lehren bringe,
die mit den christlichen übereinstimmen; s. Tertull., de testim. 1: „Ne suis
quidem magistris alias probatissimis atque lectissimis fidem inclinavit humana
de incredulitate duritia, sicubi in argumenta Christianae defensionis inipin-
gunt. tunc vani poetae . . . tunc philosophi duri, cum veritates fores i^ulsant.
hactenus sapiens et prudens habebitur qui prope Christianum pronuntiaverit,
cum, si quid prudentiae aut sapientiae afi'ectaverit seu caeremonias despuens
seu saeculum revincens pro Christiane denotetur.*^ Chi'istliche Schriften
werden nicht gelesen: „Tanto abest ut nostris litteris annuant homines, ad
quas nemo venit nisi iam Christianus'- (1. c).
*) Christus selbst galt als Magier; Zeugnisse dafür von Justin bis Com-
modian.
410 Die ^Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
anbeten, erzählte man sich (Tertull., Apol. 1 6 und die Parallelen bei
Minucius)^ Daß sie Zauberer seien, Wind und Wetter machten,
Pest, Hungersnot und Erdbeben herbeiführten, die Opfer beein-
flußten, glaubte man zu wissen^. „Christianos ad leonem" — war
der Ruf des Pöbels^. Und wo man vorsichtiger und milder war,
da war die Sache doch auch entschieden: Hochmut und Wahnsinn
ist es, die Religion der Väter zu verlassen *. Gegenschriften gegen
die Christen waren im 2. und auch im 3. Jahrhundert selten: an
Streitunterredungen mag es nicht gefehlt haben. Der Philosoph
Crescens, ein Zyniker, griff den Justin öffentlich an, scheint aber
nur die Yolksvorwürfe wiederholt zu haben. Frontos Angriff hat
sich fast ausschließlich auf demselben Niveau bewegt, wenn es
richtig ist, daß der Heide Cäcilius bei Minucius Felix von ihm
einen Teil seiner Argumente geborgt hat. Lucian hat mit der
Christenfrage nm- gespielt, ein unbekümmerter, aber scharfblicken-
der Journalist. Mit grimmer Verachtung hat der Redner Aristides
über die Christen geschrieben^. Hieroclcs' Schrift, die unterge-
') Der Ursprung dieser Verleumdungen ist leicht ersichtlich. Der Esels-
kopf stammt, wie schon Tertullian wußte, aus Tacitus" Historien und bezog
sich ursjirünglich auf die Juden; Honnenanbeter — weil sie sich beim Gebet
nach Osten wandten. Der letzte Vorwurf stammt wohl aus den Gebärden
bei der Exhomologese.
'•*) Öfters werden auch die leeren und schreckhaften Einbildungen betont,
welche die Christen verbreiten; Minuc. c. 5. Origenes, Comment. ser. in
Matth. 39 t. 4, p. 270 (Lomm.): „scimus et apud nos terrae motum factum
in locis quibusdam et factas fuisse i^uasdam ruinas. ita ut, qui eraut impii
extra fidem, causam terrae motus dicerent Cihristianos, propter cfuod et per-
secutiones passae sunt eeclesiae et incensae sunt; non solum autem illi, sed
et qui videbantur prudentes, talia in publico dicerent quia propter Christianos
iiunt gravissimi terrae motus." Ähnliches öfter bei Tertullian. Furcht vor
Beeinflussung der Opfer hat beim Beginn der diocletianischeu Verfolgung
feine Rolle ge.spielt.
^) Nicht weniger als viermal kommt Tertullian auf diesen Schreckens-
ruf, s. Apol. 40; De spectac. 27: De exhort. 12; De resurr. 23.
*) S. Clemens Alex., Protrept. 10, 89: uW ex jrariQon', (/azs, .-raQaSEÖo/jJ,rov
■i'lfiXv edog uvuTOf-.Tsiv ovh evXoyov. Der Verfasser der pseudojustinischen Cohor-
tatio ad Graecos geht besonders ausführlich auf dieses Argument ein (s. c. 1.
14. 35. 36).
^) Orat. 46. Aristides verteidigt „die griechische Nationalität gegen
den christlich -philosophischen Kosmopolitisnius". Die Christen — ein Mann
wie Tatian mu(5 ihn gereizt haben — sind ihm Verächter des griechischen
Wesens (s. Bernays, Ges. Abhandl. II S. 364). Neumann (Der röm. Staat
und die allg. Kirche S. 36) gibt den Angriff des Aristides also wieder (nach
Lightfoot, Ignatius I p. 517, sollen hier aber die Zyniker gemeint sein):
.Leute, die einfach gar nichts wert sind, wagen es, einen Deniosthenes zu
lästern, während man in jedem ihrer Worte mindestens einen Solözismus findet.
Selbst verächtlich, verachten sie andere, rühmen sich der Tugend und üben
•sie nicht, predigen Enthaltsamkeit und sind lüstern. Berauben nennen sie
Gegenwirkungen. 41[
gangen ist, war nach dem Zeugnis des Eusebius sehr unbedeutend.
Es bleiben nur Celsus und Porphyrius, also nur zwei Streiter^,
aber sie ersetzen eine ganze Armee.
Beide sind sich ähnlich in dem Ernst, mit welchem sie die
Aufgabe angefaßt, und in dem Fleißc, den sie aufgewendet haben,
ähnlich auch in den hohen Anlagen und in der schriftstellerischen
Kunst. In Ansehung der Religion aber sind sie sehr verschieden:
Das letzte Interesse des Celsus ^ ist der römische Staat; er ist ein
religiöser Mann, weil der Staat die Religion braucht, und weil ein
gebildeter Mann auch für die Religion einti-itt. Seine eigene Welt-
anschammg ist schwer festzustellen; sie schillert in vielen Farben,
aber nicht in denen Ciceros oder Senecas; er ist vor allem
Agnostiker ^, und darum schätzt er das relative Recht des Idealismus
ohne stoische Versteifung und auch das relative Recht jeder
Gemeinschaft üben, Mißgunst lieißt bei ihnen Philosophie, und die Armut
Verachtung der Güter. Dabei erniedrigen sie sich in ihrer Habsucht. Unver-
schämtheit heißen sie Freiheit, feindseliges Gerede Freimut, das Empfangen
von Gaben Humanität. Wie die gottlosen Leute in Palästina vereinigen sie
Kriecherei und Dreistigkeit. Sie haben sich in bestimmter Richtung von
den Hellenen oder vielmehr von allem Guten losgesagt. Unfähig, zu irgend-
einem nützlichen Zweck mitzuwirken, verstehen sie es meisterlich, ein Haus
zu unterwühlen und die Hausgenossen auseinander zu bringen. Kein Wort,
kein Gedanke, keine Tat von ihnen hat Frucht getragen. Sie nehmen nicht
teil an der Veranstaltung von Festen, und sie ehren die Götter nicht. Sie
sitzen nicht im Rate der Städte, sie trösten nicht die Traurigen, versöhnen
nicht die Streitenden, sie fördern weder die Jugend noch jemand anders, sie
achten nicht auf die Form der Rede ; aber sie verkriechen sich in die Winkel
und reden unklug. Sie wagen sich schon an die Besten unter den Hellenen,
und sie nennen sich — Philosophen, als ob eine Änderung des Namens für
sich allein etwas bedeutete und einen Thersites zu einem Hyacinthus oder
Narcissus macheu könnte."
') Lactantius will wissen (Inst. V, 4), daß z. Z. Diocletiaus „plurimi et
multi" lateinisch und griechisch gegen die Christen geschrieben haben ; aber
er führt selbst außer Hierocles nur einen Anonymus an. In einigen Fällen
hat ein einzelner, den Christen feindlich gesinnter Literat eine lokale Ver-
folgung heraufbeschworen. Das ist z; B. in bezug aiif den Zyniker Crescens
in Rom wahrscheinlich. In Alexandrien brach schon vor dem Edikt des
Decius eine Verfolgung aus. Dionysius A^lex. schreibt (bei Euseb., h. e.
VI, 41, 1): Oi'x «jrö tov ßaoiliy.ov TiQOOTäyfiajog 6 8uoy/(dg jrag' f]fiTv tJQ^aro,
äXka yuQ olov eviavxov nqovXaße, xal rf&äoag 6 xaxCiv Ttj jiöXsi ravztj fidvTig xat
Jioitjrrjc, SoT.tg ixeivog ^J', ixivijoe xai jiaQioofirjaE y.a&' '/;//wv t« Jtlrjdri röiv E&vm',
stg Tijv ETir/coQiov avxovg Setoidaifwviai' dvufjgiJiioac.
-) Über seine Person und Lebensumstände gibt es nur Mutmaßungen.
Er war ein Vertreter der uns sonst so wenig bekannten ehrenhaften, er-
leuchteten und patriotischen römischen Bureaukratie.
3) Etwa dieselbe Haltung nimmt auch der Heide Cäcilius bei Minucius
Felix c. 5f. ein — ein Skeptiker, der die Religion gelten läßt, aber gegen
eine allgemeine Vorsehung starke Zweifel hegt. „Bei dieser Unsicherheit
der Dinere ist es das Beste und Würdigste, die Lehre der Vorfahren aufzu-
412 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
nationalen Religion, ja selbst den Mythus. Porphyrius^ ist ein
strenger Denker, ein eminenter Kritiker und nicht nur platonischer
Religionsphilosoph, sondern eine im tiefsten religiöse Natur, für
die alles Denken der Gotteserkenntnis zustrebt und in ihr seinen
Abschluß findet.
Celsus hat an der christlichen Religion — das ist der erste
Eindruck — nichts Gutes gelassen; er gibt den Standpunkt der
Gegner im 2. Jahrhundert wieder; doch gerecht und vornehm
genug ist er, um nicht die abscheulichen Vorwürfe zu wiederholen.
Das Christentum, dieser Bastard der inferiorsten nationalen Religion,
der jüdischen ''^, ist von seinem Ursprung her bis jetzt eine absurde,
jämmerliche Tragödie. Celsus kennt die Unterschiede innerhalb
der Christen sehr wohl und kennt die Entwicklungsstadien der
Geschichte dieser Religion — er braucht sie geschickt, um die
Eindrücke der Haltlosigkeit zu vermehren; er spielt die Sekten
gegen die große Kirche aus, die frühere Zeit gegen die spätere,
C hristus gegen die Apostel, die Bibelrezensionen gegen die Glaub-
würdigkeit der Texte — , aber schon von Anfang war eigentlich
alles so schlimm wie es jetzt ist. Auch Christus selbst wird nicht
verschont; das Gute, was sich in seinen Reden findet, ist von den
Philosophen geborgt: das Übrige, das, was ihm eigentümlich ist,
ist Irrtum und Betrug, nichtswürdiger Mythus. Die Apostel, be-
trogene Betrüger, haben das noch gesteigert; auf dem Zeugnis
eines verrückten Weibes beruht der Glaube an die Auferstehung.
Dann ist der Unsinn bis heute immer mehr gewachsen; er hat
sich behauptet — die einmal hingeworfene Behauptung, er würde
demnächst ganz ausgerottet sein, wird im Buche selbst wieder
zurückgenommen. Das Christentum ist anthropomorphistischer
Mythus der schlimmsten Sorte, der christliche Vorsehungsglaube
eine Unverschämtheit gegenüber der Gottheit — ein Chor von
Fröschen sitzt im Sumpfe und quakt: „Um unsretwillen ist die
Welt geschaff'en."
Aber andererseits — nicht nur bringt die Kritik im einzelnen
beherzigenswerte Wahrheiten, sondern wo der Kritiker sich auf
nelnnen, die überlieferten religiösen Bräuche zu ehren, die Götter, die man
von den Eltern her vor allem fürchten und nicht zuerst erkennen gelernt
hat, in Dernut anzubeten." Kap. 7 lautet dann sehr fromm.
') (Jeboren zu Tyrus; sein ursijrünglicher Name war Malchus; er war
also ein Semit (Malchus hieß auch ein Christ in der Umgegend von Cäsarea
Pal. z. Z. Valerian.s, s. Euseb., h. e. VII, 12).
'-) Das Judentum aber läßt Celsus, weil es nationale Religion ist, ebenso
gelten wie später Porphyrius und Julian. Jener sagt bei Gelegenheit eines
Apollo -Orakels gegen die Christen: „In his quidem inremediabile .sententiae
Christianorum manifestavit Apollo, quoniam ludaei suscipiunt deum magis
quam isti" (bei Augustin, de civit. dei XIX, 23).
Gegenwirkungeu. 413
die Religion besinnt, da zieht sich eine Unterströmung durch sein
Buch, die zu der grimmigen Verurteihmg gar nicht paßt. Celsus
schließt die Augen und scheint nicht sehen zu wollen, daß das
Christentum eine vernünftige Behandlung zuläßt und auch schon
gefunden hat; aber er kann doch um diese Tatsache nicht herum-
kommen; für den tiefer Blickenden will er sie, wenn nicht alles
trügt, gar nicht verdecken. Sein Agnostizismus leitet ihn, wenn
denn doch Religion sein soll und muß, zu einer Konzession an,
die von dem christlichen Gottesbegriff nicht weit entfernt ist; die
Ethik Jesu kann er zu einem großen Teile nicht mißbilligen —
der Vorwurf des Diebstahls ist aus der Verlegenheit geboren —
und wenn die Christen behaupten, der Logos sei der Sohn Gottes,
so muß er sein Einverständnis mit diesem Satz aussprechen. End-
lich, die ganze Schrift läuft in einen warmen, aus der Sorge um
das Vaterland stammenden Appell an die Christen aus, sich der
allgemeinen Ordnung nicht zu entziehen, sondern zu helfen, daß
der Kaiser das Reich mit seinen idealen Gütern in Kraft erhalten
könnet Es gilt der Rettung von Gesetz und Frömmigkeit gegen
die äußeren und inneren Feinde! Deutlich genug ist zwischen
den Zeilen zu lesen: maßt euch keine besondere Stellung an,
stellt euch nicht neben das Reich, dann wollen wir euch und eure
Religion erti-agen. Celsus' „Wahres Wort" ist im letzten Grunde
eine politische Schrift und ein kaum versteckter Friedensvorschlag ^.
Hundert Jahre später, als Porphyrius gegen die Christen
schrieb, hatte sich vieles geändert. Das Christentum war eine
Macht geworden und hatte sich hellenisch ausgestaltet, aber freilich,
„die fremden Mythen" hatte es behalten, und bewahrt hatte es,
wenigstens bei den meisten, seine scharfe Trennmig von Schöpfer
und Geschöpf, Gott und Natur, seine Lehre von der Mensch-
werdung Gottes und seine paradoxe Behauptimg des Weltunter-
gangs und der Auferstehung. Hier setzte der große Philosoph
des Zeitalters, Porphyrius, der Schüler Plotins und Longins, ein.
Jahrelang hatte er in Rom mit Kirchenlehrern und Gnostikern
eifrig getritten, mit dem vollen Bewußtsein, daß es sich um die
Sache der Gottheit und des Höchsten, was der Menschheit ge-
schenkt ist, der vernünftigen religiösen W^ahrheit handle. Politische
Ideale kennt er nicht; das Reich begeisterte wenige mehr; der
Restaurator war noch nicht gekommen, und die Religionsphilosophie
^) In manchen Christenprozessen sprechen die Richter die Sorge aus,
daß die Christen durch ihre Exklusivität die Anarchie heraufbeschwören; s.
z.B. die Acta Fructuosi Tarrac. c. 2: „Qui audiuntur, qui timentur, qui
adorantur, si dii non coluntur nee imperatorum vultus adorantur?-
^) Auch Cäcilius ist letztlich Politiker und Patriot, indem er die alte
Religion verteidigt: ,Rom hat dadurch die Welt gewonnen" (Minuc. c. 6).
414 Die Missionare: Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
lebte in einem Staat, den sie erst bauen wollte. Porphyrius zog
sich nach Sicilien zurück. Dort hat er seine 15 Bücher „Gegen
die Christen" geschrieben. Das von vier hervorragenden Kirchen-
lehrern „widerlegte'' Werk^ ist infolge des Sieges der Kirche und
auf Befehl des Kaisers mitsamt seinen Gegenschriften unter-
gegangen; nur Fragmente sind uns erhalten, die meisten und wich-
tigsten bei Macarius Magnes; denn daß der heidnische Philosoph
in dessen „Apocriticus" Porphyrius ist, ist mir nicht zweifelhaft^.
Das AYerk ist vielleicht die reichste und gründlichste Schrift,
die jemals gegen das Christentum geschrieben worden ist; sie hat
ihrem Verfasser die Titel „ndvTOJv dvojaevEorajog xal noXe/uicßrarog''^ ,
,.hostis dei, veritatis inimicus, sceleratarum artium magister" usw.
eingetragen '^ Aber man sagt, obgleich wir nur auf Grund von
Fragmenten urteilen können, nicht zu viel, wenn man behauptet:
Dort, wohin Porphyrius den Streit zwischen religionsphilosophischer
Wissenschaft und Christentum versetzt hat, liegt er noch heute:
auch heute noch ist Porphyrius nicht widerlegt, und er ist über-
haupt nur zu widerlegen, wenn man ihm zunächst Recht gibt und
demgemäß das Christentum auf seinen Kern zurückführt. In dem
meisten, was er grundsätzlich behauptet, hat er Recht, und in
seiner Kritik an dem, was sich als christliche Lehre im 3. Jahr-
hundert darstellte, hat er gewiß soviel Recht wie Unrecht. Im
einzelnen zeigt er viel Unverständnis und vergißt Maßstäbe, die
ihm sonst zu Gebote stehen.
Sein Werk ist deshalb ein so tüchtiges geworden, weil es auf
gründlichsten Bibelstudien beruhte und weil es vom Standpunkt
der Religion entworfen war. Es kam dazu, daß der Verfasser
nicht imponieren, nicht überreden oder überrumpeln wollte, sondern
ernsthaft und pünktlich widerlegen. Mit saurem Schweiß hat er
gearbeitet, ein Idealist, der überzeugt ist, daß, was widerlegt ist,
auch untei'gehen wird. Demgemäß hat er sich auf die für ihn
entscheidonden Punkte beschränkt; es sind folgende vier: Zunächst,
er wollte die cliristlichen Mythen zerstih-cn, d. h. nachweisen, daß
sie, sofern si(; aus den beiden T(^sta,menten geschöpft sind, geschicht-
lich unhaltbar sind: denn diese (Quellen sind trübe und voll von
Widersprüchen. Weder verwarf er die Bibel in Pauscli und Bogen
^) Von Metliodius, Eusebius, Apollinarius und Philostorgius.
'^) Offen zu lassen ist höchstens, daß ein Plagiat an Porphyrius l)e-
gangen ist.
^) Doch Augustin hat ihn ,,philosophus nobilis, magnus gentilium philo-
sophus, doctissinius philosophorum, quamvis Christianorum acerriraus inimicus''
genannt (De civitate dei XIX, 22). Man vgl. damit die Prädikate, welche
Hieronymus spendet: „stultus, impius, blasphemus, vesanus, impudens, syco-
phantes, calunmiator ecclesiae, rabidus adversus Christum canis".
Gegenwirkungen. 415
als Lügeiibuch — im (ret^cnteil, vieles in ihr schätzte er als wahr
und göttlich — , noch identifizierte er den Christus der Evangelien
mit dem geschichtlichen Christus ^ Für diesen hatte er vielmehr
eine bis an das Religiöse heranstreifende Hochschätzung: aber mit
unerbittlicher Kritik wies er nach, daß hundert Züge in den Evan-
gelien, wenn man sie als historische gelten lasse, unmöglich echt
sein können, und daß sie das Bild Christi verzerren und falschen.
Ebenso verfuhr er mit dem großen Stoff, den die Kirclie als
„Weissagung auf Christus^' aus dem Alten Testamente zusammen-
getragen hatte. Das Interessanteste aber ist unstreitig seine Kritik
des Paulus. Wenn man noch zweifeln wollte, daß der Apostel
im letzten Grunde nicht den hellenistischen Christen, sondern den
jüdischen zuzurechnen ist — hier kann man überführt werden.
Porphyrius, dieser Hellenist erster Ordnung, empfindet gegen
niemanden eine so starke Antipathie wie gegen Paulus. Seine
Dialektik ist ihm völlig verschlossen und erscheint ihm daher
sophistisch und lügenhaft: seine Beweise lösen sich für ihn in
lauter Widersprüche auf, in seinen Selbstzeugnissen erkennt er
nur einen haltlosen, barbarischen und unaufrichtigen Rhetor, den
Feind aller edlen und freien Bildung. Erst aus den Widerlegungen
des Porphyrius lernt man. was die Eigenart des Paulus hoch-
gebildeten Hellenen zu tragen gegeben hat. Im einzelnen weist
er ihm vieles Anstößige nach — der Anstoß hebt sich freilich
fast immer, wenn man einen anderen Gesichtswinkel der Beurtei-
lung wählt, aber Porphyrius hat ihn nicht gefunden-.
1) Als einen „Feind" des Christentums kann man ihn daher nur bedingt
bezeichnen. Sehr richtig Wendland, Christentum und Hellenismus (1902)
S. 12: „Die von den Theologen nicht beachteten, schönen Ausführungen des
Porphyrius im 3. Buch UfoI rrjg ex loyicov (pilcooffiag (S. 180 ff. Wolff) be-
weisen, wie man auch auf neuplatonischer Seite Verständigung und Ver-
söhnung suchte." „Praeter opinionem", sagt Porphyrius (s. August., de civ.
dei XIX, 23), „profecto quibusdam videatur esse quod dicturi sumus. Christum
euim dii piissimum pronuntiaverunt et inmortalem factum et cum bona prae-
dicatione eins meminerunt, Christianos vero pollutos et contaminatos et errore
implicatos esse dicunt." Von Numenius, dem i^ythagoreischen Philosophen,
berichtet Origenes (e. Geis. I, 15. IV, 51), daß er die jüdischen h. Schriften
mit hoher Achtung zitiert (Clemens Alex., Strom. I, 22, 150. legt ihm sogar
das Wort bei: r«' yäo ion Tllaron' t} Mowafjg aTTixlCcor, s. auch Hesyeh. Miles.
bei Müller, Fragm. bist. gr. IV p. 171; Suidas sub „Novia'jviog" ; vorsichtiger
Euseb., Praep. XI. 9, 8— 18. 25) und allegorisch erklärt habe. Der Platoniker
Amelius, ein Zeitgenosse des Origenes, hat das Johannes -Evangelium mit
Achtung zitiert (Euseb., Praep. XL 19, 1\ cf. Augustin, de civit. dei X, 29:
. Initium evangelii secundum Johannem quidam Platonicus aureis litteris cou-
scribendum et per omnes ecclesias in locis eminentissimis proponendum esse
dicebat."
-) Der Ajjostel Paulus fing an, auch die Heiden zu beschäftigen. Das
tritt z. B. bei dem ägyptischen Statthalter Culcianus in seinen Verhören (bald
410 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Die negative Kritik am historischen Charakter der christ-
lichen Religion ist aber für Porphyrius nur die Voraussetzung, um
die Kritik an jenen drei Lehren des Christentums zu vollziehen,
die ihm als die starken Irrtümer gelten. Es ist erstlich die christ-
liche Schöpfungslehre, welche die Welt von Gott trennt, ihren
zeitlichen Ursprung behauptet und keine ehrfürchtige religiöse
Beti-achtung des Weltganzen zuläßt. Indem er diese verwirft, ver-
wirft er auch die Lehre vom Weltuntergang als unvernünftig und
irreligiös zugleich; denn das gehört stets zusammen. Sodann richtet
er sich gegen die Lehre von der Menschwerdung — die Christen
trennen Gott und Welt falsch (durch die Lehre von der zeitlichen
Schöpfung) imd verbinden sie falsch (durch die Lehre von der
Menschwerdung). Endlich gilt seine Bek.ämpfung der christlichen
Auferstehungslehre.
An diesen Punkten ist Porphyrius unerbittlich und kämpft
gegen das Christentum als gegen den schlimmsten Feind; aber
in allen übrigen ist er mit der christlichen Religions-
philosophie einig gewesen, und er war sich dieser Einig-
keit bewußt. Die christliche Religionsphilosophie aber war zu
seiner Zeit an jenen Punkten nicht mehr ganz unerbittlich: sie
machte große Anstrengungen, teils ihre Positionen abzuschwächen,
zugunsten der neuplatonischeu, teils sie als die wissenschaftlichen
(also als die echt hellenischen) zu erweisen.
Wie nahe haben sich doch bereits die Gegner gestanden^!
Porphyrius scheint sogar gegen Ende seines Lebens das, w^as ihn
mit der christlichen Spekulation verband, stärker in den Yorder-
nach 303) hervor. In dieser Hinsicht stützen sich die beiden sonst ganz
unabhängigen, von ihm abgehaltenen Verhöre , die des Phileas und die des
Dioscorus (s. Quentin, Passio S. Dioscuri, i. d. Anal. Boll. T. 25, 1905,
p. 321 ff.) gegenseitig. In der letzteren fragt Culcianus: „Paulus deus fuit?"
In der ersteren fragt er: „Paulus non immolavit?" Ferner: , Paulus nou
erat persecutor?" „Paulus non erat idiota? Nonne Syrus erat? Nonne
Syriace disputabat?" [Hierauf antwortet Phileas: „Hebraeus erat, et Graece
disputabat, et summam prae oninibus sapientiara habebat".] Endlich:
, Fortasse dicturus es, quod et Platonem praecellebat?" In anderen Ver-
hören kenne ich dergleichen nicht und muß mit Quentin annehmen, daß
dieser Zug authentisch ist. Damals — im Anfang der diocletiauischen Ver-
folgung — handelte es sich ja um die Auslieferung der h. Schriften. Daß
man sie überhaupt forderte, zeigt, daß der Staat ihre Bedeutung erkannt
hatte, und dies setzt wiederum eine gewisse Kenntnis derselben voraus bez.
i'ührte zu ihr.
*) Das erkennt man besonders deutlich aus den ins Lateinische über-
setzten neuplatonischen Büchern, die dem Augustin (Confess. VII, 9) in die
Hände fielen, und denen er soviel verdankt (was er selbst freilich z. T. ver-
schleiert hat). Ausdrücklich sagt er, daß die Gedanken des Johannes-
Evangeliums c. 1, 1 — 5. 9. 10. 13. 16, ferner Philipp. 2, 6 auch in jenen
Büchern gestanden hätten.
Gegenwirkungen. 4jy
grund geschoben zu habend Sem Brief an seine Gemahlin
Marcella könnte fast von einem Christen geschrieben sein 2.
In dem Werk des Porphyrius hat der Hellenismus sein Testa-
ment in bezug auf das Christentum geschrieben — Julians Streit-
schrift ist ein großer Rückschritt — ; die Kirche hat das Testament
untergehen lassen, doch erst, nachdem sie es viermal widerlegt
hatte. Es ist ein unersetzlicher Verlust, daß uns die Gegenschriften
fehlen, obgleich es schwerlich ein Yerlust für ihre Verfasser
sein wird.
Über die Wirkung des Werkes besitzen wir keine Kunde,
abgesehen von der, die sich im Entsetzen der Kirchenväter aus-
spricht. Indessen hätte auch ein noch tüchtigeres literarisches
Werk schwerlich einen Erfolg haben können. Die Religion der
Kirche war schon eine Weltreligion geworden, als Porphyrius
schrieb: solche Welti'eligionen vermag kein Professor mit Erfolg
zu bekämpfen, es sei denn, daß er neben der Feder auch das
Schwert des Reformators führt.
Den Verkehr von Christen und Heiden im Leben des Tages
darf man schon zur Zeit Tertullians nicht nach den Episoden der
Verfolgungen beurteilen. Man braucht es nicht erst zwischen den
Zeilen seiner asketischen Schriften zu lesen — er deutet es an
zahlreichen Stellen, freilich widerwillig, klar genug an, daß in der
Regel alles friedlich zuging: man lebt zusammen, kauft und ver-
kauft, ladet sich ein, auch Mischehen finden statt. In späterer
Zeit vollends war gewiß der Christ von dem Nichtchristen im
Leben des Tages nicht leicht zu unterscheiden. Zahlreiche Christen
gehörten auch zur „Gesellschaft" (s. Buch 4. Kap. 2), und die
Zahl derer wurde immer geringer, die an ihrem Glauben Anstoß
nahmen. Julius Africanus w^ar der Freund des Alexander Severus
und des Abgar: Hippolyt korrespondierte mit der Kaiserin:
*) Das magisch-theurgische Element, welchem Porpln^rius neben seiner
hellen Wissenschaft gehuldigt hat, hat er wahrscheinlich in seiner Polemik
gegen die Christen zurücktreten lassen. Seine christlichen Gegner haben es
wohl bemerkt. Lag doch hier ein Punkt, wo sie, sofern sie nicht schon in
den Reliquien- und Knochenkult versenkt waren, die Aufgeklärteren gewesen
sind. Fein ist die Charakteristik, die Augustin (de civit. dei X, 9) von Por-
phyrius gibt: „Nam et Porphyrius c_[uandam quasi purgationem animae per
theurgian , cunctauter tarnen et pudibunda quodam modo disputatione , pro-
mittit, reversionem vero ad deurn haue artem praestare cuiquam negat, ut
videas eum inter vitium sacrilegae curiositatis et philosophiae professionem
sententiis alteruantibus fluctuare."
-) Das. was uns christlich in dem Brief anmutet, stammt aus der heid-
nischen Grundlage der in christlicher Bearbeitung uns erhaltenen Sextus-
sprüche, s. meine Chronologie II, 2 S. 190 ft'.
Harnack, Mission. 2. Aufl. «'
418 Die Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
Origenes stand in der Gelehrtenrepublik und genoß hohes An-
sehen; Paul von Samosata, der Bischof, war in Antiochien eine
stadtbekannte, einflußreiche Persönlichkeit; von Cyprian erzählt
sein Biograph (c. 14). daß die vornehmsten Carthaginienser — sie
scheinen nicht Christen gewesen zu sein — seine Freunde waren
und ihm die Treue bewahrten, auch als er im Gefängnis lag
(„conveniebant Interim plurcs egregii et clarissimi ordinis et san-
guinis, sed et saeculi nobilitate generosi, qui propter amicitiam
eius antiquam secessum subinde suaderent et, ne })arum esset nuda
suadela, etiam loca in quae secederet offerebant"); Arnobius,
Ijactantius und manche andere waren Philosophen mid angesehene
Lehrer. Indessen das alles kann die Tatsache nicht verdecken,
daß das Christentum auch noch am Anfang des 4. Jahrhunderts
die antike Wissenschaft, soviel von ihr noch existierte, gegen
sich hatte. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und der
eine Origenes mit seinem Anhange vermochte die Situation im
wesentlichen nicht zu ändern. Sein Christentum wurde ihm als
Idiosynkrasie nachgesehen: nur einem kleinen Teil der Gelehrten
vermochte er es zu empfehlen: man lernte bei ihm Kritik, Gram-
matik, Philosophie und sah über seine Religion hinweg. Auch
bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts wurde das noch nicht anders.
Die Wissenschaft blieb „heidnisch". Erst die großen cappadocischen
Theologen und in beschränkterem Maße die antiochenisclien (ob-
gleich sie, nach modernem Maße gemessen, wissenschaftlicher
waren als Jene), sodann Augustin haben hier Wandel geschafft,
indessen doch nur in bescheidenen Grenzen. Die antike Wissen-
schaft hat im Grunde niemals mit dem Christentum im Orient
paktiert — so empfand man es auch noch am Anfange des 5. Jahr-
hunderts in der Kirche — , sondern sie ist zu schwach gewesen,
um sich neben der privilegierten Kirche behaupten zu können, und
ist deshalb allmählich untergegangen. In den Besitz eines nicht
unbedeutenden Teils der Wissenschaft hatte sich das Christentum
allerdings gesetzt, als diese selbst starb.
Schlußbetrachtung. 419
S c h ] u ß b (i t r a c li t u ii g.
Hergcnrö th er (Handbuch der allgem. Kirchengesch. I
S. 109 if.) hat mit sorgfältiger Überlegung erst zwanzig Ursachen
für die Verbreitiuig des Christentums zusammengestellt und dann
ebensoviele Ursachen, die hemmend wirken mußten. Die Über-
sicht ist nicht wertlos, aber doch nicht aufklärend. Umfaßte die
christliche Missionspredigt in Wort und Tat das alles, was wir
im zweiten Buch darzulegen versucht haben, und wurde sie von
den Momenten begleitet, die wir im dritten Buch kennen gelernt
haben, so ist es nicht wohl möglich, die Ursachen sämtlich nam-
haft zu machen, welche die Verbreitung gefördert (oder gehemmt)
haben. Noch w^eniger kann man daran denken, sie abzustufen
und das Maß der Bedeutung der einzelnen zu bestimmen. Endlich
ist nicht nur an die Verschiedenheit der Anlagen, Bedürfnisse und
der Bildmig der Menschen zu erinnern, sondern auch an die Ent-
wicklmig, welche die christliche Missionspredigt selbst in ihren
Anfängen bis zum Ende des 3. Jahrhunderts erlebt hat.
Aus dei- letztgenamiten Erwägung, schärfer durchdacht, ergibt
sich aber, daß die Frage falsch gestellt ist und eine eindeutige
Antwort überhaupt nicht zuläßt. Am Anfang missionieren Paulus
und einige namenlose Apostel; sie predigen den einen Crott und
das nahe Gericht und bringen die Kunde von dem jüngst ge-
kreuzigten Jesus Christus, welcher der Sohn Gottes, der Richter
und Erlöser zugleich ist. Fast alles erscheint paradox und er-
schütternd. Am Ende der Epoche missioniert wahrscheinlich
kaum" einer mehr berufsmäßig — ausdrücklich sagt Origenes^,
daß die Lehrer [Missionare] abgenommen haben — , aber eine
mächtige Kirche mit einem eindrucksvollen Kultus, mit Priestern
mid Sakramenten ist vorhanden, und sie umschließt eine Glaubens-
lehre imd Religionsphilosophie, die mit jeder anderen siegreich
zu rivalisieren vermag. Diese Kirche wirkt durch ihr bloßes
Dasein missionierend, weil sie als der zusammenfassende
Abschluß der bisherigen Religionsgeschichte auf allen
Linien erscheint. In diese Kirche gehörte die Mensch-
heit am Mittelmeerbecken um das Jahr 300 einfach
hinein, sofern ihr Religion, Sittliches und höhere Er-
kenntnis überhaupt Werte waren. Das Paradoxe vmd Er-
schütternde, das noch immer vorhanden war, war umspannt von
einem breiten Rahmen des Bekannten, Gewünschten, „Natürlichen"
^) De princip. IV, 1.
420 I^ie Missionare; Modalitäten und Gegenwirkungen der Mission.
und war in eine Form von Mysterien gekleidet, in der man alles
Außorürdentliche gern aufnahui oder doch ertrugt.
Die Frage darf also — wenigstens in erster Linie — nicht
so gestellt worden: ,,Wie hat das Christentum so viele Griechen
und Römer gewonnen, daß es zuletzt die auch numerisch stärkste
Religion geworden ist?", sondern so muß die Frage lauten: „Wie
hat sich das Christentum selbst so ausgestaltet, daß es die Welt-
religion werden mußte, die übrigen Religionen mehr und mehr
verdrängte und wie ein Magnet die Menschen an sich zog?" Diese
Frage wird auch durch die Dogmen- und Kultusgeschichte be-
antwortet, fällt also niclit allein in den Rahmen der Missionsge-
schichte. Wir haben sie überall berücksichtigt, aber in diesem
Werke nicht erschöpfen können.
Erst nachdem diese Frage beantwortet ist und man ein Ur-
teil darüber gewonnen hat, in welcher Gestalt das Christen-
tum um das Jahr 50, um das Jahr 100, um die Jahre 150. 200,
250 und 300 als missionierende Macht aufgetreten ist, kann man
daran denken, für jeden dieser sechs Zeitpunkte die weitere Frage
aufzuwerfen, welche Momente jedesmal die wichtigsten in bezug
auf die Propaganda gewesen sein mögen. Auch dann freilich wird
man die Verschiedenheit der Lage in Ost und West und in
manchen Gruppen von Provinzen nicht übersehen dürfen. Aber
selbst wenn man alle diese Voraussetzungen erfüllt hätte, wäre
man nicht sowohl auf bestimmte Quellenstellen angewiesen, um
die Frage zu lösen, sondern müßte ganz wesentlich mit allgemeinen
Erwägungen operieren. Sie anzustellen — die unvermeidlichen
Unsicherheiten sind nicht schwer durch rubrizierende Pedanterie
zu verhüllen — überlasse ich anderen. Die Ergebnisse werden
nur soweit zuverlässig sein, als sie auf Gemeinplätze hinauslaufen:
daß am Anfang das eigentlich religiöse Element stärker an der
Mission beteiligt war als später, daß von dem karitativen und
dem wirtschaftliclien Element etwas Ahnliches gilt, daß der Kampf
gegen den Polytheismus die einen angezogen, die anderen aber
abgestoßen hat. daß dasselbe von der strengeren Sittlichkeit zu
saii'en ist usw.
') Neben der Kirche selbst, wie sie geworden war, darf vielleicht ein
Mann genannt werden, der in bezug auf die Mission unter den Gebildeten
mehr geleistet hat als alle übrigen zusammen, schon bei seinen Lebzeiten
und vielleicht noch mehr nach seinem Tode — Origeues. Er war der
-Syzygos" der orientalischen Kirche des 3. Jahrhundorts. Wie er fortgewirkt
hat, das kann man noch — zwei Jahrhunderte später — aus der Kirchen-
geschichte des Socrates ablesen! Er hat die Religion der Kirche in dem
Hellenismus (für die Denkenden und Gel)ildeten) eingebürgert, soweit solch
eine Einbürgerung möglich war.
Schlußbetrachtuiiof. 421
Die christliche Religion ist von Anfang an mit einer Uni-
versalität auigetreton , kraft deren sie das ganze Leb e n in
allen seinen Funktionen mit seinen Höhen und Tiefen, seinen
Gefühlen, Gedanken und Taten mit Beschlag belegte. Sie sicherte
ihr den Sieg. Daß der Jesus, den sie verkündigte, der Logos sei,
das hat sie mit mid in dieser Universalität bekannt. An ihn hat sie
alles angeknüpft, was als Wert mu- irgend gedacht werden kann:
von ihm hat sie ferngehalten, was dem bloß Naturhaften ange-
hört. Von Anfang an umspannte sie die Menschheit, die Welt,
trotz der kleinen Zahl von Erwählten, die sie in Aussicht nahm.
Von hier aus empfangen auch die Attraktionen, mit denen sie
den ganzen Hellenismiis in sich hineingezogen und sich unter-
geordnet hat, eine neue Beleuchtung und erscheinen fast als
etwas Notwendiges. Sünde und Schmutz hielt sie fern; aber sonst
hat sie sich selbst mit allem ausgebaut, was des Lebens noch
irgend fähig war (vor allem mit einer mächtigen Organisation):
neben sich hat sie es zertreten, in sich hat sie es konserviert.
Sie konnte das, weil sie — was keiner aussprach und keiner
wußte, aber jeder wahrhaft Fromme in sich zum Ausdruck
brachte — , auf ihren Kern gesehen, etwas Einfaches war, was
sich mit den verschiedensten Koeffizienten verbinden konnte, ja
sie alle aufsuchte: Gott als der Vater, der Richter und Erlöser,
durch und an Christus kund geworden.
Und diese Religion hätte nicht siegen sollen? Neben anderen
konnte sie auf die Dauer nicht bestehen, und untergehen konnte
sie noch weniger. Also mußte sie siegen. Alle Motive, die zu
ihrer Verbreitung gewirkt haben, sind als einzelne kraftlos ge-
wesen gegenüber der Propaganda, die sie ausübte, indem sie
sich von Paulus zu Origenes selbst entwickelte und dabei doch
exklusiv blieb gegenüber allem Polytheismus und Götzendienst.
H am ack, Mission. 2. Aufl. 28
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