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Full text of "Die Mode: Menschen und Moden im neunzehnten Jahrhundert nach Bildern und Kupfern der Zeit"

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I 



DIE MODE 

MENSCHEN UND MODEN IM 
NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT 

NACH BILDERN UND KUPFERN DER ZEIT 

AUSGEWÄHLT VON DR. OSKAR FISCHEL 
TEXT VON MAX VON BOEHN 



1818 — 1842 



MÜNCHEN 

VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A,-G. 

190; 



flr/ - 



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I 



Published November 7, 1907, Privilege of Copyright in the 

United States reserved under the Act approved March 3, 1905 by 

VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A.G , xMÜNCHEN 






\ 



(Die Vereinigten Staaten von N.- Amerika machen den spärlichen, 
auf die Datier eines Jahres bemessenen Schutz gegen Nachdruck^ 
den sie geTvähren^ von dem wörtlichen Abdruck vorstehetider For- 
mel abhängig und zeigen damit, daß bei der gesetzgebenden Mehr- 
heit der Bewohner ihres Landes die Begriffe vom geistigen Eigentum 
anderer Völker noch nicht so entwickelt sind, wie bei uns. 

Die Verlagsanstalt.) 



Alle Rechte, besonders das für fremdsprachliche Ausgaben vorbehalten. 



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ALPUUNS liUUt'KMANN, MÜNCUKH. ( 



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MRS. L b: JONEd 

2-1 -Ö7 



Für eine kurze Spanne Zeit ist hier versucht, was 
für die gesamte Kostümg-eschichte geleistet werden 
sollte: die äußere Erscheinung einer Epoche im 
Spiegel ihrer Kunst zu geben, aufrichtig aber ohne 
die Schärfe oder Verzerrung, die bisher fast stets in 
Kostümgeschichten beliebt worden ist. 

Denn nicht die Kuriosa und Absonderlichkeiten 
in dem Bilde früherer Zeiten sollte man suchen, sondern 
das Typische, Normale und gesetzmäßig Entwickelte 
der Tracht. Diese Sammlung von chronologisch an- 
geordneten Illustrationen will im Verein mit dem Text 
ein Bild von Empfinden und Gehaben einer Epoche 
geben. Wer sich damit vertraut machen kann, wird 
auch für die unserem Gefühl widersprechenden For- 
men der älteren Moden nicht die besser wissende Kritik 
und den Spott erübrigen können, in denen lange Zeit 
das Interesse an diesem Teil der Kulturgeschichte 
sich erschöpft hat. 

So wurde hier versucht , neben der Mode die gei- 
stigeErscheinungderZeit anzudeuten und zugleich soviel 
wie anging von der Szenerie des Lebens in Wohnungen , 
Möbeln, Gärten zu zeigen, kurz die Kunst als Zeugin 
für das gesamte Leben anzurufen. Denn die Maler 
sind die unbefangensten und zuverlässigsten Schilderer. 



Noch ein Vorteil bot sich hier, der für die meisten 
früheren Epochen fehlt: wir wissen aus Modebildern, 
was für die Kleidung gewünscht und erstrebt wurde, 
nicht immer von einer Meisterhand wie Gavarnis auf- 
gezeichnet, aber wenn auch ungeschickt, so doch 
handwerkstechnisch aufs klarste ausgesprochen. Und 
zu diesem von der Schneiderphantasie entworfenen 
Idealbild geben uns die Maler das Korrektiv im Leben. 
Zeigen die Modebilder, wie nach dem Wunsche der 
Kleiderkünstler die Menschen aussehen sollten, so 
stellt die Kunst in ihren Bildern neben dies Ideal die 
Wirklichkeit. 

In dieser Parallele zwischen Erstrebtem und Er- 
reichtem, zwischen Wunsch und Erfüllung mag ein 
besonderer kulturgeschichtlicher Reiz liegen. Vielleicht 
ist er stark genug, manchen Leser in die Sammlungen 
zu locken und ihn an die allzuwenig erschlossenen 
Quellen zu führen, denen dies Buch seine Illustrationen 
verdankt. ^ t- 

Oskar Fischel 



Für das Abbildungsmaterial sind die Vorlagen besonders folgenden 
Sammlungen entnommen: 

dem Königl. Kupferstichkabinett Berlin, der Freiherrlich Lipper- 
heideschen Kosttimbibliothek Berlin, der Königl. National-Galerie 
Berlin, der Königl. Neuen Pinakothek München, dem Kgl. Kupfer- 
stichkabinett München, der Bibliotheque Nationale Paris, dem 
Cabinet des Estampes Paris, dem Museum Versailles, dem British 
Museum London, dem South Kensington Museum London. 
Auch an dieser Stelle sei dem Dank der Herausgeber und des Ver- 
legers für das überall gefundene Entgegenkommen, mit dem von staatlicher 
und privater Seite das Unternehmen unterstützt vsrurde, Ausdruck verliehen. 
Ganz besonderen Dank schulden die Herausgeber und die Verlags- 
anstalt der Lipperheideschen Kostümbibliothek und Herrn Dr. Doege für 
seine bereitwillige und verständnisvolle Förderung. 



MENSCHEN UND MODEN 

1818— 1842 



c Vtrnet, Das Grab Napolem 



Die Bourbons waren nach Frankreich, der Papst nach Rom, 
alle italienischen und deutschen Fürsten auf ihre Throne 
und Thrönchen zurückgekehrt, und sie waren mit Jubel 
empfangen worden, nicht nur vom Hurra-Pöbel. Die gewaltigen 
Erschütterungen, welche in den letzten 30 Jahren alte Staaten 
Europas getroffen hatten, waren wohl imstande gewesen, die 
Gesellschaft grün d stürzend zu ändern, aber die Unsicherheit aller 
Zustände, der beständige Wechsel der Regierungen und Einrich- 
tungen hatten eine stetige Entwicklung gehemmt und wenn sie 
auch Veraltetes, Vermorschtes und Verrottetes aus dem Wege 
räumten, so war doch noch nichts Dauerndes, nichts Bleibendes an 
die Stelle des Beseitigten getreten. Alle Klassen der Bevölkerung 
waren müde ; die Kriege, welche ohne Unterbrechung seit einem 
Menschenalter Europa verheerten, vernichteten den Wohlstand 
der Grundbesitzer, lähmten den Handel der Gewerbetreibenden 
und dezimierten die Bevölkerung, man wollte endhch Frieden, 
Ruhe, Ordnung. Den Frieden brachten die heimkehrenden 
Fürsten wohl, aber keine Ruhe. Sie entstammten der alten Zeit, 
die mit Feudalismus und Klassenstaat untergegangen war, und 
fanden eine Gesellschaft, groß geworden in den Ideen der Revo- 
lution, in Erwartung der neuen Zeit, welche die Ideale der 
Freiheit, der Menschenrechte, der Rechte des Volkes verwirk- 
hchen sollte. 




iSiq 



nal da Dan. 



1S20 



Aber die Ideen der Zeit waren den Machtiiabem ein Greuel, 
einer Menscliheit, die eben noch mitangesehen halte, daß die 
ältesten Throne, die verbrieftesten Rechte wie Spreu vor dem 
Sturm zerstoben waren, verkündeten sie das göttliche Recht der 



I sahen die Völker ein Gottesgna- 
nit größerem Rechte, als damals, 
Alles lag am Boden, aber der 
t den Trümmern des Alten auf- 
, als der, den die Regierten 
bauen gedachten. Die Diplomaten und Fürsten bemühten sich, 
das Alte wiederherzustellen, aber sie vergaßen, daß das Element, 
welches sie bei ihren Restaurierungs versuchen ignorierten, wel- 
chem sie bestenfalls nur eine sekundäre Rolle zuerkennen wollten, 
inzwischen das mächtigste geworden war; daß 



Legitimität und mit Erstaunt 
dentum wiederkehren, das ni 
nur von Volkeswillen existie 
Staat, den die Regierenden i 
führten, sah ganz anders a 



iSig youmal des Damcs iSiq 

gertum erstanden, dessen Stärke Bildung und Besitz waren, ein 
Bürgertum, das nicht zu besiegen war, weil es an sich selbst, 
an seine Mission glaubte. Und diese Mission war die Erbschaft 
der fran7,ösischen Revolution, war die Freiheit der Völker zur 
Tat werden zu lassen. Und unter Freiheit verstand man dazu- 
mal den Verfassungsstaat, verstand man die Konstitution, welche 
dem Herrscher gewisse Beschränkungen in der Ausübung seiner 
Rechte auferlegt, welche dem Volk eine Mitwirkung an Gesetz- 
gebung und Rechtsprechung gestattet. 

Jahrzehntelang haben die Gedanken und die Bestrebungen 
der Besten zweier Generationen diesem Ziel gegolten ; Schwärmer, 
die einem Phantom nachjagten, die den Schein für das Wesen 
hielten; jetzt wissen wir alle längst, daß auch eine Verfassung 
nur ein Stück Papier ist und daß die freisinnigste Verfassung 



iSig, April The Repcsiloty 

nicht gegen eine Verwaltung schützen kann, die mit Hilfe einer re- 
aklionären Bureaukratie, eines gefugigen Richterstandes und einer 
stets gehorsamen Polizei dem Staatsoberhaupt ein autokratisches 
Regiment gestattet. Anfangs waren die neuen Ideen jedenfalls 
noch so mächtig, daß die Fürsten den Wunsch der Völker nicht 
überhören konnten ; Ludwig XVIII. beschenkte die Franzosen 
mit der Charte und in Deutschland begann man, die alten land- 
ständischen Verfassungen hervorzu suchen, um sie den Bedürf- 
nissen der Zeit anzupassen. 

Aber Legitimität, Gottesgnaden tum und Volksrechte geben 
zusammen keinen guten Klang und die Kabinette, vor allem 
das Wiener, das von nun an ein Menschenalter hindurch unter 
Mettemichs Leitung ausschlaggebend für deutsche Verhältnisse 
sein sollte, ließen es sich angelegen sein, bald auch die beschei- 



i8if, Dexember 
The Repositery, Lettdon 



iSiij The Ripository 

denen Anfange, die mit der \ LnsirklKhun^ verfassungsmäßiger 
Zustände gemacht worden waren wieder zu beseitigen und zu 
den allen Verhältnissen vor 1789 zurückzukehren wenn auch 
nicht alle in der schroffen ^\ eise nie Kunig \iktor Emanuel 
von Sardinien, der, alles inzwischen Geschehene volhg igno 
rierend, sein Land auf 1770 zurückzuführen gedachte wieFcr 
dinand VII. von Spanien, zu dessen ersten Regierungshand 
lungen die Wiedereinführung der Inquisition gehörte oder gir 
wie der Kurfürst Wilhelm I. ^on Hes eu der den Wiederle 
ginn seiner Regierung an den Tif, knüpfen wollte di er 1806 
das Land hatte verlassen müssen Nicht mr führte er Puder 
und Zopf wieder ein, alle Steuern die inzwischen von der 
Kgl. westfälischen Regierung erhoben worden waren, wurden 
als nicht geleistet betrachtet und mußten nochmals gezahlt werden, 

— 5 - 



die Käufer der Domänen wurden ohne Entschädigung ihres 
Eigentums beraubt usw. 

Die Gewalt vermochte wohl, den Bürgern die Rechte vor- 
zuenthalten, auf deren Ausübung sie zählten, das Interesse an 
diesen Fragen aber, die Teilnahme an den innerpolitischen Vor- 
gämgen, konnte sie nicht unterdrücken, im Gegenteil, der starke 
D uck, der ausgeübt wurde, um die Keime liberaler Regungen 
zu ersticken, führte nur dazu, daß dieselben sich kräftiger ent- 
wickelten. Die Politik als Faktor des öffentlichen Interesses war 
nicht mehr auszuschalten, sie beherrschte alle Kreise und mischte 
ein unheilvolles Moment der Zwietracht in die Diskussion öffent- 
licher Angelegenheiten, die sofort zur Parteisache degradiert 
werden. In Frankreich wird nur dadurch der 1817 beginnende 
Prozeß Fualdes zu einer cause c^lebre, deren ursprüngliche Ver- 
anlassung, . ein ge- 
wöhnlicher Mord, 
völlig in den Hinter- 
grund gedrängt 
wird, wo Schuldige 
und Unschuldige, 
ßj ch ter un d Z euge n 
gleichmäßig kom- 
promittiert werden, 
bis das wenige Tat- 
sächliche- von den 
Wogen der entfes- 
selten Partei wut 
hin wegge seh w emmt 
I ist. Das Verbrechen 
Contrafattos an der 
fünfjährigen Hor- 
tense Leboii, eine 
Affäre, die nur den 
Strafrichter hätte 
angehensöUen, fällt 
wie Zunder in ein 
■ Pulverfaß in den 
Kampf der Libe- 
ralen und Kleri- 
iSig, Man The Rtpoiitory kalen; der Misse- 



iSig, Mai 
The Reposilory, London 



Klan, Reisegtfahim. iSi8 Radiirvng 

täter ist ein Geistlicher, also ist sein Schicksal besiegelt und 
er darf auch zwanzig Jahre später noch nicht auf Gerechtig- 
keit hoffen. In Deutschland bemächtigt sich, im Kampf der 
Juristen und der Laien um das Schwurgericht das Interesse 
des Prozesses Fonk, der, Kaufmann in Köln, nicht ohne schwer- 
wiegende Gründe verdächtigt war, den jungen Conen umge- 
bracht zu haben, und die erregte öffendiche Meinung ruht nicht, 
bis der Angeklagte 1823 losgesprochen ist, wenn auch mit 
150000 Gulden Gerichtskosten belastet. 

In Deutschland ergriff die politische Bewegung die studie- 
rende Jugend und führte zu den stürmischen Szenen des Wart- 
burgfestes vom 18. Oktober 1817, wo einige Eiferer außer den 
Schriften mancher unbeliebter Autoren auch den Korporalstock, 
die Schnürbrust und andere Attribute der Reaktion verbrannten. 
Die Verfolgungen, welche über die als Demagogen Verdächtigten 
hereinbrachen, haben damals Unzählige, und unter ihnen nicht 
die Schlechtesten (wer denkt dabei nicht an Fritz Reuter?), 
ihre auf eine Aenderung der bestehenden Zustände gerichteten 
Pläne, ja oft nur Hoffnungen, mit jahrelangem Kerker, mit dem 



Ruin ilirer Existenz, ja mit dem 
Leben selbst bezahlen lassen, 
aber sie haben nicht verhindern 
können, daß die freiheitlichen 
Ideale in Köpfen und Herzen 
nur um so fester saßen. 

In Deutschland wie in 
Frankreich schied sich die Na- 
tion in zwei Lager, auf dereinen 
Seite die Regierungen mit ihrem 
aristokratischen Gefolge und 
ihrer Bureaukratie, auf der an- 
deren Seite das liberale Bürger- 
tum ; in einer Gegenwart voll 



iSxo 



nalt dts Daitiis 



Unruhe und Mißmut suchten die 
einen das Heil in der Vergan- 
genheit, die anderen in der Zu- 
kunft, keine Brücke führte über 
den Abgrund, der beide trennte, 
keine Verständigung war zwi- 
schen diesen Parteien möglich. 
Aus dieser Zeit der tiefsten ge- 
genseitigen Abneigung zwischen 
Regierungen und Regierten ist 
in weiten Kreisen des Volkes 
das Mißtrauen übrig geblieben, 
das nach wie vor wie etwas 
Selbstverständliches in jeder 



rSso. Oktober 



Ingrts, Dami mil Schirm 



Regierungshandlimg etwas dem Gemeinwohle Schädliches wittert. 
Und als wäre es nicht genug an diesem Zwiespalt, der im 
fruchtlosen Hader der Parteien den Nachbar dem Nachbarn 
entfremdet und die feindlich gegenein anderhetzt, die doch in 
Eintracht Hand in Hand gehen sollten, tiefe Gegensätze offen- 
baren sich plötzhch zwischen den Völkern und in demselben 
Augenblick, wo die erlesensten Geister die Goethe, die Hum- 
boldt, die Schiller sich ihres Weltbürgertums froh bewußt werden 
und über die Schranken fremden Volkstums hinweg verwandten 
Seelen die Hand zum Bunde reichen, da erwacht ein Wider- 
spruch, der im Gegensatz zu einem die Unterschiede verwischen- 
den Kosmopolitismus die Nationalitäten ihre Eigenart eifersüch- 
tig betonen läßt. Kreolen und Mulatten von Mittet- und Süd- 
amerika empören sich gegen Spanien, in dem selbst Basken 
und Katalanen gegen Ka- 
stilianer aufstehen. Von 
1 8 1 7 datiert mit der Ent- 
deckung der Königinhofer 
Handschrifi die von Wen- 
zel Hanka erfundene böh- 
mische NationalUteratur, 
ein tschechisches Natio- 
nalgefiihl erwacht; 1821 
beginnen die Neugriechen 
das türkische Joch abzu- 
schütteln ; 1830 empören 
sich die Polen gegen ihre 
russischen Unterdrücker; 
1831 trennen sich Wallo- 
nen und Holländer und 
kaum später besinnen sich 
die- Magyaren auf ihr 
Volkstum, die Herren 
hören auf, in ihren Land- 
tagen Lateinisch zu reden 
und sprechen Ungarisch ; 
Italien aber, zum Teil un- 
ter fremder Herrschaft, 

CA-W, Mm^. Adelaide j8„ "'"" '^f^ ^" •''^'"^ ^^aaten 

Mi'iii dl VinaiiUi Zerspalten, suchtzurEmig- 



Segas, FamililTiiäfd. lSi3 iV,tllra/-Ilic)iarlt-MuaKm, Kdl» 

keit zu gelangen , ein Netz von Gelieimbiinden und fortge- 
setzte Verschwörungen bedrohen die ötTentliche Ordnung, die 
Ruhe der Regenten. 

Die Völker untereinander uneins und gegeneinander er- 
bittert, Mißtrauen oben und Haß unten, dieser Boden war 
wohl vorbereitet für eine Saat, die auf ihm gedeihen und ein 
neues Element in das öffenüiche Leben bringen sollte: das 
pohtische Attentat. Attentate haben stattgefunden, solange es 
Tyrannen gibt, aber sie bleiben glücklicherweise vereinzelt, 
bis aus der Zeitstimmung leidenschaftlich erregter Jahre, wie 
etwa der Religionskriege des i6. Jahrhunderts, der Mord so 
häufig hervorbricht, wie der Blitz aus gewitterschwangerem 
Gewölk. Vor dem 19. Jahrhundert relativ selten, sind die Atten- 
tate, die aus politischen Gründen vollbracht wurden, in diesem 
in allen Ländern und bei allen Völkern so häufig geworden, 
daß man in den Jahren, von denen wir hier sprechen, vielleicht 



mehr zählen wird, als in ebensoviel Jahrhunderten der Ver- 
gangenheit. 

Am 23. März 1819 ermordet der Student Karl Ludwig 
Sand in Mannheim den russischen Staatsrat August von Kotze- 
bue, wenige Wochen darauf, am i. Juli 1819, fallt ein anderer 
Student, Karl Lö- 
ning, den nassaui- 
schen Minister von 
Ibel! an, und wenn 
man z. B. in den 
Tagebüchern und 
Briefen von Gentz ■ 
liest, welchen Ein- 
druck diese Taten 
auf die Machthaber 
ausübten, wie der 
Schreiber, in semem 
bösen Gewissen er- 
schüttert, sich fürch- 
tet und tagelang 
nicht auszugehen 
wagt, als einmal ein 

fremder junger 
Mensch in Gastein 
ankommt, dann 
wundert man sich 
nicht mehr über die 
drakonischen Maß- 
regeln , die gegen 
die Studenten, ge- 
tSio-, August Thi Kefoütory gen die Universi- 

täten in Anwen- 
dunggebracht wurden. Am 13. FebruariSzo falh der Herzog von 
Berry in der Pariser Oper dem Dolch eines fanatischen Fürsten- 
hassers, wie Louvel zum Opfer; im Fasching 1824 ermorden 
Faktiöse den Marquis Loule, Minister Johanns VI. von Portugal; 
1825 bedrohen die Sergius Trubetzkoi, Murawjew, Paul von 
Pestel Nikolaus I. von Rußland; 1831 erhegt Kapodistrias 
in Nauplia und in den 1 8 Jahren der Regierungszeit des Bürger- 
königs folgt ein Attentat dem anderen, Schüsse, Dolchstiche 



i8ao, Juli 
Wiener Zeiückrift 



und Höllenmaschinen, wie jene Fieschis, bei deren Explosion 
am a8. Juli 1835 der Marschall Mortier getötet wurde; Ludwig 
Philipp durfte schließlich nicht mehr ausgehen, sich nicht mehr 
auf dem Balkon der Tuilerien zeigen, ohne Mordanfällen aus- 
gesetzt zu sein. 



zSso, Fibruar The Repositary 

Wie eine Seuche grassiert die Manie, durch ein Attentat 
auf die Person des Herrschers seine politische Mißstimmung 
zu dokumentieren; nur durch ein Wunder entgeht die Königin 
Viktoria 1840 zwei Attentaten, die in rascher Folge auf sie 
ausgeführt werden, und Friedrich Wilhelm IV. dankt sein 
Leben nur der schlechten Beschaffenheit der Waffe des Bür- 
germeisters Tschech, der am z6. Juli 1844, als König und 
Königin eben nach Schlesien abreisen wollten, vor dem Schloß- 

— 13 — 



portal in Berlin auf den Monarchen feuerte. Bis in die kleinsten 
Gemeinwesen trägt der Parteigeist den politischen Mord, muß 
doch 1845 in Luzern der Schultheiß Leu seine Führerschaft der 
Ultramontanen mit dem Tode büßen. 

Diese Verbrechen, welche sich binnen weniger Jahre in 
unerhörter Häufigkeit ereignen, bilden einen Gradmesser für die 
politische Stimmung jener Jahre, in denen Unzufriedenheit und 
Aufregung um so weiter um sich greifen, je stärkere Anstren- 
gungen von oben gemacht werden, sie zu unterdrücken. Aber 
die viel beru- sich als unbe- 

fenen und viel- siegbar erwies, 

geschmähten den die Herr- 

»modemen sehenden 

Ideen«, der nicht umsonst 

Liberalismus, der Hydra ver- 

derdenMacht- gUchen, der 

habem um so statt eines ab- 

verhaßter war, geschlagenen 

als er ihnen Hauptes zwei 

als das Kind nachwachsen : 

derRevolution die Presse. 

erschien, lies- Wohl gab es 

sen sich nicht schon früher 

mehr erstik- Zeitungen, 

ken es war Berhn hat sei- 

ihnenindiesen ne »Vossi- 

JahreneinBun- Ma„sim, Miviaturmnh sche«i seit der 

desgenosse er- ivaiiiui ceiiKtisn, Londo« Mitte des 18. 

standen, der Jahrhunderts, 

England seine »Times« seit dem Jahre 1780, aber die Blätter 
der alten Zeit mit kurzen Tagesneuigkeiten waren ohne Einfluß 
und jeweils nur als Sprachrohre der Regierungen zu betrachten, 
die durch sie bekannt werden ließen, was ihnen nützlich erschien. 
Eine Presse als Wortführerin der öffentlichen Meinung 
gibt es erst seit 1815, als die von Ludwig XVIIL Frankreich 
oktroyierte Charte ihr, die bis dahin von Napoleon streng 
überwacht und eingeschränkt war, die Freiheit gab, und die 
technische Entwicklung der Druckpresse zur Schnellpresse die 
Möghchkeit bot, 2000 Bogen in der Stunde abzuziehen. 
Sofort entstand in Frankreich eine Tagespresse, die mit ihrer 

— 14 — 



iSii yotimal des Damis The Reposilory tSzt 

raschen und regelmäßigen Verbreitung, mit der Mannigfaltig- 
keit ihrer Erscheinung, mit ihrer leidenschaftlichen Tätigkeit 
das Erstaunen und die Bewunderung ganz Europas erregte 
und, fügen wir gleich hinzu — die Furclit der Regierungen. 
Konstitutionelle Blätter, wie das »Journal des Debats«, der Op- 
position angehörige wie der 1815 entstandene »Constitutionnel«, 
den später Thiers zum größten Einfluß führen sollte, wie der 
sGlobe«, der »National« verpflanzen die rhetorischen Kämpft 
der Parteien aus der Kammer auf den Boden des täglichen 
Lebens, der volle Strom der Politik ergießt sich in das bür- 
gerliche Leben, die Zeitung schafft eine öffentliche Meinung, 
die Zeitung wird Bedürfnis. Der Geist, den sie selbst be- 
schworen, erfüllt die Herrschenden aber mit Schrecken und 
so beginnt der Kampf gegen die Presse eigentlich in demselben 



Journal äis Domes 



i82j, Daimbtr Journal dis Danas 1S2S, Mai 

Augenblick, in dem ihr die Freiheit gegeben wirl aber weder 
die Zensur noch Maßregelungen und Schwierigkeiten aller Art, 
können die Entwicklung aufhalten und der \ ersu*,h die Presse 
einer Präventiv- Zensur zu unterwerfen die polizeiliche Erlaub- 
nis der Publikation von einer Prüfung des Inhalts der Zeitung 
vor der Drucklegung abhängig zu machen kostet Karl X. 
seinen Thron. 

Der Krieg, den die französische Regierung gegen die Preß- 
freiheit gefiihrthat, ein Krieg, der 1826 begann um erst 1830 
mit der Exilierung der Bourbonen zu enden trf Ute die Be- 
völkerung mit immer steigender Erbitterung bei Paraden emp- 
fing den König statt des: »Vive !e roi« ein »Es lebe die Preß- 
freiheit!« und daß die Damen an dieser Fri^e nicht weniger 
leidenschaftlich teilnahmen als die Herren, beweist der Aus- 



Wiener Zeitsc' 



Ingris, Dame mit Lorgnon iSzj 

Spruch jenes jungen Mädchens, das auf einem Ball beim Bankier 
Laffitte zum Tanz aufgefordert, dem Herrn antwortet: sErst 
sagen Sie mir: Sie sind doch auch für die Preßfreiheit?« Der 
Waffe nstillstand wenigstens, welcher der Presse in Frankreich 
1830 zuteil wird, verleiht ihr einen gewaltigen Aufschwung, 
Emile de Girardin schafft die bilüge Zeitung mit Nummem- 
verkauf und führt damit eine völlige Wandlung ihres Wesens 
herbei. 

Bis dahin waren die Blätter nur gegen ein teures Jahres- 
abonnement zu haben gewesen, jetzt machte sie ein geringer 
Preis auch den Unbemittelten zugänglich. Bis dahin rührten 
sie von Schriftstellern mit berühmten Namen her, ihr Inhalt 
machte literarische Ansprüche, jetzt beginnt der unbekannt blei- 
bende Journalist ihre Spalten zu füllen; unter der Restauration 

— ig — 



galt es nicht fiir schicklich für ein Blatt, das sich respektierte, 
Börsennachrichten zu bringen, unter dem Bürgerkönigtum da- 
gegen beansprucht die Börse einen immer weiteren Raum, ja 
die Presse tut den letzten Schritt zur Allmacht: sie erobert die 
Frau dadurch, daß sie Inserate aufnimmt und Romane bringt; 
Alexander Dumas, Eugene Sue, Honor^ de Balzac waren die 
ersten, welche ihre Romane in Tageszeitungen erscheinen ließen, 
wie hätte diesen nicht der Erfolg gehören sollen? 

Deutschland war nicht in derselben glücklichen Lage wie 
Frankreich; wohl besaß es in dem von Joseph Görres geleiteten 
»Rheinischen Merkur« ein vorzüglich geleitetes und furchüos ge- 
schriebenes liberales Blatt, dem andere, nicht weniger tüchtige 
wie Ludens »Nemesis«, Okens »Isis« u. a. zur Seite standen, aber 
die Karlsbader Beschlüsse von 1819, eine direkte Folge von 
Sands Tat, haben die deutsche 
periodische Presse geknebelt. 
Die vorgängige Zensur machte 
ein offenes Wort zur Unmög- 
lichkeit, hohe, von den Verle- 
gern geforderte Kautionen hin- 
derten die Unternehmer, enorme 
Stempelsteuern verteuerten das 
Abonnement und erschwerten 
so die Verbreitung. So ent- 
standen denn zwischen 1823 
und 1847 in Deutschland auch 
nur etwa 22 neue pohtische Zei- 
tungen, die, in der freien Aeuße- 
rung ihrer Meinung in jeder 
Weise gehindert, an Verbreitung 
und Einfluß es mit denen Frank- 
reichs nicht aufnehmen konnten. 
In Deutschland hat sich die öf- 
fentliche Meinung erst sehr all- 
mählich zu einer Macht ent- 
wickelt. Die werbende Kraft 
der neuen Ideen war anfäng- 
lich überhaupt außerordentlich 
gering. AlsdieLiberalen 1821 in 
tSsS, Afai Josmal des Damts Neapel eine Verfassung durchge- 



, SckmoÜatdcs Paar 



setzt haben ' . .. - . 

und Oester- 
reich seine 
Armee ein- 
rücken läßt, 

nig von der- 
selben zu be- 
freien, da 
marschiert 
das Heer 
durcb das 
ganze Land, 
ohne den 
von den 
Konstitutio- 
nellen mobil 
gemachten 

Truppen 

überhaupt 
nur zu be- 
gegnen und 
Gentz kann 
einen von 

gerechtfer- 
tigtem Hohn 

strotzenden Ägr«, Mimiieur Ltblane, 1823 CatL Bmnui, Bayotuu 

Bericht über 

diese »liberalen Helden« schreiben. Ebenso mühelos unter- 
drückt Bubna die Verfassungsbewegung in Piemont und genau 
so geht es 18*3 in Spanien, als der Herzog von AngoulSme 
bis Cadiz spaziert und statt eines gefürchteten Guerillakrieges 
k la 1809 — 14 völhge Gleichgültigkeit ihn empfängt. Weil ihm 
der Gegner absolut keine Gelegenheit zu Heldentaten gewährt, 
ist er schließlich im letzten AugenbHck genötigt, um nicht ohne 
Lorbeeren heimzukehren, den kaum verteidigten Trocadöro 
stürmen zu lassen. 

1825 versucht eine Grupp^ verschworener Offiziere Ruß- 
land eine Konstitution zu geben, aber ihr Unternehmen scheitert 
kläglich, an der eignen Kopflosigkeit nicht minder als an der 



Unwissenheit des Volkes, wel- ' 
ches die Konstitution für die 
Frau des Großfürsten Konstan- 
tin hältl 

Das liberale Bürge rtuni, 
nicht nur in Deutschland, bUeb 
mit seinen Sympathien und An- 
tipathien auf ein müßiges Zu- 
schauen beschränkt, es muß ge- 
schehen lassen, daß die Groß- 
mächte den Griechen nach einem 
langjährigen Befreiungskampf 
einen deutschen Prinzen als 

Selbstherrscher aufnötigen; es Grimm, Heinrick Hiim 
muß zusehen , wie Polen mit 
Preußens passiver Hilfe zu Boden geschlagen wird ; es muß 
dulden, daß auch die Belgier ihren Freiheitskampf nur zugunsten 
eines koburgischen Prinzen geführt haben. 

Der erste bescheidene Erfolg des deutschen Liberalismus 
ist die Vertreibung des Herzogs von Braunschweig, der nach 
skandalöser Mißregierung am 6. September 1830 das Land ver- 



1827 



lassen muß, während s 
den Weg erleuchtet! 



Gerard, La dmhesst dt Brogüe 



I Flammen stehendes Schloß ihm 

Im übrigen konnten die Bür- 
ger ja warten, waren sie doch im 
Besitz der beiden Faktoren, wel- 
che auf die Dauer doch allein 
die Macht verleihen : Besitz und 
Bildung. DerAdelwarinFrank- 
reich durch die große Revolution 
um Einfluß und Eigentum ge- 
kommen; in Deutschland, zumal 
in Preußen, haben die Neurege- 
lung der grundherrhchen Ver- 
hältnisse dem hohen wie dem 
minderen Adel Wunden geschla- 
gen, von denen derselbe, der 
schon in den Jahren der napoleo- 
nischen Unterdrückung und der 
Freiheitskriege die größte finan- 



Wtner Moden 



zielle Einbuße erlitten 
hatte, sich nicht mehr er- 
holt hat. Während nun 
der Adel allmählich den 
Grundbesitz verliert und 
in Hof-, Beamten- und 
Militärdienste gedrängt 
wird, die bei großen An- 
sprüchen und kärglicher | 
Entlohnung nur dazu die- ' 
nen, ihn völlig verarmen ' 
zu lassen, schreitet das 

Wohlstand unaufhaltsam 
fort, kein Vorurteil hält 
es auf, kein Privileg hin- 
dert es. Ihm ist es un- 
benommen, zu verdienen 
und der Reichtum verleiht 
ihm bald das Selbstgefühl 

der eignen Wichtigkeit, /„^„_ m«u. Dilormc iSsS 

Adel und Geistlichkeit 

haben im öffentlichen Leben ausgespielt, Handel und Industrie 
geben den Ausschlag. So rapide ist der Aufschwung, daß 
schon unter Karl X. Sosthene de la Rochefoucauld den Monar- 
chen darauf aufmerksam macht, daß der König ja nur noch 
scheinbar die Macht in Händen habe, Krieg und Frieden hingen 
nicht mehr von seinem Willen, sondern von vier oder fünf 
großen Bankiers ab. Als wenig später der Bürgerkönig auf 
dem Thron, Bankiers auf den Ministersesseln sitzen, da gibt 
das berüchtigte sEnrichissez-vous« die Parole des Tages, die 
Allmacht des Geldes ist unumschränkt anerkannt, das Geld 
hat die Unterschiede von Rang und Stand verwischt, die Ge- 
sellschaft kennt keine Kasten mehr, nur noch Besitzende und 
Besitzlose. 

Das Bürgertum hat für seine Arbeit einen Bundesgenossen 
gefunden, dessen ungeheurer Einfluß sein Vermögen ins Un- 
gemessene vergrößerte, die Dampfkraft. Die Dampfmaschine 
wurde im i8. Jahrhundert erfunden, aber ihre Verbreitung, die 
unzähligen Verbesserungen, die ihre Anwendung immer allge- 

— 2J — 



meiner werden ließen, datieren erst aus dem 1 9. Jahrhundert. Wäh- 
rend England 18 10 gegen 5000 Dampfmaschinen im Fabrik- 
betrieb hatte, arbeiteten zur gleichen Zeit in Frankreich etwa 200; 
in Preußen eine, aber von 1830 an nimmt die Verwendung 
derselben mit einer Schnelligkeit zu, welche die Volkswirte in 
Erstaunen und Besorgnis versetzt. Indem man gleichzeitig alle 
Entdeckungen der Wissenschaft fiir die Praxis nutzbar macht, 
wird eine Industrie ins Leben gerufen, welche die Gesellschaft 
gründlicher umgestürzt hat, als alle Verfassungen es je vermocht 
hätten ; die Industrie hat die Lebensbedingungen von Millionen 
von Menschen vollständig umgewälzt und ihnen materiell wie 
moralisch einen anderen Boden für ihre Existenz bereitet. Die 
Wohlfahrt der Industrie wurde auch von den Regierungen um 
so lebhafter gefördert, je mehr sie anderseits bestrebt waren, 
die Geister von der Politik abzuhalteji und so beginnen auch 
bald die Ausstellungen, die, für die Zeit etwas völlig Neues, 
als Marksteine wirtschaftsgeschichtlicher Entwicklung betrachtet 
werden dürfen. 

18 18 hatte München seine Industrieausstellung, 1824 Dres- 
den, 1827 Berlin; sie galten aber nur den Erzeugnissen ihrer 
Länder, die erste allgemeine deutsche fand 1842 in Mainz 
statt und 1843 sah England die erste in Manchester, 1844 
Berlin eine solche des preußischen Zollvereins im Zeughaus. 

Die gleichen Menschen, welche staunend die Revolution 
gewahr werden, welche die Maschine in den Fabriken voll- 
bringt, sahen mit womöglich noch größerer Verwunderung, wie 
der Dampf auch dem Verkehr völlig neue, nicht einmal ge- 
ahnte Bahnen weist. In Amerika sollen 181 2 schon mehr als 
50 Dampfschiffe in Betrieb gewesen sein, auf dem europäischen 
Kontinent aber war der Dampfer, der 18 16 zwischen Paris 
und Ronen den Verkehr vermittelte, das erste Schiff, das man 
aus eigner Kraft fahren sah und dessen Erscheinung nicht nur 
die normannischen Bauern, sondern auch die eleganten Pariser 
mit Staunen begrüßten. Auf dem Rhein und der Elbe zeigten 
sich die ersten Dampfer 18 18, auf der Donau erst 1830. Von 
nun an geht es aber wirklich mit Dampf voran, wofür viel- 
leicht am deutlichsten die Zahlen sprechen, England hat 181 5 
zwanzig Dampfschiffe in Betrieb, 1823 =160, 1839 = 315, 
1838 = 538 und erbaut 1833 den ersten Kriegsdampfer. 

Weit größer noch als die Verwunderung, welche die Dampf- 

— 24 — 



schiffe erregt hatten, war der Unglauben, der die ersten Loko- 
motiven empfing! Schienenwege, auf denen der Wagen verkehr 
mittels Pferdekräften stattfand, gab es außer in England auch 
in Oesterreich schon seit 1832, zwischen Linz und Budweis, — 
daß aber Datnpfkraft imstande sein sollte, Wagen mit Menschen 
zu befördern, schien unglaublich und eine ganze Bibliothek ist 
zusammen geschrieben worden, um die Unmögüchkeit davon 
zu beweisen, berühmte Gelehrte, wie der Physiker Arago äußerten 
sich 1836 noch auf das Absprechendste über diese Erfindung 
und doch fuhr seit 1830 schon die erste Lokomotive zwischen 
Liverpool und Manchester. Am 7. Dezember 1835 wurde die 
erste Eisenbahn in Deutschland, von Nümbei^ nach Fürth, er- 
öffnet, 1837 folgte die 
Verbindung zwischen 
Leipzig und Dresden, im 
gleichen Jahr Paris- St. 
Germain, 1838 die Li- 
nien Wien-Wagram und 
Berlin -Potsdam. Den Pro- 
phezeiungen derSchwarz- 
seher schienen bald die 
Unglücksfälle recht ge- 
ben zu wollen, die, wie 
die große Katastrophe 
auf der Strecke Paris- 
Versailles im Jahre 1842, 
die gegen 100 Reisen- 
den u. a. auch dem be- 
rühmten Weltumsegier 
Admiral Dumont d'Ur- 
ville das Leben kostete, 
schließUch nur bewiesen, 
daß die neue Einrich- 
tung Mängel hatte und 
daß der Mensch die 
Kraft, die er in seinen 
Dienst zwang, noch nicht 
genügend kannte. 
ScAivind, Auss^hnill auit Sfaziitgang vor dem I^ie Dampf kraft, die 

T.}re, 1827 einen Industriebetrieb im 



SchtBtnd, Spiaitrgang vor dem Tere {Aussdaätl) iSzj 

großen überhaupt erst ermöglichte, indem sie die Mittel bereitete, 
Massenartikel nicht nur zu erzeugen, sondern dieselben auch 
sofort in weiteste Fernen zu verbreiten, machte Tausende reich, 
aber sie drückte Hunderttausende in eine Abhängigkeit hinunter, 
schlimmer, hoffnungsloser, entwürdigender, als es je die Hörigkeit 
im Feudalstaat gewesen war. In demselben Augenblick, in dem 
der neue Industriestaat seine Bevölkerung in zwei Klassen 
trennt, in dem er nur noch Reiche und Arme kennt, da stehen 
diese sich auch ais Todfeinde gegenüber und es beginnt ein 
Krieg zwischen ihnen, dessen Ende die Menschheit noch 
leben soll. In England glaubte die Tory Regierung den wieder- 
holten Streiks, welche den Markt beunruhigen und deren Aus- 
schreitungen die öffenthche Ruhe und Ordnung revolutionär be- 
drohen, nur durch eine Rechtsbeugung begegnen zu könnei 
sie nimmt den Arbeitern 1825 das Koalitionsrecht ; 1834 kann 
der Streik der Seidenweber in Lyon nur durch einen fünf- 
tägigen blutigen Straßenkampf beendet werden, zwei Jahre 
ziehen sich 1837 — 38 die Unruhen der Spinner und der Nobs 
in Glasgow hin und auch die hungernden schlesischen Weber 
bringt 1844 nur der Säbel zur Raison des Polizeistaates: Maul 
halten, arbeiten, Steuern zahlen. 

Da schleudert Proudhon der für ihre Reichtümer zitternden 

— 27 — 



Ingres, Mmt. Galteaux 182g 

Bourgeoisie seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht, und 
sein Wort: »Eigentum ist Diebstahl I« leuchtet der Armut wie 
eine Flamme, schön und gefährlich. Die allgemeine Not, die 
verfahrenen sozialen Zustände nötigen Regierungen und Private, 
an die Besserung der Lage der arbeitenden Klasse zu denken, 
der Herzog von Laroche foucauld-Liancourt gründet 18 18 die 
erste Sparkasse für den kleinen Mann, England beginnt 1833 
bis 44 eine Gesetzgebung sozialer Wohlfahrt, 1840 wird in 
Val des Bois ein großes industrielles Unternehmen mit Be- 
teiligung der Arbeiter gegründet, alle Philosophen machen sich 
ans Werk, das Heil der Menschheit mit neuen Systemen zu 
begründen. 

Die Jahre 1S30 — 36 sehen eine wahre Explosion sozialer 

— 28 — 



i8a6, Juli 
Wiefier Zettschnß 



La Mode, Paris 



Meyer^ nach G. H. Harltnii, Lord Byron 

Ideen, der Sozialismus eines St. Simon kommt förmlich in 
Mode und da die Frauen sich seiner mit Leidenschaft be- 
mächtigen, so dauert es nicht lange, bis die Sache des Pere 
Enfantin an der Uebertreibung zugrunde geht. Der Kommu- 
nismus findet leidenschaftliche Vertreter, Cabet schreibt seine 
Reise nach Ikarien, als aber seine Utopie von Gönnern finan- 
ziert wird, löst sich binnen Jahresfrist alles in Mord und Tot- 
schlag auf. Menschenfreunde machen sich ans Werk, die, wie 
die Herzogin von Angoulgme in Paris, Bettina in Berlin, syste- 
matisch die Wohltätigkeit üben oder wie Appert, der sich seit 
1828 mit Eifer daran macht, den Gefangenen materielle und 
moralische Hilfe zu bringen. Dickens legt in seinen herrlichen 
humoristischen Romanen furchtlos die Schäden der gesellschaft- 
lichen Einrichtungen bloß und erreichte auch, daß sie abgestellt 
werden, ja die Philantropen erleben die Genugtuung, daß Eng- 
land 1833 die völlige Emanzipation der Sklaven in seinen 
Kolonien durchführt. 

Selbst die Frauen tragen in die Unruhe und Feindseligkeit 



Kriigir, Aussihmtl tau dir iParatiit von iSjg Kgl. ScAleß, Btrli« 

der Zustände ein neues Element der Zersetzung, lärmt doch 
seit 1830 die Frauenfrage. Im Gegensau zu Balzacs »femme 
de trente ans«, der durch den Reiz ihrer Weiblichkeit unwider- 
stehlichen Siegerin, protestieren George Sand, die Gräfin Hahn- 
Hahn in dem von ihnen geschaffenen Typus der sfemme incom- 
prise« gegen die seelische Knechtung des Weibes durch den 
Mann; fordern die Emanzipierten politische Rechte und bürger- 
liche Gleichstellung für ihr Geschlecht; sdas freie Weib« kennt 
nur noch Rechte aber keine Pflichten, die Fessel der Ehe ist 
abgestreift. 

Immer neue Wunden zeigen sich am Körper der Gesell- 
schaft ; die ständig zunehmende Zahl der Selbstmorde, deren 
erschreckende Progression zum ersten Male seit 1835 in Däne- 
mark offiziell festgestellt wird, alarmiert die Menschenfreunde, 
Philosophen, Theologen, Mediziner, Volkswirte forschen nach 
dem Grunde, um diesem Uebel zu steuern, aber sie stehen 
ratlos einer Erscheinung gegenüber, deren Wachstum und Ver- 
breitung einem höheren Gesetz gehorcht, deren Tätigkeit des 
freien Willens ihrer Opfer spottet. 

Es ist nicht das einzige Symptom von einem unheilbaren 
inneren Siechtum der Gesellschaft, für das die Wissenschaft 
keine Hilfe weiß, die Wissenschaft, die doch die höchste und 
letzte Instanz eben dieser Gesellschaft bildet ; die Wissenschaft, 
deren Kultus an die Stelle der Religion getreten ist. Wissen — 

— 30 — 



und sei es das be- 
schränkteste Fachwis- 
sen — gilt mehr, als 
Bildung ; der Gelehrte 
und sein Studium wer- 
den höher ge wertet, als 
die Arbeit des Tech- 
nikers, desKaufmanns, 
sie werden in einen ge- 
flissentlichen, absicht- 
lichen Gegensatz zum 
soldatischen Beruf ge- 
bracht, der selbst in 
langen Friedensjahren 
in Deutschland als un- 
nötig empfunden, nur 
noch als Müßiggang 
betrachtet wird. Im 
Gelehrten dagegen ver- 
ehrte das Bürgertum 
iSjo gewissermaßen seine 
feinste Essenz, die 
höchste Vollendung 
bürgerüchen Geistes. Jahrzehnte hindurch durfte Deutschland 
zumal in den Gelehrten auch seine Führer in politischen An- 
gelegenheiten, seine Vorkämpfer für die Freiheit sehen. Unter 
diesen hat es nicht an solchen gefehlt, die, wie die Luden und 
Oken in Jena, Arndt in Bonn, Rotteck und Weicker in Frei- 
burg, Jordan in Marburg, die berühmten Sieben in Göttingen 
zu Märtyrern für die gute Sache wurden, und deren unblutiges 
Heldentum um so lauter bewundert und um so leidenschaft- 
licher gepriesen wurde, je heftiger sein Widerspruch zu den 
Regierungsgewalten gewesen war; nur die Opposition kannte 
Helden und zwischen 1820 und 1850 war in Deutschland 
niemand populärer als der Professor. 



Dankauscr, Gru/ipi aus i Die Prasser t. zSj6 



MaitriH, Enldtckl 



Im Gegensatz zu dem Geist welcher die neue bürgerliche 
Gesellschaft uud ihr I eben ganz und gar zu praktischer Be 
tatigung drangt einer Betätigung deren Endzweck täglich starker 
und täglich unverhullter der Gelderwerb wird steht der Ge 
schm-ick der Zeit welcher sich auf der Flucht \or den Reali 
taten des Ta^es befindet 

Wahrend Handel und Industrie sich ununterbrochen aus 
breiten, wahrend immer neue Erfindungen und Entdeckunf,en der 
Zukunft entgef,eiidrangen wahrend Lärm nnd Arbeit dis Leben 
füllen entflieht die Nelinsucht dem leidigen \lltag um das Ideal 



yoh. Adam Klan, Die fbtl au/ dtm Ehrtnberger Paß 

ZU suchen, fem von Ort und Zeit, fem von Fabrik, Maschinen, 
Politik und Geld. Je brutaler die Gegenwart ihre Rechte fordert, 
um so weiter geht die Flucht in die Vergangenheit, je gewöhn- 
licher die Umgebung, um so weiter die Flucht in die Feme, so 
findet die bürgerliche Gesellschaft am Beginn der neuen Zeil, 
die doch ihr gehört, das Ideal im Mittelalter. Wie in einem 
ausdrücklichen Widerspruch gegen das dringendste Bedürfnis 
der Zeit, welcher für alle Aeußerungen des bürgerlichen Lebens 
gebieterisch neue Formen fordert, suchen Dichtung und Wissen- 
schaft, Tracht und Sitte, Leben und Kunst sich im Mittelalter 
zurecht zu machen, sie leugnen und hassen die Gegenwart und 
verlassen den festen Boden der Wirklichkeit, um im Unwirk- 
lichen, Unendlichen, Niegewesenen eine Heimat zu finden. Die 
nüchternen Ansprüche des Tages treten in ein krasses Mißver- 
hältnis zu den ästhetischen Aspirationen; ein Zwiespalt klafft 
durch die Seelen, ein großes Unbefriedigtsein geht durch die 
Welt, man sucht überall nach Befriedigung und Befreiung, nur 
nicht im wirkUchen, im realen Leben. Immer weiter entfernt man 
sich voneinander, alle Reahtäten des Lebens werden gering ge- 
schätzt, die Prosa des Materiellen wird verächtUch; poetisch 
imd impraktisch wird zu einem Begriff, und Jakob Grimm stellt 

_ 36 - 



Summers, Mr. Hancmks London — Paddinglon Motoixar lEnlerpriset 

als Forderung auf, daß der Gelehrte nur in völligem Rückzug 
von Leben und Gegenwart sein Genügen finden könne. 

Müde war man der Aufklärung, die mit dem Geheimnis- 
vollen, das sie dem Christentum abgestreift, die Christen um den 
Glauben gebracht hatte, und man beneidete nun der Vergangen- 
heit ihren kindlichen Wunderglauben ; müde war man der platten 
Alltäglichkeit des Bürgertums und berauschte sich am Glanz des 
ritteriichen Adels einer fernen Vorzeit; müde war man des öden 
Einerlei von Heute und Alltag und wünschte sich das Wunder- 
bare, Unerhörte, Phantastische. Wurde das Leben schon immer 
prosaischer, seine Wirkhchkeit immer roher, so mußten Dichtung 
und Kunst um so poetischer, um so unwirklicher werden, und 
mit vollen Segeln steuerte man hinein in das uferlose Meer der 
Romantik, um an fernen Gestaden überirdischer Reiche die 
blaue Blume zu suchen, die der Tag der PhiUster nicht bot. 

Durch die Stürme, welche ein Mensch enaker hindurch die 
europäische Gesellschaft politisch und sozial durcheinanderge- 
schüttelt hatten, durch die Aenderung aller Verhältnisse, die 
auch das Leben des bescheidensten Privatmannes mit Aufregung, 
Unruhe und Sorge erfüllt hatten, waren die Seelen aus dem 

- 37 — 



Gleichgewicht gebracht, die Geister 
völlig desorientiert worden und nun 
erschien ihnen, da die äußere Ruhe 
zurückgekehrt war, die Gegenwart 
schal, die Existenz ohne Reiz. Ein 
unbefriedigtes Sehnen geht durch 
die ganze Zeit, aber die Augen, die 
immer, von der Erde weg, das 
U eberirdische suchen, die Wünsche, 
die das Erreichbare verschmähend, 
stets nur nach dem Unerreichbaren 
zielen, trüben den Blick und ver- 
urteilen alles Streben zur Unfrucht- 
barkeit. 

Die Reaktion gegen die Nüch- 
ternheit der Aufklärung trieb die 
religiös Veranlagten, suchten sie 
nach dem 



Bleiben 
den in 
der Er 
schei- 
nungen 
Flucht, 

in die Arme der römischen Kirche. 
Fürsten, wie der Herzog und die 
Herzogin von Köthen, letztere eine 
Tochter Friedrich Wilhelm II. von 
Preußen.Dichter, wie Friedrich Schlegel, 
Zacharias Werner, Künstler wie Scha- 
dow, Overbeck, Riepenhausen, geist- 
reiche und begabte Frauen, wie Sophie 
von Schardt, Dorothea Veit konver- 
tierten, und die Publizisten, die sich 
dem Katholizismus zuwandten, die 
Adam Müller, PhiUips, K. L. von Haller 
schmiedeten aus ihrer neuen Ueber- 
zeugung Waffen für die Poütik des 
Tages. Chateaubriand wurde der Mode- 
dichter der vornehmen Gesellschaft, 

_ 38 - 




Barlkttischlägtr-IRIdibrandt, Altxaadir v. Humhaläl im Sluditrämmef 



denn seine romancische Auffassung des Katholizismus entsprach 
der Stimmung einer Zeit, welche 1814 die Wiederherstellung der 
Jesuiten erlebte, und welche die eben noch mit dem Untergang 
bedrohte Kirche wieder in den Besitz ihrer früheren Macht, in 
die Ausübung ihres prunkvollen 

Gottesdienstes treten sah; mit ' . ' 

Staunen sahen die Franzosen 
im Februar 1826 in vier ge- 
waltigen Prozessionen ihren 
König und seinen ganzen Hof 
im Gefolge der Geistlichkeit 
durch diePariser Straßen ziehen. 
Eine Pietistin, wie Juliane 
von Krüdener, wird zur Egeria 
des Kaisers Alexander, aus 
dessen schwärmerischem, von 

unklaren Ideen erfüllten Kopf IlayUr, Weher im Cwentgardm 




David, Um kturt avant U duel LUkegraphie 

die heilige Allianz entspringt, eine wunderliche Mischung von 
Religion «nd Politik, ein Bund, in dem katholische, protestan- 
tische und griechische Herrscher sich vereinen, um unter An- 
rufung der heiligen Dreifaltigkeit der Welt den ewigen Frieden 
zu gewähren. 

In der protestantischen Kirche, deren bedeutendster Theo- 
loge dieser Zeit, Schleiermacher, in der Religion nicht das be- 
stimmte Bekenntnis eines Glaubens, sondern nur den Inbegriff 
aller höheren (lefühle sah, blüht das Sektenwesen. 1817 und 1 8 1 8 
ziehen Chiliasten in Scharen aus Württemberg nach Südrußland, 
um des tausendjährigen Reiches zu warten, Irvingianer und 
Mormonen erleben 1830 ein neues Pfingst wunder, von Hamburg 
breiten sich 1834 die Neutäufer aus, drei Schlossergesellen ver- 
pflanzen 1838 das Nazarenertum nach Ungarn, — die Stillen im 
Lande nehmen allerorten zu, und als die Union der Evangeli- 
schen, Friedrich Wilhelms III. eigenstes und persönlichstes Werk, 
mit Gewalt durchgeführt werden soll, um dem Separatismus zu 
steuern, da macht das polizeiliche Ungeschick die Lutheraner 



David, Ulli kiure apris h duel Liüvtgrapkit 

ZU Märtyrern und erhält dem neuen Bekenntnis die alte Un- 
einigkeit. Ganz im geheimen wächst ein Muckertum bis in die 
vornehmsten Kreise hinein, das seinen Glauben in Orgien der 
Un Sittlichkeit feiert und als den Predigern Ebel und Distel 1835 
in Königsberg endlich das Handwerk gelegt wird, da darf der 
jahrelang sich hinschleppende Prozeß schließlich nicht zu Ende 
gefiihrt werden, um nicht die ganze gute Gesellschaft zu kom- 
protnittieren. 

Schwarmgeister in der Religion, Schwärmer in der Politik ! 
Als die griechisch-katholischen Slaven der Halbinsel Morea sich 
182 1 gegen den Islam erheben, da geht der Philhellenismus 
wie ein Lauffeuer durch Europa und entzündet alles, was sich 
an Idealen in den Seelen der klassisch Gebildeten mit dem 
Wort, dem Begriff: Griechenland verbindet, alles, was an Ge- 
fühlen für Freiheit und Recht von den Regierungen unterdrückt 
wird, zu einer hellen Flamme der Begeisterung für die gute 
Sache der Hellenen. Die Helden dieses unterdrückten kleinen 
Volkes, das verzweiflungsvoll für seine Freiheit kämpft; diese 



Cavami, Masken aus: La Modi, iSji 

Miaulis, Bozzaris, Kolokotroni, sind sie nicht dem verknö- 
cliertsten Scliulmeister, dem wider willigsten Abc-Schiitzen aus 
Grammatik und Chrestomathie längst als Epaminondas, Themi- 
stokles, I.eonidas lieb und vertraut? Und der Aufstand, der 
bei den Regierungen Schrecken und Unbehagen auslöst, erfüllt 
die Völker mit Jubel, der Philhellenismus wird durch ganz 
Europa zur Religion der Jugend und des Alters. Bankiers, 
wie der Genfer Eynard, der Darmstädter HofFmann weihen der 
guten Sache ihr Geld ; schöne Frauen, wie die Recamier wirken 
durch ihre Propaganda; Dichter wie Wilhelm Müller, Shelley 
widmen Griechenland ihre schönsten Lieder und wer noch Säbel 
und Flinte brauchen kann, Männer wie General von Normann, 
Jünglinge wie Lord Byron, ziehen selbst in den heiligen Krieg. 
Der bescheidene Widerspruch eines sachlichen Gelehrten wie 



aiarm, i« appreti au 



11 

1 



Ffndi, Vor der Lotlmt. i8sg 



Fallmereyer, das nüchterne Urteil eines Diplomaten wie Pro- 
kesch, werden überschrien von dem Evoe Evoe der freiheitstrun- 
kenen Bacchanten. 

Auf den griechischen Taumel folgte der polnische, der sich 
aber mehr auf rein ästhetischem Gebiete abspielte, denn die 
polnische Wirtschaft hatte man — besonders in Deutschland — 
zu nahe vor Augen. 

Hatte man sich gelegentüch dieser Ereignisse für das Recht 
der unterdrückten Völker begeistert, so konnte man sich, als 
• 833 der erste Karlistenkrieg ausbrach, für einen in seinem guten 
Recht schmähUch verkürzten Fürsten enthusiasmieren und von 
allen Seiten zogen aristokratische Abenteurer, wie aus Deutsch- 
land u. a. Goeben, Lichnowski, Rahden nach Spanien, um in den 
Reihen des Don Carlos für Absolutismus und Inquisition zu 



Was anderes als Ro- 
mantik war es, wenn der 
Prinz Napoleon, im Ver- 
trauen auf eine bloße Mode- 
strömung, ohne Anhänger, 
ohne Geld 1836 in Straß- 
burg, 1840 in Boulogne ver- 
sucht, die Franzosen mit sich 
fortzureißen und sich Frank- 
reichs zu bemächtigen? 

Romantisch dieser Kö- 
nig von Bayern, der die 
Staatsverbrecher vor seinem 
Bilde Abbitte tun läßtl 
Romantischer noch dieser 
Preußenherrscher, der die 
Wünsche der Zeit mit 
tönenden Worten erfüllen 
zu können meint, der das 
Rittertum ernst nimmt und 
den Schwane norden stiftet 
zum ritterlichen Kampfgegen 
Armut, Elend und Not! 
Ein Romantiker pur sang, 

dieser Friedrich Wilhelm IV., Gavarm, Maske aus: La Mode, . 

— 45 — 



Kaiser, Der chiniüsche Turm in München Lilkagrafhii 

der mitten im 19. Jahrhundert an das Gottesgnaden tum seiner 
Krone, an eine persönhche Verantwortlichkeit für sein Volk 
glaubt ! 

Aber die Könige empfanden ja nur wie ihre Völker, geht 
doch die Romantik wie eine Seuche durch das Land und ver- 
blendet hoch und nieder. Wie könnte man sich sonst die 
Kaspar Hauser-AtFäre erklären? Am Pfingstmontag 1828 er- 
scheint ein oberbayerischer Bauembursche in Nürnberg mit dem 
Wunsch Soldat zu werden. Es ist an seiner Erscheinung nichts 
AufTälliges, an seinem Auftreten nur die Schüchternheit eines 
Ungewandten bemerkenswert, allenfalls die Verlegenheit jemandes, 
der etwas zu verbergen hat, und um diesen armseligen Kerl bildet 
sich plöt/.lich eine Legende, abenteuerlicher und phantastischer, 
als sie der schauerlichste Hintertreppenroman je hätte aushecken 
könnenl Den einfältigen Bengel treiben Juristen wie Feuer- 
bach, Philosophen wie Daumer in ein Lügengewebe hinein; 
das ihn zum »Opfer greuelvoller elterlicher Unnatur« und durch 
einen Zeitungslärm ohnegleichen zum »Kind von Europa« machtl 

— 46 - 



Gremer, DU F^nHensfrfuitdmnen 

Englische Lords und ungansche Graren nehmen sich semer an 
und bald bleibt keine vornehme Familie mehr von den Zu- 
mutungen derer unbehelligt die in Kaspar einen Prinzen, am 
liebsten den Thronerben Badens sehen mo(,hten Das Urteil 
des einzigen, welcher der 'stimme der ^ ernunft Gebor gibt, 
(eines Berliners natürlich) des Polizeirats Merker, wird totge- 
schwiegen, bis endhch auch m den Beschützern des Burschen 
Zweifel erwachen und der arme Schelm bei wiederholten Ver- 
suchen, durch fingierte Attentate das geschwundene Interesse 
neu zu beleben suh aus Versehen etwas zu tief sticht und 
zur großen Erleichterung seiner Gönner 1833 diese Zeit mit 
einer besseren Ewigkeit \erwechselt 

\\ er kann die Entstehung dieser ganzen Tragikomödie auf 
etwas anderes, als auf die Grundstimmung dei Romantik zurück- 
fuhren, welche in der Zeit lag' Wer erkennt etwas anderes 
in dem Auftreten des Spandauer Uhrmachers Naundorff, der, 
ohne ein Wort Französisch zu verstehen, im Mai 1832 in Paris 
als der aus dem Temple gerettete Dauphin auftritt und Gläu- 
bige m Scharen findet; Gläubige, die sich auch dadurch nicht 



A'iw/ (nach Gaiiomi), Im Pari van Montmsrency 



Maurin, Dir Sprung übir den Bach 



beirren lassen, daß alsbald die Antecedentien des Mannes, 
Zuchthausstrafen u. dgl. an den Tag kommen! 

Wenn sich in diesem Fall Mitglieder des höchsten fran- 
zösischen Adels düpieren lassen, wer will es dann dem welt- 
fernen, alten Fräulein in Charlottenburg verübeln, daß sie sich 
1835 — 36 durch eine Schwindlerin ihr ganzes bedeutendes Ver- 
mögen ablocken läßt, weil der König und die Fürstin RadziwiU 
in Geldverlegenheiten seien und Geld brauchten?! Eine Farce, 
die durch die Art, wie die Schwindlerin das Geld in Berlin 
mit vollen Händen vertan hatte und durch die vor Gericht 
produzierten angeblichen Briefe des Königs und seiner Cousine, 
die im gemeinsten Berliner Deutsch abgefaßt und unortho- 
graphisch geschrieben waren, seinerzeit die größte Heiterkeit 
erregte. 

Nur das Bedürfnis nach Romantik machte den feigen 
Raubmörder Lacenaire zum dichtenden Uebermenschen und er- 
laubte einer hysterischen Lügnerin, wie Maria von Morell, einem 
mauvais sujet, wie La Ronciere, Gerichtshof und Publikum mit 
der Groteske ihres Prozesses zu beheUigen. 

In einer Zeit, wo Handel und Industrie das Leben füllen, 
der Kaufmann und der Fabrikant das große Wort fuhren, Geld, 
Geld, und immer wieder Geld das einzige Schibboleth des Heils 
ist, wo der Gegenwart jeder romantische Zug fehlt, da erscheint 
es der Sehnsucht, als habe alle Schönheit sich in die Ver- 
gangenheit geflüchtet und nur in ihr, die man ja nur ober- 
flächlich kennt und sich daher um so herrlicher denken darf, 
sucht man die Ideale, große Taten, edle 
Menschen, Würde des Daseins. L^nd siehe 
da, der Augenblick, der das Bedürfnis 
zeitigt, bringt auch seine Erfüllung in 
Walter Scott. 

Deutschland hatte seinen historischen 
Roman seit einer Generation, aber die 
plumpen und literarisch wertlosen Bücher 
einer Benedikte Naubert, eines K. H. Spieß, 
eines Chr. Vulpius hatten ihre Leser doch 
vor/ugsweisc in der Küche suchen müssen, 
ei*st die liebenswürdige Er/ählerkunst des 
großen Schotton befriocligte die Ansprüche 
einer gebildeten Leserwelt. 18 14 war 




— 50 — 



1830 

La Mode, Pa' 



Noel, naih Gavatni, Dir Spaziergang 

Waverley erschienen und schnell folgten 1820 Ivanhoe, 1821 
Kenilworth, 1823 Quentin Durward, alle von einem beispiel- 
losen Erfolg getragen. Hier erschien zum ersten Male die Welt 
der fahrenden Ritter, der Troubadoure und der Schloßfrauen, 
der Schauplatz hochgetürmter Burgen, geheimnisvoller Klöster 
mit einer Anschaulichkeit dargestellt, mit einer Sachkenntnis 
wiedergegeben, welche die Leser hinrissen, und da der Erzähler 
ein Dichter war, der seinen Charakteren Wahrheit, seinen Men- 
schen Blut und Wärme mitteilte, so war die Wirkung, die er 
ausübte, ungeheuer. In aile Sprachen wurden die Scottschen 
Romane übersetzt, Ausgaben, Nachdrucke, Uebersetzungen drän- 
gen sich, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat das 



I8si, April 
GoDomi La Mode, Paris 



Baralhie, Zefe vor dem Spiegel LUhogriifkie 

Publikum gar nichts anderes gelesen; an den Uebersetzungen 
von Walter Scott hat der Verleger Schumann in Zwickau, der 
Vater von Robert Schumann, ein hübsches Vermögen verdient. 
Und nicht genug damit: die Bühne bemächtigte sich sofort 
dieser dankbaren Stoffe, 1823 geht in Berlin Kenilworth als 
Schauspiel über die Bühne, 1827 wirbeln der verführerische 
Leicester, die schöne Amy, Elisabeth und Maria in Neapel 
als Ballett über die Bretter und die Librettisten von Aubers 
»Leicester«, Rossinis »Donna del lago«, Marschners »Templer 
und Jüdin« u, a. haben dem Erfolg der Komposition durch die 
Popularität ihrer Sujets vorgearbeitet. 

Mit Vorliebe entnimmt die gute Gesellschaft die Vorwürfe 

- 55 — 



i83r 
La Mode, Parti 



Maurin, Eilt srra aussi JDÜe gut toi 

ihrer großen Kostümfeste dem Kreis der allen so vertrauten 
Gestalten Walter Scotts. i8z6 werden auf einem Ball bei 
Sir Henry Wellesley, dem englischen Gesandten in Wien, die 
Quentin Durward, Ivanhoe, Leicester, Elisabeth, Amy Robsart 
lebendig, dargestellt von dem höchsten Adel der österreichischen 
Monarchie, von Erzherzoginnen, Prinzessinnen, Fürsten und 
Grafen, wie der Berichterstatter meldet: mit unerhörter Pracht 
und einem unermeßlichen Reichtum von Juwelen. 1827 ver- 
körpert in München das Maskenfest des Hofes den Ivanhoe, 
1835 greift man zu Quentin Durward. Die Damen tragen Amy 
Robsart Atlas und ein erfinderischer Greisler in Berlin verkauft 
i8z6 Walter Scott-Grütze, die Metze für zehn Silbergroschen. 



In ernsthaften Wettbewerb um die Gunst des Publikums 
traten in Deutschland mit Walter Scott nur der Baron de la Motte 
Fouque, Willibald Alexis und Karl Spindler, der, heute ganz ver- 
gessen, damals mit seinen Romanen : Der Jude, Der Jesuit, seine 
Leser in Spannung hielt. Ihrer historischen Breite mischte 
Henriette von Paalzow, die einst hochgefeierte Verfasserhi von 
Godwie Castle, St. Roche und anderer Bücher ein Element 
fraulicher Behaglichkeit, die ihre Werke in alle Salons, in alle 
Hände führte, bis der scharfe Zug der vierdger Jahre nach 
kräftigerer Literatur verlangen ließ. 

Bis dahin hatte der Roman vor der Ehe gespielt und 
endete unweigerlich im Augenblick, da die Liebenden sich 
kriegten, nun reißen die George Sand, die Gräfin Hahn-Hahn 

^ 59 — 



den Vorhang, der bei der 
Eheschließung fiel, wieder auf 
und zeigen, daß in diesem 
Moment das Glück nicht be- 
ginnt, sondern, daß es zu 
Ende ist; sie zeigen, daß die 
Ehe unerfreulich, unglücklich, 
bestenfalls langweilig ist, daß 
die Ehe der Tod der Liebe 
ist und daß sie, erst von 
dieser Fessel befreit, zur 
* wahren, zur freien Liebe wird. 
l Die große Leidenschaft 

ist die Sehnsucht der Frauen 
aller Klassen, von ihr ver- 
langen sie, daß sie dem Le- 
ben Wert und Bedeutung gebe. 
Das erste Kaiserreich hatte 
in der Liebe nur die sinnhche 
Befriedigung gesehen, nun 
aber bedeutete sie nicht mehr den vorübergehenden Genuß, nem, 
sie solhe das ganze Dasein mit ihrem Gehalt erfüllen, sie mußte : 
romantisch sein, Opfer der Liebenden nehmen wie bringen. Rang 
und Stand, Gatte und Kinder, Vermögen und Ruf galten nichts 
mehr, wenn die Liebe rief und die Gestalten, welche die Dicht- 
kunst in diesem Sinn handeln ließ, lebten nicht nur im Roman. 
Faustine, die berühmte Heldin der Hahn-Hahn, verläßt nach- 
nder aus unbefriedigter Sehnsucht drei Männer, aber was 
das gegen die schöne Lady Ellenborough, die, nachdem 
sie fünf Europäer geheiratet und verlassen hatte, zum sechsten 
;nen Scheich der arabischen Wüste erkor ! Was waren alle 
Abenteuer der Romanheldinnen gegen die Wirklichkeit ! 

Die Gemahlin Christian VIII. von Dänemark, Charlotte 
Friederike von Mecklenburg, verliebt sich in ihren französischen 
Musiklehrer, wird en flagrant delit ertappt, nach Jütland ver- 
bannt und stirbt nach einem der Liebe geweihten Leben als 
barmherzige Schwester im Kloster Hospital in Rom ; die Gattin 
Georg IV., des ersten gentlcman von Europa, abenteuerte mit 
dem schönen Italiener Bergami an allen Küsten des Mittel- 
meeres umher und errötet nicht, die intimsten Details ihrer 



i83t, Juli 
La Mode, Paris 



Mildi, Paslor Kaulenbttg und dit Seinen. iSjj Hamburg, Kunslhalle 

Einsamkeit zu zweien i8zo in einem skandalösen Prozeß der 
ganzen Welt bekannt zu geben; die Herzogin von Berry be- 
zahlt ihre Leidenschaft mit dem Opfer ihres Rufes, mit der 
Kompromittierung der Zukunft ihres Sohnes. 

Die Liebe, die sich über Standes Vorurteile hinwegsetzt, 
achtet auch keinen Altersunterschied : Goethe entflammt als 
hoher Siebziger für Ulrike von Levetzow, Friedrieb von Gentz 
ist ein Greis und dem Tode nahe, da schlägt Fanny Elssler 
sein Herz in Fesseln; die Fürstin Dorothea Lieven ist eine 
Fünfzigerin, als sie die große I,eidenschaft für den ebenso alten 
Guizot erfaßt. Was hätte ein Romancier wohl erfinden können, 
was ebenso romantisch gewesen wäre, als die Tat der unglück- 
lichen Charlotte Stieglitz, die sich in den Weihnachtstagen 1834 



sie hoffte, dies Un- 
glück werde ihren 
heißgeUebten Mann, 
den mittelmäßig be- 
gabten Dichter Hein- 
, rieh Stieglitz, zu 
einem großen Werk 
begeistern 1 Constan- 
ze Mayer schnitt sich 
im Mai 1821 den 
Hals ab, verzweifelnd 
an der Liebe ihres 
Meisters Prudhon 
und Leopold Robert 
war auf der Höhe 
seines Ruhmes, da 
erschoß er sich 1835 
in Venedig aus un- 
glücklicher Liebe zu 
einer Prinzessin Bo- 
naparte. 

Und was die 
Autoren nichtschrie- 
iSjo U Modt ben, das lebten sie, 

die glühende Seele 
der George Sand strömt nicht durch ihre Bücher allein, sie 
bedarf der Liebe, gleichviel ob Chopin oder Alfred de Musset 
oder ein anderer das Objekt ist; die Gräfin d'Agoult verläßt 
Mann, Kinder und Stellung, um Liszt zu folgen; die Gräfin 
Hahn bezaubert Männer, wie Heinrich Simon, wie Baron 
Bystram nicht vorübergehend, sondern für eine Lebenszeit, bis 
an ihren Tod können sie nicht wieder von ihr lassen, von 
einer Frau, die eher häßlich ist als schön, und die nichts 
anderes zu geben hat, als ihre Seele. 

Wer von allen aber, die damals die Feder geführt haben, 
lebte mehr das Leben seiner eignen Werke, war mehr Don 
Juan, mehr Manfred, als der Dichter Lord Byron selbst ? Schön, 
jung, reich, vornehm, genial, schien die Natur ihm überhaupt 
nichts versagt zu haben, um ihn zum Abgott seiner Zeit zu 

~ (,2 — 



machen, 
einer Zeit, 

die in ihm 
geradezu 
verkörpert 
erscheint. 
AUeBedin- 

gungen 
eines glän- 
zenden 
Daseins 
auf den 
Höhen des 
Lebens 
scheinen 
ihm gege- 
ben und 
doch irrt 
er, wie ein 
Geächte- 
ter, in der 

Fremde 
umher und 
strömt aus 



1 

I 

3 



nem Her- 
zen wie an DevMa, to Uhr; am : La joumie dt la Pariskimt 
geheimer 

Wunde verblutend, Schmerz und Verzweiflung in Dichtungen von 
hinreißendem Feuer und blendender Schönheit aus. Schwermut 
und Lebensüberdruß ohne Hoffnung und ohne Sehnsucht füllen 
seine Seele, füllen sein Lied; sein Leiden ist unheilbar denn sein 
Leiden ist das Leben. Wie in einem Spiegel bhckte die Zeit in 
seine Dichtung, keiner vor ihm hatte die Disharmonien der Natur 
und des I,ebens so gewaltig empfunden, so ergreifend besungen ; 
dem Weltschmerz ganzer Generationen lieh er den hinreißend- 
sten Ausdruck und war den Zeitgenossen unwiderstehlich, denn 
er sagte, was sie alle fühlten oder wenigstens zu empfinden 
glaubten, konnte doch Fürst Mettemich ganze Gesänge des 
Childe Harold auswendig 1 

- 63 - 



Deveria, 4 Uhr ,' aus : La joumit dl la Parisitnnt 

Der' Weltschmerz wurde Mode, die Schöngeister spielten 
die zerrissenen Seelen ; in Dichtung und Kunst kehren die 
Urnen und Trauerweiden, die einsamen Gestade des Meeres 
und die stillen Kirchhöfe zurück, wie einst in den Zeiten der 
Weither und Siegwart, als die Großväter für Ossian schwärmten. 
Wirklich Tiefempfindenden hat der Weltschmerz jener Jahre 
das Herz gebrochen; Daniel Leßmann gab sich 1831 den Tod, 
Nikolaus Lenau endete im Irrenhaus — der Mehrzahl blieb 
er eine Modesache, rasch genug von anderen, stärkeren Sen- 
sationen verdrängt. 

Und diese boten den gröberen Instinkten der großen 
Masse die Franzosen, Alexandre Dumas, Victor Hugo. Jener 
ein flotter Routinier, der mit überlegener Kunst tind nie er- 



lSS2 

Aus: Gavarm, Physionomie de la population de Paris 



Deveria, 3 Uhr; aus: La joiimie dt la Parisienm 
Porträt der Sängerin Maiibran 

lahmender Phantasie seinen glänzenden historischen Schilde- 
rungen ein starkes Element der Sinnlichkeit beimischt, wird 
sofort der I.iebhng des großen Publikums; dieser, ein wirklieber 
Dichter, trägt mit seinen von Leidenschaft zitternden Schöp- 
fungen die Revolution in die Literatur und auf die Bühne und 
spielt 1831 mit seinem gewaltigen Roman Notre Dame de Paris 
die letzten Trümpfe der Romantik aus. Mit diesem Werk, 
das an wilder Phantasie nicht seinesgleichen findet, hatte die 
Romantik ihr letztes Wort gesprochen. Die Zeit hatte sich 
auf sich selbst besonnen, die Juli-Revolution ein neues Ge- 
schlecht zur Geltung gebracht, ein Geschlecht, das sich selbst 
genügte und mit Wonne und Behagen das Raffinement seiner 

- 6S - . 



np 



TTTT 



Dn/eria, Abends; ans: La journct di ta l 



M 



Kultur, seines Le- 
bens, seines Herzens 
in den Gesellschafts- 
romanen Balzacs 
genoß. 

Die radikale 
Opposition aber, die 
1830 zu Wort ge- 
Menut, Der Hamtaierlier langte, deren Führer 

Mit Ge«rb«,ie^«e ™, E. A. s.,«,anH, Läfxig in Deutschland Hein- 
rich Heine und das junge Deutschland, Gutzkow, Laube, Prutz 
u. a. waren, befehdete schontingslos eben diese Gesellschaft mit 
allen Waffen von Hohn und Spott und, wie politisch in dem 
Augenblick, da der dritte Stand sich anschickt, am gedeckten 
Tisch Platz zu nehmen, der vierte sich erhebt, um ihm diesen 
streitig zu machen, so erhebt sich auch literarisch der Proletarier 
gegen den Bourgeois; Eugene Sue breitet in seinen »Gemälden 
aus der schmutzigen Welt« das Elend, die Armut und alle 
Greuel und Laster der Enterbten vor den schaudernden Blicken 
des satten Philisters aus, George Sand wütet in jeder Zeile, die 
sie schreibt, gegen Gesetz und Herkommen, gegen Staat, Kirche 
und Gesellschaft. 

Den gleichen Weg wie die Literatur geht das Theater. 
Die grausigen Seh icksalstragö dien eines Müllner, eiiies Grill- 
parzer beherrschen die Bühne zu derselben Zeit, als Webers 
romantikgesättigter Freischütz 1821, Marschners gespenstischer 
Vampyr 1828 ihre 
Premieren erleben. . 
^Vährend in Deutsch- " 
land, namenüich in 
Berlin, die ledernen 
Hohenstaufentragödi- , 
en Raupachs das Be- . 
dürfnis nach dramati- 
sierter Geschichte in ' 
endloser Langeweile 
begraben, entzündet 
dagegen in Frankreich 
das historische Stück, . 
durchglüht von der Mannier, Bei ifm Modistinnen 



iSsS' Dezember 
Journal des Gens du Monde, Paris 



leidenschaftlichen Gegenwart die Ge- 
müter; an dem Feuer, das in Vik- 
tor Hugos Dramen aufflammt, ver- 
brennt die romantische Jugend die 
akademischen Ideale des Alters; 
Aubers schwungvolle Musik tönt 
wie die Fanfaren der Revolution, 
gibt doch auch die Aufführung der 
»Sturamen von Porticit 1830 in 
Brüssel das Signal zum Aufstand. 

Zu gleicher Zeit sorgt Scribe 
mit Bühnengewandtheit für die literarischen Ansprüche des ehr- 
baren Bürgertums und eine Fruchtbarkeit ohnegleichen sichert 
ihm die Vorherrschaft in allen Theatern Europas, er ist jahre- 
lang der meist gespielte Autor, in seinem Besitzstand auf deutschen 
liülmen nur durch die Birch -Pfeiffer bedroht, die 1828 das erste 
ihrer so erfolgreichen Stücke auffuhren läflt. 

Für die namenlose Menge aber entsteht im Melodrama 
ein neues Genre, die Dichtung, die ihre Effekte mit Musik 
unterstreicht, die das Schauerliche mit dem Rührenden, blut 
rünstige Roheit und engelgleiche Unschuld, vornehmes Ver- 
brechertum und Kleineleut-Tugend zu einem sentimentalen Brei 
verrührt, der, mit Gesang und Tanz garniert, vom Volk ver- 
schlungen wird, mundet er doch seinen zwischen starken Kon- 
trasten schwingenden Instinkten. In dem Jahre, als Notre 
Dame de Paris erscheint, feiert auch die Romantik auf der 
Bühne einen gleich beispiellosen Erfolg: Meyerbeer läflt 1831 
in der Pariser Großen Oper »Robert der Teufel« aulTühren, 
ein Werk, ilas alles in Schatten gestellt hat, was er früher ge- 
schaffen, und dessen Melodien, ebenso wie die der 1836 erst- 
mals gespielten Hugenotten, Jahre hindurch Gemeingut der Ge- 
bildeten wie Ungebildeten wurden, die »Gnadenaries trug der 
Leierkasten in das entlegenste Hinterhaus! 

Aber hinter dem brillantesten Vertreter der romantischen 
Musik steht schon der Prophet einer neuen Kunst, der Ver- 
künder einer neuen Zeit ; in den Jahren, da Meyerbeers Opern 
ihren Triumphzug durch die Welt halten, schafft bereits Richard 
Wagner! 1843 erscheint der »Fliegende Holländer« in Dresden 
und beginnt im Bruch mit Tradition und Herkommen den 
Krieg, dessen Getöse eben erst verhallt ist. 



Aus den romantischen Aspirationen nach den Idealen ver- 
gangener Zeiten atmete gewissermaßen das Unbehagen einer 
Gesellschaft, die sich in neue Verhältnisse nur schwer und 
widerwillig finden konnte. Die Ferne der Völker und Zeiten 
erschien so verlockend, weil die Nähe so nüchtern, das Ge- 
fühlsleben der Vorzeit so romantisch, weil die Gegenwart so 
prosaisch war; das bürgerliche Leben der Alten und Verstän- 
digen wandelte bedächtig auf der goldnen Mittelstraße; die 
Jungen aber und die Genies haßten das Ziel dieses Weges, 
die Nützlichkeit. Romantisch war die Jugend, gut bürgerlich 
das Alter, jene riß das Herz fort, dieses hielt der Verstand 
fest und die Alten und Verständigen waren stets die Mehrheit. 
Ein stark bürgerliches Element wiegt in der Gesellschaft 
der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahr- 
hunderts vor und bildet den Grund, die solide Basis, auf 
der sich die Romantik im Leben, Poesie und Kunst entwickelt, 
wie phantastische Arabesken sich um einen langweiligen Text 
schlingen. Wenn die Dichter und Künstler in die Ferne schweifen, 
um ihre Seelen an den Bildern vergangener HeiTlichkeit zu 
berauschen, so fliegen sie nur dem Gelehrten voran, der ihnen 
auf dem Fuße folgt, um das Gebiet, das sie entdeckten, plan- 
mäßig und gründlich zu erforschen. So haben die Jahre, die 
ästhetisch das Mittelalter auf den Schild hoben, auch die Ge- 
lehrten hervorgebracht, die der Geschichtsschreibung die Wege 
wiesen. Raumer, Ranke, Giesebrecht, veröffentlichen ihre Studien 
in den gleichen Jahren als Scott, Alexis, Fouque, Raupach u. a. 
dichten, Lessing, Delacroix malen. Meyerbeer, Auber, Rossini 
komponieren. Der Genius streift flüchtig dieses oder jenes 
Gebiet des Wissens, der Pedant erforscht sie sämtlich syste- 
matisch und so wird der Zeit, die das Vielwissen höher schätzt 
als Vorzüge der Geburt und Bildung, das Konversationslexikon 
zum Inbegiiff der letzten Vollkommenheit und zum unentbehr- 
lichen Hausrat, notwendiger als die Badewanne. Brockhaus 
und Meyer lassen ihre Lexika entstehen und ernten einen Er- 
4^ ^j^ folg, der immer neue und neue Auflagen 

erfordert und dessen Treibhaustemperatur 

die Pläne der Verleger zu gigantischer Größe 

^l^Q^jmiyj^j^ steigert; Brockhaus beginnt die Encyklo- 

pädie von Ersch und Gruber in einem 
solchen Maßstab, daß sie nach 90 Jahren 




noch nicht beendet ist, Meyer spiegelt in seiner 
50 bändigen Ausgabe das gesamte Wissen 
seiner Zeit. 

Ein pedantischer Zug haftet mit Notwen- 
digkeit einer Zeit an, in der ein Louis Philipp 
auf dem markantesten Thron Europas sitzt, ein 
sBürgerkönigs, der Schulmeisier gewesen war 
und auch als Kronenträger noch blieb. Auf 
seiner eigensten Schöpfung, dem Museum in 
Versailles, hegt wie ein Frost die Systematik 
einer pedantischen Idee, das Lehrhafte, Er- 
zieherische, das er zum ersten Male mit dem 
Begriff Kunst verbunden hat. Wenn derselbe 
Mann mit dem Regenschirm spazieren geht, seine acht Kinder 
in städtischen Schulen erziehen läßt und öfFenthch Tränen der 
Rührung über ihre Erfolge und gewonnenen Preise weint, so 
dokumentiert er den gleichen spießbürgerlichen Sinn, wie ihn 
auch Friedrich Wilhelm IIL von Preußen, wie Kaiser Franz Ihn 
zur Schau trugen. Ist es nicht der Geschmack eines Parvenü, 
wenn Ferdinand VII. von Spanien die alten Bilder ans seinen 
Palästen entfernt, um sich modern mit Pariser Tapeten, Möbeln 
und Uhren einzurichten ? 1 Wittert man nicht die Stubenlufl der 
Philister, wenn man hört, daß ein sächsischer Prinz Dante über- 
setzt und kommentiert, eine sachsische Prinzessin bürgerliche 
Komödien schreibt, ein sächsischer König Botanik studiert, oder 
ein König \on Ba)era nicht nur Gedichte macht, sondern sie 
sogar drucken laßt'' Der letzte 
Wasa-König zieht als Prozeßhansl 
in der Welt umher und quengelt 
und queruliert wie em Silzstoßler, 
dessen Rechnung zu hoch gefun 
den wird. 

Die '%ucht, aufzufallen, der 
Wunsch, bemerkt zu werden, ist 
ein Kennzeichen des Roturiers 
und doch — welch anderer Grund 
veranlaßt den Fürsten Pückler, mit 
gezähmten Hirschen in Berlin spa- 
zieren zu fahren, stundenlang Un- 
ter den Linden im Wagen sitzend 



ein Buch zu lesen oder andere Extravaganzen zu treiben. Nur 
der Wunsch, sich in Szene zu setzen, erklärt die Memoiren, 
die seit Beginn der zwanziger Jahre wie eine Sündflut herein- 
brechen, Denkwürdigkeiten, in denen Könige, Kammerzofen, 
Feldherren und Feldjäger sich wichtig machen und mancher 
und manche, wie Frau Junot, um so mehr schreiben, je weniger 
sie zu sagen haben. Man fürchtete, in der Masse unterzugehen 
und rührte sich, um zu zeigen, daß man jemand war, nicht 
nur der erste beste Biedermann. 

Die bürgerliche Gesellschaft setzte dem Adelsstolz der 
Aristokraten ihre »Bürgertugend« entgegen, doch mochten die 
Bürger immerhin, wie echte Pharisäer, die Tugend für sich 
allein in Ansprach nehmen, es ging ihnen damit wie Joseph mit 
Potiphars Frau: es bheb ihnen wohl die Bewunderung, aber auch 
die LächerUchkeit. Niemand wollte dazu gehören, jedermann 
etwas Besseres sein, so wurde der Begriff: boui^eois zum 
Schimpfwort und Louis Philipps geflügeltes Wort vom: juste- 
milieu zur Bezeichnung der Mittelmäßigkeit. 



Meatil, Der Beamte 



Die Tendenz des literiiri sehen Geschmacks, wie des wissen- 
schaftlichen Studiums, immer in die Vergangenheit zu bhcken, 
verdichtet sich im Betrieb der bildenden Kunst zu einer Formel 
von kategorischer Strenge, sie lautete: das Alte ist immer schön, 
das Neue immer häßlich; der Künstler darf nur das Schöne 
darstellen, also muß er sich von der Gegenwart abwenden, sie 
ist der »hohen« Kunst nicht würdig. Schon der Begriff »hohe« 
Kunst ist ein bis dahin nicht gebräuchlicher und deulet an, daß 
die Kunst sich in einer neuen Position befand, neu und schief. 

Bis zum Ende des i8. Jahrhunderts hatte die Kunst fUr 
eine aristokratische Gesellschaft geschaffen, in deren Dienst sie 
nicht nur Schlösser und Kirchen mit Malereien und Skulpturen 
schmückte, sondern auch Möbel und Geräte verzierte, und der 
hochkultivierte Geschmack einer seit Generationen besitzenden 
und genießenden Aristokratie hatte beispielsweise die Bronzen 
Gouthieres oder Caffieris, die I-ackarbeiten eines Martin, die 
Möbel von Boulle, Riesener u. a. nicht geringer geschätzt, als 
die Gemälde Watteaus oder Bouchers, die Skulpturen von 
Coyzevox oder Clodion. Der Künstler hatte zum Handwerk 
gehört, der Wertung seiner Arbeit aber hatte das keinen Ein- 
trag getan. Das hatte sich inzwischen gründlich geändert. Wir 
haben schon im ersten Bande erzählt, daß Kunst und Küiistler 
eben infolge ihrer Tätigkeit für die ci-devants den Bürgern 
strenger Observanz stark verdächtig waren, und daß sie es nur 
David verdankten, wenn sie geduldet wurden. Aber gerade 
indem David versprach, daß die Kunst sich von nun an nur 
noch mit der Darstellung von Heldentum und Bürgertugend 
beschäftigen werde, war er es, der ihr einen falschen Weg wies 
und ihr Aufgaben stellte, die mit dem eigentlichen Wesen der 
Kunst nichts oder nur wenig zu tun haben; gerade an diesen 
aber hielt die Bourgeoisie fest, nicht mehr um ihrer selbst willen 
war die Kunst da, sie hatte höheren Zielen nachzustreben. 



j8ji La Mode 

Zwecten zu gehorchen, die viel mit Erziehung, Bildung, Patrio- 
tismus, aber wenig mit Kunst gemein hatten. 

Von nun an ist es eine stehende Phrase im Schrifttum 
und Gespräch: »die Kunst soll doch . . .«, »die Kunst muß 
doch . . .■!. und erst die Enkel der Generation von 1830 haben 
mit ihrem Protest gegen das Sollen und Müssen die Kunst aus 

- 78 - 



Toilelte negUget La Mode 

der dienenden Rolle in welche die Großvater sie gewiesen, 
betreit und sie wieder zur Herrbcherm gemacht. Das Bürger- 
tum besiß kern inneres Verhältnis zur Kunst und ihren Werken, 
ein Mangel der m der Pflege die von nun an der Kunst zu- 
teil wird seinen prägnanten Ausdruck findtt Im Leben ist 
kein Rium für sie also bekommt mc em Piltzchen für sich: 

— 79 — 



das Museum. Aus Kirchen, Klöstern, Schlössern werden die 
Werke der alten Meister zusammengeschleppt, von den Plätzen, 
für die sie geschaffen, für die sie in ihrer Wirkung berechnet 
waren, entfernt und kaserniert, um der allgemeinen Dienst- 
pflicht im Fache des Unterrichts zu genügen. Man nimmt ihnen 
das Intime und Persönliche, wie man den Rekruten die Indi- 
vidualität abstreift und wie diese in die Zwangsjacke der Uni- 
form, steckt man sie, der alten echten Rahmen beraubt, in 
schön gleichmäßige, breite Goldleisten und in der spiegelnden 
Proprete des neuen P^imisses, in dem Kommiß eines einheit- 
Hchen Galerietones nehmen sie Parade au fstellung auf den Ge- 
filden der Kunstgeschichte, ungenießbar durch den aufwirbeln- 
den Bücherstaub der neuen Wissenschaft. 

Der gleiche Museumsgeruch der Langeweile liegt über den 
Werken der damals lebenden Künstler, welche, von Kritik und 
Publikum genötigt, das Gebiet ihres Schaffens in das Ideale 
verlegen mußten. Nur große und erhabene Taten im fernsten 
Altertum waren würdige Stoffe, und den darstellenden Menschen 
mußte in einem Reinigungsbade alles Menschliche, jeder indi- 
viduelle Zug genommen worden sein, um sie zu einer unper- 
sönlichen abstrakten Idealschönheit zu erheben. Wen die Kritik 
loben, das Publikum bewundern sollte, der mußte dem wirk- 
lichen Leben mit all seinen Aeußerungen, wie es sich in Haus 
und Gasse vor den Augen der Menschen abspielte, weit aus 
dem Wege gehen, noch weniger aber durfte der Künstler sich 
einfallen lassen, etwa für das wirkliche praktische Be^iürfnis 
etwas schaffen zu wollen. Nur die Historienmalerei war große 
Kunst, auf allem anderen lag der Makel des bloßen Kunst- 
handwerks, als hätte das Bürgertum die hohe Kunst, um sie 
besonders zu ehren, gar nicht weit genug von sich entfernen 
können. 

Aus dieser Zeit stammt auch die Auffassung, welche im 
Künstler ein Wesen von ganz besonderer Art sieht, nur mit 
»seiner Kunst« beschäftigt und nur vom Ideal lebend, wie mit 

innerer Notwendigkeit in einem feind- 
lichen Gegensatz zu seiner Umgebung 
und zu seiner Zeit stehend. Diese Auf- 
fassung kennzeichnet sich sehr ergötz- 
lich in dem Streit, der in den dreißiger 
-**• Jahren unter deutschen Kunstgelehrten 

— 80 — 



f^imi 



SUltr, Marcktsa Flortnti aus der tSchön- Kgl. Knidtni. MUnclum 

hiiltagaltrin 



über die Frage ausbrach, ob die alten Meister, Dürer, Holbein u. a. 
ihre Holzschnitte eigenhändig in den Stock geschnitten hätten 
oder nicht. In dieser an und für sich sehr unwichtigen und 
darum mit großer Heftigkeit geführten querelle allemande führten 
die Gegner der Eigenhändigkeit als Hauptargument an, daß eine 
derartige, rein handwerkliche Tätigkeit der alten Künstler unwürdig 
gewesen wäre, und daß sie es deshalb sicher nicht getan hätten. 
Indem man den Künstler so weit vom Handwerker distan- 
zierte, übersah man dann auch willig, wenn der Lebende das 
Handwerkliche seiner Kunst nicht verstand; wenn ein Maler 
nur gut zeichnete und tiefe und große Ideen in seinen Bildern 
zum Ausdruck, zu bringen trachtete, so hatte er nicht nötig, 
mit der Farbe umgehen zu können. Die gefeiertsten deutschen 
Maler der Zeit, die Antipoden Cornelius und Kaulbach, konnten 
denn auch beide nicht malen, ja, Cornelius hat sich aus diesem 
Mangel einen Vorzug gemacht, er verachtete die Farbe und 
überließ das Malen und in die Farbe bringen seiner Kartons 
völlig selbständig seinen Schülern. Man sah nur auf den In- 
halt; je lehrhafter derselbe war, je mehr er sich an Wissen und 
Bildung des Betrachtenden wendete, um so willkommener war 
er, um so vollendeter erschien seine Kunst. So erklärt es sich 
denn auch, daß zu derselben Zeit, als der historische Roman, 
das historische Drama den Hterarischen Markt beherrschten, die 
Geschichtsschreibung die Vergangenheit durchwühlte, auch die 
Historienmalerei in höchster Blüte stand. Sie setzte Kenntnisse 
voraus, was der Eitelkeit schmeichelte, sie unterhielt zugleich 
durch anekdotische Züge, blendete das Auge durch die präch- 
tigen Effekte der Ausstattung und wirkte, da sie die ganze Skala 
der Empfindungen von bloßer Neugierde bis zum wollüstigen 
Schauder des Entsetzens beherrschte, anregend auf die Nerven. 

Die Generation von 1 830 
fand in der Historienmalerei 
alles, was sie von der Kunst 
verlangte: Belehrung für den 
Verstand, Romantik für das 
Gemüt; so ist es auch kein 
bloßer Zufall, daß Viktor 
Hugos Notre Dame, Meyer- 
beers Robert der Teufel und 
Delaroches Tod der Söhne ... ,.._ ... 



i834, /ww* 
Wiener Zeitscfin" 



Eduards demselben Jahre 1831 angehören, sie bezeichnen den 
Kulminationspunkt der Romantik. 

Der klassischen Richtung war damit der Todesstoß ver- 
setzt, David und seine Schule waren überholt und sanken in 
Vergessenheit; wer mit der Modeströmung nicht mitkonnte, wie 
der alternde Gros, wurde verhöhnt, was der Arme -sich so zu 
Herzen nahm, daß er 1835 freiwillig in den Tod ging. Es 
ist kein Wesensunterschied, der die romantische Geschichts- 
malerei von der klassischen im Sinne Davids trennt, nur die 
Mache war verschieden, nur ein Szenenwechsel ging vor. Man 
entsinnt sich aus der Selbstbiographie Ludwig Adrian Richters 
des komischen Entsetzens, mit dem der angehende Kunstjünger 
den Hergang der Komposition in der historischen Klasse der 
Akademie schüdert, wie ihn diese GUedermänner und Stoff- 
draperien angewidert; daran änderte sich nur, daß man lebende 
Modelle in die Kostüme steckte, ein lebendes Bild stellte und 
die Stoffe aus dem Mittelalter nahm, statt aus dem Altertum; 
die Delaroche, Wappers, Gallait spielten im übrigen ebenso 
Theater, wie ihre Vorgänger in der Gunst der öffentlichen 
Meinung getan hatten, sie wiesen durchaus in ihren Schöpfungen 
keine höheren künstlerischen Qualitäten auf, als diese, aber sie 
boten, was der Geschmack der Zeit verlangte, und dieser hob 
sie auf den Schild und führte ihre Werke im Triumph durch 
ganz Europa. 

Im Bild, im Buch und auf der Bühne herrschte das Mittel- 
alter, so kann man wohl aus ihnen den ästhetischen Geschmack 
der Zeit kennen lernen, sie selbst aber verbirgt sich, als hätte 
sie sich ihrer äußeren Erscheinung, der Form ihres Daseins ge- 
schämt. Nur im Porträt durfte die große Kunst sich der 
Menschen von dazumal annehmen, um sie darzustellen, wie sie 
gern gewesen wären, die Frauen idealisiert, die Männer in ihrer 
Wichtigkeit und Bedeutung gesteigert. So zeigt sie uns der 
Engländer Thomas Lawrence, der beliebteste Maler der vor- 
nehmen Welt, für den man in Wien ebenso schwärmte wie in 
London, und dessen Bilder uns die Gesellschaft festgehalten 
haben, wie sie der Nachwelt zu erscheinen wünschte; die Damen 
von ätherischer Leichtigkeit, Wesen, die sich in Schleiern und 
Wolken verflüchtigen, sie hängen mit dieser Welt nur gezwungen 
durch den Körper zusammen, ihre Seele gehört einer anderen 
Welt, in die sie sich eben erheben zu wollen scheinen. Ihre 

- 83 - 



Liiiistrkliinmg aus lAdam, pasi 
schmachtenden Bhcke, die weichen Rundungen 



•Sjo 



Hals und 
Busen, die das Gewand mehr zu zeigen, als zu verbergen liebt, 
beweisen allerdings hinlänglich, daß die Schönen gegen den 
Beifall der Irdischen doch nicht ganz unempfindhch sind. Wenn 
auch der gute Ton den Weltschmerz verlangt und sie nötigt, 
eine Verachtung der Freuden dieser Welt zur Schau zu tragen, 
so müssen sie wohl zugeben, daß diese Freuden ja leider sehr 
flüchtig sind, aber ihre schönen großen Augen, die lächelnden 
schwellenden Lippen überzeugen davon, daß diese Freuden 
doch auch sehr süß sein können. 

Die Männerwelt, die Lawrence darzustellen hatte, zeigt 
uns die Fürsten und Herrscher der Restauration, die Feldherrn, 
die zum Sturz des Korsen beigetragen hatten und die Diplo- 
maten, die sich auf den Kongressen in Wien, Karlsbad, I^ai- 
bach, Verona bemühten, alles ungeschehen zu machen, was sich 
seit 1789 ereignet halte. Etwas von der Schwächlichkeit dieser 
Generation haftet auch den Bildern an. Das oberste Prinzip 
dieser Menschen ist das Verbergen ihrer Gedanken ; so hat 
der Künstler sich begnügt, uns ihre Außenseite, elegant, vor- 
nehm, etwas weichlich, zu schildern, eine Gesellschaft, die zwar 
herrscht, der aber vor dem morgenden Tage bangt. 

Ein anderer 



Maler der vo 
nehmen Welt ji 
ner Zeit war dt 
Franzose G ( 



,rd, der schon 



;rNapoleonL 
seinen Ruhm be- 
gründet hatte. Im 
Wettbewerb mit 
David trug er im 
Bildnis über die- 






m^ 



sen einen augenscheinlichen Sieg davon, denn er verstand es, 
ohne unwahr zu sein, effektvoll zu schmeicheln, der Schön- 
heit liebenswürdige Anmut, der Würde weltmännischen Chic 
zu geben. 

Wie kein anderer aber w^ar Ingres der Maler seiner Zeit- 
genossen, von denen er mit Pinsel und Stift drei Generationen 
nacheinander festgehalten hat. Er hat mit dem Porträt des 
alten Bertin, des Verlegers des »Journal des Debats«, ein Bild 
geschaffen, welches die ganze Zeit vergegenwärtigt. Dieser so 
breitspurig dasitzende alte Herr ist der Repräsentant des tiers 
etat, wie ihn das große Jahr geschaffen, erfüllt von sich, bis 
zum Unangenehmen seiner Wichtigkeit bewußt. Seine Miene 
und Haltung verkünden, aus jeder Pore quillt die Ueberzeugung : 
der Staat, das bin ich; mir gehört die Gegenwart und die Zu- 
kunft! — Mögen Ingres' übrige Bilder trocken und ausgeklügelt 
sein, in seinen Porträts hat er das Leben zu bannen gewußt. 
Mit liebendem Verständnis ist er hier der Natur nachgegangen 
und hat das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft gepackt, so 
starrköpfig und zähe, wie die Männer, so tüchtig und korrekt, 
wie die Frauen waren. 

Diese Züge treten in seinen Zeichnungen noch leben- 
diger hervor, als in seinen Bildern, deren Wirkung durch eine 
kalte und spröde Farbe beeinträchtigt wird. In seinen Blei- 
stiftstudien schaffte der Künstler dagegen unmittelbar vor der 
Natur und er schreibt sie hin, wie er sie empfindet, erfüllt 
von dem intimsten Leben, das außer der körperlichen Erschei- 
nung auch etwas von dem Geiste der Menschen auf sein Blatt 
gerettet hat. Ueber seinen Familienbildern liegt eine Innig- 
keit, eine Stimmung der Weihe, die Liebe und Ernst des Fami- 
lienlebens wie einen Gottesdienst empfinden lassen. 

Deutschlands romantische Kunst empfing durch die ältere 
Düsseldorfer Schule ihre stärksten Akzente in einer rührseligen 
Sentimentalität, welche Lessing, Sohn, Bendemann u. a. mit 
weinerlicher Eleganz zur Geltung brachten, aber den Geschmack 
der Zeit in so hervorragender Weise trafen, daß Kritik und 
Publikum ihnen zujubelte und Graf Raczynski sie in seiner Ge- 
schichte der Kunst in den überschwenglichsten Tönen verherr- 
lichte. Bei ihnen, wie bei den Historienmalern, die, wie Kaul- 
bach in der Zerstörung Jerusalems, ihre Bilder mit geheimnis- 
vollen Anspielungen spickten, die nur den Gebildeten verständ- 

— 86 — 



JoHiTial des Damis 



A HinI tu the Ladies Englisch, Karikalar »w 1S30 

lieh waren, finden wir wohl, wie (Ue Zeit dac!itc und wie sie 
empfand, aber wie sie aussah und wie die Menschen sich gaben, 
das suchen wir veiffebens, wir müssen uns auch da an die 
Porträtisten wenden. 

Nun zählt Deutschlands große Kunst in jenen Jahren unter 
ihren Porträtmalern keine Kraft, deren Ruhm den kurzen Tag 
der Mode überlebt hätte. Einer der beliebtesten war Josef 
Stieler, der für Ludwig I. von Bayern jene Galerie von Schön- 
heiten gemalt hat, die den für Frauenreiz sehr empfänglichen 



König während seines langen Lebens entzückt haben. Es sind 
Damen aus allen Ständen dabei, sie gehören verschiedenen 
Völkern an und verteilen sich auf mehrere Jahrzehnte, und 
doch bilden sie alle scheinbar nur eine große Familie, denn 
die Unterschiede von Rang, Temperament und Alter sind durch 
Retuschen, die jeden individuellen Zug sorgfaltig verwischt haben, 
um jede einzelne zum Typus einer besonderen Idealschönheit 
zu verklären, völlig verwischt worden, und die Uniformität in 
Stellung und Gebärde macht sie zwar alle sehr schön und sehr 
lieblich, aber auch sehr gleichgültig und sehr langweilig. 

Diese Prinzessinnen, Gräfinnen und Bürgermädchen geben 
doch nur einen stark ins Schöne gefärbten Begriff ihres wahren 
Aussehens ; den Spiegel der Welt, wie sie damals in Wirklich- 
keit war, den geben uns ganz andere Maler; Künstler, die 
sich zu ihrer Zeit nur einer gewissen mitleidigen Nachsicht er- 
freuten, denn sie gingen in ihren Werken nicht sowohl dem 
hohen erhabenen Ideale, als vielmehr einer nüchternen Gegen- 
ständlichkeit nach. 

Da ist z.B. der sympathische Wiener Josef Danhauser, 
der in seinen Kabinettstücken die kleine Biedermeierwelt der 
Handwerker, Künstler- und Bürgerkreise erschließt, oder der 
Münchener Albrecht Adam, der Berliner Franz Krüger, 
die beide durch ihre Pferdestudien zu einem ehrlichen Realis- 
mus geführt wurden. Wenn man für vornehme Leute Rasse- 
pferde und Hunde nach dem Leben zu schildern hat, so darf 
man nicht idealisieren, denn der Auftraggeber hält sich nur 
an die Natur, deren getreue Wiedergabe er wünscht, und von 
dem wahrheitsgetreuen Bild des Pferdes allein ist zu dem des 
Reiters nur ein Schritt. Beide Maler, Adam sowohl wie Krüger, 
haben in großen Paradebildem besonders festliche Momente 
aus der Zeit der eben eingeführten allgemeinen Wehrpflicht 
festgehalten und sie haben auch in der Art ihrer Auffassung 
gemeinsame Züge. Die Monotonie, die den Exerzitien mili- 
tärischer Drahtpuppen mit Notwendigkeit anhaftet, haben sie 
in den Hintergrund geschoben, um den Vordergrund mit dem 
Gedränge bürgerlicher Zuschauer zu erfüllen, die mit liebens 
würdigster Naivität gesehen und mit größter Unbefangenheit 
auf die Leinwand gebracht sind. So haben wir in den Paraden, 
wie in Krügers Huldigungsbild unverfälschte Dokumente von 
Art und Wesen der Münchener und Berliner bürgerlichen Ge- 

- 89 - 



Waldmüner, DU Familie Eltz. iSjs Frau Dr. Sasti, Wien 

sellschafl: in jener Epoche; wir sehen, wie man sich kleidete, 
wie man ging und stand, wie man grüßte und sprach, wie man 
lachte und fröhlich war. Eine steifleinene Haltung, die auch 
im Affekt des Enthusiasmus stets korrekt bleibt, charakterisiert 
die Menschen alle, aber die Herren, bis an die Ohren in ihre 
hohen Halsbinden verschnürt, sind so putzig, die Frauen tn 
ihren grotesken Hüten und gigantischen Aermeln so zier und 
preziös; die Zeit spricht da so aufrichtig und ehrlich zu uns, 

— 90 - 



IVaUmülUr, Mutltr und Kind. 1SJ5 



daß das Herz sich der Verwandt- 
schaft mit ihr froh bewußt wird, 
war das alles doch : als der Groß- 
vater die Großmutter nahm, — 
altmodisch ja, aber so vertraut 
und so hebl 

Ganz köstlich sind Krügers 
Studien zu diesen Bildern, in 
denen er die Köpfe verschiede- 
ner Berliner NotabiUtäten von 
damals fixiert hat, den Ballett- 
meister Taglioni und seine 
Frau, die Schauspielerin Stich- 
Crelinger mit ihren hübschen 

Töchtern u, a. Sie beweisen S^hoinä, Anna Hänig (um iSsSj 
eine starke Begabung für das 

Erfassen des Charakteristischen in Erscheinung und Physiognomie 
und so sind für uns beinahe mehr noch als Krügers Bilder die 
zahlreichen treffhchen Porträtzeichnungen von höchstem Wert, 
die er teils selbst lithographiert, teils als Vorlagen für den Litho- 
graphen angefertigt hat. 

Wenn die Zeit in dem, was sie große Kunst nannte, posiert, 
so spricht sie sich in der bescheidenen AUtagskunst, der Litho- 
graphie, ganz aus, sie enthüllt sich in ihr mit einer Offenherzigkeit 
und Intimität, die gegenüber den gespreizten Darbietungen der 
in Fresko und Oel Arbeitenden wie ein erlösendes Geständnis 
nach endlosen Lügen wirkt, hier offenbart sie sich uns ohne 
Maske, aufrichtig und menschlich. Das ganze Leben der Restau- 
ration und des Bürgerkönigtums spiegelt sich in der Lithographie ; 
sie ist gleichsam der sichtbar gewordene Geist einer ganzen Epoche, 
sie entspricht ihr in so hohem Grade, daß man sich kaum vor- 
stellen kann, wie sie ohne dieselbe hätte ihren adäquaten Aus- 
druck finden sollen. Mit einem Schlage drängt sie die viel Zeit 
erfordernden kostspieligen Verfahren von Kupferstich und Holz- 
schnitt zurück, um das Unruhige, Drängende, Suchende, Schwan- 
kende, welches der Zeit anhaftet, auszudrücken, hastig, atemlos, 
wie gehetzt von Mode und Geschmack, im Gefühl, daß die Wahr- 
heit von heute morgen schon Lüge sein wird. 

Es ist tragisch, daß, wie so viele andere Erfinder, auch der 
der Lithographie um die Erfolge seiner Entdeckung gekoi 



Als Aloys Sene Felder gelegentlich der Niederschrift eines Wasch- 
zettels seiner Mutter die große Erfindung machte, die seinen 
Namen unvergeßlich gemacht hat, da ahnte er nicht, daß 20 Jahre 
später sein Verfahren von Paris aus eine Verbreitung und Aus- 
bildung erfahren würde, welches seine Produkte in Millionen von 
Blättern in jedermanns Hand bringen sollte, während er selbst 
vergessen, arm, sorgenvoll, von pekuniären Schwierigkeiten er- 
drückt, ins Grab sinken muß. Er selbst hat die Tragweite seiner 
Entdeckung, die tausend Möglichkeiten, die sie in ihrem Schöße 
barg, nicht gekannt. Er beschenkte die Kunst mit einem Ver- 
fahren, dem kaum ein anderes an Leichtigkeit der Handhabung, 
an Mannigfaltigkeit der Anwendung gleichkommt, aber er hat 
keinen Vorteil davon gehabt. Erst nachdem seit 1 8 1 6 zwei fran- 
zösische Unternehmer, Graf Lasteyrie und der Elsässer Engel- 
mann, in ihren Instituten die Lithographie pflegen, fängt die neue 
Manier an, sich langsam unter den Künstlern Freunde zu er- 
werben. Sobald diese aber erkannt haben, daß der lithographische 
Stein ihnen erlaubt, ihre Gedanken mit einer Leichtigkeit aus- 
zusprechen, die seiner Uebertragung aufs Papier die volle Frische 
und Ursprünglichkeit der schöpferischen Idee erhält, daß man 
auf Stein zeichnen, schreiben, tuschen, gravieren — kurz, sich 
ausdrücken kann, wie man will, da ist der Sieg der Lithographie 
entschieden. Ein fieberhafter Betrieb beginnt, eine Massenproduk- 
tion von Blättern und Folgen, die Charlet schon 1823 sehr 
ergötzHch in dem Bilde, wo es Albums regnet, persifliert. Die 
Gesellschaft ist wie ein Weib, das in der Freude am eigenen Reiz 
nicht oft genug in den Spiegel sehen kann, und da es in der 
Kunstanschauung von damals ein Ehrenpunkt war, daß die große 
Kunst nicht der Gegenwart huldigen dürfe, die Freude am Be- 
trachten seiner selbst und seiner Nachbarn aber unausrottbar im 
Menschen steckt, so fiel das Sittenbild der Lithographie anheim 
Den Zusammenhang mit ihrer Zeit findet die Kunst jener 
Epoche erst in der Lithographie wieder, nachdem sie in den 
Schöpfungen der großen Kunst freiwillig darauf verzichtet hatte. 
Hier spiegelt sich die Gesellschaft, wie sie war, in ihrer Ele- 
ganz und ihrem Luxus, mit Liebe und Haß, Freud und Leid; 
die kleine Misere findet ihr Echo, wie das große Glück, banau- 
sischer Genuß und poUtisches Unbehagen klingen hindurch; 
das Sittenbild schattiert von unbekümmerter Sorglosigkeit bis 
zur boshaften Karikatur, die Naiven und die Tendenziösen 

— 92 — 



,■ Puichk:», Krylm, Scknkevitki, Gm, 



kommen zu Wort, die Lithographie redet eine Sprache, die 
jeder versteht. 

Die Franzosen, welche früher als die Deutschen die Litho- 
graphie in den Dienst der Kunst stellen, haben auch sofort 
eine große Anzahl bedeutender Künstler aufzuweisen, welche 
es verstehen, dem neuen Verfahren alle Reize abzugewinnen, 
deren dasselbe fähig ist, und denen die Schnelligkeit desselben 
gestattet, allen Modelaunen des Tages von Stunde zu Stunde 
zu folgen. Horace Vernet, Raffet, Charlet widmen ihren 
Stift dem Militär und verherrlichen den »petit caporal«, ihnen 
verdankt Napoleon L seine Legende und Napoleon III. seine 
Krone; Eugene Lami schildert die mondäne Eleganz der 
vornehmen Welt, Pigal das gewöhnliche Volk bei der Arbeit, 
Henry Monnier den Kaufmann und Kleinbürger. Grand- 
ville amüsiert sich über den bourgeois, Achille und Eugene 
Deveria treiben den Kultus der schönen Frau, Henri 
Daumier verhöhnt die Regierung. Die Lithographie ist all- 
mächtig, sie zwingt die Alten, wie Grevedon, der nahe an 
den Sechzig zum Stein greift, um seine süßen weichen Frauen- 
bilder zu schaffen, und die Jungen, wie Gavarni, den sie 
von der Staffelei vertreibt, damit sein skeptischer, in Ironie ge- 
tauchter Griffel Zeit und Menschen schildere; sie bietet ihre 
Hilfe Emile de Girardin, um in der »Mode« der Schönheit 
und Grazie zu huldigen, und Charles Philippon, um in der 
»Caricature« einen Krieg gegen das Julikönigtum zu führen, 
eine Schlacht zu liefern, in der jeder Hieb sitzt, jeder Pfeil 
vergiftet ist. 

Die Lithographen sind überall und nirgends, sie belauschen 
die Modedame in allen Stadien der Toilette, in allen Zuständen 
der Laune, sie wissen im Salon so gut Bescheid wie in der 
Küche und sind so indiskret wie die Zofe, die am Schlüssel- 
loch horcht. Mit Laune verspotten sie den Bürger, der sich 
Airs gibt und den Biedermann, dessen Sonntagskleider der 
Regen verdirbt; ihr kaustischer Witz trifft den Lebejüngling, 
der seine Jugend an ein altes Weib verkauft und die unvor- 
sichtig liebende Jungfrau, deren Malheur ein zärtlicher Alter 
wieder gut macht. Schonungslos decken sie die gespreizte 
Nichtigkeit subalterner Bureaukraten, wie das hohle Pathos 
phrasendreschender Parlamentarier auf, sie verhöhnen den Bettel- 
stolz des Remigrierten und den Geldsackdünkel des Protzen; 

- 94 — 



Lami, Promenade apres Sntr Aus : La vie de ehältau 

der gesalbte König ist ihnen so wenig heilig wie der erwählte, 
der Bettler vor ihnen nicht sicherer als der Fürst. In langen 
Bilderfolgen begleiten sie die Mondäne vom späten Aufstehen 
bis zum frühen Niederlegen, sie schwelgen in den Abenteuern, 
welche die Unschuld vom Lande in der Stadt erlebt, in den 
Widerwärtigkeiten, denen illegitim Liebende sich aussetzen, und 
an dem Mißgeschick harmloser Spießbürger haben sie ihre Freude. 
Die Lithographen schreiben die Chronik der Zeit; in der 
Gesellschaft, deren Situation mit jedem Tage gespannter wird, 
sprechen sie das letzte Wort, finden sie das befreiende Lachen. 
Sie haben in den Typen, die sie geschaffen, politische und 
gesellschafdiche Zustände zu Persönlichkeiten verdichtet von 
so packendem Leben, daß ihre Wesenheit erst mit der Kunst 
selbst aufhören wird. Der sMayeux«, den Travies erfunden 
haben soll, verkörpert er in seiner buckligen Häßlichkeit, in 
seiner jedem Gefühl des Schicklichen hohnsprechenden An- 
maßung nicht jene Jahre der Restauration, in denen der ver- 
moderte Feudal Staat mit einem jugendlichen Liberalismus in 
tödlicher Feindschaft lebte? — Wer vergäße jemals Monniers 
»Joseph Prudhomme«, den satten Philister mit der wachs- 



weichen Moral, dem Pharisäerbewußtsein untadeliger Tugend 
und dem feigen Kriechen vor der Macht? Oder Daumiers 
»Robert Macaire«, dessen Bösartigkeit die soziale Revolution 
ankündigt, den Umsturz aller Verhältnisse, den Nihilismus, der 
auch Gavamis »Thomas Vireloque« beseeltl 

In Deutschland fehlten zwei Faktoren, die der Lithographie 
erlaubt hätten, denselben Aufschwung zu nehmen, wie in Frank- 
reich ; einmal die hohe künstlerische Kultur der großen Masse, 
für welche die französischen Künstler schufen, und zweitens 
die Preßfreiheit, deren sich die Franzosen wenigstens in den 
ersten Jahren der Regierung Louis Philipps erfreuten. Es 
gibt in Deutschland vorzügliche Zeichner, welche lithographisch 
tätig waren, aber ihr Schaffen bewegt sich in anderen Bahnen, 
es schaltet vor allem die Politik sorgfaltig aus. Man erfreut 
sich in Wien am Theaterklatsch, in München an den Zänkereien 
in der Welt der Künstler und Literaten, an den Prügeln, die 
der überall herumstänkernde Saphir einheimst; in Berlin lebt 
man wohl am eigenen Witz, dem Glaßbrenner im Ecken- 
steher Nante die klassische Gestalt verleiht; vor allem aber 
widmen sich die Lithographen dem Porträt, und in den köst- 
lichen Blättern, welche Kriehuber in Wien, Hanfs taengl in 
München, Krüger in Berlin hinterlassen haben, ersteht die 
ganze Gesellschaft des Vormärz vor uns. Da ist die hohe 
Aristokratie der österreichischen Kronländer, die süßen Kom- 
tesserln in ihrem bezaubernden Charme, die feschen Kavaliere 
mit ihrer souveränen Nonchalance, alle trotz ihrer Vornehmheit 
und Eleganz unendlich natürlich und leger; ein Abgrund trennt 
sie vom Volk, das ist selbstverständlich, hindert sie aber nicht, 
liebenswürdig und ungezwungen zu sein. Sie stehen über den 
anderen, weil ihre Geburt sie dahin gestellt hat, sie sind, was 
sie sind, aus sich selbst, denn auch der einzige, der noch über 
ihnen steht, der Kaiser, hat ihnen nichts zu geben oder zu 
nehmen, sie stehen jenseits höfischer Laune und Gunst. 

Wie anders der Beamtenadel, den 
uns die preußischen Künstler zeich- 
nen, die Militärs so martiahsch wie 
ein Unteroffizier, die Beamten so un- 
nahbar wie ein Hoflakai, alle nach 
oben schielend, in tiefster Ehrfurcht 
ersterbend, eine subalterne Vornehm- 

- 98 - 




Ckampmartin, Madame dt Mirbtl Muman, Viriaillis 



heit, deren auf Zeit ge- 
liehenem Glanz der Ab- 
schied über kurz oder 
lang sicher ein Ende 
macht. 

In München die 
schönen Prinzen, die um 
den König heranwach- 
sen, die hübschen Schau- 
spielerinnen mit dem 
weißen „Föll", Künstler 
mit wüsten Mähnen, 
Studenten mit langen 
Pfeifen, alle durch das 
Bier in die gleiche Ge- 
mütlichkeit, das gleiche 
Behagen getaucht. Sie 
alle leben wieder vor 
uns auf und aus den 
verschiedenen Blättern 

erklingt es wie verschie- Ingres, Madame Baltt 

dene Dialekte ; aus der 

eleganten Mache, den verschwimmenden Umrissen, den weichen 
Schatten der Kriehubcr und Hanfstaengl tönen die verführerischen 
Laute des Weanerischen, das herzige Oberbayerisch; aus der 
nüchternen Härte der Berliner das schnarrende, schneidige, 
schnoddrige Spreedeutsch. 

Die Lithographie war die Brotkunst und ernährte ihren 
Mann, indessen die Idealisten die Produkte der gefeierten hohen 
Kunst nur mit Mühe in Kunstvereinen imd Museen unterbrachten, 
ja, manchem großen Künstler hat nur sie die Existenz gefristet. 
Der große Delacroix in Frankreich mußte als Broterwerb zur 
Lithographie grejfen, Adolf Menzel, Moritz Schwind u.a. 
bezeichnen die Anfänge ihres Schaffens mit langjähriger Tätig- 
keit für Verleger und Papetiers. Aber selbst in die Bilderbogen, 
die Briefköpfe, Tisch- und Gratulationskarten, in die tausenderlei 
Gelegenheitsarbeiten des Marktes trägt jeder von ihnen ein Stück 
seiner persönlichsten Eigenart. Lange, lange Jahre, ehe Menzel, 
der Maler, sich zur Natur bekannte, ist Menzel, der Zeichner, 
auch in der unscheinbarslen Vignette dem Leben nachgegangen, 

— 99 — ,■ 



Cruikshank, Dittmitr': aut < TAe cemU Almanach iSjj » 

wie er es in Stube und Kontor, Küche und Werkstatt um sich 
sah. Er fuhrt uns in die Kreise sohden Bürgertums und läßt 
uns das Glück sehen, welches in der Beschränkung wohnt, den 
Wochentag mit seiner Arbeit, den Sonntag mit dem beschei- 
denen Vergnügen, den engen Kreislauf des gutbürgerlichen Lebens, 
das sich über Leid und Mühsal hinwegsorgt, um sich mit kleinen 
Freuden in die Zukunft hinein zuhotfen. 

Wie bei Menzel immer der Verstand vorwiegt, so bei 
Schwind immer die Phantasie ! Seine kösthchen Märchen zyklen 
gehören einer späteren Zeit an, aber ein Zug versonnener Mär- 
chenpoesie liegt über jedem Strich, den seine Hand geführt hat. 
Zumal seinen Frauen gibt er ein Element schaikhafter Grazie, 
als seien sie eigentlich alle Feen, die inkognito durch die Welt 
streifen, um die armen Menschen mit ihrem Liebreiz über alle 
Widerwärtigkeiten zu trösten. Ueber dieser sichtbaren Welt er- 
richtet Schwind ein unsichtbares Königreich, durchwärmt von 
der Sonne seines Gemüts, durchklungen von den zarten Tönen 
des Glockenspieles seiner Phantasie. 

Ganz abseits von dem, was die damalige Zeit in der großen 
Kunst bewunderte und in der kleinen liebte, entstanden Werke, 
bestimmt, eine ganz neue, den damals Lebenden unbekannte 



Cruiti&ant, yuli; aus tThi Conni Almanach iSjjt 

Kunst heraufzuführen. In England schuf William Turner seine 
farbigen Wunder, malte John Constabte seine Landschaften, in 
Barbizon waren seit 1830 Theodore Rousseau, Camille Corot, 
etwas später Jean Frangois MJUet an der Arbeit, die alle, in 
der Natur völÜg aufgehend, in der Landschaft die eigene Seele 
zu bannen suchten, in schwerem Kampf mit den Mitteln des 
malerischen Ausdrucks, in unermüdlichem Ringen um die Wie- 
dergabe von Luft und Licht und Leben. Die Kritik verhöhnte 
sie, das Publikum lachte sie aus, von den Ausstellungen wurden 
ihre Bilder zurückgewiesen; Constable starb 1837 in bitterer 
Armut und Turners Freunde entschuldigten sein Tun mit der 
kranken Beschaflfenheil seiner Augen. Sie schufen ihrer Zeit 
zum Trotz, aber der Stein, der damals verworfen wurde, ist 
der Grundstein der neuen Kunst geworden. 

Die Altertümelei auf allen Gebieten der Aesthetik springt 
am wunderhchsten ins Auge, betrachtet man, was die Zeit in 
der Architektur geleistet hat. Das 19. Jahrhundert hat in der 
Baukunst keinen eigenen Stil gefunden, weÜ man sich darauf 
kaprizierte, an dem Material, welches die Technik darbot, wel- 
ches der Zweck forderte, am Eisen, vorbeizugehen und, wo 
man es benutzen mußte, eigensinnig genug war, seine Beschaffen- 

— 101 — 



Maarin, Ah, gut cetlt bague istjoUil Liikogrufkii 

heit ZU verstecken oder, sich seiner gleichsam schämend, die 
Ausgestaltung im Sinne architektonischer Schönheit vernach- 
lässigte. Die Baukünstler besaßen noch von altersher die klas- 
sische Maske und sie fuhren fort, sich derselben zu bedienen, 
Schinkel in Berlin, Klenze in München, Sprenger in Wien haben 
einige Bauten in mehr oder weniger gelungenem antiken Stil 
hingestellt. Der Geschmack der Mode verlangte aber außer dem 
Klassischen, worauf die Architekten eingeschworen waren, auch 
nach Mittelalter und wenn Bauherren sich Ritterburgen erbauen 
heßen, wie z. B. Prinz Friedrich von Preußen : Rheinstein, Kron- 
prinz Maximilian von Bayern: Hohenschwangau, Friedrich Wil- 
helm IV.: Stokenfels, Schwanthaler sich Schwaneck errichtete, 



l834, Februar 
Journal des Gens du Monde, Paris 



■■» Wilhelm 

SO nötigten sie den Baumeistern neue Masken auf. Sie haben 
sich dieser nicht mit größerem Geschick bedient, wie der alt- 
hergebrachten; wenn das Klassische in ihren Bauten meist nur 
in der willkürlich und unorganisch verwendeten Säule bestand, 
so begnügte man sich auch in den Bauten anderer Stile mit 
herzlich wenig Aufwand. 

Man sehe Ludwigs I. Bauten in München: eine Kaserne 
mit symmetrischen Fensterreihen, sind sie spitz geschlossen, so 
ist der Stil gotisch, schließen sie mit einem Rundbogen, ist er 
romanisch; ein hübsches Palastmotiv aus Florenz mit fünf multi- 
pliziert und die Frührenaissance ist fertig. Oder man belrachte 
die Normannenburg der Gardehusaren in Potsdam ; eine Kaserne 

— 103 — 



Gavami, jfuni Lilhagraphit 

in aller Form, Zinnenreihe um das Dach und wir haben den 
normannischen Stil! 

Das wäre alles nur Sache der Zeit selbst gewesen, viel 
verhängnisvoller aber ist es, daß man in dieser Art und Weise 
nicht nur Neues errichtete, sondern weit mehr noch Alles zer- 
störte. Die Architekten, die aus Eigenem nichts haben hervor- 
bringen können, machten sich mit der dürftigen und oberfläch- 
lichen Kenntnis mittelalterlicher Baukunst sofort an die herr- 
lichen Denkmale, die uns in kirchlichen und Profanbauten aus 
der alten Zeit geblieben und haben sie schmählich verpatzt und 
verschandelt, Sie haben kaum ein mittelalterliches Bauwerk in 
Deutschland nicht nur, sondern in der ganzen Welt, unange- 
tastet gelassen und durch ihre Fälschungen entstellt und — 
Gott sei's geklagt, sie fahren noch alle Tage damit fort. 



iSjS, November 
Wiener Zeitschrift 



Die Mode, welcher das Kaiserreich seinen Namen gegeben 
hat, ohne daß es sie doch geschaffen hätte, überdauerte den 
Sturz der kaiserlichen Allmacht um mehrere Jahre. Es ist eigent- 
lich erstaunlich, daß eine Art und Weise der Kleidung, welche 
wie diese fiir die Mehrzahl ihrer Trägerinnen im hohen Grade 
unvorteilhaft sein mußte, sich doch 
beinahe 30 Jahre lang behaupten 
konnte, ja es wäre ganz unverständ- 
lich, wüßte man nicht, daß Nach- 
ahmungstrieb auf der einen und Be- 
harrungsvermögen auf der anderen 
Seite die Hauptfaktoren sind, welche 
das Leben der Mode bestimmen. 
Die weibliche Kleidung hatte nach 
dem Wiener Kongreß etwa den Höhe- 
punkt dessen erreicht, was die Ten- 
denz, das Weib schlank, sta- 
tuenhaft erscheinen zu lassen, er- 
reichen konnte. Ausgegangen von 
dem Prinzip einer Rückkehr zur Na- 
tur auf dem Umweg über die An- 
tike, hatte die Mode innerhalb eini- 
ger 20 Jahre ihre Trägerin aus den 
Schleiern, in denen sie sich erst 
gefallen hatte, den Körper fast un- 
verhüllt zu zeigen, allmählich wieder 
herausgewickelt, um sie, schrittweise 
immer weiter von der Natur sich 
I entfernend, schließlich zur völligen 
Karikatur zu gestalten. 
A. Barre Fanny ElaUr Die kurze Taille schloß unmit- 

11» iLi diabU ioiteuxt 183J telbar unter der Brust, als hätte sie 
die einzelnen Teile des weibhchen 
Körpers in ein möglichst ungeschicktes Verhältnis zueinander 
bringen wollen ; der enge faltenlose Rock hörte schon über den 
Knöcheln auf und ein hoher röhrenförmiger Hut zog das Ge- 
streckte, Schmale der Erscheinung noch mehr in die Länge. 
Die Rückkehr der königlichen Familie nach Paris brachte 
in die Kleidung die ersten Elemente der Romantik, indem sie 
Halskrausen und hohe, mit Federn überfüllte Toques 



jSjS, Aptil Wiintr Zeilschiift 

ä la Henri IV. in die Mode brachte, aber diese Zutaten be- 
einflußten die weibliche Gesamterscheinung nicht gerade vor- 
teilhaft, sie trugen höchstens dazu bei, daß die Taille, die 
unter dem Kinn mit einer dicken Krause begann und unter 
den Armen schon aufhörte, noch kürzer und unförmlicher 
erschien. Sehr langsam nur haben sich die Frauen von dieser 
Form der Taille betreit, zögernd nur beginnt man, sie gegen 
1820 durch sogenannte Maria Stuart- Gürtel zu verlängern 
und ihr statt des runden Abschlusses einen spitzen zu geben. 
Erst 1820 — 1822 hat die Taille ihre normale Form wieder er- 
reicht, indem sie an der schmälsten Stelle des Rumpfes ihre 
engste Einschnürung erleidet und in diesem Augenbhck erscheint 
auch das Korsett wieder, das in England bereits im ersten 
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wieder aufgetaucht war, und das 



Dtviria, Fatmy EissUr K^p/mtid^aMiuli, BtrUn 



i8sSt ^f'' Wiener Zeilrekriß 

nun von Paris aus seinen Siegeszug antritt. Die Anfertigung 
des Korsetts wird zur Kunst, und wer es sich leisten kann, 
läßt sich eins von Lacroix aus Paris kommen, «enn es auch 
fünf Louisdor kostet. 

Uie Kleiderröcke werden ganz allmählich weiter und 
wachsen an Umfang, bleiben aber trotzdem ganz fußfrei und 
erreichen erst gegen 1836 — 37 wieder den Boden. Beinahe 
zo Jihre lang \ emarhUis^igl die Mode den Rock, an dessen 
torm sie nichts zu andern findet und den sie höchstens durch 
mehr oder minder reiche Garnierungen von Puffen, \'olants, 
Plissees, Falbeln u derifl ausputzt, um ihre Vorliebe ganz ein- 
seitig der Ausgestaltung der Taille, streng genommen: der 
\crmel, allein zuzuwenden 18 16 ibt der .Aermel noch eng 
und gtht so weit auf die Hand \ür, daß er die Finger er- 



tSjd, SepUmbir Journal des Daniis 

reicht, 1818 haben wir schon die kurze Puffe, von iSjz 
an aber scheint die Mode zu dehrieren, der Aermel nimmt 
eine Mannigfaltigkeit der Formen an, die alles bis dahin je Ge- 
tragene weit überflügelt. Zugleich wächst sein Umfang ins 
Ungemessene, die »Hammelkeulen« erscheinen nur, um so- 
fort von den sElefanten« verdrängt zu werden und so er- 
reicht die Mode es, daß etwa 15 Jahre, nachdem die Frau 
hatte schlank, lang, schmal sein müssen, um das Ideal des 
Geschmacks zu verkörpern, das Gegenteil eintritt und die durch 
Riesenärmel und über diese noch weit überfallende Berthen 
erreichte Schulterbreite die Ausdehnung eines weiblichen Wesens 
nach der Breite hin, der nach der Höhe ungefähr gleich macht. 
Die leichten Stoffe, welche man zur selben Zeit bevor- 
zugte, wie ungebleichter Batist, moirierter Mousseline, karierte 



BarSge, en plein gestickter Organdin 
u. dergl. nehmen dem ungewöhnlichen 
Umfang der Kleidung die Schwere, 
die Breite der Schultern bringt ganz 
, von selbst die »Wespentaille« 
.... ' hervor, die fußfreien Röcke schheD- 

lich geben der ganzen Erscheinung 
jene zierliche, etwas manierierte Grazie, die uns noch heute 
an den Bildern jener Jahre so entzückt, und der selbst ein 
Gavami eine Zeitlang in Modejoumalen Gesetze vorgezeichnet hat. 
Indessen war nicht eigentlich der Schneider derjenige, der 
die Eleganz der Dame von damals in erster Keihe bestimmte, 
diese hing vielmehr noch von der Putzmacherin und vom 
Coiffeur ab. Man trug die Haare aus dem Nacken in die 
Höhe gekämmt, wickelte sie in Löckchen und legte diese in 
zwei großen Bündeln zu beiden Seiten der Stirn bis nahe an 
die Augen. Den Eindruck von Gesicht und Frisur unterstützte 
dann ganz wesentlich die Coitfüre, denn niemals, weder im 
Hause, noch in Gesellschaft oder auf der Straße erschien ein 
weibliches Wesen jemals im bloßen Haar aLein. Im Hause trug 
sie ein Häubchen, auf der Straße den Hut und in Gesell- 
schaft die kompliziertesten Gebäude, welche eine erfinderische 
Putzmacherin aus Spitzen, Blonden, Rüschen, Bändern, Blumen, 
Federn zu dichten vermochte. Diese Hauben wachsen mit 
den Aermeln und erreichen wie diese ihren größten Umfang 
etwa 1830 — 1831. Wenn die Bilder nicht lügen, so war diese 
Mode eine überaus vorteilhafte, erlaubte sie doch einer jeden 
Trägerin, sich eine Umrahmung für das Gesicht zu kompo- 
nieren, die, in Stoff und Farbe unbeschränkt, dem Geschmack, 
der Laune, der Eitelkeit den weitesten Spielraum gewährte. 
Viele Jahre, ja Jahrzehnte behauptete sich der Turban als be- 
liebteste Gesellschaftscoiffüre ; die Tradition schrieb sein Auf- 
kommen der ägyptischen Expedition Napoleons zu, in WirkUch- 
keit aber war er von England aus, wohin ihn die indischen 
Nabobs gebracht hatten, lanciert worden, man begegnet ihm ja 
schon in Reynolds Bildern; noch 1837 kreiert die Mode aber als 
Neuestes indische, cirkassische, odaüskische, griechische und israe- 
litische Turbane. Ebenso lange erhielt sich jener kokette Schmuck, 
den man in Frankreich »Ferronniere« und in Deutschland 
sSeht hierher« nannte, ein dünnes Goldkettchen, welches 



iSss, November 
Wiener Zeitschriß 



iSjS 

ein kleines Juwel, eine Perle oder dergl. in der Mitte der Stirn 
festhielt. Dieses Schmuckstück, welches dem Antlitz einer 
Schönen einen so besonderen Reiz verlieh, hat sich wohl 20 
Jahre hindurch in der Gunst der Damen behauptet, wie man 
denn dazumal überhaupt sehr siel Schmuck trug. Die Toiletten 
waren nicht sehr kostspielig, die schöne Madame Gros-Davillier 
trug z. B. 1821 auf einem Ball ein weißes Tüllkleid für 35 
I.ouisdor und dazu Blumen für 20 Fr., an Diamanten aber 
ein Vermögen; und den Schmuck, den die Baronin Rothschild 
1842 auf dem Maskenball beim Herzog von Orleans trug, 
schätzte man auf i'/a Milhonen Fr. 

Eine Elegante trug in den zwanziger Jahren zu gleicher 
Zeit im Haar neben dem Diadem noch einen Kamm und 
Nadeln, um den Hals ein Kollier und eine lange, dünne Gold- 



'\ 



■,- / 



•(,. 




Krügrr, Baron v. Arnim mit CkarloHt v. Hagn und 
Sophie Lätne, Grvfpt aus der iParadtt. iSji) 



kette, Armbänder über den Aermeln, Ringe über den Hand- 
schuhen, lange Ohrringe, Brosche am Kleid und ein Schloß am 
Gürtel; wenn sie dann dazu noch einen Buketthalter von Silber 
oder Gold und einen Fächer von echtem Material besaß, so 
hatte sie nicht mehr an Schmuck an sich, als es die Mode für 
unerläßlich hielt. Zur Trauer wählte man Schmuck von herrlich 
gearbeitetem Silber, wenn man nicht solchen von Berliner Guß- 
eisen oder poliertem Stahl vorzog. Ein Jahrzehnt später wird 
man des vielen Schmuckes etwas überdrüssig; die Kolliers ver- 
schwinden wie die Broschen, nur im Haar darf eine Dame noch 
Juwelen tragen. 

Die Hüte, deren Farbe von der Toilette abstechen mußte, 
z. B. trug man schwarze Hüte zu rosa oder weiße zu schwarzen 
Kleidern, haben in ihrer Form keine sehr einschneidenden 
Veränderungen durchgemacht. Die Pariserinnen hatten bei 
der Okkupation der Hauptstadt. Frankreichs durch die Ver- 
bündeten, die Formen ihrer Kopfbedeckung denjenigen der 
alliierten Truppen entlehnt, aber das waren Extravaganzen ge- 
blieben. Vereinzelt trug man wohl noch 1818 schmalkrempige 
hohe Zylinderhüte von rosa Atlas, im allgemeinen kamen aber 
damals schon jene Hüte auf, von denen die Boshaften be- 
haupteten, man könne darin weder hören noch sehen, jene 
Schuten mit breitem Rand, deren Form mit kleinen Aende- 
rungen fast 40 Jahre ziemlich gleich blieb. Sie umschlossen den 
Kopf recht eng und ragten mehr oder weniger weit über das 
Gesicht hervor, müssen also auf alle Fälle sehr heiß gewesen 
sein, wenn sie auch — und darin ist es schwer, den Groß- 
müttern Glauben zu schenken — kleidsam waren. In den zwan- 
ziger Jahren wurde der Rand breiter und flacher, der Kopf 
höher, so daß sie das Gesicht weniger einschlössen als um- 
rahmten; in die Höhe gestellte Blumen, Bandschleifen und lange 
Bindebänder bildeten den Ausputz. 

In Bändern hat die Mode förmlich geschwelgt, sie brauchte 
sie nicht nur zur Garnierung der Hüte, sondern auch zum Besatz 

der Kleider, wie als Gürtel und Schärpen, 
die bald in langen, schmalen Enden vorn, 
bald in breiten Schleifen hinten herunter- 
fielen. Die Technik ist in ihren Neuerun- 
gen erfinderischer gewesen als die Mode in 
ihren Ansprüchen, in der Zusammensetzung 

-- 115 — 8- 




1S36, Juli Journal des Domes 

der Farben, in !der Verbindung der Stoffe hat sie damaszierte, 
qnadrillierte, nuancierte, changeante, moirierte, ombrierte Bänder 
geliefert, die in ihrem Geschmack und ihrem Reichtum noch heute 
nicht üb ertroffen sind. 

Das döcolletö der Toilette im Hause wie auf der Straße 
zwang seinen schönen Trägerinnen gelegentlich schützende Hüllen 
gegen die Unbilden der Witterung auf; man trug dann sogenannte 
Canezous, fichuartige Kragen mit Tüllrüschen besetzt, oder ma.n 
griff zur Bayadere, dem langen, schmalen Schal aus Seiden- oder 
Spitzenstoff, bis etwa um 1830 die Pelzboa wieder aufkommt 
und sich sofort einen Platz erringt, an dem sie sich viele Jahre 
als unentbehrlichstes Putzstück der weiblichen Toilette behauptet. 
Die Künstler sind nicht müde geworden, das graziöse, schlangen- 
gleiche Spie! der Boa um einen weißen Hals, um runde Schultern 



1S36, Juli yonmal des Damis 

und schöne Arme darzustellen, die Boa, die man auch aus Strauß- 
fedem herstellte, verschwindet erst in den vierziger Jahren, als 
die Damen anfingen, nicht mehr ausgeschnitten zu gehen. 

Unter der Herrschaft der großen Aermel war den Damen 
die Benutzung von Mänteln so gut wie unmöglich, so hat die 
Mode außer der Rotonde, die man in Wien »Wickler« nannte, 
fast zo Jahre hindurch Mäntel gar nicht gekannt, sich dagegen 
in der Schöpfung von Umhängen und Pelerinen aller Arten und 
Formen gefallen. Sie holte den Burnus aus Algier, die Man- 
tille aus Andalusien, das köstliche Cr^pe de Chine-Tuch aus 
dem Orient und ließ vor allem dem Cashmirschal, von dessen 
Aufkommen wir im ersten Band berichteten, eine unumschränkte 
Herrschaft. Sein kösdiches Gewebe, seine schönen Farben und 
Muster, vor allem das Exklusive, das ihm sein hoher Preis verlieh. 



erhielten ihn in der Gunst der Damen 
bis weit in das zweite Kaiserreich hin- 
ein, so daß drei Generationen nachein- 
ander sich seiner mit der gleichen Vor- 
hebe bedienten. 

Der Riesenämiel erreicht seinen 
größten Umfang im Beginn der dreißiger 
Jahre, nm welche Zeit er langsam wie- 
der abzuschwellen beginnt. Die großen 
Fischbeingestelle, die ihm hatten Halt 
geben müssen, fallen weg, mählich, ganz 
allmählich verdrängt ihn der von Lon- 
don ausgehende engere Aermel, der, in 
mehrere Puffen gelegt, um den Ellbogen 
gebauscht, am Unlerami gekraust wird oder halb offen herab- 
föllt. Er verliert immer mehr an Umfang und umschließt 1844 
endlich den Arm ganz eng von der Schulter bis zum Handgelenk. 
Diesen Wandel bewirkt der Einfluß, den der Geschmack, der in 
der Literatur und in der Kunst nur das Alte suchte, der auf der 
Bühne historische Schauspiele und romantische Opern bevor- 
zugte, auch auf die Toilette ausübte. Durch die sehr beliebten 
Maskenbälle oder nach bestimmten Programmen sich abspielen- 
den Kostümfeste wurden die Damen auf das Studium der histo- 
rischen Trachten geführt und sie fanden zumal die Trachten aus 
den Zeiten Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. besonders zusagend. 
So gab man allmählich die extravaganten Aermel auf, um sich 
dann in den Formen der Kleider dem Rokoko wieder zu nähern. 
Der Rock gewinnt an Umfang und Länge, man gibt den glatten 
Fall desselben auf und beginnt, ihn zu drapieren, ihn vorn über 
einem andersfarbigen Unterkleid zu öffnen, Toiletten k !a Pom- 
padour, a la LavaUiere werden Mode; die Leibchen ä la Monte- 
span mit der spitzen Schnebbe verdrängen den bis dahin üblichen 
runden Taillenschluß unc! den Gürtel. 

Die weiten faltenreichen Kleider bringen auch die schweren 
Stoffe zurück, man trägt viel Sammet, Moir^, damaszierte Seide 
und mit Vorliebe Brokat, auch sehr gerne durchsichtige Stoffe 
über bunter Seide, wie z. U. schwarzen, mit Goldllittern oder bunter 
Seide gestickten Tüll. Auf einem Ball bei Bankier Schickler in 
Paris 1831 trug eine Dame der haute finance ein Kleid von Gold- 
gaze ganz mit Diamanten bestickt ! 



i837, Aprii 
Wiener Zeitschri ' 



Durch die Garnierung mit Volants, oft drei bis vier über- 
einander, wird der Rock schwer und man fängt an, um die Stoff- 
masse tragen zu helfen, in die Unterröcke Reifen zu legen oder 
sie durch leichte Wülste von Roßhaar (crin — daher Krinoline) 
zu einem Gerüst für das Kleid zu machen; um 1840 kündet sich 
bereits der Reifrock wieder an. 

Diese Aenderungen im Schnitt der Kleider begleitet auch 
ein Wechsel der Frisur. Statt der um die Stirn gesteckten 
Locken, die sich zwischen den Falten gigantischer Blonden- 
hauben kokett hervordrängen, trägt man glatte Scheitel, das 
Haar am Hinterkopf sehr hoch hinaufgesteckt und mit riesigen 
Kämmen befestigt ; diese Frisur nannte man chinesisch ; oder 
man trug das Haar griechisch, indem man die an den Schläfen 
geflochtenen Zöpfe in dicken Wülsten um die Ohren legte, allen- 
falls ein flaches Löckchen als accroche cceur in die Stirn spielend. 
Etwas später, etwa 1834 kommt es auf, die Haare in halblangen 
Locken k la Hortense Mancini zu beiden Seiten des Gesichts 
zu tragen; diese Locken an den Schläfen werden immer länger 
und im Anfang der vierziger Jahre erfreut sich diese Frisur, von 
England ausgehend, der größten Beliebtheit; glatter Scheitel, 
zu beiden Seiten lange Locken, am Hinterkopf eine hoch- 
gesteckte Flechte, die mit Nadeln oder Kämmen befestigt ist. So 
hat sich nach abermals 15 Jahren wieder ein völliger Wechsel in 
Aussehen und Gestalt der Frau vollzogen, 1 8 1 5 ist alles an ihr. 
eng und knapp, 1830 bauscht und rundet, 1845 fließt die Ge- 
wandung, das kapriziöse, kokette Geschöpf von 1830 ist schmach- 
tend und languissant geworden. 

Die Gesetze, nach denen sich der 
Wechsel in der Mode vollzieht, sind 
ebensowenig ergründet, wie diejeni- 
gen, nach welchen der Geschmack sich 
ändert. Vielleicht besteht wirklich ein 
innerer Zusammenhang zwischen dem 
Fühlen und Denken einer Zeit und 
der Art, wie sie sich kleidet und man 
würde, das zugegeben, unschwer den 
Zusammenhang entdecken, in dem der 
Inhalt der mit romantischen Ideen ge- 
W füllten Köpfchen um 1830 zu ihrer 
Hülle steht. Das krause, bunte Vielerlei 




— 119 — 



iSs9t i^'avcmber Ln Mcde 

von Haube und Putz scheint in der Tat die passende Um- 
hüllung für ein unklares Durcheinander von Rittertum, Romantik, 
Weltschmerz, Mittelalter, Magnetismus und Gott weiß, was noch 
für AUotrien, die um 1830 herum das Interesse in Anspruch 
nahmen, während ein halbes Menschenaltcr später die Frau, 
deren Kleidung alles Unwesentliche abgestreift hat, einen 
seriösen, gesetzten Eindruck macht, als dokumentiere sich auch 
in ihrer Toilette der schwerwiegende Ernst, den die soziale 
Frage in die öffentliche Meinung trägt. Das ließe sich be- 
haupten, aber würde derjenige, der diesen Beweis zu erbringen 
versuchte, sich nicht mit Recht dem Vorwurf aussetzen: »Was 
ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren 
eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.« 

Jedenfalls entziehen sich die Faktoren, welche einen be- 



tfiener ZeitscAri/l 



bestimmenden Einfluß auf die weibliche Kleidung nahmen, 
unserer Kenntnis; keinesfalls waren es einzelne Persönlichkeiten, 
die darin maßgebend gewesen wären. Marie Antoinette war die 
letzte Herrscherin gewesen, die den Modeton angab, sie brachte 
wirklich neue Moden auf, welche die Pariser Schneider und Putz- 
macherinnen ihr absahen und nachahmten, die Frauen aber, 
welche ihr auf dem Throne folgten. Josephine und Marie Louise 
haben keinen Einfluß mehr auf die Mode gehabt, sie folgten 
ihr, nicht jene ihnen. Paris blieb für die Damentoilette tonan- 
gebend, aber die Frauen, welche in diesen Jahren in der Nähe 
des Thrones standen, haben sie nicht inspiriert. Die Herzogin 
von Angouleme hat die furchtbaren Tage ihrer Jugend, die sie 
aus Versailles in die Tuilerien und in den temple führten, nie 
vergessen und diese Eindrücke nie verwinden können, Wohltätig- 
keit und Frömmigkeit füllten ihre Zeit, sie kleidete sich in dunkle 
Stoffe und stets sehr einfach, nur gezwungen und für Feste legte 
sie Schmuck und Putz an. 

Ihre Cousine, die Herzogin von Berry, war in allem ihr 
Gegenspiel, jung, heiter, temperamentvoll, von einer Lebenslust, 
die auch die härtesten Schicksalsschläge, der unter so tragischen 
Umständen erfolgte Tod ihres Gatten, das Exil, nicht haben 
mindern können. Sie machte alles mit, besuchte, was ganz 
gegen die Etikette und vor ihr unerhört war, die Pariser 
Läden, ja sogar öffentliche Bälle und schwamm im vollen Strom 
des Vergnügens, an einem Hof moroser alter kranker Herrscher 
das einzige Element frischer Jugend. Eigentlich tonangebend 
war sie aber nicht, sie folgte der Mode nur und das glänzendste 
Ereignis, das sie herbeiführte, jener berühmte Ball, der im 
März 1829 den Einzug Maria Stuarts in die Tuilerien dar- 
stellte, und bei dem ein großer Teil der Hofgesellschaft die 
historischen Kostüme und Rüstungen seiner Vorfahren trug, 
war nur einer unter den vielen Maskenbällen jener Zeit. MUe 
Mars hatte schon zwei Jahre früher im Fasching 1827 einen 
Maskenball gegeben, um dessen Einladungen tout Paris sich 
gerissen hatte; dieselbe Schauspielerin hatte einige Jahre vorher 
in ihrer Rolle als Betty in der »Jeunesse de Henri IV.« die 
Halskrause und die Federhüte in die Mode gebracht, und auch 
unter dem Regime Louis Philipps finden wir, daß nicht die 
Damen der königlichen Familie, sondern die schönen Bühnen- 
künstlerinnen den Ton angeben. 



— 122 



1840, Juli 

WUntr Zeitschrift 



iSjij, Siptember La Mode 

Um schöpferisch an der Mode teilzunehmen, waren die 
Königin und ihre Schwägerin zu alt, die Herzogin von Orleans 
aber zu fremd, ihre kurze Ehe, inauguriert wie einst die Hochzeit 
Marie Antoinettes durch die große Katastrophe auf dem champ 
de Mars vom 14, Juni 1837 und schon im Juli 1842 durch 
den tragischen Tod ihres Gatten beschlossen, heß ihr kaum 
Zeit, in Frankreich heimisch zu werden. Die süße Schönheit 
von Leontine Fay dagegen, die bezaubernden Erscheinungen 
von Juha Grisi, Comdie Falcon und anderer Damen vom Theater 
verstanden, mit den Rollen, die sie schufen, auch die Toiletten 
durchzusetzen, die sie so verführerisch trugen. 

Es beginnt jener Toilettenluxus auf der Bühne, der bis 
in unsere Tage hinein nur gewachsen ist. Es war schon ein 
Ereignis, als Mlle Mars 1818 ein rosa Tüllkleid für 28z Fr. im 
Theater trug, zwölf Jahre später aber schreibt der Korrespon- 

— 123 — 



dent eines ileutschen Blattes ganz 
begeistert aus Paris, daß Mlle 
Bertin vom Theater des Varidt^s 
in ihrer letzten Rolle siebenmal 
die Toilette gewechselt habe, und 
stellt sie als Muster hin für die 
deutschen Schauspielerinnen, die 
man auf der Bühne und auf der 
Straße immer nur in ein und demselben Kleide sähe. 

Das Zepter der Mode war von der Herrscherin Frank- 
reichs an die Bühnenköniginnen übergegangen, aber ihr Thron 
blieb dauernd in Paris, keine fürsdiche Hochzeit, die nicht den 
Trousseau der Braut dorther bezogen hätte. Mme. Minette 
■ liefert 1830 die Ausstattung der Königin von Spanien, Calliaux 
ein Jahr später die der Prinzessin Marianne der Niederlande, 
welche sich an den Prinzen Albrecht von Preußen vermählte, 
und auch die Gräfin Alexandrine Potocka, die doch Wien so 
viel näher gehabt hätte — Wien, wo die bürgerlichen Kleider- 
macher Petko am Kohlmarkt, G. Beer in der Dorotheergasse, 
Langer in der Himmelpfortgasse so herrliche Toiletten kompo- 
nierten — zog es 1840 vor, ihren Trousseau aus Paris zu be- 
ziehen. 

Auch die Herrenmode Deutschlands empfing ihre Gesetze 
vom Ausland und der Versuch, den der Doktor Jakob Meyer- 
hoff 1816 in Berlin machte, ein Normalgewand für teutsche 
Männer einzuführen, blieb so resultatlos, wie es die eben dahin 
zielenden Vorschläge Davids zo Jahre früher in Frankreich ge- 
blieben waren. Immerhin hat die Heirenkleidung nicht ganz so 
einschneidende Veränderungen durchgemacht, wie die weibüche. 
Das Beinkleid blieb eng und man bevorzugte für dasselbe lange 
Zeit Trikotstoffe, der Frack war für Straße wie Gesellschaft de 
rigeur, der Rock galt nur als Neglige- Anzug. Den größten Luxus 
entfaltete die Herrentoilette in Westen und Halsbinden, denn 
der Anzug aus einem Stück, den 1830 der Schneider Wildgans 
in Mainz erfand, hat über die Person des Erfinders hinaus 
keinen Anklang gefunden. In Stoff und Schnitt war die Weste 
das Kleidungsstück de predilection, 1821 wechselte ihr Schnitt 
in Paris während acht Monaten fünfmal, ja man trug einige 
Jahre lang zwei Westen übereinander, eine von schwarzem 
Sammet und darüber eine zweite von weißem Pikee. 1831 kam 



JCrügtr, Auguttt Sich-CreHnger mit ihren Töchtern 
(aus lür t Parade'. jSji)} 



es auf, zu den Knöpfen echte Steine zu nehmen, und wenn 
Samniet auch der am liebsten gewählte Stoff blieb, so trug man 
doch 1832 Cashmir- Westen, die man schon von 200 Fr. an 
haben konnte, ja die bunte Luxusweste herrscht bis tief in die 
Jahre hinein, da der Herrenanzug schon ganz dunkel geworden 
ist, 1844 besteht der demier cri de la mode in einer Weste von 
rotem goldgestickten Sammet, oder einer solchen von weißem, 
mit bunter Seide ausgestickten Atlas zum schwarzen Gesell- 
schaftsanzug. 

Die Farblosigkeit, welche im großen und ganzen heute in 
der Herrenkleidung vorherrscht, stammt erst aus dem Ende der 
vierziger Jahre, 1832 war ein laubgrüner Frack, dazu lichtgrüne 
Weste und violettes Beinkleid totchic; ein fescher Reiter trug 
1837 veilchenblauen Frack mit goldenen Knöpfen und dazu 
Hosen von weißem Sammet; der Elegant wählte 1840 noch zu 
einem hellblauen Frack eine Hla Weste und weiße Beinkleider, 
wenn er nicht einen Frack von changeant Wollenstoff, etwa 
braun und grün zu einer gelben Weste vorzog. 

Die Mäntel verkündeten die gleiche Farbenfreude; 181 7 
war ein blauer Pilgermantel mit fünf Kragen und mit weißer 
Taffelseide gefüttert der Neid aller, die ihn nicht bezahlen 
konnten, ebenso 1822 ein aschgrauer, mit Chinchilla besetzter 
Pelz. Eine weitgehende Uebereinstimmung herrscht zwischen der 
Herren- und der Damenmode. Als für die Damen das Korsett 
wieder aufkommt, werden auch die Gilets und Röcke der 
Herren so auf Taille gearbeitet, daß, wer auf guten Sitz "hielt, 
wohl oder übel genötigt war, sich zu schnüren, und wer kein 
Korsett tragen wollte, trug wenigstens auf der bloßen Haut einen 
baskischen Gürtel, wie er sich seit 1830 verbreitete. 

Mit dem vielen Schmuck der Damen wetteiferten die kost- 
baren Nadeln, mit denen die Herren die kunstvollen Gebäude 
ihrer Krawatten halten und zieren mußten und als die Damen 
ihre Haare vorn auf der Stirn trugen, wickelten sich auch die 

Herren Locken und türmten sie auf die 
gleiche Stelle, ja, eine Zeitlang, etwa um 
1830, reichten die Herrenmäntel weiter auf 
den Boden hinunter, als die Kleiderröcke 
der Damen. 

Die Damen empfingen die Gesetze 
der Mode aus Paris, die Herren dagegen 

— 126 — 




Wintirkcdtir, Vicloirt Auguste Antoiuillt dl Saxi- Coinurg-Colha, duchesst 
de Nemoun. 1840 fmailln, Murium 



Danhauser, Lisil am Klavier 1840 

Btrliom (.'J PaganM üanini 
DuBtnl (!) Ciörgt Sand Listl C'AfiH d'Ass-ll 

aus London. Das war noch aus der Zeit so, als der große, der 
unsterbli he Brummel der ieader of tishion gewesen war Brum 
mel der zum Ordnen seiner Haire drei Fnseure brauchte weil 
derjenige der den Hinterkopf bearbeitete nichts von dem 
Arrangement der I ocken auf der Stim verstand und dieser 
nichts von den Schlafen Brummel der seine Handschuhe von 
zwei Fabnkanten herstellen ließ \on denen der eine nur die 
Daumtn der andere aber den Rest anfertigen durfte Er lebte 
nicht mehr der Rrummel der Legende er legetierte nur noch 
in einem frnnzosischen Irrenhaus seinen Platz nahm in London 
Graf d Orsay ein, in Paris Herr von Montrous. Aber sie herrsch- 
ten nicht ohne Opposition zu finden, die Neidischen behaupteten 
von ihnen, daß sie im Solde ihrer Schneider und Lieferanten 
stünden und daß, wenn der eine von ihnen bei Jackson in 
London, der andere bei Humann in Paris arbeiten ließ oder bei 
Dufour seine Krawatten kaufte, er für die bloße Reklame nichts 
zu bezah'en brauche. Grafd'Orsay, dessen Subsistenzquellen nur 
in einer Pension bestanden, die ihm seine geschiedene Gattin 



1840, Juni 
La Modi, Paris 



Milde, Direktor Ciassen und leim Familie. 1840 Hamiurg, Ku^sthali 



zahlte, hatte sich einmal 25 ganz gleiche Fracks auf einmal 
machen lassen, weil er es für unmöglich hielt, daß ihm jemals 
eine noch glücklichere Erfindung gelingen könne! 



Nur zögernd haben wir den Versuch gemacht, den Geist der 
Zeit mit ihrer Kleidung in eine gewisse Uebereinstimmung zu 
bringen, weil man dabei zu leicht in die Versuchung geführt wird, 
zu finden, was man wünscht; dieser Gefahr ist man aber nicht 
ausgesetzt, betrachtet man die Art und Weise, wie die Generation 
von 1830 sich einrichtete, wie sie wohnte. Da trifft das »Zeige 
mir dein Zimmer, und ich will dir sagen, wer du bist« mit der 
Sicherheit eines richtig gelösten Exempels ein. Der Geist der 
Biedermeierzeit, der, aus der Not eine 
Tugend machend, nur in der Einfach- 
heit wahre Vornehmheit sah, hat die 
Kahlheit der überkommenen Empire- 
Kunst bis zur größten Nüchternheit 
geführt. Leere Zimmer, Papiertapeten 
mit mageren Mustern, wenig Möbel, 
deren gerade, glatt polierte Flächen 
das Staub ' hen u Lust machten, 
an den kahl n W nden Kupferstiche 
oder L 1 ograph en n Leistenrahmen, 
die, sta d k a zu wirken, nur 
dunkle Fl k b Iden so sahen die 
Räum au n le en man sich da- 
zumal hl ful 1 e D n Schmuck der- 
selben bildeten die Gardinen, deren Drapierung möglichst raffi- 
niert, am liebsten aus mehreren Schals verschiedener Farben ge- 
mischt, der Tapezier besorgte ; theoretisch beschränkt sich denn 
auch fast ein Jahrhundert hindurch die Wohnungskunst darauf, 
dem Tiipezier Anleitung zu geschmackvollem Arrangement der 
Vorhänge zu geben. 

Das Möbel übernahm man, wie das Empire es hinterlassen 
hatte, nur daß die Profile immer einfacher, die Flächen immer 
glatter und der Bronzezierat an denselben immer mehr ein- 
geschränkt wurde. Als Material bevorzugte man das Mahagoni, 
dessen schöne rötUche Farbe bei sorgfaltiger Behandlung mit der 
Zeit zu einem köstlichen warmtönigen Braun eindunkelte. Das 
Möbel jener Jahre hat etwas Schwerfall ige s, Gewichtiges, es re- 
präsentiert in seiner soliden Mache und Haltbarkeit die gediegene 
Hand Werksleistung eines tüchügen Bürgertums, das den Wert seines 
Besitzes kennt und schätzt. Es hat sich denn auch zu den Schränken 
seiner Vorfahren einen neuen hinzu erfunden, der seiner Wesens- 

— 130 — 



IVitilerhaätr, Mttrit Careline Auguste dt Beurbon, 
Duchtsse iPAumaU (um iS^a) 



art mit beinahe bildnisartiger Treue entspricht, die Servante, 
jenes Möbel, dessen Rückwand ein Spiegel, dessen Seitenwände 
und Türe aber Glas bildet, so daß sein Inhalt vor aller Augen 
prunken kann, ohne daß Staub oder diebische Hände ihm etwas 
anhaben können; die Servante ist das Biedermeier- Möbel kat- 
exochen. 

Das romantische Element in der Möbelkunsl repräsentieren 
die Schwäne, die man vor 1830 gern als Lehnen an Sofa und 
Fauteuil anbrachte, vor allem aber die Pseudogotik, welche 
die Freude am Mittelalter auch in das Möbel einführt. Pseudo- 
gotik, weil man nicht wirkliche echte a!te* gotische Möbel nach- 
bildete, sondern, weil man sich an die gotische Kathedrale um 
Belehrung wandte, ihr das spitzbogige Maßwerkfenster entnahm 
und mit seiner Hilfe Möbel und Geräte bildete, die um so mehr 
Beifall fanden, je mehr Elemente des Kirchenbaues sie aufwiesen. 
Aus jener Zeit stammen die Sessel mit einem Kathedrale nfenster 
als Rücklehne, die Einbände mit gotischem Maßwerk überzogen, 
die Standuhren mit den Kirchen fronten. 

Neckische Beispiele dieser romantischen Möbelkunst findet 
man noch heute in allen gotischen Schlössern von Oscarshall 
vor Christiania bis Laxenburg bei Wien, ein Prachtbeispiel ist der 
Schreibtisch, den König Ludwig L von Münchner Künstlern er- 
hielt, ein Aufbau, an dem man alle Formen gotischer Kirchen- 
baukunst studieren kann, den zu benützen oder gar reinzuhalten 
aber eine arge Strafe sein dürfte. Es waren eben Architekten- 
Möbel. 

Die klassischen Traditionen setzte Schinkel fort, nach dessen 
Entwürfen nicht nur ganze Schloßeinrichtungen, sondern auch 
Möbel für das Bürgerhaus gefertigt wurden, in einem Stil, weniger 
pompös als etwa der von Petcier und Fontaine, aber auch weniger 
nüchtern als der von Desmalter und Jacob. 

In der Mitte der dreißiger Jahre kommen »" 
Möbel auf, als Bettstellen, Stühle, Gueridons, Jardinieren, 
es ist sehr bezeichnend für die Zeit, daß 
ihnen als besonderer Vorzug nachgerühmt 
wird : sie ließen sich in jeder Holzart täu- 
schend nachahmen. Kurz nach 1840 er- 
scheinen die französischen ganz überpol- 
sterten Möbel und mit ihnen gelangt der Ta- 
pezierstil zu ausschließUcher Herrschaft. 



Königin Elisabeth von Preußin. 1S40 Bmiir 

B-rliK. Schieß Menbijmi 

Das einzige Gerät, bei dem die Kunst nochj; mitzusprechen 
hatte, war die Stutzuhr, die, am liebsten sockeiartig gebildet, 
als Bekrönung Figuren trug, in denen man dem romantischen 
Geschmack in alle Phasen der Sentimentalität folgen kann. Da 
ist der Freischütz und Agathe, der schöne Phübus und Esmeralda, 
Robert der Teufel flucht und Fanny PUßler tanzt, Ritter und 
Fräulein, Minstrels, Troubadoure, Schäfer, Edelknaben, Räuber, 
Nonnen singen, beten, lieben und verzweifeln. — - Die Pedanterie 
begleitete diese Uhren rechts und links mit passenden Armleuch- 
tern und schuf so eine Garnitur, die womöglich noch mit da- 
zwischen aufgestellten Vasen voll künstlicher Blumen für den Zeit- 
t-csi'hmack typisch geworden ist. Die ganze Pracht stand unter 



WinUrhalttr, Königin der Btlgitr (umiS4o) 



Miyerhäm, Kdnigin^Elisaitlk v 



Glasstürzen in Frankreich auf 
dem Kamin, in Deutschland 
auf der Kommode in der 
sguten Stube«. Das Material 
war Bronze, später bronzierter 
Zinkguß; in Deutschland ver- 
breiteten sich über Wien italie- 
nische Alabaster- Skulpturen 
als Vasen, Schalen, Uhren, 
deren weiches Material leichte 
Bearbeitung bei billigen Prei- 
sen ermöglichte und deren 
buttrige Eleganz einem aut 
zuckrige Süße gerichteten Ge- 
schmack behagte. 

Die vornehme Welt lieble 
es, ihre Zimmer mit Porzellan zu schmücken, vieux Saxe, Alt- 
Cliina und Japan wunlen die rage, aber auch in dem Arrange- 
ment dieses Materials macht sich die Pedanterie der Zeit geltend. 
Das Rokoko hatte in seinen Porzellan -Kabinetten wahre Triumphe 
seiner überlegenen Dekorationskunst gefeiert; da umschmeichelt 
luftiges Rankenwerk leichte Spiegelwände, die ihm kaum Halt 
zu geben scheinen, und trägt auf Konsolen, die launischer Zu- 
fall gebildet, Figuren, Schalen, Vasen, die ihre kokette Erschei- 
nung im Quecksilber der Wände spielend vervielfältigen ; alles 
ist auf Grazie und Zierlichkeit berechnet, dem zerbrechUchen, 
leichten Material entsprechend; — die Biedermeierzeit dagegen 
reiht hübsch ordentlich Teller an Teller, Schale an Schale, in 
geradlinigen Schränken hinter Glas, die Genauigkeit, die Syste- 
matik vor allem ; pcinhch und regelrecht, auch in der Spielerei 
des Boudoirs. 

Der Bürger, dessen Mittel ihm die Anschaffung alten Por- 
zellans verboten, trieb seinen Luxus mit dem der Berliner, 
Wiener, Nymphenburger u. a. Manufakturen, zumal mit der 
Tasse. In der Kaffeetasse entdeckt uns Biedermeier sein 
Herz: da ist er patriotisch und sentimental, verschwenderisch 
und genügsam, sinnig, witzig, gefühlvoll, scherzhaft, launisch, 
wie man ihn will. Man malte Tassen zur Erinnerung an große 
historische Ereignisse, man schmückte sie mit den Bildern der 
königlichen Familie und mit Ansichten berühmter Orte; die 

— 134 — 



1S40, Mai La Mode 

Porträts der Angehörigen zieren sie, wie die zeitgenössischer 
Zelebritäten, die Blumensprache gibt Liebenden wonnige Rätsel 
auf, Ehegatten versichern sich ihre Neigung ohne Umschweife, 
Eltern, Kinder, Freunde, Verwandte, Vorgesetzte und Unter- 
gebene geben sich in Tassen ihre Gefühle kund, die Tasse ist 
das bevorzugte Geschenk, der beliebteste Zimmerschmuck; wie 
Friedrich Wilhelm III. sein Arbeitszimmer mit Pyramiden voller 
Porzellantassen füllte, so sammelte auch der Bürgersmann in 
seiner Servante in Tassen die Erinnerung an die wichtigsten 
Ereignisse, die wertvoUsten Stunden seines Lebens. 

Der Komfort mangelte in der Wohnung, wie im Leben 
der OefFentlichkeit. Die ReinUchkeit der Straßen ließ ebenso- 
viel zu wünschen übrig, wie die Beleuchtung; lange Jahre 
kannte die Chirurgie die BerUner Rinnsteinfraktur, den Bruch 

- Uö - 



des Handgelenks, den sich der in den Rinnstein Fallende durch 
das instinktive Aufstützen der Hand zuzog. Ein gewisser Hom 
in Dresden erfand 1817 den Laternstock, der sich aus einem 
Spazierstock in eine Laterne verwandeln ließ, damit der Träger 
sich damit heimleuchten könne! Die Gasbeleuchtung kam 
1 8 1 8 aus England nach Paris, wo sie keinerlei Beifall bei der 
Bürgerschaft fand, weil der König sich für die Einführung 
interessierte; nach Deutschland gelangte sie noch später. Erst 
vom I. Januar 1823 an ist der Leuchtturm in Neufahrwasser 
durch Gas beleuchtet worden und erst 1826 führte man in 
Berlin die Straßenbeleuchtung mit Gas ein; als am 18. Sep- 
tember Unter den Linden zum ersten Male Gas brannte, platzten 
sämtliche Laternen zum großen Gaudium der Straßenjungen 
und aller jener, die der neuen Erfindung nichts Gutes prophe- 
zeiten; auf der Bühne wurde das Gas erst 1831 in Paris ge- 
legentlich der Premiere von »Robert der Teufel« verwandt. 
Die Geselligkeit nimmt neue demokratische Formen an. 
Unter dem ancien regime hatte ein Grandseigneur entweder 
täglich, oder mehrmals in der Woche offene Tafel für seine 
Freunde gehalten, das war eine Last, die seine Stellung mit 
sich brachte; die Bourgeoisie richtet das ökonomischer ein: 
die Klubs kommen in Frankreich, die Vereine in Deutschland 
auf. Napoleon I. hatte die enghsche Einrichtung der Klubs, 
aus Furcht, Verschwörungsherde in ihnen zu schaffen, nicht 
geduldet, unter Louis Philipp entstanden aber in Paris bereits 
vier, darunter der heute noch vornehmste von allen, der Jockey- 
Klub ; in Deutschland entstehen die Vereine, die Kasinos, welche 
die Kosten der Geselligkeit gleichmäßig auf die Schultern aller 
Teilnehmer verteilen und mit einer möglichst geringen Aus- 
gabe das Höchstmaß von Unterhaltung erzielen. In Hamburg 
gründete Hanfft 18 16 seine »Erholung«, die aber bei der Ex- 
klusivität, in welcher die guten Familien am liebsten ganz unter 
sich blieben, keinen rechten Fortgang nehmen wollte, um so 
weniger, als der Unternehmer nicht einmal auf die Sonntage 
rechnen konnte, an denen vornehm und gering damals schon 
gewohnt war, die Stadt zu fliehen und Ausflüge in die Um- 
gebung zu machen. Langjährigen Bestehens dagegen erfreute 
sich der 1820 in Dresden gegründete Liederkreis, dessen Teil- 
nehmer alle 14 Tage reihum von 6 — 10 Uhr zusammen- 
zukommen pflegten, und die 1826 in Berlin gegründete Lite- 

- 138 - 



Pittr («ach Daßngir) , Kaistrin . 
vtn Ocsterreich (um 1S40}. 
tckmg, Dit BildaUminiatitrin I 



Rayski, Mina Pompilia 



. , . lUl uri avtc «n cachrmirt tinq quarl h midi, au moit di juiUll 

'"" Aui Bta«mml • Vspira au XIX' liidi . 

rarische Mittwochsge Seilschaft, der etwas spater der sTunnel 
unter der Spree» folgt, eine Vereinigung, der jahrzehntelang 
alle geistigen Kapazitäten angehorten, die an den Ufern der 
Spree zw Hause waren 

Bei den Wiener Prnatballen nahmen die Gastgeber, um 
auf ihre Kosten zu kommen, bis zu 6 fl Entree' Wie es dann 
dort zuging, das haben Cascelh und Saphir in ihren Humoresken 



drollig beschrieben. Die Sparsamkeit, die auch in den besten 
Kreisen geübt wurde, illustriert am besten jene Erzählung Bis- 
marcks, daß er und seine Freunde sich einst in ein Haus, in 
dem das Souper besonders frugal zu sein pflegte, Butterbrote 
mitnahmen und in der Tanzpause verzehrten — worauf sie 
allerdings nicht wieder eingeladen wurden. 

Man unterhielt sich, wie heute, die Alten spielten Whist 
oder L'hombre, die Jugend tanzte. Zu dem Walzer, der sich 
schon unter dem Kaiserreich durchgesetzt hatte, treten unter 
der Juli-Monarchie noch Mazurka und Schottisch; die Polka 
wird so beliebt und so leidenschaftlich getanzt, daß die Spötter 
1844 von »Polka Morbus« sprechen. In Paris brachte das 
Beispiel der Gräfin Appony, der Gattin des österreichischen 
Gesandten, die VormittagsbälJe in Mode; sonst pflegte man erst 
abends zusammenzukommen, i8z6 begannen die Bälle der 
vornehmen Welt erst nach 10 Uhr und 1831 wurde in Pariser 
Soireen das Souper erst um 2 Uhr serviert. Manchesmal aber 
hat man sich durchamüsiert, die Geburtstagsfeier der Kaiserin 
Charlotte von Rußland am 13. Juli 1829 im Neuen Palais zu 
Potsdam, begann den Zauber der Weißen Rose vormittags mit 
einem Toutnier, setzte sich mit lebenden Bildern fort und 
endete erst in tiefer Nacht mit einem Ball. 



Cruikskank, Preiii 



Cruitshank, Discount; aus yThi Comic Almanachi 1S43 

Lebende Bilder, deren erstmaliges Erscheinen in der Ge- 
sellschaft wir auf dem Wiener Kongreß sahen, bUeben eine 
Lieblings Unterhaltung. Manche der großen Feste haben sich in 
ganzen Folgen lebender Bilder abgerollt, so am Hofe in Berlin 
1818 die Weihe des Eros Uranios, iSar Lalla Rookh, 1843 
das Hoffest in Ferrara, Feste von sehr gebildetem Zuschnitt, 
die bei Teilnehmern und Zuschauern ausgedehnte literarische, 
historische und ästhetische Kenntnisse voraussetzten. Den 
Deklamationen und Gesängen legte man gern Texte berühmter 
Dichter zugrunde; wählte man in Berlin Thomas Moore für 
. Lalla Rookh, so nahm Graf PaltTy in Dresden i8zz für sein 
großes Maskenfest Schutzes Bezauberte Rose, und wie beliebt 
Walter Scott für diese Zwecke war, ist schon ausgeführt worden. 
Von programmatisch sich abspielenden Festen erwähnten wir 
schon den Ball der Herzogin von Berrj'; in Deutschland hat 
wohl der große kostümierte Festzug, mit dem die Münchener 
Künstler 1840 König Ludwig ehrten, das größte Aufsehen ge- 
macht; ihm dürfen wir wohl jenen Mannheimer Faschingszug 
vom Jahr 1841 an die Seite setzen, der die Hochzeit Kaiser 
Friedrich II. mit Isabella von England darstellte. 



— U» ferl marchKt 



.Vnfira au XIX"' tlicU» 



Alt, Frau Pamingtr. 1S4S Sammlimt Elßlir, 



Enfin, man kann nicht immer tanzen in Gesellschaft, 183 1 
beginnen die Damen die Lotterien zum Besten der Armen als 
Unterhaltung und 1843 veranstaltet die Königin in den Tuilerien 
den ersten Wohltätigkeitsbasar großen Stils für die Opfer des 
Erdbebens in Guadelupe. 

Dem Sport wurde damals wenig gehuldigt, in Preußen 
galt das Turnen für staatsgefahrlich und das Boxen, das Eugene 
Sue in Paris kurze Zeit durch seine »Geheimnisse von Paris« 
in die Mode brachte, so daß die Lions sich einen Professor 
dafür aus London kommen ließen, hat sich nicht lange in 
der Gunst gehalten. Die Vorliebe für das Mittelalter brachte 
die ritterliche Falkenjagd wieder in Mode, sogar das Bogen- 
schießen, in dem sich Königin Viktoria in ihrer Jugend aus- 
zeichnete ; viel nachhaltiger, als diese Launen der Mode aber 
behauptete sich der Reitsport, der sich von England aus 
den Kontinent eroberte. 

In Berlin fand am 17. Juni 1829 das erste Pferderennen 
inländischer Zuchten statt, um dessen Zustandekommen sich 
ein Baron Eckardstein und ein Rittmeister von Willisen ver- 
dient gemacht hatten; in Paris begünstigte der Herzog von 
Orleans, der 1842 bei einem Sturz aus dem Wagen das Leben 
einbüßte, den Rennsport. 

Von etwa 1830 an wird es bei den Damen Mode, zu 
reiten, und die Modejoumale bringen regelmäßig fast ebenso viele 
Reit- wie Gesellschaftskleider ; es wird Chic, sich auf dem Korso 
zu Pferde sehen zu lassen, und wenn Wien für diese Veran- 
staltung von jeher seine kösthche Praterallee, Dresden seinen 
großen Garten hat, so wählt man in Berlin seit 1833 den 
Tiergarten dazu, in dem der Korso zwischen dem Brandenburger 
Tor und dem Hofjäger stattfindet. 

Wer aber durch keine dieser geselligen Veranstaltungen 
in den Hafen der Ehe zu gelangen wußte, dem boten 
seit Anfang der zwanziger Jahre die Heiratsbureaus ihre Ver- 
mittlung an ; in Paris hatte 1826 das Villiaumesche besonderen 
Ruf und das Bureau Defoy verdankte seine Zelebrität dem 
Umstand, daß die berüchtigte Giftmischerin und Diamanten- 
diebin Marie Lafarge geb. Capelle durch seinen Beistand zu 
dem Manne gekommen war, dessen sich die interessante Sün- 
derin so bald wieder zu entledigen wußte. 

Das Geschlecht von 1830 liebt an der Frau anmutige 



— 145 — 



10 



Dcviria. Musikstunde LUkegraphit 

Schwäche. Es ist Mode, blaß zu sein, man fällt, wie Frau von 
GirardJn uns verrät, wieder in Ohnmacht, was eine Zeitlang 
ganz aus der Mode gekommen war; durch den Gebrauch der 
Lorgnette, die keine Frau von Welt entbehren kann, nuanciert 
sie eine liebens würdigte Hilfsbediirftigkeit, und wenn sie bei 
Tisch wenig genießt, ihre Handschuhe ins Glas steckt, so zeigt 
sie, wie ätherisch ihre Natur beschaffen ist. Brillat Savarin 
hatte noch die anmutige Esserin gepnesen das ist längst vieux jeu ; 
eine Dame die ctwis auf sich hilt dirf höchstens einige Süßig- 
keiten knabbeni und dann verlangt sie seit 1825 bei Tisch 
Wasser zum MumKp ilen und seit 1830 Schalen zum Finger- 
waschen 

W-ihrtnd die trauen sich in ihrer \rt bemühen, die Kultur 
der GtsillsLhafi zu \erftinern bringen die Männer eine große 
Unirt hinein nw ht diß sie seit die Frau die Lorgnette nicht 
mtnr cntbchien k mn das alberne Monocle akzeptieren, nein, 
aber sie machen das labakrauchcn allgemein. Im 18. Jahr- 
hundert hatte die gute Gesellschaft ilcn Tabak nur in der 

— 146 - 



I Elisabelk Roebir 



" ■ "^ i-i-'^. Form der Prise 

zu sich genom- 
men, das Pfei- 
fe nra liehen galt 
; für schlechten 
Ton, allenfalls 
den Männern 
gelehrter Berufe 
achselzuckend 
zugute gehilten 
So blieh es bis etwa 1830 dinn ahtr verbreitet sich die 
Mode des Rauchens wie eine Seuche befordert durch den 
Widerspruch der Frauen I ortl B\ron hatte die Zigarre be 
sungen, Alexandre IJumas feierte die Zigarette 1840 ist d»s 
Rauchen zwar noch ungern gcbchen aber doch schon zu einer 
Gewohnheit geworden die auch der Poh/eistaat durch drako 
nische Verbote und schikanöse Erschwerungen nicht mehr hin 
dem kann In Preußen war es anfanghch verboten auf der 
Straße Zigarren zu rauchen dann wurde es zwar erlaubt aber 
die Zigarre mußte der t euersgefahr wegen in einem Gestell 
von Draht ^ erwahrt werden \or jeder '^childwache mußten 
bis 1848 die Raucher Honneur machen indem iie Zigarre oder 
Pfeife aus dem Mund n ihmen und in der H.and behielten , 
Arretierung stand auf Zuwiderhandeln 

VVir haben schon eingangs erwähnt wie außerordenthch 
die Kntw'icklung der Lisenbahnen den Verkehr begünstigt hat 
das machte sich nichl nur in Handel und Industrie sondern 
auch im Leben der Gesellschaft geltend Die guten btraßen 
die Napoleon I aus mihtanschen Rucksichten hatte bauen 
lassen, erleichterten das Reisen schon ganz außerordenthch, 
noch mehr war das natürlich der Fall ah die Eisenbahnen 
die Unterschiede der Entfernung auf ein Mi 
nimum von Stunden reduzierten So finden 
wir denn auch alsbald in der \omehmen Ge 
Seilschaft das Weltbürgertum das aus dem 
Leben der Nationen als solches verschwand ; 
Engländer, Polen, Russen, Ungarn mischen 
sich in die Zirkel der einheimischen beau 
mondc in Paris und Wien, wie in kleineren 
Städten. Graf Appony, Fürst Czartoryski 

- 14S - 



See! Dil Schiveslirn Bloim 



geben in Paris, Clraf Batthyany in Mailand den Ton an, 
Weimar hat seine englische Gesellschaft, wie Paris, wo man 
1836 dukes, marquisses, peers und lords nach Dutzenden zählt, 
18 14 war die Badereise der Herzogin von Angouleme nur bis 



Vichy gegangen, 
nach Dieppe imd 
die Pj renäenbäder 
ja, die Koni- 
gin \ iktoria 
und der fran- 
zosische König 
treffen sich in 
Pau, statt in 
Paris. Aristo- 
kratische Rei- 

Fürst Pückler, 
führen ihre Af- 
fektation und 
ihre Blasiert- 
heit durch 
ganz Europa 
bis in den Ori 
ent und R 
manschreiber 

enlschuldi{,en das ein Re 

kord de sen Schnelligkeit mit \\ agen und Pferden allein auch 
heute noch kaum ges(,hligen werden d irfte «ahrend es uns 
komisch 1 eruhrt wenn \Mr lesen diß der Konig von Sachsen 
im 7 Sei tember i8^8 in der unerhört kurzen Zeit \on nur 
i;'/ä stunden von I tip/ig nach Dresden fuhr 1839 verkehrte 
bereits der erste b< hhfmgen zwischen BaUimore und Phila 
dclphia 1840 tut England mit der Einfuhrung der Penn) post 
einen Sehr tt der das Postwesen nicht mit "hieben sondern 
mit Hunde rtm eilen stiefeln firderte 

Im Mittelpunkt der gesellschaftlichi-n Interessen stxnd in 
Deutschland das Theater denn in dem Deutschland des Vor 
marz war die Politik völlig ai sgeschallet es existierten keine 
Pirlamcnte w e m Jiaikreith wo d e Damen hitten nach Sen 
sati neu haschen können odn v it 11 Fii,lii I \o die Frauen 



824 K'ig fl'e Herzogin von Berry schon 
unter Louis Philipp besuchte man bereits 
Luchon, Bagn^res de Bigorre, Arcachon, 
sich beim Pu- 
blikum , daß 
sie ihre Hel- 
den und Hel- 
dinnen stets in 
der Postkut- 
sche herum- 
reisen lassen, 
statt daß die- 
selben fein zu 
Hause blie- 
ben. Wenn der 
Kaiser Niko- 
laus 1S34 in 
vi erTagen von 
St Petersburg 
nach Berlin 
J!bii Mri DaUott Jährt so ist 



Chassiriau, DU Schwtslirn 



IVimer Ztitschifl 



1840, März 
Wiener Zeilschr 



i84'. Man La Mode 

es 1836 endlich durchsetzten, daß ihnen der Zutritt im den Ver- 
handlungen des Unterhauses gestattet wurde. Mit einer an Aus- 
schließlichkeit grenzenden Allmacht füllte das Interesse weniger 
an der Bühne, als an den Künstlern, die sich auf ihren Bret- 
tern bewegten, die Köpfe und Herzen der Menschen, denen es 
versagt war, am öffentliclien Leben in irgend einer anderen 



Danhataer, Gräßn iPAgouIl 



Form teilzunehmen. Man beschäftigte sich leidenschaftlich mit 
allem, was Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger, Sänge- 
rinnen und Virtuosen taten oder ließen, der Enthusiasmus nahm 
Dimensionen an, die uns heute komisch dünken, 

Als Henriette Sontag, deren Weltruf die Berliner ge- 
macht haben, einmal in Paris erkrankt war und diese Nach- 
richt nach Berlin gedrungen war, setzten sich einige ihrer Ver- 
ehrer in die Postkutsche, fuhren Tag und Nacht bis Paris, er- 
kundigten sich nach dem Befinden der Diva und fuhren wieder 
unverzüglich zurück, um den Berlinern authentische Nachrichten 
überbringen zu können ! Als dieselbe Sängerin 1827 nach London 
kam, schloß das Unterhaus die Sitzung früher,damit seine Mit- 
glieder ja nicht zu spät ins Theater kämen! Der Mali bran- Garcia 
wurden in Italien wiederholt die Pferde ausgespannt, wenn sie 
vom Theater heimkehren wollte, und die hingerissenen Zuhörer 
ließen es sich nicht nehmen, den Wagen der Sängerin selbst 
zu ziehen. 

Die Zeitungen berichteten über Reisen, Aufenthalte, Gast- 
spiele der Bühnenkünstler mit einer Ausführlichkeit, die sie heute 
nicht mehr an gekrönte Häupter wenden ; ein wahrer Nebel von 
Sagen und -Legenden umhüllte die gefeiertsten Sterne: von dem 
Tragöden EDlair munkelte man, er sei ein Freiherr von Kheven- 
hüUer, der, mit dem Fluch seiner Familie belastet, zur Bühne 
gegangen wäre, und was Paganini alles nachgesagt wurde, reichte 
für den grausigsten Hintertreppenroman. Daß er seine Braut 
erwürgt habe und in jahrelan- 
ger Kerkerhaft sein Geigenspiel 
schließlich nur mit Zuhilfenahme 
der g-Saite gelernt habe , war 
noch das mindeste, andere mach- 
ten ihn zum Muttermörder, und 
während er selbst Europa durch- 
zog, spielten Pariser und Lon- 
doner Theater Melodramen seines 
Lebens. Seine unheimhche Häß- 
lichkeit und sein Spiel faszinierten 
das Publikum, und noch einmal 
füllte sein Name die Blätter, als 
er 1840 starb und ein Vermögen 
von i'h Millionen hinterließ. , 

- 'S5 — 



Ersingen, ertanzen, erspielen konnten sich die Sterne von 
damals ebenso leicht Vermögen wie heute, und wenn man den 
größeren Wert des Geldes bedenkt, so sind die Honorare sehr 
beträchtlich, deren Ziffern bekannt wurden. Maria Taglioni, die 
gefeierte Tänzerin, an der man besonders die »Grazie des Schreck- 
lichen« in dem Ballett »Blaubart« bewunderte, erhielt 183a 
in London für drei Monate 70000 Fr.; Fanny Elfiler, ihre 
Rivalin, brachte von einer Gastreise aus Amerika 300 000 Fr. 

_ 156 - 



Montai, Gruppe aus der t Ftliimutei . 184g 



mit und empfing für ihr kurzes Gastspiel in der Havanna allein 
51 000 Dollars. Ole Bull erspielte sich 1843 i^^ Amerika binnen 
zwei Monaten 250000 Dollars, Thalberg 1839 in Petersburg 
in drei Konzerten 20000 und in Moskau 40000 Rubel. Sie 
alle aber stellte doch Liszt in Schatten, der sein langes Leben 
hindurch die Welt stets aufs neue verblüfft hat, erst durch sein 
Talent als Virtuose, dann durch sein Genie als Komponist und 
nicht zuletzt durch die Größe seines Charakters als Mensch. In 
den Jahren, von denen wir jetzt sprechen, befand er sich noch 
in der Phase des genialen Virtuosen; er durchflog Europa von 
einem Ende zum andern wie ein Triumphator, und von der 
Unwiderstehlichkeit seines Spiels und seines Wesens können 
heute nur noch die wenigen zeugen, die ihn gekannt haben. 
Wenn andere Künstler Reklame mit ihren Einnahmen machten, 
so setzte er die Welt durch seine Uneigennützigkeit in Staunen, 
ja, er beschämte sie, denn er ist es, der 1839, als das Beethoven- 
Denkmal in Bonn aus Mangel an Mitteln nicht zustande zu 
kommen droht, sofort 60000 Fr. an das Komitee sendet und 
e& übernimmt, auch noch den ganzen Rest der Kosten allein 
zu bezahlen. 

Die Leidenschaft für den Theaterbesuch zeitigt neue Berufe, 
die Claque existierte schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts; 
nun führten die Pariser Direktoren auch noch »Pleureusen« 
ein, deren ansteckendes Schluchzen den Melodramen ihre Erfolge 
sicherte, und »Chatouilleurs«, die im geeigneten Moment durch 
fröhliches Lachen den Abend retten. . 

Der Aufenthalt im Theater muß gerade nicht sehr genußreich 
gewesen sein, denn es kann doch nur hygienisch aufgefaßt werden, 
wenn man liest, daß um 1823 herum Herren und Damen Nelken- 
sträuße mit ins Theater nahmen, die bis zu 180 Sorten in einem 
Bukett enthielten ; war das notwendig, so war es allerdings immer 
noch anmutiger, als wenn wir hören, daß die Damen in Königs- 
berg und Magdeburg auch ins Theater ihr Strickzeug mitzunehmen 
pflegten. 

Fällt durch den Massenbedarf an starkriechenden Blumen 
auf die Ventilation der damahgen Theater ein keineswegs günstiges 
Licht, so stellen auch die zahlreichen Theaterbrände jener Jahre der 
Sicherheit der Gebäude ein schlechtes Zeugnis aus. Am 29. Juli 
1 8 1 7 brennt das Berliner Schauspielhaus ab (die Berliner Zeitungen 
versicherten, daß dieser Brand das schönste Schauspiel gewesen 

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sei, welches das Haus während seines Bestehens den Besuchern 
geboten habe 1). Am 14. Januar 1823 geht das Münchener Hof- 
theater in Flammen auf, ohne daß andere Unglücksfälle dabei 
vorkommen, als die Beschädigungen, welche der Uebereifer von 
Wachmannschaft und Polizei den zum Löschen kommandierten 
Bürgern zufügen. Bis zum Brande des Berliner Opernhauses am 
18. August 1843 hat noch viele andere Bühnen das gleiche Schick- 
sal erreicht, ohne daß die Freude am Theater dadurch beein- 
trächtigt worden wäre, im Gegenteil, die zahlreich auftretenden 
Virtuosen schufen einen neuen Typ, den Dilettanten. 

Bis in die zwanziger Jahre hinein war das Instrument des 
Salons die Harfe, deren Handhabung den Damen gestattete, 
schöne Arme in runden weichen Bewegungen zur Schau zu 
stellen, aber dies Instrument verschwindet seit 1830 völlig aus 
Haus und Familie und selbst ein Virtuose wie Parish-Alvars 
kann ihm seine Beliebtheit nicht wiedergeben, das Klavier hat 
die Harfe völlig verdrängt. Vor dem Jahre 1820 war das 
Pianino noch verhältnismäßig selten, aber seit die französischen 
Instrumentenbauer Erard seit 1823 ihre Flügel mit Repetitions- 
mechanik versehen, gewinnt das Klavier immer mehr an Boden, 
der Ruhm und die Einnahmen der reisenden Virtuosen fordern 
zur Nachahmung heraus und neue Fabriken, Bösendorfer in 
Wien seit 1828, Steinweg in Braunschweig liefern immer bessere 
Instrumente, gegen die auch die vorübergehend beliebte Phys- 
harmonika, die Klaväoline nicht aufkommen können. Die Vir- 
tuosen haben das Klavierspiel in den Salons eingebürgert, schon 
dadurch, daß die Nuancen ihrer Kunst dem Gespräch einen 
endlosen Stoff boten. Man nannte damals Thalberg den König, 
Liszt den Propheten des Klaviers, man fand, Chopin spiele 
wie ein Dichter, Kalkbrenner wie ein Minstrel, Doehler wie 
ein Pianist; man hieß Madame Pleyel die Sibylle, Herz den 
Advokaten, Leopold von Meyer endlich den harmonischen Orkan. 

Wenn man betrachtet, wie eine Zeit sich kleidete und wie 
sie sich amüsierte, sollte man da nicht auch wissen, was die 
Menschen taten, wenn sie krank waren? Den Standpunkt der 
ärztlichen Kunst dieser Zeit darzulegen, kann hier nicht unsere 
Aufgabe sein, aber man darf nicht unerwähnt lassen, daß jene 
Jahre ein Eindringen des Laien-Elementes in die Ausübung des 
ärztlichen Berufes erlebten, das in seiner Wirkung und in seinen 
Folgen für die ärztliche Wissenschaft von größter Bedeutung 

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