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I
DIE MODE
MENSCHEN UND MODEN IM
NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT
NACH BILDERN UND KUPFERN DER ZEIT
AUSGEWÄHLT VON DR. OSKAR FISCHEL
TEXT VON MAX VON BOEHN
1818 — 1842
MÜNCHEN
VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A,-G.
190;
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I
Published November 7, 1907, Privilege of Copyright in the
United States reserved under the Act approved March 3, 1905 by
VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A.G , xMÜNCHEN
\
(Die Vereinigten Staaten von N.- Amerika machen den spärlichen,
auf die Datier eines Jahres bemessenen Schutz gegen Nachdruck^
den sie geTvähren^ von dem wörtlichen Abdruck vorstehetider For-
mel abhängig und zeigen damit, daß bei der gesetzgebenden Mehr-
heit der Bewohner ihres Landes die Begriffe vom geistigen Eigentum
anderer Völker noch nicht so entwickelt sind, wie bei uns.
Die Verlagsanstalt.)
Alle Rechte, besonders das für fremdsprachliche Ausgaben vorbehalten.
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ALPUUNS liUUt'KMANN, MÜNCUKH. (
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MRS. L b: JONEd
2-1 -Ö7
Für eine kurze Spanne Zeit ist hier versucht, was
für die gesamte Kostümg-eschichte geleistet werden
sollte: die äußere Erscheinung einer Epoche im
Spiegel ihrer Kunst zu geben, aufrichtig aber ohne
die Schärfe oder Verzerrung, die bisher fast stets in
Kostümgeschichten beliebt worden ist.
Denn nicht die Kuriosa und Absonderlichkeiten
in dem Bilde früherer Zeiten sollte man suchen, sondern
das Typische, Normale und gesetzmäßig Entwickelte
der Tracht. Diese Sammlung von chronologisch an-
geordneten Illustrationen will im Verein mit dem Text
ein Bild von Empfinden und Gehaben einer Epoche
geben. Wer sich damit vertraut machen kann, wird
auch für die unserem Gefühl widersprechenden For-
men der älteren Moden nicht die besser wissende Kritik
und den Spott erübrigen können, in denen lange Zeit
das Interesse an diesem Teil der Kulturgeschichte
sich erschöpft hat.
So wurde hier versucht , neben der Mode die gei-
stigeErscheinungderZeit anzudeuten und zugleich soviel
wie anging von der Szenerie des Lebens in Wohnungen ,
Möbeln, Gärten zu zeigen, kurz die Kunst als Zeugin
für das gesamte Leben anzurufen. Denn die Maler
sind die unbefangensten und zuverlässigsten Schilderer.
Noch ein Vorteil bot sich hier, der für die meisten
früheren Epochen fehlt: wir wissen aus Modebildern,
was für die Kleidung gewünscht und erstrebt wurde,
nicht immer von einer Meisterhand wie Gavarnis auf-
gezeichnet, aber wenn auch ungeschickt, so doch
handwerkstechnisch aufs klarste ausgesprochen. Und
zu diesem von der Schneiderphantasie entworfenen
Idealbild geben uns die Maler das Korrektiv im Leben.
Zeigen die Modebilder, wie nach dem Wunsche der
Kleiderkünstler die Menschen aussehen sollten, so
stellt die Kunst in ihren Bildern neben dies Ideal die
Wirklichkeit.
In dieser Parallele zwischen Erstrebtem und Er-
reichtem, zwischen Wunsch und Erfüllung mag ein
besonderer kulturgeschichtlicher Reiz liegen. Vielleicht
ist er stark genug, manchen Leser in die Sammlungen
zu locken und ihn an die allzuwenig erschlossenen
Quellen zu führen, denen dies Buch seine Illustrationen
verdankt. ^ t-
Oskar Fischel
Für das Abbildungsmaterial sind die Vorlagen besonders folgenden
Sammlungen entnommen:
dem Königl. Kupferstichkabinett Berlin, der Freiherrlich Lipper-
heideschen Kosttimbibliothek Berlin, der Königl. National-Galerie
Berlin, der Königl. Neuen Pinakothek München, dem Kgl. Kupfer-
stichkabinett München, der Bibliotheque Nationale Paris, dem
Cabinet des Estampes Paris, dem Museum Versailles, dem British
Museum London, dem South Kensington Museum London.
Auch an dieser Stelle sei dem Dank der Herausgeber und des Ver-
legers für das überall gefundene Entgegenkommen, mit dem von staatlicher
und privater Seite das Unternehmen unterstützt vsrurde, Ausdruck verliehen.
Ganz besonderen Dank schulden die Herausgeber und die Verlags-
anstalt der Lipperheideschen Kostümbibliothek und Herrn Dr. Doege für
seine bereitwillige und verständnisvolle Förderung.
MENSCHEN UND MODEN
1818— 1842
c Vtrnet, Das Grab Napolem
Die Bourbons waren nach Frankreich, der Papst nach Rom,
alle italienischen und deutschen Fürsten auf ihre Throne
und Thrönchen zurückgekehrt, und sie waren mit Jubel
empfangen worden, nicht nur vom Hurra-Pöbel. Die gewaltigen
Erschütterungen, welche in den letzten 30 Jahren alte Staaten
Europas getroffen hatten, waren wohl imstande gewesen, die
Gesellschaft grün d stürzend zu ändern, aber die Unsicherheit aller
Zustände, der beständige Wechsel der Regierungen und Einrich-
tungen hatten eine stetige Entwicklung gehemmt und wenn sie
auch Veraltetes, Vermorschtes und Verrottetes aus dem Wege
räumten, so war doch noch nichts Dauerndes, nichts Bleibendes an
die Stelle des Beseitigten getreten. Alle Klassen der Bevölkerung
waren müde ; die Kriege, welche ohne Unterbrechung seit einem
Menschenalter Europa verheerten, vernichteten den Wohlstand
der Grundbesitzer, lähmten den Handel der Gewerbetreibenden
und dezimierten die Bevölkerung, man wollte endhch Frieden,
Ruhe, Ordnung. Den Frieden brachten die heimkehrenden
Fürsten wohl, aber keine Ruhe. Sie entstammten der alten Zeit,
die mit Feudalismus und Klassenstaat untergegangen war, und
fanden eine Gesellschaft, groß geworden in den Ideen der Revo-
lution, in Erwartung der neuen Zeit, welche die Ideale der
Freiheit, der Menschenrechte, der Rechte des Volkes verwirk-
hchen sollte.
iSiq
nal da Dan.
1S20
Aber die Ideen der Zeit waren den Machtiiabem ein Greuel,
einer Menscliheit, die eben noch mitangesehen halte, daß die
ältesten Throne, die verbrieftesten Rechte wie Spreu vor dem
Sturm zerstoben waren, verkündeten sie das göttliche Recht der
I sahen die Völker ein Gottesgna-
nit größerem Rechte, als damals,
Alles lag am Boden, aber der
t den Trümmern des Alten auf-
, als der, den die Regierten
bauen gedachten. Die Diplomaten und Fürsten bemühten sich,
das Alte wiederherzustellen, aber sie vergaßen, daß das Element,
welches sie bei ihren Restaurierungs versuchen ignorierten, wel-
chem sie bestenfalls nur eine sekundäre Rolle zuerkennen wollten,
inzwischen das mächtigste geworden war; daß
Legitimität und mit Erstaunt
dentum wiederkehren, das ni
nur von Volkeswillen existie
Staat, den die Regierenden i
führten, sah ganz anders a
iSig youmal des Damcs iSiq
gertum erstanden, dessen Stärke Bildung und Besitz waren, ein
Bürgertum, das nicht zu besiegen war, weil es an sich selbst,
an seine Mission glaubte. Und diese Mission war die Erbschaft
der fran7,ösischen Revolution, war die Freiheit der Völker zur
Tat werden zu lassen. Und unter Freiheit verstand man dazu-
mal den Verfassungsstaat, verstand man die Konstitution, welche
dem Herrscher gewisse Beschränkungen in der Ausübung seiner
Rechte auferlegt, welche dem Volk eine Mitwirkung an Gesetz-
gebung und Rechtsprechung gestattet.
Jahrzehntelang haben die Gedanken und die Bestrebungen
der Besten zweier Generationen diesem Ziel gegolten ; Schwärmer,
die einem Phantom nachjagten, die den Schein für das Wesen
hielten; jetzt wissen wir alle längst, daß auch eine Verfassung
nur ein Stück Papier ist und daß die freisinnigste Verfassung
iSig, April The Repcsiloty
nicht gegen eine Verwaltung schützen kann, die mit Hilfe einer re-
aklionären Bureaukratie, eines gefugigen Richterstandes und einer
stets gehorsamen Polizei dem Staatsoberhaupt ein autokratisches
Regiment gestattet. Anfangs waren die neuen Ideen jedenfalls
noch so mächtig, daß die Fürsten den Wunsch der Völker nicht
überhören konnten ; Ludwig XVIII. beschenkte die Franzosen
mit der Charte und in Deutschland begann man, die alten land-
ständischen Verfassungen hervorzu suchen, um sie den Bedürf-
nissen der Zeit anzupassen.
Aber Legitimität, Gottesgnaden tum und Volksrechte geben
zusammen keinen guten Klang und die Kabinette, vor allem
das Wiener, das von nun an ein Menschenalter hindurch unter
Mettemichs Leitung ausschlaggebend für deutsche Verhältnisse
sein sollte, ließen es sich angelegen sein, bald auch die beschei-
i8if, Dexember
The Repositery, Lettdon
iSiij The Ripository
denen Anfange, die mit der \ LnsirklKhun^ verfassungsmäßiger
Zustände gemacht worden waren wieder zu beseitigen und zu
den allen Verhältnissen vor 1789 zurückzukehren wenn auch
nicht alle in der schroffen ^\ eise nie Kunig \iktor Emanuel
von Sardinien, der, alles inzwischen Geschehene volhg igno
rierend, sein Land auf 1770 zurückzuführen gedachte wieFcr
dinand VII. von Spanien, zu dessen ersten Regierungshand
lungen die Wiedereinführung der Inquisition gehörte oder gir
wie der Kurfürst Wilhelm I. ^on Hes eu der den Wiederle
ginn seiner Regierung an den Tif, knüpfen wollte di er 1806
das Land hatte verlassen müssen Nicht mr führte er Puder
und Zopf wieder ein, alle Steuern die inzwischen von der
Kgl. westfälischen Regierung erhoben worden waren, wurden
als nicht geleistet betrachtet und mußten nochmals gezahlt werden,
— 5 -
die Käufer der Domänen wurden ohne Entschädigung ihres
Eigentums beraubt usw.
Die Gewalt vermochte wohl, den Bürgern die Rechte vor-
zuenthalten, auf deren Ausübung sie zählten, das Interesse an
diesen Fragen aber, die Teilnahme an den innerpolitischen Vor-
gämgen, konnte sie nicht unterdrücken, im Gegenteil, der starke
D uck, der ausgeübt wurde, um die Keime liberaler Regungen
zu ersticken, führte nur dazu, daß dieselben sich kräftiger ent-
wickelten. Die Politik als Faktor des öffentlichen Interesses war
nicht mehr auszuschalten, sie beherrschte alle Kreise und mischte
ein unheilvolles Moment der Zwietracht in die Diskussion öffent-
licher Angelegenheiten, die sofort zur Parteisache degradiert
werden. In Frankreich wird nur dadurch der 1817 beginnende
Prozeß Fualdes zu einer cause c^lebre, deren ursprüngliche Ver-
anlassung, . ein ge-
wöhnlicher Mord,
völlig in den Hinter-
grund gedrängt
wird, wo Schuldige
und Unschuldige,
ßj ch ter un d Z euge n
gleichmäßig kom-
promittiert werden,
bis das wenige Tat-
sächliche- von den
Wogen der entfes-
selten Partei wut
hin wegge seh w emmt
I ist. Das Verbrechen
Contrafattos an der
fünfjährigen Hor-
tense Leboii, eine
Affäre, die nur den
Strafrichter hätte
angehensöUen, fällt
wie Zunder in ein
■ Pulverfaß in den
Kampf der Libe-
ralen und Kleri-
iSig, Man The Rtpoiitory kalen; der Misse-
iSig, Mai
The Reposilory, London
Klan, Reisegtfahim. iSi8 Radiirvng
täter ist ein Geistlicher, also ist sein Schicksal besiegelt und
er darf auch zwanzig Jahre später noch nicht auf Gerechtig-
keit hoffen. In Deutschland bemächtigt sich, im Kampf der
Juristen und der Laien um das Schwurgericht das Interesse
des Prozesses Fonk, der, Kaufmann in Köln, nicht ohne schwer-
wiegende Gründe verdächtigt war, den jungen Conen umge-
bracht zu haben, und die erregte öffendiche Meinung ruht nicht,
bis der Angeklagte 1823 losgesprochen ist, wenn auch mit
150000 Gulden Gerichtskosten belastet.
In Deutschland ergriff die politische Bewegung die studie-
rende Jugend und führte zu den stürmischen Szenen des Wart-
burgfestes vom 18. Oktober 1817, wo einige Eiferer außer den
Schriften mancher unbeliebter Autoren auch den Korporalstock,
die Schnürbrust und andere Attribute der Reaktion verbrannten.
Die Verfolgungen, welche über die als Demagogen Verdächtigten
hereinbrachen, haben damals Unzählige, und unter ihnen nicht
die Schlechtesten (wer denkt dabei nicht an Fritz Reuter?),
ihre auf eine Aenderung der bestehenden Zustände gerichteten
Pläne, ja oft nur Hoffnungen, mit jahrelangem Kerker, mit dem
Ruin ilirer Existenz, ja mit dem
Leben selbst bezahlen lassen,
aber sie haben nicht verhindern
können, daß die freiheitlichen
Ideale in Köpfen und Herzen
nur um so fester saßen.
In Deutschland wie in
Frankreich schied sich die Na-
tion in zwei Lager, auf dereinen
Seite die Regierungen mit ihrem
aristokratischen Gefolge und
ihrer Bureaukratie, auf der an-
deren Seite das liberale Bürger-
tum ; in einer Gegenwart voll
iSxo
nalt dts Daitiis
Unruhe und Mißmut suchten die
einen das Heil in der Vergan-
genheit, die anderen in der Zu-
kunft, keine Brücke führte über
den Abgrund, der beide trennte,
keine Verständigung war zwi-
schen diesen Parteien möglich.
Aus dieser Zeit der tiefsten ge-
genseitigen Abneigung zwischen
Regierungen und Regierten ist
in weiten Kreisen des Volkes
das Mißtrauen übrig geblieben,
das nach wie vor wie etwas
Selbstverständliches in jeder
rSso. Oktober
Ingrts, Dami mil Schirm
Regierungshandlimg etwas dem Gemeinwohle Schädliches wittert.
Und als wäre es nicht genug an diesem Zwiespalt, der im
fruchtlosen Hader der Parteien den Nachbar dem Nachbarn
entfremdet und die feindlich gegenein anderhetzt, die doch in
Eintracht Hand in Hand gehen sollten, tiefe Gegensätze offen-
baren sich plötzhch zwischen den Völkern und in demselben
Augenblick, wo die erlesensten Geister die Goethe, die Hum-
boldt, die Schiller sich ihres Weltbürgertums froh bewußt werden
und über die Schranken fremden Volkstums hinweg verwandten
Seelen die Hand zum Bunde reichen, da erwacht ein Wider-
spruch, der im Gegensatz zu einem die Unterschiede verwischen-
den Kosmopolitismus die Nationalitäten ihre Eigenart eifersüch-
tig betonen läßt. Kreolen und Mulatten von Mittet- und Süd-
amerika empören sich gegen Spanien, in dem selbst Basken
und Katalanen gegen Ka-
stilianer aufstehen. Von
1 8 1 7 datiert mit der Ent-
deckung der Königinhofer
Handschrifi die von Wen-
zel Hanka erfundene böh-
mische NationalUteratur,
ein tschechisches Natio-
nalgefiihl erwacht; 1821
beginnen die Neugriechen
das türkische Joch abzu-
schütteln ; 1830 empören
sich die Polen gegen ihre
russischen Unterdrücker;
1831 trennen sich Wallo-
nen und Holländer und
kaum später besinnen sich
die- Magyaren auf ihr
Volkstum, die Herren
hören auf, in ihren Land-
tagen Lateinisch zu reden
und sprechen Ungarisch ;
Italien aber, zum Teil un-
ter fremder Herrschaft,
CA-W, Mm^. Adelaide j8„ "'"" '^f^ ^" •''^'"^ ^^aaten
Mi'iii dl VinaiiUi Zerspalten, suchtzurEmig-
Segas, FamililTiiäfd. lSi3 iV,tllra/-Ilic)iarlt-MuaKm, Kdl»
keit zu gelangen , ein Netz von Gelieimbiinden und fortge-
setzte Verschwörungen bedrohen die ötTentliche Ordnung, die
Ruhe der Regenten.
Die Völker untereinander uneins und gegeneinander er-
bittert, Mißtrauen oben und Haß unten, dieser Boden war
wohl vorbereitet für eine Saat, die auf ihm gedeihen und ein
neues Element in das öffenüiche Leben bringen sollte: das
pohtische Attentat. Attentate haben stattgefunden, solange es
Tyrannen gibt, aber sie bleiben glücklicherweise vereinzelt,
bis aus der Zeitstimmung leidenschaftlich erregter Jahre, wie
etwa der Religionskriege des i6. Jahrhunderts, der Mord so
häufig hervorbricht, wie der Blitz aus gewitterschwangerem
Gewölk. Vor dem 19. Jahrhundert relativ selten, sind die Atten-
tate, die aus politischen Gründen vollbracht wurden, in diesem
in allen Ländern und bei allen Völkern so häufig geworden,
daß man in den Jahren, von denen wir hier sprechen, vielleicht
mehr zählen wird, als in ebensoviel Jahrhunderten der Ver-
gangenheit.
Am 23. März 1819 ermordet der Student Karl Ludwig
Sand in Mannheim den russischen Staatsrat August von Kotze-
bue, wenige Wochen darauf, am i. Juli 1819, fallt ein anderer
Student, Karl Lö-
ning, den nassaui-
schen Minister von
Ibel! an, und wenn
man z. B. in den
Tagebüchern und
Briefen von Gentz ■
liest, welchen Ein-
druck diese Taten
auf die Machthaber
ausübten, wie der
Schreiber, in semem
bösen Gewissen er-
schüttert, sich fürch-
tet und tagelang
nicht auszugehen
wagt, als einmal ein
fremder junger
Mensch in Gastein
ankommt, dann
wundert man sich
nicht mehr über die
drakonischen Maß-
regeln , die gegen
die Studenten, ge-
tSio-, August Thi Kefoütory gen die Universi-
täten in Anwen-
dunggebracht wurden. Am 13. FebruariSzo falh der Herzog von
Berry in der Pariser Oper dem Dolch eines fanatischen Fürsten-
hassers, wie Louvel zum Opfer; im Fasching 1824 ermorden
Faktiöse den Marquis Loule, Minister Johanns VI. von Portugal;
1825 bedrohen die Sergius Trubetzkoi, Murawjew, Paul von
Pestel Nikolaus I. von Rußland; 1831 erhegt Kapodistrias
in Nauplia und in den 1 8 Jahren der Regierungszeit des Bürger-
königs folgt ein Attentat dem anderen, Schüsse, Dolchstiche
i8ao, Juli
Wiener Zeiückrift
und Höllenmaschinen, wie jene Fieschis, bei deren Explosion
am a8. Juli 1835 der Marschall Mortier getötet wurde; Ludwig
Philipp durfte schließlich nicht mehr ausgehen, sich nicht mehr
auf dem Balkon der Tuilerien zeigen, ohne Mordanfällen aus-
gesetzt zu sein.
zSso, Fibruar The Repositary
Wie eine Seuche grassiert die Manie, durch ein Attentat
auf die Person des Herrschers seine politische Mißstimmung
zu dokumentieren; nur durch ein Wunder entgeht die Königin
Viktoria 1840 zwei Attentaten, die in rascher Folge auf sie
ausgeführt werden, und Friedrich Wilhelm IV. dankt sein
Leben nur der schlechten Beschaffenheit der Waffe des Bür-
germeisters Tschech, der am z6. Juli 1844, als König und
Königin eben nach Schlesien abreisen wollten, vor dem Schloß-
— 13 —
portal in Berlin auf den Monarchen feuerte. Bis in die kleinsten
Gemeinwesen trägt der Parteigeist den politischen Mord, muß
doch 1845 in Luzern der Schultheiß Leu seine Führerschaft der
Ultramontanen mit dem Tode büßen.
Diese Verbrechen, welche sich binnen weniger Jahre in
unerhörter Häufigkeit ereignen, bilden einen Gradmesser für die
politische Stimmung jener Jahre, in denen Unzufriedenheit und
Aufregung um so weiter um sich greifen, je stärkere Anstren-
gungen von oben gemacht werden, sie zu unterdrücken. Aber
die viel beru- sich als unbe-
fenen und viel- siegbar erwies,
geschmähten den die Herr-
»modemen sehenden
Ideen«, der nicht umsonst
Liberalismus, der Hydra ver-
derdenMacht- gUchen, der
habem um so statt eines ab-
verhaßter war, geschlagenen
als er ihnen Hauptes zwei
als das Kind nachwachsen :
derRevolution die Presse.
erschien, lies- Wohl gab es
sen sich nicht schon früher
mehr erstik- Zeitungen,
ken es war Berhn hat sei-
ihnenindiesen ne »Vossi-
JahreneinBun- Ma„sim, Miviaturmnh sche«i seit der
desgenosse er- ivaiiiui ceiiKtisn, Londo« Mitte des 18.
standen, der Jahrhunderts,
England seine »Times« seit dem Jahre 1780, aber die Blätter
der alten Zeit mit kurzen Tagesneuigkeiten waren ohne Einfluß
und jeweils nur als Sprachrohre der Regierungen zu betrachten,
die durch sie bekannt werden ließen, was ihnen nützlich erschien.
Eine Presse als Wortführerin der öffentlichen Meinung
gibt es erst seit 1815, als die von Ludwig XVIIL Frankreich
oktroyierte Charte ihr, die bis dahin von Napoleon streng
überwacht und eingeschränkt war, die Freiheit gab, und die
technische Entwicklung der Druckpresse zur Schnellpresse die
Möghchkeit bot, 2000 Bogen in der Stunde abzuziehen.
Sofort entstand in Frankreich eine Tagespresse, die mit ihrer
— 14 —
iSii yotimal des Damis The Reposilory tSzt
raschen und regelmäßigen Verbreitung, mit der Mannigfaltig-
keit ihrer Erscheinung, mit ihrer leidenschaftlichen Tätigkeit
das Erstaunen und die Bewunderung ganz Europas erregte
und, fügen wir gleich hinzu — die Furclit der Regierungen.
Konstitutionelle Blätter, wie das »Journal des Debats«, der Op-
position angehörige wie der 1815 entstandene »Constitutionnel«,
den später Thiers zum größten Einfluß führen sollte, wie der
sGlobe«, der »National« verpflanzen die rhetorischen Kämpft
der Parteien aus der Kammer auf den Boden des täglichen
Lebens, der volle Strom der Politik ergießt sich in das bür-
gerliche Leben, die Zeitung schafft eine öffentliche Meinung,
die Zeitung wird Bedürfnis. Der Geist, den sie selbst be-
schworen, erfüllt die Herrschenden aber mit Schrecken und
so beginnt der Kampf gegen die Presse eigentlich in demselben
Journal äis Domes
i82j, Daimbtr Journal dis Danas 1S2S, Mai
Augenblick, in dem ihr die Freiheit gegeben wirl aber weder
die Zensur noch Maßregelungen und Schwierigkeiten aller Art,
können die Entwicklung aufhalten und der \ ersu*,h die Presse
einer Präventiv- Zensur zu unterwerfen die polizeiliche Erlaub-
nis der Publikation von einer Prüfung des Inhalts der Zeitung
vor der Drucklegung abhängig zu machen kostet Karl X.
seinen Thron.
Der Krieg, den die französische Regierung gegen die Preß-
freiheit gefiihrthat, ein Krieg, der 1826 begann um erst 1830
mit der Exilierung der Bourbonen zu enden trf Ute die Be-
völkerung mit immer steigender Erbitterung bei Paraden emp-
fing den König statt des: »Vive !e roi« ein »Es lebe die Preß-
freiheit!« und daß die Damen an dieser Fri^e nicht weniger
leidenschaftlich teilnahmen als die Herren, beweist der Aus-
Wiener Zeitsc'
Ingris, Dame mit Lorgnon iSzj
Spruch jenes jungen Mädchens, das auf einem Ball beim Bankier
Laffitte zum Tanz aufgefordert, dem Herrn antwortet: sErst
sagen Sie mir: Sie sind doch auch für die Preßfreiheit?« Der
Waffe nstillstand wenigstens, welcher der Presse in Frankreich
1830 zuteil wird, verleiht ihr einen gewaltigen Aufschwung,
Emile de Girardin schafft die bilüge Zeitung mit Nummem-
verkauf und führt damit eine völlige Wandlung ihres Wesens
herbei.
Bis dahin waren die Blätter nur gegen ein teures Jahres-
abonnement zu haben gewesen, jetzt machte sie ein geringer
Preis auch den Unbemittelten zugänglich. Bis dahin rührten
sie von Schriftstellern mit berühmten Namen her, ihr Inhalt
machte literarische Ansprüche, jetzt beginnt der unbekannt blei-
bende Journalist ihre Spalten zu füllen; unter der Restauration
— ig —
galt es nicht fiir schicklich für ein Blatt, das sich respektierte,
Börsennachrichten zu bringen, unter dem Bürgerkönigtum da-
gegen beansprucht die Börse einen immer weiteren Raum, ja
die Presse tut den letzten Schritt zur Allmacht: sie erobert die
Frau dadurch, daß sie Inserate aufnimmt und Romane bringt;
Alexander Dumas, Eugene Sue, Honor^ de Balzac waren die
ersten, welche ihre Romane in Tageszeitungen erscheinen ließen,
wie hätte diesen nicht der Erfolg gehören sollen?
Deutschland war nicht in derselben glücklichen Lage wie
Frankreich; wohl besaß es in dem von Joseph Görres geleiteten
»Rheinischen Merkur« ein vorzüglich geleitetes und furchüos ge-
schriebenes liberales Blatt, dem andere, nicht weniger tüchtige
wie Ludens »Nemesis«, Okens »Isis« u. a. zur Seite standen, aber
die Karlsbader Beschlüsse von 1819, eine direkte Folge von
Sands Tat, haben die deutsche
periodische Presse geknebelt.
Die vorgängige Zensur machte
ein offenes Wort zur Unmög-
lichkeit, hohe, von den Verle-
gern geforderte Kautionen hin-
derten die Unternehmer, enorme
Stempelsteuern verteuerten das
Abonnement und erschwerten
so die Verbreitung. So ent-
standen denn zwischen 1823
und 1847 in Deutschland auch
nur etwa 22 neue pohtische Zei-
tungen, die, in der freien Aeuße-
rung ihrer Meinung in jeder
Weise gehindert, an Verbreitung
und Einfluß es mit denen Frank-
reichs nicht aufnehmen konnten.
In Deutschland hat sich die öf-
fentliche Meinung erst sehr all-
mählich zu einer Macht ent-
wickelt. Die werbende Kraft
der neuen Ideen war anfäng-
lich überhaupt außerordentlich
gering. AlsdieLiberalen 1821 in
tSsS, Afai Josmal des Damts Neapel eine Verfassung durchge-
, SckmoÜatdcs Paar
setzt haben ' . .. - .
und Oester-
reich seine
Armee ein-
rücken läßt,
nig von der-
selben zu be-
freien, da
marschiert
das Heer
durcb das
ganze Land,
ohne den
von den
Konstitutio-
nellen mobil
gemachten
Truppen
überhaupt
nur zu be-
gegnen und
Gentz kann
einen von
gerechtfer-
tigtem Hohn
strotzenden Ägr«, Mimiieur Ltblane, 1823 CatL Bmnui, Bayotuu
Bericht über
diese »liberalen Helden« schreiben. Ebenso mühelos unter-
drückt Bubna die Verfassungsbewegung in Piemont und genau
so geht es 18*3 in Spanien, als der Herzog von AngoulSme
bis Cadiz spaziert und statt eines gefürchteten Guerillakrieges
k la 1809 — 14 völhge Gleichgültigkeit ihn empfängt. Weil ihm
der Gegner absolut keine Gelegenheit zu Heldentaten gewährt,
ist er schließlich im letzten AugenbHck genötigt, um nicht ohne
Lorbeeren heimzukehren, den kaum verteidigten Trocadöro
stürmen zu lassen.
1825 versucht eine Grupp^ verschworener Offiziere Ruß-
land eine Konstitution zu geben, aber ihr Unternehmen scheitert
kläglich, an der eignen Kopflosigkeit nicht minder als an der
Unwissenheit des Volkes, wel- '
ches die Konstitution für die
Frau des Großfürsten Konstan-
tin hältl
Das liberale Bürge rtuni,
nicht nur in Deutschland, bUeb
mit seinen Sympathien und An-
tipathien auf ein müßiges Zu-
schauen beschränkt, es muß ge-
schehen lassen, daß die Groß-
mächte den Griechen nach einem
langjährigen Befreiungskampf
einen deutschen Prinzen als
Selbstherrscher aufnötigen; es Grimm, Heinrick Hiim
muß zusehen , wie Polen mit
Preußens passiver Hilfe zu Boden geschlagen wird ; es muß
dulden, daß auch die Belgier ihren Freiheitskampf nur zugunsten
eines koburgischen Prinzen geführt haben.
Der erste bescheidene Erfolg des deutschen Liberalismus
ist die Vertreibung des Herzogs von Braunschweig, der nach
skandalöser Mißregierung am 6. September 1830 das Land ver-
1827
lassen muß, während s
den Weg erleuchtet!
Gerard, La dmhesst dt Brogüe
I Flammen stehendes Schloß ihm
Im übrigen konnten die Bür-
ger ja warten, waren sie doch im
Besitz der beiden Faktoren, wel-
che auf die Dauer doch allein
die Macht verleihen : Besitz und
Bildung. DerAdelwarinFrank-
reich durch die große Revolution
um Einfluß und Eigentum ge-
kommen; in Deutschland, zumal
in Preußen, haben die Neurege-
lung der grundherrhchen Ver-
hältnisse dem hohen wie dem
minderen Adel Wunden geschla-
gen, von denen derselbe, der
schon in den Jahren der napoleo-
nischen Unterdrückung und der
Freiheitskriege die größte finan-
Wtner Moden
zielle Einbuße erlitten
hatte, sich nicht mehr er-
holt hat. Während nun
der Adel allmählich den
Grundbesitz verliert und
in Hof-, Beamten- und
Militärdienste gedrängt
wird, die bei großen An-
sprüchen und kärglicher |
Entlohnung nur dazu die- '
nen, ihn völlig verarmen '
zu lassen, schreitet das
Wohlstand unaufhaltsam
fort, kein Vorurteil hält
es auf, kein Privileg hin-
dert es. Ihm ist es un-
benommen, zu verdienen
und der Reichtum verleiht
ihm bald das Selbstgefühl
der eignen Wichtigkeit, /„^„_ m«u. Dilormc iSsS
Adel und Geistlichkeit
haben im öffentlichen Leben ausgespielt, Handel und Industrie
geben den Ausschlag. So rapide ist der Aufschwung, daß
schon unter Karl X. Sosthene de la Rochefoucauld den Monar-
chen darauf aufmerksam macht, daß der König ja nur noch
scheinbar die Macht in Händen habe, Krieg und Frieden hingen
nicht mehr von seinem Willen, sondern von vier oder fünf
großen Bankiers ab. Als wenig später der Bürgerkönig auf
dem Thron, Bankiers auf den Ministersesseln sitzen, da gibt
das berüchtigte sEnrichissez-vous« die Parole des Tages, die
Allmacht des Geldes ist unumschränkt anerkannt, das Geld
hat die Unterschiede von Rang und Stand verwischt, die Ge-
sellschaft kennt keine Kasten mehr, nur noch Besitzende und
Besitzlose.
Das Bürgertum hat für seine Arbeit einen Bundesgenossen
gefunden, dessen ungeheurer Einfluß sein Vermögen ins Un-
gemessene vergrößerte, die Dampfkraft. Die Dampfmaschine
wurde im i8. Jahrhundert erfunden, aber ihre Verbreitung, die
unzähligen Verbesserungen, die ihre Anwendung immer allge-
— 2J —
meiner werden ließen, datieren erst aus dem 1 9. Jahrhundert. Wäh-
rend England 18 10 gegen 5000 Dampfmaschinen im Fabrik-
betrieb hatte, arbeiteten zur gleichen Zeit in Frankreich etwa 200;
in Preußen eine, aber von 1830 an nimmt die Verwendung
derselben mit einer Schnelligkeit zu, welche die Volkswirte in
Erstaunen und Besorgnis versetzt. Indem man gleichzeitig alle
Entdeckungen der Wissenschaft fiir die Praxis nutzbar macht,
wird eine Industrie ins Leben gerufen, welche die Gesellschaft
gründlicher umgestürzt hat, als alle Verfassungen es je vermocht
hätten ; die Industrie hat die Lebensbedingungen von Millionen
von Menschen vollständig umgewälzt und ihnen materiell wie
moralisch einen anderen Boden für ihre Existenz bereitet. Die
Wohlfahrt der Industrie wurde auch von den Regierungen um
so lebhafter gefördert, je mehr sie anderseits bestrebt waren,
die Geister von der Politik abzuhalteji und so beginnen auch
bald die Ausstellungen, die, für die Zeit etwas völlig Neues,
als Marksteine wirtschaftsgeschichtlicher Entwicklung betrachtet
werden dürfen.
18 18 hatte München seine Industrieausstellung, 1824 Dres-
den, 1827 Berlin; sie galten aber nur den Erzeugnissen ihrer
Länder, die erste allgemeine deutsche fand 1842 in Mainz
statt und 1843 sah England die erste in Manchester, 1844
Berlin eine solche des preußischen Zollvereins im Zeughaus.
Die gleichen Menschen, welche staunend die Revolution
gewahr werden, welche die Maschine in den Fabriken voll-
bringt, sahen mit womöglich noch größerer Verwunderung, wie
der Dampf auch dem Verkehr völlig neue, nicht einmal ge-
ahnte Bahnen weist. In Amerika sollen 181 2 schon mehr als
50 Dampfschiffe in Betrieb gewesen sein, auf dem europäischen
Kontinent aber war der Dampfer, der 18 16 zwischen Paris
und Ronen den Verkehr vermittelte, das erste Schiff, das man
aus eigner Kraft fahren sah und dessen Erscheinung nicht nur
die normannischen Bauern, sondern auch die eleganten Pariser
mit Staunen begrüßten. Auf dem Rhein und der Elbe zeigten
sich die ersten Dampfer 18 18, auf der Donau erst 1830. Von
nun an geht es aber wirklich mit Dampf voran, wofür viel-
leicht am deutlichsten die Zahlen sprechen, England hat 181 5
zwanzig Dampfschiffe in Betrieb, 1823 =160, 1839 = 315,
1838 = 538 und erbaut 1833 den ersten Kriegsdampfer.
Weit größer noch als die Verwunderung, welche die Dampf-
— 24 —
schiffe erregt hatten, war der Unglauben, der die ersten Loko-
motiven empfing! Schienenwege, auf denen der Wagen verkehr
mittels Pferdekräften stattfand, gab es außer in England auch
in Oesterreich schon seit 1832, zwischen Linz und Budweis, —
daß aber Datnpfkraft imstande sein sollte, Wagen mit Menschen
zu befördern, schien unglaublich und eine ganze Bibliothek ist
zusammen geschrieben worden, um die Unmögüchkeit davon
zu beweisen, berühmte Gelehrte, wie der Physiker Arago äußerten
sich 1836 noch auf das Absprechendste über diese Erfindung
und doch fuhr seit 1830 schon die erste Lokomotive zwischen
Liverpool und Manchester. Am 7. Dezember 1835 wurde die
erste Eisenbahn in Deutschland, von Nümbei^ nach Fürth, er-
öffnet, 1837 folgte die
Verbindung zwischen
Leipzig und Dresden, im
gleichen Jahr Paris- St.
Germain, 1838 die Li-
nien Wien-Wagram und
Berlin -Potsdam. Den Pro-
phezeiungen derSchwarz-
seher schienen bald die
Unglücksfälle recht ge-
ben zu wollen, die, wie
die große Katastrophe
auf der Strecke Paris-
Versailles im Jahre 1842,
die gegen 100 Reisen-
den u. a. auch dem be-
rühmten Weltumsegier
Admiral Dumont d'Ur-
ville das Leben kostete,
schließUch nur bewiesen,
daß die neue Einrich-
tung Mängel hatte und
daß der Mensch die
Kraft, die er in seinen
Dienst zwang, noch nicht
genügend kannte.
ScAivind, Auss^hnill auit Sfaziitgang vor dem I^ie Dampf kraft, die
T.}re, 1827 einen Industriebetrieb im
SchtBtnd, Spiaitrgang vor dem Tere {Aussdaätl) iSzj
großen überhaupt erst ermöglichte, indem sie die Mittel bereitete,
Massenartikel nicht nur zu erzeugen, sondern dieselben auch
sofort in weiteste Fernen zu verbreiten, machte Tausende reich,
aber sie drückte Hunderttausende in eine Abhängigkeit hinunter,
schlimmer, hoffnungsloser, entwürdigender, als es je die Hörigkeit
im Feudalstaat gewesen war. In demselben Augenblick, in dem
der neue Industriestaat seine Bevölkerung in zwei Klassen
trennt, in dem er nur noch Reiche und Arme kennt, da stehen
diese sich auch ais Todfeinde gegenüber und es beginnt ein
Krieg zwischen ihnen, dessen Ende die Menschheit noch
leben soll. In England glaubte die Tory Regierung den wieder-
holten Streiks, welche den Markt beunruhigen und deren Aus-
schreitungen die öffenthche Ruhe und Ordnung revolutionär be-
drohen, nur durch eine Rechtsbeugung begegnen zu könnei
sie nimmt den Arbeitern 1825 das Koalitionsrecht ; 1834 kann
der Streik der Seidenweber in Lyon nur durch einen fünf-
tägigen blutigen Straßenkampf beendet werden, zwei Jahre
ziehen sich 1837 — 38 die Unruhen der Spinner und der Nobs
in Glasgow hin und auch die hungernden schlesischen Weber
bringt 1844 nur der Säbel zur Raison des Polizeistaates: Maul
halten, arbeiten, Steuern zahlen.
Da schleudert Proudhon der für ihre Reichtümer zitternden
— 27 —
Ingres, Mmt. Galteaux 182g
Bourgeoisie seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht, und
sein Wort: »Eigentum ist Diebstahl I« leuchtet der Armut wie
eine Flamme, schön und gefährlich. Die allgemeine Not, die
verfahrenen sozialen Zustände nötigen Regierungen und Private,
an die Besserung der Lage der arbeitenden Klasse zu denken,
der Herzog von Laroche foucauld-Liancourt gründet 18 18 die
erste Sparkasse für den kleinen Mann, England beginnt 1833
bis 44 eine Gesetzgebung sozialer Wohlfahrt, 1840 wird in
Val des Bois ein großes industrielles Unternehmen mit Be-
teiligung der Arbeiter gegründet, alle Philosophen machen sich
ans Werk, das Heil der Menschheit mit neuen Systemen zu
begründen.
Die Jahre 1S30 — 36 sehen eine wahre Explosion sozialer
— 28 —
i8a6, Juli
Wiefier Zettschnß
La Mode, Paris
Meyer^ nach G. H. Harltnii, Lord Byron
Ideen, der Sozialismus eines St. Simon kommt förmlich in
Mode und da die Frauen sich seiner mit Leidenschaft be-
mächtigen, so dauert es nicht lange, bis die Sache des Pere
Enfantin an der Uebertreibung zugrunde geht. Der Kommu-
nismus findet leidenschaftliche Vertreter, Cabet schreibt seine
Reise nach Ikarien, als aber seine Utopie von Gönnern finan-
ziert wird, löst sich binnen Jahresfrist alles in Mord und Tot-
schlag auf. Menschenfreunde machen sich ans Werk, die, wie
die Herzogin von Angoulgme in Paris, Bettina in Berlin, syste-
matisch die Wohltätigkeit üben oder wie Appert, der sich seit
1828 mit Eifer daran macht, den Gefangenen materielle und
moralische Hilfe zu bringen. Dickens legt in seinen herrlichen
humoristischen Romanen furchtlos die Schäden der gesellschaft-
lichen Einrichtungen bloß und erreichte auch, daß sie abgestellt
werden, ja die Philantropen erleben die Genugtuung, daß Eng-
land 1833 die völlige Emanzipation der Sklaven in seinen
Kolonien durchführt.
Selbst die Frauen tragen in die Unruhe und Feindseligkeit
Kriigir, Aussihmtl tau dir iParatiit von iSjg Kgl. ScAleß, Btrli«
der Zustände ein neues Element der Zersetzung, lärmt doch
seit 1830 die Frauenfrage. Im Gegensau zu Balzacs »femme
de trente ans«, der durch den Reiz ihrer Weiblichkeit unwider-
stehlichen Siegerin, protestieren George Sand, die Gräfin Hahn-
Hahn in dem von ihnen geschaffenen Typus der sfemme incom-
prise« gegen die seelische Knechtung des Weibes durch den
Mann; fordern die Emanzipierten politische Rechte und bürger-
liche Gleichstellung für ihr Geschlecht; sdas freie Weib« kennt
nur noch Rechte aber keine Pflichten, die Fessel der Ehe ist
abgestreift.
Immer neue Wunden zeigen sich am Körper der Gesell-
schaft ; die ständig zunehmende Zahl der Selbstmorde, deren
erschreckende Progression zum ersten Male seit 1835 in Däne-
mark offiziell festgestellt wird, alarmiert die Menschenfreunde,
Philosophen, Theologen, Mediziner, Volkswirte forschen nach
dem Grunde, um diesem Uebel zu steuern, aber sie stehen
ratlos einer Erscheinung gegenüber, deren Wachstum und Ver-
breitung einem höheren Gesetz gehorcht, deren Tätigkeit des
freien Willens ihrer Opfer spottet.
Es ist nicht das einzige Symptom von einem unheilbaren
inneren Siechtum der Gesellschaft, für das die Wissenschaft
keine Hilfe weiß, die Wissenschaft, die doch die höchste und
letzte Instanz eben dieser Gesellschaft bildet ; die Wissenschaft,
deren Kultus an die Stelle der Religion getreten ist. Wissen —
— 30 —
und sei es das be-
schränkteste Fachwis-
sen — gilt mehr, als
Bildung ; der Gelehrte
und sein Studium wer-
den höher ge wertet, als
die Arbeit des Tech-
nikers, desKaufmanns,
sie werden in einen ge-
flissentlichen, absicht-
lichen Gegensatz zum
soldatischen Beruf ge-
bracht, der selbst in
langen Friedensjahren
in Deutschland als un-
nötig empfunden, nur
noch als Müßiggang
betrachtet wird. Im
Gelehrten dagegen ver-
ehrte das Bürgertum
iSjo gewissermaßen seine
feinste Essenz, die
höchste Vollendung
bürgerüchen Geistes. Jahrzehnte hindurch durfte Deutschland
zumal in den Gelehrten auch seine Führer in politischen An-
gelegenheiten, seine Vorkämpfer für die Freiheit sehen. Unter
diesen hat es nicht an solchen gefehlt, die, wie die Luden und
Oken in Jena, Arndt in Bonn, Rotteck und Weicker in Frei-
burg, Jordan in Marburg, die berühmten Sieben in Göttingen
zu Märtyrern für die gute Sache wurden, und deren unblutiges
Heldentum um so lauter bewundert und um so leidenschaft-
licher gepriesen wurde, je heftiger sein Widerspruch zu den
Regierungsgewalten gewesen war; nur die Opposition kannte
Helden und zwischen 1820 und 1850 war in Deutschland
niemand populärer als der Professor.
Dankauscr, Gru/ipi aus i Die Prasser t. zSj6
MaitriH, Enldtckl
Im Gegensatz zu dem Geist welcher die neue bürgerliche
Gesellschaft uud ihr I eben ganz und gar zu praktischer Be
tatigung drangt einer Betätigung deren Endzweck täglich starker
und täglich unverhullter der Gelderwerb wird steht der Ge
schm-ick der Zeit welcher sich auf der Flucht \or den Reali
taten des Ta^es befindet
Wahrend Handel und Industrie sich ununterbrochen aus
breiten, wahrend immer neue Erfindungen und Entdeckunf,en der
Zukunft entgef,eiidrangen wahrend Lärm nnd Arbeit dis Leben
füllen entflieht die Nelinsucht dem leidigen \lltag um das Ideal
yoh. Adam Klan, Die fbtl au/ dtm Ehrtnberger Paß
ZU suchen, fem von Ort und Zeit, fem von Fabrik, Maschinen,
Politik und Geld. Je brutaler die Gegenwart ihre Rechte fordert,
um so weiter geht die Flucht in die Vergangenheit, je gewöhn-
licher die Umgebung, um so weiter die Flucht in die Feme, so
findet die bürgerliche Gesellschaft am Beginn der neuen Zeil,
die doch ihr gehört, das Ideal im Mittelalter. Wie in einem
ausdrücklichen Widerspruch gegen das dringendste Bedürfnis
der Zeit, welcher für alle Aeußerungen des bürgerlichen Lebens
gebieterisch neue Formen fordert, suchen Dichtung und Wissen-
schaft, Tracht und Sitte, Leben und Kunst sich im Mittelalter
zurecht zu machen, sie leugnen und hassen die Gegenwart und
verlassen den festen Boden der Wirklichkeit, um im Unwirk-
lichen, Unendlichen, Niegewesenen eine Heimat zu finden. Die
nüchternen Ansprüche des Tages treten in ein krasses Mißver-
hältnis zu den ästhetischen Aspirationen; ein Zwiespalt klafft
durch die Seelen, ein großes Unbefriedigtsein geht durch die
Welt, man sucht überall nach Befriedigung und Befreiung, nur
nicht im wirkUchen, im realen Leben. Immer weiter entfernt man
sich voneinander, alle Reahtäten des Lebens werden gering ge-
schätzt, die Prosa des Materiellen wird verächtUch; poetisch
imd impraktisch wird zu einem Begriff, und Jakob Grimm stellt
_ 36 -
Summers, Mr. Hancmks London — Paddinglon Motoixar lEnlerpriset
als Forderung auf, daß der Gelehrte nur in völligem Rückzug
von Leben und Gegenwart sein Genügen finden könne.
Müde war man der Aufklärung, die mit dem Geheimnis-
vollen, das sie dem Christentum abgestreift, die Christen um den
Glauben gebracht hatte, und man beneidete nun der Vergangen-
heit ihren kindlichen Wunderglauben ; müde war man der platten
Alltäglichkeit des Bürgertums und berauschte sich am Glanz des
ritteriichen Adels einer fernen Vorzeit; müde war man des öden
Einerlei von Heute und Alltag und wünschte sich das Wunder-
bare, Unerhörte, Phantastische. Wurde das Leben schon immer
prosaischer, seine Wirkhchkeit immer roher, so mußten Dichtung
und Kunst um so poetischer, um so unwirklicher werden, und
mit vollen Segeln steuerte man hinein in das uferlose Meer der
Romantik, um an fernen Gestaden überirdischer Reiche die
blaue Blume zu suchen, die der Tag der PhiUster nicht bot.
Durch die Stürme, welche ein Mensch enaker hindurch die
europäische Gesellschaft politisch und sozial durcheinanderge-
schüttelt hatten, durch die Aenderung aller Verhältnisse, die
auch das Leben des bescheidensten Privatmannes mit Aufregung,
Unruhe und Sorge erfüllt hatten, waren die Seelen aus dem
- 37 —
Gleichgewicht gebracht, die Geister
völlig desorientiert worden und nun
erschien ihnen, da die äußere Ruhe
zurückgekehrt war, die Gegenwart
schal, die Existenz ohne Reiz. Ein
unbefriedigtes Sehnen geht durch
die ganze Zeit, aber die Augen, die
immer, von der Erde weg, das
U eberirdische suchen, die Wünsche,
die das Erreichbare verschmähend,
stets nur nach dem Unerreichbaren
zielen, trüben den Blick und ver-
urteilen alles Streben zur Unfrucht-
barkeit.
Die Reaktion gegen die Nüch-
ternheit der Aufklärung trieb die
religiös Veranlagten, suchten sie
nach dem
Bleiben
den in
der Er
schei-
nungen
Flucht,
in die Arme der römischen Kirche.
Fürsten, wie der Herzog und die
Herzogin von Köthen, letztere eine
Tochter Friedrich Wilhelm II. von
Preußen.Dichter, wie Friedrich Schlegel,
Zacharias Werner, Künstler wie Scha-
dow, Overbeck, Riepenhausen, geist-
reiche und begabte Frauen, wie Sophie
von Schardt, Dorothea Veit konver-
tierten, und die Publizisten, die sich
dem Katholizismus zuwandten, die
Adam Müller, PhiUips, K. L. von Haller
schmiedeten aus ihrer neuen Ueber-
zeugung Waffen für die Poütik des
Tages. Chateaubriand wurde der Mode-
dichter der vornehmen Gesellschaft,
_ 38 -
Barlkttischlägtr-IRIdibrandt, Altxaadir v. Humhaläl im Sluditrämmef
denn seine romancische Auffassung des Katholizismus entsprach
der Stimmung einer Zeit, welche 1814 die Wiederherstellung der
Jesuiten erlebte, und welche die eben noch mit dem Untergang
bedrohte Kirche wieder in den Besitz ihrer früheren Macht, in
die Ausübung ihres prunkvollen
Gottesdienstes treten sah; mit ' . '
Staunen sahen die Franzosen
im Februar 1826 in vier ge-
waltigen Prozessionen ihren
König und seinen ganzen Hof
im Gefolge der Geistlichkeit
durch diePariser Straßen ziehen.
Eine Pietistin, wie Juliane
von Krüdener, wird zur Egeria
des Kaisers Alexander, aus
dessen schwärmerischem, von
unklaren Ideen erfüllten Kopf IlayUr, Weher im Cwentgardm
David, Um kturt avant U duel LUkegraphie
die heilige Allianz entspringt, eine wunderliche Mischung von
Religion «nd Politik, ein Bund, in dem katholische, protestan-
tische und griechische Herrscher sich vereinen, um unter An-
rufung der heiligen Dreifaltigkeit der Welt den ewigen Frieden
zu gewähren.
In der protestantischen Kirche, deren bedeutendster Theo-
loge dieser Zeit, Schleiermacher, in der Religion nicht das be-
stimmte Bekenntnis eines Glaubens, sondern nur den Inbegriff
aller höheren (lefühle sah, blüht das Sektenwesen. 1817 und 1 8 1 8
ziehen Chiliasten in Scharen aus Württemberg nach Südrußland,
um des tausendjährigen Reiches zu warten, Irvingianer und
Mormonen erleben 1830 ein neues Pfingst wunder, von Hamburg
breiten sich 1834 die Neutäufer aus, drei Schlossergesellen ver-
pflanzen 1838 das Nazarenertum nach Ungarn, — die Stillen im
Lande nehmen allerorten zu, und als die Union der Evangeli-
schen, Friedrich Wilhelms III. eigenstes und persönlichstes Werk,
mit Gewalt durchgeführt werden soll, um dem Separatismus zu
steuern, da macht das polizeiliche Ungeschick die Lutheraner
David, Ulli kiure apris h duel Liüvtgrapkit
ZU Märtyrern und erhält dem neuen Bekenntnis die alte Un-
einigkeit. Ganz im geheimen wächst ein Muckertum bis in die
vornehmsten Kreise hinein, das seinen Glauben in Orgien der
Un Sittlichkeit feiert und als den Predigern Ebel und Distel 1835
in Königsberg endlich das Handwerk gelegt wird, da darf der
jahrelang sich hinschleppende Prozeß schließlich nicht zu Ende
gefiihrt werden, um nicht die ganze gute Gesellschaft zu kom-
protnittieren.
Schwarmgeister in der Religion, Schwärmer in der Politik !
Als die griechisch-katholischen Slaven der Halbinsel Morea sich
182 1 gegen den Islam erheben, da geht der Philhellenismus
wie ein Lauffeuer durch Europa und entzündet alles, was sich
an Idealen in den Seelen der klassisch Gebildeten mit dem
Wort, dem Begriff: Griechenland verbindet, alles, was an Ge-
fühlen für Freiheit und Recht von den Regierungen unterdrückt
wird, zu einer hellen Flamme der Begeisterung für die gute
Sache der Hellenen. Die Helden dieses unterdrückten kleinen
Volkes, das verzweiflungsvoll für seine Freiheit kämpft; diese
Cavami, Masken aus: La Modi, iSji
Miaulis, Bozzaris, Kolokotroni, sind sie nicht dem verknö-
cliertsten Scliulmeister, dem wider willigsten Abc-Schiitzen aus
Grammatik und Chrestomathie längst als Epaminondas, Themi-
stokles, I.eonidas lieb und vertraut? Und der Aufstand, der
bei den Regierungen Schrecken und Unbehagen auslöst, erfüllt
die Völker mit Jubel, der Philhellenismus wird durch ganz
Europa zur Religion der Jugend und des Alters. Bankiers,
wie der Genfer Eynard, der Darmstädter HofFmann weihen der
guten Sache ihr Geld ; schöne Frauen, wie die Recamier wirken
durch ihre Propaganda; Dichter wie Wilhelm Müller, Shelley
widmen Griechenland ihre schönsten Lieder und wer noch Säbel
und Flinte brauchen kann, Männer wie General von Normann,
Jünglinge wie Lord Byron, ziehen selbst in den heiligen Krieg.
Der bescheidene Widerspruch eines sachlichen Gelehrten wie
aiarm, i« appreti au
11
1
Ffndi, Vor der Lotlmt. i8sg
Fallmereyer, das nüchterne Urteil eines Diplomaten wie Pro-
kesch, werden überschrien von dem Evoe Evoe der freiheitstrun-
kenen Bacchanten.
Auf den griechischen Taumel folgte der polnische, der sich
aber mehr auf rein ästhetischem Gebiete abspielte, denn die
polnische Wirtschaft hatte man — besonders in Deutschland —
zu nahe vor Augen.
Hatte man sich gelegentüch dieser Ereignisse für das Recht
der unterdrückten Völker begeistert, so konnte man sich, als
• 833 der erste Karlistenkrieg ausbrach, für einen in seinem guten
Recht schmähUch verkürzten Fürsten enthusiasmieren und von
allen Seiten zogen aristokratische Abenteurer, wie aus Deutsch-
land u. a. Goeben, Lichnowski, Rahden nach Spanien, um in den
Reihen des Don Carlos für Absolutismus und Inquisition zu
Was anderes als Ro-
mantik war es, wenn der
Prinz Napoleon, im Ver-
trauen auf eine bloße Mode-
strömung, ohne Anhänger,
ohne Geld 1836 in Straß-
burg, 1840 in Boulogne ver-
sucht, die Franzosen mit sich
fortzureißen und sich Frank-
reichs zu bemächtigen?
Romantisch dieser Kö-
nig von Bayern, der die
Staatsverbrecher vor seinem
Bilde Abbitte tun läßtl
Romantischer noch dieser
Preußenherrscher, der die
Wünsche der Zeit mit
tönenden Worten erfüllen
zu können meint, der das
Rittertum ernst nimmt und
den Schwane norden stiftet
zum ritterlichen Kampfgegen
Armut, Elend und Not!
Ein Romantiker pur sang,
dieser Friedrich Wilhelm IV., Gavarm, Maske aus: La Mode, .
— 45 —
Kaiser, Der chiniüsche Turm in München Lilkagrafhii
der mitten im 19. Jahrhundert an das Gottesgnaden tum seiner
Krone, an eine persönhche Verantwortlichkeit für sein Volk
glaubt !
Aber die Könige empfanden ja nur wie ihre Völker, geht
doch die Romantik wie eine Seuche durch das Land und ver-
blendet hoch und nieder. Wie könnte man sich sonst die
Kaspar Hauser-AtFäre erklären? Am Pfingstmontag 1828 er-
scheint ein oberbayerischer Bauembursche in Nürnberg mit dem
Wunsch Soldat zu werden. Es ist an seiner Erscheinung nichts
AufTälliges, an seinem Auftreten nur die Schüchternheit eines
Ungewandten bemerkenswert, allenfalls die Verlegenheit jemandes,
der etwas zu verbergen hat, und um diesen armseligen Kerl bildet
sich plöt/.lich eine Legende, abenteuerlicher und phantastischer,
als sie der schauerlichste Hintertreppenroman je hätte aushecken
könnenl Den einfältigen Bengel treiben Juristen wie Feuer-
bach, Philosophen wie Daumer in ein Lügengewebe hinein;
das ihn zum »Opfer greuelvoller elterlicher Unnatur« und durch
einen Zeitungslärm ohnegleichen zum »Kind von Europa« machtl
— 46 -
Gremer, DU F^nHensfrfuitdmnen
Englische Lords und ungansche Graren nehmen sich semer an
und bald bleibt keine vornehme Familie mehr von den Zu-
mutungen derer unbehelligt die in Kaspar einen Prinzen, am
liebsten den Thronerben Badens sehen mo(,hten Das Urteil
des einzigen, welcher der 'stimme der ^ ernunft Gebor gibt,
(eines Berliners natürlich) des Polizeirats Merker, wird totge-
schwiegen, bis endhch auch m den Beschützern des Burschen
Zweifel erwachen und der arme Schelm bei wiederholten Ver-
suchen, durch fingierte Attentate das geschwundene Interesse
neu zu beleben suh aus Versehen etwas zu tief sticht und
zur großen Erleichterung seiner Gönner 1833 diese Zeit mit
einer besseren Ewigkeit \erwechselt
\\ er kann die Entstehung dieser ganzen Tragikomödie auf
etwas anderes, als auf die Grundstimmung dei Romantik zurück-
fuhren, welche in der Zeit lag' Wer erkennt etwas anderes
in dem Auftreten des Spandauer Uhrmachers Naundorff, der,
ohne ein Wort Französisch zu verstehen, im Mai 1832 in Paris
als der aus dem Temple gerettete Dauphin auftritt und Gläu-
bige m Scharen findet; Gläubige, die sich auch dadurch nicht
A'iw/ (nach Gaiiomi), Im Pari van Montmsrency
Maurin, Dir Sprung übir den Bach
beirren lassen, daß alsbald die Antecedentien des Mannes,
Zuchthausstrafen u. dgl. an den Tag kommen!
Wenn sich in diesem Fall Mitglieder des höchsten fran-
zösischen Adels düpieren lassen, wer will es dann dem welt-
fernen, alten Fräulein in Charlottenburg verübeln, daß sie sich
1835 — 36 durch eine Schwindlerin ihr ganzes bedeutendes Ver-
mögen ablocken läßt, weil der König und die Fürstin RadziwiU
in Geldverlegenheiten seien und Geld brauchten?! Eine Farce,
die durch die Art, wie die Schwindlerin das Geld in Berlin
mit vollen Händen vertan hatte und durch die vor Gericht
produzierten angeblichen Briefe des Königs und seiner Cousine,
die im gemeinsten Berliner Deutsch abgefaßt und unortho-
graphisch geschrieben waren, seinerzeit die größte Heiterkeit
erregte.
Nur das Bedürfnis nach Romantik machte den feigen
Raubmörder Lacenaire zum dichtenden Uebermenschen und er-
laubte einer hysterischen Lügnerin, wie Maria von Morell, einem
mauvais sujet, wie La Ronciere, Gerichtshof und Publikum mit
der Groteske ihres Prozesses zu beheUigen.
In einer Zeit, wo Handel und Industrie das Leben füllen,
der Kaufmann und der Fabrikant das große Wort fuhren, Geld,
Geld, und immer wieder Geld das einzige Schibboleth des Heils
ist, wo der Gegenwart jeder romantische Zug fehlt, da erscheint
es der Sehnsucht, als habe alle Schönheit sich in die Ver-
gangenheit geflüchtet und nur in ihr, die man ja nur ober-
flächlich kennt und sich daher um so herrlicher denken darf,
sucht man die Ideale, große Taten, edle
Menschen, Würde des Daseins. L^nd siehe
da, der Augenblick, der das Bedürfnis
zeitigt, bringt auch seine Erfüllung in
Walter Scott.
Deutschland hatte seinen historischen
Roman seit einer Generation, aber die
plumpen und literarisch wertlosen Bücher
einer Benedikte Naubert, eines K. H. Spieß,
eines Chr. Vulpius hatten ihre Leser doch
vor/ugsweisc in der Küche suchen müssen,
ei*st die liebenswürdige Er/ählerkunst des
großen Schotton befriocligte die Ansprüche
einer gebildeten Leserwelt. 18 14 war
— 50 —
1830
La Mode, Pa'
Noel, naih Gavatni, Dir Spaziergang
Waverley erschienen und schnell folgten 1820 Ivanhoe, 1821
Kenilworth, 1823 Quentin Durward, alle von einem beispiel-
losen Erfolg getragen. Hier erschien zum ersten Male die Welt
der fahrenden Ritter, der Troubadoure und der Schloßfrauen,
der Schauplatz hochgetürmter Burgen, geheimnisvoller Klöster
mit einer Anschaulichkeit dargestellt, mit einer Sachkenntnis
wiedergegeben, welche die Leser hinrissen, und da der Erzähler
ein Dichter war, der seinen Charakteren Wahrheit, seinen Men-
schen Blut und Wärme mitteilte, so war die Wirkung, die er
ausübte, ungeheuer. In aile Sprachen wurden die Scottschen
Romane übersetzt, Ausgaben, Nachdrucke, Uebersetzungen drän-
gen sich, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat das
I8si, April
GoDomi La Mode, Paris
Baralhie, Zefe vor dem Spiegel LUhogriifkie
Publikum gar nichts anderes gelesen; an den Uebersetzungen
von Walter Scott hat der Verleger Schumann in Zwickau, der
Vater von Robert Schumann, ein hübsches Vermögen verdient.
Und nicht genug damit: die Bühne bemächtigte sich sofort
dieser dankbaren Stoffe, 1823 geht in Berlin Kenilworth als
Schauspiel über die Bühne, 1827 wirbeln der verführerische
Leicester, die schöne Amy, Elisabeth und Maria in Neapel
als Ballett über die Bretter und die Librettisten von Aubers
»Leicester«, Rossinis »Donna del lago«, Marschners »Templer
und Jüdin« u, a. haben dem Erfolg der Komposition durch die
Popularität ihrer Sujets vorgearbeitet.
Mit Vorliebe entnimmt die gute Gesellschaft die Vorwürfe
- 55 —
i83r
La Mode, Parti
Maurin, Eilt srra aussi JDÜe gut toi
ihrer großen Kostümfeste dem Kreis der allen so vertrauten
Gestalten Walter Scotts. i8z6 werden auf einem Ball bei
Sir Henry Wellesley, dem englischen Gesandten in Wien, die
Quentin Durward, Ivanhoe, Leicester, Elisabeth, Amy Robsart
lebendig, dargestellt von dem höchsten Adel der österreichischen
Monarchie, von Erzherzoginnen, Prinzessinnen, Fürsten und
Grafen, wie der Berichterstatter meldet: mit unerhörter Pracht
und einem unermeßlichen Reichtum von Juwelen. 1827 ver-
körpert in München das Maskenfest des Hofes den Ivanhoe,
1835 greift man zu Quentin Durward. Die Damen tragen Amy
Robsart Atlas und ein erfinderischer Greisler in Berlin verkauft
i8z6 Walter Scott-Grütze, die Metze für zehn Silbergroschen.
In ernsthaften Wettbewerb um die Gunst des Publikums
traten in Deutschland mit Walter Scott nur der Baron de la Motte
Fouque, Willibald Alexis und Karl Spindler, der, heute ganz ver-
gessen, damals mit seinen Romanen : Der Jude, Der Jesuit, seine
Leser in Spannung hielt. Ihrer historischen Breite mischte
Henriette von Paalzow, die einst hochgefeierte Verfasserhi von
Godwie Castle, St. Roche und anderer Bücher ein Element
fraulicher Behaglichkeit, die ihre Werke in alle Salons, in alle
Hände führte, bis der scharfe Zug der vierdger Jahre nach
kräftigerer Literatur verlangen ließ.
Bis dahin hatte der Roman vor der Ehe gespielt und
endete unweigerlich im Augenblick, da die Liebenden sich
kriegten, nun reißen die George Sand, die Gräfin Hahn-Hahn
^ 59 —
den Vorhang, der bei der
Eheschließung fiel, wieder auf
und zeigen, daß in diesem
Moment das Glück nicht be-
ginnt, sondern, daß es zu
Ende ist; sie zeigen, daß die
Ehe unerfreulich, unglücklich,
bestenfalls langweilig ist, daß
die Ehe der Tod der Liebe
ist und daß sie, erst von
dieser Fessel befreit, zur
* wahren, zur freien Liebe wird.
l Die große Leidenschaft
ist die Sehnsucht der Frauen
aller Klassen, von ihr ver-
langen sie, daß sie dem Le-
ben Wert und Bedeutung gebe.
Das erste Kaiserreich hatte
in der Liebe nur die sinnhche
Befriedigung gesehen, nun
aber bedeutete sie nicht mehr den vorübergehenden Genuß, nem,
sie solhe das ganze Dasein mit ihrem Gehalt erfüllen, sie mußte :
romantisch sein, Opfer der Liebenden nehmen wie bringen. Rang
und Stand, Gatte und Kinder, Vermögen und Ruf galten nichts
mehr, wenn die Liebe rief und die Gestalten, welche die Dicht-
kunst in diesem Sinn handeln ließ, lebten nicht nur im Roman.
Faustine, die berühmte Heldin der Hahn-Hahn, verläßt nach-
nder aus unbefriedigter Sehnsucht drei Männer, aber was
das gegen die schöne Lady Ellenborough, die, nachdem
sie fünf Europäer geheiratet und verlassen hatte, zum sechsten
;nen Scheich der arabischen Wüste erkor ! Was waren alle
Abenteuer der Romanheldinnen gegen die Wirklichkeit !
Die Gemahlin Christian VIII. von Dänemark, Charlotte
Friederike von Mecklenburg, verliebt sich in ihren französischen
Musiklehrer, wird en flagrant delit ertappt, nach Jütland ver-
bannt und stirbt nach einem der Liebe geweihten Leben als
barmherzige Schwester im Kloster Hospital in Rom ; die Gattin
Georg IV., des ersten gentlcman von Europa, abenteuerte mit
dem schönen Italiener Bergami an allen Küsten des Mittel-
meeres umher und errötet nicht, die intimsten Details ihrer
i83t, Juli
La Mode, Paris
Mildi, Paslor Kaulenbttg und dit Seinen. iSjj Hamburg, Kunslhalle
Einsamkeit zu zweien i8zo in einem skandalösen Prozeß der
ganzen Welt bekannt zu geben; die Herzogin von Berry be-
zahlt ihre Leidenschaft mit dem Opfer ihres Rufes, mit der
Kompromittierung der Zukunft ihres Sohnes.
Die Liebe, die sich über Standes Vorurteile hinwegsetzt,
achtet auch keinen Altersunterschied : Goethe entflammt als
hoher Siebziger für Ulrike von Levetzow, Friedrieb von Gentz
ist ein Greis und dem Tode nahe, da schlägt Fanny Elssler
sein Herz in Fesseln; die Fürstin Dorothea Lieven ist eine
Fünfzigerin, als sie die große I,eidenschaft für den ebenso alten
Guizot erfaßt. Was hätte ein Romancier wohl erfinden können,
was ebenso romantisch gewesen wäre, als die Tat der unglück-
lichen Charlotte Stieglitz, die sich in den Weihnachtstagen 1834
sie hoffte, dies Un-
glück werde ihren
heißgeUebten Mann,
den mittelmäßig be-
gabten Dichter Hein-
, rieh Stieglitz, zu
einem großen Werk
begeistern 1 Constan-
ze Mayer schnitt sich
im Mai 1821 den
Hals ab, verzweifelnd
an der Liebe ihres
Meisters Prudhon
und Leopold Robert
war auf der Höhe
seines Ruhmes, da
erschoß er sich 1835
in Venedig aus un-
glücklicher Liebe zu
einer Prinzessin Bo-
naparte.
Und was die
Autoren nichtschrie-
iSjo U Modt ben, das lebten sie,
die glühende Seele
der George Sand strömt nicht durch ihre Bücher allein, sie
bedarf der Liebe, gleichviel ob Chopin oder Alfred de Musset
oder ein anderer das Objekt ist; die Gräfin d'Agoult verläßt
Mann, Kinder und Stellung, um Liszt zu folgen; die Gräfin
Hahn bezaubert Männer, wie Heinrich Simon, wie Baron
Bystram nicht vorübergehend, sondern für eine Lebenszeit, bis
an ihren Tod können sie nicht wieder von ihr lassen, von
einer Frau, die eher häßlich ist als schön, und die nichts
anderes zu geben hat, als ihre Seele.
Wer von allen aber, die damals die Feder geführt haben,
lebte mehr das Leben seiner eignen Werke, war mehr Don
Juan, mehr Manfred, als der Dichter Lord Byron selbst ? Schön,
jung, reich, vornehm, genial, schien die Natur ihm überhaupt
nichts versagt zu haben, um ihn zum Abgott seiner Zeit zu
~ (,2 —
machen,
einer Zeit,
die in ihm
geradezu
verkörpert
erscheint.
AUeBedin-
gungen
eines glän-
zenden
Daseins
auf den
Höhen des
Lebens
scheinen
ihm gege-
ben und
doch irrt
er, wie ein
Geächte-
ter, in der
Fremde
umher und
strömt aus
1
I
3
nem Her-
zen wie an DevMa, to Uhr; am : La joumie dt la Pariskimt
geheimer
Wunde verblutend, Schmerz und Verzweiflung in Dichtungen von
hinreißendem Feuer und blendender Schönheit aus. Schwermut
und Lebensüberdruß ohne Hoffnung und ohne Sehnsucht füllen
seine Seele, füllen sein Lied; sein Leiden ist unheilbar denn sein
Leiden ist das Leben. Wie in einem Spiegel bhckte die Zeit in
seine Dichtung, keiner vor ihm hatte die Disharmonien der Natur
und des I,ebens so gewaltig empfunden, so ergreifend besungen ;
dem Weltschmerz ganzer Generationen lieh er den hinreißend-
sten Ausdruck und war den Zeitgenossen unwiderstehlich, denn
er sagte, was sie alle fühlten oder wenigstens zu empfinden
glaubten, konnte doch Fürst Mettemich ganze Gesänge des
Childe Harold auswendig 1
- 63 -
Deveria, 4 Uhr ,' aus : La joumit dl la Parisitnnt
Der' Weltschmerz wurde Mode, die Schöngeister spielten
die zerrissenen Seelen ; in Dichtung und Kunst kehren die
Urnen und Trauerweiden, die einsamen Gestade des Meeres
und die stillen Kirchhöfe zurück, wie einst in den Zeiten der
Weither und Siegwart, als die Großväter für Ossian schwärmten.
Wirklich Tiefempfindenden hat der Weltschmerz jener Jahre
das Herz gebrochen; Daniel Leßmann gab sich 1831 den Tod,
Nikolaus Lenau endete im Irrenhaus — der Mehrzahl blieb
er eine Modesache, rasch genug von anderen, stärkeren Sen-
sationen verdrängt.
Und diese boten den gröberen Instinkten der großen
Masse die Franzosen, Alexandre Dumas, Victor Hugo. Jener
ein flotter Routinier, der mit überlegener Kunst tind nie er-
lSS2
Aus: Gavarm, Physionomie de la population de Paris
Deveria, 3 Uhr; aus: La joiimie dt la Parisienm
Porträt der Sängerin Maiibran
lahmender Phantasie seinen glänzenden historischen Schilde-
rungen ein starkes Element der Sinnlichkeit beimischt, wird
sofort der I.iebhng des großen Publikums; dieser, ein wirklieber
Dichter, trägt mit seinen von Leidenschaft zitternden Schöp-
fungen die Revolution in die Literatur und auf die Bühne und
spielt 1831 mit seinem gewaltigen Roman Notre Dame de Paris
die letzten Trümpfe der Romantik aus. Mit diesem Werk,
das an wilder Phantasie nicht seinesgleichen findet, hatte die
Romantik ihr letztes Wort gesprochen. Die Zeit hatte sich
auf sich selbst besonnen, die Juli-Revolution ein neues Ge-
schlecht zur Geltung gebracht, ein Geschlecht, das sich selbst
genügte und mit Wonne und Behagen das Raffinement seiner
- 6S - .
np
TTTT
Dn/eria, Abends; ans: La journct di ta l
M
Kultur, seines Le-
bens, seines Herzens
in den Gesellschafts-
romanen Balzacs
genoß.
Die radikale
Opposition aber, die
1830 zu Wort ge-
Menut, Der Hamtaierlier langte, deren Führer
Mit Ge«rb«,ie^«e ™, E. A. s.,«,anH, Läfxig in Deutschland Hein-
rich Heine und das junge Deutschland, Gutzkow, Laube, Prutz
u. a. waren, befehdete schontingslos eben diese Gesellschaft mit
allen Waffen von Hohn und Spott und, wie politisch in dem
Augenblick, da der dritte Stand sich anschickt, am gedeckten
Tisch Platz zu nehmen, der vierte sich erhebt, um ihm diesen
streitig zu machen, so erhebt sich auch literarisch der Proletarier
gegen den Bourgeois; Eugene Sue breitet in seinen »Gemälden
aus der schmutzigen Welt« das Elend, die Armut und alle
Greuel und Laster der Enterbten vor den schaudernden Blicken
des satten Philisters aus, George Sand wütet in jeder Zeile, die
sie schreibt, gegen Gesetz und Herkommen, gegen Staat, Kirche
und Gesellschaft.
Den gleichen Weg wie die Literatur geht das Theater.
Die grausigen Seh icksalstragö dien eines Müllner, eiiies Grill-
parzer beherrschen die Bühne zu derselben Zeit, als Webers
romantikgesättigter Freischütz 1821, Marschners gespenstischer
Vampyr 1828 ihre
Premieren erleben. .
^Vährend in Deutsch- "
land, namenüich in
Berlin, die ledernen
Hohenstaufentragödi- ,
en Raupachs das Be- .
dürfnis nach dramati-
sierter Geschichte in '
endloser Langeweile
begraben, entzündet
dagegen in Frankreich
das historische Stück, .
durchglüht von der Mannier, Bei ifm Modistinnen
iSsS' Dezember
Journal des Gens du Monde, Paris
leidenschaftlichen Gegenwart die Ge-
müter; an dem Feuer, das in Vik-
tor Hugos Dramen aufflammt, ver-
brennt die romantische Jugend die
akademischen Ideale des Alters;
Aubers schwungvolle Musik tönt
wie die Fanfaren der Revolution,
gibt doch auch die Aufführung der
»Sturamen von Porticit 1830 in
Brüssel das Signal zum Aufstand.
Zu gleicher Zeit sorgt Scribe
mit Bühnengewandtheit für die literarischen Ansprüche des ehr-
baren Bürgertums und eine Fruchtbarkeit ohnegleichen sichert
ihm die Vorherrschaft in allen Theatern Europas, er ist jahre-
lang der meist gespielte Autor, in seinem Besitzstand auf deutschen
liülmen nur durch die Birch -Pfeiffer bedroht, die 1828 das erste
ihrer so erfolgreichen Stücke auffuhren läflt.
Für die namenlose Menge aber entsteht im Melodrama
ein neues Genre, die Dichtung, die ihre Effekte mit Musik
unterstreicht, die das Schauerliche mit dem Rührenden, blut
rünstige Roheit und engelgleiche Unschuld, vornehmes Ver-
brechertum und Kleineleut-Tugend zu einem sentimentalen Brei
verrührt, der, mit Gesang und Tanz garniert, vom Volk ver-
schlungen wird, mundet er doch seinen zwischen starken Kon-
trasten schwingenden Instinkten. In dem Jahre, als Notre
Dame de Paris erscheint, feiert auch die Romantik auf der
Bühne einen gleich beispiellosen Erfolg: Meyerbeer läflt 1831
in der Pariser Großen Oper »Robert der Teufel« aulTühren,
ein Werk, ilas alles in Schatten gestellt hat, was er früher ge-
schaffen, und dessen Melodien, ebenso wie die der 1836 erst-
mals gespielten Hugenotten, Jahre hindurch Gemeingut der Ge-
bildeten wie Ungebildeten wurden, die »Gnadenaries trug der
Leierkasten in das entlegenste Hinterhaus!
Aber hinter dem brillantesten Vertreter der romantischen
Musik steht schon der Prophet einer neuen Kunst, der Ver-
künder einer neuen Zeit ; in den Jahren, da Meyerbeers Opern
ihren Triumphzug durch die Welt halten, schafft bereits Richard
Wagner! 1843 erscheint der »Fliegende Holländer« in Dresden
und beginnt im Bruch mit Tradition und Herkommen den
Krieg, dessen Getöse eben erst verhallt ist.
Aus den romantischen Aspirationen nach den Idealen ver-
gangener Zeiten atmete gewissermaßen das Unbehagen einer
Gesellschaft, die sich in neue Verhältnisse nur schwer und
widerwillig finden konnte. Die Ferne der Völker und Zeiten
erschien so verlockend, weil die Nähe so nüchtern, das Ge-
fühlsleben der Vorzeit so romantisch, weil die Gegenwart so
prosaisch war; das bürgerliche Leben der Alten und Verstän-
digen wandelte bedächtig auf der goldnen Mittelstraße; die
Jungen aber und die Genies haßten das Ziel dieses Weges,
die Nützlichkeit. Romantisch war die Jugend, gut bürgerlich
das Alter, jene riß das Herz fort, dieses hielt der Verstand
fest und die Alten und Verständigen waren stets die Mehrheit.
Ein stark bürgerliches Element wiegt in der Gesellschaft
der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahr-
hunderts vor und bildet den Grund, die solide Basis, auf
der sich die Romantik im Leben, Poesie und Kunst entwickelt,
wie phantastische Arabesken sich um einen langweiligen Text
schlingen. Wenn die Dichter und Künstler in die Ferne schweifen,
um ihre Seelen an den Bildern vergangener HeiTlichkeit zu
berauschen, so fliegen sie nur dem Gelehrten voran, der ihnen
auf dem Fuße folgt, um das Gebiet, das sie entdeckten, plan-
mäßig und gründlich zu erforschen. So haben die Jahre, die
ästhetisch das Mittelalter auf den Schild hoben, auch die Ge-
lehrten hervorgebracht, die der Geschichtsschreibung die Wege
wiesen. Raumer, Ranke, Giesebrecht, veröffentlichen ihre Studien
in den gleichen Jahren als Scott, Alexis, Fouque, Raupach u. a.
dichten, Lessing, Delacroix malen. Meyerbeer, Auber, Rossini
komponieren. Der Genius streift flüchtig dieses oder jenes
Gebiet des Wissens, der Pedant erforscht sie sämtlich syste-
matisch und so wird der Zeit, die das Vielwissen höher schätzt
als Vorzüge der Geburt und Bildung, das Konversationslexikon
zum Inbegiiff der letzten Vollkommenheit und zum unentbehr-
lichen Hausrat, notwendiger als die Badewanne. Brockhaus
und Meyer lassen ihre Lexika entstehen und ernten einen Er-
4^ ^j^ folg, der immer neue und neue Auflagen
erfordert und dessen Treibhaustemperatur
die Pläne der Verleger zu gigantischer Größe
^l^Q^jmiyj^j^ steigert; Brockhaus beginnt die Encyklo-
pädie von Ersch und Gruber in einem
solchen Maßstab, daß sie nach 90 Jahren
noch nicht beendet ist, Meyer spiegelt in seiner
50 bändigen Ausgabe das gesamte Wissen
seiner Zeit.
Ein pedantischer Zug haftet mit Notwen-
digkeit einer Zeit an, in der ein Louis Philipp
auf dem markantesten Thron Europas sitzt, ein
sBürgerkönigs, der Schulmeisier gewesen war
und auch als Kronenträger noch blieb. Auf
seiner eigensten Schöpfung, dem Museum in
Versailles, hegt wie ein Frost die Systematik
einer pedantischen Idee, das Lehrhafte, Er-
zieherische, das er zum ersten Male mit dem
Begriff Kunst verbunden hat. Wenn derselbe
Mann mit dem Regenschirm spazieren geht, seine acht Kinder
in städtischen Schulen erziehen läßt und öfFenthch Tränen der
Rührung über ihre Erfolge und gewonnenen Preise weint, so
dokumentiert er den gleichen spießbürgerlichen Sinn, wie ihn
auch Friedrich Wilhelm IIL von Preußen, wie Kaiser Franz Ihn
zur Schau trugen. Ist es nicht der Geschmack eines Parvenü,
wenn Ferdinand VII. von Spanien die alten Bilder ans seinen
Palästen entfernt, um sich modern mit Pariser Tapeten, Möbeln
und Uhren einzurichten ? 1 Wittert man nicht die Stubenlufl der
Philister, wenn man hört, daß ein sächsischer Prinz Dante über-
setzt und kommentiert, eine sachsische Prinzessin bürgerliche
Komödien schreibt, ein sächsischer König Botanik studiert, oder
ein König \on Ba)era nicht nur Gedichte macht, sondern sie
sogar drucken laßt'' Der letzte
Wasa-König zieht als Prozeßhansl
in der Welt umher und quengelt
und queruliert wie em Silzstoßler,
dessen Rechnung zu hoch gefun
den wird.
Die '%ucht, aufzufallen, der
Wunsch, bemerkt zu werden, ist
ein Kennzeichen des Roturiers
und doch — welch anderer Grund
veranlaßt den Fürsten Pückler, mit
gezähmten Hirschen in Berlin spa-
zieren zu fahren, stundenlang Un-
ter den Linden im Wagen sitzend
ein Buch zu lesen oder andere Extravaganzen zu treiben. Nur
der Wunsch, sich in Szene zu setzen, erklärt die Memoiren,
die seit Beginn der zwanziger Jahre wie eine Sündflut herein-
brechen, Denkwürdigkeiten, in denen Könige, Kammerzofen,
Feldherren und Feldjäger sich wichtig machen und mancher
und manche, wie Frau Junot, um so mehr schreiben, je weniger
sie zu sagen haben. Man fürchtete, in der Masse unterzugehen
und rührte sich, um zu zeigen, daß man jemand war, nicht
nur der erste beste Biedermann.
Die bürgerliche Gesellschaft setzte dem Adelsstolz der
Aristokraten ihre »Bürgertugend« entgegen, doch mochten die
Bürger immerhin, wie echte Pharisäer, die Tugend für sich
allein in Ansprach nehmen, es ging ihnen damit wie Joseph mit
Potiphars Frau: es bheb ihnen wohl die Bewunderung, aber auch
die LächerUchkeit. Niemand wollte dazu gehören, jedermann
etwas Besseres sein, so wurde der Begriff: boui^eois zum
Schimpfwort und Louis Philipps geflügeltes Wort vom: juste-
milieu zur Bezeichnung der Mittelmäßigkeit.
Meatil, Der Beamte
Die Tendenz des literiiri sehen Geschmacks, wie des wissen-
schaftlichen Studiums, immer in die Vergangenheit zu bhcken,
verdichtet sich im Betrieb der bildenden Kunst zu einer Formel
von kategorischer Strenge, sie lautete: das Alte ist immer schön,
das Neue immer häßlich; der Künstler darf nur das Schöne
darstellen, also muß er sich von der Gegenwart abwenden, sie
ist der »hohen« Kunst nicht würdig. Schon der Begriff »hohe«
Kunst ist ein bis dahin nicht gebräuchlicher und deulet an, daß
die Kunst sich in einer neuen Position befand, neu und schief.
Bis zum Ende des i8. Jahrhunderts hatte die Kunst fUr
eine aristokratische Gesellschaft geschaffen, in deren Dienst sie
nicht nur Schlösser und Kirchen mit Malereien und Skulpturen
schmückte, sondern auch Möbel und Geräte verzierte, und der
hochkultivierte Geschmack einer seit Generationen besitzenden
und genießenden Aristokratie hatte beispielsweise die Bronzen
Gouthieres oder Caffieris, die I-ackarbeiten eines Martin, die
Möbel von Boulle, Riesener u. a. nicht geringer geschätzt, als
die Gemälde Watteaus oder Bouchers, die Skulpturen von
Coyzevox oder Clodion. Der Künstler hatte zum Handwerk
gehört, der Wertung seiner Arbeit aber hatte das keinen Ein-
trag getan. Das hatte sich inzwischen gründlich geändert. Wir
haben schon im ersten Bande erzählt, daß Kunst und Küiistler
eben infolge ihrer Tätigkeit für die ci-devants den Bürgern
strenger Observanz stark verdächtig waren, und daß sie es nur
David verdankten, wenn sie geduldet wurden. Aber gerade
indem David versprach, daß die Kunst sich von nun an nur
noch mit der Darstellung von Heldentum und Bürgertugend
beschäftigen werde, war er es, der ihr einen falschen Weg wies
und ihr Aufgaben stellte, die mit dem eigentlichen Wesen der
Kunst nichts oder nur wenig zu tun haben; gerade an diesen
aber hielt die Bourgeoisie fest, nicht mehr um ihrer selbst willen
war die Kunst da, sie hatte höheren Zielen nachzustreben.
j8ji La Mode
Zwecten zu gehorchen, die viel mit Erziehung, Bildung, Patrio-
tismus, aber wenig mit Kunst gemein hatten.
Von nun an ist es eine stehende Phrase im Schrifttum
und Gespräch: »die Kunst soll doch . . .«, »die Kunst muß
doch . . .■!. und erst die Enkel der Generation von 1830 haben
mit ihrem Protest gegen das Sollen und Müssen die Kunst aus
- 78 -
Toilelte negUget La Mode
der dienenden Rolle in welche die Großvater sie gewiesen,
betreit und sie wieder zur Herrbcherm gemacht. Das Bürger-
tum besiß kern inneres Verhältnis zur Kunst und ihren Werken,
ein Mangel der m der Pflege die von nun an der Kunst zu-
teil wird seinen prägnanten Ausdruck findtt Im Leben ist
kein Rium für sie also bekommt mc em Piltzchen für sich:
— 79 —
das Museum. Aus Kirchen, Klöstern, Schlössern werden die
Werke der alten Meister zusammengeschleppt, von den Plätzen,
für die sie geschaffen, für die sie in ihrer Wirkung berechnet
waren, entfernt und kaserniert, um der allgemeinen Dienst-
pflicht im Fache des Unterrichts zu genügen. Man nimmt ihnen
das Intime und Persönliche, wie man den Rekruten die Indi-
vidualität abstreift und wie diese in die Zwangsjacke der Uni-
form, steckt man sie, der alten echten Rahmen beraubt, in
schön gleichmäßige, breite Goldleisten und in der spiegelnden
Proprete des neuen P^imisses, in dem Kommiß eines einheit-
Hchen Galerietones nehmen sie Parade au fstellung auf den Ge-
filden der Kunstgeschichte, ungenießbar durch den aufwirbeln-
den Bücherstaub der neuen Wissenschaft.
Der gleiche Museumsgeruch der Langeweile liegt über den
Werken der damals lebenden Künstler, welche, von Kritik und
Publikum genötigt, das Gebiet ihres Schaffens in das Ideale
verlegen mußten. Nur große und erhabene Taten im fernsten
Altertum waren würdige Stoffe, und den darstellenden Menschen
mußte in einem Reinigungsbade alles Menschliche, jeder indi-
viduelle Zug genommen worden sein, um sie zu einer unper-
sönlichen abstrakten Idealschönheit zu erheben. Wen die Kritik
loben, das Publikum bewundern sollte, der mußte dem wirk-
lichen Leben mit all seinen Aeußerungen, wie es sich in Haus
und Gasse vor den Augen der Menschen abspielte, weit aus
dem Wege gehen, noch weniger aber durfte der Künstler sich
einfallen lassen, etwa für das wirkliche praktische Be^iürfnis
etwas schaffen zu wollen. Nur die Historienmalerei war große
Kunst, auf allem anderen lag der Makel des bloßen Kunst-
handwerks, als hätte das Bürgertum die hohe Kunst, um sie
besonders zu ehren, gar nicht weit genug von sich entfernen
können.
Aus dieser Zeit stammt auch die Auffassung, welche im
Künstler ein Wesen von ganz besonderer Art sieht, nur mit
»seiner Kunst« beschäftigt und nur vom Ideal lebend, wie mit
innerer Notwendigkeit in einem feind-
lichen Gegensatz zu seiner Umgebung
und zu seiner Zeit stehend. Diese Auf-
fassung kennzeichnet sich sehr ergötz-
lich in dem Streit, der in den dreißiger
-**• Jahren unter deutschen Kunstgelehrten
— 80 —
f^imi
SUltr, Marcktsa Flortnti aus der tSchön- Kgl. Knidtni. MUnclum
hiiltagaltrin
über die Frage ausbrach, ob die alten Meister, Dürer, Holbein u. a.
ihre Holzschnitte eigenhändig in den Stock geschnitten hätten
oder nicht. In dieser an und für sich sehr unwichtigen und
darum mit großer Heftigkeit geführten querelle allemande führten
die Gegner der Eigenhändigkeit als Hauptargument an, daß eine
derartige, rein handwerkliche Tätigkeit der alten Künstler unwürdig
gewesen wäre, und daß sie es deshalb sicher nicht getan hätten.
Indem man den Künstler so weit vom Handwerker distan-
zierte, übersah man dann auch willig, wenn der Lebende das
Handwerkliche seiner Kunst nicht verstand; wenn ein Maler
nur gut zeichnete und tiefe und große Ideen in seinen Bildern
zum Ausdruck, zu bringen trachtete, so hatte er nicht nötig,
mit der Farbe umgehen zu können. Die gefeiertsten deutschen
Maler der Zeit, die Antipoden Cornelius und Kaulbach, konnten
denn auch beide nicht malen, ja, Cornelius hat sich aus diesem
Mangel einen Vorzug gemacht, er verachtete die Farbe und
überließ das Malen und in die Farbe bringen seiner Kartons
völlig selbständig seinen Schülern. Man sah nur auf den In-
halt; je lehrhafter derselbe war, je mehr er sich an Wissen und
Bildung des Betrachtenden wendete, um so willkommener war
er, um so vollendeter erschien seine Kunst. So erklärt es sich
denn auch, daß zu derselben Zeit, als der historische Roman,
das historische Drama den Hterarischen Markt beherrschten, die
Geschichtsschreibung die Vergangenheit durchwühlte, auch die
Historienmalerei in höchster Blüte stand. Sie setzte Kenntnisse
voraus, was der Eitelkeit schmeichelte, sie unterhielt zugleich
durch anekdotische Züge, blendete das Auge durch die präch-
tigen Effekte der Ausstattung und wirkte, da sie die ganze Skala
der Empfindungen von bloßer Neugierde bis zum wollüstigen
Schauder des Entsetzens beherrschte, anregend auf die Nerven.
Die Generation von 1 830
fand in der Historienmalerei
alles, was sie von der Kunst
verlangte: Belehrung für den
Verstand, Romantik für das
Gemüt; so ist es auch kein
bloßer Zufall, daß Viktor
Hugos Notre Dame, Meyer-
beers Robert der Teufel und
Delaroches Tod der Söhne ... ,.._ ...
i834, /ww*
Wiener Zeitscfin"
Eduards demselben Jahre 1831 angehören, sie bezeichnen den
Kulminationspunkt der Romantik.
Der klassischen Richtung war damit der Todesstoß ver-
setzt, David und seine Schule waren überholt und sanken in
Vergessenheit; wer mit der Modeströmung nicht mitkonnte, wie
der alternde Gros, wurde verhöhnt, was der Arme -sich so zu
Herzen nahm, daß er 1835 freiwillig in den Tod ging. Es
ist kein Wesensunterschied, der die romantische Geschichts-
malerei von der klassischen im Sinne Davids trennt, nur die
Mache war verschieden, nur ein Szenenwechsel ging vor. Man
entsinnt sich aus der Selbstbiographie Ludwig Adrian Richters
des komischen Entsetzens, mit dem der angehende Kunstjünger
den Hergang der Komposition in der historischen Klasse der
Akademie schüdert, wie ihn diese GUedermänner und Stoff-
draperien angewidert; daran änderte sich nur, daß man lebende
Modelle in die Kostüme steckte, ein lebendes Bild stellte und
die Stoffe aus dem Mittelalter nahm, statt aus dem Altertum;
die Delaroche, Wappers, Gallait spielten im übrigen ebenso
Theater, wie ihre Vorgänger in der Gunst der öffentlichen
Meinung getan hatten, sie wiesen durchaus in ihren Schöpfungen
keine höheren künstlerischen Qualitäten auf, als diese, aber sie
boten, was der Geschmack der Zeit verlangte, und dieser hob
sie auf den Schild und führte ihre Werke im Triumph durch
ganz Europa.
Im Bild, im Buch und auf der Bühne herrschte das Mittel-
alter, so kann man wohl aus ihnen den ästhetischen Geschmack
der Zeit kennen lernen, sie selbst aber verbirgt sich, als hätte
sie sich ihrer äußeren Erscheinung, der Form ihres Daseins ge-
schämt. Nur im Porträt durfte die große Kunst sich der
Menschen von dazumal annehmen, um sie darzustellen, wie sie
gern gewesen wären, die Frauen idealisiert, die Männer in ihrer
Wichtigkeit und Bedeutung gesteigert. So zeigt sie uns der
Engländer Thomas Lawrence, der beliebteste Maler der vor-
nehmen Welt, für den man in Wien ebenso schwärmte wie in
London, und dessen Bilder uns die Gesellschaft festgehalten
haben, wie sie der Nachwelt zu erscheinen wünschte; die Damen
von ätherischer Leichtigkeit, Wesen, die sich in Schleiern und
Wolken verflüchtigen, sie hängen mit dieser Welt nur gezwungen
durch den Körper zusammen, ihre Seele gehört einer anderen
Welt, in die sie sich eben erheben zu wollen scheinen. Ihre
- 83 -
Liiiistrkliinmg aus lAdam, pasi
schmachtenden Bhcke, die weichen Rundungen
•Sjo
Hals und
Busen, die das Gewand mehr zu zeigen, als zu verbergen liebt,
beweisen allerdings hinlänglich, daß die Schönen gegen den
Beifall der Irdischen doch nicht ganz unempfindhch sind. Wenn
auch der gute Ton den Weltschmerz verlangt und sie nötigt,
eine Verachtung der Freuden dieser Welt zur Schau zu tragen,
so müssen sie wohl zugeben, daß diese Freuden ja leider sehr
flüchtig sind, aber ihre schönen großen Augen, die lächelnden
schwellenden Lippen überzeugen davon, daß diese Freuden
doch auch sehr süß sein können.
Die Männerwelt, die Lawrence darzustellen hatte, zeigt
uns die Fürsten und Herrscher der Restauration, die Feldherrn,
die zum Sturz des Korsen beigetragen hatten und die Diplo-
maten, die sich auf den Kongressen in Wien, Karlsbad, I^ai-
bach, Verona bemühten, alles ungeschehen zu machen, was sich
seit 1789 ereignet halte. Etwas von der Schwächlichkeit dieser
Generation haftet auch den Bildern an. Das oberste Prinzip
dieser Menschen ist das Verbergen ihrer Gedanken ; so hat
der Künstler sich begnügt, uns ihre Außenseite, elegant, vor-
nehm, etwas weichlich, zu schildern, eine Gesellschaft, die zwar
herrscht, der aber vor dem morgenden Tage bangt.
Ein anderer
Maler der vo
nehmen Welt ji
ner Zeit war dt
Franzose G (
,rd, der schon
;rNapoleonL
seinen Ruhm be-
gründet hatte. Im
Wettbewerb mit
David trug er im
Bildnis über die-
m^
sen einen augenscheinlichen Sieg davon, denn er verstand es,
ohne unwahr zu sein, effektvoll zu schmeicheln, der Schön-
heit liebenswürdige Anmut, der Würde weltmännischen Chic
zu geben.
Wie kein anderer aber w^ar Ingres der Maler seiner Zeit-
genossen, von denen er mit Pinsel und Stift drei Generationen
nacheinander festgehalten hat. Er hat mit dem Porträt des
alten Bertin, des Verlegers des »Journal des Debats«, ein Bild
geschaffen, welches die ganze Zeit vergegenwärtigt. Dieser so
breitspurig dasitzende alte Herr ist der Repräsentant des tiers
etat, wie ihn das große Jahr geschaffen, erfüllt von sich, bis
zum Unangenehmen seiner Wichtigkeit bewußt. Seine Miene
und Haltung verkünden, aus jeder Pore quillt die Ueberzeugung :
der Staat, das bin ich; mir gehört die Gegenwart und die Zu-
kunft! — Mögen Ingres' übrige Bilder trocken und ausgeklügelt
sein, in seinen Porträts hat er das Leben zu bannen gewußt.
Mit liebendem Verständnis ist er hier der Natur nachgegangen
und hat das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft gepackt, so
starrköpfig und zähe, wie die Männer, so tüchtig und korrekt,
wie die Frauen waren.
Diese Züge treten in seinen Zeichnungen noch leben-
diger hervor, als in seinen Bildern, deren Wirkung durch eine
kalte und spröde Farbe beeinträchtigt wird. In seinen Blei-
stiftstudien schaffte der Künstler dagegen unmittelbar vor der
Natur und er schreibt sie hin, wie er sie empfindet, erfüllt
von dem intimsten Leben, das außer der körperlichen Erschei-
nung auch etwas von dem Geiste der Menschen auf sein Blatt
gerettet hat. Ueber seinen Familienbildern liegt eine Innig-
keit, eine Stimmung der Weihe, die Liebe und Ernst des Fami-
lienlebens wie einen Gottesdienst empfinden lassen.
Deutschlands romantische Kunst empfing durch die ältere
Düsseldorfer Schule ihre stärksten Akzente in einer rührseligen
Sentimentalität, welche Lessing, Sohn, Bendemann u. a. mit
weinerlicher Eleganz zur Geltung brachten, aber den Geschmack
der Zeit in so hervorragender Weise trafen, daß Kritik und
Publikum ihnen zujubelte und Graf Raczynski sie in seiner Ge-
schichte der Kunst in den überschwenglichsten Tönen verherr-
lichte. Bei ihnen, wie bei den Historienmalern, die, wie Kaul-
bach in der Zerstörung Jerusalems, ihre Bilder mit geheimnis-
vollen Anspielungen spickten, die nur den Gebildeten verständ-
— 86 —
JoHiTial des Damis
A HinI tu the Ladies Englisch, Karikalar »w 1S30
lieh waren, finden wir wohl, wie (Ue Zeit dac!itc und wie sie
empfand, aber wie sie aussah und wie die Menschen sich gaben,
das suchen wir veiffebens, wir müssen uns auch da an die
Porträtisten wenden.
Nun zählt Deutschlands große Kunst in jenen Jahren unter
ihren Porträtmalern keine Kraft, deren Ruhm den kurzen Tag
der Mode überlebt hätte. Einer der beliebtesten war Josef
Stieler, der für Ludwig I. von Bayern jene Galerie von Schön-
heiten gemalt hat, die den für Frauenreiz sehr empfänglichen
König während seines langen Lebens entzückt haben. Es sind
Damen aus allen Ständen dabei, sie gehören verschiedenen
Völkern an und verteilen sich auf mehrere Jahrzehnte, und
doch bilden sie alle scheinbar nur eine große Familie, denn
die Unterschiede von Rang, Temperament und Alter sind durch
Retuschen, die jeden individuellen Zug sorgfaltig verwischt haben,
um jede einzelne zum Typus einer besonderen Idealschönheit
zu verklären, völlig verwischt worden, und die Uniformität in
Stellung und Gebärde macht sie zwar alle sehr schön und sehr
lieblich, aber auch sehr gleichgültig und sehr langweilig.
Diese Prinzessinnen, Gräfinnen und Bürgermädchen geben
doch nur einen stark ins Schöne gefärbten Begriff ihres wahren
Aussehens ; den Spiegel der Welt, wie sie damals in Wirklich-
keit war, den geben uns ganz andere Maler; Künstler, die
sich zu ihrer Zeit nur einer gewissen mitleidigen Nachsicht er-
freuten, denn sie gingen in ihren Werken nicht sowohl dem
hohen erhabenen Ideale, als vielmehr einer nüchternen Gegen-
ständlichkeit nach.
Da ist z.B. der sympathische Wiener Josef Danhauser,
der in seinen Kabinettstücken die kleine Biedermeierwelt der
Handwerker, Künstler- und Bürgerkreise erschließt, oder der
Münchener Albrecht Adam, der Berliner Franz Krüger,
die beide durch ihre Pferdestudien zu einem ehrlichen Realis-
mus geführt wurden. Wenn man für vornehme Leute Rasse-
pferde und Hunde nach dem Leben zu schildern hat, so darf
man nicht idealisieren, denn der Auftraggeber hält sich nur
an die Natur, deren getreue Wiedergabe er wünscht, und von
dem wahrheitsgetreuen Bild des Pferdes allein ist zu dem des
Reiters nur ein Schritt. Beide Maler, Adam sowohl wie Krüger,
haben in großen Paradebildem besonders festliche Momente
aus der Zeit der eben eingeführten allgemeinen Wehrpflicht
festgehalten und sie haben auch in der Art ihrer Auffassung
gemeinsame Züge. Die Monotonie, die den Exerzitien mili-
tärischer Drahtpuppen mit Notwendigkeit anhaftet, haben sie
in den Hintergrund geschoben, um den Vordergrund mit dem
Gedränge bürgerlicher Zuschauer zu erfüllen, die mit liebens
würdigster Naivität gesehen und mit größter Unbefangenheit
auf die Leinwand gebracht sind. So haben wir in den Paraden,
wie in Krügers Huldigungsbild unverfälschte Dokumente von
Art und Wesen der Münchener und Berliner bürgerlichen Ge-
- 89 -
Waldmüner, DU Familie Eltz. iSjs Frau Dr. Sasti, Wien
sellschafl: in jener Epoche; wir sehen, wie man sich kleidete,
wie man ging und stand, wie man grüßte und sprach, wie man
lachte und fröhlich war. Eine steifleinene Haltung, die auch
im Affekt des Enthusiasmus stets korrekt bleibt, charakterisiert
die Menschen alle, aber die Herren, bis an die Ohren in ihre
hohen Halsbinden verschnürt, sind so putzig, die Frauen tn
ihren grotesken Hüten und gigantischen Aermeln so zier und
preziös; die Zeit spricht da so aufrichtig und ehrlich zu uns,
— 90 -
IVaUmülUr, Mutltr und Kind. 1SJ5
daß das Herz sich der Verwandt-
schaft mit ihr froh bewußt wird,
war das alles doch : als der Groß-
vater die Großmutter nahm, —
altmodisch ja, aber so vertraut
und so hebl
Ganz köstlich sind Krügers
Studien zu diesen Bildern, in
denen er die Köpfe verschiede-
ner Berliner NotabiUtäten von
damals fixiert hat, den Ballett-
meister Taglioni und seine
Frau, die Schauspielerin Stich-
Crelinger mit ihren hübschen
Töchtern u, a. Sie beweisen S^hoinä, Anna Hänig (um iSsSj
eine starke Begabung für das
Erfassen des Charakteristischen in Erscheinung und Physiognomie
und so sind für uns beinahe mehr noch als Krügers Bilder die
zahlreichen treffhchen Porträtzeichnungen von höchstem Wert,
die er teils selbst lithographiert, teils als Vorlagen für den Litho-
graphen angefertigt hat.
Wenn die Zeit in dem, was sie große Kunst nannte, posiert,
so spricht sie sich in der bescheidenen AUtagskunst, der Litho-
graphie, ganz aus, sie enthüllt sich in ihr mit einer Offenherzigkeit
und Intimität, die gegenüber den gespreizten Darbietungen der
in Fresko und Oel Arbeitenden wie ein erlösendes Geständnis
nach endlosen Lügen wirkt, hier offenbart sie sich uns ohne
Maske, aufrichtig und menschlich. Das ganze Leben der Restau-
ration und des Bürgerkönigtums spiegelt sich in der Lithographie ;
sie ist gleichsam der sichtbar gewordene Geist einer ganzen Epoche,
sie entspricht ihr in so hohem Grade, daß man sich kaum vor-
stellen kann, wie sie ohne dieselbe hätte ihren adäquaten Aus-
druck finden sollen. Mit einem Schlage drängt sie die viel Zeit
erfordernden kostspieligen Verfahren von Kupferstich und Holz-
schnitt zurück, um das Unruhige, Drängende, Suchende, Schwan-
kende, welches der Zeit anhaftet, auszudrücken, hastig, atemlos,
wie gehetzt von Mode und Geschmack, im Gefühl, daß die Wahr-
heit von heute morgen schon Lüge sein wird.
Es ist tragisch, daß, wie so viele andere Erfinder, auch der
der Lithographie um die Erfolge seiner Entdeckung gekoi
Als Aloys Sene Felder gelegentlich der Niederschrift eines Wasch-
zettels seiner Mutter die große Erfindung machte, die seinen
Namen unvergeßlich gemacht hat, da ahnte er nicht, daß 20 Jahre
später sein Verfahren von Paris aus eine Verbreitung und Aus-
bildung erfahren würde, welches seine Produkte in Millionen von
Blättern in jedermanns Hand bringen sollte, während er selbst
vergessen, arm, sorgenvoll, von pekuniären Schwierigkeiten er-
drückt, ins Grab sinken muß. Er selbst hat die Tragweite seiner
Entdeckung, die tausend Möglichkeiten, die sie in ihrem Schöße
barg, nicht gekannt. Er beschenkte die Kunst mit einem Ver-
fahren, dem kaum ein anderes an Leichtigkeit der Handhabung,
an Mannigfaltigkeit der Anwendung gleichkommt, aber er hat
keinen Vorteil davon gehabt. Erst nachdem seit 1 8 1 6 zwei fran-
zösische Unternehmer, Graf Lasteyrie und der Elsässer Engel-
mann, in ihren Instituten die Lithographie pflegen, fängt die neue
Manier an, sich langsam unter den Künstlern Freunde zu er-
werben. Sobald diese aber erkannt haben, daß der lithographische
Stein ihnen erlaubt, ihre Gedanken mit einer Leichtigkeit aus-
zusprechen, die seiner Uebertragung aufs Papier die volle Frische
und Ursprünglichkeit der schöpferischen Idee erhält, daß man
auf Stein zeichnen, schreiben, tuschen, gravieren — kurz, sich
ausdrücken kann, wie man will, da ist der Sieg der Lithographie
entschieden. Ein fieberhafter Betrieb beginnt, eine Massenproduk-
tion von Blättern und Folgen, die Charlet schon 1823 sehr
ergötzHch in dem Bilde, wo es Albums regnet, persifliert. Die
Gesellschaft ist wie ein Weib, das in der Freude am eigenen Reiz
nicht oft genug in den Spiegel sehen kann, und da es in der
Kunstanschauung von damals ein Ehrenpunkt war, daß die große
Kunst nicht der Gegenwart huldigen dürfe, die Freude am Be-
trachten seiner selbst und seiner Nachbarn aber unausrottbar im
Menschen steckt, so fiel das Sittenbild der Lithographie anheim
Den Zusammenhang mit ihrer Zeit findet die Kunst jener
Epoche erst in der Lithographie wieder, nachdem sie in den
Schöpfungen der großen Kunst freiwillig darauf verzichtet hatte.
Hier spiegelt sich die Gesellschaft, wie sie war, in ihrer Ele-
ganz und ihrem Luxus, mit Liebe und Haß, Freud und Leid;
die kleine Misere findet ihr Echo, wie das große Glück, banau-
sischer Genuß und poUtisches Unbehagen klingen hindurch;
das Sittenbild schattiert von unbekümmerter Sorglosigkeit bis
zur boshaften Karikatur, die Naiven und die Tendenziösen
— 92 —
,■ Puichk:», Krylm, Scknkevitki, Gm,
kommen zu Wort, die Lithographie redet eine Sprache, die
jeder versteht.
Die Franzosen, welche früher als die Deutschen die Litho-
graphie in den Dienst der Kunst stellen, haben auch sofort
eine große Anzahl bedeutender Künstler aufzuweisen, welche
es verstehen, dem neuen Verfahren alle Reize abzugewinnen,
deren dasselbe fähig ist, und denen die Schnelligkeit desselben
gestattet, allen Modelaunen des Tages von Stunde zu Stunde
zu folgen. Horace Vernet, Raffet, Charlet widmen ihren
Stift dem Militär und verherrlichen den »petit caporal«, ihnen
verdankt Napoleon L seine Legende und Napoleon III. seine
Krone; Eugene Lami schildert die mondäne Eleganz der
vornehmen Welt, Pigal das gewöhnliche Volk bei der Arbeit,
Henry Monnier den Kaufmann und Kleinbürger. Grand-
ville amüsiert sich über den bourgeois, Achille und Eugene
Deveria treiben den Kultus der schönen Frau, Henri
Daumier verhöhnt die Regierung. Die Lithographie ist all-
mächtig, sie zwingt die Alten, wie Grevedon, der nahe an
den Sechzig zum Stein greift, um seine süßen weichen Frauen-
bilder zu schaffen, und die Jungen, wie Gavarni, den sie
von der Staffelei vertreibt, damit sein skeptischer, in Ironie ge-
tauchter Griffel Zeit und Menschen schildere; sie bietet ihre
Hilfe Emile de Girardin, um in der »Mode« der Schönheit
und Grazie zu huldigen, und Charles Philippon, um in der
»Caricature« einen Krieg gegen das Julikönigtum zu führen,
eine Schlacht zu liefern, in der jeder Hieb sitzt, jeder Pfeil
vergiftet ist.
Die Lithographen sind überall und nirgends, sie belauschen
die Modedame in allen Stadien der Toilette, in allen Zuständen
der Laune, sie wissen im Salon so gut Bescheid wie in der
Küche und sind so indiskret wie die Zofe, die am Schlüssel-
loch horcht. Mit Laune verspotten sie den Bürger, der sich
Airs gibt und den Biedermann, dessen Sonntagskleider der
Regen verdirbt; ihr kaustischer Witz trifft den Lebejüngling,
der seine Jugend an ein altes Weib verkauft und die unvor-
sichtig liebende Jungfrau, deren Malheur ein zärtlicher Alter
wieder gut macht. Schonungslos decken sie die gespreizte
Nichtigkeit subalterner Bureaukraten, wie das hohle Pathos
phrasendreschender Parlamentarier auf, sie verhöhnen den Bettel-
stolz des Remigrierten und den Geldsackdünkel des Protzen;
- 94 —
Lami, Promenade apres Sntr Aus : La vie de ehältau
der gesalbte König ist ihnen so wenig heilig wie der erwählte,
der Bettler vor ihnen nicht sicherer als der Fürst. In langen
Bilderfolgen begleiten sie die Mondäne vom späten Aufstehen
bis zum frühen Niederlegen, sie schwelgen in den Abenteuern,
welche die Unschuld vom Lande in der Stadt erlebt, in den
Widerwärtigkeiten, denen illegitim Liebende sich aussetzen, und
an dem Mißgeschick harmloser Spießbürger haben sie ihre Freude.
Die Lithographen schreiben die Chronik der Zeit; in der
Gesellschaft, deren Situation mit jedem Tage gespannter wird,
sprechen sie das letzte Wort, finden sie das befreiende Lachen.
Sie haben in den Typen, die sie geschaffen, politische und
gesellschafdiche Zustände zu Persönlichkeiten verdichtet von
so packendem Leben, daß ihre Wesenheit erst mit der Kunst
selbst aufhören wird. Der sMayeux«, den Travies erfunden
haben soll, verkörpert er in seiner buckligen Häßlichkeit, in
seiner jedem Gefühl des Schicklichen hohnsprechenden An-
maßung nicht jene Jahre der Restauration, in denen der ver-
moderte Feudal Staat mit einem jugendlichen Liberalismus in
tödlicher Feindschaft lebte? — Wer vergäße jemals Monniers
»Joseph Prudhomme«, den satten Philister mit der wachs-
weichen Moral, dem Pharisäerbewußtsein untadeliger Tugend
und dem feigen Kriechen vor der Macht? Oder Daumiers
»Robert Macaire«, dessen Bösartigkeit die soziale Revolution
ankündigt, den Umsturz aller Verhältnisse, den Nihilismus, der
auch Gavamis »Thomas Vireloque« beseeltl
In Deutschland fehlten zwei Faktoren, die der Lithographie
erlaubt hätten, denselben Aufschwung zu nehmen, wie in Frank-
reich ; einmal die hohe künstlerische Kultur der großen Masse,
für welche die französischen Künstler schufen, und zweitens
die Preßfreiheit, deren sich die Franzosen wenigstens in den
ersten Jahren der Regierung Louis Philipps erfreuten. Es
gibt in Deutschland vorzügliche Zeichner, welche lithographisch
tätig waren, aber ihr Schaffen bewegt sich in anderen Bahnen,
es schaltet vor allem die Politik sorgfaltig aus. Man erfreut
sich in Wien am Theaterklatsch, in München an den Zänkereien
in der Welt der Künstler und Literaten, an den Prügeln, die
der überall herumstänkernde Saphir einheimst; in Berlin lebt
man wohl am eigenen Witz, dem Glaßbrenner im Ecken-
steher Nante die klassische Gestalt verleiht; vor allem aber
widmen sich die Lithographen dem Porträt, und in den köst-
lichen Blättern, welche Kriehuber in Wien, Hanfs taengl in
München, Krüger in Berlin hinterlassen haben, ersteht die
ganze Gesellschaft des Vormärz vor uns. Da ist die hohe
Aristokratie der österreichischen Kronländer, die süßen Kom-
tesserln in ihrem bezaubernden Charme, die feschen Kavaliere
mit ihrer souveränen Nonchalance, alle trotz ihrer Vornehmheit
und Eleganz unendlich natürlich und leger; ein Abgrund trennt
sie vom Volk, das ist selbstverständlich, hindert sie aber nicht,
liebenswürdig und ungezwungen zu sein. Sie stehen über den
anderen, weil ihre Geburt sie dahin gestellt hat, sie sind, was
sie sind, aus sich selbst, denn auch der einzige, der noch über
ihnen steht, der Kaiser, hat ihnen nichts zu geben oder zu
nehmen, sie stehen jenseits höfischer Laune und Gunst.
Wie anders der Beamtenadel, den
uns die preußischen Künstler zeich-
nen, die Militärs so martiahsch wie
ein Unteroffizier, die Beamten so un-
nahbar wie ein Hoflakai, alle nach
oben schielend, in tiefster Ehrfurcht
ersterbend, eine subalterne Vornehm-
- 98 -
Ckampmartin, Madame dt Mirbtl Muman, Viriaillis
heit, deren auf Zeit ge-
liehenem Glanz der Ab-
schied über kurz oder
lang sicher ein Ende
macht.
In München die
schönen Prinzen, die um
den König heranwach-
sen, die hübschen Schau-
spielerinnen mit dem
weißen „Föll", Künstler
mit wüsten Mähnen,
Studenten mit langen
Pfeifen, alle durch das
Bier in die gleiche Ge-
mütlichkeit, das gleiche
Behagen getaucht. Sie
alle leben wieder vor
uns auf und aus den
verschiedenen Blättern
erklingt es wie verschie- Ingres, Madame Baltt
dene Dialekte ; aus der
eleganten Mache, den verschwimmenden Umrissen, den weichen
Schatten der Kriehubcr und Hanfstaengl tönen die verführerischen
Laute des Weanerischen, das herzige Oberbayerisch; aus der
nüchternen Härte der Berliner das schnarrende, schneidige,
schnoddrige Spreedeutsch.
Die Lithographie war die Brotkunst und ernährte ihren
Mann, indessen die Idealisten die Produkte der gefeierten hohen
Kunst nur mit Mühe in Kunstvereinen imd Museen unterbrachten,
ja, manchem großen Künstler hat nur sie die Existenz gefristet.
Der große Delacroix in Frankreich mußte als Broterwerb zur
Lithographie grejfen, Adolf Menzel, Moritz Schwind u.a.
bezeichnen die Anfänge ihres Schaffens mit langjähriger Tätig-
keit für Verleger und Papetiers. Aber selbst in die Bilderbogen,
die Briefköpfe, Tisch- und Gratulationskarten, in die tausenderlei
Gelegenheitsarbeiten des Marktes trägt jeder von ihnen ein Stück
seiner persönlichsten Eigenart. Lange, lange Jahre, ehe Menzel,
der Maler, sich zur Natur bekannte, ist Menzel, der Zeichner,
auch in der unscheinbarslen Vignette dem Leben nachgegangen,
— 99 — ,■
Cruikshank, Dittmitr': aut < TAe cemU Almanach iSjj »
wie er es in Stube und Kontor, Küche und Werkstatt um sich
sah. Er fuhrt uns in die Kreise sohden Bürgertums und läßt
uns das Glück sehen, welches in der Beschränkung wohnt, den
Wochentag mit seiner Arbeit, den Sonntag mit dem beschei-
denen Vergnügen, den engen Kreislauf des gutbürgerlichen Lebens,
das sich über Leid und Mühsal hinwegsorgt, um sich mit kleinen
Freuden in die Zukunft hinein zuhotfen.
Wie bei Menzel immer der Verstand vorwiegt, so bei
Schwind immer die Phantasie ! Seine kösthchen Märchen zyklen
gehören einer späteren Zeit an, aber ein Zug versonnener Mär-
chenpoesie liegt über jedem Strich, den seine Hand geführt hat.
Zumal seinen Frauen gibt er ein Element schaikhafter Grazie,
als seien sie eigentlich alle Feen, die inkognito durch die Welt
streifen, um die armen Menschen mit ihrem Liebreiz über alle
Widerwärtigkeiten zu trösten. Ueber dieser sichtbaren Welt er-
richtet Schwind ein unsichtbares Königreich, durchwärmt von
der Sonne seines Gemüts, durchklungen von den zarten Tönen
des Glockenspieles seiner Phantasie.
Ganz abseits von dem, was die damalige Zeit in der großen
Kunst bewunderte und in der kleinen liebte, entstanden Werke,
bestimmt, eine ganz neue, den damals Lebenden unbekannte
Cruiti&ant, yuli; aus tThi Conni Almanach iSjjt
Kunst heraufzuführen. In England schuf William Turner seine
farbigen Wunder, malte John Constabte seine Landschaften, in
Barbizon waren seit 1830 Theodore Rousseau, Camille Corot,
etwas später Jean Frangois MJUet an der Arbeit, die alle, in
der Natur völÜg aufgehend, in der Landschaft die eigene Seele
zu bannen suchten, in schwerem Kampf mit den Mitteln des
malerischen Ausdrucks, in unermüdlichem Ringen um die Wie-
dergabe von Luft und Licht und Leben. Die Kritik verhöhnte
sie, das Publikum lachte sie aus, von den Ausstellungen wurden
ihre Bilder zurückgewiesen; Constable starb 1837 in bitterer
Armut und Turners Freunde entschuldigten sein Tun mit der
kranken Beschaflfenheil seiner Augen. Sie schufen ihrer Zeit
zum Trotz, aber der Stein, der damals verworfen wurde, ist
der Grundstein der neuen Kunst geworden.
Die Altertümelei auf allen Gebieten der Aesthetik springt
am wunderhchsten ins Auge, betrachtet man, was die Zeit in
der Architektur geleistet hat. Das 19. Jahrhundert hat in der
Baukunst keinen eigenen Stil gefunden, weÜ man sich darauf
kaprizierte, an dem Material, welches die Technik darbot, wel-
ches der Zweck forderte, am Eisen, vorbeizugehen und, wo
man es benutzen mußte, eigensinnig genug war, seine Beschaffen-
— 101 —
Maarin, Ah, gut cetlt bague istjoUil Liikogrufkii
heit ZU verstecken oder, sich seiner gleichsam schämend, die
Ausgestaltung im Sinne architektonischer Schönheit vernach-
lässigte. Die Baukünstler besaßen noch von altersher die klas-
sische Maske und sie fuhren fort, sich derselben zu bedienen,
Schinkel in Berlin, Klenze in München, Sprenger in Wien haben
einige Bauten in mehr oder weniger gelungenem antiken Stil
hingestellt. Der Geschmack der Mode verlangte aber außer dem
Klassischen, worauf die Architekten eingeschworen waren, auch
nach Mittelalter und wenn Bauherren sich Ritterburgen erbauen
heßen, wie z. B. Prinz Friedrich von Preußen : Rheinstein, Kron-
prinz Maximilian von Bayern: Hohenschwangau, Friedrich Wil-
helm IV.: Stokenfels, Schwanthaler sich Schwaneck errichtete,
l834, Februar
Journal des Gens du Monde, Paris
■■» Wilhelm
SO nötigten sie den Baumeistern neue Masken auf. Sie haben
sich dieser nicht mit größerem Geschick bedient, wie der alt-
hergebrachten; wenn das Klassische in ihren Bauten meist nur
in der willkürlich und unorganisch verwendeten Säule bestand,
so begnügte man sich auch in den Bauten anderer Stile mit
herzlich wenig Aufwand.
Man sehe Ludwigs I. Bauten in München: eine Kaserne
mit symmetrischen Fensterreihen, sind sie spitz geschlossen, so
ist der Stil gotisch, schließen sie mit einem Rundbogen, ist er
romanisch; ein hübsches Palastmotiv aus Florenz mit fünf multi-
pliziert und die Frührenaissance ist fertig. Oder man belrachte
die Normannenburg der Gardehusaren in Potsdam ; eine Kaserne
— 103 —
Gavami, jfuni Lilhagraphit
in aller Form, Zinnenreihe um das Dach und wir haben den
normannischen Stil!
Das wäre alles nur Sache der Zeit selbst gewesen, viel
verhängnisvoller aber ist es, daß man in dieser Art und Weise
nicht nur Neues errichtete, sondern weit mehr noch Alles zer-
störte. Die Architekten, die aus Eigenem nichts haben hervor-
bringen können, machten sich mit der dürftigen und oberfläch-
lichen Kenntnis mittelalterlicher Baukunst sofort an die herr-
lichen Denkmale, die uns in kirchlichen und Profanbauten aus
der alten Zeit geblieben und haben sie schmählich verpatzt und
verschandelt, Sie haben kaum ein mittelalterliches Bauwerk in
Deutschland nicht nur, sondern in der ganzen Welt, unange-
tastet gelassen und durch ihre Fälschungen entstellt und —
Gott sei's geklagt, sie fahren noch alle Tage damit fort.
iSjS, November
Wiener Zeitschrift
Die Mode, welcher das Kaiserreich seinen Namen gegeben
hat, ohne daß es sie doch geschaffen hätte, überdauerte den
Sturz der kaiserlichen Allmacht um mehrere Jahre. Es ist eigent-
lich erstaunlich, daß eine Art und Weise der Kleidung, welche
wie diese fiir die Mehrzahl ihrer Trägerinnen im hohen Grade
unvorteilhaft sein mußte, sich doch
beinahe 30 Jahre lang behaupten
konnte, ja es wäre ganz unverständ-
lich, wüßte man nicht, daß Nach-
ahmungstrieb auf der einen und Be-
harrungsvermögen auf der anderen
Seite die Hauptfaktoren sind, welche
das Leben der Mode bestimmen.
Die weibliche Kleidung hatte nach
dem Wiener Kongreß etwa den Höhe-
punkt dessen erreicht, was die Ten-
denz, das Weib schlank, sta-
tuenhaft erscheinen zu lassen, er-
reichen konnte. Ausgegangen von
dem Prinzip einer Rückkehr zur Na-
tur auf dem Umweg über die An-
tike, hatte die Mode innerhalb eini-
ger 20 Jahre ihre Trägerin aus den
Schleiern, in denen sie sich erst
gefallen hatte, den Körper fast un-
verhüllt zu zeigen, allmählich wieder
herausgewickelt, um sie, schrittweise
immer weiter von der Natur sich
I entfernend, schließlich zur völligen
Karikatur zu gestalten.
A. Barre Fanny ElaUr Die kurze Taille schloß unmit-
11» iLi diabU ioiteuxt 183J telbar unter der Brust, als hätte sie
die einzelnen Teile des weibhchen
Körpers in ein möglichst ungeschicktes Verhältnis zueinander
bringen wollen ; der enge faltenlose Rock hörte schon über den
Knöcheln auf und ein hoher röhrenförmiger Hut zog das Ge-
streckte, Schmale der Erscheinung noch mehr in die Länge.
Die Rückkehr der königlichen Familie nach Paris brachte
in die Kleidung die ersten Elemente der Romantik, indem sie
Halskrausen und hohe, mit Federn überfüllte Toques
jSjS, Aptil Wiintr Zeilschiift
ä la Henri IV. in die Mode brachte, aber diese Zutaten be-
einflußten die weibliche Gesamterscheinung nicht gerade vor-
teilhaft, sie trugen höchstens dazu bei, daß die Taille, die
unter dem Kinn mit einer dicken Krause begann und unter
den Armen schon aufhörte, noch kürzer und unförmlicher
erschien. Sehr langsam nur haben sich die Frauen von dieser
Form der Taille betreit, zögernd nur beginnt man, sie gegen
1820 durch sogenannte Maria Stuart- Gürtel zu verlängern
und ihr statt des runden Abschlusses einen spitzen zu geben.
Erst 1820 — 1822 hat die Taille ihre normale Form wieder er-
reicht, indem sie an der schmälsten Stelle des Rumpfes ihre
engste Einschnürung erleidet und in diesem Augenbhck erscheint
auch das Korsett wieder, das in England bereits im ersten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wieder aufgetaucht war, und das
Dtviria, Fatmy EissUr K^p/mtid^aMiuli, BtrUn
i8sSt ^f'' Wiener Zeilrekriß
nun von Paris aus seinen Siegeszug antritt. Die Anfertigung
des Korsetts wird zur Kunst, und wer es sich leisten kann,
läßt sich eins von Lacroix aus Paris kommen, «enn es auch
fünf Louisdor kostet.
Uie Kleiderröcke werden ganz allmählich weiter und
wachsen an Umfang, bleiben aber trotzdem ganz fußfrei und
erreichen erst gegen 1836 — 37 wieder den Boden. Beinahe
zo Jihre lang \ emarhUis^igl die Mode den Rock, an dessen
torm sie nichts zu andern findet und den sie höchstens durch
mehr oder minder reiche Garnierungen von Puffen, \'olants,
Plissees, Falbeln u derifl ausputzt, um ihre Vorliebe ganz ein-
seitig der Ausgestaltung der Taille, streng genommen: der
\crmel, allein zuzuwenden 18 16 ibt der .Aermel noch eng
und gtht so weit auf die Hand \ür, daß er die Finger er-
tSjd, SepUmbir Journal des Daniis
reicht, 1818 haben wir schon die kurze Puffe, von iSjz
an aber scheint die Mode zu dehrieren, der Aermel nimmt
eine Mannigfaltigkeit der Formen an, die alles bis dahin je Ge-
tragene weit überflügelt. Zugleich wächst sein Umfang ins
Ungemessene, die »Hammelkeulen« erscheinen nur, um so-
fort von den sElefanten« verdrängt zu werden und so er-
reicht die Mode es, daß etwa 15 Jahre, nachdem die Frau
hatte schlank, lang, schmal sein müssen, um das Ideal des
Geschmacks zu verkörpern, das Gegenteil eintritt und die durch
Riesenärmel und über diese noch weit überfallende Berthen
erreichte Schulterbreite die Ausdehnung eines weiblichen Wesens
nach der Breite hin, der nach der Höhe ungefähr gleich macht.
Die leichten Stoffe, welche man zur selben Zeit bevor-
zugte, wie ungebleichter Batist, moirierter Mousseline, karierte
BarSge, en plein gestickter Organdin
u. dergl. nehmen dem ungewöhnlichen
Umfang der Kleidung die Schwere,
die Breite der Schultern bringt ganz
, von selbst die »Wespentaille«
.... ' hervor, die fußfreien Röcke schheD-
lich geben der ganzen Erscheinung
jene zierliche, etwas manierierte Grazie, die uns noch heute
an den Bildern jener Jahre so entzückt, und der selbst ein
Gavami eine Zeitlang in Modejoumalen Gesetze vorgezeichnet hat.
Indessen war nicht eigentlich der Schneider derjenige, der
die Eleganz der Dame von damals in erster Keihe bestimmte,
diese hing vielmehr noch von der Putzmacherin und vom
Coiffeur ab. Man trug die Haare aus dem Nacken in die
Höhe gekämmt, wickelte sie in Löckchen und legte diese in
zwei großen Bündeln zu beiden Seiten der Stirn bis nahe an
die Augen. Den Eindruck von Gesicht und Frisur unterstützte
dann ganz wesentlich die Coitfüre, denn niemals, weder im
Hause, noch in Gesellschaft oder auf der Straße erschien ein
weibliches Wesen jemals im bloßen Haar aLein. Im Hause trug
sie ein Häubchen, auf der Straße den Hut und in Gesell-
schaft die kompliziertesten Gebäude, welche eine erfinderische
Putzmacherin aus Spitzen, Blonden, Rüschen, Bändern, Blumen,
Federn zu dichten vermochte. Diese Hauben wachsen mit
den Aermeln und erreichen wie diese ihren größten Umfang
etwa 1830 — 1831. Wenn die Bilder nicht lügen, so war diese
Mode eine überaus vorteilhafte, erlaubte sie doch einer jeden
Trägerin, sich eine Umrahmung für das Gesicht zu kompo-
nieren, die, in Stoff und Farbe unbeschränkt, dem Geschmack,
der Laune, der Eitelkeit den weitesten Spielraum gewährte.
Viele Jahre, ja Jahrzehnte behauptete sich der Turban als be-
liebteste Gesellschaftscoiffüre ; die Tradition schrieb sein Auf-
kommen der ägyptischen Expedition Napoleons zu, in WirkUch-
keit aber war er von England aus, wohin ihn die indischen
Nabobs gebracht hatten, lanciert worden, man begegnet ihm ja
schon in Reynolds Bildern; noch 1837 kreiert die Mode aber als
Neuestes indische, cirkassische, odaüskische, griechische und israe-
litische Turbane. Ebenso lange erhielt sich jener kokette Schmuck,
den man in Frankreich »Ferronniere« und in Deutschland
sSeht hierher« nannte, ein dünnes Goldkettchen, welches
iSss, November
Wiener Zeitschriß
iSjS
ein kleines Juwel, eine Perle oder dergl. in der Mitte der Stirn
festhielt. Dieses Schmuckstück, welches dem Antlitz einer
Schönen einen so besonderen Reiz verlieh, hat sich wohl 20
Jahre hindurch in der Gunst der Damen behauptet, wie man
denn dazumal überhaupt sehr siel Schmuck trug. Die Toiletten
waren nicht sehr kostspielig, die schöne Madame Gros-Davillier
trug z. B. 1821 auf einem Ball ein weißes Tüllkleid für 35
I.ouisdor und dazu Blumen für 20 Fr., an Diamanten aber
ein Vermögen; und den Schmuck, den die Baronin Rothschild
1842 auf dem Maskenball beim Herzog von Orleans trug,
schätzte man auf i'/a Milhonen Fr.
Eine Elegante trug in den zwanziger Jahren zu gleicher
Zeit im Haar neben dem Diadem noch einen Kamm und
Nadeln, um den Hals ein Kollier und eine lange, dünne Gold-
'\
■,- /
•(,.
Krügrr, Baron v. Arnim mit CkarloHt v. Hagn und
Sophie Lätne, Grvfpt aus der iParadtt. iSji)
kette, Armbänder über den Aermeln, Ringe über den Hand-
schuhen, lange Ohrringe, Brosche am Kleid und ein Schloß am
Gürtel; wenn sie dann dazu noch einen Buketthalter von Silber
oder Gold und einen Fächer von echtem Material besaß, so
hatte sie nicht mehr an Schmuck an sich, als es die Mode für
unerläßlich hielt. Zur Trauer wählte man Schmuck von herrlich
gearbeitetem Silber, wenn man nicht solchen von Berliner Guß-
eisen oder poliertem Stahl vorzog. Ein Jahrzehnt später wird
man des vielen Schmuckes etwas überdrüssig; die Kolliers ver-
schwinden wie die Broschen, nur im Haar darf eine Dame noch
Juwelen tragen.
Die Hüte, deren Farbe von der Toilette abstechen mußte,
z. B. trug man schwarze Hüte zu rosa oder weiße zu schwarzen
Kleidern, haben in ihrer Form keine sehr einschneidenden
Veränderungen durchgemacht. Die Pariserinnen hatten bei
der Okkupation der Hauptstadt. Frankreichs durch die Ver-
bündeten, die Formen ihrer Kopfbedeckung denjenigen der
alliierten Truppen entlehnt, aber das waren Extravaganzen ge-
blieben. Vereinzelt trug man wohl noch 1818 schmalkrempige
hohe Zylinderhüte von rosa Atlas, im allgemeinen kamen aber
damals schon jene Hüte auf, von denen die Boshaften be-
haupteten, man könne darin weder hören noch sehen, jene
Schuten mit breitem Rand, deren Form mit kleinen Aende-
rungen fast 40 Jahre ziemlich gleich blieb. Sie umschlossen den
Kopf recht eng und ragten mehr oder weniger weit über das
Gesicht hervor, müssen also auf alle Fälle sehr heiß gewesen
sein, wenn sie auch — und darin ist es schwer, den Groß-
müttern Glauben zu schenken — kleidsam waren. In den zwan-
ziger Jahren wurde der Rand breiter und flacher, der Kopf
höher, so daß sie das Gesicht weniger einschlössen als um-
rahmten; in die Höhe gestellte Blumen, Bandschleifen und lange
Bindebänder bildeten den Ausputz.
In Bändern hat die Mode förmlich geschwelgt, sie brauchte
sie nicht nur zur Garnierung der Hüte, sondern auch zum Besatz
der Kleider, wie als Gürtel und Schärpen,
die bald in langen, schmalen Enden vorn,
bald in breiten Schleifen hinten herunter-
fielen. Die Technik ist in ihren Neuerun-
gen erfinderischer gewesen als die Mode in
ihren Ansprüchen, in der Zusammensetzung
-- 115 — 8-
1S36, Juli Journal des Domes
der Farben, in !der Verbindung der Stoffe hat sie damaszierte,
qnadrillierte, nuancierte, changeante, moirierte, ombrierte Bänder
geliefert, die in ihrem Geschmack und ihrem Reichtum noch heute
nicht üb ertroffen sind.
Das döcolletö der Toilette im Hause wie auf der Straße
zwang seinen schönen Trägerinnen gelegentlich schützende Hüllen
gegen die Unbilden der Witterung auf; man trug dann sogenannte
Canezous, fichuartige Kragen mit Tüllrüschen besetzt, oder ma.n
griff zur Bayadere, dem langen, schmalen Schal aus Seiden- oder
Spitzenstoff, bis etwa um 1830 die Pelzboa wieder aufkommt
und sich sofort einen Platz erringt, an dem sie sich viele Jahre
als unentbehrlichstes Putzstück der weiblichen Toilette behauptet.
Die Künstler sind nicht müde geworden, das graziöse, schlangen-
gleiche Spie! der Boa um einen weißen Hals, um runde Schultern
1S36, Juli yonmal des Damis
und schöne Arme darzustellen, die Boa, die man auch aus Strauß-
fedem herstellte, verschwindet erst in den vierziger Jahren, als
die Damen anfingen, nicht mehr ausgeschnitten zu gehen.
Unter der Herrschaft der großen Aermel war den Damen
die Benutzung von Mänteln so gut wie unmöglich, so hat die
Mode außer der Rotonde, die man in Wien »Wickler« nannte,
fast zo Jahre hindurch Mäntel gar nicht gekannt, sich dagegen
in der Schöpfung von Umhängen und Pelerinen aller Arten und
Formen gefallen. Sie holte den Burnus aus Algier, die Man-
tille aus Andalusien, das köstliche Cr^pe de Chine-Tuch aus
dem Orient und ließ vor allem dem Cashmirschal, von dessen
Aufkommen wir im ersten Band berichteten, eine unumschränkte
Herrschaft. Sein kösdiches Gewebe, seine schönen Farben und
Muster, vor allem das Exklusive, das ihm sein hoher Preis verlieh.
erhielten ihn in der Gunst der Damen
bis weit in das zweite Kaiserreich hin-
ein, so daß drei Generationen nachein-
ander sich seiner mit der gleichen Vor-
hebe bedienten.
Der Riesenämiel erreicht seinen
größten Umfang im Beginn der dreißiger
Jahre, nm welche Zeit er langsam wie-
der abzuschwellen beginnt. Die großen
Fischbeingestelle, die ihm hatten Halt
geben müssen, fallen weg, mählich, ganz
allmählich verdrängt ihn der von Lon-
don ausgehende engere Aermel, der, in
mehrere Puffen gelegt, um den Ellbogen
gebauscht, am Unlerami gekraust wird oder halb offen herab-
föllt. Er verliert immer mehr an Umfang und umschließt 1844
endlich den Arm ganz eng von der Schulter bis zum Handgelenk.
Diesen Wandel bewirkt der Einfluß, den der Geschmack, der in
der Literatur und in der Kunst nur das Alte suchte, der auf der
Bühne historische Schauspiele und romantische Opern bevor-
zugte, auch auf die Toilette ausübte. Durch die sehr beliebten
Maskenbälle oder nach bestimmten Programmen sich abspielen-
den Kostümfeste wurden die Damen auf das Studium der histo-
rischen Trachten geführt und sie fanden zumal die Trachten aus
den Zeiten Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. besonders zusagend.
So gab man allmählich die extravaganten Aermel auf, um sich
dann in den Formen der Kleider dem Rokoko wieder zu nähern.
Der Rock gewinnt an Umfang und Länge, man gibt den glatten
Fall desselben auf und beginnt, ihn zu drapieren, ihn vorn über
einem andersfarbigen Unterkleid zu öffnen, Toiletten k !a Pom-
padour, a la LavaUiere werden Mode; die Leibchen ä la Monte-
span mit der spitzen Schnebbe verdrängen den bis dahin üblichen
runden Taillenschluß unc! den Gürtel.
Die weiten faltenreichen Kleider bringen auch die schweren
Stoffe zurück, man trägt viel Sammet, Moir^, damaszierte Seide
und mit Vorliebe Brokat, auch sehr gerne durchsichtige Stoffe
über bunter Seide, wie z. U. schwarzen, mit Goldllittern oder bunter
Seide gestickten Tüll. Auf einem Ball bei Bankier Schickler in
Paris 1831 trug eine Dame der haute finance ein Kleid von Gold-
gaze ganz mit Diamanten bestickt !
i837, Aprii
Wiener Zeitschri '
Durch die Garnierung mit Volants, oft drei bis vier über-
einander, wird der Rock schwer und man fängt an, um die Stoff-
masse tragen zu helfen, in die Unterröcke Reifen zu legen oder
sie durch leichte Wülste von Roßhaar (crin — daher Krinoline)
zu einem Gerüst für das Kleid zu machen; um 1840 kündet sich
bereits der Reifrock wieder an.
Diese Aenderungen im Schnitt der Kleider begleitet auch
ein Wechsel der Frisur. Statt der um die Stirn gesteckten
Locken, die sich zwischen den Falten gigantischer Blonden-
hauben kokett hervordrängen, trägt man glatte Scheitel, das
Haar am Hinterkopf sehr hoch hinaufgesteckt und mit riesigen
Kämmen befestigt ; diese Frisur nannte man chinesisch ; oder
man trug das Haar griechisch, indem man die an den Schläfen
geflochtenen Zöpfe in dicken Wülsten um die Ohren legte, allen-
falls ein flaches Löckchen als accroche cceur in die Stirn spielend.
Etwas später, etwa 1834 kommt es auf, die Haare in halblangen
Locken k la Hortense Mancini zu beiden Seiten des Gesichts
zu tragen; diese Locken an den Schläfen werden immer länger
und im Anfang der vierziger Jahre erfreut sich diese Frisur, von
England ausgehend, der größten Beliebtheit; glatter Scheitel,
zu beiden Seiten lange Locken, am Hinterkopf eine hoch-
gesteckte Flechte, die mit Nadeln oder Kämmen befestigt ist. So
hat sich nach abermals 15 Jahren wieder ein völliger Wechsel in
Aussehen und Gestalt der Frau vollzogen, 1 8 1 5 ist alles an ihr.
eng und knapp, 1830 bauscht und rundet, 1845 fließt die Ge-
wandung, das kapriziöse, kokette Geschöpf von 1830 ist schmach-
tend und languissant geworden.
Die Gesetze, nach denen sich der
Wechsel in der Mode vollzieht, sind
ebensowenig ergründet, wie diejeni-
gen, nach welchen der Geschmack sich
ändert. Vielleicht besteht wirklich ein
innerer Zusammenhang zwischen dem
Fühlen und Denken einer Zeit und
der Art, wie sie sich kleidet und man
würde, das zugegeben, unschwer den
Zusammenhang entdecken, in dem der
Inhalt der mit romantischen Ideen ge-
W füllten Köpfchen um 1830 zu ihrer
Hülle steht. Das krause, bunte Vielerlei
— 119 —
iSs9t i^'avcmber Ln Mcde
von Haube und Putz scheint in der Tat die passende Um-
hüllung für ein unklares Durcheinander von Rittertum, Romantik,
Weltschmerz, Mittelalter, Magnetismus und Gott weiß, was noch
für AUotrien, die um 1830 herum das Interesse in Anspruch
nahmen, während ein halbes Menschenaltcr später die Frau,
deren Kleidung alles Unwesentliche abgestreift hat, einen
seriösen, gesetzten Eindruck macht, als dokumentiere sich auch
in ihrer Toilette der schwerwiegende Ernst, den die soziale
Frage in die öffentliche Meinung trägt. Das ließe sich be-
haupten, aber würde derjenige, der diesen Beweis zu erbringen
versuchte, sich nicht mit Recht dem Vorwurf aussetzen: »Was
ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren
eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.«
Jedenfalls entziehen sich die Faktoren, welche einen be-
tfiener ZeitscAri/l
bestimmenden Einfluß auf die weibliche Kleidung nahmen,
unserer Kenntnis; keinesfalls waren es einzelne Persönlichkeiten,
die darin maßgebend gewesen wären. Marie Antoinette war die
letzte Herrscherin gewesen, die den Modeton angab, sie brachte
wirklich neue Moden auf, welche die Pariser Schneider und Putz-
macherinnen ihr absahen und nachahmten, die Frauen aber,
welche ihr auf dem Throne folgten. Josephine und Marie Louise
haben keinen Einfluß mehr auf die Mode gehabt, sie folgten
ihr, nicht jene ihnen. Paris blieb für die Damentoilette tonan-
gebend, aber die Frauen, welche in diesen Jahren in der Nähe
des Thrones standen, haben sie nicht inspiriert. Die Herzogin
von Angouleme hat die furchtbaren Tage ihrer Jugend, die sie
aus Versailles in die Tuilerien und in den temple führten, nie
vergessen und diese Eindrücke nie verwinden können, Wohltätig-
keit und Frömmigkeit füllten ihre Zeit, sie kleidete sich in dunkle
Stoffe und stets sehr einfach, nur gezwungen und für Feste legte
sie Schmuck und Putz an.
Ihre Cousine, die Herzogin von Berry, war in allem ihr
Gegenspiel, jung, heiter, temperamentvoll, von einer Lebenslust,
die auch die härtesten Schicksalsschläge, der unter so tragischen
Umständen erfolgte Tod ihres Gatten, das Exil, nicht haben
mindern können. Sie machte alles mit, besuchte, was ganz
gegen die Etikette und vor ihr unerhört war, die Pariser
Läden, ja sogar öffentliche Bälle und schwamm im vollen Strom
des Vergnügens, an einem Hof moroser alter kranker Herrscher
das einzige Element frischer Jugend. Eigentlich tonangebend
war sie aber nicht, sie folgte der Mode nur und das glänzendste
Ereignis, das sie herbeiführte, jener berühmte Ball, der im
März 1829 den Einzug Maria Stuarts in die Tuilerien dar-
stellte, und bei dem ein großer Teil der Hofgesellschaft die
historischen Kostüme und Rüstungen seiner Vorfahren trug,
war nur einer unter den vielen Maskenbällen jener Zeit. MUe
Mars hatte schon zwei Jahre früher im Fasching 1827 einen
Maskenball gegeben, um dessen Einladungen tout Paris sich
gerissen hatte; dieselbe Schauspielerin hatte einige Jahre vorher
in ihrer Rolle als Betty in der »Jeunesse de Henri IV.« die
Halskrause und die Federhüte in die Mode gebracht, und auch
unter dem Regime Louis Philipps finden wir, daß nicht die
Damen der königlichen Familie, sondern die schönen Bühnen-
künstlerinnen den Ton angeben.
— 122
1840, Juli
WUntr Zeitschrift
iSjij, Siptember La Mode
Um schöpferisch an der Mode teilzunehmen, waren die
Königin und ihre Schwägerin zu alt, die Herzogin von Orleans
aber zu fremd, ihre kurze Ehe, inauguriert wie einst die Hochzeit
Marie Antoinettes durch die große Katastrophe auf dem champ
de Mars vom 14, Juni 1837 und schon im Juli 1842 durch
den tragischen Tod ihres Gatten beschlossen, heß ihr kaum
Zeit, in Frankreich heimisch zu werden. Die süße Schönheit
von Leontine Fay dagegen, die bezaubernden Erscheinungen
von Juha Grisi, Comdie Falcon und anderer Damen vom Theater
verstanden, mit den Rollen, die sie schufen, auch die Toiletten
durchzusetzen, die sie so verführerisch trugen.
Es beginnt jener Toilettenluxus auf der Bühne, der bis
in unsere Tage hinein nur gewachsen ist. Es war schon ein
Ereignis, als Mlle Mars 1818 ein rosa Tüllkleid für 28z Fr. im
Theater trug, zwölf Jahre später aber schreibt der Korrespon-
— 123 —
dent eines ileutschen Blattes ganz
begeistert aus Paris, daß Mlle
Bertin vom Theater des Varidt^s
in ihrer letzten Rolle siebenmal
die Toilette gewechselt habe, und
stellt sie als Muster hin für die
deutschen Schauspielerinnen, die
man auf der Bühne und auf der
Straße immer nur in ein und demselben Kleide sähe.
Das Zepter der Mode war von der Herrscherin Frank-
reichs an die Bühnenköniginnen übergegangen, aber ihr Thron
blieb dauernd in Paris, keine fürsdiche Hochzeit, die nicht den
Trousseau der Braut dorther bezogen hätte. Mme. Minette
■ liefert 1830 die Ausstattung der Königin von Spanien, Calliaux
ein Jahr später die der Prinzessin Marianne der Niederlande,
welche sich an den Prinzen Albrecht von Preußen vermählte,
und auch die Gräfin Alexandrine Potocka, die doch Wien so
viel näher gehabt hätte — Wien, wo die bürgerlichen Kleider-
macher Petko am Kohlmarkt, G. Beer in der Dorotheergasse,
Langer in der Himmelpfortgasse so herrliche Toiletten kompo-
nierten — zog es 1840 vor, ihren Trousseau aus Paris zu be-
ziehen.
Auch die Herrenmode Deutschlands empfing ihre Gesetze
vom Ausland und der Versuch, den der Doktor Jakob Meyer-
hoff 1816 in Berlin machte, ein Normalgewand für teutsche
Männer einzuführen, blieb so resultatlos, wie es die eben dahin
zielenden Vorschläge Davids zo Jahre früher in Frankreich ge-
blieben waren. Immerhin hat die Heirenkleidung nicht ganz so
einschneidende Veränderungen durchgemacht, wie die weibüche.
Das Beinkleid blieb eng und man bevorzugte für dasselbe lange
Zeit Trikotstoffe, der Frack war für Straße wie Gesellschaft de
rigeur, der Rock galt nur als Neglige- Anzug. Den größten Luxus
entfaltete die Herrentoilette in Westen und Halsbinden, denn
der Anzug aus einem Stück, den 1830 der Schneider Wildgans
in Mainz erfand, hat über die Person des Erfinders hinaus
keinen Anklang gefunden. In Stoff und Schnitt war die Weste
das Kleidungsstück de predilection, 1821 wechselte ihr Schnitt
in Paris während acht Monaten fünfmal, ja man trug einige
Jahre lang zwei Westen übereinander, eine von schwarzem
Sammet und darüber eine zweite von weißem Pikee. 1831 kam
JCrügtr, Auguttt Sich-CreHnger mit ihren Töchtern
(aus lür t Parade'. jSji)}
es auf, zu den Knöpfen echte Steine zu nehmen, und wenn
Samniet auch der am liebsten gewählte Stoff blieb, so trug man
doch 1832 Cashmir- Westen, die man schon von 200 Fr. an
haben konnte, ja die bunte Luxusweste herrscht bis tief in die
Jahre hinein, da der Herrenanzug schon ganz dunkel geworden
ist, 1844 besteht der demier cri de la mode in einer Weste von
rotem goldgestickten Sammet, oder einer solchen von weißem,
mit bunter Seide ausgestickten Atlas zum schwarzen Gesell-
schaftsanzug.
Die Farblosigkeit, welche im großen und ganzen heute in
der Herrenkleidung vorherrscht, stammt erst aus dem Ende der
vierziger Jahre, 1832 war ein laubgrüner Frack, dazu lichtgrüne
Weste und violettes Beinkleid totchic; ein fescher Reiter trug
1837 veilchenblauen Frack mit goldenen Knöpfen und dazu
Hosen von weißem Sammet; der Elegant wählte 1840 noch zu
einem hellblauen Frack eine Hla Weste und weiße Beinkleider,
wenn er nicht einen Frack von changeant Wollenstoff, etwa
braun und grün zu einer gelben Weste vorzog.
Die Mäntel verkündeten die gleiche Farbenfreude; 181 7
war ein blauer Pilgermantel mit fünf Kragen und mit weißer
Taffelseide gefüttert der Neid aller, die ihn nicht bezahlen
konnten, ebenso 1822 ein aschgrauer, mit Chinchilla besetzter
Pelz. Eine weitgehende Uebereinstimmung herrscht zwischen der
Herren- und der Damenmode. Als für die Damen das Korsett
wieder aufkommt, werden auch die Gilets und Röcke der
Herren so auf Taille gearbeitet, daß, wer auf guten Sitz "hielt,
wohl oder übel genötigt war, sich zu schnüren, und wer kein
Korsett tragen wollte, trug wenigstens auf der bloßen Haut einen
baskischen Gürtel, wie er sich seit 1830 verbreitete.
Mit dem vielen Schmuck der Damen wetteiferten die kost-
baren Nadeln, mit denen die Herren die kunstvollen Gebäude
ihrer Krawatten halten und zieren mußten und als die Damen
ihre Haare vorn auf der Stirn trugen, wickelten sich auch die
Herren Locken und türmten sie auf die
gleiche Stelle, ja, eine Zeitlang, etwa um
1830, reichten die Herrenmäntel weiter auf
den Boden hinunter, als die Kleiderröcke
der Damen.
Die Damen empfingen die Gesetze
der Mode aus Paris, die Herren dagegen
— 126 —
Wintirkcdtir, Vicloirt Auguste Antoiuillt dl Saxi- Coinurg-Colha, duchesst
de Nemoun. 1840 fmailln, Murium
Danhauser, Lisil am Klavier 1840
Btrliom (.'J PaganM üanini
DuBtnl (!) Ciörgt Sand Listl C'AfiH d'Ass-ll
aus London. Das war noch aus der Zeit so, als der große, der
unsterbli he Brummel der ieader of tishion gewesen war Brum
mel der zum Ordnen seiner Haire drei Fnseure brauchte weil
derjenige der den Hinterkopf bearbeitete nichts von dem
Arrangement der I ocken auf der Stim verstand und dieser
nichts von den Schlafen Brummel der seine Handschuhe von
zwei Fabnkanten herstellen ließ \on denen der eine nur die
Daumtn der andere aber den Rest anfertigen durfte Er lebte
nicht mehr der Rrummel der Legende er legetierte nur noch
in einem frnnzosischen Irrenhaus seinen Platz nahm in London
Graf d Orsay ein, in Paris Herr von Montrous. Aber sie herrsch-
ten nicht ohne Opposition zu finden, die Neidischen behaupteten
von ihnen, daß sie im Solde ihrer Schneider und Lieferanten
stünden und daß, wenn der eine von ihnen bei Jackson in
London, der andere bei Humann in Paris arbeiten ließ oder bei
Dufour seine Krawatten kaufte, er für die bloße Reklame nichts
zu bezah'en brauche. Grafd'Orsay, dessen Subsistenzquellen nur
in einer Pension bestanden, die ihm seine geschiedene Gattin
1840, Juni
La Modi, Paris
Milde, Direktor Ciassen und leim Familie. 1840 Hamiurg, Ku^sthali
zahlte, hatte sich einmal 25 ganz gleiche Fracks auf einmal
machen lassen, weil er es für unmöglich hielt, daß ihm jemals
eine noch glücklichere Erfindung gelingen könne!
Nur zögernd haben wir den Versuch gemacht, den Geist der
Zeit mit ihrer Kleidung in eine gewisse Uebereinstimmung zu
bringen, weil man dabei zu leicht in die Versuchung geführt wird,
zu finden, was man wünscht; dieser Gefahr ist man aber nicht
ausgesetzt, betrachtet man die Art und Weise, wie die Generation
von 1830 sich einrichtete, wie sie wohnte. Da trifft das »Zeige
mir dein Zimmer, und ich will dir sagen, wer du bist« mit der
Sicherheit eines richtig gelösten Exempels ein. Der Geist der
Biedermeierzeit, der, aus der Not eine
Tugend machend, nur in der Einfach-
heit wahre Vornehmheit sah, hat die
Kahlheit der überkommenen Empire-
Kunst bis zur größten Nüchternheit
geführt. Leere Zimmer, Papiertapeten
mit mageren Mustern, wenig Möbel,
deren gerade, glatt polierte Flächen
das Staub ' hen u Lust machten,
an den kahl n W nden Kupferstiche
oder L 1 ograph en n Leistenrahmen,
die, sta d k a zu wirken, nur
dunkle Fl k b Iden so sahen die
Räum au n le en man sich da-
zumal hl ful 1 e D n Schmuck der-
selben bildeten die Gardinen, deren Drapierung möglichst raffi-
niert, am liebsten aus mehreren Schals verschiedener Farben ge-
mischt, der Tapezier besorgte ; theoretisch beschränkt sich denn
auch fast ein Jahrhundert hindurch die Wohnungskunst darauf,
dem Tiipezier Anleitung zu geschmackvollem Arrangement der
Vorhänge zu geben.
Das Möbel übernahm man, wie das Empire es hinterlassen
hatte, nur daß die Profile immer einfacher, die Flächen immer
glatter und der Bronzezierat an denselben immer mehr ein-
geschränkt wurde. Als Material bevorzugte man das Mahagoni,
dessen schöne rötUche Farbe bei sorgfaltiger Behandlung mit der
Zeit zu einem köstlichen warmtönigen Braun eindunkelte. Das
Möbel jener Jahre hat etwas Schwerfall ige s, Gewichtiges, es re-
präsentiert in seiner soliden Mache und Haltbarkeit die gediegene
Hand Werksleistung eines tüchügen Bürgertums, das den Wert seines
Besitzes kennt und schätzt. Es hat sich denn auch zu den Schränken
seiner Vorfahren einen neuen hinzu erfunden, der seiner Wesens-
— 130 —
IVitilerhaätr, Mttrit Careline Auguste dt Beurbon,
Duchtsse iPAumaU (um iS^a)
art mit beinahe bildnisartiger Treue entspricht, die Servante,
jenes Möbel, dessen Rückwand ein Spiegel, dessen Seitenwände
und Türe aber Glas bildet, so daß sein Inhalt vor aller Augen
prunken kann, ohne daß Staub oder diebische Hände ihm etwas
anhaben können; die Servante ist das Biedermeier- Möbel kat-
exochen.
Das romantische Element in der Möbelkunsl repräsentieren
die Schwäne, die man vor 1830 gern als Lehnen an Sofa und
Fauteuil anbrachte, vor allem aber die Pseudogotik, welche
die Freude am Mittelalter auch in das Möbel einführt. Pseudo-
gotik, weil man nicht wirkliche echte a!te* gotische Möbel nach-
bildete, sondern, weil man sich an die gotische Kathedrale um
Belehrung wandte, ihr das spitzbogige Maßwerkfenster entnahm
und mit seiner Hilfe Möbel und Geräte bildete, die um so mehr
Beifall fanden, je mehr Elemente des Kirchenbaues sie aufwiesen.
Aus jener Zeit stammen die Sessel mit einem Kathedrale nfenster
als Rücklehne, die Einbände mit gotischem Maßwerk überzogen,
die Standuhren mit den Kirchen fronten.
Neckische Beispiele dieser romantischen Möbelkunst findet
man noch heute in allen gotischen Schlössern von Oscarshall
vor Christiania bis Laxenburg bei Wien, ein Prachtbeispiel ist der
Schreibtisch, den König Ludwig L von Münchner Künstlern er-
hielt, ein Aufbau, an dem man alle Formen gotischer Kirchen-
baukunst studieren kann, den zu benützen oder gar reinzuhalten
aber eine arge Strafe sein dürfte. Es waren eben Architekten-
Möbel.
Die klassischen Traditionen setzte Schinkel fort, nach dessen
Entwürfen nicht nur ganze Schloßeinrichtungen, sondern auch
Möbel für das Bürgerhaus gefertigt wurden, in einem Stil, weniger
pompös als etwa der von Petcier und Fontaine, aber auch weniger
nüchtern als der von Desmalter und Jacob.
In der Mitte der dreißiger Jahre kommen »"
Möbel auf, als Bettstellen, Stühle, Gueridons, Jardinieren,
es ist sehr bezeichnend für die Zeit, daß
ihnen als besonderer Vorzug nachgerühmt
wird : sie ließen sich in jeder Holzart täu-
schend nachahmen. Kurz nach 1840 er-
scheinen die französischen ganz überpol-
sterten Möbel und mit ihnen gelangt der Ta-
pezierstil zu ausschließUcher Herrschaft.
Königin Elisabeth von Preußin. 1S40 Bmiir
B-rliK. Schieß Menbijmi
Das einzige Gerät, bei dem die Kunst nochj; mitzusprechen
hatte, war die Stutzuhr, die, am liebsten sockeiartig gebildet,
als Bekrönung Figuren trug, in denen man dem romantischen
Geschmack in alle Phasen der Sentimentalität folgen kann. Da
ist der Freischütz und Agathe, der schöne Phübus und Esmeralda,
Robert der Teufel flucht und Fanny PUßler tanzt, Ritter und
Fräulein, Minstrels, Troubadoure, Schäfer, Edelknaben, Räuber,
Nonnen singen, beten, lieben und verzweifeln. — - Die Pedanterie
begleitete diese Uhren rechts und links mit passenden Armleuch-
tern und schuf so eine Garnitur, die womöglich noch mit da-
zwischen aufgestellten Vasen voll künstlicher Blumen für den Zeit-
t-csi'hmack typisch geworden ist. Die ganze Pracht stand unter
WinUrhalttr, Königin der Btlgitr (umiS4o)
Miyerhäm, Kdnigin^Elisaitlk v
Glasstürzen in Frankreich auf
dem Kamin, in Deutschland
auf der Kommode in der
sguten Stube«. Das Material
war Bronze, später bronzierter
Zinkguß; in Deutschland ver-
breiteten sich über Wien italie-
nische Alabaster- Skulpturen
als Vasen, Schalen, Uhren,
deren weiches Material leichte
Bearbeitung bei billigen Prei-
sen ermöglichte und deren
buttrige Eleganz einem aut
zuckrige Süße gerichteten Ge-
schmack behagte.
Die vornehme Welt lieble
es, ihre Zimmer mit Porzellan zu schmücken, vieux Saxe, Alt-
Cliina und Japan wunlen die rage, aber auch in dem Arrange-
ment dieses Materials macht sich die Pedanterie der Zeit geltend.
Das Rokoko hatte in seinen Porzellan -Kabinetten wahre Triumphe
seiner überlegenen Dekorationskunst gefeiert; da umschmeichelt
luftiges Rankenwerk leichte Spiegelwände, die ihm kaum Halt
zu geben scheinen, und trägt auf Konsolen, die launischer Zu-
fall gebildet, Figuren, Schalen, Vasen, die ihre kokette Erschei-
nung im Quecksilber der Wände spielend vervielfältigen ; alles
ist auf Grazie und Zierlichkeit berechnet, dem zerbrechUchen,
leichten Material entsprechend; — die Biedermeierzeit dagegen
reiht hübsch ordentlich Teller an Teller, Schale an Schale, in
geradlinigen Schränken hinter Glas, die Genauigkeit, die Syste-
matik vor allem ; pcinhch und regelrecht, auch in der Spielerei
des Boudoirs.
Der Bürger, dessen Mittel ihm die Anschaffung alten Por-
zellans verboten, trieb seinen Luxus mit dem der Berliner,
Wiener, Nymphenburger u. a. Manufakturen, zumal mit der
Tasse. In der Kaffeetasse entdeckt uns Biedermeier sein
Herz: da ist er patriotisch und sentimental, verschwenderisch
und genügsam, sinnig, witzig, gefühlvoll, scherzhaft, launisch,
wie man ihn will. Man malte Tassen zur Erinnerung an große
historische Ereignisse, man schmückte sie mit den Bildern der
königlichen Familie und mit Ansichten berühmter Orte; die
— 134 —
1S40, Mai La Mode
Porträts der Angehörigen zieren sie, wie die zeitgenössischer
Zelebritäten, die Blumensprache gibt Liebenden wonnige Rätsel
auf, Ehegatten versichern sich ihre Neigung ohne Umschweife,
Eltern, Kinder, Freunde, Verwandte, Vorgesetzte und Unter-
gebene geben sich in Tassen ihre Gefühle kund, die Tasse ist
das bevorzugte Geschenk, der beliebteste Zimmerschmuck; wie
Friedrich Wilhelm III. sein Arbeitszimmer mit Pyramiden voller
Porzellantassen füllte, so sammelte auch der Bürgersmann in
seiner Servante in Tassen die Erinnerung an die wichtigsten
Ereignisse, die wertvoUsten Stunden seines Lebens.
Der Komfort mangelte in der Wohnung, wie im Leben
der OefFentlichkeit. Die ReinUchkeit der Straßen ließ ebenso-
viel zu wünschen übrig, wie die Beleuchtung; lange Jahre
kannte die Chirurgie die BerUner Rinnsteinfraktur, den Bruch
- Uö -
des Handgelenks, den sich der in den Rinnstein Fallende durch
das instinktive Aufstützen der Hand zuzog. Ein gewisser Hom
in Dresden erfand 1817 den Laternstock, der sich aus einem
Spazierstock in eine Laterne verwandeln ließ, damit der Träger
sich damit heimleuchten könne! Die Gasbeleuchtung kam
1 8 1 8 aus England nach Paris, wo sie keinerlei Beifall bei der
Bürgerschaft fand, weil der König sich für die Einführung
interessierte; nach Deutschland gelangte sie noch später. Erst
vom I. Januar 1823 an ist der Leuchtturm in Neufahrwasser
durch Gas beleuchtet worden und erst 1826 führte man in
Berlin die Straßenbeleuchtung mit Gas ein; als am 18. Sep-
tember Unter den Linden zum ersten Male Gas brannte, platzten
sämtliche Laternen zum großen Gaudium der Straßenjungen
und aller jener, die der neuen Erfindung nichts Gutes prophe-
zeiten; auf der Bühne wurde das Gas erst 1831 in Paris ge-
legentlich der Premiere von »Robert der Teufel« verwandt.
Die Geselligkeit nimmt neue demokratische Formen an.
Unter dem ancien regime hatte ein Grandseigneur entweder
täglich, oder mehrmals in der Woche offene Tafel für seine
Freunde gehalten, das war eine Last, die seine Stellung mit
sich brachte; die Bourgeoisie richtet das ökonomischer ein:
die Klubs kommen in Frankreich, die Vereine in Deutschland
auf. Napoleon I. hatte die enghsche Einrichtung der Klubs,
aus Furcht, Verschwörungsherde in ihnen zu schaffen, nicht
geduldet, unter Louis Philipp entstanden aber in Paris bereits
vier, darunter der heute noch vornehmste von allen, der Jockey-
Klub ; in Deutschland entstehen die Vereine, die Kasinos, welche
die Kosten der Geselligkeit gleichmäßig auf die Schultern aller
Teilnehmer verteilen und mit einer möglichst geringen Aus-
gabe das Höchstmaß von Unterhaltung erzielen. In Hamburg
gründete Hanfft 18 16 seine »Erholung«, die aber bei der Ex-
klusivität, in welcher die guten Familien am liebsten ganz unter
sich blieben, keinen rechten Fortgang nehmen wollte, um so
weniger, als der Unternehmer nicht einmal auf die Sonntage
rechnen konnte, an denen vornehm und gering damals schon
gewohnt war, die Stadt zu fliehen und Ausflüge in die Um-
gebung zu machen. Langjährigen Bestehens dagegen erfreute
sich der 1820 in Dresden gegründete Liederkreis, dessen Teil-
nehmer alle 14 Tage reihum von 6 — 10 Uhr zusammen-
zukommen pflegten, und die 1826 in Berlin gegründete Lite-
- 138 -
Pittr («ach Daßngir) , Kaistrin .
vtn Ocsterreich (um 1S40}.
tckmg, Dit BildaUminiatitrin I
Rayski, Mina Pompilia
. , . lUl uri avtc «n cachrmirt tinq quarl h midi, au moit di juiUll
'"" Aui Bta«mml • Vspira au XIX' liidi .
rarische Mittwochsge Seilschaft, der etwas spater der sTunnel
unter der Spree» folgt, eine Vereinigung, der jahrzehntelang
alle geistigen Kapazitäten angehorten, die an den Ufern der
Spree zw Hause waren
Bei den Wiener Prnatballen nahmen die Gastgeber, um
auf ihre Kosten zu kommen, bis zu 6 fl Entree' Wie es dann
dort zuging, das haben Cascelh und Saphir in ihren Humoresken
drollig beschrieben. Die Sparsamkeit, die auch in den besten
Kreisen geübt wurde, illustriert am besten jene Erzählung Bis-
marcks, daß er und seine Freunde sich einst in ein Haus, in
dem das Souper besonders frugal zu sein pflegte, Butterbrote
mitnahmen und in der Tanzpause verzehrten — worauf sie
allerdings nicht wieder eingeladen wurden.
Man unterhielt sich, wie heute, die Alten spielten Whist
oder L'hombre, die Jugend tanzte. Zu dem Walzer, der sich
schon unter dem Kaiserreich durchgesetzt hatte, treten unter
der Juli-Monarchie noch Mazurka und Schottisch; die Polka
wird so beliebt und so leidenschaftlich getanzt, daß die Spötter
1844 von »Polka Morbus« sprechen. In Paris brachte das
Beispiel der Gräfin Appony, der Gattin des österreichischen
Gesandten, die VormittagsbälJe in Mode; sonst pflegte man erst
abends zusammenzukommen, i8z6 begannen die Bälle der
vornehmen Welt erst nach 10 Uhr und 1831 wurde in Pariser
Soireen das Souper erst um 2 Uhr serviert. Manchesmal aber
hat man sich durchamüsiert, die Geburtstagsfeier der Kaiserin
Charlotte von Rußland am 13. Juli 1829 im Neuen Palais zu
Potsdam, begann den Zauber der Weißen Rose vormittags mit
einem Toutnier, setzte sich mit lebenden Bildern fort und
endete erst in tiefer Nacht mit einem Ball.
Cruikskank, Preiii
Cruitshank, Discount; aus yThi Comic Almanachi 1S43
Lebende Bilder, deren erstmaliges Erscheinen in der Ge-
sellschaft wir auf dem Wiener Kongreß sahen, bUeben eine
Lieblings Unterhaltung. Manche der großen Feste haben sich in
ganzen Folgen lebender Bilder abgerollt, so am Hofe in Berlin
1818 die Weihe des Eros Uranios, iSar Lalla Rookh, 1843
das Hoffest in Ferrara, Feste von sehr gebildetem Zuschnitt,
die bei Teilnehmern und Zuschauern ausgedehnte literarische,
historische und ästhetische Kenntnisse voraussetzten. Den
Deklamationen und Gesängen legte man gern Texte berühmter
Dichter zugrunde; wählte man in Berlin Thomas Moore für
. Lalla Rookh, so nahm Graf PaltTy in Dresden i8zz für sein
großes Maskenfest Schutzes Bezauberte Rose, und wie beliebt
Walter Scott für diese Zwecke war, ist schon ausgeführt worden.
Von programmatisch sich abspielenden Festen erwähnten wir
schon den Ball der Herzogin von Berrj'; in Deutschland hat
wohl der große kostümierte Festzug, mit dem die Münchener
Künstler 1840 König Ludwig ehrten, das größte Aufsehen ge-
macht; ihm dürfen wir wohl jenen Mannheimer Faschingszug
vom Jahr 1841 an die Seite setzen, der die Hochzeit Kaiser
Friedrich II. mit Isabella von England darstellte.
— U» ferl marchKt
.Vnfira au XIX"' tlicU»
Alt, Frau Pamingtr. 1S4S Sammlimt Elßlir,
Enfin, man kann nicht immer tanzen in Gesellschaft, 183 1
beginnen die Damen die Lotterien zum Besten der Armen als
Unterhaltung und 1843 veranstaltet die Königin in den Tuilerien
den ersten Wohltätigkeitsbasar großen Stils für die Opfer des
Erdbebens in Guadelupe.
Dem Sport wurde damals wenig gehuldigt, in Preußen
galt das Turnen für staatsgefahrlich und das Boxen, das Eugene
Sue in Paris kurze Zeit durch seine »Geheimnisse von Paris«
in die Mode brachte, so daß die Lions sich einen Professor
dafür aus London kommen ließen, hat sich nicht lange in
der Gunst gehalten. Die Vorliebe für das Mittelalter brachte
die ritterliche Falkenjagd wieder in Mode, sogar das Bogen-
schießen, in dem sich Königin Viktoria in ihrer Jugend aus-
zeichnete ; viel nachhaltiger, als diese Launen der Mode aber
behauptete sich der Reitsport, der sich von England aus
den Kontinent eroberte.
In Berlin fand am 17. Juni 1829 das erste Pferderennen
inländischer Zuchten statt, um dessen Zustandekommen sich
ein Baron Eckardstein und ein Rittmeister von Willisen ver-
dient gemacht hatten; in Paris begünstigte der Herzog von
Orleans, der 1842 bei einem Sturz aus dem Wagen das Leben
einbüßte, den Rennsport.
Von etwa 1830 an wird es bei den Damen Mode, zu
reiten, und die Modejoumale bringen regelmäßig fast ebenso viele
Reit- wie Gesellschaftskleider ; es wird Chic, sich auf dem Korso
zu Pferde sehen zu lassen, und wenn Wien für diese Veran-
staltung von jeher seine kösthche Praterallee, Dresden seinen
großen Garten hat, so wählt man in Berlin seit 1833 den
Tiergarten dazu, in dem der Korso zwischen dem Brandenburger
Tor und dem Hofjäger stattfindet.
Wer aber durch keine dieser geselligen Veranstaltungen
in den Hafen der Ehe zu gelangen wußte, dem boten
seit Anfang der zwanziger Jahre die Heiratsbureaus ihre Ver-
mittlung an ; in Paris hatte 1826 das Villiaumesche besonderen
Ruf und das Bureau Defoy verdankte seine Zelebrität dem
Umstand, daß die berüchtigte Giftmischerin und Diamanten-
diebin Marie Lafarge geb. Capelle durch seinen Beistand zu
dem Manne gekommen war, dessen sich die interessante Sün-
derin so bald wieder zu entledigen wußte.
Das Geschlecht von 1830 liebt an der Frau anmutige
— 145 —
10
Dcviria. Musikstunde LUkegraphit
Schwäche. Es ist Mode, blaß zu sein, man fällt, wie Frau von
GirardJn uns verrät, wieder in Ohnmacht, was eine Zeitlang
ganz aus der Mode gekommen war; durch den Gebrauch der
Lorgnette, die keine Frau von Welt entbehren kann, nuanciert
sie eine liebens würdigte Hilfsbediirftigkeit, und wenn sie bei
Tisch wenig genießt, ihre Handschuhe ins Glas steckt, so zeigt
sie, wie ätherisch ihre Natur beschaffen ist. Brillat Savarin
hatte noch die anmutige Esserin gepnesen das ist längst vieux jeu ;
eine Dame die ctwis auf sich hilt dirf höchstens einige Süßig-
keiten knabbeni und dann verlangt sie seit 1825 bei Tisch
Wasser zum MumKp ilen und seit 1830 Schalen zum Finger-
waschen
W-ihrtnd die trauen sich in ihrer \rt bemühen, die Kultur
der GtsillsLhafi zu \erftinern bringen die Männer eine große
Unirt hinein nw ht diß sie seit die Frau die Lorgnette nicht
mtnr cntbchien k mn das alberne Monocle akzeptieren, nein,
aber sie machen das labakrauchcn allgemein. Im 18. Jahr-
hundert hatte die gute Gesellschaft ilcn Tabak nur in der
— 146 -
I Elisabelk Roebir
" ■ "^ i-i-'^. Form der Prise
zu sich genom-
men, das Pfei-
fe nra liehen galt
; für schlechten
Ton, allenfalls
den Männern
gelehrter Berufe
achselzuckend
zugute gehilten
So blieh es bis etwa 1830 dinn ahtr verbreitet sich die
Mode des Rauchens wie eine Seuche befordert durch den
Widerspruch der Frauen I ortl B\ron hatte die Zigarre be
sungen, Alexandre IJumas feierte die Zigarette 1840 ist d»s
Rauchen zwar noch ungern gcbchen aber doch schon zu einer
Gewohnheit geworden die auch der Poh/eistaat durch drako
nische Verbote und schikanöse Erschwerungen nicht mehr hin
dem kann In Preußen war es anfanghch verboten auf der
Straße Zigarren zu rauchen dann wurde es zwar erlaubt aber
die Zigarre mußte der t euersgefahr wegen in einem Gestell
von Draht ^ erwahrt werden \or jeder '^childwache mußten
bis 1848 die Raucher Honneur machen indem iie Zigarre oder
Pfeife aus dem Mund n ihmen und in der H.and behielten ,
Arretierung stand auf Zuwiderhandeln
VVir haben schon eingangs erwähnt wie außerordenthch
die Kntw'icklung der Lisenbahnen den Verkehr begünstigt hat
das machte sich nichl nur in Handel und Industrie sondern
auch im Leben der Gesellschaft geltend Die guten btraßen
die Napoleon I aus mihtanschen Rucksichten hatte bauen
lassen, erleichterten das Reisen schon ganz außerordenthch,
noch mehr war das natürlich der Fall ah die Eisenbahnen
die Unterschiede der Entfernung auf ein Mi
nimum von Stunden reduzierten So finden
wir denn auch alsbald in der \omehmen Ge
Seilschaft das Weltbürgertum das aus dem
Leben der Nationen als solches verschwand ;
Engländer, Polen, Russen, Ungarn mischen
sich in die Zirkel der einheimischen beau
mondc in Paris und Wien, wie in kleineren
Städten. Graf Appony, Fürst Czartoryski
- 14S -
See! Dil Schiveslirn Bloim
geben in Paris, Clraf Batthyany in Mailand den Ton an,
Weimar hat seine englische Gesellschaft, wie Paris, wo man
1836 dukes, marquisses, peers und lords nach Dutzenden zählt,
18 14 war die Badereise der Herzogin von Angouleme nur bis
Vichy gegangen,
nach Dieppe imd
die Pj renäenbäder
ja, die Koni-
gin \ iktoria
und der fran-
zosische König
treffen sich in
Pau, statt in
Paris. Aristo-
kratische Rei-
Fürst Pückler,
führen ihre Af-
fektation und
ihre Blasiert-
heit durch
ganz Europa
bis in den Ori
ent und R
manschreiber
enlschuldi{,en das ein Re
kord de sen Schnelligkeit mit \\ agen und Pferden allein auch
heute noch kaum ges(,hligen werden d irfte «ahrend es uns
komisch 1 eruhrt wenn \Mr lesen diß der Konig von Sachsen
im 7 Sei tember i8^8 in der unerhört kurzen Zeit \on nur
i;'/ä stunden von I tip/ig nach Dresden fuhr 1839 verkehrte
bereits der erste b< hhfmgen zwischen BaUimore und Phila
dclphia 1840 tut England mit der Einfuhrung der Penn) post
einen Sehr tt der das Postwesen nicht mit "hieben sondern
mit Hunde rtm eilen stiefeln firderte
Im Mittelpunkt der gesellschaftlichi-n Interessen stxnd in
Deutschland das Theater denn in dem Deutschland des Vor
marz war die Politik völlig ai sgeschallet es existierten keine
Pirlamcnte w e m Jiaikreith wo d e Damen hitten nach Sen
sati neu haschen können odn v it 11 Fii,lii I \o die Frauen
824 K'ig fl'e Herzogin von Berry schon
unter Louis Philipp besuchte man bereits
Luchon, Bagn^res de Bigorre, Arcachon,
sich beim Pu-
blikum , daß
sie ihre Hel-
den und Hel-
dinnen stets in
der Postkut-
sche herum-
reisen lassen,
statt daß die-
selben fein zu
Hause blie-
ben. Wenn der
Kaiser Niko-
laus 1S34 in
vi erTagen von
St Petersburg
nach Berlin
J!bii Mri DaUott Jährt so ist
Chassiriau, DU Schwtslirn
IVimer Ztitschifl
1840, März
Wiener Zeilschr
i84'. Man La Mode
es 1836 endlich durchsetzten, daß ihnen der Zutritt im den Ver-
handlungen des Unterhauses gestattet wurde. Mit einer an Aus-
schließlichkeit grenzenden Allmacht füllte das Interesse weniger
an der Bühne, als an den Künstlern, die sich auf ihren Bret-
tern bewegten, die Köpfe und Herzen der Menschen, denen es
versagt war, am öffentliclien Leben in irgend einer anderen
Danhataer, Gräßn iPAgouIl
Form teilzunehmen. Man beschäftigte sich leidenschaftlich mit
allem, was Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger, Sänge-
rinnen und Virtuosen taten oder ließen, der Enthusiasmus nahm
Dimensionen an, die uns heute komisch dünken,
Als Henriette Sontag, deren Weltruf die Berliner ge-
macht haben, einmal in Paris erkrankt war und diese Nach-
richt nach Berlin gedrungen war, setzten sich einige ihrer Ver-
ehrer in die Postkutsche, fuhren Tag und Nacht bis Paris, er-
kundigten sich nach dem Befinden der Diva und fuhren wieder
unverzüglich zurück, um den Berlinern authentische Nachrichten
überbringen zu können ! Als dieselbe Sängerin 1827 nach London
kam, schloß das Unterhaus die Sitzung früher,damit seine Mit-
glieder ja nicht zu spät ins Theater kämen! Der Mali bran- Garcia
wurden in Italien wiederholt die Pferde ausgespannt, wenn sie
vom Theater heimkehren wollte, und die hingerissenen Zuhörer
ließen es sich nicht nehmen, den Wagen der Sängerin selbst
zu ziehen.
Die Zeitungen berichteten über Reisen, Aufenthalte, Gast-
spiele der Bühnenkünstler mit einer Ausführlichkeit, die sie heute
nicht mehr an gekrönte Häupter wenden ; ein wahrer Nebel von
Sagen und -Legenden umhüllte die gefeiertsten Sterne: von dem
Tragöden EDlair munkelte man, er sei ein Freiherr von Kheven-
hüUer, der, mit dem Fluch seiner Familie belastet, zur Bühne
gegangen wäre, und was Paganini alles nachgesagt wurde, reichte
für den grausigsten Hintertreppenroman. Daß er seine Braut
erwürgt habe und in jahrelan-
ger Kerkerhaft sein Geigenspiel
schließlich nur mit Zuhilfenahme
der g-Saite gelernt habe , war
noch das mindeste, andere mach-
ten ihn zum Muttermörder, und
während er selbst Europa durch-
zog, spielten Pariser und Lon-
doner Theater Melodramen seines
Lebens. Seine unheimhche Häß-
lichkeit und sein Spiel faszinierten
das Publikum, und noch einmal
füllte sein Name die Blätter, als
er 1840 starb und ein Vermögen
von i'h Millionen hinterließ. ,
- 'S5 —
Ersingen, ertanzen, erspielen konnten sich die Sterne von
damals ebenso leicht Vermögen wie heute, und wenn man den
größeren Wert des Geldes bedenkt, so sind die Honorare sehr
beträchtlich, deren Ziffern bekannt wurden. Maria Taglioni, die
gefeierte Tänzerin, an der man besonders die »Grazie des Schreck-
lichen« in dem Ballett »Blaubart« bewunderte, erhielt 183a
in London für drei Monate 70000 Fr.; Fanny Elfiler, ihre
Rivalin, brachte von einer Gastreise aus Amerika 300 000 Fr.
_ 156 -
Montai, Gruppe aus der t Ftliimutei . 184g
mit und empfing für ihr kurzes Gastspiel in der Havanna allein
51 000 Dollars. Ole Bull erspielte sich 1843 i^^ Amerika binnen
zwei Monaten 250000 Dollars, Thalberg 1839 in Petersburg
in drei Konzerten 20000 und in Moskau 40000 Rubel. Sie
alle aber stellte doch Liszt in Schatten, der sein langes Leben
hindurch die Welt stets aufs neue verblüfft hat, erst durch sein
Talent als Virtuose, dann durch sein Genie als Komponist und
nicht zuletzt durch die Größe seines Charakters als Mensch. In
den Jahren, von denen wir jetzt sprechen, befand er sich noch
in der Phase des genialen Virtuosen; er durchflog Europa von
einem Ende zum andern wie ein Triumphator, und von der
Unwiderstehlichkeit seines Spiels und seines Wesens können
heute nur noch die wenigen zeugen, die ihn gekannt haben.
Wenn andere Künstler Reklame mit ihren Einnahmen machten,
so setzte er die Welt durch seine Uneigennützigkeit in Staunen,
ja, er beschämte sie, denn er ist es, der 1839, als das Beethoven-
Denkmal in Bonn aus Mangel an Mitteln nicht zustande zu
kommen droht, sofort 60000 Fr. an das Komitee sendet und
e& übernimmt, auch noch den ganzen Rest der Kosten allein
zu bezahlen.
Die Leidenschaft für den Theaterbesuch zeitigt neue Berufe,
die Claque existierte schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts;
nun führten die Pariser Direktoren auch noch »Pleureusen«
ein, deren ansteckendes Schluchzen den Melodramen ihre Erfolge
sicherte, und »Chatouilleurs«, die im geeigneten Moment durch
fröhliches Lachen den Abend retten. .
Der Aufenthalt im Theater muß gerade nicht sehr genußreich
gewesen sein, denn es kann doch nur hygienisch aufgefaßt werden,
wenn man liest, daß um 1823 herum Herren und Damen Nelken-
sträuße mit ins Theater nahmen, die bis zu 180 Sorten in einem
Bukett enthielten ; war das notwendig, so war es allerdings immer
noch anmutiger, als wenn wir hören, daß die Damen in Königs-
berg und Magdeburg auch ins Theater ihr Strickzeug mitzunehmen
pflegten.
Fällt durch den Massenbedarf an starkriechenden Blumen
auf die Ventilation der damahgen Theater ein keineswegs günstiges
Licht, so stellen auch die zahlreichen Theaterbrände jener Jahre der
Sicherheit der Gebäude ein schlechtes Zeugnis aus. Am 29. Juli
1 8 1 7 brennt das Berliner Schauspielhaus ab (die Berliner Zeitungen
versicherten, daß dieser Brand das schönste Schauspiel gewesen
— 157 -
sei, welches das Haus während seines Bestehens den Besuchern
geboten habe 1). Am 14. Januar 1823 geht das Münchener Hof-
theater in Flammen auf, ohne daß andere Unglücksfälle dabei
vorkommen, als die Beschädigungen, welche der Uebereifer von
Wachmannschaft und Polizei den zum Löschen kommandierten
Bürgern zufügen. Bis zum Brande des Berliner Opernhauses am
18. August 1843 hat noch viele andere Bühnen das gleiche Schick-
sal erreicht, ohne daß die Freude am Theater dadurch beein-
trächtigt worden wäre, im Gegenteil, die zahlreich auftretenden
Virtuosen schufen einen neuen Typ, den Dilettanten.
Bis in die zwanziger Jahre hinein war das Instrument des
Salons die Harfe, deren Handhabung den Damen gestattete,
schöne Arme in runden weichen Bewegungen zur Schau zu
stellen, aber dies Instrument verschwindet seit 1830 völlig aus
Haus und Familie und selbst ein Virtuose wie Parish-Alvars
kann ihm seine Beliebtheit nicht wiedergeben, das Klavier hat
die Harfe völlig verdrängt. Vor dem Jahre 1820 war das
Pianino noch verhältnismäßig selten, aber seit die französischen
Instrumentenbauer Erard seit 1823 ihre Flügel mit Repetitions-
mechanik versehen, gewinnt das Klavier immer mehr an Boden,
der Ruhm und die Einnahmen der reisenden Virtuosen fordern
zur Nachahmung heraus und neue Fabriken, Bösendorfer in
Wien seit 1828, Steinweg in Braunschweig liefern immer bessere
Instrumente, gegen die auch die vorübergehend beliebte Phys-
harmonika, die Klaväoline nicht aufkommen können. Die Vir-
tuosen haben das Klavierspiel in den Salons eingebürgert, schon
dadurch, daß die Nuancen ihrer Kunst dem Gespräch einen
endlosen Stoff boten. Man nannte damals Thalberg den König,
Liszt den Propheten des Klaviers, man fand, Chopin spiele
wie ein Dichter, Kalkbrenner wie ein Minstrel, Doehler wie
ein Pianist; man hieß Madame Pleyel die Sibylle, Herz den
Advokaten, Leopold von Meyer endlich den harmonischen Orkan.
Wenn man betrachtet, wie eine Zeit sich kleidete und wie
sie sich amüsierte, sollte man da nicht auch wissen, was die
Menschen taten, wenn sie krank waren? Den Standpunkt der
ärztlichen Kunst dieser Zeit darzulegen, kann hier nicht unsere
Aufgabe sein, aber man darf nicht unerwähnt lassen, daß jene
Jahre ein Eindringen des Laien-Elementes in die Ausübung des
ärztlichen Berufes erlebten, das in seiner Wirkung und in seinen
Folgen für die ärztliche Wissenschaft von größter Bedeutung
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