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P. FELDHEIM
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University of Toronto
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Dubnow,
Die neueste Geschichte
des füdischen Volkes
DIE NEUESTE GESCHICHTE
DES JÜDISCHEN VOLKES
(1789- I9t4)
Voi
S. M. DUBNOW
Deutsch von Alexander Eliasbergf
I. Band
19 2 0
Jüdischer Verlag / Berlin
DIE NEUESTE GESCHICHTE
DES JÜDISCHEN VOLKES
L Band
Einleitung;
Erste Abteilung:
Das Zeltalter der ersten Emanzipation
(1789— J8J5)
19 2 0
Jüdischer Verlag / Berlin
Copyright hy the JüdtocKer Vwlag, BetU» 1920
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det Spamcnchen.
Bnobdmckerei in Leipxle
Einleitung
L Die jüdische Welt am Vorabend des Jahres 1789
§ I, Die Grundlagen der alten Ordnung. Am Vorabend des
Jahres 1789 hatte die politische und soziale Lage aller
Gruppen des jüdischen Volkes in aUen Staaten Europas einen
im allgemeinen gleichartigen Charakter. Überall unterstanden
die Juden einem speziellen Kodex des beschränkten Rechtes,
dem eigenartigen „jus Judaicum", das an manchen Orten an
völlige Entrechtung grenzte — einem Überbleibsel des Mittd-
alters, das je nach den lokalen Verhältnissen und der juri-
stischen Findigkeit der Regierenden oder der herrschenden Elassen
in verschiedenen Ländern verschiedene Schattierungen aufwies.
Diese Grundfesten der alten Ordnung fanden ihren Ausdruck in
folgendem :
A. In politischer und staatsbürgerlicher Hinsicht bildeten
die Juden eine eigenartige Gruppe von Ausländern, die nirgends
einen eigenen Staat besaßen und daher durch völkerrechtliche
Traktate nicht geschützt waren. Unter mehr oder minder be-
schwerlichen Bedingungen, die von der Regierung oder auch von
den feudalen und munizipalen Behörden der betreffenden Gegend
diktiert waren, wurde ihnen gestattet, in bestimmten Bezirken
zu wohnen und einige Berufe auszuüben. Es waren dies Ab-
machungen zwischen dem Wirtsvolk und den Ankömmlingen (wenn
auch diese „Ankömmlinge" seit einer Reihe von Generationen
in der betreffenden Gegend lebten), die i^e Vorteüe der stärkeren
Partei zur Grundlage hatten : dem , , AnkömmHng" wurde irgendeine
dunkle Ecke als Wohnstätte zugewiesen, auch wurden ihm einige
Kleingewerbe freigestellt, in denen seine Konkurrenz sich dem
„Einheimischen" am wenigsten fühlbar machen sollte; als Er-
satz dafür mußte er ungeheure Gebühren als Schutzgeld an die
Schatzkammer entrichten, abgesehen von einer ganzen Menge
anderer spezieller Besteuerungen. In den meisten Ländern wurde
allen Versuchen, die der Jude machte, um das ihm zugewiesene
engbemessene Gebiet, wie auch den ihm freigestellten Kreis
von Berufen zu erweitern, unüberwindliche Hindernisse in den
Weg gelegt; selbst die natürliche Vermehrung der Juden wurde
mancherorten von den Behörden in offizieller Weise verboten,
indem die letzteren die Zahl der Eheschließungen regelten und
dem Zuwachs der Bevölkerung einen Damm entgegensetzten.
Die harte Reglementierung des jüdischen Lebens wurde in den
beiden Hauptzentreu der westeuropäischen Judenheit, Deutsch-
land und Österreich, auf die Spitze getrieben. In den dichten
Massen der osteuropäischen Judenheit (Polens und seines Erben
Rußland) hat die Reglementierung der elementaren Rechte des
Juden das Gesetz der Vermehrung in direkter Weise nicht an-
getastet, aber im absterbenden Polen wurde das Leben des Juden
durch spezielle, von den Königen, dem Adel oder den Munizipal-
behörden ausgehende Konzessionen geregelt, die ihn als An-
gehörigen einer abgesonderten, außerhalb aller Staatsbürgerlich-
keit stehenden Kaste behandelten; in den an Rußland abgetre-
tenen polnischen Provinzen hingegen machten sich schon Ten-
denzen zur Schaffung einer die Juden betreffenden ausschließ-
lichen Gesetzgebung geltend.
B. Mit dieser staatsbürgerlichen Ausschließlichkeit ging
auch die wirtschaftliche Hand in Hand. Die Regierenden,
die herrschenden Stände, die Magistrate, Zünfte und Gilden
drängten die jüdische Masse in einen sehr engen Kreis von
Berufen und Gewerben hinein. Von allen wirtschaftlichen Be-
tätigungsarten wurden den Juden im westlichen Europa nur
der Kleinhandel und dfer Wucher zur Verfügung gestellt (selbst
zum Handwerk wurde ihnen in den meisten Fällen der Zutritt
verwehrt); m Südfrankreich, Holland und England konnte man
hin und wieder Großkaufleuten, Fabrikanten imd Bankiers be-
gegnen; aber in Preußen und Österreich traten solche erst
gegen das Ende des i8. Jahrhunderts hervor, als die „auf-
geklärten" Monarchen Friedrich II. und Joseph II. die Fabrik-
industrie der Juden zu fördern suchten; darin lag aber
schon der Ansatz zu einer außerhalb der Volksmasse stehen-
den Geldherrschaft. Im östlichen Europa waren es vornehm-
lich das Kleinhandwerk und der Handel, die Pacht verschie-
dener Zweige der Landwirtschaft auf den Landgütern, ins-
besondere die Pacht der sogenannten „Propination" oder der
8
Branntweinverkauf in den Städten und Dörfern, die die wirt-
schaftlichen Betätigungsarten der Juden bildeten. Die in die
Schlupfwinkel der Volkswirtschaft gewaltsam hineingedrängte,
notleidende jüdische Masse, deren wirtschaftliche Position durch
ihre geringfügigen und vom Zufall abhängigen Verdienste keines-
wegs gesichert war, diente für die Umwelt als Sinnbild der wirt-
schaftlichen Ausgestoßenheit. Solche aufgezwungenen Gewerbe,
wie der Wucher im Westen und die Schankwirtschaft im
Osten, verschärften das Erniedrigende in ihrer Stellung
und weckten feindselige Gefühle gegen diese Stiefkinder des
Vaterlandes.
C. In nationaler Hinsicht bildete die jüdische Masse der
Diaspora bis in das Jahr 1789 hinein eine in sich geschlossene,
charakteristische Einheit von eigenartiger Gestaltung des Ge-
meinde- und Geisteslebens. Ein Ergebnis dieser I^ebensgestaltung
ist die staatlich anerkannte Gemeindeautonomie der Juden. Ein
gewisser geschichtlicher Prozeß brachte es mit sich, daß tief-
greifende Faktoren nationaler Natur im Leben der jüdischen
Masse mit solchen religiöser Natur so eng verwoben waren, daß
es einem außenstehenden Beobachter scheinen konnte, als sei
hier die Einheit lediglich auf rein religiöser Grundlage, auf der
Gemeinschaft des Glaubens und der Riten aufgebaut. Daher die
Meinimgsverschiedenheit in der Definition des Judentums sei-
tens der umgebenden Gesellschaft: Für die einen ist das Juden-
tum eine scharf ausgeprägte stammeseinheitliche und nationale
Individualität, die in der Hoffnung auf den Wiederaufbau ihrer
Staatlichkeit in der Gestalt des messianischen Reiches lebt; für
die anderen wiederum ist es bloß eine religiöse Gruppe oder
Sekte, die unter günstigen Umständen einen Bestandteü der
umgebenden Nationen ausmacht oder ausmachen kann. Seit der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seit der Epoche der ,, Auf-
klärung", bringt diese Meinungsverschiedenheit eine Entzweiung
in die jüdische Gesellschaft hinein. Die Grundfesten der Ge-
meinde-Autonomie, die einen jahrhundertelangen Bestand auf-
zuweisen hatte, beginnen zu wanken. Im Westen — unter den
Schlägen des „aufgeklärten Absolutismus", der die Abgesondert-
heit des Judentums als ein Verbrechen betrachtete. Im Osten —
infolge der Zersetzung des polnischen Zentrums der zwischen
Preußen, Österreich und Rußland verteilten Judenheit.
D. Auf dem Gebiete der geistigen Kultur tritt zu dieser
Zeit zuerst die Spaltung zwischen den zwei maßgebenden Zentren
des alten Judentums — Deutschland und Polen — zutage. Wäh-
rend die alte Kultur in Polen, die aus dem Rabbinismus keine
genügende Nahrung gezogen, einen neuen lyebensbora in dem
Chassidismus entdeckt und für eine gewisse Zeit diese Position
festigt — entsteht ihr in Deutschland eine Gegnerin in Gestalt
der in der Mendelssohnschen Epoche aufgetauchten , , Aufklärtmg" .
Die Bestrebungen dieser Bewegung gehen in ihren gemäßigten
Elementen darauf aus, der jüdischen Kultur eine neue Gestalt
zu geben, in ihren extremen Elementen hingegen diese Kultur
zu zerstören. Die Ergebnisse dieser beiden einander widerstrei-
tenden Tendenzen werden erst nach dem Jahre 1789 in die Er-
scheinung treten.
Die alte Ordntmg behauptete sich auf diese Weise am Vor-
abend des Jahres 1789 in ihrer ganzen Macht im wirtschaftlichen
und staatsbürgerlichen Leben, und nur auf dem national-kul-
turellen Gebiete traten hie und da die ersten Anzeichen einer
Umbüdung auf. Wollen wir nun untersuchen, wie sich das alte
Regime in den einzelnen Ländern äußert.
§ 2. Deutschland. In seinem bekannten Buche unter dem
Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (Berlin
1781) gibt uns Christian Wilhelm Dohm ein Bild der Rechtlosig-
keit der Juden in dem zersplitterten Deutschland und dem üim
verwandten französischen Elsaß. Dieses Büd, das ein preußischer
Publizist und Beamter, der im Namen der St;..atsräson gemäßigte
Reformen forderte, entwirft, zeichnet sich durch eine beinahe
offizielle, auf Tatsachen fußende Genauigkeit und Exaktheit aus.
„In einigen Staaten," sagt Dohm, ,,hat man ihnen den Auf-
enthalt ganz versagt, und erlaubt nur für einen gewissen Preis
den Reisenden, des landesherrlichen Schutzes für eine kurze Zeit
(oder für eine Nacht) zu genießen. In den meisten andern Staaten
aber hat man die Juden nur imter den lästigsten Bedingimgen
nicht sowohl zu Bürgern als zu Einwohnern und Unterthanen
aufgenommen. Nur einer gewissen Anzahl jüdischer Familien
ist es meistens erlaubt, sich in einem Lande niedeizulassen, und
diese Erlaubnis ist gewöhnlich nur auf gewisse Orte einge-
schränkt und muß allemal mit einer anselmlichen Summe Geldes
erkauft werden . . . Hat ein jüdischer Vater mehrere Sohne, so
10
kann er gewöhnlich die Begünstigung des Daseyns in dem
Lande seiner Geburt nur auf einen derselben fortpflanzen, die
übrigen muß er mit einem abgerissenen Theüe seines Vermögens
in fremde Gegenden ausschicken, wo sie mit gleichen Hinder-
nissen zu kämpfen haben. Bey seinen Töchtern kön^mt es darauf
an, ob er glücklich genug ist, sie in einer der wenigen Familien
seines Ortes einzuführen. Selten kann also ein jüdischer Vater
das Glück genießen, unter seinen Kindern und Enkeln zu leben,
den Wohlstand seiner Familie auf eine dauerhafte Art zu gründen.
Denn auch der wohlhabende wird durch die nothwendige Tren-
nung seiner Kinder und die Kosten ihres Etablissements an ver-
schiedenen Orten, zu einer beständigen Zerreißung seines Ver-
mögens gezwimgen. Hat man dem Juden die Erlaubnis, sich in
dem Staate aufzuhalten, bewilligt, so muß er dieselbe jährlich
durch eine starke Abgabe wieder erkaufen, er darf sich nicht
ohne besondere Erlaubnis, die von gewissen Umständen ab-
hängt, und nicht ohne neue Kosten verheyrathen ; jedes Kind
vermehrt die Größe seiner Abgaben, und fast alle seine Hand-
lungen sind damit belegt . . . Und bey diesen so mannigfaltigen
Abgaben ist der Erwerb des Juden auf das äußerste beschränkt.
Von der Ehre, dem Staat sowohl im Frieden als im Kriege zu
dienen, ist er allenthalben ganz ausgeschlossen; die erste der
Beschäftigungen, der Ackerbau, ist ihm allenthalben imtersagt,
und fast nirgends kann er liegende Gründe in seinem Namen
eigenthümlich besitzen. Jede Zunft würde sich entehrt glauben,
wenn sie einen Beschnittenen zu ihrem Genossen aufnähme, und
daher ist der Hebräer fast in allen Landen von den Handwerken
und mechanischen Künsten ganz ausgeschlossen. Nur seltenen
Genies (die, wenn vom Ganzen der Nation die Rede ist, nicht
gerechnet werden könifen) bleibt bey so vielen niederdrückenden
Umständen noch Muth und Heiterkeit, sich zu den schönen
Künsten oder den Wissenschaften zu erheben, von denen, zu-
gleich als Weg des Erwerbs betrachtet, nur allein Meßkunst,
Naturkunde und Arzneygelahrtheit dem Hebräer übrig bleiben.
Und auch diese seltenen Menschen, die in den Wissenschaften
und Künsten eine hohe Stufe erreichen, sowie die, welche durch
die untadelhafteste Rechtschaffenheit der Menschheit Ehre
machen, können nur die Achtung weniger Edlen erwerben; bey
dem großen Haufen machen auch die ausgezeichnetsten Ver-
ir
dienste des Geistes und Herzens den Fehler nie verzeiWich —
ein Jude zu seyn. Diesem Unglücklichen also, der kein Vater-
land hat, dessen Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, der
nirgend seine Talente frey äußern kann, an dessen Tugend
nicht geglaubt wird, für den es fast keine Ehre gibt — ihm
bleibt kein andrer Weg, des vergünstigten Daseyns zu genießen,
sich zu nähren, als der Handel. Aber auch dieser ist durch viele
Einschränkungen und Abgaben erschwert, und nur wenige
dieser Nation haben so viel Vermögen, daß sie einen Handel im
Großen unternehmen können. Sie sind also meistens auf einen
sehr kleinen Detaühandel eingeschränkt, bey dem nur die öftere
Wiederholung kleiner Gewinne hinreichen kann, ein dürftiges
Ircben zu erhalten; oder sie werden gezwungen, ihr Geld, das
sie selbst nicht benutzen können, an andere zu verleihen."
m den zahlreichen großen und kleinen Staaten, in die das da-
malige Deutsche Reich zerfiel, varüerte die gegen die Juden
gerichtete Politik der Unterdrückung nur innerhalb der Grenzen
der obenerwähnten Grundnormen. Den drückendsten Beschrän-
kungen unterlag das Recht der Freizügigkeit. An allen Grenz-
stationen der dreihundert Zwergstaaten des damaligen Deutsch-
lands waren dem gehetzten Tiere — dem Juden — Fallen ge-
stellt. Wenn ein Jude von dem einen Staat in den anderen,
oft auch von der einen Stadt in die andere innerhalb der
Grenzen desselben Landes hinüberkam, so mußte er bei seiner
Ankunft am Bestimmungsort dieselbe Steuer entrichten, die
für die Einfuhr von Vieh festgesetzt war. Es war dies der schänd-
liche Leib- oder Geleitzoll (Judengeleit), der den reisenden Juden
zur Zielscheibe des Spottes an den Toren und Grenzstationen
vieler deutscher Städte machte. Und nur die privüegierten so-
genannten Schutz- oder Geleitjuden konnten sich unter Beob-
achtung erniedrigender Formalitäten bei Reisen auf dem Gebiete
des sie beherbergenden Staates von diesen Abgaben befreien,
aber an der Grenze der Besitztümer irgendeines anderen Herzogs*
Fürsten oder Kurfürsten angelangt, waren auch diese Juden ver-
pflichtet, den Leibzoll zu zahlen. Als der bereits berühmt ge-
wordene Denker Moses Mendelssohn im Jahre 1776 in die Haupt-
stadt Sachsens, Dresden, einzog, wurde er an der Grenze an-
gehalten und gezwungen, den Leibzoll nach der für einen
,, polnischen Stier" festgesetzten Taxe zu zahlen, wie sich
12
der beleidigte Berliner Weise nachher mit bitteres Ironie
ausdrückte.
Nach der „Judenordnung" von 1746 war es den Juden er-
laubt, in Sachsen (Dresden und Leipzig), diesem protestantischen
Spanien, unter sehr lästigen Bedingungen und in begrenzter
Zahl zu wohnen. Es war ihnen verboten, ein Bethaus behufe
öffentlichen Gottesdienstes zu besitzen, und sie waren genötigt,
ihre Gebete unauffällig imd leise in einem privaten Hause zu
verrichten; ferner war es ihnen verboten, Häuser zu erwerben,
Gewerbe und Handel zu treiben; und nur der Handel mit
alten Kleidern und das Wechselgeschäft waren ihnen gestattet.
Alle diese Härten wurden in der Folge {1767, 1772 — 73) noch
verschärft. Die Polizei paßte scharf auf, daß in den Häusern
der „geduldeten" Juden sich nicht ihre kein Wohnrecht habenden*
Stammesgenossen heimlich aufhielten. Das Schutzgeld wurde
bis zu der ungeheuren Summe von 70 Talern für jeden Familien
vater, von 30 Talern für dessen Frau und 5 Talern für jedes
von seinen Kindern erhöht. Für eine Heiratserlaubnis wurden
40 Taler erhoben. Viele Famüien, die die Last dieser vSteuern
nicht zu ertragen vermochten, sahen sich der Ausweisung aus
Dresden ausgeliefert, und nur dem Eingreifen Mendelssohns ist
es zu verdanken, daß die Vertreibung vieler Hunderte von Un-
glücklichen nicht zur Ausführung kam.
Das katholische Bayern wetteiferte mit der Geburtsstätte des
Protestantismus in der Unterdrückung der Juden. Hier hatten
die Juden ihre in sich abgeschlossenen Gemeinden oder Ghetti
nur in einigen Städten ; an vielen Orten war ihnen das Wohnen
untersagt; nur in Handelsangelegenheiten, und für kurze Dauer
unter polizeüicher Bewachung, nach Art der Sträflinge (,, leben-
diges Geleit" in Nürnberg) wurde ihnen der Zutritt zu diesen
Orten gewährt, und nur in Fürth gelang es den Juden, eine
rege kommerzielle Tätigkeit zu entfalten.
Zur besonderen Blüte gelangte das mittelalterliche Ghetto-
regime in der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo sich eine
der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands befand. Die die
Stadt verwaltende bürgerliche Oligarchie, von lutherischer Un-
duldsamkeit und Krämergeist durchdrungen (auch Katholiken
und Reformierte waren in ihren Rechten beschnitten), zwäng-
ten den Juden in das dunkelste Kellerloch des gesellschaftlichen
13
Gebäudes. Nicht umsonst wurde das Frankfurter Ghetto oder
die „Judengasse" „das neue Ägjqpten" genannt. Ungefähr 500
jüdische Familien, unter denen sich viele wohlhabende und ge-
bildete Menschen befanden, waren in einem entsetzlich engen
Ratime zusammengepfercht. Keinem einzigen Juden war es
erlaubt, außerhalb der Grenzlinie des Judenviertels zu wohnen.
Die Ghettobewohner durften sich nur am Tage in die Stadt
begeben, an Sonntagen jedoch mußten sie auch am Tage im
Ghetto bleiben. Mit dem Anbruch der Nacht wurde das Ghetto-
tor verriegelt, und eine Polizeipatrouille wachte darüber, daß
niemand ohne zwingenden Grund herauskam. In emem dieser
Sklavenhäuser wurde im Jahre 1786 Ludwig Börne geboren,
der sich in der Folge einen ruhmreichen Namen als Kämpfer
für politische Freiheit erwarb und der seine ersten Kindheits-
eindrücke vom Frankfurter Ghetto in folgenden Zeüen voll
beißenden Spottes schilderte:
„Ehemals wohnten sie in einer eigenen Gasse, und dieser
Fleck war bestimmt der bevölkertste auf der ganzen Erde , . .
Sie erfreuten sich der zärtlichsten Sorgfalt ihrer Regierung.
Sonntags durften sie ihre Gasse nicht verlassen, damit sie von
Betrunkenen keine Schläge bekämen. Vor dem 25. Jahre durften
sie nicht heiraten, damit ihre Kinder stark und gesund würden.
An Feiertagen durften sie erst um sechs Uhr abends zum Tore
hinausgehen, daß die allzu große Sonnenhitze ihnen nicht schade.
Die öffentlichen Spaziergänge außerhalb der Stadt waren ihnen
untersagt, man nötigte sie, ins Feld zu wandern, um ihren Sinn
für Landwirtschaft zu erwecken. Ging ein Jude über die Straße,
und ein Christ rief ihm zu: Mach Mores, Jud'! — so mußte er
seinen Hut abziehen; durch diese höfliche Aufmerksamkeit
sollte die Liebe zwischen beiden Religionsparteien befestigt
werden. Mehrere Straßen der Stadt, die ein schlechtes unbe-
quemes Pflaster hatten, durften sie niemals betreten."
Den Ghettobewohnern war es verboten, sich während öffent-
licher Prozessionen und Feierlichkeiten auf den Straßen zu
zeigen. Am Krönimgstage des Kaisers Leopold II. wurden von
der Stadtkanzlei Passierscheine folgenden Inhalts gnädigst aus-
gestellt: Der Inhaber dieses darf sich am bevorstehenden Krö-
nungstage in die Stadt begeben, um der Feier aus den Fenstern
irgendeines Hauses oder von einem Gerüste aus, aber keineswegs
14
auf der Straße zuzuschauen. Bei einer Bevölkerungszahl von
500 Familien durfte die Norm der jüdischen Eheschließungen
in Frankfurt die Zahl 12 nicht überschreiten.
Die Fürsten und Regierungen der deutschen Staaten mach-
ten kein Hehl aus den Beweggründen ihrer gegen die Vermeh-
rung der Juden gerichteten Pharaonenpolitik. Der mecklen-
burgische Herzog Friedrich Franz I., der im Rufe eines , liberal
Denkenden" stand, verordnete gleich nach seiner Thronbestei-
gung, daß den Juden keine ,, Schutz briefe" — Aufenthalts-
bewilligungen — über die einmal festgesetzten Normen hinaus
ausgestellt werden dürfen, ,,bis einTeü der früheren Schutzjuden
aussterben und dadurch ihren Glaubensgenossen die Möglich-
keit eines Unterhalts eröffnen wird"; erwachsene Söhne durften
nicht auf Grund des Wohnrechtes ihrer Eltern sich im Lande
aufhalten, sondern mußten den Nachweis liefern, daß sie über
ein eigenes Kapital oder gesicherte Einnahmen verfügen. Die
Regulierung der jüdischen Bevölkerung wurde hier mit der
Sorge um ihre Nahrungsquellen bemäntelt ; zu gleicher Zeit aber
trafen Regenten, Magistrate und Zünfte allerhand Maßnahmen,
um den Juden die meisten dieser Quellen zu verschließen, und
dadurch der Ausweisung ihres ,, Überflusses" eine gesetzliche
Begründung zu geben. Die Nichtzulassung der Juden zu den
Zunftgewerben motiviert die badische Regierung damit, daß
die Juden bei ihren Fähigkeiten in manchen Zweigen Ge-
schicklichkeit erreichen und die Verdienste an sich reißen wür-
den".
Rücksichten der Handelskonkurrenz lagen ebenfalls all jenen
drückenden Erschwerungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zu-
grunde, unter denen die große jüdische Kolonie der Industrie-
stadt Hamburg lebte. Viele Zweige des Handels und des Hand-
werks waren den Juden unzugänglich. Der Erwerb von un-
beweglichen Gütern war ihnen untersagt; in die städtischen
Schulen wurden Kinder jüdischer Eltern, selbst wenn sie wohl-
habenden und gebildeten Familien angehörten, nicht aufge-
nommen. Bei der Ankunft in eine Stadt mußte ein Jude aus
einer anderen Stadt den ,, Geleitsgulden" und dann noch den
Schutztaler zahlen. Das Ansiedelungsgebiet der Juden in Ham-
burg war begrenzt, wenn auch nicht so abgeschlossen wie das
Frankfurter Ghetto.
15
§ 3- Preußen. Die Reglementierung dei staatsbürgerlichen
Knechtung der Juden artete nirgends in solche Ungeheuerlich-
keiten aus, wie in Preußen zur Aufklärungszeit Friedrichs II.,
des Großen. Hier war das ganze Leben der Juden durch die
harten Paragraphen des Friederizianischen „Reglements für
die Juden" (1750) wie mit ehernen Fesseln umklammert. Seiner
inneren Tendenz nach unterschied sich dieses Reglement, die
Frucht der schöpferischen Phantasie eines an die kirchlichen
Satzungen nicht glaubenden, freidenkerischen Königs nur sehr
wenig von den mittelalterlichen kanonischen Statuten und der
judenfeindlichen Gesetzgebtmg des westgotischen Spaniens.
Durch das Reglement von 1750 und die nachträglichen Er-
läuterungen zu diesem wurden die Juden des Königreichs
Preußen unter die zwei Hauptkategorien der Schutz- und der
geduldeten Juden gebracht. Die Schutzjuden zerfielen ihrerseits
nach M£U3gabe der ihnen gewährten Rechte in drei Gruppen;
I. Die Generalprivilegierten genossen das Wohn- und Gewerbe-
recht auf Grund eines königlichen Privüegs, das sich auf alle
ihre Famüienangehörigen und auf alle den Juden als Wohn-
stätte angewiesenen Orte erstreckte. 2. Die ordentlichen Schutz-
juden wohnten auf Grund eines Schutzbriefes, in welchem ge-
nau angegeben wurde, in welchen Orten sie sich aufhalten,
welche Gewerbe sie treiben durften, und auf welche Familien-
angehörigen sich diese Genehmigung erstreckte; die ordentlichen
Schutzjuden durften ihre Rechte nur auf eines ihrer Klinder
übertragen, aber im Falle einer besonderen Befürwortung und
unter der Bedingung eines soliden Kapitalbesitzes durften sie
es auch auf zwei Klinder übertragen; den anderen Kindern war
das Handelsrecht entzogen. 3. Die außerordentlichen 3chutz-
juden genossen das persönliche, lebenslängliche Recht, sich in
einem bestimmten Orte aufzuhalten und ein bestimmtes Ge-
werbe zu betreiben, aber dieses Recht konnte auf ihre Kinder
nicht übertragen werden; zu dieser Gruppe gehörten Ärzte,
Maler und andere freie Gewerbe ausübende Personen. Der Ka-
tegorie der ,, geduldeten Juden" gehörten Personen an, die ein
Amt in der Gemeinde ausübten (Rabbiner, Vorbeter, Schächter),
die EÜnder der „ordentlichen", außer den beiden älteren, sämt-
liche Kinder der ,, außerordentlichen" Juden, das Hausgesinde
u. a. ; ihnen war in verschiedenem Grade verboten, Gewerbe und
16
Handel zu treiben und Ehen untereinander zu schließen (nur
durch Verschwägerung war ihnen die Möglichkeit geboten, in
die Familien der „privilegierten" Juden einzutreten). Über die
Beobachtung aU dieser drakonischen Gesetze wachte ein von
der Regierung eingesetztes Generaldirektorium, bestehend aus
Mitgliedern des Ministeriums des Innern und des der Finanzen,
das alle jüdischen Angelegenheiten in Preußen unter seiner Auf-
sicht und Leitung hatte.
In der von den Abgeordneten der jüdischen Gemeinden der
preußischen Regierung im Jahre 1787 überreichten Denkschrift
werden alle Belastungen und Einschränkungen aufgezählt, die
das Leben der Juden in Preußen vergällten. Die speziellen
Besteuenmgen nahmen ungeheure Dimensionen an.
Im Vordergrunde stand das sogenannte Schutzgeld, das der
Staatskasse eine jährliche Einnahme von 25 000 Talern brachte
imd von der gesamten jüdischen Kolonie Preußens unter gegen-
seitiger Bürgschaft gezahlt wurde. Dann folgten : die Rekruten-
steuer, die Süberakzise (kein Mensch weiß, wofür diese Steuer
erhoben wird — erklären die Deputierten), eine Steuer für
die Bestätigung der jede drei Jahre erfolgenden Wahlen der
Vertreter der Gemeinde, die Feuerwehrgebühr, verschiedene
Arten der Stempelsteuer und viele andere. Als sehr charakte-
ristisch erscheint die bei Ausfertigung von EhebewiUigungeu
für jede unter den Juden geschlossfene Ehe erhobene „Ehe-
steuer" ; die Steuerzahler zerfielen in einige Kategorien, die von
20 bis 80 Taler für jede Ehebewilligung und außerdem noch eine
besondere Gebühr von 14 Talern für jeden Trauschein zahlten;
bei der zweiten Ehe wurde eine Zuschlaggebühr erhoben. Solche
beträchtlichen Steuern machten imvermögenden Leuten das
Eingehen einer Ehe unmöglich. Die natürlichen Folgen der Ehe
flößten den Ehepaaren noch größere Angst ein. Für die Re-
gistrierung jedes der Kinder mußte man an die Staatskasse
bis zu 160 Talern zahlen. Das berühmte Geleit wurde nicht
nur von ausländischen, sondern auch von einheimischen Juden
bei ihrer Übersiedelung von der einen preußischen Provinz
nach der anderen erhoben. Die Behandlung- der Steuerzahler,
erklären die obenerwähnten Deputierten, ist äußerst demütigend
und degradiert den Juden zum Vieh. Im Jahre 1788 befreite
das Gesetz die preußischen Ju4en von dem Geleit, indem es
2 Dubnow, Geschichte der Juden I I7
letzteres nur für ausländische Juden als obligatorisch erklärte;
aber dadurch wurde die demütigende Prozedur des „Durchlasses"
nicht beseitigt, denn um einen steuerfreien Passierschein zu er-
halten, mußte der Jude bei den städtischen Torwachen seine
preußische Staatsangehörigkeit dokumentarisch beweisen. Übri-
gens sicherte ein derartiger Passierschein in einigen Provinzen
(Vorpommern und anderen) dem Juden einen Aufenthalt von
nur 24 Stunden. Als Gipfel der Findigkeit der Regierung Fried-
richs II. muß die bekannte, für alle preußischen Juden im
Jahre 1769 festgesetzte Porzellain-Exportation-Steuer bezeichnet
werden. Jeder Jude wurde beim Eingehen einer Ehe, dem An-
kauf eines Hauses und dem Abschließen anderer zivilrechtlicher
Verträge verpflichtet, aus der königlichen Fabrik Porzellan-
fabrikate im Betrage einer bestimmten Summe (bis 300 Taler)
zu kaufen, und diese Fabrikate, wenn auch mit Schaden, im
Auslande abzusetzen. Diese aufgezwungene Förderung der vater-
ländischen Industrie brachte den Juden Preußens im Zeiträume
von nur 8 Jahren (1779 — 87) Verluste aus gekauftem Porzellan
im Betrage von 100 000 Talern; bei denjenigen, die nicht kapital-
kräftig genug waren, um die ihnen aufgedrängte Ware zu be-
zahlen, wurden die Häuser gepfändet und verkauft. Und auch
nach allen diesen Eintreibungen blieben dm Juden der Staats-
kasse eine beträchtliche Summe schuldig (im Jahre 1786:
52 000 Taler). Erst im Jahre 1788 befreiten sich die jüdischen
Gemeinden durch Zahlung einer einmaligen Abfindimgssumme
von dieser Porzellansteuer- Das Berliner Porzellan der könig-
lichen Manufaktur war im In- und Auslande unter der ironischen
Benennung „Juden-Porzellan" bekannt.
Welches waren denn die Rechte, die den Juden als Entgelt
für alle diese schweren Opfer zugunsten der Staatskasse geboten
wurden ? Trotz des Überflusses an freiem Ackerland in dem da-
maligen Preußen war den Juden der Ackerbau verwehrt; I^än-
dereien und landwirtschaftliche Betriebe zu erwerben oder auch
bloß in Pacht zu nahmen, war ihnen verboten, ebenfallg war
ihnen untersagt, Branntweinbrennereien und Bierbrauereien
zu besitzen. Die in allen Städten sich breit machenden Ge-
werbezünfte schnitten den Juden den Zutritt zu jeglichem
Gewerbe ab und nahmen keine jüdischen Kinder als Lehrlinge
auf. Selbst auf dem den Judei\ zur Verfügtmg gestellten Gebiete
18
des Handels blieben ihnen ganze Zweige verschlossen (der
Handel mit Lebensmitteln, der Hausiererhandel). In einigen
Handelsstädten (Stettin, Magdeburg, Kolberg, Elbing) war
ihnen überhaupt der Aufenthalt verboten. In dem den Juden
zugewiesenen Ansiedelungsrayon wachte die Administration
darüber, daß sie an Zahl nicht zimahmen. Selbst die „ordent-
lichen Schutzjuden" durften nicht mehr als zwei erwachsene
Kinder in das Register ihrer Familienangehörigen aufnehmen,
was darüber hinausging, mußte auswandern. Dies brachte den
Zerfall und den materiellen Ruin der Familie mit sich. Ein
Jude, aer sich irgendwelches Vermögen erworben, mußte einen
beträchtlichen Teil davon für die ausgewanderten Kinder, die
in fremden Landen ihren Unterhalt suchten, hergeben. Der
jüdische Famüienvater durfte sich nicht des Glückes erfreuen,
im Kreise der Seinigen, der Kinder und Enkel zu weüen. Er
war genötigt, sich von seinen Angehörigen zu trennen imd sein
Vermögen zu zersplittern. In Königsberg bestand die christliche
Kaufmannschaft darauf, daß den Juden keine neuen Begün-
stigungen hinsichtlich ihres Wohnrechts zuteü werden, damit
ihre Zahl nicht zunehme. Auf das Gesuch zweier jüdischer Kauf-
leute aus Berlin, Itzig und Ephraim, die um Schutz ihrer Handels-
rechte baten, schrieb Friedrich II. folgende barsche Resolution :
„Was wegen ihres Handels ist, behalten sie. Aber daß sie ganze
Fölkerschaften von Juden zu Breslau anbringen und ein gantzes
Jerusalem draus machen wollen, das kann nicht seynd." Der
König wachte sogar eifrig über alle Kuriositäten der alten
„Gesetzgebung" betreffs der Juden. Auf Gnmd eines unsinnigen
Ediktes vom Jahre 1737, das alle verheirateten Juden zum
Tragen eines Bartes verpflichtete, beantwortete er abschlägig
das Gesuch eines reichen Juden, der um die Erlaubnis, sich
den Bart abnehmen zu lassen, nachsuchte. Kein Wunder,
daß der berühmte Mirabeau, der im Todesjahre Friedrichs
(1786) Berlin besuchte, einige von seinen Gesetzen betreffs der
Juden ,, würdig eines Kannibalen ' nannte (loi digne d'un
canibale).
§ 4. Rechtlosigkeit und Aufklärung. Die Schmach der jü-
dischen Rechtlosigkeit in Preußen fiel besonders im letzten
Viertel des 18. Jahrhunderts auf, als sie sich in einen schroffen
Widerspruch zu dem kulturellen Erwachen der jüdischen Ge-
a* 19
Seilschaft unter dem Einflüsse der Aufkläningsbewegung der
Mendelssohnschen Epoche setzte. Mendelssohn selber, der die
Gedankenwelt eines beträchtlichen Teiles der deutschen Ge-
sellschaft beherrschte, der Prototypus Nathans des Weisen, war
in politischer Hinsicht ein rechtloser, geduldeter Jude, der das
Wohnrecht in Berlin als Buchhalter einer Fabrik genoß. Mar-
quis d'Argens, der zu Friedrich II. in freundschaftlichen Be-
ziehungen stand und Mendelssohn zugetan war, erkundigte
sich einmal über die rechtliche I<age des letzteren und erhielt
folgende Auskunft: Er genießt das Wohnrecht als Angestellter
bei dem Fabrikanten Bernhard. Wenn dieser ihn heute entläßt,
und er keinen anderen Schutz Juden findet, der ihn anstellen
sollte, so wird ihn die Polizei des Landes verweisen. Dem
Philosophen „verzieh" man seine Stammesangehörigkeit. Ein
interessantes Lebensbild entwirft uns ein Zeitgenosse, der das
erste Zusammentreffen des in Königsberg als Gast weilenden
Mendelssohn mit Kant schildert: „Ein kleiner verwachsener
Jude mit Spitzbart und starkem Höcker trat, ohne viel sich
um die Anwesenden zu bekümmern, doch mit ängstUch leisen
Schritten in den Hörsaal und blieb unfern der Eingangstüre
stehen. Wie gewöhnlich begannen Hohn und Spott, die zuletzt
in Schnalzen, Pfeifen xmd Stampfen übergingen; aber zum all-
gemeinen Erstaunen blieb der Fremde auf seinem Platze wie
festgebannt, mit einer eisigen Ruhe und hatte sich sogar, um
seinen Willen, den Professor zu erwarten, deutlich an den Tag
zu legen, eines leerstehenden Stuhles bedient und darauf Platz
genommen. Man näherte sich ihm, man fragte, er antwortete
kurz und artig; er wolle dableiben, um Kants Bekanntschaft
zu machen. Nur sein Erscheinen konnte endlich den Lärm be-
schwichtigen. Sein Vortrag lenkte die allgemeine Aufmerksam-
keit auf andere Dinge, und man ward so hingerissen, so versenkt
in das Meer von neuen Ideen, daß man der Erscheinung des
Juden längst nicht mehr gedachte, als dieser nach beendigtem
Kollegium sich mit einer Heftigiceit, die mit seinem früheren
Gleichmute seltsam kontrastierte, durch die Menge drängte,
um zum Katheder zu gelangen. Die Studierenden bemerkten
ihn kaum, als wieder das höhnische Gelächter erschallte, das
aber sogleich einer stummen Bewimdenmg wich, da Kant, nach-
dem er einen Augenblick den Fremden bedeutend betrachtet
20
und dieser einige Worte gesagt hatte, ihm mit Herzlichkeit die
Hand drückte imd dann in seine Arme schloß. Wie ein I^atif-
feiier ging es durch die Menge: »Moses Mendelssohn! Es ist der
jüdische Phüosoph aus Berlin!' und ehrerbietig büdeten die
Schüler eine Gasse, als die beiden Weltweisen Hand in Hand
den Hörsaal verließen."
Die deutsche Gesellschaft, die den Juden im allgemeinen ver-
achtete, machte für einzelne Personen eine Ausnahme. Ein ge-
wisser Teil der Gesellschaft stand unter dem mächtigen humani-
sierenden Einflüsse des im Jahre 1779 erschienenen „Nathan des
Weisen". In diesen Kreisen wurde der Jude nicht mehr mit dem
Kleinhändler identifiziert: in ihm erblickte man zuweilen die
Anlagen einer tiefen intellektuellen und ethischen Kultm. Das
obenerwähnte Werk von Dohm: „Über die bürgerliche Ver-
besserung der Juden" (1781) brachte ebenfalls vielen die Über-
zeugung bei, daß der Niedergang der jüdischen Masse und ihre
soziale Entfremdung vornehmlich auf ihrer Rechtlosigkeit tmd
bürgerlichen Erniedrigung beruhen. In den höheren Kreisen
der Berliner Gesellschaft machte sich schon dann eine Annähe-
rung zwischen Juden und Christen bemerkbar. Es war dies
nicht mehr jener intime Umgang, den vereinzelte Denker und
literarische Persönlichkeiten miteinander in dem bescheidenen
Häuschen Mendelssohns, in dem Kreise von Lessing, Nikolai
imd Gleim pflogen. In den 1780 er Jahren war der „Berliner
Salon" im Entstehen begriffen, wo sich die Vertreter der christ-
lichen und jüdischen Aristokratie zusammenfanden. Die jüdische
Geldaristokratie war eine neue Frucht der damaligen wirtschaft-
lichen Ordnung. Friedrich II., der die jüdische Masse im Klein-
gewerbe wirtschaftlich verkümmern ließ, förderte die jüdischen
Großkapitalisten in ihren Fabrik-, Bank- und Pachtuntemeh-
mungen. Viele Juden in Berlin, Königsberg und Breslau be-
reicherten sich an Heereslieferungen zur Zeit des Siebenjährigen
Krieges; die Regelung der königlichen Finanzen kam in einem
beträchtlichen Grade durch ihre Vermittelung zustande. Für
solche Personen machte allerdings der König eine Ausnahme
von dem harten „Judenreglement", indem er ihnen „General-
privilegien nach den Rechten christlicher Kaufleute" erteilte.
Auf diese Weise kamen die reichen Häuser der Ephraim, Itzig,
Gxmipertz und anderer auf. Während die Familienhäupter ganz
21
in ihren umfassenden geschäftlichen Unternehmungen auf-
gingen, eröffneten ihre Frauen und Kinder in reich eingerich-
teten Wohnungen „Salons" n^ch dem Muster der besten aristo-
kratischen und höfisdhen Salons von Berlin und suchten sogar
diese durch Eleganz tmd Üppigkeit in den Schatten zu stellen.
Die Türen dieser Salons standen den Vertretern der höheren
christlichen Gesellschaft weit offen. Als Hauptköder dieser Saloas
dienten die hübschen, gebüdeten Jüdinnen, die vom Drange
nach einer Berührung mit der deutschen Aristokratie ganz er-
griffen waren. Die Häuser der Bankiers Ephraim, Itzig, Cohen
imd Meier in Berlin wurden von preußischen Offizieren, Würden-
trägem und Diplomaten gerne besucht; hier wurden Liebesver-
hältnisse mit den freundlicheu Töchtern Israels angeknüpft,
die bereit waren, ihr Judentum für den Titel einer deutschen
Baronin oder einer preußischen Offiziersdame einzutauschen.
Um das Jahr 1786 tat sich in Berlin besonders der intelligente,
in literarischer Hinsicht bedeutende Salon der Henriette Herz
hervor — einer üppigen schönen Jüdin, der Frau des Arztes
Markus Herz, der ein Freund Mendelssohns war. In diesem
Jahre kam zufällig in den Herzschen Salon Graf Mirabeau, der
in einem diplomatischen Auftrage in Berlin weüte, und auf den
der Salon durch seineu Prunk einen gewaltigen Eindruck machte.
Aber die Glanzperiode des Salons fällt in die ersten Jahre der
französischen Revolution.
Die folgende, von einem Zeitgenossen erzählte Episode
illustriert das Verhalten der damaligen Berliner Gesellschaft
den Juden gegenüber. Im August des Jahres 1788 wurde im
Nationaltheater zu BerUn das Drama von Shakespeare ,,Der
Kaufmann von Venedig" aufgeführt. Der Schauspieler Fleck,
der den Shylok meisterhaft wiedergab, hatte nicht den Mut,
in dieser Rolle vor einem PubHkum, in deren Mitte sich nicht
wenige Juden befanden, ohne einleitende Entschuldigungen auf-
zutreten. Vor Beginn des Stückes deklamierte Fleck in Form
eines Prologs ein eigens zu diesem Zwecke verfaßtes Gedicht,
in welchem er darauf aufmerksam machte, daß es in der Ab-
sicht der Darsteller gar nicht liege, ,,die Glaubensgenossen
Mendelssohns" auf der Bühne zu verspotten; sie stellen auf der
Bühne in gleicher Weise die Tugenden und Laster der Christen
wie der Juden dar:
22
Kon das kluge Berlin die Glaabensgenossen des weisen
Mendelssohn höher zu schätzen anfängt; nun wir bei diesem
Volke (dessen Propheten und erste Gesetze wir ehren),
Männer sehen, gleich groß in Wissenschaften und Künsten, —
Wollen wir nun dies Volk durch Spott betrüben? . . .
Nein, dies wollen wir nicht. Wir schildern auch bübische Christen . . .
Wir tadeln der Klöster Zwang und Grausamkeit . . .
Im Nathan dem Weisen spielen die Christen die schlechtere Rolle;
Im Kaufmann Venedigs tun es die Juden . . .
Der zeitgenössische Chronist bemerkt jedoch dazu, daß dieses
zuvorkommende Verhalten den Juden gegenüber keinen An-
klang im Publikum fand, und daß bei den darauf folgenden Auf-
führungen der Prolog nicht mehr vorgetragen wurde. ,,Mit
Recht" — sagt er — ^ „äußerte man seine Unzufriedenheit dar-
über, daß die Juden sich eine Sonderstellung im Theater schaffen
wollten, wo alle Stände dargestellt werden, jeder in seinen ko-
mischen und ernsten Zügen."
Es gab einen Moment, wo den Juden in Preußen die Hoffnung
auf eine etwaige Verbesserung ihrer rechtlichen Lage winkte.
Es war dies um das Jahr 1786, als nach dem Tode des Schöpfers
des harten ,, Judenreglements", Friedrich II., Friedrich Wil-
helm II. den Thron bestieg — ein Herrscher mit minder despo-
tischen Neigungen, der im Honigmonate seiner Regiertmg
dem Generaldirektorium seinen Wülen kundtat, ,,daß die Lage
dieser verfolgten Nation nach Möglichkeit erleichtert werde".
Durch die gütigen Worte des Königs ermuntert, wandten sich
die Vorsteher der Berliner jüdischen Gemeinde an ihn mit einer
Bitte ,,voll Ehrfurcht und kindlichen Vertrauens" (6. Februar
1787): „Schon lange seufzen wir unter der Last unaufbringlicher
Abgaben und unter dem nicht weniger harten Druck der Ver-
achtung Beide haben unsere Nation herabgewürdigt und
uns gehindert, auf dem Wege der Geistesbüdung, der größeren
Industrie und jedet Art von Glückseligkeit Fortschritte zu ma-
chen . . . Ausgeschlossen von allem Nahrungserwerb, vom Hand-
werk, vom Ackerbau, von allen T^edienungen des Staates, bleibt
allein die Handlimg und auch diese noch mit viden Einschrän-
kungen das einzige Erwerbungsmittel unserer Kolonie." Des
weiteren weisen die Bittsteller darauf hin, daß „auch der Staat
gewinnen muß, wenn eine ansehnliche Kolonie, die bis jetzt in
Mutlosigkeit verstmken ist, durch eine mildere Behandlung zu
nützlicheren Untertanen umgebüdet wird." Die demütige Bitte
23
der jüdischen Vertreter ^g dahin, daß der König eine Kom-
mission einsetzen möchte, die in Gemeinschaft mit den Bevoll-
mächtigten der jüdischen Gemeinden die bestehende Gesetz-
gebung betreffs der Juden einer Prüfung imterziehe und einen
Entwurf über die Verbesserung ihrer staatsbürgerlichen I<age
ausarbeite.
Der König erfüllte die Bitte und erteilte dem Generaldirekto-
rium in diesem Sinne einen Befehl. Das letztere verfügte, daß die
jüdischen Gemeinden aus ihrer Mitte unverzüglich Bevoll-
mächtigte zu wählen haben, die der Kommission „die Wünsche
der gesamten Judenheit" vorlegen sollten. Am 17. Mai 1787
ging ein umfangreiches „imtertänigstes Promemoria" im
Namen „der Abgeordneten aller jüdischen Kolonien des preu-
ßischen Staates" der bei dem Generaldirektorium zu jener Zeit
gegründeten „Königlichen Kommission zur Reform des jüdi-
schen I^ebens" zu. In diesem Promemoria, in dem alle für die
Juden festgesetzten Rechtsbegrenzungen aufgezählt werden,
baten die Abgeordneten die Kommission, bei der Ausarbeitung
des Reformprojektes nicht von dem schändlichen Reglement
des Jahres 1750 auszugehen, sondern in Gemeinschaft mit den
jüdischen Abgeordneten einen auf den Prinzipien der Duldsam-
keit tmd der Achtung vor dem Menschen beruhenden Entwurf
zu verfassen.
Alle diese Bemühungen erzielten als nächstes Ergebnis zwei
partielle Steuererleichterungen: im Jahre 1787 wurde das schänd-
liche „Geleit" für Juden preußischer Staatsangehörigkeit ab-
geschafft, und im Jahre 1788 kam die Befreiung von der oben-
erwähnten tragikomischen Porzellansteuer zustande. Im System
der jüdischen Rechtlosigkeit selber hingegen vollzog sich keine
Wandlimg. Die vom Könige eingesetzte Beamtenkommission
erhielt vom Generaldirektorium eine vom alten Geiste der
Judenföindschaft imd Kasemendisziplin erfüllte Instruktion.
In dieser Instruktion wurden der Kommission folgende
Fingerzeige gegeben: ,,die Verbesserung ihres Zustandes muß
mit ihrer Nutzbarkeit für den Staat in genauem Verhältnis
stehen." Die Gewerbebeschränkungen müssen gemildert wer-
den, denn die Not drängt die Juden auf die Bahn unerlaubter
Bereicherungsmittel; andererseits aber könnte die Rechtserwei-
terung der Juden ohne die gleichzeitige Beseitigung ihrer „Ab-
24
sondening" dem Staate noch größeren Schaden zufügen. Daher
die Notwendigkeit, jede auf die Reform des jüdischen JLebens
hinzielende Absicht sorgfältig abzuwägen; die Rechtserleich-
terungen dürfen nur in strengster Abstufung eingeführt
werden, „bis ihre Kinder und Nachkommen für sich selbst und
für den Staat sich gänzlich oder zum größten Teil verbessert
haben werden." Nach einer derartigen Instruktion konnte man
freilich von der Kommission nur sehr wenig erwarten. Und in
der Tat, nach einer zweijährigen Beratimg arbeitete sie ein der-
artiges Reformprojekt aus (1789), daß selbst die demütigen
jüdischen Abgeordneten sich aufbäumten und erklärten, daß
sie es vorzögen, beim alten Reglement zu bleiben . . . Dieser
erbärmliche Kanzleiversuch fiel in das Jahr der großen franzö-
sischen Revolution!
§ 5. Österreich. Die Ohnmacht des aufgeklärten Absolutis-
mus in Hinsicht der Lösung der jüdischen Frage trat mit be-
sonderer Prägnanz im bedeutendsten Zentrum der westlichen
Judenheit — im Österreich der 1780 er Jahre zutage. Der streng
katholische Kaiser Joseph II. war zweifelsohne den Juden gegen-
über duldsamer gesinnt als der preußische „schlechte Protestant"
Friedrich II. Daher war auch die praktische Politik in der
jüdischen Frage in ihren Einzelheiten bei beiden Regenten ver-
schieden; aber über die Rolle der Juden ihi Staate teüten
sie dieselbe Ansicht. Wenn der König die Zügel der jüdi-
schen Rechtlosigkeit unter keinen Umständen loslassen wollte,
der Kaiser hingegen den Juden Duldsamkeit unter der Be-
dingung ihrer nationalen Entpersönlichung verhieß, so hatte
es seinen Grund darin, daß der eine die Juden für „unverbesser-
lich" hielt, der andere hingegen an die Möglichkeit glaubte, „sie
nutzbringend für den Staat zu machen". Aber das Korrektions-
system Österreichs war den Juden nicht leichter, als die starre
Judenfeindschaft der preußischen Regierung. Indem Joseph II.
Reformen einführte, nahm er mit der einen Hand mehr, als
er mit der anderen gab. Die Schattenseiten seines Regimes waren
um so empfindlicher, als deren Folgen sich auch für die dichten
Judenmassen in solchen Provinzen wie Böhmen, Mähren und
dem soeben von Polen losgetrennten Galizien fühlbar machten.
„Man wütde jedoch irren," s£^e ein Historiker, „weim man
annehmen wollte, daß Joseph II. in dem Juden den Menschen
25
würdigte, den er eben als Menschen mit den anderen Untertanen
gleichgestellt wissen wollte. Dies war nicht der Fall ... Er be-
trachtete die Juden sozusagen als ein Übel, das unschädlich ge-
macht werden muß, das Judentum als einen Ausbund von Tor-
heiten und Alfanzereien, und das Gemeindewesen als eine Art
geheime Gesellschaft, um den Staat auszubeuten." An der Spitze
des Toleranzpatentes für Wien befinden sich z. B. solche Para-
graphen: I. Die Juden in Wien bilden keine Gemeinde, und ist
ihnen der öffentliche Gottesdienst nicht gestattet. 2. Die Zahl
der Juden soll nicht vermehrt werden, und da, wo sie bisher
nicht ansässig waren, sollen sie auch jetzt nicht wohnen. Die
übrigen 23 Paragraphen des Patentes zerfallen in beschränkende
und begünstigende. Zu den ersteren gehören die nach preußischem
Muster aufgestellten Normen für den Aufenthalt der Juden in
Wien. Ein Jude aus einer österreichischen Provinz darf sich in
Wien nur auf Grund einer besonderen Genehmigung der Re-
gierung aufhalten, ein ausländischer Jude — auf Grund einer
Genehmigung seitens des Kaisers. Für das Wohnrecht wird von
jeder Famüie das „Toleranzgeld" erhoben, aber dieses Recht
erstreckt sich nicht auf die verheirateten Famüienangehörigen ;
in den Dörfern Niederösterreichs dürfen Juden nicht wohnen;
eine Ausnahme wird für solche Personen gemacht, die daselbst
Fabriken erbauen. Zu der Kategorie der begünstigenden Para-
graphen gehören: das Recht der Juden, ihre Kinder in allge-
meinen „normalen" und Realschulen unterzubringen, wie das
Recht, höhere Lehranstalten zu beziehen; Juden dürfen bei
christlichen Meistern in die Lehre gehen, um sich von ihnen in
allerhand Handwerken unterweisen zu lassen, ohne jedoch das
Recht auf den Titel eines Bürgers oder Meisters erreichen zu
können. Es wird den Juden gestattet, Großhandel zu treiben, In-
haber von Fabriken zu werden, unbewegliche Güter als Pfand
zu nehmen, ohne diese jedoch für Schulden sich aneignen zu
dürfen; die alten Bestimmungen betreffs einer besonderen
Tracht, des Verbotes, sich auf der Straße bis zur Mittagsstunde
an Sonn- und Feiertagen zu zeigen, öffentliche Belustigungen
und Promenaden zu besuchen u. dgl. m. werden abgeschafft;
abgeschafft wird ebenfalls die entehrende ,,Leibmauth".
Als Kompensation für alle diese Begünstigungen wurde eine
Reihe von Dekreten erlassen, die sämtlich darauf ausgingen,
26
die Autonomie der jüdischen Gemeinden zu vernichten, die
Sprache und nationale Kultur der Juden zu verdrängen. Das
„Toleranzedikt" verbot ihnen, die Geschäftsbücher und Korre-
spondenz in jüdischer Sprache (hebräischer und jüdisch-deut-
scher Umgangssprache) zu führen, die der offiziellen deutschen
Sprache Platz machen mußte. Durch ein Dekret vom 25. August
1783 schaffte der Kaiser das Rabbinergericht in Zivü- und geist-
lichen Angelegenheiten unter den Juden ab und unterstellte
sie der Rechtsprechung der allgemeinen Gerichte. Es war dies
ein harter Schlag für die jüdische Gemeindeselbstverwaltung.
Die Regierungsgewalt begann auch in das jüdische Eherecht
einzudringen: die Rabbiner waren in Angelegenheiten der Ehe-
schließung und Ehescheidung der Kontrolle der Zivilgewalten
unterstellt, denen es freistand, die Trauung oder Scheidung zu
verhindern (1785 — 1788). In solchen „Reformen" konnte die
jüdische Masse freilich nur einen gefährlichen Eingriff in jene
Freiheit ihrer inneren Lebensgestaltung erblicken, die sie selbst
in den Zeiten ihrer gänzlichen bürgerlichen Rechtlosigkeit genoß.
Nicht minder beunruhigend war für die jüdische Masse eine
andere Neuerung: die Heranziehung der Jugend zur Militär-
pflicht (1788). Es war dies das erste Beispiel der Aufnahme von
Juden in das Heer eines christlichen Staates Europas — ein
Beispiel, das die konservativen Kreise sowohl der christlichen
wie der jüdischen Gesellschaft entsetzte. Die österreichische
müitärische Aristokratie erblickte darin eine Herabsetzung des
Militärstandes; die jüdische Masse wiederum, die jahrhunderte-
lang den allgemeinen Staatsinteressen entfremdet und vieler
elementarer bürgerlicher Rechte beraubt war, konnte nicht um-
hin, bei dem Gedanken zu erschrecken, daß ihre Jugend in eine
fremde, meistens feindliche Umgebung hineingezogen wird, wo ihr
die Gefahr des Abfalls von ihrem Glauben und ihrer Nationalität
droht. Die Rekrutenaushebungen in den österreichischen, von
Juden bewohnten Provinzen boten ein herzzerreißendes Schau-
spiel. Eine von solchen Szenen — die Rekrutenaushebung im böh-
mischen Prag im Mai des Jahres 1789 — wird in einer zeit-
genössischen Zeitschrift geschüdert. In Prag wurden 25 jüdische
Rekruten ausgehoben. Der Tag ihrer Beförderung in die Armee
war ein Tag des Wehklagens: auf den den Kasernen anliegenden
Straßen weinten laut die Mütter, Schwestern und jungen
27
Gattinnen der Rekruten. Der berühmte Prager Rabbiner
R. Jecheskel Landau erschien in der Kaserne und hielt vor den
Rekruten eine Rede, in der er sie ermahnte, sich dem kaiser-
lichen Willen zu fügen und den militärischen Dienst ohne
Murren auf sich zu nehmen und sich zu bemühen, die Gesetze
des jüdischen Glaubens und insbesondere das tägliche Gebet
zu beobachten (dabei überreichte der Rabbiner jedem von ihnen
eine Rolle mit dem zur Verrichtung der Gebete nötigen Zubehör).
Der Rabbiner hob die politische Bedeutung des Momentes her-
vor, indem er darauf hinwies, daß die Erfüllung der schwersten
bürgerlichen Pflicht durch die Juden die Regierung bewegen
könne, „das jüdische Volk auch von den übrigen Fesseln zu be-
freien, die es noch immer drücken". Als der erregte Rabbiner
seine Rede mit dem Ausrufe schloß: „Gott segne und beschütze
euch" — füllten sich die Kaserne und der anliegende Hof mit
Schluchzen, die Rekruten warfen sich in die Knie vor dem greisen
Seelenhirten, als ob sie um Rettung flehten; den schluchzenden
Rabbiner, der nahe daran war, in Ohnfiiacht zu fallen, ver-
mochte man kaum fortzubringen. Man fühlte, daß hier irgendein
schwerer Riß vollzogen wurde, der früher eingetreten war, als
der Volksorganismus Zeit hatte, sich auf ihn vorzubereiten.
Konnten auch die alten Metropolen der Judenheit: Böhmen,
Mähren und insbesondere Galizien, das noch in den alten Tra-
ditionen des polnischen Regimes lebte und von der mehr tmd
mehr um sich greifenden chassidischen Bewegung erfaßt war —
in der Kaserne den Übergang zu besseren Zeiten erblicken?
In Böhmen bestand noch, auch in der „Reformepoche"
Josephs II., die alte Normierung der jüdischen Bevölkerung: die
letztere war begrenzt durch die Zahl von 8600 Familien; in
Mähren war die Norm bis auf 5400 gebracht worden; eine neue
Ehe wurde nur in den Grenzen dieser Norm zugelassen; die Ein-
wanderung der Juden aus anderen Provinzen unterlag vielen
Schwierigkeiten. Doch wurde die Sphäre der industriellen Tätig-
keit für die „geduldeten" Juden bedeutend erweitert. Die
Fabrikindustrie wurde zu jener Zeit von der Regierung gefördert
und entwickelt: von den 58 Manufakturfabriken Böhmens be-
fanden sich mehr als 15 in jüdischen Händen. In Prag waren
Tausende christlicher Arbeiter in jüdischen Fabriken beschäftigt.
Gemäß den Vorschriften Josephs II. schmälerte die Regierung
28
auf jede Weise die Funktionen der jüdischen Selbstverwaltung,
aber die Grundlagen der Autonomie blieben gewahrt. Eine große
autonome Gemeinde befand sich in Prag, aufs äußerste zu-
sammengedrängt in den 300 Häusern ihres Viertels. Im mäh-
rischen Nikolsburg hatte sich noch das Institut des „Bezirks-
rabbinats" erhalten.
Die „reformierenden" Experimente Josephs II. hatten ins-
besondere für Galizien schwere Rückwirktmgen im Gefolge:
Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Bau, der sich in der
langen Reihe der Geschlechter imter polnischer Herrschaft ge-
festigt hatte, wurde im Verlaufe von 18 Jahren (1772 — 1790)
unnachsichtig zerklüftet. Das ganze Gefüge des Volkslebens in
dem angegliederten I^ande wollte man mit einem Male durch
Verordnungen aus Wien von Grund aus umgestalten; imter
dem Vorwande der „Verbesserung" verstümmelte man das I^ben
von Zehntausenden von Menschen. Da es im jüdischen Galizien
eine Sache der Unmöglichkeit war, die in Österreich beliebte
pharaonische Ehenormierung durchzuführen, erfand man einen
Ersatz dafür: Es wurde festgesetzt, daß die Juden bei jeder
Eheschließung eine Genehmigung vom Statthalter unter Ein-
zahlung einer beträchtlichen Steuer für diese einzuholen haben.
In der Folge wurde die Geldsteuer für die sich „bewerbenden"
Bräutigame durch die Verpflichtung ersetzt, ein Zeugnis über
die vor einer besonderen Kommission bestandene Prüfung in
Deutsch vorzuweisen. Gänzlich zerrüttet wurde der wirtschaft-
liche Wohlstand der Juden in Galizien durch eine Reihe von Ver-
ordnungen, die das Schankgewerbe und die Pachtung von land-
wirtschaftlichen Betrieben — Beschäftigungen, die nicht we-
niger als ein Drittel der galizischen Judenheit (1776, 1784 — 85)
ernährten — zunächst beschränkten imd dann untersagten. Zehn-
tausende von Menschen wurden brotlos und kamen an den
Bettelstab, die mittellosen und gänzlich Verarmten aber, die
drei Jahre hintereinander keine Kopfsteuer zahlten, wurden von
der Regierung des I^andes verwiesen und nach Polen geschafft.
Die Versuche Josephs II., die Juden an die Landarbeit heran-
zuziehen, fanden Anklang unter dem enterbten Landvolk, aber
die Regierung war außerstande, alle sich darum bewerbenden
mit Grund und Boden zu versehen, da sie zur selben Zeit damit
beschäftigt war, auf ihren polnischen Grenzgebieten Deutsche
29
anzusiedeln. Gleichen Schritt damit hielt die Zerstörving der
komplizierten Geineindeorganisation der Juden in Galizien. Nach
einer Reihe von Versuchen, in Lemberg ein dem Staate unter-
stelltes Bezirksrabbinat zu schaffen und die Funktionen der
Gemeinde zu schmälern, wurde den Rabbinern und den Ge-
meinden jede außerhalb der Sphäre der rein religiösen Angelegen-
heiten stehende Gewalt genommen. Unter solchen Umständen
nahm das Mißtrauen der jüdischen Massen gegenüber der öster-
reichischen Regierung immer zu — und in solchen „Reformen",
wie der Heranziehung der Juden zur persönlichen Wehrpflicht
und dem an sie ergehenden Lockruf, in die allgemeinen Schulen
einzutreten, konnte man in Galizien nur Manifestationen der
alten böswilligen, zerstörenden Politik erblicken.
Übrigens machte die Regierung kein Hehl aus ihrem End-
zweck — der Vernichtung der nationalen Eigenart der Judenheit.
In einer Reihe von Dekreten betonte Joseph II, diese Tendenz
sehr bestimmt. In der der Denkschrift der Hofkanzlei über das
neue Reglement für die galizischen Juden beigelegten Resolution
(1788) formulierte der Kaiser seine Ansicht über die Judenfrage
folgendermaßen: ,,Aus diesem so mühsam als schon langeher
immer complicirten Juden-Patententwurfe kann unmöglich was
Zweckmäßiges, was Gedeihliches entstehen, wenn man sich in
alle, theils von Moses hergeleiteten, theüs seither ganz ver-
kehrten jüdischen Gesetze tmd Gebräuche einlassen, selbe er-
gründen und mit den allgemein bestehenden Anordnungen nur
verbinden will . . . Ihre Religionsübungen imd Gebräuche, die
nicht wider die allgemeinen Gesetze streiten, können sie unge-
stört fortsetzen, die aber dagegen streiten, das wäre alsdann
jedem frei zu lassen, entweder von seinen Religionsgebräuchen
nach Zeit und Umständen als eine Ausnahme sich zu entfernen,
oder aber den Vorrechten, die er als Bürger des Staates genießt,
zu entsagen und mit Zahlung des Abfahrtsgeldes außer Land
zu gehen , . ." Eine derartige Instruktion, — die für die ,, Duld-
samkeit" der Epoche des aufgeklärten Absolutismus bezeich-
nend ist — gab der Verwaltung ein gefährliches Werkzeug des
Eingriffes in das geistige Leben der Bürger in die Hand; folge-
richtig auf die patriarchalische Lebensordnung der galizischen
Judenheit angewandt, konnte sie zu den größten Gewissens-
vergewaltigungen führen. Zu Lebzeiten Josephs II. kam dieses
30
System der Reglementierung der inneren Lebensgestaltimg nicht
dazu, sich in der Praxis voll und ganz zu äußern (der Kaiser
starb im Jahre 1790); aber in dem darauffolgenden Zeitabschnitt
wird es die Maske der wohlwollenden Reform abstreifen und
unter Zuhilfenahme der Machtmittel des Polizeistaates sein
Werk der Kulturvergcwaltigung verrichten, „Zuerst die na-
tionale Entpersönlichung, dann die bürgerliche Gleichberech-
tigung" — so lautete die Losung dieser Politik, Von den bürger-
lichen Reformen Josephs II, wird nichts zurückbleiben, aber sein
Bevormundungssystem wird zu einem Bestandteüe der admini-
strativen Praxis Österreichs werden. Nur dem nicht genügend
scharfblickenden Häuflein der „Aufgeklärten" aus der Mendels-
sohnschen Schule, das an die Möglichkeit glaubte, ein Geschlecht
von gebildeten und folglich gleichberechtigten jüdischen Bür-
gern mit Hufe der offiziellen „Normalschulen" zu schaffen,
konnte die zehnjährige Regierungszeit Josephs II. als der An-
fang der Emanzipation erscheinen. Übrigens erfreute sich eine
kleine, ihrem Volke femstehende Gruppe von Juden in Wirk-
lichkeit beinahe der Gleichberechtigung: es war dies die Gruppe
der aristokratischen Famüien in Wien, die durch finanzielle
Operationen mit dem Hofe und den höheren Würdenträgern ver-
knüpft waren. Der „Berliner Salon" hatte seine Füiale in Wien:
hier waltete die junge Baronin Fanny von Amstein, die Tochter
des Berliner Kaufmanns und des Oberhauptes der jüdischen
Gemeinde, Daniel Itzig; Joseph II. kannte und schätzte die
Baronin, die in der Folge eine ansehnliche Rolle in den diplo-
matischen Kreisen Wiens spielte.
Die Regierungspolitik Ungarns glich kurz vor dem Jahre
1789 ungefähr derjenigen Österreichs. Das „Toleranzedikt"
Josephs II. paßte sich hier imter dem Namen „Systematica
gentis judaicae regulatio" (1783) den lokalen Verhältnissen an.
Die 80 000 ungarischen Juden, die früher das enge Gebiet
einiger städtischer Bezirke bewohnten, erhielten das beständige
oder provisorische Wohnrecht in den königlichen freien Städten,
mit Ausnahme der Bergbauzentren. Doch blieb noch für sie die
Zahl der ihnen zugänglichen Gewerbe knapp bemessen und der
Druck der Staatssteuem ungemein hart. Die Rechtserweiterung
war von der Erfüllung des „Aufklärungsprogramms" Josephs IL
abhängig gemacht: Es wurde bekannt gegeben, daß nach
31
Ablauf von lo Jahren von jedem Unternehmer, der im Begriffe
ist, irgendein Geschäft zu eröffnen, die Vorweisung eines die
Absolvierung eines Kurses der Normalschule bestätigenden
Zeugnisses gefordert werden wird. Die Kulturbevormundung
nahm mitunter gar seltsame Formen an. Unter den durch die
kaiserliche Verfügung vorgeschriebenen Reformen betand sich
die den Juden auferlegte Verpflichtung, sich den Bart zu rasieren.
Da dieser Umstand die Verletzung eines Brauches im Gefolge
hatte, so erging kurz darauf an den Kaiser eine Bittschrift der
ungarischen Juden, sich den Bart wachsen lassen zu dürfen,
indem sie sich dabei auf das verkündete Prinzip der Glaubens-
freiheit beriefen. Die Bitte wurde beachtet . . . Der alters-
schwache Kaiser zeigte sich auf diese Weise nachgiebiger als
der preußische König Friedrich II., der den freidenkerischen
Berlinern das Bartrasieren nicht gestattete, da er von einer
entgegengesetzten Ansicht über die Bedeutung des jüdischen
Bartes ausging (oben, § 3).
§ 6. Frankreich. In Frankreich bestand vor der Revolution
für die Juden ein „Ansiedelungsrayon": die Provinz Elsaß
(außer der Stadt Straßburg) und ein Teil von Lothringen (die
Städte Metz und Nancy). Das ganze übrige Territorium des
Reiches war den Juden entweder völlig verschlossen oder nur
in beschränktem Maße zugänglich. Die Nachkommen der spa-
nischen Juden, die Sephardim, bewohnten den Süden Frank-
reichs — die industriellen Zentren Bordeaux und Marseille, die
Bretagne und Bayonne. Nachdem sie in diese Gebiete anfangs
unter dem Deckmantel der ,,Marranen" oder ,, neuen Christen"
eingednmgen waren, streiften sie in der Folge die äußere Hülle
von sich ab und zwangen die Regierung, das bereits Geschehene
anzuerkennen. Hatte sich aber die zentrale Regierung mit der
Tatsache des Aufenthaltes der Juden in den verbotenen Gebieten
abgefunden, so taten die Lokalbehörden, die Munizipalitäten
und die kaufmännischen Zünfte ihr Möglichstes, um „die sich
auf imgesetzlichem Wege Aufhaltenden" aus allen den Zentren
zu • verdrängen, in denen sich ihre Handelskonkurrenz der
christlichen Kaufmannschaft fühlbar machte. Im Jahre 1773
erwirkten die christlichen Kaufleute von Nantes beim König
einen Erlaß, der die Ausweisimg der jüdischen Kaufleute aus
dieser Stadt verordnete. Infolge eines Rechtsstreites, den der
32
Metzer Jude Creange mit zwei Beamten aus Brest führte, ver-
fügte das Parlament von Rennes, „den Juden Creange imd alle
sich gegenwärtig in der Bretagne aufhaltenden Juden nach
ihren ständigen Wohnsitzen auszuweisen", und zwar innerhalb
zweier Wochen. Feste Wurzeln hatte nur die große jüdische
Kolonie in Bordeaux gefaßt, die vorwiegend aus Großkaufleuten
und Bankiers bestand, welche Finanzoperationen mit dem
königlichen Hofe unterhielten. Unter I^udwig XVI. errangen die
Juden von Bordeaux das Recht, auf dem ganzen Territorium
Frankreichs zu wohnen imd Handel zu treiben (1776). Die
königliche Schatzkammer hatte davon keinen Schaden : hundert-
tausende von Livres wurden für die Vorrechte eingezahlt, und
im Jahre 1782 brachten die dankbaren Juden von Bordeaux
mehr als 60 000 Livres zusammen imd kauften dafür ein Kriegs-
schiff, das sie dem König zum Geschenk machten. Ein anderes
jüdisches Zentrum hatte sich in Avignon erhalten, das noch
kurz vor der großen Revolution unter der Botmäßigkeit der
römischen Päpste stand. Hier herrschten mittelalterliche Ver-
hältnisse: die Juden bewohnten ein besonderes Viertel (carriere
des juifs) und standen unter der Aufsicht der päpstlichen In-
quisition; Jesuiten und Domiidkanermönche erschienen im
Ghetto und hielten an Sabbaten in der Synagoge Predigten
über die Heüsamkeit des Christentums und die Verderblichkeit
des Judentums. Nicht selten geschah es, daß kleine Judenkinder
entführt, in Klöster gebracht und zum Christentum bekehrt
wurden, ungeachtet aller Proteste der unglücklichen Eltern.
Die Hauptmasse der französischen Judenheit konzentrierte
sich in den nordöstlichen Provinzen des Königreichs — im Elsaß
und einem Teil von Lothringen ^). In den zwei Städten Lothrin-
gens, in Metz und Nancy nebst Umgebung, war die Zahl der
Juden streng normiert: in der ersteren auf 480 Familien, in der
*) Nach der Volkszählung von 1784 gab es im Elsaß 19 524 Juden; zu dieser
Zahl wären noch viele Juden hinzuzurechnen, die infolge der strengen Wohn-
rechtsgesetze nicht registriert worden sind. Rechnet man die 480 jüdischen
Familien, die nach der gesetzlichen Norm in Metz, und die 180 Familien, die im
Kreise von Nancy wohnten (insgesamt etwa 4000 Seelen) hinzu, so erhält tuan
für die gesamte jüdische Bevölkerung von Elsaß-Ivothringen die Zahl 40 000,
In ganz Frankreich gab es am Vorabend der Revolution von 1789 etwa 50 000
Juden (vgl. Glaser, Geschichte der Juden in Straßburg 1894, S. 81 — 82 und
die anderen am Schlüsse des Bandes zu diesem § angegebenen Quellen).
3 Dubnow, Geschichte der Juden I 33
zweiten auf i8o. Von Zeit zu Zeit pflegte eine Säuberung vor-
genommen zu werden: die auf dem Wege des natürlichen Zu-
wachses öder aer geheimen Einwanderung hinzugekommenen
überzähligen Familien wurden vertrieben. Am Ende des i8. Jahr-
hunderts bildete das Ghetto von Metz dasselbe düstere Nest von
Ausgestoßenen, wie zu Beginn des Jahrhunderts: dieselbe Enge
und derselbe Schmutz eines abgeschlossenen Viertels, dieselben
ruinierenden Steuern für das Wohnrecht (droit d'habitation ;
eine jährliche Abgabensumme im Betrage von 20 000 Livres
wurde noch in den ersten Jahren der Revolution zugunsten der
Nachkommen des Herzogs Brauca und der Gräfin Fontaigne
erhoben), die demütigende Abgabe zugunsten der lokalen Pfarr-
kirchen, und dann — das Verbot, sich in der Stadt an Sonn-
und Feiertagen zu zeigen u. dgl, m. — alles wie im Frankfurter
Ghetto, abgesehen von einigen Variationen.
Die jüdische Bevölkerung vom Elsaß war über zweihundert
Städte und Dörfer zerstreut, aber in der Hauptstadt, Straßburg,
war den Juden der ständige Aufenthalt verboten. Ein altes
Privilegium, das die Stadt zur Zeit des schwarzen Todes (1349)
erhalten hatte, gab dem Magistrat das Recht, keinem einzigen
Juden den Zutritt zu gewähren — und gegen dieses Vorrecht
erwiesen sich selbst die den Juden freundlichen Bemühungen
der Könige ohnmächtig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts wurde den Juden der Aufenthalt in Straßburg ge-
stattet, aber nur auf der Durchreise, um zu übernachten, ge-
schäftshalber, für einige Tage und mit jedesmaliger besonderer
Genehmigung der Polizei. Dabei mußte jeder Ankömmling eine
ganze Reihe demütigender Prozeduren durchmachen; am Stadt-
tor entrichtete er einen für Vieh festgesetzten Passierzoll (peage
corporel, dem deutschen Leibzoll entsprechend); in den Besitz
des Passierscheines gelangt, durfte er nur in einige, eigens für
diesen Zweck bestimmte Herbergen einkehren, und die Polizei
paßte auf, daß er nach Ablauf der ihm gewährten Frist die
Stadt verließ. Charakteristisch ist die polizeUiche Verordnung,
die in Straßburg im November 1780 erlassen wurde: „Die Rich-
ter der Polizeikammer haben bemerkt, daß einige Bürger sich
unterstehen, vom Gelderwerb verlockt und ohne die schlimmen
Folgen zu bedenken, an Juden Zimmer und Wohnungen in
ihren Häusern zu vermieten, was eine sehr gefährliche Annähe-
34
rung und Vertraulichkeit zwischen den Christen und der jüdi-
schen Nation bewirkt und den alten Reglements, die jedem
Juden ausdrücklich verbieten, unter dem gleichen Dache mit
Christen zu wohnen, strikt zuwiderläuft. Um diesen durch seine
Folgen so gefährlichen Mißbrauch abzustellen, verbieten wir
allen Bürgern unter Androhung einer Strafe von 150 Livres,
den Juden Häuser, Geschäfte oder irgendwelche Räume zu ver-
nüeten. Wir befehlen (den Bürgern), die Juden, die bei ihnen zu
mieten begehren oder um Nachtquartier bitten, an die Orte zu
schicken, die ihnen gestattet und hierfür bestimmt sind . . . Da-
mit niemand sich auf die Nichtkenntnis dieser Verordnxmg be-
rufen kann, verordnen wir, sie in zwei Sprachen zu drucken
und anzuschlagen." Straßburg, der Mittelpunkt des „Ansied-
lungsrayons" vom Elsaß, blieb auf diese Weise den Juden ver-
schlossen ebenso wie es später im russischen Ghetto die Stadt
Kijew war. Spezielle Herbergen für zugereiste Juden, die ,, Treib-
jagd" der Polizei gegen die sich ungesetzhch Aufhaltenden —
dies alles machte die Stadt am Rhein der Stadt am Dniepr zur
Zeit der „alten Ordnung" ähnhch. Wie eifrig dafür gesorgt
wurde, die Stadt Straßburg vor einer „Judeninvasion" zu be-
wahren, ist aus der folgenden Episode zu ersehen. Ein reicher
Jude, der königUche Heereslieferant, Herz Cerf-Berr aus Bis-
heim bemühte sich bei den Stadtbehörden um die Erlaubnis,
während des Winters in Straßburg zu verbleiben, da die Wege
durch umherstreifende Räuber imsicher gemacht seien und es
gefährlich wäre, in Geschäften nach der Stadt zu fahren und
von dorther zurückzukehren. Die Behörde verweigerte die Er-
laubnis. Da intervenierte der bekannte Staatsmann, der Herzog
Choiseul, der in einem an den Stadtrat gerichteten Schreiben
nachwies, daß der Aufenthalt eines unter wachsamer polizeilicher
Aufsicht stehenden jüdischen Kaufmannes während des einen
Winters keinen Schaden anrichten könne. Und nur dem Drucke
des allmächtigen Ministers nachgebend, ließen die lokalen Be-
hörden den Berr in Ruhe. Einige Jahre nach diesem Ereignis
mußten sie sich eine schärfere Abweichung von dem mittelalter-
lichen Reglement gefallen lassen. Als Entgelt für die dem Heere
und der Regierung erwiesenen Dienste erteilte der König dem
Cerf-Berr und seiner Familie ein Naturalisationspatent und das
unbeschränkte Wohnrecht im ganzen Lande. Der Stadtrat von
3* 35
Straßburg, das Berr zu seinem Wohnsitz wählte, suchte ihm an-
fangs den Erwerb von unbeweglichen Gütern möglichst zu er-
schweren, fügte sich aber schließlich doch, wenn auch mit ver-
haltenem GroU dem Willen des Königs. Und so kam es, daß die
Volkszählung im Jahre 1787 — zum nicht geringen Entsetzen
der Väter der Stadt — vier jüdische Familien, aus 68 Personen
bestehend, aufwies. Es waren dies die Familien des Cerf-Berr
und seiner Verwandten, seine Handelsgehüfen imd Dienstboten.
Aber die große Masse der Elsässer Juden blieb unnaturalisiert :
sie bildeten eine Gruppe recht- und schutzloser Ausländer, die
nur geduldet waren. In den Dörfern und herrschaftlichen Städt-
chen verdankten sie das Wohnrecht der Gunst der feudalen
Gutsherrn oder der Seigneurs, die für dieses ,, droit d'habita-
tion" drückende Steuern erhoben. Durch eine Reihe von Ge-
werbebeschränkungen wurde die jüdische Masse in das Gebiet
des Kleinhandels und des Wuchers hineingetrieben. Die in den
Dörfern wohnenden Juden gaben den Bauern Darlehen auf
Getreide und Trauben; in den Städten und Dörfern traten sie
als die Gläubiger der Kleinbürger und der Handwerker auf. Der
christliche Schiüdner, dem die unsichere rechtliche Lage des Juden,
den man zu jeder Zeit aus jedem Orte hinausekeln konnte, be-
kannt war, nahm das Darlehen, ohne je an die Rückerstatttmg
zu denken. Dadurch stieg das Risiko des Gläubigers, der sich ge-
nötigt sah, Wucherzinsen zu nehmen. Daraus resultierte eine
Reihe von Zusammenstößen und Rechtsstreitigkeiten, die un-
glückliche Lage des Juden als eines „ausgebeuteten Ausbeuters",
die allgemeine Verachtung, die man ihm entgegenbracTite, und
die Gleichsetzung der Worte „Jude" und „Wucherer" (usurier).
Auf diesem Boden entstand die berühmte Affaire des Juden-
feindes Hell, eines elsässischen Landrichters, der eine Massen-
fälschung von Zahltmgsquittungen organisierte, die zur Tilgung
der von Christen an Juden ausgestellten Schuldscheine dienten.
Hell büßte für seinen Betrug, indem er durch einen königlichen
Erlaß aus dem Elsaß ausgewiesen wurde (1780), aber Hunderte
jüdischer Familien waren ruiniert.
Die alte Ordnung erreichte ihr Ziel: sie machte den Juden zu-
erst zu einem rechtlosen, dann zu einem verachteten Wesen.
Man zwang den Juden, alles zu kaufen: das Wohnrecht, das
Recht, ein Gewerbe auszuüben und das Recht der Freizügigkeit;
36
man zwang ihn^ für jeden Atemzug, den er tat, für jede Spanne
Erde, auf der ihm zu stehen gestattet war, zu zahlen. Was blieb
ihm anderes übrig, als gierig nach Geld zu streben, für das er
sich Rechte kaufen konnte, welche andere ohne Geld besaßen?
Die adligen Gutsbesitzer oder Seigneurs preßten aus den auf
ihren Besitztümern lebenden Juden die letzten Säfte aus. Wäh-
rend so ein Seigneur einem Juden gegen eine große alljährliche
Abgabe das „Wohnrecht" gewährte, garantierte er dessen Kin-
dern, wenn diese aufwuchsen, dieses Recht nicht; ein erwachsener
Sohn mußte oft das väterliche Haus verlassen, wenn der Seigneur
ihm das Wohnrecht versagte. Und wenn die Juden sich über
solche Willkür beim Obersten Rat vom Elsaß (Conseü souverain
d'Alsace) beschwerten, bekamen sie von dieser höchsten Ver-
waltungsbehörde des Landes Antworten wie diese: „Der Jude
hat keinen ständigen Wohnsitz; er ist zur ewigen Wanderschaft
verurteilt. Dieses Schicksal verfolgt ihn überall und sagt ihm,
daß er sich nirgends dauernde Ansässigkeit gestatten darf.
Darum ist es empörend (revoltant), wenn ein Angehöriger dieser
verurteüten Nation (nation proscrite) einen Seigneur zwingen
will, ihn anzuerkennen und ihm das Schutzrecht nur aus dem
Grunde zu gewähren, weil der Seigneur die Gnade hatte, den
Vater dieses Juden auf seinen Besitzungen zu dulden, und weil
dieser Jude da geboren ist . . . Der Jude ist weder Bürger noch
Städter (ni citoyen, ni bourgeois); das Wohnrecht in jedem
Einzelfalle kann ihm nur der Seigneur verleihen, der auch be-
fugt ist, ihn, wenn nötig, auszuweisen."
Im Jahre 1784 machte die Regierung einige Schritte zur Er-
leichterung der Lage der Juden. Im Januar dieses Jahres wurde
durch ein Dekret des Königs Ludwigs XVI. der Leibzoll (peage
corporel), d. h. der Zoll, der von den durch die Provinz Elsaß
durchreisenden Juden erhoben wurde und sie ,, Tieren gleich-
stellte" (qui les assimile aux animaux) abgeschafft. Aber im Juli
des gleichen Jahres wurde ein neues königliches Reglement für
die Elsässer Juden veröffentlicht, durch das der Monarch alle
auf den Juden lastenden, von feudalen und bürgerlichen Juden-
feinden erfundenen Beschränkungen und Repressionen zu einem
Gesetz erhob. Abgesehen von einigen Artikeln, die den Juden
eine gewisse Erweiterung der Gewerbefreiheit (in der Pacht von
Gütern, im Ackerbau und in der Fabrikindustrie) gewährten,
37
stellen alle Grundartikel des Reglements nur eine Kodifikation
der Rechtlosigkeit dar. Am auffälligsten ist die Tendenz, den
natürlichen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung zu hemmen.
Der erste Artikel lautet: „Diejenigen von den in der Provinz
Elsaß zerstreuten Juden, die im Augenblick der Veröffentlichung
des vorliegenden Reglements keinen ständigen Wohnsitz be-
sitzen und die Steuer für den Schutz (droit de protection) an
den König, die Steuer für die Zulassung und den Aufenthalt
(reception et habitation) an die Seigneurs und die Städte und
die Abgabe (contribution) an die Gemeinden nicht eingezahlt
haben, müssen diese Provinz innerhalb dreier Monate verlassen,
selbst wenn sie sich verpflichten, von nun an diese Steuern und
Abgaben zu zahlen; wenn sie aber im Lande bleiben, so ist mit
ihnen wie mit Landstreichern und gewissenlosen Menschen
(vagabonds et gens sans aveu) nach der ganzen Strenge der
Ordonnances zu verfahren." Die folgenden Artikel verbieten den
Seigneurs, Städten und Gemeinden, ausländischen Juden stän-
digen Wohnsitz zu gewähren; die letzteren dürfen sich im Elsaß
nur in geschäftlichen Angelegenheiten höchstens drei Monate
lang aufhalten, falls sie eine Bestätigung über ihre Persönlich-
keit und den Zweck der Reise von der Behörde des Ortes, aus
dem sie kommen, vorweisen. Das neue Gesetz schützt das Land
vor dem Zuzug fremder Juden und normiert zugleich ihren natür-
lichen Zuwachs. Allen Elsässer Juden und Jüdinnen wird ver-
boten, ohne eine ausdrückliche Genehmigung des Königs, selbst
auf feudalen Besitztümern Ehen einzugehen; Zuwiderhandelnde
werden des Landes verwiesen ; den Rabbinern wird bei An-
drohung einer Strafe von 3000 Livres — im Wiederholungs-
falle der Ausweisung aus der Provinz — verboten Eheschlie-
ßungen ohne eine solche Genehmigung vorzimehmen.
Durch diesen in den „liberalen" Regierungsjahren Lud-
wigs XVI. veröffentlichten Erlaß wurde also das schmachvolle
System, das die Juden zu Leibeigenen machte, legitimiert. Die
jüdische Bevölkerung von Elsaß stöhnte auch weiter unter der
väterlichen Vormundschaft der Seigneurs und der Stadtbehörden.
Kühnere Juden suchten dieses Reich der feudalen Sklavenhalter
zu fliehen und nach den größeren Zentren, besonders nach der
Hauptstadt des Landes, Paris, zu kommen. Hier standen ihnen
aber neue Erniedrigungen bevor. Die Hauptstadt befand sich
38
außerhalb des „Ansiedlungsrayons", und mit den ankommenden
Juden wurde in Paris ebenso verfahren, wie in unseren Tagen
in Petersburg oder Moskau. Sie standen hier unter der Aufsicht
einer eigenen „Inspektion für Juden und Vagabunden" (in-
spection des escrocs et des juifs). Zur Erlangung einer Geneh-
migung für zeitweiligen Aufenthalt in Paris mußten die Juden
schriftliche Beweise über den Zweck ihrer Reise vorzeigen. Die
Polizeikommissare kamen jede Woche oder alle vierzehn Tage
in die von Juden bewohnten Gasthäuser und Herbergen, mach-
ten Haussuchungen, nahmen die „Verdächtigen" mit und
schleppten solche, die keine Ausweise über das Wohnrecht
hatten, ins Gefängnis. Solche „Treibjagden" wurden gewöhn-
lich abends oder sogar nachts abgehalten. Auf den Polizei-
revieren spielten sich Szenen wie die folgende ab: ,, Womit be-
schäftigt sich dieser?" fragt der Polizeibeamte. „Er ist Tröd-
ler" antwortet der Schutzmann. — „Gut, der kommt ins Ge-
fängnis. Und dieser?" — ,,Leon Caguin, wohnt in der Rue
St. Martin, ist nach Paris gekommen, um ein Lieferungsgeschäft
mit dem Grenadierregiment abzuschließen; wird nach einigen
Tagen verreisen." — „Gut. Wenn er aber über die festgesetzte
Frist hinaus bleibt, kommt er ins Gefängnis! Der Dritte?" —
,,Ein Kaffeemahler." — „Der folgende?" — ,, Steht in schlech-
tem Ruf." — ,, Ausweisen! Und der letzte?" — „Alexandre
Jacob aus der Rue Moduet, Faktor, hat keinen Paß ..." —
„Ausweisen! Jagen Sie auch die andern fort! Alle ausweisen!"
Trotz aller Verbote imd Verfolgungen bestand in Paris doch
eine ständige jüdische Kolonie, die um 1780 herum an die 800
Seelen zählte. Die Zusammensetzung dieser Kolonie war recht
bunt. Eine privilegierte Stellung nahmen die Juden aus dem
Süden, die Sephardim ein, hauptsächlich Großkaufleute aus
Bordeaux; an der Spitze dieser Gruppe stand der bekannte
Philantrop, der Begründer der Taubstummenanstalt, Jakob-
Rodrigues Pereira. Die niedrigste Stufe in der Kolonie nahmen
die Aschkenasim, elsässische und deutsch-polnische Juden, ein.
Vom Jahre 1777 ab waren alle nach Paris kommenden Juden
durch einen Erlaß des Polizeidirektors verpflichtet, ihre Papiere
(die Empfehlungsschreiben der Notabein ihrer Gemeinden) dem
Pereira vorzuweisen, der eine genaue Liste über die Neuan-
kommenden führte und diese periodisch der Polizeibehörde vor-
39
wies; diese jüdische Inspektion war den Aschkenasim besonders
lästig, da Pereira sie viel strenger behandelte als seine Lands-
leute, die Sephardim. Die Polizeijagden auf die oablosen Juden
dauerten fort, und selbst in den ersten Monaten der Revolution
(Mai und Juni 1789) fanden in Paris mehrere Überfälle der
Polizei auf jüdische Quartiere statt.
Das Edikt von 1787, das den Nichtkatholiken volle Freiheit
in Handel und Industrie gewährte, erstreckte sich auf Pro-
testanten, aber nicht auf Juden. In den letzten Jahten vor der
Revolution wurde die jüdische Frage in einer Regierungs-
kommission, unter der Leitung des liberalen Ministers Males-
herbes behandelt; dieser Kommission gehörten auch Vertreter
der Juden an, von den Sephardim: die Juden aus Bordeaux,
Furtado, Gradis und andere; von den Aschkenasim: der er-
wähnte Cerf-Berr aus Straßburg und Jesaja-Beer Bing aus
Nancy. Die jüdischen Vertreter forderten bürgerliche Gleich-
berechtigung; die Regierung konnte sich aber zu einer so radi-
kalen Reform nicht entschließen, bis das Ungewitter von 1789
losbrach.
§ 7. Italien. Im Ghetto der Stadt Rom blieb ein dichter
Extrakt des Geistes des Mittelalters erhalten. Die päpstliche Re-
gienmg wies einigen Tausend Juden am niedrigen, schlammigen
Ufer des Tibers ein kasemattenartiges Viertel zu imd stellte an
ihnen qualvolle Experimente an. Am Ende des 18. Jahrhunderts,
als die durch die Angriffe der Vernunft bedrohte Kirthe sich
im Elriegszustande befand, erreichte die Härte dieser Experi-
mentatoren ihren Höhepunkt. Es hatte den Anschein als wolle
man sich an den erdrückten, eingeschüchterten Bewohnern des
römischen Ghetto für die Verunglimpfung der Kirche im Lande
Voltaires und der Enzyklopädisten rächen; unter diesem Häuflein
von Ungläubigen fahndete die Kirche nach Proselyten, gleich-
sam um ihre Verluste in der Herde der Gläubigen zu ersetzen.
„Das Edikt über die Juden" (Editto sopra gli Ebrei), das im
Jahre 1775 durch den Papst Pius VI. erlassen wurde, ge-
hört zu den unmenschlichsten Akten in der Geschichte der
Menschheit. In den 44 Paragraphen dieser „Verfassung des
Ghettos" konzentrierte sich das aus verschiedenen Bullen und
Kanons zusammengetragene Schlangengift des römischen Katho-
lizismus. Die Juden durften außerhalb des Ghettos nicht wohnen.
40
Am Tage war es ihnen gestattet, sich in ihren Angelegenheiten
in die Stadt zu begeben, aber daselbst zu übernachten war
ihnen unter Androhung einer Geldbuße und körperlicher Züch-
tigung untersagt. Die Pförtner an den Toren des jüdischen
Viertels durften von 9 Uhr nachts an niemand hinein- imd
hinauslassen. Außerhalb des Ghettos durften die Juden keine
Geschäfte betreiben; nur in seltenen Fällen wurde es ihnen frei-
gestellt, außerhalb des Ghettos oder in dessen Nähe ein Geschäft
zu eröffnen. Unter keinen Umständen durften die Juden sich
in der für den Sommeraufenthalt bestimmten Umgebung der
Stadt niederlassen, imd wäre es nur, um frische Luft zu atmen.
Ein Jude durfte in den Straßen Roms keine Wagen benutzen.
Die Juden beiderlei Geschlechts waren verpflichtet, immer imd
überall, außerhalb und innerhalb des Ghettos, „ein gelbes Ab-
zeichen zwecks Unterscheidung von den andern" zu tragen.
Die Männer nähten sich diesen gelben Fetzen an ihre Mützen,
die Frauen an ihren Kopfputz, wobei es den einen wie den
anderen tmtersagt war, das Abzeichen durch ein Tuch oder
eine Binde zu verdecken; wenn aber ein Jude in einer gewöhn-
lichen, nicht „vorgeschriebenen" Mütze aus dem Hause trat, so
mußte er sie in Händen tragen und entblößten Hauptes einher-
gehen. Für die Übertretung dieser Vorschriften wurden die
strengsten Strafen ,,nach Ermessen" festgesetzt. Den Juden war
untersagt-, an Christen Fleisch und Müch zu verkaufen, ihnen
Passahbrot (Mazzes) zu geben, sie als Diener und Ammen anzu-
stellen, christliche Hebammen beizuziehen, Christen in ihre Sy-
nagoge einzuführen, mit ihnen zu essen, zu trinken, zu spielen,
selbst sich mit ihnen in Häusern, Gasthäusern und Straßen zu
unterhalten — dies alles unter Androhung von körperlicher
Züchtigung und Geldbußen für beide Teile. Vor dem „ver-
derblichen" Einfluß der Ghettobewohner wurden besonders jene
von ihren unglücklichen Brüdern, Schwestern und Kindern be-
wahrt, die in die Falle det katholischen Missionare gerieten und
im „Katechumenenhause" wie in einem Gefängnisse saßen.
Unter der Androhung einer Geldbuße von 300 Skudis, der Ga-
leerenstrafe und „anderer körperlicher Züchtigimgen nach Er-
messen" war es den Juden tmtersagt, sich diesen Katechumenen-
häusem oder der Kirche zur Verkündung Maria zu nähern. Je-
dem Juden, der einen flüchtigen Katechumen oder Neubekehr-
. 41
ten bei sich beherbergte, drohte die Folterbank. Für die Wieder-
bekehrung dieser zum Judentum wurden die Schuldigen mit
Gefängnis, Einziehung des Vermögens und Galeerenarbeit be-
straft. Dem intimsten geistigen Leben der Juden wurden Fes-
seln angelegt. Gegen die „gottlosen, verdammten talmudischen,
kabbalistischen und anderen Schriften, die voller Irrtümer und
Verunglimpf migen der christlichen Sakramente sind", waren
acht grimmige Paragraphen gerichtet. Solche Schriften — d. h.
alle jüdischen Schriften, abgesehen von Gebetbüchern und der
Bibel — durften die Juden weder bei sich haben, noch lesen,
verkaufen, verschenken u. dgl. Kein Jude hatte das Recht,
irgendein Buch in hebräischer Sprache ins Land zu bringen,
zu kaufen oder als Geschenk in Empfang zu nehmen, ohne es
vorher der Zensur des Pater Maestro am apostolischen Hofe
in Rom und der Bischöfe und Inquisitoren an anderen Orten
unterbreitet zu haben. Auf die Übertretung dieses Verbots stand
eine siebenjährige Gefängnisstrafe. Als ein Hohn auf die heilig-
sten Gefühle des Menschen erscheint das über die Juden vet-
hängte Verbot, ihre Toten bei angesteckten Kerzen, unter Ver-
lesung von Psalmen und sonstigen religiösen Zeremonien zu
beerdigen, auf den Gräbern ihrer Verstorbenen Gedenksteine zu
errichten und an diesen Aufschriften anzubringen. Neue Syna-
gogen durften im Ghettogebiet nicht gebaut werden, aber auch
alte zu restaurieren war verboten. An christlichen Feiertagen
durften die Ghettobewohner in ihren Häusern nur bei ge-
schlossenen Türen arbeiten. Dem Rabbiner stand es nicht frei,
die den geistlichen Stand kennzeichnende Tracht zu tragen: er
mußte die übliche Kleidung der Laien tragen. Die Rabbiner
waren verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Juden zu den
Predigten der kathoUschen Missionare in festgesetzter Zahl er-
scheinen, denn die „Predigt iät das beste Mittel, die Juden zu
bekehren". Die geistlichen Hirten des Judentums wurden an-
gehalten, ihre eigene Herde in den Rachen der Wölfe zu treiben
— zu solcher raffinierten Grausamkeit verstiegen sich die Ver-
künder der „Religion der Liebe". Schließlich befiehlt der Papst,
das „Judenedikt" an allen Straßen und Palästen Roms und
an den Synagogen innerhalb des Ghettos zur genauen Kennt-
nisnahme anzuschlagen. Dieser Befehl wurde am 20. Aprü des
Jahres 1775 vollzogen — und die römischen Einwohner drängten
42
sich um die riesigen Bekanntmachungen, die die Paragraphen
der päpstlichen „Judenverfassung" enthielten.
So war das Regime beschaffen, unter dem die im römischen
Ghetto zusammengedrängte, 7000 Seelen zählende jüdische Ge-
meinde leben mußte, abgesehen von den in den übrigen Gegenden
des Kirchenstaates und im päpstlichen Avignon verstreuten
Juden. Dupaty, der im Jahre 1783 Rom besuchte, schrieb, daß
die Lage der Juden dort schlimmer als irgenwo anders wäre.
,,Man fragt: wann werden die Juden Christen werden? Ich aber
frage: wann werden die Christen tolerant werden? Christen,
wann werdet ihr aufhören, die Rolle der Pächter der göttlichen
Gerechtigkeit zu spielen?" . . . Ein schwarzes Heer von Mön-
chen verbreitete abscheuliche judenfeindliche Schmähschriften,
die den Fanatismus der Katholiken schürten. Tätlichkeiten
gegen die Juden in Rom auf offener Straße, oft von Plünde-
rungen und Totschlag begleitet, waren an der Tagesordnung.
Wenn ein Jude an einer Kirche vorbeiging, wurde nach ihm
mit Steinen geworfen, und er wurde oft verwundet. Einmal ge-
schah es, daß ein Stein einen einäugigen Juden traf, der infolge-
dessen gänzlich erblindete (1789). Wo es sich um Neubekehrte
handelte, da erreichten die gegen die Juden gerichteten Gewalt-
tätigkeiten eine ganz besondere Intensität. Im Frühjahr 1787
erklärte sich ein Jude bereit, zum Christentum überzutreten.
Als er in das Asyl für die Neubekehrten (casa) gebracht
worden war, erklärte er, daß zwei in verwandtschaftlichem
Verhältnis zu ihm stehende elternlose Knaben im Ghetto zurück-
gebHeben seien. In der Tat hielten sich die Knaben bei ihren
nahen Verwandten auf. Als die Kunde in die Gemeinde drang,
daß die päpstlichen Argusse nach den Knaben fahndeten, um
sie auf gewaltsamem Wege zu taufen, beeüte man sich, sie
zu verstecken. Nun verhaftete die römische PoUzei sechzig
jüdische Knaben, sperrte sie ein und befahl, die Ältesten der
jüdischen Gemeinde auf die Folterbank zu spannen. Die un-
glücklichen Waisen mußten schließlich ausgeliefert werden.
Ungeachtet des verzweifelten Widerstandes des ältesten Knaben,
wurden sie gewaltsam zum Taufbecken geschleppt. Den Versuch,
sie zu retten, mußte die Gemeinde mit ^iner großen Kontribu-
tion büßen. Die römischen Juden teüten diesen Fall ihren
Glaubensgenossen in Berlin und andern Orten mit.
43
Die zu Tode gemarterte römische Gemeinde faßte endlich
im Jahre 1786 den Beschluß, sich an den Papst Pius VI. mit
der flehentlichen Bitte zu wenden, ihre Lage zu erleichtern.
In der vom Gemeinderat des Ghettos dem Papst unterbreiteten
Denkschrift werden alle dem Ghetto auferlegten Steuerbela-
stungen (in dem langen Steuerregister figurieren unter anderem
auch die schändliche „Karnevalsteuer" und die Gebühren zu-
gunsten des „Katechumenenhauses") alle Gewerbe- und Betäti-
gungseinschränktmgen und die dem Juden auf Schritt und Tritt
zuteil werdenden öffentlichen Demütigungen aufgezählt. Die
Verzweiflung der Bittsteller machte sich in dem folgenden, an
den Papst, den Verfasser des Edikts von 1775 gerichteten
naiven Appell Luft: ,,Eure Heüigkeit möchte sich erheben und
von der Höhe ihres Thrones einen Blick auf das unten liegende
Ghetto werfen, auf dieses unglückselige Überbleibsel Israels,
das doch auch das Volk Eurer Heiligkeit ist und das unter Tränen
und Flehen die Hände zu Eurer Heiligkeit ausbreitet!" Der Papst
Pius VI. ließ sich durch diese Bitte erweichen und setzte eine
spezielle, aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission ein,
um diese Beschwerden zu untersuchen. Diese Kommission hatte
es mit der Erfüllung ihres Auftrages nicht besonders eiHg, und
noch im Jahre 1789 war sie damit beschäftigt, die von den Juden
vorgelegte Denkschrift zu prüfen. Die Beratung der heiligen
Väter führte natürlich zu nichts. Eine andere Macht war es,
bei der die Seufzer der gemarterten Ghettos einen Widerhall
fanden: es war die aus dem revolutionären Frankreich mar-
schierende siegreiche Armee, die in Rom eindrang, den Papst
vertrieb und die Fahne der Republik im Zentrum des despo-
tischen Kirchen- und Polizeistaates erhob.
Die Lage der jüdischen Gemeinden an anderen Orten Italiens
bot ein zwar nicht so düsteres, aber immerhin© unerfreuliches
Bild. Viele Provinzen befanden sich in der politischen Einfluß-
sphäre Österreichs oder Spaniens, d. h. zweier Staaten mit
einer scharf ausgeprägten klerikalen Richtung in der Juden-
frage. Der Einfluß der europäischen Reformen des Kaisers
Josephs II. konnte nur in solchen an Österreich eng angrenzen-
den Punkten wie Triest, zum Ausdruck kommen, und auch dies
nicht im Sinne einer Verbesserung des staatsbürgerlichen Lebens
der Juden, In den großen Handelsstädten Italiens gestalteten
44
sich die Beziehungen zu den Juden unter dem Einflüsse von
Kompromissen mit den entsprechenden Munizipalbehörden. Die
wichtige kommerzielle RoUe, die die Juden in der Hafenstadt
Livorno spielten, nötigte die betreffende Munizipalbehörde,
mit der jüdischen Gemeinde zu rechnen, und die Munizipal-
verfassung des Jahres 1780 mußte den Juden das Recht ge-
währen, ihre eigenen Abgeordneten in den Stadtrat zu wählen.
Hier wie in Florenz hielten sich die Juden ungestört außerhalb
des Ghettos auf. Die durch die Wachsamkeit der konservativen
Regierung der Republik sorgsam behütete alte Ordnung des
Ghettos von Venedig sträubte sich gegen jeden neuen Einfluß,
trotzdem die venezianischen Juden als Exporteure und Bankiers
auf industriellem Gebiet eine bedeutende Rolle spielten. Was
die anderen Gegenden anbetrifft, z. B. die Herzogtümer Pie-
mont und Modena, so wurde hier die Lage der Juden durch das
kanonische Recht bestimmt; die klerikal gesinnten Regenten
waren bestrebt, die I/ebensordnung in den jüdischen Gemeinden
möglichst nach dem Vorbüde des römischen Ghettos zu gestalten.
§ 8. Die Niederlande, England, Schweiz und Skandinavien.
In einem schroffen Gegensatz zum düsteren Ghetto im Haupt-
sitz des Katholizismus standen die jüdischen Gemeinden
im reformierten Holland, dem Horte relativer Glaubensfreiheit.
Indem Holland seine gastfreundlichen Tore Zehntausenden jü-
discher Flüchtlinge aus den Ländern der Inquisition (Spanien
und Portugal) und den Opfern der Rechtlosigkeit aus Deutsch-
land öffnete und ihnen Zuflucht gewährte, sicherte es zu gleicher
Zeit den Neuankömmlingen, wenn auch nicht staatsbürger-
liche Gleichberechtigung, so doch Glaubensfreiheit und Unan-
tastbarkeit der Person. In Amsterdam, Haag, Rotterdam und
anderen niederländischen Städten bestanden zahlreiche sowohl
sephardische wie aschkenasische Gemeinden, die sich durch gut-
organisierte Selbstverwaltungen auszeichneten. Die Juden rag-
ten besonders im Großhandel, speziell in dessen europäisch-
amerikanischem Zweige, und auf finanziellem Gebiete hervor.
In staatsbürgerlicher Hinsicht führten sie jedoch ein abgeson-
dertes Dasein und kamen an zweiter Stelle nach den Katholiken
zu stehen, die ebensowenig wie sie bei den Anhängern der
herrschenden Kirche Gleichberechtigung zu erringen vermochten.
Die Juden büdeten auf diese Weise eine Staatsbürgerklasse
45
dritten Ranges. In Amsterdan galt noch ein altes Gesetz, nach
dem die Juden zu den kaufmännischen und gewerblichen Zünf-
ten nicht zugelassen wurden; infolgedessen waren die mittleren
und niederen Ellassen der jüdischen Bevölkerung von verschie-
denen Erwerbszweigen ausgeschlossen. Die öffentlichen Schulen
des Landes blieben den jüdischen Kindern verschlossen, trotz-
dem die Juden die allgemeine Schulsteuer und sogar die der
herrschenden Kirche zugute kommenden Steuern entrichteten.
Im allgemeinen legten die Munizipalbehörden eine offensicht-
liche Mißgunst gegen die Juden an den Tag und suchten deren
Wettbewerb mit den Christen auf den verschiedenen Gebieten
der wirtschaftlichen Tätigkeit zu verhindern. Wirklich gute Be-
ziehungen bestanden nur zwischen der jüdischen Aristokratie
und den Statthaltern der Niederlande, den Prinzen aus dem
Hause Oranien. Zur Zeit des gegen den Statthalter Wilhelm V.
gerichteten Aufstandes (1786 — 87) stellten sich die Juden an
die Seite der „oranischen Partei". Der aus Haag entflohene
Statthalter fand im Hause des Benjamin Cohen in Amsterdam
freundliche Aufnahme. Als Wilhelm mit Hilfe deutscher Truppen
die Herrschaft wiedererlangte, beteiligten sich die Juden an
den Feiern zu Ehren des zurückgekehrten Regenten. Allem An-
scheine nach hatten sie ihre Gründe, die ,, regierende Partei"
denjenigen „Patrioten" vorzuziehen, die in den Magistraten und
Zünften ihre Rechte auf alle erdenkliche Weise einzuschränken
suchten und sie von ihrer Gesellschaft ausschlössen.
Anzeichen einer systematischen passiven Unduldsamkeit
traten mit voller Deutlichkeit in England hervor. Hier unter-
lagen die Juden dem allgemeinen Schicksale der „Dissenters"
(der Christen, die der herrschenden anglikanischen Kirche nicht
angehörten), denen im 18. Jahrhundert die bürgerliche Gleich-
berechtigung hartnäckig verweigert wurde; aber als Nicht-
christen standen sie auf der gesellschaftlichen Stufenleiter um
eine Stufe tiefer als die „Dissenters". Die Aufhebung des liberalen
Gesetzes von 1753 von der Naturalisation der Juden in England,
die im Jahre 1754 auf Betreiben der konservativen Partei er-
folgte, schob die Entwicklung der englischen Judenheit in
staatsbürgerhcher Hinsicht für lange Zeit hinaus. Die Juden
nahmen regen Anteil am Handel und an der Industrie und
besaßen ihre autonomen Gemeinden in I/3ndon und anderen
46
Städten; von dem gesellschaftlichen und politischen Leben des
Landes waren sie jedoch ausgeschlossen. In vielen elementaren
Rechten waren sie eingeschränkt (z. B. dem Erwerb von Im-
mobilien). Die Bekleidung eines öffentlichen Amtes war mit einer
Eidesformel verbunden, die folgende Worte enthielt: „Nach
dem echten und wahren Christenglauben." Dieser fatale Satz
hinderte die Juden, dem Parlament, den Munizipalbehörden
und den verschiedenen Standeskorporationen anzugehören. Ein
originelles System bürgerte sich ein : Der Jude wurde nicht ver-
folgt, in sein intimes Privatleben drang man nicht in brutaler
Weise ein, wie es in Preußen und Österreich der Fall war, aber
von dem staatsbürgerlichen und politischen Ganzen wurde er
durch unüberwindliche Schranken getrennt. Zwischen dem Juden
und dem alle Rechte genießenden Engländer stand die Kirche
— nicht eine aggressive und kampflustige, wie die römisch-
katholische, sondern eine in ihrer Passivität zähe, den Nicht-
anglikaner, um so weniger den Nichtchristen als Bürger keines-
wegs anerkennende Kirche. Die Zugehörigkeit zu der herrschen-
den Kirche konnte aus allen Verlegenheiten helfen. Als im
Jahre 1780 auf dem Boden religiöser Konflikte in London
Straßenkrawalle entstanden, ließen die Juden an den Fenstern
ihrer Häuser folgende Inschrift anbringen: ,,Dies Haus gehört
einem echten Protestanten." Zu jener Zeit begann man von einer
Änderung der äußeren Etikette in weiterem Sinne immer öfter
Gebrauch zu machen. Unter der jiidischen Aristokratie befanden
sich nicht wenige Familien, die sich entschlossen hatten, ihre
Kinder in den Schoß der herrschenden Kirche zu bringen, um
ihnen eine gute Karriere und eine Stellung in der Gesellschaft
zu sichern. Große Versuchung übte das Beispiel eines Finanz-
mannes, des Altesten der Londoner Gemeinde — Simson Gedeon
— aus, der gleich nach der Aufhebung des Naturalisierungs-
gesetzes seine Kinder taufen ließ. Eine ganze Reihe jüdischer
Familien in London folgte gegen Ende des 18. Jahrhunderts
diesem Beispiel, Abtrünnigkeit machte sich besonders in der
Gemeinde der Sephardim unter den reichen Kauf- und Finanz-
leuten bemerkbar. Standhafter erwiesen sich die Aschkenasim,
deutsch-polnische Juden, bei denen die nationalen Traditionen
überwogen. Auf der wirtschaftlichen Stufenleiter kamen sie
eine Stufe tiefer zu stehen, und zu gleicher Zeit waren sie durch
47
einen weiteren Abstand von der englischen Gesellschaft getrennt.
Die Aschkenasim wohnten nicht nur in I^ondon, sondern auch
in anderen Hafen- und Handelszentren: Liverpool, Pleamouth,
Bristol und beschäftigten sich mit Kleinhandel und Hausieren.
Wenden wir uns nun von lyändem mit gemischter sephar-
disch-aschkenasischer Kultur, wie Holland und England, zu
solchen Judenkolonien, die in ihrer inneren Zusammensetzung
gleichartiger und einheitlicher waren, und entweder zu Deutsch-
land oder Österreich hielten, so bietet sich unseren Augen das-
selbe trostlose Bild. In der Schweiz, wo Juden überhaupt
nicht wohnen durften, bestand eine besondere „Zone", inner-
halb deren ihnen ein zeitweiliger Aufenthalt bewilligt wurde.
Es waren dies zwei Städtchen im Badenschen: Endingen und
I^ngnau, die später dem Kanton Aargau angegliedert wurden.
Die ,, Schutzjuden", die hier Unterkunft fanden, Einwanderer
aus Österreich, Deutschland und Elsaß, wohnten hier auf Grund
eines mit den örtlichen Behörden gescl^ossenen Vertrages, der
alle i6 Jahre erneuert werden mußte. Die Erneuerung dieses
Vertrages in den letzten Terminen des i8. Jahrhunderts (1760,
1776, 1792) kam unter folgenden Bedingungen zustande: Die
Juden dürfen sich nicht vermehren; Eheschließungen zwischen
Unbemittelten werden nicht zugelassen, Bräute, die aus anderen
Ländern kommen, müssen nicht weniger als 500 Gulden als
Mitgift mitbringen; Juden dürfen keine Häuser neu erwerben;
sie dürfen keinen Boden ankaufen, keinen Wucher treiben ; keine
Gelder auf Immobilien ausleihen; ein Jude darf nicht mit einem
Christen in demselben Hause wohnen. Zu solchen Maßnahmen
griff man gegen ein Häuflein Juden (ungefähr 150 Familien) im
„Lande der Freiheit" am Vorabend und selbst in den ersten
Jahren der großen französischen Revolution.
Die jüdische Kolonie Dänemarks (ungefähr 3000 Seelen)
bildete einen Zweig der Hamburger Gemeinde. Die an Hamburg
angrenzende holsteinische Stadt Altona gehörte im 18. Jahr-
himdert zum Dänischen Reiche, und die jüdischen Gemeinden
der beiden Städte (auch die dritte Gemeinde des Städtchens
Wandsbek gehörte dazu) hielten sich einen gemeinsamen Rab-
biner. In die inneren Gebiete des eigentlichen Dänemarks war
den Juden der Eintritt erschwert, aber den reichen Kaufleuten
und Fabrikbesitzern gelang es doch, dorthin einzudringen und
48
eine Kolonie in der Hauptstadt des Landes, Kopenhagen, zu
gründen. Unter dem Könige Christian VII. (1766 — 1808) ver-
hielt sich die Regierung gegen die sich unter den dänischen
Juden verbreitende „Berliner Aufklärung" wohlwollend. Unter
dem Einflüsse der neuen Bewegung zerfiel die Kopenhagener
Gemeinde in zwei Gruppen: in Progressisten und Orthodoxe.
Doch waren die dänischen Juden am Vorabend des Jahres 1789
von der bürgerlichen Gleichberechtigung weit entfernt.
Was das andere skandinavische Land, Schweden, betrifft, so
wurde die christliche Bevölkerung ursprünglich (im 17. Jahr-
hundert) von „dem möglichen Einfluß der jüdischen Religion
auf den reinen evangelischen Glauben" geschützt; von den nach
Stockholm kommenden Juden wurde nicht mehr und nicht
weniger als die Taufe nach lutherischem Ritus gefordert. Im
18. Jahrhundert brachten es jedoch jüdische Kaufleute fertig,
Wohnrecht im Lande zu erlangen, ohne dabei ihre Religion
wechseln zu müssen. Die einheimischen Juden durften im ganzen
Königreiche wohnen und frei ihren Gottesdienst verrichten,
doch ohne alle jene Zeremonien, „die Anstoß bei der christ-
lichen Bevölkerung erregen können". Jüdische Gemeinden mit
einem Rabbinat und Bethäusern wurden nur in den drei Städten
Stockholm, Göteborg und Norköpping geduldet. Ausländischen
Juden wurde das Wohnrecht nach einer ganzen Reihe von
Scherereien und nach Vorlegung von Ausweisen über ihre Person
und ihre materielle Lage gewährt, und dies nur in den drei
obenerwähnten Städten. Unter günstigeren Bedingungen wurden
ins Land reiche Juden zugelassen, die über ausreichende Kapi-
talien verfügten, um Großbetriebe in solchen Industriezweigen
zu eröffnen, die im Lande selber schwach entwickelt waren.
Solchen Personen wurden allerlei Konzessionen erteilt. Was den
Kleinhandel und das Kleingewerbe betrifft, so unterlagen sie
schweren Beschränkungen.
Die Spuren des schwedischen Reglements vom Jahre 1782,
das in dessen Heimat längst außer Kraft getreten war, hat sich
bis auf den heutigen Tag in der gewesenen schwedischen Pro-
vinz Finnland erhalten, wo die archaische Gesetzgebung
über die Juden von der neuen russischen Metropole, dieses
großen Reservoirs der jüdischen Rechtlosigkeit, unterstützt
wurde.
4 Dnbnow, Geichichte der Joden I AQ
§ g. Polen nach der ersten Teilung. Am Vorabend der durch
die Revolution von 1789 hervorgerufenen Krise im Leben
der west-europäischen Juden, befand sich das große jüdische
Zentrum in Polen in einem Zustande politischer und gesellschaft-
licher Auflösung. Es war dies der Moment zwischen der ersten
{1772) und der zweiten (1793) Teilimg Polens. An dem unge-
sunden Organismus der Polnischen Republik wurde die erste
Vivisektion vorgenommen: Rußland nahm sich Weißrußland,
Österreich Galizien, Preußen Pommern und einen Teil der
Provinz Posen. Damit wurde auch der kompakte Organismus
der polnischen Judenheit zerstückelt. Ein Teil dieser eigenartigen,
in sich geschlossenen Masse wurde mit einem Male zum Gegen-
stande der „Reformexperimente" im Laboratorium Joseph II.;
der andere sah sich in die Rolle der ,, Geduldeten" in der Staats-
kaserne Friedrichs II. versetzt, der die polnischen Provinzen
viel lieber ohne die jüdische Bevölkerung genommen hätte; der
dritte Teil geriet unter die Botmäßigkeit Rußlands, das sich
bis dahin auch mit dem Vorhandensein eines Häufleins Juden
innerhalb des kleintussischen Grenzgebietes nicht befreunden
konnte. Das nach der chirurgischen Operation des Jahres 1772
übriggebliebene zusammengeschrumpfte Zentrum der polnischen
Judenheit machte auf seine Weise die Krämpfe des im Todes-
kampfe liegenden Staates, dem noch zwei Teüungen bevor-
standen, durch. Das sterbende Polen warf sich hiii und her und
rang nach einem Lebenselixir in den Reglementen des Ständigen
Rates, in den Reformen des Vierjährigen Reichstages (1788
bis 1791). Im Zusammenhang mit den allgemeinen Reformen
machte sich das Bedürfnis nach der Heilung des alten Gebrechens
— der Lösung der Judenfrage — fühlbar. Die Finanzkommission
des Vierjährigen Reichstags zog Erkundigungen über die Zahl der
jüdischen Bevölkerung in Polen nach der ersten Teilung und über
deren wirtschaftliche und kulturelle Lage ein; hier sind die Ergeb-
nisse der offiziellen Untersuchungen, wie sie uns in den Ermitte-
lungen eines der Kommissionsmitglieder, des Geschichtsschreibers
Tadeusz Czacki, der die jüdische Frage studierte, vorliegen:
Nach den offiziellen Angaben zählte die jüdische Bevölkerung
von Polen und Litauen gegen das Jahr 1788 ungefähr 617 000
Seelen; auf Grund einer ganzen Reihe von Berichtigungen
weist Czacki mit Recht darauf hin, daß die wirkliche Zahl der
50
Juden, die sich aus Erwägungen fiskalischer Natur der offiziellen
Registrierung entzogen hatten, wenigstens die Ziffer 900 000
erreichte. Dies entspricht beinahe dem glaubwürdigen Hinweis
Butrimowiczs', des Mitgliedes der „jüdischen Kommission" am
„Vierjährigen Reichstag", daß die Juden in Polen ein Achtel
der gesamten Bevölkerung (8 790 000) ausmachen. Infolge der
zu jener Zeit stark eingebürgerten Sitte, frühzeitige Ehen zu
schließen, vermehrte sich die beinahe eine Million zählende jü-
dische Bevölkerung sehr rasch. Aber eben diese Sitte war es,
die die erhöhte Sterblichkeit der jüdischen Kinder und die zu-
nehmende Kränklichkeit der jungen Generation zur Folge hatte.
Die Schulbildung der Elinder beschränkte sich auf das Studium
des religiösen Schrifttums, insbesondere des Talmuds. Der in
jüdischen Händen befindliche Handel verteüte sich auf dreiviertel
der Gesamtausfuhr und ein Zehntel der Einfuhr, Für seineu
Lebensunterhalt verwendete der jüdische Kaufmann nur die
Hälfte dessen, was der christliche Kaufmann verbrauchte, und
daher war auch der jüdische Handelsmann in der Lage, seine
Waren zu mäßigeren Preisen abzusetzen. Sieht man von Groß-
Polen ab, so bildeten die Juden in der Provinz die Hälfte aller
Handwerker. Unter den Handwerkern überwogen Schuhmacher,
Schneider, Kürschner, Goldarbeiter, Zimmerleute, Steinmetze
und Barbiere; im ganzen Lande gab es nur 14 Familien, die
Ackerbau trieben. Es kam nur selten vor, daß ein von einem
Juden erworbenes Vermögen in seiner Familie einige Generationen
hintereinander verblieb. Es lag dies an den häufigen Zahlungs-
einstellungen und an der Neigung zu gewagten Unternehmungen.
Die gesamte jüdische Bevölkerung bestand zu einem Zwölftel
aus „Müßiggehern", d. h. aus Leuten, die keine bestimmte Be-
schäftigung hatten ; zu einem Sechzigstel aus Bettlern.
Zu diesen Ergebnissen der offiziellen Zählungen und ander-
weitigen Beobachtungen muß hinzugefügt werden, daß eines
der Hauptgewerbe der Juden zu jener Zeit die „Schank-
wirtschaft" war. Auf den Gütern der Gutsherren stand die
Schankwirtschaft in einem engen Zusammenhange mit der
Pacht- und Herbergswirtschaft. Zugleich mit der Verpachtimg
verschiedener Zweige der Landwirtschaft (Molkerei, Weide-
plätze, Wald u. dgl.) ging an den Juden auch das „Recht der
Propination", d. i. des Branntweinbrennens und des Aus-
4* 51
schankes in den Dorfschenken und Herbergen über. Diese Be-
schäftigungen brachten den Juden zu Konflikten mit den
Bauern, mit den an die Scholle gefesselten leibeigenen Bauern,
den in die Schenke nicht der Wohlstand, — sondern die bittere
Not trieb, in die ihn der schwere Frohndienst brachte. An der
Tür der Schenke wurde das letzte Stadium der bäuerlichen
Verelendung besiegelt, und daraus entstand natürlich die An-
schauung, daß der jüdische Schankwirt den Sandmann ruiniere.
Diese Beschuldigung wurde gegen die Juden von jenen Guts-
herren, Verfechtern der Leibeigenschaft erhoben, die in der
Tat die ganze Verarmung ihrer bäuerlichen Sklaven verschul-
deten, und aus ihrem an die Juden verpachteten Rechte der
Propination die meisten Vorteile zogen. Das Schankgewerbe
übte auf die Juden einen demoralisierenden Einfluß aus. Die
Lage des Pächters zwischen dem verschwenderischen, selbst-
herrlichen Gutsherrn und dem zu Boden gedrückten leibeigenen
Bauern war nicht beneidenswert. Für den Gutsbesitzer war der
Pächter ebenfalls nur ein Knecht, mit dem er nicht besser, als
mit dem leibeigenen Bauer umging. Nicht selten traf es sich,
daß der Pächter für den schlechten Zustand der Wege und
Brücken vom Gutsherrn Prügel bekam; gar oft kam es vor,
daß der Gutsherr im Trünke den Pächter und dessen Famüie
verhöhnte. Im Tagebuche eines Gutsbesitzers aus Wolhyuien
vom Jahre 1774 finden wir beispielsweise solche Aufzeichnungen:
„Der Pächter Herschko bezahlte mir nicht die aus früheren
Terminen bereits fälligen 91 Taler. Ich sah mich daher genötigt,
das Geld zwangsweise einzutreiben. Nach dem Vertrage steht
mir im Falle der Nichtbezahlung das Recht zu, ihn samt Frau
und Kindern für beliebig lange einzusperren, bis er mir die
Schuld bezahlt. Ich ließ ihm Fesseln anlegen und ihn in einen
Schweinestall sperren, aber seine Frau und seine Bachurim (er-
wachsene Kinder, Burschen) ließ ich in der Herberge zurück;
nur den jüngsten Sohn Lejser nahm ich zu mir auf die Meierei
und befahl, ihn im Katechismus und in den Gebeten zu unter-
richten." Man zwang den Knaben, das Zeichen des Kreuzes zu
machen und Schweinefleisch zu essen; und nur die Ankunft von
Juden aus Berditschew, die die Schuld des ruinierten Pächters
bezahlten errettete den Vater vom Gefängnis und den Knaben
von der gewaltsamen Taufe.
52
Was drängte die jüdische Masse zu diesem niedrigen Gewerbe
der Pacht- und der ländlichen Schankwirtschaft? Die Juden,
die ein Achtel der gesamten polnischen Bevölkerung ausmach-
ten, gaben die Hälfte aller Handwerker ab und drei Viertel der
Vermittler im Ausfuhrhandel (in der Ausfuhr landwirtschaft-
licher Produkte: Holz, Flachs, Fellen und Rohstoffen). Aber
alle diese Beschäftigungen reichten augenscheinlich nicht aus,
den Lebensunterhalt zu sichern. Die Zünfte und Gilden, in
denen sich nicht wenige Deutsche befanden, nahmen ebenso-
wenig in Polen, wie im Westen jüdische Handwerker imd Han-
delsleute in ihre Organisationen auf, wodurch ihr Tätigkeits-
bereich äußerst eingeengt wurde. Von diesen Kleinbürgern und
Kaufleuten, die in der Zusammensetzung der Munizipalitäten
überwogen, hing es in den meisten Städten ab, ihren jüdischen
Konkurrenten das Recht auf Handel und Gewerbe zu verleihen
und zu versagen. Es hat der Anschein, als sei die Reichs-
tagsverfassung vom Jahre 1768, die die wirtschaftliche Tätig-
keit der Juden in den Städten unter die Kontrolle der Munizi-
palitäten stellte, von diesen letzteren diktiert worden: „Sintemal
die Juden den Städten und den städtischen Bürgern unerträg-
liches Unrecht antun und die Nahrungsmittel entziehen . . .
beschließen wir: daß die Juden in allen Städten imd Städtchen,
wo sie keine besonderen, von der Verfassung bestätigten Vor-
rechte besitzen, sich gemäß den mit den Städten geschlossenen
Verträgen aufzuführen haben, ohne sich dabei, unter Gefahr
harter Strafen, große Rechte anzueignen." Selbstverständlich
gingen alle solche ,, Verträge" seitens der christlichen Geschäfts-
leute auf die gesetzliche Unterbindung oder Einschränkung
der jüdischen Konkurrenz hinaus. Auf diese Weise drängten
die Urheber der Reichstagsverfassung, die Gutsbesitzer und
Städter, selber die Juden aus den Städten hinaus imd trieben
sie auf das Gebiet der ländlichen Pacht- und Schankwirtschaft.
Die nach der ersten Teilung Polens erlassene Reichstagsver-
fassung vom Jahre 1775, die das oberste Regierungsorgan,
„den ständigen Rat'* (Rada nieustajaca) instituierte, erhöhte
den Betrag der von den Juden zu erhebenden Kopfsteuer (von <•
zwei auf drei Gulden von jeder Seele beiderlei Geschlechts, mit
den Neugeborenen beginnend), zugleich machte sie den Versuch,
die jüdischen Eheschließungen gesetzlich zu normieren, wenn
53
sie auch dabei nicht nach dem harten westeuropäischen Muster
verfuhr. Den Rabbinern wurde untersagt, Ehen unter solchen
Personen zu schließen, die keine vom Gesetze erlaubte Beschäf-
tigung, sei es Gewerbe, Handel, Ackerbau oder eine Anstellung,
hatten, und die nicht imstande waren, die Quelle ihres Lebens-
unterhaltes anzugeben. Übrigens wurde dieses Gesetz in der
Praxis des Lebens niemals angewandt.
Das alte Polen hatte keine besondere ,, Ansiedelungszone"
für die Juden; ihnen war bloß der Aufenthalt in einigen „privi-
legierten" Städten verboten. Zu diesen Städten gehörte auch
die Hauptstadt Warschau. Von jeher war es den Juden ver-
boten, in Warschau einen ständigen Wohnsitz zu haben; es
war ihnen nur gestattet, in der Zeit der Reichstagstagungen zu
kommen, in der die Jahrmärkte abgehalten wurden. Die Ver-
fassung vom Jahre 1768 bestätigte diese „alte Sitte" der zeit-
weiligen Zulassung der Juden nach Warschau, was sie als
„allgemein nützlich und als Mittel gegen die Teuerung" be-
gründete, welche letztere sich immer als Folge des Ausbleibens
jüdischer Konkurrenz zeigte. In der Hauptstadt bürgerte sich
folgende Ordnung ein: Zwei Wochen vor der Eröffnung des
Reichstags ließ der Kronmarschall der Stadt durch Posaunen-
stöße verkünden, daß es den ankommenden Juden gestattet sei,
Handel und Gewerbe zu treiben, und zwei Wochen nach Ab-
schluß der Landtagstagung wurde, ebenfalls durch Posaunen-
stöße kundgegeben, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, wo
die Juden die Stadt zu verlassen haben; die Zögernden wurden
durch polizeiliche Gewalt aus der Stadt gejagt. Am nächsten
Tag kehrten jedoch die Fortgejagten als Neuangekommene unter
verschiedenen Vorwänden zurück und hielten sich dort einige
Wochen auf, indem sie die Aufseher durch Bestechungen für
sich gewannen. Nun führte der Kronmarschall Lubomirski
eigene Erlaubniskarten zum Preise von je einem Silbergroschen
ein, die jeder neu ankommende Jude zu lösen hatte und die
ihn zu einem fünftätigen Aufenthalte in der Hauptstadt be-
rechtigten; ohne eine solche Karte wagte kein Jude sich auf der
Straße zu zeigen. Und bald zeigte es sich, daß diese Aufent-
haltsgebühren dem Marschall eine jährliche Einnahme von un-
gefähr 200 000 Gulden (polnische) sicherten. Als einige hohe
Beamte, die im Besitze vieler Viertel der Stadt Warschau waren,
54
die Möglichkeit sahen, sich auf Kosten der jüdischen Recht-
losigkeit zu bereichern, gestatteten sie den Juden, für eine be-
stimmte Vergütung auf ihren Besitztümern hinter dem Wall zu
wohnen. Und so kam es, daß sich eine ganze Ansiedelung bildete,
die unter dem Namen das „Neue Jerusalem" bekannt war
Die christlichen Kleinbürger der Stadt Warschau erhoben ein
Jammergeschrei: sie forderten die strikte Anwendung des Ge-
setzes, das den ständigen Aufenthalt der Juden in Warschau
verbot. Lubomirski ergriff harte Maßnahmen gegen die Juden,
ohne dem Einspruch der hochgestellten Hausbesitzer und selbst
der Fürsprache des Königs irgendwelche Beachtung zu schenken :
am 22. Januar 1775 wurden die Juden aus Warschau vertrieben,
ihre Wohnungen im Neuen Jerusalem wurden zerstört, und
alle ihre Waren nach dem Zeughaus und den Kadettenkasernen
geschafft und ausverkauft. Das war ein harter Schlag für die
handeltreibende jüdische Bevölkerung, die sich auf diese Weise
vom politischen und kommerziellen Zentrum des Landes ab-
geschnitten sah. Man war wieder gezwungen, sich mit den vor-
übergehenden Aufenthalten für die kurze Dauer der Landtags-
t^gungen zu begnügen ; mit der Zeit aber stellte sich das frühere
Umgehen des Gesetzes wieder ein. Auf eine vom Magistrat er-
hobene Klage hin ging die Administration im Jahre 1784 von
neuem daran, Warschau von den Juden zu säubern. Vom Ende
des Jahres 1788, als die Tagung des Vierjährigen Reichstags
begann, erfuhr die Lage eine Veränderung. Die Juden gelangten
schließlich zur Einsicht, daß, da die Tagung des Reichstags un-
unterbrochen dauerte, auch ihr Wohnrecht in der Hauptstadt
keiner Beschränkung durch irgendwelche Frist unterliegen konnte.
Und so sammelte sich in Warschau eine jüdische Bevölkerung
von ein paar Tausend Seelen an, die sich im Zentrum der Stadt
niederließen. Dieser Umstand hatte gegen die Neuangekommenen
die Entrüstung der Kleinbürger und des Magistrates heraufbe-
schworen, was in der Folge zu einem blutigen Zusammenstoß
führte (im Jahre 1790 ; s. weiter unten, § 42).
So kämpften Gesetz und Leben gegeneinander; das Leben
wandelte das Gesetz, welches den Bedürfnissen und An-
forderungen des ersteren stracks zuwiderlief, in eine Fiktion
um; aber das Gesetz rächte sich zuweüen am Leben durch
plötzliche Schläge. In die acht Millionen Seelen zählende Masse
55
der polnischen Bevölkerung drang die Million Juden wie ein
Keil ein, der sich unmöglich wieder hinausdrängen ließ, nach-
dem er ursprünglich die Lücke der fehlenden handelsindustriellen
Klasse ausgefüllt und im Laufe der Jahrhunderte dem Volke
der Adligen und der leibeigenen Bauern als befestigende
Ellammer gedient hatte. Jetzt suchte ihn ein anderer Keil hin-
auszudrängen — das christHche bürgerliche Element; aber dieses
vermochte ihm nicht beizukommen. Die Judenheit war schon
allzueng mit dem wirtschaftlichen Organismus Polens ver-
wachsen, dem sie in nationaler imd geistiger Hinsicht fremd
blieb. Darin lag die ganze Tragik der jüdischen Frage in Polen
zur Zeit der Teüimgen. Das durch die Katastrophe des Jahres
1772 aufgerüttelte Polen drängte nach Reformen. Es entstanden
zwei Lösungsmethoden der jüdischen Frage: die eine repressiver
Natur, vom alten Geiste der Szlachta durchdrungen, die an-
dere verhältnismäßig liberal, im Geiste „der gewaltsamen Auf-
klärung" des Kaisers Joseph II. Die erste fand in dem Reichs-
tagsentwurf von Zamoiski (1787 — 1780), die andere in den dem
reformatorischen Vierjährigen Reichstag (1789) vorgelegten Ent-
würfen des Butrimowicz und Czacki ihren Ausdruck.
„Der ruhmgekrönte Exkanzler (Andrej Zamoiski)" — sagt ein
polnischer Historiker, ,, arbeitete das Reglement eher in der Ab-
sicht aus, die Juden loszuwerden, als in der Absicht, sie mit
dem Volksorganismus (Polen) gewaltsam zu verschmelzen." Das
Reglement Zamoiskis trägt einen polizeilich-kanonischen Cha-
rakter. Den Juden wird das Wohnrecht nur in jenen Städten ge-
währt, wo sie auf Grund ehemaliger Vereinbarungen mit den
Munizipalbehörden zugelassen werden; was die anderen Städte
anbetrifft, so dürfen sie sich dorthin begeben, nur um die daselbst
stattfindenden Messen und Märkte zu besuchen. In den Städten
müssen sie in besonderen Straßen wohnen, in vöUiger Abson-
derung von den Christen. Jeder erwachsene Jude ist verpflichtet,
sich bei der lokalen Behörde zu melden und den Beweis zu er-
bringen, daß er entweder Händler ist, der über ein Vermögen
von nicht weniger als tausend (polnischen) Gulden verfügt, oder
Handwerker, Pächter und Landarbeiter. Wer nicht imstande ist,
seine Zugehörigkeit zu einem dieser vier Berufe nachzuweisen,
ist verpflichtet, binnen eines Jahres das Land zu verlassen; und
wer es nicht freiwülig tut, unterliegt der Verhaftung und Ein-
56
Sperrung. Des Femeren schließt der Urheber des Entwurfes, dem
Beispiel alter kanonischer Vorschriften folgend, die Juden von
all jenen finanziellen und wirtschaftlichen Funktionen aus, durch
die sie sich eine Macht über die christliche Bevölkerung erringen
können, wie z. B. von Staatspachten und Steuereintreibungen,
und verbietet ihnen, christliche Dienstboten zu halten Die
Juden dürfen nicht zwangsweise getauft werden, aber die
schon getauften Juden müssen von ihrer früheren Umgebung
abgesondert und isoliert werden; nur in Gegenwart von Christen
dürfen sie mit ihren früheren Glaubensgenossen zusammen-
kommen. Dieser Entwurf Zamoiskis gefiel der katholischen
Geistlichkeit so gut, daß der Plotzker Bischof Schembek sich be-
reit erklärte, unter ihn seinen Namen zu setzen. Nachdem sich
Zamoiski auf diese Weise mit kirchlich-polizeilichen Bürgschaften
versehen hatte, konnte er dem Geiste der Zeit einen mageren
Tribut entrichten, indem er nämlich in sein Projekt das Prinzip
der Unäntastbarkeit der Person und des Vermögens der Juden
aufnahm. Den durch drakonische Maßregelungen an Händen und
Füßen gebundenen Juden brauchte aber niemand mehr anzu-
tasten.
Einen anderen Standpunkt vertrat der Verfasser der in
Warschau im Jahre 1782 unter dem Titel: „Über die Notwendig-
keit einer Judenreform in den Landen des polnischen Reiches"
erschienenen Schrift. Der Verfasser, der sich hinter dem Pseu-
donym „Namenloser Bürger" versteckt, verficht kein reaktio-
näres System, sondern eine utilitär-aufklärerische Reglementie-
rung. Auf religiösem Gebiet läßt er den Juden die Unantastbar-
keit ihrer Dogmen, hält es aber für nötig, gegen ihre „schädlichen
Gebräuche", die zahlreichen Feiertage, die Speisegesetze usw.
zu kämpfen. Es sei erforderlich, die Kahalautonomie einzuengen
und sie auf die rein religiöse Sphäre zu beschränken, damit die
Juden keine Republik in der Republik büden. Um die Juden mit
dem polnischen Volke zu verschmelzen, müsse man sie dazu an-
halten, die polnische Sprache in ihrem Handelsverkehr zu ge-
brauchen imd den „Jargon" aufzugeben, und den Druck von
Büchern in hebräischer Sprache, wie deren Einfuhr aus dem Aus-
lande zu verbieten. Was die wirtschaftlichen Verhältnisse an-
betrifft, so könne man den Juden das Handwerk, den ehrlichen
Handel und die Landwirtschaft erlauben, müße ihnen aber ver-
57
bieten, Herbergen und Schankwirtschaften zu halten. Man sieht,
daß der Entwurf des „Namenlosen Bürgers" die „Unschädlich-
machung" der Juden auf dem Wege einer gewaltsamen Ver-
schmelzung anstrebt, wie das vorangehende Projekt des Zamoiski
auf dem der gewaltsamen Isolierung. Der auf diese Weise „un-
schädlich" gemachte Jude konnte dem Christen in den Rechten
gleichgestellt werden. Ein Einfluß des österreichischen Systems
Josephs II., der die „Besserung" der Juden auf dem Wege der
gewaltsamen ,, Aufklärung" und Verschmelzung mit der ein-
heimischen Bevölkerung als einer notwendigen Bedingung für
ihre Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung zu erreichen
suchte, ist in diesem Entwürfe unverkennbar. Das Projekt
scheint in den von den Ideen des XVIII. Jahrhunderts beherrsch-
ten Kreisen der polnischen Gesellschaft Anklang gefunden zu
haben. Die kleine Schrift des „Namenlosen" erschien im Jahre
1785 in zweiter Auflage, und im Jahre 1789 wurde sie zum
dritten Male vom Abgeordneten des Vierjährigen Reichstags
Butrimowicz herausgegeben, der sie mit eigenen Nachträgen ver-
sah. Dieser Ausgabe entnahm Butrimowicz in der Folge das
Material zu seinem Projekt der „jüdischen Reform", das er der
Kommission des Landtags vorlegte (1790), der unter dem Lärm
der großen französischen Revolution tagte (s. weiter unten
§41).
Wie war die innere Lebensgestaltung der eine Million zählenden
jüdischen Masse in Polen zu jener Zeit beschaffen? Auch hier
bietet sich unseren Augen ein trauriges Bild des Zerfalls. Die
soziale Verwesung, die giftigen Zerfallsprodukte des ver-
wesenden Leichnams Polens drangen auch in das jüdische Leben
ein und brachten dessen einst so festen Grundfpeiler ins Wan-
ken. Die nationale Hochburg der Judenheit, die autonome Ge-
meinde ging zusehends aus den Fugen. In den südwestlichen Ge-
bieten (Podolien, Wolhynien und in dem an Österreich ab-
getretenen Galizien) erlitt sie einen schweren Stoß durch das
große religiöse ,, Schisma" des Chassidismus ; die Spaltung der Ge-
meinde in zwei einander feindliche Parteien, und die Starrheit
der chassidischen Mehrheit, die sich zu einer gesellschaftlichen
Organisierung unfähig erwies und den Befehlen der Zaddikim
blind gehorchte, führten zu einem Zusammenbruche der Kahal-
organisation. Was die nordwestlichen Gebiete betrifft (Litauen
58
und das an Rußland abgetretene Weißrußland), wo die sich an
die Rabbiner anlehnende Kahalpartei die Oberhand über die
chassidische gewann, unterlag die Kahalorganisation dem allge-
meinen Entartungsprozeß, der Polen zur Zeit der Teilungen er-
griff. In der Ausbeutung der armen, arbeitenden Volksmasse
stand die jüdische Plutokratie den polnischen Gutsherren keines-
wegs nach; wie die polnische Geistlichkeit, so hielten es auch
die Rabbiner mit den Reichen. Die weltliche und geistliche
Oligarchie, die in den Kahalorganisationen schaltete und waltete,
drangsalierte die Gemeinde durch eine empörend ungleichmäßige
Verteüung der Staats- und Gemeindesteuern, indem sie die
schwersten Lasten den unvermögenden Gesellschaftsschichten
aufbürdete und sie an den Rand eines völligen Ruins brachte;
die „Parnessim" (die Vorsteher der Kahalorganisationen) und
die Rabbiner wurden nicht selten des Wuchers, der Erpressung
und der Unterschlagung der für Gemeindezwecke bestimmten
Summen überführt.
Der von der Kahaloligarchie ausgeübte Druck erreichte einen
derartigen Grad von Härte, daß die bedrängten Massen sich
oft an die christlichen Behörden mit Beschwerden gegen die
Satrapen ihres eigenen Stammes wandten, ungeachtet des tra-
ditionellen Verbots, das ,, Gericht der Fremdstämmigen" anzu-
rufen. Die Bevollmächtigten eines Teiles der jüdischen Ge-
meinde von Minsk, Vertreter des einfachen Volkes, vornehm-
lich der Handwerker — beschwerten sich im Jahre 1782 beim
Litauischen Schatztribunal gegen die Kahal Verwaltung, die ,,die
Minsker Gemeinde" vollständig zugrunde richtete: Die Kahals-
leute hätten viele eingezahlte Abgaben unterschlagen und
für sich verwendet; sie erpreßten von den Armen mittels
des ,,Cherems" (Bannfluches) Steuern, um dieses durch saure
Arbeit erworbene Geld zu unterschlagen; die Kläger fügten hinzu,
daß sie für ihren Versuch, die Missetaten des Kahals vor der
Behörde aufzudecken, auf Verfügung der Kahalsvorsteher mit
Verhaftung, Einsperrung und Stellung an den Pranger in der
Synagoge (den Synagogenpranger nannte man „Kuna") bestraft
worden seien. In der Hauptstadt Litauens, Wilna, die durch ihre
gelehrten Rabbiner und ihre Geburtsaristokratie weit und breit
bekannt war, entstand eine Spaltung im Schöße der Gemeinde-
oligarchie selbst. Hier zog sich ein Zerwürfnis zwischen dem
59
Rabbiner Samuel Wigdorowicz und dem Kahal, oder richtiger
zwischen der Rabbiner- und der Kahalpartei an die zwanzig Jahre
hin. Der Rabbiner wurde der Bestechlichkeit, Trunksucht,
Rechtsbeugung und des Meineides angeklagt. Der Streit zwischen
dem Rabbiner und dem Kahal wurde zunächst von einem
Schiedsgericht und von einem Kongreß litauischer Rabbiner
untersucht; da aber die Zwistigkeiten und die Aufregung in
der Stadt kein Ende nehmen wollten, wandten sich beide
Parteien an den Wojewoden (Herzog) RadziwiU, der sich
auf die Seite des Kahals stellte tmd den Rabbiner des Amtes
enthob (1785). Das zwischen diesen einander befehdenden
Mächten stehende einfache Volk war dem Kahal, dessen Miß-
bräuche und Gewaltakte in der Tat jedes Maß überschritten,
bei weitem feindlicher gesinnt. In den folgenden Jahren
(1786 — 1788) wurde der Bevollmächtigte des einfachen Volkes
von Wilna, Simon Wolfowicz zum Kämpfer und Märtyrer für
die Sache seiner Wähler. Vom Kahal verfolgt, versah er sich
mit einem „eisernen Brief" des Königs Stanislaus August, der
ihm und dem einfachen, durch die Tyranei des Kahals „völlig
zugrunde gerichteten Volk", die Unantastbarkeit der Person
und des Vermögens sichern sollte. Dies hinderte jedoch die
Kahalverwaltung nicht, über Simon den „Cherem" zu ver-
hängen und seinen Namen in das „schwarze Buch" einzu-
tragen. Der Wojewode aber, der es mit den Kahalsatrapen
hielt, warf den widerspenstigen Volkstribim ins Gefängnis von
Nieswiz (1788). Der Eingekerkerte verfaßte daselbst ein Send-
schreiben an den Vierjährigen Reichstag über die Notwendig-
keit der Grundreform des jüdischen Gemeindelebens und der
Beseitigung der auf dem Volke lastenden Gewalt des Kahals.
Dieser zwischen dem Kahal, dem Rabbiner und dem einfachen
Volke tobende Kampf erschütterte bis auf den Grund die
jüdische gesellschaftliche Organisation in Litauen kurz vor
dessen Angliedenmg an das Russische Reich. Einer der wenigen
freisinnigen Rabbiner jener Zeit schildert in düstem Farben
das Gebaren der Gemeindeoligarchie: „Die Führer (die Rabbiner
und die Vorsteher) verzehren die Abgaben des Volkes und trinken
Wein für die Geldbußen; über alle Steuern verfügend, setzen
sie diese fest und verhängen den Cherem (über die Ungehor-
samen); die Entschädigung für ihre Tätigkeit in der Gemeinde
60
nehmen sie sich sowohl in offener wie geheimer Weise, mit allen
ihnen zu Gebote stehenden Mitteln; keine vier Ellen durch-
schreiten sie ohne Bestechung, und die Armen tragen das Joch . . .
Die Gelehrten schmeicheln den Reichen; und die Rabbiner selbst
verachten einander: die dem Studium der Thora (des Talmuds)
obhegen, verachten alle diejenigen, die sich mit Mystik und
Kabbala beschäftigen, und das gemeine Volk verbindet die
Urteile beider Parteien und sagt, daß alle Gelehrten sich bla-
mieren . . . Den Reichen ist die Gunst der (polnischen) Guts-
herren wertvoller als das Wohlwollen der Besten und Ehrlichsten
(unter den Juden); der Reiche ist nicht darauf stolz, daß der
Gelehrte ihm Ehre erweist, sondern darauf, daß der Fürst ihn
in seine Gemächer einführt und ihm seine Schätze zeigt."
In den wohlhabenden Klassen ist die „Putzsucht" verbreitet;
die Frauen tragen Perlenschnüre und bunte Gewänder. —
Die Erziehung der Jugend in den Chedarim und den Jeschi-
both entartete immer mehr. Von elementaren Wissenschaften
allgemeinbüdenden Charakters konnte hier nicht die Rede sein;
die Schule trug einen rein rabbinischen Charakter. Die talmu-
dische Scholastik schärfte die Gehirne, aber da sie kein reales
Wissen bot, verbreitete sie nur Unsinn. Der Chassidismus
entriß diesem Reiche des Rabbinismus ein weites Terrain, aber
auf dem Gebiete der Schule erwies er sich ohnmächtig, etwas
Neues zu schaffen. In der religiösen und nationalen Stim-
mung der Gesellschaft bewirkte der Chassidismus tiefgreifende
Veränderungen, aber diese Veränderungen zogen den Juden
nach rückwärts in die Tiefen mystischer Beschaulichkeit und
eines dem Verstände und jedem Versuche einer Gesellschafts-
reform feindlichen blinden Glaubens hinein. In den achtziger
Jahren des i8. Jahrhunderts, als sich im jüdischen Deutsch-
land das Panier der kampfeslustigen Aufklärung emporschwang,
wurde in Polen und Litauen ein erbitterter Kampf zwischen
den Chassidim und Misnagdim geführt, ein Kampf, der das
Bewußtsein der von der polnischen Judenheit erlebten politischen
Krise erstickte, wie auch den vom Westen ausgehenden Mahn-
ruf zur Aufklärung und Reform übertönte. Das Gespenst der
Aufklärung, das von Deutschland herüberschielte, löst hier
Furcht und Schrecken in beiden Lagern aus, wie das Gesicht
des Teufels. Der „Berliner" wird zum Synonym des Abtrünnigen.
6i
Die Salomon Maimons müssen nach Deutschland flüchten, um
die Welt der neuen in Polen verbotenen Ideen kennen zu lernen.
§ IG. Rußland {Weißrußland). Das dem Russischen Reiche
angegliederte Weißrußland mit seinen zweihunderttausend
Juden^), führte die „jüdische Frage" in die innere russische
Politik ein. Einem Staate der bisher keine scharfen nationalen
Konflikte kannte, wurden zwei Gouvernements — Mohüew und
Polozk (Witebsk) — mit einer fremdstämmigen Bevölkerung,
die sich durch eine eigenartige wirtschaftliche Struktur und in-
nere Lebensgestaltung auszeichnete, einverleibt. Die Regierung
Katharinas II. machte alsbald die weißrussische Bevölkerung
zum Gegenstand verschiedener Experimente, wenn auch in
etwas milderer Form als die weiland von Joseph II. in Galizien
vorgenommenen Versuche. Die russische Regierung befaßte sich
in der ersten Zeit nicht mit kleinlicher Reglementierung des
jüdischen Lebens nach deutschem Muster, aber auch ihre Juden-
Politik läßt dieselbe Zwiespältigkeit, wie die österreichische
erkennen — ein Gemisch von Unterdrückung imd Liberalismus.
Einerseits durften die Juden in die Kaufmann- tmd Klein-
bürgerschaft eintreten und die entsprechenden Standesrechte
erwerben (1780); andererseits wurde ihnen dieses Recht nur
innerhalb der zwei weißrussischen Gouvernements {1786) ein-
geräumt; die Juden hatten also kein Wohnrecht in allen den
Gebieten, die sich außerhalb der dem Polenreich entrissenen Pro-
vinz befanden, — was den Keim zu der fatalen „Ansiedelungs-
zone" bildete. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet ging eine tief-
greifende Umwälzung vor sich. Es wurde der Versuch gemacht,
das Hauptgewerbe der jüdischen Bevölkerung — die Brannt-
weinbrennerei und den Verschleiß von Getränken lahmzu-
legen; in den Städten wurden die Juden von diesem Gewerbe
durch die Munizipalbehörden ausgeschlossen, und auf dem Lande
untersagten die weißrussischen Behörden ganz eigenmächtig den
Gutsherren, Schenken an Juden zu verpachten (1783); eine
furchtbare wirtschaftliche Krisis stellte sich als Folge ein:
,, Tausende von Famüien" — sagt ein Zeitgenosse — „wurden
ins Elend gestürzt." Und nur das Jammergeschrei der zu-
grunde gerichteten jüdischen Bevölkerung, das bis an den Senat
') Ein Zeitgenosse (Bennet) gibt die Zahl der Juden in den beiden weiß-
russischen Gouvernements auf Grund amtlicher „Ijsten" mit 40 000 Familien an.
62
drang (1786), nötigte die Regierung der weiteren Verelendimg
dieser Gebiete Einhalt zu tun. Große Verwirrung brachten auch
solche Maßnahmen der Regierung, die einerseits die Aufrecht-
erhaltung der jüdischen Kahalordnung zu fiskalischen Zwecken
anstrebten (1776), andererseits die Juden in die Ordnung der
allgemeinen städtischen Selbstverwaltung einzuführen suchten
(1783): die Funktionen zweier Selbstverwaltungen allgemeiner
und spezieller Natur, die einander hemmten und störten, wurden
durcheinander geworfen. Diese schwankende Politik, ein Ge-
misch von Freiheiten und Repressalien, war nicht dazu an-
getan, den Wohlstand der neuen jüdischen Kolonie in Rußland
zu fördern. Die Krisen der Übergangszeit — des Zeitraumes
zwischen der ersten und der zweiten Teilung Polens lasteten
schwer auf ihren Schultern. In mechanischer Weise an den
Organismus des neuen Staates gefesselt, war das jüdische Weiß-
rußland zur selben Zeit von allen anderen Teüen dieses Reiches
durch unüberschreitbare Schranken getrennt. Aus der Peters-
burger Maske guckte die alte moskowitische Politik hervor . . .
Indessen stand vor der Schwelle des Reiches eine fast eine
Million Seelen zählende jüdische Bevölkerung von Litauen, Po-
dolien, Wolhynien und einem großen Teile des zentralen Polens,
der Gebiete, die nach der zweiten und dritten Teüung und dann
auch nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (1793,
^795. 1815) an Rußland fielen, eine Bevölkerung, die daran war,
dem Russischen Reiche einverleibt zu werden.
§ II. Die außereuropäischen Länder. Die jüdische Welt
außerhalb Europas konzentrierte sich gegen das Ende des
18. Jahrhunderts an den beiden Polen der Kultur — im
fernen Westen, in den soeben gebüdeten Vereinigten Staaten
von Nordamerika, und im asiatisch-afrikanischen Osten, der
in den Fesseln des alten patriarchalischen Despotismus
schlummerte.
Die junge Tochter Europas, Amerika, die sich von der elter-
lichen Bevormundung befreit hatte, beeÜte sich, die alten Fa-
milienvorurteile abzustreifen, und verkündete die Prinzipien
der Freiheit und Gleichheit. Während die Juden in England
sich noch außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befanden, von
der sie durch die bürgerliche Eidesformel „nach dem wahren
Glauben des Christen" getrennt waren, stellte das Volk der
63
Vereinigten Staaten in der Unabhängigkeitserklärung von 1776
ein neues Prinzip anf: „Kein Mensch darf wegen religiöser Über-
zeugungen seiner Bürgerrechte beraubt und Verfolgungen aus-
gesetzt werden." Die jüdische Kolonie der transatlantischen
Republik, der die Wohltaten der Freiheit zuteü geworden, war
nicht groß, aber wir sehen hier zum erstenmal den Akt einer
Emanzipation, die ganz ohne Kämpf vermöge des allgemeinen
Prinzips der bürgerlichen Gleichheit erreicht wurde.
Am anderen Pol, in den alten großen Herden der Judenheit,
im moslemitischen Orient herrschte düstere Nacht. Die er-
graute Mutter Buropas, Asien, schien unter der Bürde der Jahr-
hunderte eingeschlafen zU sein. Die über die Türkei verstreuten
jüdischen Massen waren nach den Fieberphantasien Sabbatai-
Zewis schon lange in einen lethargischen Schlaf versunken.
Trostlos war das Leben im osmanischen Reich, das die Bruch-
stücke zweier großer Teile der Diaspora, des sephardischen
und aschkenasischen, beherbergte. Zwei abgesonderte Gruppen
der Judenheit vegetierten hier an allen Ecken und Enden
des Reiches: die eine sprach einen spanischen, die andere
einen deutschen Jargon. Beide waren vom Despotismus eines
Staates geknebelt, der auf gewaltsame Weise ein Konglomerat
von Völkerschaften imd Religionen in sich vereinigte. Die
zitternde Judenheit stand hier zwischen zwei Feuern — zwischen
dem Islam und dem Christentum. In den Zentren der euro-
päischen Türkei, in Konstantinopel und in Saloniki waren die
großen jüdischen Gemeinden von einer ihnen fremden Masse
der Griechen und Armenier umgeben, die auf wirtschaftlichem
Böden, auf dem Gebiete des Handels, einen Kampf gegen die
Juden führten. In der asiatischen und afrikanischen Türkei
waren die Juden von einer ihnen der Rasse nach verwandten,
der Religion nach feindlichen, verwilderten arabischen Welt
umgeben. Hier lebten sie unter dem doppelten Druck des mosle-
mitischen Fanatismus und der orientalischen Tyrannei. Jedes
Paschalyk hatte sein System der Gesetzlosigkeit und Willkür.
Die Ausbeutung der Juden durch den betreffenden Pascha
geschah bald auf ,, friedlichem" Wege, indem er dem Reichen
den Überfluß und dem Armen das Unentbehrliche wegnahm,
bald auch gewaltsamerweise, indem er die jüdischen Viertel
durch Überfälle verheerte. Die verkümmerten, eingeschüchterten
64
Gemeinden suchten sich in jeder Provinz den lokalen Zustanden
außerhalb des Ghettos anzupassen, und ihr trauriges Geheimnis
innerhalb desselben zu bewahren. In Palästina, das durch die
türkische Herrschaft in ein Land von Ruinen verwandelt worden
war, sammelten sich tausende jüdischer Familien, die sich von
Almosen europäischer Frömmlinge ernährten, um die vielen
Totenstädte und die heiligen Gräber zu bewachen. Jerusa-
lem, Hebron, Zephath, Tiberias, bildeten die Tetrarchie der
frommen Bettelei. In den Schlupfwinkeln des Ghettos hatten
hier einst der Rabbinismus imd die mystische Kabbala ge-
herrscht; gegen das Ende des i8. Jahrhunderts drang von
Rußland und Polen die lebensfrischere Mystik der neuen Chassi-
dim aus der Schule Beschts hinüber, die bedeutende Zentren
in Hebron und Tiberias bildete. So sah das Element der
„Reform" in diesem schlafenden, dunklen Reiche aus . . . Auch
weiter, durch die Riesengebiete Syriens, Ägyptens und des
Berberreichs (Marokko, Timis, Algerien) zieht sich die Kette
jüdischer Kolonien — der stummen Denkmäler einer längst er-
loschenen Zivilisation, großer historischer Umwälzungen. Die
Flut der Tyrannei, der Barbarei ind des Fanatismus hatte hier
den Mittelmeerstreifen, die Wiege der jüdischen Kultur und
der Kultur der ganzen Welt verschlungen. Der Orient schlum-
merte an der Schwelle des stürmischen 19. Jahrhunderts . . .
Aber auch hierher wird einst das Brausen der europäischen
Umwälzungen dringen, und über den alten Gräbern die frohe
Kunde des Lebens erschallen.
5 Dabnow, Geschichte der Jnden I 65
II. Die Hauptprozesse der neueren Geschichte der Juden
§ 12. Emanzipation und Reaktion. Die neuere Geschichte
der Juden in dem Zeitabschnitt zwischen 1789 und 1905,
vom Beginne der ersten französischen bis zur ersten rus-
sischen Revolution, bietet uns zwei einander parallel laufende
Reihe von Prozessen. In der politischen Geschichte des Volkes
wird die bürgerliche Emanzipation (oder der Kampf um diese)
von der Reaktion (einer allgemeinen oder speziell antijüdischen)
abgelöst. Dementsprechend geht in der Kulturgeschichte die Ab-
lösung der Assimilation durch die nationale Bewegung oder wohl
ein Wetteifern der einen mit der anderen vor sich. Diese zwei
Reihen, die ihrerseits ihren Ursprung in den früheren Stadien
des geschichtlichen I^ebens der Judenheit haben, werden in der
Verkettung der Geschehnisse der neueren Geschichte durch zahl-
reiche Fäden ineinander verwoben.
Der Ausdruck ,, Emanzipation" zur Bezeichnung einer auf ge-
setzgeberischem Wege durchgeführten rechtlichen Gleichstellung
der Juden mit allen anderen Bürgern des I<andes ist ein Er-
zeugnis der neuesten Zeit. Unter der Herrschaft der alten Ge-
sellschaftsordnung, in der die Juden die Stellung nicht einer
Gruppe von Bürgern, sondern die einer außerhalb der Bürger-
schaft stehenden Kaste einnahmen, die vom Staate kraft einer
besonderen Vergünstigung ein beschränktes Quantum von Rech-
ten zuerteilt bekam, konnte wohl die Rede von Rechten, nicht
aber von einem Rechte, von bürgerlicher Gleichberechtigung
sein. Erst mit dem Momente des Entstehens des modernen
Rechtsstaates, der den alten Polizei- und Ständestaat ablöste,
konnte die ,, Emanzipation" zu einem politischen Faktum wer-
den. Dieser Moment trat in Europa für Frankreich im Jahre 1789,
für die anderen Länder des Westens im Verlaufe des 19., für
Rußland tritt er im 20. Jahrhundert ein. In dem Maße, wie
die neue konstitutionelle Ordnung in verschiedenen Ländern
66
Wurzel faßte, machte der Emanzipationsprozeß in der Regel eine
ganze Reihe von Stadien durch ^). Schon bei der Festlegung der
neuen Ordnung wurde die Emanzipation bloß mitgedacht, als
eine Folgerung aus dem in den Grundgesetzen vorgezeichneten
allgemeinen Dogma von der bürgerlichen Gleichheit (,, Dekla-
ration der Rechte", die ersten Paragraphen der europäischen
Konstitutionen). Die allgemeinen Formeln der bürgerlichen
Gleichheit erwiesen sich jedoch als ungenügend für die juridische
Fixierung der Gleichberechtigung der Juden. Es erhoben sich
laute Stimmen, daß das Grundgesetz der Gleichheit auf die Juden
nicht ausgedehnt werden dürfe. So lagen die Dinge nach der Ver-
öffentlichung der Deklaration der Rechte, als die bürgerliche
Gleichheit eben im Entstehen begriffen war. Dann entspann sich
eine spezielle Erörterung der jüdischen Frage (in der französischen
Nationalversammlung der Jahre 1789 — 1791 und in den deutschen
und österreichischen Parlamenten des Jahres 1848), und nach
einigem Schwanken wurde die Gleichberechtigung kraft der Not-
wendigkeit in formeller Weise gesetzlich bestätigt, denn es er-
wies sich als unmöglich, die Rechtlosigkeit des einen Teües der
Bevölkerung mit der erneuerten staatlichen Ordnung zu verein-
baren. Aber auch diese spezielle Anerkennung der jüdischen
Gleichberechtigung stieß auf Hindemisse zweifacher Art: ent-
weder war es die nach der Revolution einsetzende Reaktion, die
die Grundgesetze aufhob, nachdem die erstere der Regierung die
konstitutionelle Gesetzgebung abgerungen hatte, oder es war die
christliche Gesellschaft, die sich mit der faktischen Gleich-
berechtigung der Juden nicht abfinden konnte. Im ersteren Falle
wurde die Gleichberechtigung auf juridischem Wege abgeschafft,
im letzteren wurde deren praktische Verwirklichung faktisch
verhindert. Reaktionen, die von Regierungen ausgehen, tragen
einen vorübergehenden Charakter, und die abgeschafften Kon-
stitutionen treten nach einiger Unterbrechxmg in voller oder ein-
geschränkter Gestalt wieder in Kraft. Einen bei weitem dauern-
deren Charakter nehmen die gesellschaftlichen Reaktionen an,
*) Abseits von diesem Kontinentalsystem der Emanzipation steht England,
dessen politische Ordnung sich in keiner Abhängigkeit von den Revolutionen
der neuesten Zeit befindet. Die Judenemanzipation, die hier dem Emanzi-
pationskampf der englischen Katholiken nahekommt (1829), mit dem sie teil-
weise in einem geschichtlichen Znsammenhang steht, trug einen besonderen
religiösen Charakter.
67
d. i. der Widerstand, den die christliche Gesellschaft der
Verwirklichung der juridisch bereits anerkannten Emanzi-
pation- entgegensetzt. Eine derartige Reaktion tritt oft in
der Form eines organisierten Kampfes auf (der Antise-
mitismus im Westen). Mancherorten ist sie nicht gegen
die bereits gesetzlich anerkannte Emanzipation gerichtet,
sondern gegen den von den Juden eingeleiteten Kampf für
ihre Freiheit mit einem sich zäh behauptenden alten Regime
(Rußland).
Auf Grund all dieser vorhin erwähnten Prozesse läßt sich eine
Einteilung der neuesten politischen Geschichte der Juden in
Zeitalter vornehmen, die im allgemeinen mit der der neuesten
Geschichte Europas zusammenfällt, und die folgendermaßen dar-
gestellt werden kann: i. Das Zeitalter der ersten Emanzi-
pation, der französischen (1789 — 1815), als Frankreich seine
Juden emanzipierte, und die anderen Staaten unter dem Ein-
flüsse der siegreichen Republik und des napoleonischen Kaiser-
reiches die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz konstituierten
oder Schritte zur Besserung der bürgerlichen Lage der Juden
machten (Holland, Teile Italiens und Deutschlands, bis zu einem
gewissen Grade Rußland zu Beginn der Regierung Alexanders I.);
2. Das Zeitalter der ersten Reaktion, einer allgemein-
politischen (1815 — 1840), als die Emanzipation allerorten, Frank-
reich und Holland ausgenommen, von einer gänzlichen oder
teüweisen Rückkehr zur ersten bürgerlichen Entrechtung der
Juden abgelöst wurde; 3. Das Zeitalter der zweiten Eman-
zipation, der deutschen (1848 — 1881), als die Festlegung des
konstitutionellen Regimes vornehmlich in den Ländern deutscher
Kultur zur juridischen (aber nicht überall faktischen) Gleich- ■
berechtigung der Juden im Westen führte, und als die „Epoche
der großen Reformen in Rußland" die Emanzipationsbewegung
und den Kampf um die Emanzipation innerhalb der östlichen
Judenheit ins Leben rief. 4. Das Zeitalter der zweiten
Reaktion, der antisemitischen (1881 — 1905), als der gesell-
schaftliche Antisemitismus des westlichen Europas zu einer
Macht wurde, die in vielen Ländern der faktischen Durchführung
der vollen bürgerlichen und politischen Gleichberechtigung der
Juden Hindernisse in den Weg legte, imd die Judenfeind-
schaft des reaktionären Rußlands für den Kern der Juden-
68
heit ein Regime von Pogromen und der schändlichsten
Entrechtung schuf.
§ 13. Assimilation und nationale Bewegung. In engem
Zusammenhange mit dem zwiespältigen äußeren Prozeß der
Emanzipation und Reaktion befindet sich der zwiespältige
innere Prozeß der Assimilation und der Nationalisierung. Unter
Assimilation versteht man entweder das natumotwendige
Verschlungenwerden des Juden von der Kultur der herrschenden
Umgebung, das zu der Einbuße des jüdischen national-kul-
turellen Typus fiihrt, oder auch das formelle Verzichtleisten
des Juden auf seine von der Religiosität als solcher unabhängige
nationale Eigenart und das Angegliedertwerden an die herr-
schende Nation in jedem einzelnen Lande. Dieser Entnationali-
sierung liegen zwei verschiedenartige Triebfedern zugnmde —
die humanitäre und die utilitäre. Die erstere ist in der jüdi-
schen Geschichte nicht neu. Unter dem Einflüsse großer welt-
umspannender Kulturbewegungen entfaltete zu verschiedenen
Zeiten die zentrifugale Tendenz in gewissen Schichten der Juden-
heit eine intensivere Energie als die zentripetale, die Hinneigung
zu der „allgemein-menschlichen" Kultur der Peripherie über-
wog die zur urwüchsigen nationalen Kultur. So war es in Pa-
lästina in der Zeit der Vorherrschaft der phönizischen und
dann der ass3nrisch-babylonischen Kultur, so war es in ganz
Vorderasien und Ägypten unter der Herrschaft der griechisch-
römischen Kultur, so war es auch in der Zeit der arabischen
Renaissance im Orient und in Spanien. Die westliche Judenheit,
die jahrhundertelang ein vollständig in sich at^eschlossenes Da-
sein führte, konnte der europäischen aufklärerischen Bewegung
des 18. Jahrhunderts und dessen kosmopolitischer Ideologie
nicht widerstehen. Die Epoche Mendelssohns tmd die der fran-
zösischen Revolution entwickelten in den oberen Schichten der
jüdischen Gesellschaft eine ungeheuere zentrifugale Kraft. Ihr
IX)sungswort lautete: Vom Nationalen zum Allgemein-Mensch-
lichen. Es begann der Prozeß des Anschlusses der Juden an die
westliche Kultur. Da es aber im Westen in der Wirklichkeit gar
keine einheitlidie Kultur gab, sondern immer nur eine deutsche
oder französische und überhaupt eine solche, die dieses oder
jenes nationale CJepräge je nach dem T^pus der Sprache, der
Schule und der Literatur der herrschenden Nation trug, so
69
machten sich auch die verschiedenen Gruppen des jüdischen
Volkes in jedem Lande faktisch die entsprechende nationale
Kultur zu eigen, d. i. sie verschmolzen mit den Franzosen, den
Deutschen usw. Die humanistische Bewegimg artete in den Ver-
zicht auf die jüdische Nationalität zugvmsten der fremden Kultur
des gegebenen I^andes oder der gegebenen Provinz aus.
Wäre nun diese natürliche zentrifugale Bewegung (bei der un-
natürlichen I^age des jüdischen Volkes in der Diaspora) sich selber
überlassen geblieben, so wäre sie mit der Zeit durch die normale
Gegenwirkung ihrer Nebenbuhlerin in Schach gehalten worden;
der verderbliche Prozeß der Assimilation wäre in den dichten
Massen des Volkes auf die alte elementare Tendenz nach dem
Nationalen hin gestoßen. Aber hier kamen zu den humanitären
Beweggründen solche utÜitärer Natur hinzu. In das Ringen um
die Emanzipation wurde auch die Assimüation mit hineingezogen
und diente als eine Kampfeslosung. Die christlichen Gegner der
Emanzipation suchten nachzuweisen, daß die Gleichberechtigung
unmöglich einer abgesonderten Menschengruppe mit allen Merk-
malen einer selbständigen Nationalität verliehen werden könne.
Das Argument des Abbe Maurice in der berühmten Sitzung
der Nationalversammlung im Dezember 1789: „das Wort
Jude ist nicht der Name einer Sekte, sondern der einer
Nation" wurde von den Gegnern der Emanzipation im Verlaufe
des ganzen 19. Jahrhunderts in allen Ländern ausgenutzt.
Darauf erwiderten die Verfechter der Emanzipation mit den
charakteristischen Worten des Clermont-Tonnerre in derselben
Sitzung: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den
Juden als Menschen ist alles zu gewähren." Nach langwierigem
Kampfe trugen die Verfechter der Emanzipation den Sieg davon:
die bürgerliche Gleichberechtigimg wurde den Juden in der An-
nahme gewährt, daß sie in dem gegebenen Lande keine nationale,
sondern eine religiöse Gruppe innerhalb der herrschenden Nation
bilden würden. Als Napoleon I. bereits nach dem Erlasse des
Emanzipationsaktes im Jahre 1791 über das Verhalten der Juden
selber zu dieser Frage in Zweifel geriet, ließ er in Paris eine Ver-
sammlung jüdischer Vertreter aus dem ganzen französischen
Reiche einberufen und rang ihnen unter Androhung der bürger-
lichen Entrechtung die Formel der nationalen Selbstverleug-
nung ab („Aujourd'hui que les juifs ne forment plus une
70
nation*) et qu'ils ont l'avantage d'ßtre incorpores dans la grande
nation" . . . ). Das Pariser Synhedrion stand vor dem Dilemma :
entweder das Judentum zu einer Nationalität und nicht Kon-
fession zu erklären und der Wohltaten der bürgerlichen Freiheit,
die sich auf das gesamte Napoleonische Reich erstreckte, mit
einem Male verlustig zu gehen, oder aber sich dnrch das Einge-
ständnis, nichts weiter als Bestandteile der umgebenden Nationen
des jeweiligen Staates zu sein, von seiner Nationalität loszusagen,
und auf diese Weise die Gleichberechtigung zu erringen*). Die
utilitären Erwägungen gewannen die Oberhand, und der Ab-
dikationsakt wurde unterzeichnet.
Übrigens konnten viele einen derartigen Akt für sich und für
ihre Gesinnungsgenossen bona fide unterschreiben, denn die Zahl
der kulturell assimilierten Juden im Westen war schon damals
sehr bedeutend und nahm mit jedem Jahre zusehends zu. Eine
der wichtigsten Ursachen dieses Wachstums der Assimilation be-
stand darin, daß die gebildeten Klassen der deutschen und der
französisch-elsässischen Judenheit ihren Volksdialekt aufgegeben
hatten, was durch die Propaganda der Mendelssohnschen Schule
seit der deutschen Bibelübersetzung vorbereitet worden war. Die
allgemeine Landessprache ebnete der Verdeutschimg und Fran-
zösierung den Weg in die jüdische Familie und die jüdische
Schule. Die neuen Generationen wurden schon durch die Er-
ziehung dem Judentum entfremdet. Die Generationen des ,,Ber-
^) £s gilt übrigens zu bedenken, daß in jener Epoche das Wort „nation"
in der Regel zur Bezeichnung eines staatlichen oder wenigstens territorialen
Volkes gebraucht wurde. Die Verleugnung der jüdischen Nationalität in diese m
Si nne konnte als eine einfache Konstatierung einer Tatsache angesehen werden,
und diese Zweideutigkeit des Ausdrucks machten sich viele Verleugner, die in
ihrem Innern die Juden für eine historische und kulturelle Nation hielten, zn-
nntoe. Hierin lag die pia fraus.
') In allen Parlamenten des Zeitalters der , .ersten Emanzipation", in denen
über die jüdische Frage debattiert wurde, wurde der Verzicht der Juden auf
ihr , .spezielles Privilegium", die Gemeinde-Autonomie und die besonderen
nationäl-kultureUen Institutionen, außer den synagogalen, als die erste Be-
dingung gefordert. Bine derartige Bedingung wurde von dem Emanzipations-
dekret des Jahres 1 791 in Frankreich (s. weiter § 18), von der Gesetzgebung der
napoleonischen Epoche in Italien (§ 26) und von den christlichen und selbst
jüdischen Kämpfern um die Gleichberechtigung in Holland gestellt (was den
Widerstand der konservativen Vorsteher der Amsterdamer Gemeinde, denen
die alte Autonomie am Herzen lag. hervorrief. § 25). Als Entgelt für die frühere
weitgehende Autonomie wurde den Gemeinden ein schlechtes offizielles Surro-
gat — das Napoleonische konsiatoriaie System dargeboten.
71
liner Salons"; Börne und Heine; Lassalle und Marx — das sind
drei Etappen einer mehr und mehr zunehmenden Entfremdung.
Wahr ist es allerdings, daß sich eine parallel laufende Strömung
in der Generation der Aufbauer des erneuerten Judentums, der
eines Friedländer und Jakobsohn, eines Rießer und Geiger her-
ausbildete, aber was war es denn, was diese den umgebenden
Nationen im Namen des eigenen Volkes sagten ? Sie wiederholten
das Losungswort des Pariser Synhedrions : , , Wir gehören der Natio-
nalität nach den umgebenden Nationen an; es gibt keine jüdische
Nation, sondern nur Deutsche, Franzosen, Engländer, die sich
zur jüdischen Religion bekennen," In diesen Erklärungen, die für
gewöhnlich im Eifer des Kampfes abgegeben wurden, verwachsen
humanitäre und rein utilitäre Erwägungen derart miteinander,
daß es schwer wird, zu ermitteln, wo die einen enden und die
anderen beginnen. Überall, wo die Emanzipationskämpfer des
völligen Verschwindens des Judentums als Nation nicht ganz
sicher waren, befahl ihnen ein gebieterischer Instinkt: so soll
geredet werden — sonst werden wir nicht imstande sein, für
die Gleichberechtigung zu kämpfen und den Kampf glücklich
durchzuführen. Der Gedanke, daß eine Nation ohne Staat imd
selbst ohne Territorium berechtigt sei, staatsbürgerliche Rechte
in vollem Maße samt solchen nationaler Art zu fordern, ist in den
Köpfen noch nicht aufgedämmert. In der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ist die nationale Frage in der politischen Geschichte
Europas noch nicht an die Reihe gekommen; sie tritt erst in der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach den vielen, im Jahre 1848
einsetzenden nationalen Freiheitskämpfen in den Vordergrund.
Für einen Moment konnte es den Anschein gewinnen, daß das
19. Jahrhundert in der jüdischen Geschichte eine tiefe Furche
gezogen habe. Es schien, daß die älteste Nation, die ihren Bestand
im Verlaufe von Jahrhunderten durch alle Stürme der Welt-
geschichte hindurch rettete, gegen den Ansturm des 19. Jahr-
hunderts nicht mehr aufzukommen vermochte, daß sie nachgab,
sich selber verleugnete und zu einer religiösen Sekte degradierte,
deren Bruchteüe in die umgebenden Nationen versprengt sind.
Es schien, daß die bona fides der einen und die pia fraus der
anderen in den Erklärungen der nationalen Selbstverleugnung,
oder richtiger gesagt, die aus diesen beiden Elementen bestehende
Mischung von den Völkern in gutem Glauben hingenommen
72
wurde, daß die im Westen bereits zustande gekommene Krisis
auch im Osten ihrer Verwirklichung imvermeidlich entgegen-
schreite. Hier aber vollzog sich eine Krise der Krise. Der an-
gehende Prozeß des nationalen. Zerfalls wurde durch zwei Fak-
toren, von denen der eine n^ativer, der andere positiver Natur
war, gebieterisch zum Stillstand gebracht — durch den west-
lichen Antisemitismus einerseits imd durch das Schicksal des
Kerns der Judenheit in Rußland andererseits.
Die Antisemiten aller Länder sagten den Juden, die die Eman-
zipation auf dem Wege der nationalen Selbstverleugnung er-
worben hatten: „an eure Selbstverleugnung glauben wir nicht;
bei all euren Bemühimgen, mit uns zu verschmelzen, bleibt ihr
uns fremd; ihr seid nicht nur Ander^läubige, sondern auch
Fremdstämmige." Das Schicksal der russischen Judenheit wie-
derum verhalf vielen zu einer klaren geschichtlichen Erkenntnis,
die sie eingebüßt hatten.
Seit der kulturellen Umwälzung der Epoche Mendelssohns und
der französischen Revolution gingen die Wege der westlichen
und östlichen Judenheit auseinander; die frühere, auf einer
strengen bürgerlichen und nationalen Absondenmg aufgebaute
Vorherrschaft der deutsch-polnischen Juden erfuhr eine Ent-
zweiung ihres Wesens; die deutschen Juden verwarfen ihre alte
Grundlage und schlugen den Weg der Aufklänmg und der Assi-
milation ein; die polnischen Juden hingegen, die inzwischen
unter vornehmlich russische und österreichische Herrschaft ge-
rieten, bewahrten ihre Eigenart und erwiesen sich den neuen
kulturellen Einflüssen schwer zugänglich. Diese vom Westen
hinüberkommenden Einflüsse, die auch in den Osten eindrangen,
verschafften auch hier der Assimilation, dem Kampfe um die
bürgerliche Gleichberechtigung und sogar den bewährten
Methoden der Selbstverleugnung Eingang. (Die Periode
zwischen 1860 — 1880.) Aber kaum faßte die kulturelle Krise in
den tieferen Schichten der Gesellschaft festen Fuß, als die Re-
aktion der Jahre 1881 — 1905 mit ihren mittelalterlichen Ver-
folgungen und Pogromschrecken ausbrach. Die Schläge hagdten
auf den östlichen Kern der Judenheit in einem Momente nieder,
als einerseits in der dichtesten Masse der Bevölkerung der alte
Vorrat an nationaler Energie noch nicht versiegt war, anderer-
seits an den intelligenten Spitzen der Gesellschaft sich ein ge-
73
wisses Quantum neuer sozialer Energie ansammelte, die zu einem
Kampfe um die Freiheit drängte. Die Verbindung dieser beiden
Elemente rief eine kompliziertere Form des Daseinskampfes ins
Leben, als es im Westen der Fall war: die nationale Frei-
heitsbewegung.
Die neue Bewegung fiel in zwei Richtungen auseinander: die
eine ist auf die Ausscheidung der Judenheit oder eines Teiles
derselben aus der Welt der Diaspora zum Zwecke einer Reor-
ganisation auf autonomer Grundlage gerichtet (Zionismus,
Territorialismus); die andere, die eine derartige Ausschei-
dung in einem Maße, das fähig wäre, das ganze Leben der
Nation zu beeinflussen, für undurchführbar hält, strebt auf dem
Wege eines gleichzeitigen Kampfes um bürgerliche und nationale
Rechte in jedem Lande eine national-kulturelle Wieder-
belebung.des jüdischen Volkes in der Diaspora an. Die Ver-
treter der beiden Richtungen sind sich darin einig, daß die Juden
den Kampf um ihre Freiheit nicht als Partikelchen fremder
nationaler Organismen, sondern als Teile einer geschichtlich ein-
heitlichen jüdischen Nation auszufechten haben. Im Momente
der russischen Revolution des Jahres 1905, als der Kampf um die
Emanzipation von der Mehrheit der jüdischen politischen Par-
teien unter jüdisch-nationaler Flagge geführt wurde, fanden diese
Bestrebungen in bestimmten politischen Losungen ihren vollen
Ausdruck. Wenn diese ganze Freiheitsbewegimg durch die fatalen
Bedingungen der russischen Wirklichkeit nicht diesen schweren
Stoß erlitten hätte, so wären wir Zeugen einer dritten „Emanzi-
pation", der russischen, geworden, einer Emanzipation, die nicht
imter einem russisch-nationalen Deckmantel, sondern Millionen
russischer Bürger jüdischer Nationalität dargeboten worden
wäre. Aber das Schicksal wollte es, daß der Moment dieser dritten
Emanzipation hinausgeschoben, und einer neuen grausamen
Reaktion der Weg geebnet wurde.
Die innere Krise hat sich jedoch vollzogen. Der kulturelle Ein-
fluß des jüdischen Westens auf den Osten machte gegen das Ende
des Zeitalters dem entgegengesetzten Einfluß des Ostens auf
den Westen Platz; die assimüatorische Strömung überläßt nach
und nach der nationalen in ihrer modernen Gestalt die Füh-
rung; die erstere war typisch für das 19., die letztere verspricht
es für das 20. Jahrhundert zu werden.
74
Erste Abteilung
Das Zeitalter der ersten Emanzipation
(J789— J8J5)
Erstes Kapitel
Die Emanzipation der Juden in Frankreich unter der
Revolution und dem Kaiserreich
§ 14. Der Kampf um die Gleichberechtigung auf dem
Boden der Deklaration der Rechte. Im historischen Frühling
des Jahres 1789, als die Generalstaaten Frankreichs, die
sich bald darauf in die konstituierende Versammlung ver-
wandelten, in Paris zusammengetreten waren, erkannten die
französischen Juden, daß die heranroUende Freiheitswelle auch
sie aus den Tiefen der Rechtlosigkeit mit in die Höhe ziehen
könnte. An der sozialen Bewegimg, die der Einberufung der
Volksvertreter vorangegangen war, konnten sich die vom staats-
bürgerlichen I^ben ferngehaltenen jüdischen Massen nicht be-
teüigen; sie wählten keine Abgeordneten und äußerten keine
Wünsche in „Instruktionen". Einigen Anteil an der Wahl-
kampagne nahm nur eine einzige Gruppe naturalisierter Juden
im südlichen Frankreich (die sogenannten Portugiesen oder
Sephardim); in Bordeaux fanden sich einige jüdische Wähler,
und einem von ihnen mangelte es bloß an einigen »Stimmen, um
Abgeordneter werden zu können (David Gradis). Allein die Ver-
fechter jüdischer Interessen in den nördlichen Gebieten rüsteten
sich auf ihre Weise zum Kampf um ihre Rechte. Der Kampf
wurde auch durch die Notwendigkeit der Selbstwehr hervor-
gerufen, denn in vielen Bezirken der jüdischen Ansiedelungszone
— Elsaß-I/)thringen — erteüten die christlichen Wähler aus den
beiden ersten Ständen ihren Abgeordneten judenfeindliche In-
struktionen. In den Bistümern Kolmar und Schlettstadt verlangte
die Geistlichkeit, daß in jeder jüdischen Famüie nur dem ältesten
Sohne die Ehe gestattet werde, um „die übermäßige Vermehrung
dieses Stammes" zu verhindern; der Adel dieser Gegend äußerte
die Ansicht, daß schon die bloße Existenz der Juden ein „gesell-
schaftliches Unglück" bedeute; die Stadt Straßburg beharrte auf
77
ihrem alten „Vorrecht" — die Juden ans ihrem Gebiete auszu-
weisen. Die judenfeindlichen Tendenzen der Geistlichkeit und
des Adels fanden oft auch in den Instruktionen an die Abge-
ordneten des dritten Standes ihren Ausdruck. Wenn in Paris und
in anderen kulturellen Zentren (Metz) den Abgeordneten ein-
geschärft wurde, „die Lage der Juden in Erwägung zu ziehen"
und für deren Gleichberechtigung einzutreten, so gab sich im
Elsaß auch der dritte Stand alle Mühe, dem Wachstum der
jüdischen Bevölkenmg einen Damm entgegenzusetzen, ihrer ge-
werblichen Tätigkeit, insbesondere auf dem Gebiete der Kredit-
versorgung, enge Grenzen zu ziehen, imd selbst einzelne jüdische
Gemeinden zu beseitigen. Die meisten Elsässer wünschten — am
Vorabende der Revolution — eine neue vermehrte Auflage des
drakonischen Reglementes des Jahres 1784 (§ 6) herbei . . . Gegen
diese Bestrebungen traten die Verfechter jüdischer Interessen aus
Elsaß und Lothringen auf. Dem „Generalsyndikus" der elsäs-
sischen Juden Cerf-Berr gelang es nach langwierigen Bemühun-
gen, von der Regierung Neckers die Erlaubnis zur Einberufung
eines Kongresses von Bevollmächtigten aus deri jüdischen Ge-
meinden dreier Provinzen (Elsaß, Lothringen und Metz) zu er-
wirken und der Regierung ihre Wünsche darzutun. Die Be-
ratungen der jüdischen Bevollmächtigten begannen im Mai
1789, als die Generalstaaten bereits zusammengetreten
waren; es wurde eine Anzahl bescheidener Forderungen aufge-
stellt, die sämtlich nicht etwa auf die gänzliche Abschaffung der
jüdischen Rechtlosigkeit — daran wagte damals niemand zu
denken — sondern lediglich auf die Müderung der größten Härten
hinzielten . . . Allein die Sommerereignisse des großen Jahres, die
eine neue politische Ära in Frankreich eröffneten, gaben auch der
jüdischen Frage eine neue Wendung.
Die Julitage des Jahres 1789 brachten den Juden zugleich
Freude und Kummer. Die Juden der Stadt Paris sahen die
niedergerissene Bastille, die Demütigung des Despotismus und
den Triumph des Volkes. Die Ghettobewohner, die gestern noch
vor jedem Polizeileutnant, der jeden Beliebigen dieser „Recht-
losen" aus der Hauptstadt ausweisen konnte, zitterten, waren
mit einem Male in andere Wesen verwandelt: der belebende
elektrische Strom, der den Organismus Frankreichs durchrieselte,
berührte auch sie. In Paris begannen Gruppen von Juden in die
78
Armee der Freiheit, in die Nationalgarde einzutreten; das gleiche
geschah in Bordeaux . , . Aber zur selben Zeit (Ende Juli) kamen
aus dem Elsaß schlimme Nachrichten: im Zusammenhange
mit den Bauernaufständen in den ländlichen Provinzen wurden
jüdische Wohnungen geplündert. Die durch den jahrhunderte-
langen Druck aufs äußerste gereizten Bauern begannen die
Schlösser und Herrengüter des Adels, mittmter aber auch die
Wohnungen der Juden in den Dörfern zu plündern, wobei sie es
besonders auf die Vernichtung der Schuldverschreibungen und
der Handelsbücher ihrer Gläubiger absahen. Die durch den Adel
gedemütigten Juden wurden nach dem Ausspruche eines Ge-
schichtsschreibers zu I^idensgefährten ihrer Unterdrücker. Mehr
als tausend Juden flüchteten, ihr Hab und Gut der Willkür
der Plünderer preisgebend. In der schweizerischen Stadt Basel
fanden sie zeitweilige Unterkunft.
Der Schmerzensschrei der elsässischen Juden drang bis zur
Nationalversammlung. Ein freiheitsliebender Geistlicher, der
sich die Befreiung der Juden zur Lebensaufgabe machte, erhob
seine Stimme zugunsten der Verfolgten. Der Abgeordnete der
Nationalversammlung Abbe Gregoire aus Nancy (Verfasser
einer noch vor der Revolution geschriebenen leidenschaftlichen
Apologie des Judentums) war im Begriffe, mit einer Rede
zugunsten der Gleichberechtigung der Juden hervorzutreten, als
die Kimde von den elsässischen Judenplünderungen ihn ver-
anlaßte, die Rednertribüne zu besteigen, um für die Entrechteten
Sicherheit des Lebens und Schutz des Eigentums zu fordern. Mit
sichtlicher Teilnahme hörte die Versammlung die Rede des auf-
geregten Abbes (in der Sitzung vom 3. August) an und ging zur
Tagesordnung über. In dem Moment, als sie sich anschickte, das
uralte Problem, die Abschaffung der Leibeigenschaft in radikaler
Weise zu lösen, konnte sie nicht länger bei einem Ereignis
verweüen, das sie für eine Episode der Agrarbewegung hielt.
Unter der Wirkung des wuchtigen Protestes der Volksmassen
gegen die feudale Herrschaft faßte die Nationalversammlung in
der berühmten Nacht auf den 4. August den Beschluß, die feudale
auf Leibeigenschaft beruhende Ordnung abzuschaffen.
Die Judenfrage kam in der Nationalversammlung bei der Er-
örtertmg der Punkte „der Deklaration der Rechte des Men-
schen und Bürgers" zum erstenmal zur Sprache. Am 22. August
79
wurde der Punkt „von der Toleranz" in der folgenden Formu-
lierung des Abgeordneten de Castellaux behandelt: „Niemand
darf wegen seiner religiösen Überzeugungen verfolgt werden."
Die konservativen Abgeordneten wollten die katholische Religion
als die herrschende anerkannt wissen, indem sie den Anders-
gläubigen gegenüber „Duldsamkeit" einräumten. Da erschien
auf der Rednertribüne der aufs tiefste entrüstete Mirabeau.
„Eine herrschende Religion!" — rief er aus. „Möge dieses
t5rrannische Wort aus unserer Gesetzgebung ausgemerzt werden!
Denn wenn ihr eine derartige Bezeichmmg auf religiösem Gebiet
einmal zulasset, werdet ihr sie auch auf allen anderen Gebieten
zulassen müssen: Ihr werdet einen herrschenden Kultus, eine
herrschende Philosophie und herrschende Systeme haben. Nein,
nur die Gerechtigkeit allein soll herrschen; das höchste Prinzip
ist das Recht der Persönlichkeit; ihm soll sich alles unter-
ordnen" . . . Der Donnerschleuderer der ,, Konstituante" fand
Unterstützung bei dem protestantischen Pastor Rabeau-
Saint-Etienne. Seine Rede über die Rechte der Protestanten
schloß mit den Worten: „Für die französischen Protestanten,
für alle Nichtkatholiken in unserem Königreich fordere ich alles,
was ihr für euch fordert: Freiheit und gleiche Rechte! Ich
fordere es auch für jenes, vom Boden Asiens losgerissene, seit
achtzehn Jahrhunderten unterdrückte und verfolgte Volk, das
sich unsere Sitten und Gebräuche angeeignet haben würde, wenn
unsere Gesetzgebung es in unsere Mitte eingeführt hätte; wir
haben auch nicht das Recht, diesem Volke seine sittlichen Mängel
vorzuwerfen, weil sie nur die Frucht unserer eigenen Barbarei
sind, die Frucht jenes erniedrigenden Zustandes, zu dem wir
dieses Volk ungerechterweise verdammt haben." Nach langen
Debatten wurde der lo. Punkt der Deklaration — der über die
Gewissensfreiheit — in folgender Formulierung angenommen
(23. August): „Niemand darf wegen seiner Überzeugungen ver-
folgt werden, selbst wegen der religiösen, insofern deren Äuße-
rungen der durch das Gesetz festgelegten gesellschaftlichen Ord-
nung nicht widersprechen." Wenn gleich nach der Annahme
dieses Punktes alle die sich daraus ergebenden praktischen Folgen
festgelegt worden wären, so hätte die Frage der Gleichberechti-
gung der Juden auf Grimd der Deklaration der Rechte eine so-
fortige Entscheidung gefunden. Aber die Versammlimg tat es
80
nicht. Es ist leichter, dem Menschen die Anerkennung einer
theoretischen Wahrheit abzuringen, als die Zustimmung zu deren
praktischer Anwendung. Die Nationalversammlung ging zu der
Behandlung der anderen Punkte der Deklaration der Rechte und
dann zu der Ausarbeitung der Grundlagen für die Verfassung
über. Das Toben der Revolutionsstürme, das fortwährend in den
Sitzungssaal der Volksvertreter eindrang, lenkte ihre Aufmerk-
samkeit auch von anderen speziellen Fragen ab, die sogar be-
deutender als die jüdische waren. Der letzteren stand noch ein
langer Leidensweg bevor.
Die Proklamierung der Deklaration der Rechte und das erste
wohlwollende Wort über die Juden in der Nationalversammlung
lösten unter den jüdischen Führern eine freudige Erregung aus.
Nun konnten sie mit mehr Mut imd Zuversicht jene Politik der
außerparlamentarischen Beeinflussung — durch Petitionen und
Deputationen — verfolgen, für die sie sich schon früher ent-
schieden hatten.
Am 26. August wurde der Nationalversammlung eine vor-
wiegend von Vertretern der sephardischen Gemeinde unter-
zeichnete Adresse der Pariser Juden unterbreitet. Entzückt von
den „großen Akten der Gerechtigkeit", die von der National-
versammlung ausgehen, und der Hoffnung Ausdruck gebend,
daß diese Taten eine Rückwirkung auf das Schicksal der jüdi-
schen Bevölkerung nicht verfehlen werden, ersuchen die Ver-
fasser der Bittschrift die Versammlung, in ihren Beschlüssen des
jüdischen Volkes besondere Erwähnung zu tim (faire une mention
particuli^re) und „seine staatsbürgerlichen Rechte'' zu sanktio-
nieren, „damit in diesem Punkte keine Zweifel bestehen, und der
lange Druck nicht als Rechtfertigung für weitere Unterdrückung
diene". Einige Tage darauf lief eine ebensolche Adresse von den
„Vereinigten jüdischen Deputationen" aus Elsaß-Lothringen ein,
die sich bei der Einberufung der Generalstaaten mit bescheidenen
Wünschen begnügen wollten und um Müderung des Schicksals
der Juden baten. Nun begannen die Abgeordneten eine kühnere
Sprache zu führen. ,,Die Revolution", schrieben sie in ihrer
Adresse, „verkündete die Rechte des Menschen und des Bürgers :
sollen denn wir Juden einzig und allein von diesem Akte aus-
geschlossen sein? Wir werden noch bis auf den heutigen Tag
unterdrückt, und selbst in der letzten Zeit, als die Volkswut nach
« Dttbnow. Geschiebte der Juden I 81
Opfern fahndete, wandte sie sich gegen uns, denn solange nicht
die Gleichberechtigung der Juden durch einen feierlichen Erlaß
verkündet ist, wird das Volk in dem Glauben leben, daß der
Jude außerhalb des Gesetzes steht". — In diesen beiden
Adressen, von denen die eine von den privilegierten Juden der
Hauptstadt, und die andere von den jüdischen Massen der „An-
siedelungszone" ausging, fällt eine charakteristische Meinungs-
verschiedenheit auf. Bei ihrer Forderung nach Gleichberechtigung
erklären die Pariser ihre Bereitschaft, „in unserem eigenen In-
teresse und dem des Gemeinwohls auf das uns gewährte Vor-
recht, unsere eigenen, aus unserer Mitte gewählten und von der
Regierung ernannten Vorgesetzten (d. h. auf die Gemeindeselbst-
verwaltung) zu verzichten." Hingegen bitten die Elsässer drin-
gend, uns „unsere Synj^oge (Gemeinde), unsere Rabbiner, unsere
Syndiker" zu belassen und die Gemeindeselbstverwaltimg nicht
anzutasten, ohne welche die inneren Angelegenheiten der Juden
in die Brüche gehen würden. So verzichteten bereits die vom
Volke losgerissenen oberen Schichten der Hauptstadt auf ihre
kulturelle Autonomie im bloßen Vorgefühle der Gleichberechti-
gung, während die kompakten Massen der Judenheit keine de-
mütigenden Konzessionen als Dank für die Verleihung staats-
bürgerlicher Rechte anboten ... In der Sitzung vom 3. Sep-
tember wurden diese und manche anderen jüdischen Petitionen
der Nationalversammlung vorgelegt. Der Abbe Gregoire, der als
Verfechter der jüdischen Sache auftreten wollte, verlangte das
Wort, aber andere unaufschiebbare Fragen veranlaßten die Ver-
sammlung, die Untersuchung der jüdischen Petitionen einer be-
sonderen Kommission zu übergeben.
Unterdessen wollten die Klagen der während der Agrar-
bewegung zugrunde gerichteten jüdischen Familien in den
Dörfern und Städten Elsaß-Lothringens noch immer nicht ver-
stummen. Die Pogromepidemie hatte sich nocht nicht gelegt; an
manchen Orten rissen die Aufständischen die Dächer von jüdischen
Häusern herunter, schössen in die Synagoge hinein und drohten
mit einem Gemetzel. Die königlichen Truppen zeigten sich in der
Verteidigung der Juden sehr lässig. Am 28. September forderten
die Abgeordneten Gregoire imd Graf Clermont-Tonnerre
die Nationalversammlung auf, die laufenden Arbeiten zu unter-
brechen, um unverzüglich die gegen die Judenpogrome zu er-
82
greifenden Maßnahmen zu beschließen. „Es naht der jüdische
Versöhnungstag heran", sagte Germont, „und die in den Syna-
gogen versammelten Menschen bleiben gegenüber der Volks-
wut wehrlos; der Ort, an dem die Juden ihre Gebete verrichten,
kann zu dem ihres Todes werden." Beide Abgeordnete forderten
sofortige Einwirkung auf die elsässischen Behörden. Die Ver-
sammlung, die ihrer Entrüstimg über die im Elsaß verübten
Greuel Ausdruck gab, erteüte ihrem Vorsitzenden Demennier den
Auftrag, an die elsässischen Behörden sofort ein Rundschreiben
wegen Ergreifung außerordentlicher Maßnahmen zum Schutze
der Person und des Eigentums der Juden zu erlassen und gleich-
zeitig den König um Unterstützung dieser Forderung „durch die
ganze Macht seiner Autorität" zu bitten.
Am Abend des 14. Oktobers, einige Tage nach der Über-
siedelung des Königs und der Versammlung aus Versailles nach
Paris, spielte sich in der Nationalversammlung eine feierliche
Szene ab. Der Abbe Gregoire meldete, daß eine aus elsaß-
lothringischen Juden bestehende Deputation schon lange darauf
warte, der Versammlung vorgestellt zu werden, imd ersuchte,
diese sofort zu empfangen. Es wurde der Befehl gegeben, die
jüdische Deputation in den Sitzungssal eintreten zu lassen. Sie
trat ein und blieb am Gitter stehen. An der Spitze der Deputation
befand sich der bekannte jüdische Vertreter Beer-Isaak
Herr aus Nancy, Freund und Landsmann von Gregoire. Mit
einer vor innerer Erregung zitternden Stimme wandte sich Berr
an die Versammlung mit folgenden Worten: ,, Meine Herren! Im
Namen des ewigen Schöpfers jedes Rechtes und jeder Gerech-
tigkeit; im Namen Gottes, der den Menschen gleiche Rechte
verlieh und ihnen damit auch gleiche Pflichten auferlegte; im
Namen der im Verlaufe vieler Jahrhunderte beleidigten Mensch-
heit, beleidigt durch die schmähliche Behandlung, die den Nach-
kommen des ältesten der Völker fast in allen Ländern der Erde
widerfuhr — im Namen alles dieses beschwören wir euch: wendet
eure Aufmerksamkeit unserem kläglichen Los zu! Allerorten
unterdrückt, allerorten gedemütigt und dabei imnier gefügig,
nimmer einen Widerstand entgegensetzend; ein Gegenstand des
Hasses und der Verachtung bei allen Völkern, während sie doch
eher auf Duldsamkeit und IViitleid Anspruch erheben können, ge-
statten sich die Juden, in deren Namen wir nun vor euch treten,
83
sich der Hoffnung hinzugeben, d^ß ihr an deren Klagen, trotz der
euch beschäftigenden Arbeit nicht achtlos vorübergehen werdet;
daß ihr ihre schüchternen Erklärungen, die sie aus der Tiefe ihrer
Erniedrigung hier vorzubringen wagen, mit einigem Interesse an-
hören werdet. Wir werden, meine Herren, eure Zeit nicht miß-
brauchen, um den Charakter und die Gerechtigkeit unserer
Forderungen eingehend zu behanddn; dies alles ist bereits in den
Denkschriften, die wir die Ehre haben, euch zu unterbreiten, dar-
gelegt. Von euch hängt es ab, uns in eine minder traurige Lage
zu versetzen, als die, zu der wir bisher verurteüt waren. Möge
jene schändliche Scheidewand, die uns so lange von der Welt
trennte, in sich zusammenfallen! Mögen die Menschen in uns
Brüder erblicken! Möge jene göttliche Liebe zum Nächsten, die
euch so teuer ist, sich auch auf uns erstrecken! Möge sich eine
gründliche Umwälzung in allen Institutionen vollziehen, die uns
zu Sklaven machen; und möge diese Umwälzung, nach der wir
bisher vergeblich rangen und um die wir euch nun mit Tränen
in den Augen anflehen, eure Wohltat, das Werk eurer Hände
sein!"
Mit tiefer Aufmerksamkeit hörte die Versammlung die Rede
des Vertreters der Juden an. Viele waren gerührt. Vor der christ-
lichen Gesellschaft standen die Sendboten einer jahrhunderte-
lang unterdrückten Nation, die das Versprechen gaben, alle
historischen Kränkvmgen zu vergessen, und flehentlich um Ge-
rechtigkeit, um ein brüderliches Bündnis, um die Abschaffung
jahrtausendelanger Feindschaft baten. . . Als Berr mit seiner Rede
zu Ende war, erhob sich der Vorsitzende der Versammlung, Preteau.
von seiAem Sitz und wandte sich an die jüdische Deputation mit
folgenden Worten: „Die zur Unterstützung eurer Forderungen
angeführten wuchtigen Gründe gestatten es der Versammlung
nicht, euch teünahmlos zuzuhören. Die Versammlung wird euer
Gesuch zur Kenntnis nehmen und sich für glücklich halten, wenn
sie in der Lage sein wird, euren Brüdern Ruhe und Glück zu ver-
schaffen. Vorerst könnt ihr euren Wählern von unseren Er-
klärungen Mitteüung machen." Die Antwort des Vorsitzenden
löste lauten Beifall bei der Versammlung aus. Auf Antrag Gr^
goires wurde es den jüdischen Delegierten gestattet, als Zeichen
besonderer Aufmerksamkeit tmd Ehrung, in der Kammer bis
zum Schlüsse der Sitzung zu bleiben.
84
Zar selben Zeit veröffentlichte der unermüdliche Abbe Gregoire
in Form einer besonderen Broschüre jene Rede, die er infolge der
Vertagung der Behandlung der jüdischen Petitionen zu halten
nicht in der I^age war („Motion en faveur des juifs"). Seine Apo-
logie schließt mit folgenden an die Vertreter des Volkes gerich-
teten Worten : „50000 Franzosen sind heute als Sklaven erwacht;
von euch hängt es ab, daß sie als freie Männer zu Bette gehen!"
§ 15. Die Dehatten in der Nationalversammlung über die
aktiven Bürgerrechte der Juden. Die französischen Juden
befanden sich einige Zeit in gehobener Stimmung unter
dem Eindrucke des feierlichen Augenblicks vom 14. Oktober.
Es schien ihnen, daß der aus den Tiefen ihrer Seele drin-
gende Appell an die Gleichheit und Brüderlichkeit in den
Herzen aller derjenigen, die die erhabenen hohen Gebote der
„Deklaration der Rechte" dekretiert hatten, einen Widerhall ge-
funden habe. Die Schönseher wollten glauben, daß die freundliche
Antwort des Vorsitzenden Preteau die Stimmung der ganzen
Nationalversammlung zum Ausdruck bringe tmd daß letzterer
in der Tat „sich für glücklich erachten werde, wenn es ihm ge-
lingen sollte, den Juden Ruhe und Glück zu verschaffen". Diese
Illusionen zerschellten bald an der harten Wirklichkeit. Als die
jüdische Frage von den Höhen der Prinzipien auf den Boden
der Praxis herabstieg, zeigte es sich, daß bei weitem nicht alle
Mitglieder der Versammlung die l/jsung der Judenfrage für eine
einfache Schlußfolgerung aus der Deklaration der Rechte hielten.
Es stellte sich heraus, daß die reaktionären und klerikal gesinnten
Abgeordneten aus der Partei der „Schwarzen" (les Noirs) bereit
waren, für solche Grundfesten des alten Regimes, wie die Ent-
rechtung imd die Rechtseinschränkung der Juden, bis zum
Äußersten zu kämpfen; daß die von jahrhundertelangen Vor-
urteüen durchdrungenen Stände des Adels und des Klerus orga-
nisch unfähig waren, die politische Gleichheit von Menschen
anzuerkennen, mit denen sie wie mit Parias umzugehen ge-
wöhnt waren.
Die jüdische Frage kam wieder auf die Tagesordnung der
Nationalversammlung in der Sitzung vom 21. Dezember 1789,
als die Bedingungen der ,, aktiven Bürgerrechte", d. i. des
Rechtes für administrative und munizipale Ämter zu wählen und
gewählt zu werdeh, zur Diskussion standen. Die Liberalen be-
85
antragten die Ausdehnung der aktiven Bürgerrechte auf Nicht-
katholiken, vornehmlich Protestanten. Um die Annahme dieses
Antrags zu vereiteln, verlangten die unruhig gewordenen Kon-
servativen, daß man zugleich auch die Frage von der Verleihung
der aktiven Bürgerrechte an Vertreter niedriger Berufe, wie
Komödianten und Henker behandeln mödite. Der liberale Ab-
geordnete Clermont-Tonnerre, der sich dadurch nicht aus der
Fassung bringen ließ, schlug folgende Gesetzesformel vor: „Die
Nationalversammlung beschließt, daß kein aktiver,
den Bedingungen der Wählbarkeit genügender Bür-
ger wegen seines Berufes oder seiner Konfession
aus der Wahlliste gestrichen, oder des Rechtes, öf-
fentliche Amter zu bekleiden, beraubt werden darf."
Es erhob sich die Frage von der Anwendung des beantragten
Gesetzes auf die Juden. Der elsässische Abgeordnete Reubell,
ein grimmiger Judenfeind, sagte: j,Ich denke von den Juden
nicht anders, als sie von sich selber denken : sie halten sich nicht
für Bürger. Und gerade in diesem Sinne lasse ich die Formel des
Clermont gelten: iftdem er den Ausdruck .aktiver Bürger ge-
brauchte, schließt er dadurch die Juden von dem von ihm be-
antragten Gesetze aus." Auf diese Herausforderung antwortete
Clermont-Tonnerre mit Würde, daß er auch die Juden, die den
formellen Bedingungen des Gesetzes genügen, zur Kategorie der
aktiven Bürger zähle. In der Versammlung entstand ein Tumult,
die Leidenschaften entbrannten — • und die Debatten mußten
bis auf die nächste Sitzung verschoben werden.
In der nächsten Sitzung stand es klar vor aller Augen, daß
weder die protestantische Frage, deren Lösung in einem posi-
tiven Sinne bereits gesichert war, noch der grobe, bizarre
Zwischenfall mit den Komödianten und Henkern die Versamm-
lung irgendwie interessierte, und daß ihre ausschließliche Auf-
merksamkeit einzig und allein dem Streite um die politischen
Rechte der Juden galt. Diese Frage bedeutete einen Prüfstein für
beide Parteien, für die liberale, wie für die reaktionäre. Für die
Führer der ersteren handelte es sich darum, ihre Treue gegenüber
den Prinzipien der Deklaration der Rechte in praxi zu beweisen,
die Konservativen hingegen sahen sich vor der Aufgabe, die „Ge-
fahr" der politischen Gleichstellung der Juden, die ihrem ganzen
System das Todesurteil gesprochen hätte, zu beseitigen. Am
86
23- Dezember widerhallte der Sitzungssaal der Nationalver-
sammlung vor solchen leidenschaftlichen Debatten, wie sie selbst
in diesem stürmischen Parlament nur äußerst selten vorkamen.
Clermont-Tonnerre, der zur Verfechtung seines Antrages mit
einer begründenden Rede auftrat, widmete einen beträcht-
lichen Teil seiner Ausführungen den Juden. „Ihr", sagte er,
„habt euch über diese Angelegenheit schon ausgesprochen, in-
dem ihr in der Deklaration der Rechte die Erklärung abgäbet,
daß kein Mensch seiner Überzeugungen wegen, und seien diese
auch religiöser Natur, irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt
werden darf. Hieße es aber nicht die Büi^er wesentlich ein-
schränken, wenn man sie einzig und allein ihrer Überzeugungen
wegen des wertvollsten Rechtes (des aktiven Bürgerrechtes) be-
rauben wollte ? Das Gesetz darf keineswegs das Glaubensbekennt-
nis eines Menschen antasten; keineswegs steht es dem Gesetze zu,
einen Druck auf sein Gewissen auszuüben; nur die Handlungen
des Menschen unterliegen der Gewalt des Gesetzes, das ver-
pflichtet ist, ihnen allen Schutz angedeihen zu lassen, wenn sie
nicht in Widerspruch zu den Normen gesellschaftlichen Zu-
sammenlebens stehen. Gott wollte es, daß die Menschen in den
allgemeinen ethischen Wahrheiten eines Sinnes werden, und über-
ließ es unserem eigenen Ermessen, moralische Gesetze zu schaffen ;
aber die dogmatischen Gesetze und das Gebiet des Gewissens be-
hielt er für sich selber. Gebet also das Gewissen frei! Möge keine
der Richtungen des Gefühls und des Denkens zum Himmel als
ein Verbrechen angerechnet werden, für das die Gesellschaft mit
sozialer Entrechtung zu strafen hätte! Oder aber — setzet eine
nationale Religion ein, bewaffnet sie mit dem Schwerte und zer-
reißt eure Deklaration der Rechte! . . . Jedes Glaubensbekennt-
nis hat nur ein einziges Zeugnis vorzuweisen: das Zeugnis über
die gute Beschaffenheit seiner Moral. Wenn es eine Religion
gäbe, die ihren Bekennern Diebstahl und Brandstiftung zur
Pflicht machte, so müßte man diesen Bekennern nicht nur
das Wahlrecht verweigern, sondern sie einfach des lyandes ver-
weisen. Dies läßt sich vom Judentume ganz gewiß nicht behaup-
ten. Den Juden wirft man verschiedenes vor. Die schwersten
unter diesen Vorwürfen sind ungerecht, die anderen gehören in
das Gebiet der sozialen Vergehen. Man sagt, die Juden beschäf-
tigen sich mit Wucher . . . Aber Menschen, deren ganzes Ver-
87
mögen ausscMießlich in Geld besteht, können eben ihre Existenz
nicht anders bestreiten, als indem sie das Geld in Umlauf setzen ;
und ihr habt sie doch immer daran gehindert, etwas anderes zu
besitzen . . . Den Juden als Nation muß alles verweigert, den
Juden als Menschen alles gewährt werden. Es ist notwendig»
daß sie Bürger werden. Man sagt, daß sie selbst keine Bürget
werden wollen; wenn sie das behaupten, so soll man sie des
l^andes verweisen, denn es darf keine Nation in einer Nation
geben ... In ihrem Gesuche aber verlangen sie, daß man sie als
Staatsbürger betrachte. Das Gesetz ist verpflichtet, ihnen diesen
Titel, den ihnen nur das Vorurteil verweigern kann, zuzuer-
kennen."
Die Rede Clermont-Tonnerres forderte den besten Redner
der Rechten, den Abbe Maury, einen Mann „von scharfem
Verstand, aber zweifelhafter moralischer Qualität" (Aulard)
zu einer Erwiderung heraus. Voltairianer im Grunde seiner
Seele, der mit der Revolution zu liebäugeln verstand, verfocht
er die Sache „des Thrones und des Altars" mit einem Pathos,
das kaum aufrichtig war, tmd machte oft von unsauberen pole-
mischen Kunstgriffen Gebrauch. Dieser „schwarze" Abbe war
Antipode des „roten" Abbe Gregoire, des edlen Kämpfers
für die Gleichberechtigung der Juden. Für seinen Angriff
auf die Judenheit gebrauchte der tückische Maury nicht nur
die verrosteten Waffen aus der Rüstkammer der Judenfeinde,
sondern auch noch eine von Clermont-Tonnerre leicht hinge-
worfene Bemerkung, nämlich, daß man den Juden als Nation
alles zu verweigern, den Juden als Menschen hingegen alles zu ge-
währen habe. In seiner Erwiderung auf die Rede Clermont-
Tonnerres sagte er: „Vor allen Dingen möchte ich bemerken, daß
das Wort ,Jude' nicht die Benennung einer Sekte, sondern die
einer Nation ist, die ihre eigenen Gesetze hat, diesen Gesetzen
immer treu blieb und fürderhin treu bleiben will. Die Juden
als Bürger (Frankreichs) anerkennen, wäre dasselbe, wie wenn
man Engländer oder Dänen, die nicht naturalisiert sind und
nicht aufgehört haben, sich für Engländer und Dänen zu halten,
zu den Franzosen rechnen wollte . . . Die Juden sind durch sieb-
zehn Jahrhunderte hindurchgegangen und haben sich mit den
anderen Völkern nicht vermengt. Sie trieben nichts anderes, als
Geldhandel. (Des Ferneren verfällt der Redner in kuriose ge-
88
schichtliche Einzelheiten und behauptet z. B., daß die Juden
auch in der Zeit der Könige David und Salomon keinen Ackerbau
trieben und daß sie außer den Sabbaten um 56 Feiertage mehr
haben, als die Christen . . .) Der Schweiß christlicher Sklaven be-
rieselt jene Äcker, wo jüdischer Reichtum entsteht, während die
Juden, die gut bestellte Äcker besitzen, sich nur mit dem Abwägen
von Dukaten und der Berechnung des Gewinns beschäftigen, die
sie aus diesen Münzen herausschlagen können, ohne der Verant-
wortung vor dem Gesetz zu verfallen . . . Im Elsaß befinden sich
in ihren Händen Hypotheken in einem Betrage von 12 Millionen.
In einem Monat können sie sich der Hälfte der Provinz bemäch«
tigen. Und in zehn Jahren können sie diese Provinz vielleicht
ganz an sich reißen, so daß sie zu einer jüdischen Kolonie wird.
Das Volk hegt gegen die Juden feindliche Gefühle, die infolge des
mächtigen Anschwellens des jüdischen Reichtums sich unvermeid-
lich in Gewalttaten entladen müssen. Man sollte eigentlich im
Interesse der Juden selbst diese ganze Frage unberührt lassen.
Die Juden darf man keineswegs unterdrücken: sie sind Menschen,
und folglich unsere Brüder — und Fluch allen, die Unduldsam-
keit predigen wollen! Seiner religiösen Überzeugungen wegen
darf kein Mensch verfolgt werden. Ihr habt dieses Prinzip an-
erkannt und dadurch den Juden den weitestgehenden Schutz ge-
sichert. Möge aber ihnen dieser Schutz als Menschen überhaupt,
nicht aber als Franzosen zuteil werden, denn sie können keine
Staatsbürger seinl"
Die Entstellung der Tatsachen aus dem Leben der Vergangenheit
und der Gegenwart in der Rede Maurys wurde im Parlament und
außerhalb desselben von vielen bemerkt. Das „Journal de Paris",
das tags darauf in einem ausführlichen Artikel eine Anzahl tat-
sächlicher Irrtümer in der Rede Maurys aufdeckte, bemerkte zu
seinen Schlußworten über die den Juden zu gewährende Pro-
tektion : , ,Menschen dürfen nicht andere Menschen protegieren:
solche Protektion erinnert an Tyrannei. Der Protektor aller
Menschen ohne Unterschied ist das Gesetz, aber ein Gesetz ist
immer ein Gewaltakt, wenn an seiner Ausarbeitung diejenigen,
auf die es angewendet werden soll, nicht teünehmen." Der grobe
Sophismus Maurys, daß die Juden ewig Ausländer bleiben sollen,
weü sie bisher in Frankreich nicht naturalisiert waren, d. h. daß
man die Vergewaltigung fortsetzen müsse, weü sie bisher aus-
89
geübt wurde, fand ebenfalls eine gebührende Würdigung in der
Presse. Aber schwerlich konnte damals jemand von den Freunden
der Juden auf die durchaus richtige Bemerkung Maurys, daß die
Juden keine religiöse Sekte, sondern eine Nation seien, erwidern,
daß sich daraus die Notwendigkeit ergäbe, ihnen zugleich mit den
staatsbürgerlichen auch die nationalen Rechte zu gewähren.
Dieser letztere Ausdruck fehlte im Lexikon der französischen
Revolution. Durch den Mund Clermont-Tonnerres hatte der
Liberalismus jener Zeit erklärt: Den Juden als Menschen — alles,
den Juden als Nation — nichts. Die französische Revolution ließ
die Gleichberechtigung der Stände, der religiösen Gruppen, aber
nicht der Nationalitäten gelten. Und dies bedeutet, daß die voll-
ständige Assimilation der Judenheit außerhalb des Gebietes der
Konfessionalität die einzige Bedingung zur Erlangung der aktiven
Bürgerrechte bildete.
Dem Abbe Maury antwortete Robespierre, der sich damals
noch nicht als führender Revolutionär bemerkbar gemacht hatte.
„Ihr habt über die Juden Dinge zu hören bekommen," sagte er in
seiner kurzen Rede, ,,die äußerst übertrieben sind und den ge-
schichtlichen Tatsachen widersprechen. Die Mängel der Juden
rühren von dem Zustande der Erniedrigung her, in den ihr sie ver-
setzt habt. Sie werden sich bessern, sobald sie sehen werden, daß
es vorteühaft ist . . . Ich meine, daß man keinen einzigen An-
gehörigen dieser Klasse jener heiligen Rechte berauben darf, auf
die sie als Menschen Anspruch haben. Die Frage ist prinzipieller
Natur und muß auch dem Prinzip gemäß gelöst werden."
Robespierre hatte die Judenfrage von neuem auf den Boden
der allgemeinen Prinzipien der Deklaration der Rechte gebracht.
Eine derartige Zuspitzung der Frage war den Gegnern der Juden,
zu denen auch der Bischof La Fare aus Nancy gehörte, nicht
vorteühaft. Ein Gesinnungsgenosse des Abbes Maury und seines
Landsmanns, des Judenfeindes Reubell, konnte sich der Bischof
von Nancy seines hohen Ranges wegen ihrer polemischen Me-
thoden nicht bedienen. Seine Rede war mit dem Salböle eines
Dieners der Kirche durchtränkt. „Die Juden", sagte er, „haben
viele Kränkungen erfahren, die man wieder gut machen muß.
Man muß die Gesetze abschaffen, die der Gesetzgeber festlegte,
ohne daran zu denken, daß die Juden Menschen und unglück-
liche Menschen sind. Man muß ihnen Schutz, Sicherheit und
90
Freiheit gewähren. Soll man aber in eine Familie einem fremden
Stamm (tribu), dessen Blicke stets nach seiner Heimat gerichtet
sind und der den Boden, auf dem er jetzt wohnt, zu verlassen
strebt, Einlaß gewähren ? Um gerecht zu sein, muß ich gestehen,
daß die Juden dem Lande Lothringen und insbesondere der Stadt
Nancy große Dienste erwiesen haben ; es gibt erzwungene Lagen ;
mein Mandat befiehlt mir, eurem Antrag entgegenzutreten (dem
Antrag, die Juden als aktive Bürger anzuerkennen). Dieser von
mir erhobene Protest liegt im Interesse der Juden selbst. Für das
Volk bilden sie einen Gegenstand des Entsetzens; im Elsaß
sind sie stets die Opfer der Volksbewegungen. Vor vier Monaten
wollte man in Nancy ihre Häuser plündern. Ich begab mich
nach dem Orte des Aufruhrs und fragte : , Was habet ihr gegen die
Juden? Und da erklärten mir die einen, daß sie das Getreide auf-
kaufen; die anderen beklagten sich, daß sie sich allzurasch ver-
mehren, sich die schönsten Häuser erwerben und bald die
Stadt in ihre Hand bekommen werden. Einer von der Rotte
sagte: ,Ja, Eminenz, wenn wir Sie verlieren sollten, so werden
wir vielleicht einen Juden als Bischof sehen; so geschickt eignen
sie sich alles an. Ein Gesetzesbeschluß, der den Juden bürgerliche
Rechte gewähren würde, könnte zu einer großen Volksempörung
Anlaß geben . . . Ich schlage vor: einen Ausschuß zu bilden und
ihn mit der Revision der ganzen die Juden betreffenden Gesetz-
gebung zu betrauen."
Anläßlich der Drohung Reubeils und des Bischofs La Fare, daß
die Proklamierung der jüdischen Gleichberechtigung zu Aus-
schreitungen gegen die Juden führen könnte, wurde in der
Pariser Presse (,,Le patriote fran^ais" vom 24. Dezember) fol-
gende treffende Bemerkung gemacht: ,, Seltsam genug, daß man
sich auf die eine Ungerechtigkeit beruft, um zu beweisen, daß es
notwendig sei, eine andere zu begehen. Muß denn wirklich das
Gesetz der beständige Helfer des Fanatismus und unsinniger
Vorurteile sein?" Diesen Standpunkt machte sich ein Redner zu
eigen, der dem Bischof von Nancy antwortete; es war dies der
ehrliche Duport, einer der einflußreichsten Führer der liberal-
konstitutionellen Partei in der Nationalversammlung — ein Mann,
dem es in der Folge beschieden war, das Werk der jüdischen
Emanzipation zu seinem endgültigen Abschluß zu bringen. ,,Das
Gesetz", sagte er, ,,ist die Verkörperung der strengen Gerechtig-
91
keit, und wenn die Gebräuche und Sitten zu dieser Gerechtigkeit
im Widerspruche stehen, so ist es die Pflicht des Gesetzes, die
Gebräuche der Gerechtigkeit anzupassen ; letzten Endes werden
die Sitten mit dem Gesetze eins werden." Duport schlug eine
neue Formulierung des Gesetzes vor, in welcher nur das Prinzip
der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt, ohne daß dabei der
Konfession Erwähnung getan wird: „Kein Franzose darf je seiner
aktiven Bürgerrechte verlustig gehen, es sei denn aus Gründen,
die in den Beschlüssen der Nationalversammlung dargelegt sind."
Die Formel Duports wurde mit einer Mehrheit von nur 5 Stimmen
abgelehnt (408 gegen 403).
Als die Debatten am nächsten Tag (24. Dezember) von neuem
einsetzten, brachte der Herzog Broglie folgenden Vermittlungs-
antrag ein : Die Formel Duports ist mit dem Vorbehalte anzvmeh-
men, daß die Lösung der Judenfrage auf einen späteren Zeitpunkt
hinausgeschoben wird. Beide Parteien beeilten sich, diesen Vor-
schlag anzunehmen: die Rechte hoffte, die „Gefahr der Gleich-
berechtigung" durch diese Vertagung hinauszuschieben, was
Reubell mit der ihm eigenen zynischen Offenheit zugab ; was die
Liberalen anbelangt, so stimmten sie ebenfalls der Vertagtmg zu,
denn sie fürchteten, die ganze Formel Duports, die vornehm-
lich auf die Protestanten hinzielte, den Juden zuliebe aufs Spiel
zu setzen, und selbst Mirabeau schloß sich diesem Antrage an,
mit der Begründimg, daß „die Frage nicht genügend geklärt sei"
Allem Anscheine nach glaubte der Führer der Nationalversamm-
lung, daß die Vertagung von kurzer Dauer sein und der Triumph
des Rechts und der Freiheit nicht lange auf sich warten lassen
würde; er konnte nicht voraussehen, daß er sterben würde, ohne
die Emanzipation der Juden erlebt zu haben . . . Der Beschluß
der Nationalversammlung lautete dahin, daß alle Nichtkatho-
liken in völliger Gleichstellung mit den Katholiken das aktive und
passive Wahlrecht, wie auch das Recht, im Staatsdienste tätig zu
sein, genießen dürfen, „wobei hinsichtlich der Juden, über deren
Lage sich die Versammlung eine Aussprache vorbehält, nichts
Neues beschlossen wird".
Im Lärm der Debatten entging ein sehr gewichtiger Umstand
der allgemeinen Beachtung. Indem nämlich die Nationalver-
sammltmg die Lösung der Frage von den „aktiven Bürger-
rechten", d, i. von der Gewährung der vollen bürgerlichen und
politischen Rechte an die Juden vertagte, schob sie zugleich die
lyösung der Frage wegen jener elementaren Rechte der Juden bei-
seite, gegen die auch die gemäßigt-rechte Opposition nichts ein-
zuwenden hatte. Der Abbe Maury und der Bischof La Fare
gaben zu, daß das Gesetz verpflichtet sei, den Juden als Men-
schen „Schutz angedeihen zu lassen", und daß Vieles an der alten
repressiven Gesetzgebung bezüglich der Juden abgeschafft wer-
den müsse — und dessenungeachtet lautete der Beschluß der
Klammer: „hinsichtlich der Juden wird nichts Neues be-
schlossen", d. h. der Beschluß der Kammer beließ sie im früheren
Zustande persönlicher Entrechtung. Die Lösung der jüdischen
Frage wurde auf diese Weise von der Kammer zweimal ver-
schoben: am 23. August, als der Paragraph der Deklaration der
Rechte, der sich auf die Gewissensfreiheit bezog, zur Abstimmung
stand, und am 24. Dezember, als die Bedingungen der aktiven
Bürgerrechte zur Sprache kamcii.
§ 16. Der Separatismus der Sephardim und die Anerkennung
ihrer Gleichberechtigung. Der Beschluß vom 24. Dezember
versetzte die Juden in einen Zustand tiefster Entmutigung.
Getragen vom ersten idealen Aufschwünge der Revolution,
lebten sie in dem Glauben, daß die jüdische Frage in aller-
nächster Zukunft eine Lösung im Geiste der humanitären
Prinzipien der „Deklaration der Rechte des Menschen und des
Staatsbürgers" durch die Nationalversammlung finden werde;
da mußten sie plötzlich die Erfahrung machen, daß die De-
klaration sehr gut bestehen könne, auch ohne daß den Juden
Rechte — nicht einmal „menschliche", geschweige denn staats-
bürgerliche — eingeräumt werden. In den Räumen des großen
Freiheitstribunals mußten sie es mit anhören, wie die Stimme der
Verfechter der Emanzipation durch die Stimmen des religiösen
und nationalen Hasses, die Stimmen der ,,Schwarzen", übertönt
wurde. Es war dies ein moralischer Schlag für das ganze jüdische
Volk, und nicht nur für jenen winzigen Teü desselben, der in
Frankreich lebte. So faßten es nämlich die national gestimmten
„deutschen" oder elsaß-lothringischen Juden auf, die die über-
wiegende Mehrheit der französischen Judenheit büdeten. Ein
anderes Verhalten der ganzen Sache gegenüber legte die ,, bevor-
zugte" Minderheit an den Tag. Es waren dies die Sephardim von
Bordeaux, die im Begriffe waren, sich zu „Franzosen mosaischer
93
Konfession" herauszubilden. Die neue Niederlage würdigten sie
nicht vom nationalen — sondern vom Gruppenstandpimkte aus.
Sie, die Juden von Bordeaux hielten sich schon seit langem für
die auserwählte Aristokratie der Judenheit; sie genossen die
Rechte der in Südfrankreich Naturalisierten und folglich die
Rechte des „passiven Bürgertums"; sie waren schon tatsächlich
nahe daran, die „aktiven Bürgerrechte" für die Wahlen zu den
Generalstaaten (§ 14) zu erhalten — und mit einem Male warf
man sie, die Bevorzugten, durch den Beschluß, die jüdische
Frage zu vertagen, in einen Topf mit den unglückseligen ,, deut-
schen Juden, die nicht einmal elementare Bürgerrechte besaßen,
und an ihrer nationalen Absonderung festhielten"! In tiefer Ver-
stimmung — nicht über das Schicksal ihrer größeren Leiden aus-
gesetzten Brüder, sondern über die Schmälerung und Beein-
trächtigung ihrer Gruppenehre und ihrer Gruppeninteressen,
sagten sich die Juden von Bordeaux in schändlicher Weise von der
nationalen Solidarität los*).
Sobald die Resolution vom 24. Dezember veröffentlicht worden
war, wandten sich die Juden von Bordeaux mit einer Protestbitt-
schrift an die Nationalversammlung (31. Dezember 1789). Sie
machten die Versammlung darauf aufmerksam, daß die in Süd-
frankreich ansässigen Juden „portugiesischer" Herkunft sich
schon längst der Bürgerrechte auf Grund königlicher „Patente"
erfreuten, daß sie sowohl de jure, wie de facto die Gleich-
berechtigung besitzen, und es ihnen bloß an der Sanktionierung
der ,, aktiven Bürgerrechte" fehle, um in den Besitz aller bürger-
lichen Rechte zu treten. Und dies sei auch der Grund, weshalb
sie, die Juden von Bordeaux, sich durch den Umstand verletzt
fühlen, daß man sie in der Resolution der Nationalversammlung
in eine Linie mit , .Juden anderer Herkunft" stellte. Sie pro-
testieren gegen das Verhalten der „Juden von Elsaß-Lothringen
^) Schon nach den ersten Pogromen im Elsaß, im August 1789, wandten sich
die Juden von Bordeaux an den Abb6 Gr6goire mit einem Brief, in dem sie zu
beweisen suchten, daß sie sich im Gegensatz zu ihren ,, unglücklichen" Stam-
mesgenossen im £lsaß schon längst den Christen genähert hätten; ,,wenn da-
her das Benehmen oder das unglückliche Los einiger Juden im Elsaß und den
drei Bistümern die Nationalversammlung bewegen würde, irgendein alle Juden
des Königreichs berührendes Reglement zu erlassen, würden die Juden von
Bordeaux darin mit Recht eine unverdiente Beleidigung erblicken". Der Brief
war von Grandis, Purtado und anderen nnterschrieben.
94
und der drei Bistümer", die unter ihrer selbsteigenen, partikulären
(Gemeinde-) Verwaltung leben, ihre besonderen Gesetze haben
und eine von allen anderen abgesonderte. Bürgerklasse bilden
wollen. Die Verfasser der Bittschrift sind über eine derartige
„unvernünftige Leidenschaftlichkeit des rehgiösen Eifers" ent-
rüstet und wollen hoffen, daß dieser Umstand die Sephardim
oder Portugiesen, die sich „mit der Menge aller anderen Nach-
kommen Jakobs niemals vereinigten und vermischten", nicht kom-
promittieren werde.
Die Bittschrift („Adresse") der Juden von Bordeaux, unter-
zeichnet von ihren Bevollmächtigten imd 215 ,,chefs de maison",
wurde im Publikum verbreitet und an alle Abgeordneten der
Nationalversammlung verschickt. Und alle erftihren auf die
Weise, daß es zwei jüdische Stämme gibt: einen patentierten,
patriotisch gesinnten und der Gleichberechtigung würdigen
„portugiesischen" Stamm, und einen ,, deutschen", der fanatisch
und in staatsbürgerlicher Hinsicht nicht rechtsfähig ist. Die Bitt-
schrift ging dem Verfassimgsausschuß der Nationalversammlung
zu. Der Ausschuß beauftragte eines seiner MitgUeder, den Bischof
von Autun — den später berühmt gewordenen Diplomaten
Talleyrand — , über das Gesuch der Juden von Bordeaux eine
Denkschrift zu verfassen. Am 28. Januar 1790 wurde die Denk-
schrift dem Verfassimgsausschuß mit folgender Bemerkung
unterbreitet: „Die Revolution, die die Rechte aller Franzosen
wiederhergestellt hat, kann keiner einzigen Bürgergruppe die ihr
einmal verliehenen Rechte entreißen. Ohne etwas in betreff
der vertagten allgemeinen Fr^e (hinsichtlich der Juden) im
voraus zu bestimmen, schlägt daher der Ausschuß der Versamm-
lung vor, den Juden von Bordeaux alles zu gewähren, was sie von
Rechts wegen fordern, und sie als aktive Staatsbürger unter
den für alle anderen Franzosen geltenden Bedingungen zu er-
klären." Der verlesene Antrag löste im Sitzungssaal einen mäch-
tigen Tumult aus. Der oblijgate Judenfresser Reubell bestieg die
Rednertribüne und begann mit folgenden Worten: „Euch, meine
Herren, schlägt man vor, die Juden von Bordeaux nicht mehr als
Juden anzusehen . . .!" Er suchte nachzuweisen, daß der Antrag
des Verfassungsausschusses zu der Resolution vom 24. Dezember
in Widerspruch stehe, daß, wenn den Juden von Bordeaux die
Gleichberechtigung gewährt werde, kein Grund vorliege, sie den
95
elsässischen Juden zu verweigern, was gefährlich wäre, angesichts
des Umstandes, daß die Proklamienmg der jüdischen Gleich-
berechtigung zu Ausschreitungen gegen die Juden im Elsaß
führen würde. In demselben Geiste sprach auch der Abbe Maury.
Diesen beiden antworteten die Redner der linksstehenden Partei,
die klarzumachen suchten, daß man die Juden von Bordeaux mit
denen vom Elsaß nicht verwechseln dürfe; denn bei den ersteren
handele es sich um die bloße Erhaltung der früheren staats-
bürgerlichen Rechte, während es sich bei den letzteren um die
Gewährung von Rechten handle, die sie früher nicht besaßen.
Eine berichtigende Klausel von großer Wichtigkeit schlug der
Abbe Gregoire vor, indem er erklärte, daß die Gleichberechtigung
nicht nur den Juden von Bordeaux, sondern auch allen unter
dem Namen der „portugiesischen, spanischen imd avignoner"
bekannten Juden Süd- und Westfrankreichs zu gewähren sei.
Was nun die elsaß-lothringischen Juden betrifft, so ersuchte er,
einen eigenen Tag für die Erörterung dieser Frage festzusetzen,
imd versprach, alle falschen Beweise des Abbe Maury und der
anderen Gegner der Emanzipation zu widerlegen.
Nacfi unendlichen Formulierungen und Berichtigungen wurde
endlich an die Abstimmung geschritten. Es wurde zunächst
versucht, die Frage durch Aufstehen von den Plätzen zu ent-
scheiden, aber der zweimal wiederholte Versuch ergab zweifel-
hafte Resultate. Man sah sich also genötigt, zu einer namentlichen
Abstimmung zu schreiten. Die anti jüdische Partei beschloß, die
namentliche Abstimmung zu vereiteln und eine Auflösung der
Sitzung herbeizuführen. In den Reihen der Rechten entstand ein
ungeheurer Lärm; die geistlichen und adeligen Abgeordneten
erhoben sich von ihren Sitzen, gingen ein und aus, redeten durch-
einander und lärmten. Die Stimme des Sekretärs, der die Namen
der Abgeordneten aufrief, erstickte in diesem Lärm; an die
zwanzig Mal wurde die Abrufung unterbrochen und wieder auf-
genommen. Zwei Stunden dauerte dieser Skandal. Das freche
Benehmen der judenfeindlichen Abgeordneten regte die Linke
und das Zentrum dermaßen auf, daß sie beschlossen, den Radau-
machern keinesfalls nachzugeben. Der Vorsitzende der Ver-
sammlung erklärte, daß ihn nichts davon abbringen würde, die
Sitzung bis zu ihrem Ende durchzuführen. Schließlich wurden
die „Schwarzen** des Lärmens müde — tmd die namentliche Ab-
96
Stimmung nahm einen normalen Verlauf. Füi den den Juden
günstigen Antrag mit der Ergäuzungsklausel Gregoires wurden
373 Stimmen gegen 225 abgegeben. Der durch eine so starke
Mehrheit angenommene Beschluß lautete folgendermaßen: „Die
Nationalversammlung beschließt, daß alle als por-
tugiesische, spanische und avignoner bekannte Ju-
den nach wie vor alle die Rechte genießen sollen,
die sie auf Grund königlicher Patente genossen,
und daß sie daher alle Rechte der aktiven Bürger
genießen dürfen, wenn sie den von der Versammlung
hierfür festgesetzten Bedingungen genügen wer-
den."
Der Beschluß der Nationalversammlung wurde unverzüglich
dem Könige zur Bestätigung unterbreitet und erhielt einige
Tage darauf gesetzliche Kraft. Die in Paris wohnenden Sephar-
dim schickten einen Boten nach Bordeaux, um ihren Lands-
leuten die frohe Botschaft mitzuteilen. Die jüdischen Einwohner
von Bordeaux mußten jedoch noch einige peinliche Tage erleben.
Das durch seinen Mißerfolg erbitterte „schwarze Hundert" ver-
suchte, das städtische Gesindel in Bordeaux gegen die Juden auf-
zuhetzen. Nach Paris kamen beunruhigende Gerüchte über einen
Pogrom, der dort angeblich stattgefunden hatte; die klerikale
Presse, die darin eine Bestätigung ihrer Meinung erblickte, daß
„der König von Frankreich nicht zu einem König der Juden werden
kann", feierte ihren Triumph. Aber die Pogromgerüchte erwiesen
sich als stark übertrieben. Am 9. Februar machte der Abgeordnete
Garat der Nationalversammlung eine beruhigende Mitteilung, in-
dem er einen von den Juden von Bordeaux durch einen Eilboten
nach Paris geschickten Brief verlas. Daraus ergab sich, daß dort
eine unbedeutende Demonstration stattgefunden hatte, die sich
darin äußerte, daß ein Häuflein junger Leute im Theater und
im Börsengebäude, ,, Nieder mit den Juden" schrie — und das
jüdische Publikum zu entfernen versuchte. Ein großer Teil des
Publikums jedoch mißbilligte die Ausschreitungen der unge-
zogenen Schlingel, und tags darauf drückten die ehrbarsten christ-
lichen Bürger der Stadt den Vertretern der jüdischen Gemeinde
ihr Bedauern über den skandalösen Vorfall aus. Das Börsen-
gebäude wurde von einer müitärischen Abteilung bewacht, aber
diese Maßregel erwies sich als überflüssig: die jüdischen Besucher,
7 Dubuow, Geschichte der Juden I Q7
die den darauffolgenden Abend im Theater erschienen, wurden
vom christlichen Publikum mit Beifallskundgebungen begrüßt.
§ 17. Die Agitation der Pariser Kommune zugunsten der
Juden. Im Bericht über den Triiimph der liberalen Ideen,
der im Beschluß vom 28. Januar wegen der Juden Südfrank-
reichs zum Ausdruck gekommen war, machte das ,, Journal
de Paris" folgende Bemerkung : „Aber an diesem Triumph blieb
ein bitterer Beigeschmack haften. Die Juden der elsaß-loth-
ringischen Gebiete können der Nationalversammlimgdie Worte
Esaus an seinen Vater zurufen: Hast du nur einen einzigen
Segen?" Die elsaß-lothringischen und Pariser Aschkenasim, an
denen man in stiefväterUcher Weise achtlos vorübergegangen
war, ließen es jedoch bei wehmütigen Klagen nicht bewenden.
Sie hatten es gelernt, die Gleichberechtigung als ein ihnen zu-
kommendes Recht zu fordern und nicht als ein Geschenk zu er-
flehen. Schon nach der Vertagung vom 24. Dezember verfertig-
ten diese durch das Zögern der Nationalversammlung aufs
äußerste erregten „deutschen Juden" eine „Bittschrift" an die
Versammlung, in welcher sie erklärten, daß sie die Gleich-
berechtigung nicht „auf dem Wege allmählicher Verbesserungen"
sondern „unverzüglich" erwarten. Sie fordern ihre Rechte „mit
der Unbeirrbarkeit von Menschen, die nicht einen Gnaden-
sondern einen Gerechtigkeitsakt erwarten"; indem sie die
lyasten der öffentlichen Pflichten mittragen, müssen sie auch
ihren Anteü an den Segnungen des öffentlichen Lebens gesichert
wissen. Es sei dies für sie ,,eine Existenzfrage auf dem Gebiete
des öffentlichen Lebens". Die Bittschrift, unterzeichnet von den
besten Vertretern der Aschkenasimgruppe von Paris (Cerf-Berr,
Beer-Isaak-Berr, David Sinzheim, dem späteren Vorsitzenden
des napoleonischen Synhedrions und anderen), wurde in der Ver-
sammlung vom 28. Januar 1790, am Tage des Beschlusses über
die sephardische Gleichberechtigung eingereicht, blieb aber ohne
jeden Erfolg. Die verhängnisvolle „Vertagung" bheb in Kraft.
Für die Juden der Stadt Paris machte sich diese Kränkung be-
sonders fühlbar. Sie standen im eigentlichen Mittelpunkte der
revolutionären Bewegung und nahmen an ihr einen regen Anteil.
Über hundert Juden standen im Dienste der Pariser Nationalgarde,
in die sie kuri nach der Erstürmung der Bastüle als Freiwillige
eingetreten waren. In einigen Pariser Bezirken (besonders im
98
Karmeliter-Bezirk) betätigten sich die Juden trotz der Rechts-
einschränkungen in den Stadträten und anderen städtischen In-
stitutionen. Die Juden legten einen patriotischen Eifer an den
Tag und waren bereit, ihr Leben für ihre stiefmütterliche Heimat
hinzugeben. Nicht unbeträchtlich waren auch die Summen, die
sie für gemeiimützige Zwecke spendeten. Ein armer Gelehrter,
der Verfasser der vorrevolutionären „Apologie der Juden", Sal-
kind Hurwitz, der an der Königlichen Bibliothek zu Paris als
Übersetzer angestellt war, spendete den vierten Teil seines
knappen Jahresgehalts von 900 Franken der Gemeindekasse.
Männer dieser Art konnten sich nicht länger mit dem Brandmal
der gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Entrechtung zu-
frieden geben. Und nun griffen die Pariser Juden zu einem neuen
Kampfmittel, um sich ihre Rechte zu erringen: sie beschlossen,
auf die Nationalversammlung durch die Pariser Kommune
oder Stadtverwaltung einzuwirken. In der Kommune konzen-
trierten sich die radikalsten Elemente der Hauptstadt, die durch
ihre Resolutionen mehr als einmal einen Druck auf die National-
versammlung ausübten. Die Juden rechneten darauf, daß, wenn
einmal die städtische Verwalttmg, die das Organ der öffentlichen
Meinung der Hauptstadt büdete, zugunsten der Emanzipation
aufträte, auch die Nationalversammlung mit der Wiederaufnahme
der vertagten jüdischen Frage nicht länger zögern könne und
sie in positivem Sinne lösen würde.
An eben demselben 28. Januar, als die Frage wegen der süd-
französischen Juden in der Nationalversammlung behandelt
wurde, spielte sich im Sitzungssaale der allgemeinen Versamm-
lung (Assemblee generale de la commime) eine feierliche Szene ab.
Eine vielköpfige Deputation der Pariser Juden, in der sich auch
an die fünfzig Nationalgardisten mit der dreifarbigen Kokarde be-
fanden, trat vor die Kommimalversammlung mit der Bitte, die
Gemeinde der Hauptstadt möge durch ihre Abgeordneten für
die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung eintreten.
Als Wortführer dieser Deputation figurierte der Advokat
des Parlaments und Kommunemitglied Godard, der von den
Pariser Juden bevollmächtigt wurde, sich für sie zu verwenden.
Godard verließ seinen Platz, den er unter den Kommuneab-
geordneten eingenommen hatte, .machte ein paar Schritte vor-
wärts, trat an die Spitze der jüdischen Deputation und wandte
7- 99
sich an die Versammlung mit folgendea Worten: ,, Meine
Herren, ich verließ für kurze Zeit meinen Platz, den ich unter
euch einnahm, um ihn mit einem zu vertauschen, der mir in
einem Augenblick, wie der jetzige, wo ich als Wortführer von
Bittenden und Befürworter von Unglücklichen auftrete, mehr
gebührt. Von dem größten Teü der im Königreiche lebenden
Juden bevollmächtigt, ihre Interessen vor der Nationalver-
sammlung zu verfechten^), erscheine ich zugleich als Vertreter
der in Paris lebenden Juden. Und als solcher kann ich euch von
ihrer tiefen Verehrung Zeugnis ablegen, kann euch ihre Ergeben-
heit beteuern und einen Beweis ihrer Erkenntlichkeit liefern.
Denn die edlen Einwohner unserer Hauptstadt sind inbezug auf
die Juden der Wohltat des Gesetzes vorausgegangen, indem sie
sich der jetzigen denkwürdigen Revolution bedienten, um sie zu
Waffengenossen zu machen und ihnen die Bürgeruniform (der
Nationalgarde), in der einige unter ihnen vor euch treten, zu ver-
leihen. Was die Bevölkerung betrifft, so legt sie schon jetzt ein
brüderliches Verhalten ihnen gegenüber an den Tag, noch ehe sie
gelernt hat, mit ihnen wie mit Bürgern zusammenzuleben . . ."
Nachdem er des ferneren auf den patriotischen Eifer der Pariser
Juden hinwies, die aus ihrer Mitte hundert Krieger in die National-
garde schickten, brachte Godard die Wünsche der jüdischen
Deputation in folgenden Worten vor: ,,Die Juden, die ihr An-
liegen vor die Nationalversammlung bringen und von ihrer
Weisheit ein für sich günstiges Gesetz erwarten, messen jenen
gewichtigen Kundgebungen des Wohlwollens, denen sie in der
Hauptstadt begegnen, eine große Bedeutung bei . . . Sie sind der
Meinung, daß dieses Wohlwollen seitens der hauptstädtischen
Bevölkerung sie auch zu der Bitte berechtigt, eure Stimmen zu
ihrem Schutze zu erheben und das Wort auszusprechen, das die
Entscheidung ihres Schicksals beschleunigen könnte . . . Eure
feierliche Erklärung, die- nur ein der Wahrheit dargebrachtes
Tribut sein würde, soll nicht nur der Sache der Pariser, sondern
der aller Juden im ganzen Königreiche das Wort reden und auf
diese Weise das Wohl von fünfzigtausend Seelen vorbereiten
helfen." Der Vorsitzende der Kommuneversammltmg, Abbe
Mulot, erwiderte darauf, daß das Anliegen der jüdischen Depu-
^) Godard war auch der bevollmächtigte Anwalt der BIsässer Juden und Ver-
fasser der erwähnten Petition vom 28. Januar.
ICD
tation von der Versammlung ernstlich erwogen werden würde,
und gab der Überzeugung Ausdruck, daß die Kommune „ihren
Beschluß in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen der Ver-
nunft und der Menschlichkeit fassen werde".
Aber die jüdischen Kämpfer und ihre christlichen Mitkämpfer
ließen es dabei nicht bewenden. Sie entfalteten eine rege agi-
tatorische Tätigkeit in den „Sektionen" oder Bezirksversamm-
lungen der Abgeordneten der Stadt Paris (die Stadt war in
50 Verwaltungsbezirke eingeteilt, von denen jeder seinen Ab-
geordnetenrat besaß), indem sie die letzteren dazu zu bewegen
buchten, ihre Meinung in der Frage der jüdischen Gleichbe-
rechtigung der zentralen städtischen Verwaltung mitzuteilen.
Der Karmeliterbezirk war der erste, in dem diese Agitation An-
klang fand; in diesem Bezirk wohnte der überwiegende Teil der
Juden, die sogar ihre Vertreter im Bezirksrat der Abgeordneten
hatten. Am 30. Januar erschien im allgemeinen Versammlungs-
saal der Kommune eine Deputation der Abgeordneten des Kar-
meliterbezirkes und überreichte dem Vorsitzenden die ein-
stimmig angenommene Resolution des Bezirksrates: „an die
Kommune die Bitte zu richten, alle ihr zu Gebote stehenden
Hebel in Bewegung zu setzen um die Anerkennung der Juden
als aktive Staatsbürger bei der Nationalversammlung zu er-
wirken." Der Staatsanwalt und Syndikus, Cahier-de-Gerville,
der an der Spitze der Deputation stand, hielt dabei eine warme
Rede für die Juden: „Unter allen Bezirken der Pariser Ge-
meinde", sagte er, ,,ist es der Karmeliterbezirk, der den über-
wiegenden Teil der jüdischen Bevölkerung beherbergt. Mehr als
alle anderen Bezirke hat der Karmeliter die Möglichkeit gehabt,
die Haltung der jüdischen Einwohnerschaft seit dem Beginne der
Revolution zu beobachten, mit ihren Prinzipien Fühlung zu
nehmen und sich ein Urteil über ihren sittlichen Zustand zu
bilden ... Es wird euch daher nicht befremden, wenn die Ver-
treter des Karmeliterbezirkes sich zu allererst die Freiheit
nehmen, dem Patriotismus, der Tapferkeit und der edlen Ge-
sinnung der Juden öffentlichen Tribut zu zollen. Kein Bürger
legte solchen Eifer in der Sache der Ertingung der Freiheit an
den Tag, wie die Juden; niemand zeigte einen dermaßen heißen
Drang nach der Uniform der Nationalgarde, wie die Juden; ich
kenne keine Menschen, die der Ordnung und Gerechtigkeit in
lOI
größerem Maßt als sie zugetan wären, die sich durch Wohltätig-
keit und freiwillige Spenden für die Gemeinde mehr hervorgetan
hätten . . . Die m Paris lebenden Juden sind noch nicht zu Fran-
zosen erklärt worden, aber glaubt uns, sie verdienen vollauf
diese Benennung. Ich wage sogar zu behaupten, daß sie es in
Wirklichkeit schon sind. Ja, meine Herren, das Karmeliter-
viertel will nicht, daß man einen Unterschied zwischen den
Staatsbürgern mache. Die Juden werden in beratende Aus-
schüsse aufgenommen, sie teilen mit uns die Ehre und die Mühen
des Militärdienstes, und von keiner Seite wird Unzufriedenheit
gegen die Gewährung von staatsbürgerlichen Rechten an sie
laut — von Rechtfen, denen nur die Bestätigung und Bekräftigung
des Gesetzes fehlt . . . Geruht also, meine Herren, unsere ge-
rechten und eindringlichen Erklärungen zugunsten unserer neuen
Brüder zur Kenntnis zu nehmen. Fügt unserer Erklärung auch
die eurige bei — und legt sie insgesamt der Nationalversammlung
vor. Seid dessen gewiß, meine Herren : Ihr werdet für die Pariser
Juden mühelos alles erringen, was man den Juden nicht ver-
weigerte, die als portugiesische, avignoner und spanische bekannt
sind. Und weshalb denn sollte man die letzteren den ersteren vor-
ziehen ? Ist denn nicht die Lehre aller Juden überall die gleiche ?
Sind denn unsere politischen Beziehungen zu den einen und den
anderen nicht dieselben? Wenn die Vorfahren derjenigen Juden,
deren Interessen wir verfechten, Härten und Plagen seitens will-
kürlicher Behörden in größerem Maße ausstehen mußten, als es
bei den portugiesischen Juden der Fall war, — gibt denn nicht
gerade dieser von ihnen erduldete furchtbare und langwierige
Druck ein Anrecht mehr auf unsere nationale Gerechtigkeit?"
Das Drängen der Deputationen verfehlte nicht die gewünschte
Wirkung. Am selben Tage, dem 30. Januar, kam in der General-
versammlung der Pariser Kommune die Frage wegen der Unter-
stützung der von den Juden imtemommenen Schritte vor der
Nationalversammlung zur Sprache. Es entspannen sich leb-
hafte Debatten: die Mehrheit war für die Unterstützung, die
Minderheit schwankte unschlüssig. Um diese Unschlüssigkeit zu
beseitigen und den Boden für einen einstimmigen Beschluß zu-
gunsten der Juden vorzubereiten, bestieg einer der besten Redner
der Kommune, Abbe Bertoliodie Tribüne und hielt eine lange
Rede, in der er die wichtigsten Seiten der Judenfrage berührte.
102
Nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß Frankreich endlich
an dem Zeitpunkte angelangt sei, wo es möglich wäre, alle
zwischen den Menschen errichteten Scheidewände niederzu-
werfen, rief er aus: ,,Aber diese Revolution, die so glücklich ver-
laufen und so unerwartet gekommen ist, wird ein unvollendetes
Werk bleiben, wenn die Anschauungen der Menschen in ihrem
Wachstum mit dem der von ihr geborenen Verfassung nicht
gleichen Schritt halten. Erheben wir uns doch zur Höhe unserer
Verfassung . . , ! Die durch die Nationalversammlung geheiligten
Prinzipien gaben drei Millionen Franzosen das staatsbürgerliche
Leben wieder. Die französischen Protestanten sind in ihren staats-
bürgerlichen Rechten wiederhergestellt . . , Die neuen Prinzipien
haben vor kurzem ihren Triumph über ein anderes, noch fest-
gewurzelteres Vorurteil errungen. Durch einen feierlichen Gesetz-
beschluß wurde die staatsbürgerliche Stellung der Juden von
Bordeaux, Bayonne und Avignon bekräftigt. Die in Paris und
den anderen Teilen des Königreichs lebenden französischen
Juden bemühen sich gegenwärtig darum, daß man ihnen die
gleiche Gerechtigkeit widerfahren lassen möge. Kann man eine
abschlägige Antwort geben? Welches ist der wesentliche Unter-
schied, den man zwischen ihnen und ihren Brüdern in Bordeaux
machen könnte? Man wird sagen, daß sie Patente und Ver-
mögensrechte besitzen, deren die anderen entbehren. Darauf er-
widere ich nun, daß die Patente 'der Juden von der Natur selber
unterzeichnet sind, und das Siegel der Natur wird alle Siegel sämt-
Ucher Kanzleien Europas aufwiegen." Der Redner schloß seine
Rede mit folgendem Wunsch: ,,Ich meine, wir müssen uns dahin
aussprechen, daß die Nationalversammlung die Judenfrage,
deren Erörterung von ihr vertagt wurde, sobald wie möglich auf
die Tagesordnung setzen und einen Gesetzesbeschluß erlassen
solle, wonach sämtliche Juden den Juden von Bordeaux, Bayonne
und Avignon gleichgestellt werden. Aber eine derartige Er-
klärung müßte der Nationalversammlung nicht eher unterbreitet
werden, als bis sie an alle 60 Bezirke von Paris versandt und
durch Stimmenmehrheit bewüligt wird."
Der Redner erreichte sein Ziel vollauf. Nach seiner Rede
schwanden Unschlüssigkeit und Schwanken dahin. Nach einer
kurzen Debatte nahm die Versammlung der Kommune folgende
Resolution an: i. Ein öffentliches Zeugnis über die gute Auf-
103
führiing, den Patriotismus und die persönlichen Tugenden der
Juden abzugeben; 2. den Wunsch der Pariser Bevölkerung, daß
den Juden alle Rechte aktiver Bürger zuerkannt werden sollen,
öffentlich bekanntzugeben. Um diesem Akt den Charakter einer
Volksabstimmung zu geben, beschloß die Versammlung der
Kommune, ihre Resolution sänatlichen Bezirken der Stadt Paris
mitzuteilen und nach Erhalt ihrer Einwilligung der National-
versammlung vorzulegen. Die Resolution wurde von dem in der
Geschichte der Revolution berühmt gewordenen Pariser Maire
Bailly und dem Vorsitzenden Mulot unterzeichnet. Godard
dankte der Versammlung im Namen der Pariser Juden und
schloß seine Rede mit der Wiederholung des historisch gewordenen
Ausspruches des Maire Bailly: ,, Segnen wir die Revolution, die
uns alle zu Brüdern macht!"
Die Pariser Stadtverwaltung konnte alsbald ihren Beschluß in
Erfüllung bringen. Die eigens zu diesem Zwecke einberufenen
Bezirksversammlungen beeilten sich, ihre Stimmen für die Eman-
zipation zu erheben. Von 60 Bezirken äußerten sich 53 in diesem
Sinne; die Stellungnahme von 6 Bezirken bheb unbekannt, und
nur ein einziger Bezirk (Maturin) schlug vor, mit der Emanzi-
pation der Juden so lange zu warten, bis die diesbezüg-
lichen Äußerungen der Provinzversammlungen einlaufen. Es
stand außer Zweifel, daß fast „ganz Paris" sich für die Gleich-
berechtigung der Juden aussprach. Am 25. Februar erschien eine
aus dem Vorsitzenden Mulot, Godard, dem Abbe Bertolio und
anderen bestehende Deputation der Pariser Kommune vor der
Nationalversammlung. Die Deputation überreichte der gesetz-
gebenden Versammlung eine schriftlich abgefaßte Resolution
über die Notwendigkeit, sich mit der Erörterung der Judenfrage
zu beeüen und diese im Sinne der Gewährung der aktiven^ Bürger-
rechte an die Juden zu lösen. Das Verlesen der Resolution wuide
von einer warmen Rede des Präsidenten der Kommune, Abbe
Mulot, begleitet. TallejTand-Perigord, der an diesem Tage den
Vorsitz in der Nationalversammlung führte, antwortete der
Deputation der Kommune mit folgenden Worten : ,,Die National-
versammlung hat es sich zur heiligen Pflicht gemacht, allen
Menschen ihre Rechte wiederzugeben. Sie hat alle die Bedin-
gungen bekanntgegeben, die erforderlich sind, um die aktiven
Bürgerrechte zu erwerben. In eben diesem Geiste und gemäß
104
diesen Bedingungen wird sie in aller Gerechtigkeit die von euch
in solch rührender Form zugunsten der Juden vorgebrachten
Argumente prüfen." Als jedoch tags darauf der Herzog von
lyiancourt an die Nationalversammlung mit der Forderung
herantrat, einen Tag für die Behandlung der Frage der staats-
bürgerlichen Stellung der Juden festzusetzen, erklärte einer
der Abgeordneten folgendes: „Die jüdische Frage ist ganz
gewiß eine wichtige Angelegenheit, aber wir haben auf unserer
Tagesordnung noch wichtigere Fragen, die alle Bürger angehen.
Was wir hinsichtlich der Juden beschließen werden, wird nur die
Interessen eines einzigen Volksteiles berühren; hingegen sind die
Festlegung der Gerifchtsordnung, die Bestimmung der Stärke
und die Zusammensetzung des französischen Heeres und die
Regelung des Finanzwesens — drei Fragen, an denen das ganze
Land interessiert ist und die unsere ganze Zeit in Anspruch
nehmen müssen. Und daher beantrage ich: die Judenfrage von
neuem zu vertagen." Der Antrag wurde angenommen. Die
Lösung der Judenfrage in der Nationalversammlung wurde
wiederum bis zur Lösung der nächsten an der Tagesordnimg
stehenden Fragen verschoben.
§ 18. Der weitere Kampf und die Proklamierung der
Emanzipation. Die Juden und ihre liberalen Freunde, die sich
mit der abermaligen Vertagung der Lösung der Judenfrage
gegen ihren Willen abfinden mußten, trösteten sich mit dem
Gedanken, daß, wenn die sofortige Inangriffnahme dieser Lösung
von neuem verhindert wurde, es diesmal einzig und allein an der
Notwendigkeit der Behandlung nächstliegender allgemeiner
Fragen gelegen habe, und daß folglich die Jüdenfrage von der
Tagesordnung der Verhandlungen nicht gänzlich gestrichen sei.
Aber die judenfeindliche Partei hatte ihre bestimmte Taktik. Sie
vereitelte jeden neuen Versuch, die Judenfrage in der National-
versammlung aufzurollen, indem sie immer neue Anlässe zu Ver-
schleppimgen ersann und zugleich ihre judenfeindliche Agitation
außerhalb des Parlaments zwecks Beeinflussung der Abgeord-
neten verstärkte. Als aber endlich am 15. April 1790 am
Schlüsse der Osterferien die Reihe an die Judenfrage kam, er-
klärte der elsässische Abgeordnete Reubell, daß im Elsaß eine
neue judenfeindliche Bewegung im Anzüge sei, die sich im Falle
der Proklamierung der Emanzipation in Gewalttätigkeiten gegen
105
die Juden entladen werde. Ihm antwortete ein liberaler Ab-
geordneter, daß es gerade diese ewigen Vertagungen seien, die die
Juden der Gefahr gewalttätiger Angriffe seitens des Pöbels aus-
setzen. „Die Vertreter der jüdischen Bevölkerung", fügte er hin-
zu, „versichern, daß ihre Glaubensgenossen nur dann ein ruhiges
Dasein führen werden, wenn die Versammlung sich einmal end-
gültig über ihr Schicksal ausspricht. Und auch im Elsaß selbst
hat die Erwartung der Emanzipation eine derartige Spannung er-
reicht, daß einige Gemeinden, die mit der Verteilung des ihnen
gehörenden Grund und Bodens begonnen haben, nahe daran
sind, auch den Juden (denen der Grundbesitz verboten war)
Grundstücke zuzuweisen." Dieser Stimme der Wahrheit schenkte
die Versammlung kein Gehör und beschloß, die Judenfrage einem
Verfassungsausschuß zu übergeben. Aber das immer wieder zu-
rückgestoßene Schreckgespenst der Judenfrage tauchte tags
darauf wieder in der Nationalversammlung auf.
Im Elsaß wurde eine kräftige judenfeindliche Agitation be-
trieben, deren Herd sich in Paris, im Kreise der reaktionären Ab-
geordneten dieser Provinz befand. Im brennenden Verlangen, die
Proklamierung der Emanzipation des verhaßten Stammes hint-
anzuhalten, setzten die ,, Schwarzen" in Paris und ihre Helfers-
helfer in der Provinz alle Hebel in Bewegung, um den Schein
einer Volkserhebung gegen die Juden hervorzurufen. Die Agi-
tation wurde energisch betrieben. Judenfeindliche Flugblätter
und Broschüren wurden überall verbreitet; die reaktionäre und
klerikale Presse wimmelte von marktschreierischen und ver-
leumderischen Artikeln, von giftgeschwollenen Feuilletons und
Versen gegen die Juden und ihre liberalen Verteidiger. Die Namen
eines Mirabeau, eines Gregoire, eines Talleyrand und Bailly
wurden von feilen Zeitimgsschimpfem schonungslos in den
Schmutz gezerrt, indem der eine als ,,von den Juden bestochen",
der andere als „Judas", der dritte wiederum als „Beschneidungs-
lustiger" verschrien wurde. Als die „Gesellschaft der Verfassungs-
freimde" in Straßburg Schritte zur Unterstützung der jüdischen
Gleichberechtigung unternahm, bemächtigte sich der ,, Seh War-
zen" eine heftige Erregung. Sie trommelten eine große Versamm-
lung „aktiver Bürger" zusammen, um die Judenfrage zu be-
handeln; nachdem man die liberalen Redner, die für die Emanzi-
pation einzutreten versuchten, ausgepfiffen oder mit Gewalt ent-
io6
femt hatte, erzielte man eine „Einigung". Die von der Versamm-
lung angenommene Resolution lautete, daß die in Straßburg seß-
haften christlichen Bürger, vorwiegend Kaufleute, sich in der Be-
fürchtung einer Konkurrenz seitens der Juden gegen die Ge-
währung der Gleichberechtigung an diese aussprechen (8. April).
Diese offenmütige Resolution des ,, Fanatikerkongresses" wurde,
mit Tausenden von Unterschriften versehen, an die National-
versammlung geschickt. Eine gleichlautende Resolution ging
auch von den Einwohnern der Stadt Kolmar zu.
Die Propaganda blieb nicht ohne greifbare Folgen; Juden-
pogrome und Metzeleien lagen schon in der I^uft, Der unermüd-
liche Verfechter jüdischer Interessen, Cerf-Berr, teüte der
Nationalversammlung mit, daß in der Provinz eine offene Agi-
tation zur Aufhetzung des Pöbels gegen die Juden betrieben
werde. Was die lokalen Behörden beträfe, so hätten diese nicht
nur keine Maßnahmen zur Vorbeugung von Tätlichkeiten ge-
troffen, sondern ermutigten alle gewalttätigen Elemente durch
eine rohe Behandlung der Juden und durch das Betonen ihrer
Rechtlosigkeit. In der Sitzung der Nationalversammlung wurde
folgende Erklärung einer Elsässer Stadtverwaltung verlesen:
„Die Ungewißheit der lyage der Judeu macht, daß sie Gefahren
ausgesetzt sind, die nur durch einen Beschluß der Versammlung
verhindert werden können." Angesichts des Ernstes der vorge-
brachten Begründung beantragte der radikale Abgeordnete
Röderer, das Dekret in folgender Fassung bekanntzugeben:
„Die Nationalversammlung erklärt von neuem die in Elsaß und
anderen Orten seßhaften Juden als unter dem Schutze des Ge-
setzes stehend, untersagt es jedem, sich an ihren Interessen zu
vergreifen, und befiehlt den städtischen Magisträten und der
Nationaigarde, von allen ihnen zu Gebote stehenden Machtmitteln
zum Schutze der Juden und ihres Vermögens Gebrauch zu
machen" (i6. April). Diese Formel wurde von der Versammlung
fast einstimmig angenommen. Nach zwei Tagen wurde das Dekret
auch vom König unterzeichnet. Die Pogromgefahr wich, aber die
judenfeindliche Partei erreichte ihr Ziel: da die Nationalver-
sammlung eine Verschärfung der Beziehungen zwischen den ver-
schiedenen Teilen der Bevölkerung vermeiden wollte, erachtete
sie die Vertagung der Lösung der Judenfrage als einen im
Interesse der Juden selbst liegenden Akt politischer Klugheit.
107
Durch diese Erwägtmg beruhigte die Versammlung ihr Ge-
wissen, als sie nach zwei Wochen wiederum eine günstige Ge-
legenheit zur Lösung der Judenfrage verpaßte. Man behandelte
einen Gesetzentwurf wegen Gewährung von aktiven Bürger-
rechten an jede Person, selbst an einen Ausländer, der nicht
weniger als fünf Jahre in Frankreich ansässig war (30. April).
Reubell forderte nun, in den Gesetzentwurf folgende Klausel auf-
zunehmen: ,,Die Frage wegen der staatsbürgerlichen Stellung
der Juden, die als vertagt anzusehen ist, wird aber dadurch nicht
berührt." Die verräterische Klausel wurde angenommen — und
selbst die liberalen Abgeordneten dachten anscheinend nicht
daran, wie gekränkt sich die Juden durch diesen Beschluß
fühlen mußten, der das Naturalisierimgsrecht allen Ausländern,
die auf einen fünfjährigen Aufenthalt in Frankreich zurück-
blicken konnten, gewährte, es aber einer Gruppe von Einhei-
mischen vorenthielt, deren Vorfahren noch zu den Einwohnern
des alten Galliens und der Frankenmonarchie gehört hätten.
Nur eine einzige Erleichterung wurde den Juden so nebenbei
gewährt: Im Zusammenhange mit der allgemeinen Steuerreform
schaffte die Nationalversammlung alle die demütigenden imd
drückenden Steuern ab, die von den Juden in Metz und anderen
Orten als Wohnrecht-, Schutz- xind Duldungssteuer erhoben
wurden.
Die Verfechter der jüdischen Interessen begannen die Geduld
zu verlieren. Am 9. Mai 1791 richtete eine Gruppe Pariser Juden
eine Adresse an die Nationalversammlung, die in einem eher pro-
testierenden, als bittenden Ton gehalten war. „Die National-
versammlung", heißt es darin, „hat ein Dekret erlassen,
kraft dessen alle Ausländer, die auf einen fünfjährigen Aufent-
halt in Frankreich zurückblicken können, sich der Rechte fran-
zösischer Staatsbürger erfreuen dürfen. Aus welchen fatalen
Gründen werden die Überbringer dieses als weniger würdig an-
gesehen als die Ausländer ? Warum werden sie von allen Rechten
ausgeschlossen, die von der Natur verliehen und durch die Be-
schlüsse der Nationalversammlung den Menschen zurückerstattet
worden sind? Will man sie (die Bittsteller) als Juden betrach-
ten, so büden sie doch einen Teü der französischen Staats-
bürger, da sie allen an diese gestellten Bedingungen genügen und
alle Bürgerpflichten erfüllen; und will man sie als Ausländer be-
108
trachten, wiewohl ihr überwiegender Teil in Frankreich geboren
ist, so sind sie doch kraft des Gesetzes schon französischer
Staatsbürger geworden, da sie seit vielen Jahren in der
Hauptstadt ansässig sind. In dem einen wie dem anderen Falle
dürfen sie sich aller aus diesem Titel erwachsenden Rechte er-
freuen," Dieser Protest teüte das Schicksal aller ihm vorange-
gangenen Bittschriften und Erklärungen: er wurde dem Ver-
fassungsausschusse überwiesen.
Nach zwei Wochen wurde ein letzter Versuch gemacht, auf die
zögernde Nationalversammlung vermittels der Pariser Kom-
mune einen Druck auszuüben. Infolge des Dekrets vom 7. Mai
1791 über die Freiheit des öffentlichen Gottesdienstes erhielten
die Pariser Juden die Möglichkeit, in einem der öffentlichen Ge-
bäude ein Bethaus in offizieller Weise zu eröffnen. Diese Gelegen-
heit wurde von dem unermüdlichen Anwalt der Juden, Godard,
aufgegriffen. Kr wandte sich an den Rat der Kommune mit einem
Gesuch, in welchem er dem Wunsche Ausdruck gab, daß auf die
Proklamierung der Freiheit in Sachen der Religion auch eine
solche in staatsbürgerlicher Hinsicht folgen möge, da die eine
ohne die andere nicht denkbar sei. ,, Können sie denn der Rechte
und des Titels von Bürgern beraubt bleiben, nachdem sie kraft des
Gesetzes das Recht, Bethäuser zu errichten, erhalten haben?
Können sie denn nur in ihren Synagogen Bürger sein, außerhalb
derselben aber Ausländerund Sklaven ? Die Glaubensfreiheit bleibt
ein leeres Wort, wenn sie bürgerliche Entrechtung als Strafe nach
sich zieht. Nein, wenn ihr die Menschen zur Höhe der religiösen
Freiheit erhoben habt, so habt ihr sie zugleich zur staatsbürger-
lichen Freiheit erhoben. Eine halbe Freiheit gibt es ebenso-
wenig wie eine halbe Gerechtigkeit." Nachdem die Pariser Kom-
mune in der Sitzung vom 28. Mai dieses Gesuch angehört hatte,
nahm sie folgende Resolution an: ,, Überzeugt von der Gerechtig-
keit der von den Juden mit solch lobenswerter Beharrlichkeit
erneuerten Forderung ; genau unterrichtet über die Tatsachen, auf
denen diese Forderung beruht und die die provisorischen Ver-
treter der Stadt schon einmal veranlaßt hatten, sie persönlich der
Nationalversammlung vorzulegen, beschließt die Munizipalver-
sammlung c der Nationalversammlung von neuem zu schreiben,
ihr das Gesuch der Juden und den Wunsch der Munizipalität zu
unterbreiten und sie zu bewegen, die Folgen all der segensreichen
109
Prinzipien, die sie soeben durch die Verkündung der Freiheit der
religiösen Überzeugung von neuem geheiligt hat, auch auf die Juden
der Hauptstadt auszudehnen." Die Resolution, versehen mit der
Unterschrift des Pariser Stadtpräfekten Bailly, wurde an die
Nationalversammlung abgeschickt. Aber in dieser stürmischen
Zeit hatte man an andere Dinge zu denken. Im Sommer 1791, in-
mitten der politischen Besorgnisse, die durch die Flucht
Ludwigs XVI. nach Varenne hervorgerufen waren, hatte man die
jüdische Frage vergessen. Das Land erlebte höchst unruhige
Tage, indem es zwischen Royalismus und Republik unschlüssig
hin und her schwankte; eine neue Phase der großen Revolution
war in Paris im Entstehen begriffen — und die nebensächlicheren
Fragen des staatlichen Lebens traten zeitweüig in den Hinter-
grund.
Endlich aber war der Augenblick gekommen, wo eine weitere
Verschiebung der Lösung der Judenfrage unmöglich wurde. Nach
einer zweijährigen Arbeit brachte die Konstituante den Text der
Verfassung zum Abschluß, und der König bestätigte, sie
(14. September). Die Gleichberechtigung der Juden ging aus den
allgemeinen Grundlagen der Verfassung, die die Gleichheit aller
Bürger vor dem Gesetz festsetzte, als logische Notwendigkeit
hervor. Es blieb nur übrig, diese Gleichberechtigung durch einen
formellen Gesetzesbeschluß zu besiegeln und durch einen be-
sonderen gesetzgeberischen Akt zu verkünden. Einer neuen Er-
örterung der Frage bedurfte es nicht, nachdem die Nationalver-
sammlung die Argumente für und wider die Emanzipation
während zweier Jahre in Reden, Bittschriften, Adressen und
Resolutionen verschiedener Institutionen und gesellschaftlicher
Gruppen zur Kenntnis genommen hatte. An einem der
letzten Tage der Nationalversammlung, in der Sitzung vom
27. September 179 1, bestieg der Abgeordnete Duport die Redner-
tribüne und sagte: ,,Ich meine, daß die von der Verfassung ein
für allemal bestimmte Glaubensfreiheit es nicht mehr gestattet,
irgendwelchen Unterschied zwischen Menschen verschiedener
Glaubensbekenntnisse hinsichtlich ihrer politischen Rechte zu
machen. Die Frage wegen der politischen Stellung der Juden
wurde vertagt, während Türken, Muselmänner und Angehörige
aller Sekten in Frankreich sich bereits im Besitze der politischen
Rechte befinden. Ich fordere daher die Aufhebung dieser Ver-
iro
tagung und als Folge davon die Proklamierung eines Gesetzes-
beschlusses, kraft dessen die Juden in Frankreich in den Besitz
der Rechte aktiver Bürger gelangen sollen." Die Erklärung
Duports wurde von der Versammlung als eine Forderung auf-
genommen, die keine weiteren Einwände zuließ. Der Judenfeind
Reubell machte den Versuch, gegen den Antrag Duports aufzu-
treten, als der Abgeordnete Regnault sich von seinem Sitze er-
hob und rief: „Ich fordere, daß aUe diejenigen, die es nunmehr
wagen, gegen diesen Antrag (die Gleichberechtigimg der Juden)
aufzutreten, zur Ordnung gerufen werden, denn ein Angriff auf
diesen Antrag ist zugleich ein Angriff auf die Verfassung."
Dieser zornige Ruf eines Konstitutionalisten verfehlte seine
Wirkung nicht: die Rechte wurde mäuschenstill, und die Mehr-
heit schloß sich dem Antrage Duports an. Im selben Augenblick
wurde ein ktirzer, aber eindringlicher Gesetzesbeschluß verfaßt,
der in der darauffolgenden Sitzung (vom 28. September) durch
einige Wendungen, den Bemerkimgen der Abgeordneten ent-
sprechend, ergänzt wurde: „In Anbetracht des Umstandes, daß
die für den Stand eines französischen Bürgers und für den Besitz
der Rechte aktiver Bürger erforderlichen Bedingungen durch die
Verfassung festgelegt sind; daß jeder, der den genannten Be-
dingungen geniigt, einen Bürgereid leistet und alle von der Ver-
fassung ihm auferlegten Verpflichtungen erfüllt, ein Anrecht auf
die ihm von der letzteren gewährten Vorteüe besitzt, hebt die
Nationalversammlung alle Aufschiebungen, Vorbehalte und Aus-
nahmen auf, die in den früheren Beschlüssen hinsichtlich der
Juden, die einen Bürgereid geleistet haben, enthalten waren;
dieser Eid ist nur als ein Verzicht auf alle die Privilegien und
Sondergesetze aufzufassen, die früher für sie gegolten habeni)^*
Die judenfeindlichen Abgeordneten in der Nationalversamm-
lung konnten auch in diesem letzten Augenblick den Triumph der
Gleichberechtigung nicht ruhig hinnehmen. Da sie keine Möglich-
keit vor sich sahen, diesen Akt zu verhindern, so suchten sie
wenigstens den Juden die Freude etwas zu vergällen. Als in der
*) Der letzte Satz wurde auf Drängen einiger Abgeordneter aufgenommen,
die darauf hinwiesen, daß die Juden nach der alten Gesetzgebimg ihre „Privi-
legien" haben und daß die Verleihung der Gleichberechtigung an sie mit diesen
Privilegien unvereinbar sei. Es wurde damit beabsichtigt, die Gemeindeauto-
nomie und die nationalkulturellen Einrichtungen der Juden einzuschränken
oder sogar ganz abzuschaffen.
III
Sitzung vom 28. September die Klauseln zu dem von Duport
verfaßten Beschluß zur Verhandlung kamen, machte Reubell den
Versuch, die Kammer durch das Gespenst einer „Volkserhebung,
die durch diese Beschlüsse im Elsaß hervorgerufen werden würde",
einzuschüchtern. Um Ausschreitungen gegen die Juden vorzu-
beugen, beantragte er, die christliche Bevölkerung im Elsaß für
die jüdische Gleichberechtigung zu entschädigen, und zwar auf
folgende Weise: da die Verschuldung der christlichen Bevölke-
rung an die jüdischen Gläubiger sehr groß sei (der Betrag
dieser Schulden im Elsaß soll die Höhe von 12 — 15 Mülionen
l4vres erreicht haben), müsse die Regierung die Liquidierung
dieser Schulden auf dem Wege einer Kürzung des Schuldbetrages
um zwei Drittel vornehmen; mit dieser Maßnahme hätten sich
angeblich auch die Juden einverstanden erklärt; und daher seien
die lokalen Behörden zu beauftragen, an alle jüdischen Gläubiger
die Forderung ergehen zu lassen, binnen eines Monats genaue An-
gaben über die ausgeliehenen Summen vorzulegen; dann müsse
man Erkundigungen über die Zahlungsfähigkeit der Schuldner
einziehen, einen Liqmdierungsentwurf ausarbeiten und das ge-
samte Material nach Paris schicken, um es der gesetzgebenden
Versammlung zu unterbreiten. Auf diese Weise — versicherte
Reubell — würde die Kammer zeigen, daß sie die Volksinteressen
wirklich wahrnimmt und die christliche Bevölkerung im Elsaß
mit der jüdischen Gleichberechtigung versöhnen will. Der
Reubellsche Antrag wurde von der Nationalversammlung an-
genommen ... Es unterliegt keinem Zweifel, daß die auf dem
Boden der Kreditoperationen entstandenen, verworrenen wirt-
schaftlichen Verhältnisse eine offizielle Einmischung und Regelung
dringlich erforderten, damit beide Teile aus diesem finanziellen
Sumpfe, dem Erbe des alten Regimes herauskämen. Und doch
mußte das Zusammenfallen eines derartigen Beschlusses mit dem
feierlichen Emanzipationsakte einen deprimierenden Eindruck
machen. Beide Gesetzesbeschlüsse — der über die Gleichberech-
tigung und der über die Liquidierung — wurden an ein und dem-
selben Tage angenommen, und man konnte sich des Eindruckes
nicht erwehren, als sei die Gleichberechtigung den Juden als Entgelt
für die zwangsmäßige Tilgung ihrer Guthaben verliehen worden.
§ 19. Patriotismus der Freiheit; Opfer der Schreckensherr-
schaft. Seit den ersten Revolutionstagen waren viele Juden,
112
und insbesondere die von der Freiheitsbewegung hingeris-
senen Pariser Juden von jenem Patriotismus ergriffen, der
zu jener Zeit die I^iebe zur Freiheit und zur Heimat der Freiheit,
zum Lande, das als erstes die Rechte des Bürgers und des Men-
schen verkündet hatte, bedeutete. (Als Patrioten wurden be-
kanntlich die Anhänger der Revolution bezeichnet.) In den neuen
Losungen der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" hörten
die Nachkommen der alten Propheten heimatliche Töne, die
jahrhundertelang vom Kllirren der Sklavenketten übertönt
geworden waren . . . Dieser mächtige Einfluß der revolutionären
Atmosphäre im Zusammenhang mit der vorangehenden Ein-
wirkung der aufklärerischen Ideen des XVIII. Jahrhimderts er-
klärt den so raschen Eintritt der Menschen, die gestern noch in
sich verschlossen und staatsbürgerlich isoliert lebten, ins poli-
tische Leben. Die regste politische Aktivität entfalteten natür-
lich die Pariser Juden. Welchen Grad diese Aktivität erreicht
hatte, ist daraus zu ersehen, daß die kleine jüdische Kolonie von
Paris schon im ersten Revolutionsjahr loo FreiwiUige in die
Nationalgarde stellte. Zur selben Zeit traten die Juden auch den
verschiedenen einflußreichen politischen Klubs, wie dem der
Jakobiner und der Feuillants als Mitglieder bei. Sie beteiligten
sich auch an den Sektions- und Bezirksversammlungen der
Pariser Bürger. An diesen Herden politischer Tätigkeit erwarben
sich die jüdischen Politiker die Erfahrung und die Energie, die sie
im Kampfe für ihre Gleichberechtigung, in ihrer außerparlamen-
tarischen Agitation und in der unablässigen Beeinflussung der
Nationalversammlung, der Pariser Kommune und der Presse,
zeigten.
In der Presse hatten die Juden nur wenige Vertreter. Der
tätigste unter ihnen war der alte Kämpfer für die Sache der
Emanzipation, der bereits genannte patriotische Schriftsteller
Salkind Hurwitz. Seine Aufsätze in der radikalen Pariser Presse
(„Chronique de Paris" u. a. m.), die er mit „Polonais" neben
seinem Namen unteischrieb, lenkten die Aufmerksamkeit auf
sich durch ihren originellen, scharfsinnigen Stil, einen Vorläufer
des sarkastischen Stües Börnes. Als die jüdische Frage in der
Nationalversammlung vertagt wurde, veröffentlichte Hurwitz
einen Brief in der „Chronique de Paris" (am 22. Februar
1790), in dem er die ,, Kasuisten aller Religionen" in iro-
8 Dnbnow, Geschichte der Juden I H3
nißcher Weise ersuchte, folgenden ihn quälenden Zweifel zu
lösen: einerseits hätte er, der Verfasser, den „Bürgereid" ge-
leistet, daß er die auf der Anerkennung der Menschenrechte be-
ruhende Verfassung respektieren werde; andererseits aber ver-
pflichte ihn der Beschluß der Nationalversammlung, diese
selben Rechte solchen Menschen nicht zuzuerkennen, die ihren
Gottesdienst in hebräischer Sprache verrichten und das Glück,
in Bordeaux oder Avignon geboren zu sein, nicht liaben , . .
Hurwitz beantwortete auch die Parlamentsreden des Abbe
Maury und die Auslassungen der klerikalen Presse mit bissigen
polemischen Aufsätzen. Als die durch das Dekret über die Ent-
eignung der Kirchengüter aufgebrachte katholische Geistlichkeit
gegen die Juden zu hetzen begann, ließ Hurwitz einen satyrischen
Aufsatz erscheinen, in welchem er die Kundigen bat, ihm, dem
Laien „einige physische und moralische Erscheinungen aus der
Naturgeschichte der Geistlichkeit" klarzumachen.
Nach der Proklamierung der Emanzipation schwoll die patrio-
tische Stimmung der Juden noch mehr an. Begeisterte Briefe und
Dankhymnen Befreiter erschienen in den Zeittmgen. Ein ge-
wisser Samuel Levy, der sich den sonderbaren Titel: „Fürst der
Gefangenschaft, Oberhaupt der westlichen und östlichen Syna-
gogen" zugelegt hatte, schrieb folgenden Brief, der mit be-
sonderer Rührung gelesen wurde: „Frankreich, das als erstes die
Schmach Judas beseitigte, ist unser Palästina; seine Berge sind
unser Zion, seine Flüsse — unser Jordan. Lasset uns das lebendige
Wasser seiner Quellen trinken : es ist das Wasser der Freiheit . . .
Die Freiheit hat nur eine Sprache, und alle Menschen kennen
ihr Alphabet. Die Nation, die mehr als alle anderen geknechtet
war, wird für die Nation beten, die die Fesseln der Sklaven löste.
Frankreich ist die Zuflucht der Bedrängten" . . . Viele Juden
riefen beim Leisten des Bürgereides die revolutionäre Losung
jener Zeit: ,,Als Freie leben oder sterben." Ihre Anhänglichkeit
an das Vaterland bemühten sich die Juden durch „patriotische
Gaben", d. h. durch reiche Spenden für gemeinnützige Zwecke
zu bezeugen. Solche Spenden wurden in jenem Jahre der Finanz-
krise und der Kraftanspannung des ganzen Landes im Kriege
gegen die europäische Koalition (1792 — 1793) sehr geschätzt.
Die Spenden bestanden aus barem Geld und auch Gegenständen:
zuweilen gab man das Letzte hin; für Kriegszwecke wurde auch
114
die Ausstattung einiger Bethäuser gespendet. Der Krieg er-
heischte auch Opfer an Blut, und jüdische Soldaten zogen an die
Grenze unter die Kugeln der Preußen und Österreicher. Die
Grenzgebiete Elsaß und Lothringen befanden sich in der Kri^s-
zone, und die Juden teilten mit allen anderen Bürgern die Sorgen
und Lasten der unruhigen Zeit. Im Jahre 1793 wählte die fran-
zösische Armee ungefähr 2000 Juden. Dies hinderte übrigens
die judenfeindliche Einwohnerschaft der Stadt Nancy nicht, in
einem von ihr im selben Jahre gefaßten Beschlüsse zu er-
klären, daß die Vertreibung sämtlicher Juden aus Frank-
reich eine wünschenswerte Maßregel wäre. Als dieser Beschluß
dem Jakobinerklub in Paris mitgeteüt wurde, dekretierte er
folgendes: ,,Die Republik kennt nicht das Wort Jude, denn
dieses Wort bezeichnet im gegenwärtigen Augenblick nicht ein
Volk, sondern eine Sekte; nun erkennt die Republik keine Sekten
an und hat nicht die Absicht, Sektierer auszuweisen, es sei denn,
daß letztere sich eine Verletzung der gesellschaftlichen Ordnimg
zuschulden kommen lassen" . . . Unwillkürlich drängt sich der
Gedanke auf: was wäre, wenn die Juden in der Eigenschaft als
Volk, als Nation anerkannt worden wären ? . . .
Die jähen Schwenkungen der Revolution nach der Seite des
Despotismus und der Schreckensherrschaft hin in der Zeit des
Konvents von 1793 — 1794 trafen zuweilen auch die jüdischen
Bürger sehr empfindlich. Das Dekret des Konvents vom No-
vember 1793 über die Einführung des ,, Kultus der Vernunft",
anstatt des katholischen Gottesdienstes erstreckte sich in der
Praxis auch auf die jüdische Religion. All jene Szenen freiwilliger
oder erzwungener Lossagung von der Religion, die sich in aus-
gedehntem Maße unter den katholischen Bürgern abspielten,
wiederholten sich auch unter den Juden. An den im Revolutions-
kalender festgesetzten Feiertagen, den ,, Dekaden", führten die
Pariser jüdischen Schullehrer Ahron Polak und Jakob Kohen
ihre Schüler in den „Tempel der Vernunft", in den die katholische
Notre-Dame-Kirche verwandelt war. Manche jüdischen Bet-
häuser stellten ihre „Beute", d. h. die wertvollen Gottesdienst-
utensilien dem Konvent oder den städtischen Kommunen zur
Verfügung; sie folgten hierin dem Beispiele vieler katholischer
Kirchen, dieser ,, Lügen buden", wie man sie zu jener Zeit nannte.
Die Deputation einer der Pariser Synagogen gab am Gitter des
«* 115
Konvents die Erklärung ab: „Unsere Vorfahren haben uns Ge-
setze überliefert, die vom Gipfel eines Berges (Sinai) verkündet
worden waren; die Gesetze, die ihr Frankreich gebet, gehen von
einem Berge^) aus, den wir nicht minder verehren. Wir sprechen
euch dafür unseren Dank aus" . . . Ein „jüdischer GeistHcher"
Salomon Hesse, überreichte einer Sektionsversammlung der
„Freunde des Vaterlandes" in Paris seinen sübergestickten Gebet-
mantel und erklärte, daß er „keinen anderen Gott als den der
Freiheit, und keine andere Religion als die der Gleichheit"
kenne. Ähnliche Szenen spielten sich auch in der Provinz ab. In
Avignon lieferten die ,, unter dem Namen Juden bekannten
Bürger" alle „Maschinen aus Gold und Silber", deren sie sich bei
ihrem Gottesdienste bedienten, an die Kreisverwaltung ab. Im
rabbinischen Zentrum Lothringens, Metz, wurden die „Gesetzes-
tafeln Mosis" und die ThoraroUen aus Pergament vernichtet.
,,Die auf Häuten geschriebenen Gesetze dieses gewandten Be-
trügers (Mosis)", erklärte triumphierend der ,, Republikanische
Kurrier", ,, werden mm zur Bespannung von Trommeln dienen,
um Attacken zu schlagen und die Mauern des neuen Jerichos
umzuwerfen." Und das Blatt versicherte, daß sich unter den
Juden kein Mensch darüber grämte, außer einigen „von dummen
Vorurteüen befangenen Weibern". In Nancy mußten die
Juden auf Befehl eines Munizipalbeamten ihre „mystischen Per-
gamente" und die goldenen und silbernen Verzierungen und
Embleme ihres Kults abliefern. In Paris forderten die sans-
culottischen Blätter, daß man den Juden verbieten sollte, ihre
Neugeborenen zu beschneiden; der Konvent schenkte aber dem
keine Beachtung. Es wurden auch Versuche gemacht, den Juden
die Sabbatfeier zu verwehren, in Anbetracht dessen, daß doch
ein Bürgersabbat, die Dekade, als Ruhetag festgesetzt sei; an
einigen Orten zwang man jüdische Händler, ihre Läden an Sab-
baten offen zu halten. In Metz hatten die Juden große Angst aus-
zustehen, als sie ihre Passahbrote (Mazzes) buken, da sie be-
fürchteten, wegen „Aberglaubens" angezeigt und angeklagt zu
werden. Eine Frau erwirkte aber bei der Behörde die Erlaubnis,
das Passahfest als Gedenktag der pohtischen Befreiung der
israelitischen Nation zu feiern. Es kamen auch Fälle von Ver-
^) „D'une Montagne" — Anspielung auf den damals herrschenden linkten
Flügel des Konvents, der ..Montagnards".
ii6
gewaltigungen vor: fanatische Anhänget des „Kultes der Ver-
nunft" und der aus Rand und Band geratene Pöbel drangen in
die Synagogen ein, verbrannten die Thorarollen und die heiligen
Bücher („gaben ihre lügenhaften Bücher dem Feuer patriotischer
Scheiterhaufen preis" — wie die offiziellen Berichte lauteten)
und schlössen die S3magogen; einige Rabbiner im Elsaß hatten
Verfolgungen zu erdulden.
Im Frühjahr 1794 wurde die „Religion der Vernunft" vom
Robespierrischen deistischen Kult des Höchsten Wesens abge-
löst: die Religionsverfolgungen hörten auf — aber die Schreckens-
herrschaft wütete weiter. Die Revolution verschlang ihre eigenen
Kinder : unter dem Messer der Guillotine fielen hintereinander die
Köpfe der Girondisten, Hebertisten, Dantonisten; die Reihe kam
an die Partei Robespierres. Da die Juden sich an verschiedenen
politischen Parteien und Klubs beteiligten, so wurden sie auch
vom roten Flügel des Terrors getroffen. Schon die Dekrete des
Konventes vom Jahre 1793 über die Verhaftung aller, die sich
einer unfreundlichen Haltung gegenüber der Republik verdächtig
machten, und über die Ausweisung aller ,, Aristokraten" und
Ausländer versetzten viele Pariser Juden in eine unerträgliche
Lage. Die einen wurden auf den Verdacht hin verhaftet, daß sie
fremdländischer Herkunft seien, die anderen unter der Anklage
eines ,, verstockten Aristokratismus", die dritten — wegen der
Zugehörigkeit zu der Partei, die im gegebenen Augenblick von
den zuständigen Revolutionsausschüssen dem Untergange ge-
weiht war. Der jüdische Politiker aus Bordeaux, der Girondist
Furtado mußte flüchten, um dem traurigen Los der Idealisten der
Revolution, der Girondisten zu entgehen (1793). Verhaftungen
und Einsperrungen wurden des öfteren auf falsche Angaben hin
vorgenommen ; man unterzog die Verhafteten und Eingesperrten
einem gerichtlichen Verhör, worauf sie in den meisten Fällen
freigelassen wurden; zuweÜen aber hatten die Verhaftungen
ernste Folgen. Einige jüdische Bankiers und Kaufleute aus Bor-
deaux wurden zu beträchtlichen Geldbußen verurteilt, weü sie
früher in Beziehungen zum königlichen Hof und der Aristokratie
gestanden hatten oder auch einen nicht genügenden Eifer für die
Sache der Revolution an den Tag legten. Der Bankier Peixotto
wurde neben allen diesen Versündigungen auch noch des Ver-
suches beschuldigt, unter dem alten Regirgie den Titel eines
117
Adligen zu erlangen, wobei er sich auf seine Abstammung
vom biblischen Geschlechte I^evi berufen hätte. Auf Grund
solcher kurioser Beschuldigungen verurteilte ihn die Kiiegs-
kommission zu Bordeaux zu einer Geldbuße im Betrage von
I 200 000 lyivres. Nicht immer begnügte man sich aber mit
Geldbußen: mehrere jüdische Köpfe kamen unter das Messen
der Guülotine.
Jakob Pereira bestieg als einer der ersten das Blutgerüst.
Südfranzose von Geburt, übersiedelte er im Jahre 1790 nach
Paris, wo er eine Tabakfabrik gründete und sich in den politischen
Strudel der Hauptstadt stürzte. Er schloß sich den extremen
linken Parteien an und wurde zu einem hervorragenden Reprä-
sentanten des Jakobinerklubs. Als die „Religion der Vernunft"
offiziell eingeführt wurde, beteiligte sich Pereira in Gemeinschaft
mit dem Kosmopoliten Anacharsis Klotz, dem „Redner des
Menschengeschlechtes" an einer antikatholischen Demonstration,
die ganz Frankreich in Aufregung versetzte. Beide Jakobiner
kamen zum Pariser Bischof Gobel und forderten ihn auf, vor
dem Konvent zu erscheinen, um sich da von seinen ,,Verirrungen"
öffentlich loszusagen, d. i. sein geistiges Amt niederzulegen. Der
eingeschüchterte Bischof begab sich nach einigem Widerstand
vor den Konvent, wo er die Erklärung abgab, daß er auf sein
Amt verzichte. Er legte das Kreuz ab und setzte die rote Mütze
auf, die ihm einer von den Umstehenden unter dem begeisterten
Beifall des gesamten Konvents auf den Kopf stülpte. Die Be-
teiligung Pereiras an dieser Komödie besiegelte sein Schicksal.
Als Robespierre bald darauf, nach der Abschaffung des Vemunf t-
kultes einen Feldzug gegen die „Missionäre der atheistischen
Religion" eröffnete und einen Prozeß gegen die Terroristen aus
der Hebertschen Partei anstrengte, geriet auch Pereira in Ge-
meinschaft mit Anacharsis Klotz unter die Angeklagten. Nach
einer fünfmonatlichen Haft, wurde Pereira wegen angeblicher
„Beteiligung an einer die Vernichtung der nationalen Vertre-
tung (des Konventes), die Ermordung ihrer Mitglieder und den
Sturz der Republik bezweckenden Verschwörung" vom Revo-
lutionstribunal zum Tode verurteilt. Er wurde im gleichen
Wagen mit Hebert, Klotz und den anderen auf den Richtplatz
geschafft. Unter den lauten Schreien der Menge: ,,Es lebe die
Republik" fiel der Kopf des jüdischen Demagogen.
118
Einen Monat später kam der Prozeß der Dantonisten zur Ver-
handlung, und unter diesen befanden sich zwei Angeklagte jüdi-
scher Abstammung: die Brüder Frey. Aus Österreich, wo ihr
Vater, ein reicher Armeeheferant, zum Christentum übergetreten
war, übersiedelten die Brüder Julius und Emanuel Frey samt ihrer
jugendlichen Schwester Leopoldine nach Paris, um die „Wohl-
taten der Freiheit" zu genießen (1792). Hier trat die Famüie Frey
in nähere Beziehungen zu den Montagnarden, insbesondere zu dem
rohen Demagogen Chabeau, einem ehemaligen Kapuziner. Um
ihr Bündnis mit der Revolution zu befestigen, verheirateten die
Brüder ihre sechzehnjährige Schwester mit Chabeau, indem sie
ihm das schöne Mädchen mit einem ansehnlichen Vermögen als
Mitgift beinahe aufdrängten. Das Ehebündnis erwies sich als
verhängnisvoll für beide Teüe. Als Chabeau bald darauf in
die Netze der revolutionären Spionage geriet, wurde gegen
ihn die Anklage erhoben, daß er sich mit einer Österreicherin
verheiratet und Geld aus dem Auslande erhalten habe, um einen
Staatsstreich zu inszenieren. Die Freys wurden beschuldigt, eine
Verschwörung angezettelt zu haben, zum Zwecke, „das Prestige
der republikanischen Regierung mittels Bestechungen zu unter-
graben". Die beiden Brüder, von denen der eine 36, der andere
27 Jahre alt war, wurden vom Revolutionstribunal verurteüt und
zugleich mit Chabeau, Danton, Desmoulins tmd anderen Revo-
lutionshelden im Aprü 1794 hingerichtet. Freigesprochen und am
I/cben gebheben war nur die nach halbjähriger Ehe verwitwete
I/Copoldine Frey, eine zarte, vom Revolutionssturm gebrochene
und vernichtete Blüte.
Eine andere Tragödie spielte sich in der FamiUe des jüdischen
Barons Liefmann Kalmer, eines Einwanderers aus Holland, ah,
der sich in Frankreich lange vor der Revolution naturalisiert hatte.
Von seinen beiden Söhnen stand der eine, Isaak Kalmer
in den Reihen der wildesten Sansculotten („ein Sansculotte mit
200000 Livres Jahreseinkommen"), der andere aber sympathi-
sierte mit den Royaliöten; beide Brüder wurden durch die
Schreckensherrschaft von zwei Polen der politischen Welt
heruntergeholt und vor die Stufen des Schafotts gebracht. Isaak
Kalmer, ein tätiges Mitglied des revolutionären Ausschusses von
Clichy (bei Paris), in dem er öfters den Vorsitz führte, wurde von
seinen politischen Gegnern der despotischen Willkür, der ver-
119
letzenden Behandlung der Munizipalitätsbeamteii und der
Terrorisierung der Bürger von Clichy angeklagt. Kraft eines vom
Revolutionstribunal gefällten Urteils, wurde er im Juni des Jahres
1794 hingerichtet. Sein jüngerer Bruder, Louis-Benjamin,
wurde unter der Anklage, „die extremen Roy allsten und Konter-
revolutionäre unterstützt zu haben", ins Gefängnis geworfen.
Die Anklage gründete sich darauf, daß er, als er während des
Aufenthaltes der königlichen Familie in den Tuilerien Grenadier
war, des öfteren ins Schloß gekommen sei und mit dem Könige
und der Königin gesprochen habe; auch daß er Aufträge des
„verächtlichen Höflings" Lafayette ausgeführt und in dessen
Namen Medaillen verteüt habe. Im Mai 1794 wurde auch der
zweite Kalmer vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt
und bald darauf guillotiniert. Die Guillotine drohte auch der
Schwester der hingerichteten Kalmers, Sarah, die durch einen
glücklichen Zufall dem Tode entrann; sie war im Gefängnisse
etwas länger als ihre Brüder geblieben, inzwischen aber voll-
zog sich der Umsturz vom Termidor, der der blutigen Dik-
tatur Robespierres ein Ende setzte (Juli 1794). Die eingekerkerte
Jüdin wurde mit allen anderen zum Tode verurteilten Ge-
fangenen freigelassen.
Jüdische Namen tauchen auch in den politischen Prozessen der
folgenden Jahre, der Zeit der „Beruhigung", auf. Wenn zur
Z&t des Konvents der Verdacht eines mangelnden Radikalismus
genügte, um ins Gefängnis geworfen zu werden, so wurden in den
Jahren des Direktoriums {1795 — 1796) Prozesse gegen Personen
angestrengt, die sich des extremen Jakobinertums verdächtig
machten. Dies alles berührte jedoch nur die Interessen einzelner
Personen und wurde nicht der ganzen jüdischen Bevölkerung als
solcher auf die Rechnung gesetzt.
§ 20. Die ersten Früchte der Emanzipation (1796 bis 1806).
Das Jahrzehnt zwischen dem Direktorium und der Errich-
tung des Napoleonischen Kaiserreichs war im Leben der fran-
zösischen Juden durch keine hervorragenden Geschelmisse aus-
gezeichnet, aber es ebnete den Weg zu den Ereignissen der
darauffolgenden Jahre. In dieser Zeit reiften die ersten Früchte
der Emanzipation heran, die süßen wie die bitteren. Das bürger-
liche und insbesondere das wirtschaftliche Wachstum der jü-
dischen Bevölkerung löste seitens der von diesem Wachstum ge-
120
troffenen fremden Interessen eine Gegenwirkung aus, und unter
der Sonne der Freiheit reifte eine Frucht heran, die ihre Säfte aus
dem Boden der Knechtschaft sog.
Seit der Revolutionszeit nahm die jüdische Bevölkenmg Frank-
reichs zusehends zu. Die jüdische Einwanderung aus dem be-
nachbarten Deutschland nach den östlichen Departements
Frankreichs, nach Elsaß und Lothringen, gewann an Ausdehnung;
die entrechteten Bewohner des deutschen Ghettos fanden hier
eine ihr in Lebensgestaltung und Sprache (jüdisch-deutsche
Mundart) verwandte jüdische Bevölkerung vor und akklimati-
sierten sich rasch den neuen Verhältnissen. Viele von ihnen
drangen noch tiefer ins Land und gingen insbesondere nach Paris,
dessen jüdische Bevölkerung in fünfzehn Jahren auf das Dreifache
gestiegen war: um das Jahr 1806 lebten da an die 3000 Juden.
Eine bedeutende jüdische Gemeinde büdete sich in Straßburg,
das früher den Juden verschlossen war. Die Eroberungen der
französischen Revolution und des Kaiserreichs (Belgien, Hol-
land, die Schweiz, Teüe Italiens und Deutschlands) hatten eine
mechanische Vergrößerung der jüdischen Bevölkerung im Ge-
folge, die in den ersten Jahren des Kaiserreichs (1804 — 1808) die
Zahl 135 600 überstieg. Ungefähr die Hälfte davon entfiel auf
die rein französischen Departements.
Diese ganze Menschenmasse zeigte sich bestrebt, ihre Kräfte
im Lande der Freiheit zu entfalten; aber jene stürmische Zeit
war nicht dazu angetan, das normale Wachstum des befreiten
Volkes zu fördern. Die inneren Revolutionskrisen wurden von
einer Periode imunterbrochener äußerer Kriege abgelöst. Der
Drang nach Freiheit machte dem Drange nach militärischem
Ruhme Platz, der den Müitarismus Napoleons I. so üppig empor-
schießen ließ. Unwillkürlich mußten die Juden in dieses Fahr-
wasser hineingeraten, das die bürgerlichen Tugenden in die
Kasernen und auf die blutigen Schlachtfelder mit sich riß. Sie
lieferten nicht wenig Stoff für jenes Kanonenfutter, das der
,,Ruhm Frankreichs" benötigte. Durch die starken Aushebimgen
wurden die jugendlichen Reihen der jüdischen Bevölkerung er-
heblich gelichtet. Die Juden begäben sich unter die Fahnen der
Republik und des Kaiserreiches, indem sie persönlich den Militär-
dienst leisteten oder gedungene Söldner stellten. Es gab unter
ihnen auch, viele Freiwillige und Berufssoldaten, die es zuweüen
121
bis zum Offiziersrange brachten. Die I^age der Juden unter ihren
christlichen Kameraden war mitvmter eine sehr schwierige; dies
bewog viele Juden im Heere, ihre Abstammung zu verheimlichen
und ein militärisches Pseudonym (nom de guerre) anztmehmen.
In dem Maße, als sich die Aushebungen verstärkten, und die
„Blutsteuer" immer unerträglicher wurde, wuchs auch die Zahl
der Drückeberger. Die Präfekte der östlichen Departements be-
richteten darüber, daß viele Juden zur Musterung überhaupt
nicht erschienen, daß die jüdischen Geburtsscheine rücht in
Ordnung seien, und daß viele jüdische Eltern ihre Kinder männ-
lichen Geschlechts unter Mädchennamen eintragen ließen, um
sie dem Militärdienste zu entziehen. Trotzdem Fälle des Nicht-
erscheinens zur Musterung und selbst solche der Fahnenflucht
sich auch unter den Christen immer häuften, wurden sie
doch den Juden besonders zur Last gelegt, da man darin einen
Mangel an staatsbürgerlichem Gefühl erbhckte. Daß die Juden
der Beteiligung an den Hekatomben Napoleons I., der im Ver-
laufe von fünfzehn Jahren über drei Millionen Menschen unter die
Fahnen sammelte, sich zu entziehen suchten, galt für viele als
Beweis dafür, daß sie die Gleichberechtigimg nicht verdienten.
Die Tragik der Geschichte bestand darin, daß das Morgenrot der
Befreiung den französischen Juden im blutigen Nebel der Schrek-
kensherrschaft und im Pulverrauch der Schlachten aufging, daß
man den Befreiten keine Zeit ließ, sich den neuen Verhältnissen
des staatsbürgerlichen I,ebens anzupassen und sich auf normalem
Wege zu zivilisieren.
Dies zog Anomalien auch im kulturellen Wachstum nach sich :
jähe Sprünge auf der einen, Starrheit auf der anderen Seite. Die
Spitzen der jüdischen Gesellschaft, insbesondere die der sephar-
dischen in Paris und im Süden verfielen rasch dem Prozesse der
Französierung. Statt eine reformierte jüdische Schule zu schaf-
fen, brachten die Eltern ihre Kinder in allgemeinen Lehranstalten
tmd in „erlesenen Pensionaten" unter, wo sie in einer christlichen
Atmosphäre erzogen und allem Jüdischen entfremdet wurden.
Wie bereits erwähnt, zerriß auch der Militärdienst das den jungen
Juden mit seiner nationalen Gemeinschaft verknüpfende Band.
Wohl taten sich einige Juden in öffentlichen Diensten, wie auch
in freien Berufen, hervor; aber von der jüngeren Generation
waren es nur sehr wenige, die ein Interesse für das Schicksal
122
ihres Volkes bekundeten (der Rechtsanwalt Michael Berr,
Sohn des bekannten Emanzipationskämpfers Isaak Berr und
andere). Es wurde auch der erste Keim zur Rassenassimilation
gelegt — es kamen die ersten Mischehen zwischen Juden und
Christen auf. Der Prozeß der AssimiHerung hatte selbst in den
großen jüdischen Zentren von Elsaß imd Lothringen bedeutende
Erfolge zu verzeichnen. Schon im Jahre 1791, gleich nach Ver-
kündung des Emanzipationsaktes, forderte Isaak Berr seine
Stammesgenossen auf, ihre deutsch- jüdische Mtmdart f»iif zu-
geben, sich im täglichen Verkehr der französischen Sprache zu
bedienen und ihre Kinder in französische Schulen zu schicken,
da durch den Verkehr mit den christlichen Kindern in der Schule
die gegenseitige Entfremdung schwinden und bald darauf einer
„brüderlichen I^iebe" zwischen Juden und Christen Platz
machen würde. Die Wünsche Berrs begannen im inneren Leben
der jüdischen Gesellschaft greifbare Gestalt zu gewinnen; die
Volkssprache wurde nach und nach durch die offizielle Staats-
sprache — das Fanzösische verdrängt, die jüdische Schule begann
allmählich der französischen zu weichen, die Entfremdung der
jtmgen Generation gegen alles Jüdische vollzog sich un-
aufhaltsam, aber vom ,, brüderlichen" Verhältnis zu der um-
gebenden Bevölkerung war man noch weit entfernt. Nach fünf-
zehn Jahren seit der Verkündung des Emanzipationsaktes mußte
derselbe Isaak Berr folgende traurige Zeilen niederschreiben:
„Gewiß, das segensreiche Dekret vom 28. September 1791 stellte
uns in unseren Rechten wieder her und verpflichtete tms zu einem
Gefühle ewiger Dankbarkeit, aber bis auf den heutigen Tag ist
der Gebrauch, den wir davon machen, nur ein scheinbarer, denn
in der Lebenspraxis ermangeln wir alles dessen, was wir de jure
errungen haben. Die Verachtung, die dem Namen Jude an^
haftet, bildet eines der Haupthindemisse zu unserer Wieder-
geburt. Kommt ein jüdischer junger Mann zu einem Handwerks-
meister, einem Fabrikinhaber, einem Künstler, einem Landmann,
um Fachkenntnisse zu erwerben, so wird er zurückgewiesen,
weü er Jude sei. Wird ein Jude vor Gericht geladen — so wird
sich die gegnerische Partei selten das Vergnügen entgehen lassen,
allgemeine und unziemliche Auslassungen gegen die Juden vor-
zubringen und sie mit all jenen Vorwürfen zu überschütten, die
von altersher geltend gemacht werden. Man trägt nicht einmal
123
Bedenken, uns auf der Bühne zur Zielscheibe des Spottes zu
machen."
Dieser passive Widerstand gegen die Praxis der Gleichberech-
tigung seitens der christlichen Gesellschaft begünstigte die
sozial-wirtschaftliche Rückständigkeit unter den jüdischen
Volksmassen. Trotz der Beseitigung aller Rechtseinschränkungen
auf dem Gebiete der Berufe und der Gewerbe, verharrten die
meisten Juden im Elsaß und I^othringen (den Departements des
unteren und oberen Rheins, der Mosel usw.) in ihrer alten wirt-
schaftlichen Position — dem Kleinhandel und dem Geldgeschäft.
Die langanhaltende finanzwirtschaftliche Krise Frankreichs
während der Revolution und des Kaiserreichs machte es den
Juden unmöglich, sich auf neue Erwerbsgebiete zu werfen, ohne
dabei ihr Vermögen aufs Spiel zu setzen; andererseits wurden sie
daran durch den Widerstand der interessierten Klassen der christ-
lichen Bevölkerung verhindert. Daher der wirtschaftliche Kon-
servatismus, das Festhalten an einem der traurigsten Monopole
der jüdischen Wirtschaft — dem Geldkredit, insbesondere dem
Kredit für landwirtschaftliche Zwecke. Der durch die Revo-
lution bewirkte Umsturz in den Agrarverhältnissen (der Fall der
feudalen Ordnung, die Auswanderung des Adels, das Aufkommen
des bäuerlichen Grundbesitzes) erweiterte nur die Sphäre der
jüdischen Vermittlungstätigkeit und verlieh ihr eine veränderte
Gestalt. Einige jüdische Kapitalisten waren durch den Besitz von
Bodenhypotheken zum unmittelbaren Gnmdbesitz übergegangen ;
die meisten aber befaßten sich mit dem Wiederverkauf des ihnen
verpfändeten Grundbesitzes an Bauern und Adlige. Die Speku-
lation in Immobilien erreichte im Zusammenhange mit der
Schreckensherrschaft und der unruhigen Zeit unerhörte Dimen-
sionen; Profitjäger kauften zum Spottpreise die von den Aus-
wanderern verlassenen Grundstücke auf, um sie dann zu hohen
Preisen wieder zu verkaufen. Der jüdische Gläubiger, der den
I^andmann mit Kapital zwecks Bodenankaufs versorgte, er-
leichterte ihm den Übergang von Taglöhnerei zum selbständigen
Bodenbesitz; des öfteren aber belastete er den neuen Eigen-
tümer mit drückenden Schuldverschreibungen. Der Mangel an
barem Geld und die Unsicherheit des Kredits machten eine Er-
höhung des Zinsfußes erforderlich, die den Juden viele Vorwürfe
zuzog. Die Klagen über jüdische „Ausbeutung" Wucher und
124
Raub drangen ununterbrochen aus den Rheinischen Departe-
ments nach Paris. Marschall Kellermann erstattete im Jahre 1806
an Napoleon I. einen Bericht, in dem die Lage des Elsaß unter
der wirtschaftlichen „Herrschaft" der Juden in düsteren Farben
geschildert war. Der judenfeindliche Bericht weckte die Vor-
stellimg, als ob die Juden das elsässische Dorf zugrunde richteten,
die gesamte ländliche Bevölkerung unterjochten und effektiv die
Herren im Lande seien, da der meiste Grundbesitz in ihren
Händen liege. Derartige einseitige Darstellungen verfehlten nicht
einen starken Eindruck auf Napoleon zu machen, der in den
ersten Jahren des Kaiserreichs lebhaftes Interesse für die
Judenfrage zeigte. Die in Elsaß und Lothringen ansässigen
Juden hatten keine Ahnung davon, welch eine furchtbare An-
klageschrift gegen sie in Paris vorbereitet wurde und daß sogar
die Frage der Abschaffung ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung
zur Diskussion stand ...
§ 21. Napoleon und die Juden; das Dekret von 1806. Die
neue zerstörende und zugleich aufbauende Kraft, in der sich
despotische Willkür mit Revolutionsfreiheit paarte — diese
wilde, über das Leben Europas hereingebrochene Gewalt ging
auch an dem jüdischen Volke nicht ohne Wirkung vorüber.
Napoleon I. war für die Juden Unterdrücker und Befreier in
einer Person, ein guter und ein böser Genius; das Verhältnis des
Weltbezwingers zu einer Nation, die von der Welt nicht nieder-
gerungen werden konnte, zeigte eine Mischung von Niedertracht
und Größe.
Das erste Zusammentreffen Bonapartes mit den Juden fällt in
die Zeit des märchenhaften Feldzuges des ruhmreichen Generals
nach Syrien und Ägypten und spielte sich auf dem Boden der
alten jüdischen Heimat ab. Nach der Einnahme von Gaza und
Jaffa (Februar bis März 1799) erließ der vor den Toren Jerusalems
stehende Bonaparte einen Aufruf an die asiatischen und afri-
kanischen Juden, in dem er sie ermahnte, dem französischen
Heere behilflich zu sein, und die Wiederherstellung des alten
Jerusalems in Aussicht stellte. Es war dies ein politisches Manö-
ver, ein Versuch, in den orientahschen Juden wohlgesinnte Ver-
mittler bei der Einnahme der palästinischen Städte zu ge-
winnen. Dieser Ruf fand bei den Juden keinen Widerhall; die
jüdische Bevölkerung der betreffenden Gebiete hielt treu zu der
125
türkischen Regierung. Die Gerüchte von den durch die fran-
zösischen Truppen verübten Greueltaten veranlaßten die in
Jerusalem ansässigen Juden, sich an den Vorkehrungen zum
Schutze der Stadt zu beteiligen. Der phantastische Plan der
Niederwerfung Asiens ging nicht in Erfüllung, und Bonaparte
kehrte nach dem Westen zurück, um Frankreich durch den
Streich vom i8. Brumaire kirre zu machen und dann Europa
zu erobern.
Das Problem der Regelung jüdischer Verhältnisse im modernen
Staatswesen weckte die Aufmerksamkeit des regierenden Napo-
leon, des ersten Konsuls, zum ersten Male, als die Frage der
Organisierung der religiösen Kulte in Frankreich nach Abschluß
des Konkordates mit dem Papste auf der Tagesordnung stand
(1801). Da der erste Konsul auch die Beziehungen des jüdischen
Kultes zum Staate regeln wollte, beauftragte er den Minister der
Bekenntnisse, Portalis, einen Bericht über dieses Problem zu ver-
fassen. Der Bericht wurde verfaßt und in der Sitzimg der gesetz-
gebenden Versammlung (5. April 1802) verlesen, aber er enthielt
statt eines Vorschlags zur Regelung der geistlichen Angelegen-
heiten der jüdischen Bürger nur Beweise für die Schwierigkeit
der Durchführung eines derartigen Entwurfs. „Die Regierung",
schrieb Portalis, „die für die Organisierung der verschiedenen
Konfessionen Sorge trug, hat auch die jüdische Religion nicht
außer acht gelassen: gleich allen anderen soll sie sich der durch
unsere Gesetze gewährleisteten Freiheit erfreuen. Aber die Juden
stellen weniger ein Glaubensbekenntnis als eine Nation dar
(forment bien moins une religion qu'un peuple); sie leben unter
allen Nationen, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Es war die
Pflicht der Regienmg, die Ewigkeit dieses Volkes in Betracht zu
ziehen, eines Volkes, das durch alle Umwälzungen und alles Miß-
geschick der Jahrhunderte hindurch sich in unsere Zeit hinüber-
rettete, das auf dem Gebiete des Kultes und seiner geistigen Ver-
fassung im Besitze eines der größten Privilegien ist — des Pri-
vüegiums, Gott selbst zum Gesetzgeber zu haben." Diese Sätze
verrieten bereits die spätere Zwiespältigkeit der napoleonischeu
Regierung in. der jüdischen Frage: einerseits historische Kom-
plimente für die Standhaftigkeit des Judentums, und anderer-
seits die Besorgnis, daß eine derart standhafte Nation sich an die
französische Staatlichkeit nicht werde anpassen können, d. h. daß
126
sie auch künftighin ihre Standhaftigkeit bewahren werde. Der-
artige Befürchtungen bewirkten, daß die I/5sung der Frage von
der Organisation des Judentums vertagt wurde.
Der Kaiser mußte das Werk zu Ende führen, das der erste
Konsul unternommen hatte. Aber dieses neue Unternehmen war
mehr vom Geiste des Verdachtes und der Befürchtungen als von
dem der Hochachtung für die „Ewigkeit des jüdischen Volkes"
getragen. Napoleon, der dem jüdischen Leben vollständig fem
stand, bildete sich einen Begriff davon auf Grund flüchtiger, bei
Feldzügen empfangener Eindrücke, privater Beschwerden und
offizieller Berichte. Unter dem bunten, aus verschiedenen
Völkerschaften zusammengesetzten, durch die Uniform nivel-
lierten Heere bemerkte er die jiidischen Soldaten nicht, um so
weniger als diese Soldaten des öfteren ihre Abstammung unter
militärischen Pseudonymen verbargen (§ 20); dafür aber fielen
ihm die Scharen jüdischer, dem Heere auf die Spur folgender
Händler in die Augen, die der Geldbeute überall nachjagten, wo
der Führer der französischen Truppen auf Kriegsbeute ausging.
Als der Kaiser im Jahre 1805 aus dem Feldzuge von Austerlitz
zurückkehrte und durch Straßburg zog, bekam er mehrere
Klagen gegen die Juden zu hören, die angeblich durch ihre
Kreditoperationen die ganze bäuerliche Bevölkerung des Landes
ausbeuteten. Die christliche Bevölkenmg von Straßburg, die sich
seit langem um die Wiedererlangung des ,, Privilegiums" der
Nichtzulassung von Juden bemühte, konnte sich noch immer
nicht mit dem Emanzipationsakte von 1791 versöhnen; ebenso-
wenig behagte ihr die Entstehung einer gleichberechtigten
jüdischen Gemeinde innerhalb einer Stadt, wo es früher „den
Juden verboten war, zu übernachten". Die Straßburger und
Elsässer Judenfeinde erwarteten von Napoleon das, worum sie
sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemüht hatten: die
tatsächliche Hintertreibung der jüdischen Gleichberechtigung.
Sie täuschten sich nicht; der Kaiser versprach, die Klagen zu
prüfen und Maßnahmen zu ergreifen.
Als Napoleon nach Paris zurückkehrte, befand er sich in einem
Zustande äußerster Mißstimmung gegen die Juden und faßte den
festen Beschluß, einen Kampf gegen sie aufzunehmen, der
nötigenfalls bis zur Verletzung ihrer Gleichberechtigung gehen
sollte. Er gab dem Staatsrat den Befehl, diese Frage einer so-
127
fortigen Erörterung zu unterziehen. Der in der Folge bekannt ge-
wordene konservative Staatsmann Graf Mole, damals noch
ein junger Beamter und Anhänger des napoleonischen Regimes,
wurde mit der Berichterstattung betraut. Als Mole in seinem Be-
richte von der Notwendigkeit sprach, die Juden, wenigstens auf
dem Gebiete des Handels, Ausnahmegesetzen zu unterwerfen,
gerieten die meistens liberal gestimmten Mitglieder des Rates in
große Aufregung. Es wurden Stimmen laut gegen den reaktio-
nären Versuch, das alte Regime für die Juden wiederherzu-
stellen. Als die Frage auf der nächsten, u^ter dem Vorsitz des
Kaisers abgehaltenen Sitzung (30. April 1806) von neuem er-
hoben wurde, hielt das liberale Ratsmil^lied Beugnot eine feurige
Rede gegen das Vorhaben, die Juden in ihren Rechten einzu-
schränken, wobei er sich dahin ausdrückte, daß jede ausschließ-
liche Maßregel dieser Art „einer auf dem Felde der Gerechtigkeit
verlorenen Schlacht" gleichkäme. Die Mehrheit erklärte sich mit
dem Redner einverstanden. Aber den Männern des Gesetzes er-
widerte der Mann des Schwertes. In einer sehr scharfen Rede
drückte Napoleon seine Verachtung gegen alle solche „Ideo-
logen" aus, die „die Wirklichkeit einer Abstraktion opfern",
die Wirklichkeit erscheine ihm aber in einem furchtbaren laichte.
„Die Regierung", sagte Napoleon gereizt, , kann nicht gleich-
gültig und teünahmlos zusehen, wie eine gesunkene, ver-
lotterte und zu allen Schandtaten bereite Nation die beiden
schönen Departements des alten Elsaß an sich reißt. Die
Juden müssen als Nation und nicht als Sekte ange-
sehen werden — sie sind eine Nation innerhalb einer
Nation .. . Man darf sie nicht in die gleiche Kategorie wie die
Protestanten und Katholiken setzen ; ihnen gegenüber muß man
nicht das bürgerliche, sondern das politische Recht anwenden,
denn sie sind keine Bürger . . . Ich will den Juden, wenigstens
für eine Zeitlang, das Recht entziehen, Immobilien in Pfand
zu nehmen. Ganze Dörfer sind schon von den Juden in Beschlag
genommen: sie sind an die Stelle der früheren I^ehnsherren ge-
treten . . . Nicht unangemessen wäre es, ihnen den Handel zu
verbieten, den sie durch Wucher schänden, und aUe ihre früheren
auf Betrug beruhenden Abmachungen zu annullieren." Zum
Schlüsse gab der Kaiser die Quellen seiner Informationen über
die Juden an : sie bestanden in den Beschwerden der christlichen
128
Bevölkerung der Stadt Straßburg und in dein Berichten des
dortigen Präfekten.
Wenn man die Gedankengänge des Kaisers von den zufälligen
Stimmungen lostrennt, so kann man in ihnen ein bestimmtes
System erblicken: Die Revolution hatte den Juden Gleich-
berechtigung gegeben, die einer Sekte innerhalb der französischen
Nation galt (§ 15); da sie aber eine besondere Nation bilden, so
gehören sie nicht in das Gebiet der staatsbürgerlichen, sondern
in das der politischen Gesetzgebimg; wir wissen aber, daß der
politische Kodex Napoleons in demselben Maße schlecht war,
wie sein „Code civil" gut ... In der Praxis nahm der Kaiser
von konsequentem Vorgehen, das ihm den zweifelhaften Ruf
eines Unterdrückers der Juden einbringen würde. Abstand. In der
folgenden Sitzung des Staatsrats vom 7. Mai verwarf er den
radikalen Vorschlag des Berichterstatters, die jüdischen Hausierer
des Landes zu verweisen und den Wucher der Überwachung der
Tribunale zu unterstellen. „Fem liegt es mir," sagte er, „Schritte
zu unternehmen, die meinen Ruf beeinträchtigen und die Ver-
urteilung bei den künftigen Generationen nach sich ziehen
könnten ... Es wäre eine Schwäche, die Juden zu verfolgen,
aber es ist ein Zeichen der Kraft, sie zu bessern." Unter „Bes-
serung" verstand der Kaiser nicht nur Repressalien gegen die
Schattenseiten des jüdischen Handels, sondern auch eine gründ-
liche Reform der ganzen Lebensgestaltung der Juden. Nachdem
er den Gedanken ausgesprochen, daß „der von den Juden ver-
ursachte Schaden nicht von einzelnen Personen ausgehe, sondern
in der ganzen Verfassung des gesamten Volkes begründet sei",
beeilte er sich, die Erklärung hinzuzufügen, daß es notwendig sei,
jüdische „Generalstaaten" einzuberufen. Die Vertreter des an-
geklagten Volkes sollten Rede stehen und die Frage beantworten,
ob sich die schlechte „Verfassung" des Judentums bessern und
der Staatsverfassung des Wirtslandes unterordnen lasse, oder ob
die Juden eines staatsbürgerlichen Lebens unfähig seien.
Alle diese Konferenzen hatten das aus zwei Teilen bestehende
kaiserliche Dekret vom 30. Mai 1806 zur Folge. Im ersten Teile
wurde befohlen, die Vollstreckung aller gerichtlicher Urteile be-
treffend die Schuldforderungen jüdischer Gläubiger an die länd-
liche Bevölkerung in den Departements des Ober- und Nieder-
rheins und anderer „deutscher" Gebiete für die Dauer eines
9 Dubnow, Oeschichte der Juden t 129
Jahres einzustellen. Im zweiten Teile wurde verkündet, daß am
15. Juli 1806 „eine Versammlung von Personen, die sich zum
jüdischen Glauben bekennen und in Frankreich seßhaft sind, in
Paris einzubenifen sei. Die Versammlung soll aus min-
destens IOC Personen bestehen, die sämtlich von den Präfekten
unter den geistlichen und weltlichen Vertretern der jüdischen
Gemeinden zu wählen sind. Beide Teile des Dekrets wurden in der
Einleitung mit dem zwiefachen Wunsch begründet — einerseits
der von dem jüdischen Wucher umgarnten ländlichen Be-
völkerung behilflich zu sein, andererseits in den Juden alle die
„Gefühle bürgerlicher Moral zu wecken, die infolge eines lang-
wierigen Verharrens im Zustande von Erniedrigung, den wir
jedoch weder unterstützen noch erneuern wollen, bei einem
beträchtlichen Teile dieses Volkes eine Schwächtmg erlitten
haben."
Das Dekret von der Annullierung aller Schuldforderungen
jüdischer Gläubiger bei der nichtjüdischen Bevölkerung be-
deutete einen harten Schlag nicht nur für einzelne Personen,
sondern für das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit selbst :
denn nicht um die Wucherer als solche handelte es sich hier,
sondern ausdrücklich um jüdische Wucherer. Was nun den
Plan der Einberufung jüdischer Volksvertreter betrifft, so ist er
ganz gewiß von einer gewissen Größe, die aber durch die Ver-
bindung mit demütigenden Repressalien und einer das Ehr-
gefühl verletzenden offiziellen Begründung beeinträchtigt wird.
Nichtsdestoweniger war die jüdische Gesellschaft in Frankreich
und auswärts mehr geneigt, die Lichtseite als die pro-
saische Schattenseite des Dekrets zu sehen : die Einberufung des
jüdischen Parlaments war an sich ein bedeutungsvoller, achtung-
gebietender Schritt und schien den Beginn einer neuen Ära für
das jüdische Volk zu kennzeichnen.
Zugleich mit den regierenden Kreisen beschäftigte sich auch
die französische Presse sehr eifrig mit der jüdischen Frage. Gegen
das Prinzip der jüdischen Emanzipation selbst trat die inzwischen
erstarkte kathohsche Reaktion auf, die in dem bekannten
Bonald ihren geistigen Vertreter hatte. In einem im Februar
1806 veröffentiichten Auf satze (im „Mercure de France") wieder-
holte Bonald die üblichen Anklagen gegen die Juden und ge-
langte zu der Schlußfolgerung, daß, „solange die Juden das
130
Christentum nicht annehmen, es ihnen trotz aller Bemühungen
nie gelingen wird, sich zu Bürgern eines christlichen Staates her-
anzubilden". Gegen diese lange nicht mehr gehörte Losung der
streitbaren Kirche traten die Verfechter jüdischer Interessen auf.
Einer von ihnen, der sephardische Publizist Rodrigues, ent-
rüstete sich darüber, daß „unter der Ägide des freiheitlichen und
mächtigen Frankreichs im XIX. Jahrhundert Aufsätze ver-
öffentlicht werden können, deren Bestreben darauf ausgeht, den
Juden alle die staatsbürgerhchen und politischen Rechte zu ent-
ziehen, die ihnen nicht von den Staatsgesetzen, sondern von der
Vernunft selbst gewährt wurden". Es war kein Zufall, daß die
judenfeindliche Agitation Bonaids mit dem Beginne der Ver-
handltmgen über die jüdische Frage im Staatsrate zusammenfiel:
der den Hofkreisen nahestehende Reaktionär, dem die Stimmung
des Kaisers bekannt war, beabsichtigte, den Beschluß des Rates in
eine bestimmte Richtung zu lenken. Als Graf Mole seinen oben-
erwähnten Bericht im Staatsrate verlas, stellten darin die libe-
ralen Mitglieder des Rates den Einfluß der Ansichten der ,, anti-
philosophischen Partei des Fontane und Bonald" fest. Wohl
spürten sie, woher der Wind der Reaktion kam, aber sie konnten
nicht umhin, dem Umstände Rechnung zu tragen, daß bis zu
einem gewissen Grade auch der Kaiser selbst von diesem Winde
ergriffen war,
§ 22. Die Versammlung der Notahein. Die Vorbereitungen zu
dem durch den Beschluß vom 30. Mai 1806 einberufenen
„jüdischen Parlament" nahmen einen raschen Verlauf. Gemäß
der ihnen erteilten Weisung setzten die Departementsprä-
fekten eine bestimmte Zahl von Abgeordneten für ihre Wahl-
bezirke fest, die aus der Mitte der Rabbiner, Geschäftsleute und
sonstiger angesehener Personen gewählt wurden. Man faßte
vornehmlich gebildete, fortschrittlich gesinnte Personen ins
Auge, die fähig wären, die ,, wohlwollenden Absichten der
Regierung" vollauf zu würdigen. In den Departements des eigent-
lichen Frankreichs, und dann auch in Elsaß-IvOthringen und den
angrenzenden deutschen Provinzen wurden 74 Abgeordnete ge-
wählt, von denen zwei Drittel auf die Rheindepartements ent-
fielen; diese Zahl wurde jedoch in der Folge vergrößert. Ab-
gesehen davon, schickte auch das dem Kaiserreiche angegliederte
Königreich Italien (Venedig, Turin, Ferrara usw.) seine Ver-
9» 131
treter, so daß bei der Eröffnung der Versammlung etwa 112 Ab-
geordnete aus dem ganzen Kaiserreiche anwesend waren.
Unter den Abgeordneten ragten besonders die durch ihre
frühere Tätigkeit bekannten AbrahamFurtado aus Bordeaux.
Beer- Jsaak Berr aus Nancy und der Straßburger Rabbiner
David Sinzheim hervor. Furtado war der Vertreter der
Sephardim, die während der Revolution so energisch ihre Ver-
schiedenheit von der aschkenasischen Mehrheit {§ 16) unter-
strichen hatten. Furtado, ein alter Voltairianer und Girondist,
seiner Gemütsveranlagung nach mehr Franzose als Jude, flößte
den Vertretern der deutschen Departements kein besonderes
Vertrauen ein. Die elsässischen Abgeordneten meinten im
Scherz, daß Furtado die Bibel ausschließlich aus den Werken
Voltaires kenne. Dessenungeachtet wurde er zum Vorsitzenden
der Versammlung gewählt, da er über die nötigen äußerlichen
Eigenschaften: pohtische Schulung und Rednergabe verfügte.
Der bedeutendste Vertreter der Aschkenasim war der unermüd-
liche Anwalt der jüdischen Sache Isaak Berr, ein Anhänger der
Mendelssohnschen Schule, der einen Ausgleich zwischen dem
Judentum und der modernen Aufklärung herbeizuführen strebte.
Kurz vor der Eröffnung der Versammlung wandte sich Berr an
die jüdischen Kapitalisten mit einem Aufrufe, in dem er sie er-
mahnte, den Absichten der Regienmg entgegenzukommen imd
zunächst die Eintreibung der Wechselschulden bei der ländlichen
Bevölkerung für die Dauer eines Jahres einzustellen und dann
das schändliche Wuchergeschäft überhaupt aufzugeben. Unter
den Rabbinern ragte der tiefe Kenner der talmudischen lyiteratur,
der Straßburger Gelehrte David Sinzheim hervor, der in der Zeit
des Konvents von den übereifrigen Verbreitern des ,, Kultes der
Vernunft" viel auszustehen gehabt hatte. Er war durchaus
orthodox gesinnt, hielt es aber auch für möglich, die Schärfe
seiner religiösen Prinzipien zu mildern, wenn es die politischen
Umstände verlangten. Diesen Führern der Versammlung
schlössen sich eine Anzahl durch ihre Bildung und soziale Ver-
dienste hervorragender Personen an: der erste jüdische Rechts-
anwalt in Europa, Michael Berr, der Schriftsteller Rodrigues,
die itahenischen Rabbiner Segre, de-Cologna und Nepi. Nach
dem Zeugnisse eines der kaiserlichen Kommissare, der an der Ver-
sammlung teilgenommen, machte diese Zusammensetzimg einen
132
sehr vorteilhaften Eindruck. „Wir befinden uns", schrieb er,
„unter Menschen, die die Menge weit überragen . . . unter Men-
schen mit entwickeltem Geiste, denen auch allgemein mensch-
liches Wissen nicht fremd ist. Es ist unmöglich, der Existenz
einer jüdischen Nation die Anerkennung länger zu verweigern,
einer Nation, in der sich bisher nur der Abschaum bemerkbar
machte, und die nun durch den Mund ihrer auserlesenen Ver-
treter eine höchst beachtenswerte Sprache zu führen beginnt."
Drei Sekretäre des Staatsrats wurden von Napoleon zu Re-
gierungskommissaren für die Versammlung der jüdischen Ab-
geordneten ernannt. Es waren dies die Kreatur Napoleons, der
obenerwähnte Graf Mole^), der jüngere Portalis (Sohn des Kultus-
ministers) und Pasquier, der uns Memoiren über die Tätigkeit des
„jüdischen Parlamentes" hinterließ. Die offizielle Aufgabe der
Kommissare bestand in der Übermittlung und Erläuterung der
vom Kaiser redigierten Fragen und in der Entgegennahme der
Antworten; inoffiziell waren aber diese Kommissare (nach dem
späteren Geständnisse eines von ihnen) beauftragt, „mit den ein-
flußreichsten Mitgliedern der Versammlung Fühlung zu suchen
und Mittel und Wege zur Erreichung des angestrebten Zieles aus-
findig zu machen"; sie sollten also hinter den Kulissen einen
Druck ausüben, um die Tätigkeit der Versammltmg in eine dem
Kaiser genehme Richtung zu lenken.
Als die Abgeordneten in Paris eintrafen, war die Eröffnung
der Versammlung bereits für Sonnabend, den 29. Juli 1806 fest-
gesetzt. Die gesetzestreuen Abgeordneten nahmen zunächst An-
stoß an der bevorstehenden Verletzung der Sabbatruhe, und in
einer privaten Konferenz wurde viel darüber gestritten, ob man
nicht um die Verlegung der ersten Sitzung auf den darauf-
folgenden Tag bitten solle. Aber Erwägungen politischer Natur
nahmen überhand: es handelte sich darum, der Regierung zu
*) Wie das Verhältnis Molfes zu den Juden im gegebenen Augenblick war,
ist aus folgender, kürzlich in den Memoiren eines anderen Kommissars (Pas-
quier) aufgedeckten Tatsache ersichtlich. Einige Tage vor Eröffnung der jüdi-
schen Versammlung erschien in der offiziellen Zeitung ,,Moniteur" ein langes
judenfeindhches Pamphlet unter dem Titel: „Vom Zustande der Juden seit
Moses bis auf den heutigen Tag", in dem bewiesen wurde, daß das I,aster des
Wuchers schon in der ReUgion der Juden begründet sei. Diese „Anklageschrift
gegen die jüdische Nation" war, nach Mitteilung Pasquiers, im Auftrage Napo-
leons vom Kommissar Molfe verfaßt (oder redigiert). Vgl. : Brann, „Aktenstücke"
I, 19 — 76, 81 — 95.
zeigen, daß die Juden nötigenfalls bereit seien, ihre Gesetze zu
übertreten, wenn diese der Ausführung obrigkeitlicher Befehle
im Wege stehen. Die erste Konzession wurde gemacht: die
erste — vielleicht von der Regierung beabsichtigte — Prüfung
des Gehorsams war bestanden. Die feierliche Eröffnung der Ver-
sammlung erfolgte an dem festgesetzten Sonnabend in einer zu
einem großen Saale umgebauten Kapelle am Stadthaus. Der
Hauptkommissar Mole hielt die Eröffnungsrede. Durch die höf-
lichen Redensarten drang der schlecht versteckte feindselige In-
halt hervor. „Jeder von euch," sagte Mole, „die ihr von allen
Ecken und Enden des weiten Reiches hierher berufen worden
seid, kennt zweifellos die ^iele, um derentwillen seine Majestät
geruhte, euch hier zu versammeln. Es ist euch bekannt, daß das
Benehmen vieler Bekenner eurer Religion zu Klagen Anlaß gab,
die sogar bis zu den Stufen des Thrones gedrungen sind. Die
Klagen erwiesen sich als wohl berechtigt, und doch beschränkte
sich der Kaiser nur darauf, daß er dem weiteren Wachstum der
Krankheit Einhalt gebot und den Wunsch äußerte, von euch Rat-
schläge zur Beseitigung des Übels zu hören." Der Redner sprach
des Femeren die Hoffnung aus, daß die Deputierten die Gnade
des Kaisers zu würdigen wissen und mit der Regienmg und
nicht gegen die Regierung arbeiten werden. „Seine Majestät ver-
langt von euch, daß ihr Franzosen seid, und von euch hängt es
ab, diesen Titel anzunehmen oder auch einzubüßen, weim ihr
euch seiner als unwürdig erweiset. Die an euch gerichteten
Fragen werden euch gleich vorgelesen werden, und eure Pflicht
ist es, zu jeder von ihnen die ganze Wahrheit zu sagen." Nach Be-
endigung der Rede, die mehr Drohungen als Begrüßungen ent-
hielt, wurden die zwölf vom Kaiser an die Versammlung gerichte-
ten Fragen verlesen. Die ersten drei Fragen betrafen Angelegen-
heiten der Ehescheidung : Ob den Juden die Vielweiberei gestattet
ist ? Ob eine Ehescheidung auch ohne die gerichtliche Sanktion
gültig ist ? Ob Mischehen zwischen Juden und Christen zugelassen
werden ? Die folgenden drei Fragen betrafen den Patriotismus:
Ob die Franzosen von den Juden als Brüder oder als Fremde an-
gesehen werden ? Wie stellt sich das jüdische Gesetz zu den Fran-
zosen christlichen Glaubens? Ob die in Frankreich geborenen
Juden dieses Land als ihr Vaterland anerkennen, ob sie sich für
verpflichtet halten es zu verteidigen und seinen bürgerhchen
134
Gesetzen zu gehorchen ? Die weiteren Fragen beziehen sich auf die
Tätigkeit der Rabbiner und insbesondere auf deren gerichtliche
Funktionen. Die letzteren drei Fragen beziehen sich auf die Be-
rufe und insbesondere auf den Wucher: Ob es Berufe gibt, die den
Juden verboten sind ? Ob es dem Juden verboten ist, einem Juden
Geld auf Zins zu leihen, und ob ihm dies bei einem Fremd-
stämmigen ertaubt ist ?
Als beim Verlesen der Fragen die Reihe an die Frage kam : ob
Frankreich von den Juden als Vaterland angesehen wird, und ob
sie es für ihre Pflicht halten, dieses Vaterland zu verteidigen, er-
hoben sich die Abgeordneten von ihren Sitzen und riefen aus:
,,Ja, bis zum Tode!" In seiner Erwiderung auf die unfreundliche
Rede Moles sprach der Vorsitzende der Versammlung, Furtado,
die freudige Bereitschaft der Versammlung aus, an der Verwirk-
lichung der „großmütigen Absichten" des Kaisers mitzuwirken,
da er darin ein Mittel erblicke, ,, manchen Irrtum zu zerstreuen
und manches Vorurteil zu beseitigen". Es wurde eine besondere
Kommission aus zwölf Mitgliedern eingesetzt, der Isaak Berr,
Rabbiner Sinzheim und andere angehörten, und die mit der Aus-
arbeitung der Antworten auf die gestellten Fragen betraut wurde.
Die Beantwortimg der ersten Fragengruppe nahm nur einige
Tage in Anspruch, so daß die Versammlung schon in der Sitzung
vom 4. August an ihre Erörterung herantreten konnte. Die erste
der Fragen (die von der Vielweiberei), wurde mit Leichtigkeit
durch den Hinweis auf den Umstand abgefertigt, daß die Sitte
der strengen Monogamie sich bei den europäischen Juden seit
langem eingebürgert hätte. Die Frage wegen der Ehescheidung
wurde dahin beantwortet, daß der vom Rabbiner vollzogene
religiöse Akt der Ehescheidung erst nach dessen Bestätigung
durch das allgemeine bürgerliche Gericht in Kraft trete; es
wurde dabei darauf hingewiesen, daß die französischen Rabbiner
seit der Emanzipation am bürgerlichen Eide treu festhalten
und die religiösen Akte der Kontrolle der staatlichen Institu-
tionen unterstellen. Größere Schwierigkeiten bereitete die Be-
antwortung der dritten Frage, der von den Mischehen. Aber
auch hier fand sich ein Ausweg: die Antwort lautete, daß alle
zwischen Juden und Christen geschlossenen Ehen die Kraft nicht
religiöser, sondern bürgerlicher Akte besäßen, wie es auch bei den
Mischehen zwischen Katholiken und Andersgläubigen der Fall
135
sei: die katholische Geistlichkeit anerkenne zwar solche Ehen,
erteile ihnen aber keine kirchliche Weihe. Andererseits wurde
festgestellt, daß ,^ein mit einer Christin verheirateter Jude in den
Augen seiner Stammesgenossen nicht aufhört, Jude zu sein".
Den Antworten ging eine von der Versammlung angenommene
charakteristische ,, Deklaration" voraus. In dieser wurde ges£^,
daß „die von den Gefühlen der Dankbarkeit, Liebe und Ehr-
furcht gegenüber der geheiligten Person des Kaisers geleitete
Versammlung berechtigt ist, seinen väterlichen Willen in allen
Dingen zur Richtschnur zu nehmen", daß die jüdische Religion
befiehlt, in allen bürgerlichen und politischen Angelegenheiten
den Gesetzen des Staates vor denen der Religion den Vorzug zu
geben, so daß im Falle eines Widerspruches zwischen diesen und
jenen die religiösen Gesetze zurücktreten müssen.
Die Versammlung, die von Anfang an die abschüssige Bahn der
Nachgiebigkeit und Liebedienerei betreten hatte, glitt unaufhalt-
sam in dieser Richtung weiter. Und als die Reihe an die zweite
Gruppe der Fragen kam, die sich auf die Vereinbarkeit des bür-
gerlichen Patriotismus mit dem nationalen Gefühl bezogen, über-
schritt die servile Gesinnung der Versammlung jedes erdenkliche
Maß. Statt sich darauf zu beschränken, die Zulässigkeit einer der-
artigen Vereinbarkeit festzustellen, gingen die Antworten der
Versammlung weit darüber hinaus und leugneten die nationale
Einheit der Juden. Der Satz, daß die Franzosen von den Juden
als Brüder angesehen werden, wurde folgendermaßen erläutert:
„Im gegenwärtigen Moment bilden die Juden keine Nation mehr,
da ihnen der Vorrang zuteil wurde, einer großen Nation (der
französischen) angegliedert zu werden, und sie erblicken darin
ihre politische Erlösung." Es wurde das Fehlen jedes Solidaritäts-
gefühls zwischen den Juden verschiedener Länder hervorgehoben :
ein französischer Jude fühle sich als Fremder unter seinen
Stammesgenossen in England; französisthe Juden kämpfen
gern gegen ihre in feindlichen Truppen eingereihten Stammes-
genossen . . . Auf diese Weise wurde die Formel der nationalen
Selbstverleugnung verkündet. Nicht alle schlössen sich dieser
Formel mit derselben Aufrichtigkeit an. Angesichts der offen-
k,undigen Drohungen, die in der „Begrüßungsrede" Moles im
Namen des Kaisers enthalten waren, enthielten sich viele einer
Entgegnung. Man drohte den Juden mit der Entziehimg der
136
staatsbürgerlichen Rechte, wenn sie sich dem Wunsche des
Kaisers, „Franzosen zu sein", widersetzten; die eingeschüchterten
Abgeordneten mußten sich fügen und erklären, daß die Juden
nur „Franzosen mosaischer Religion" und auch bereit seien, aus
dieser Religion aUes auszuschließen, was mit den Forderungen
der Regierung sich nicht vereinbaren ließe.
Mit derselben äußerlichen Leichtigkeit, doch anscheinend nicht
ohne schwere Kämpfe in den Seelfen vieler Abgeordneter, ver-
zichtete die Versammlung auch auf jeden Anspruch auf eine weit-
gehende Gemeindeautonomie. Die Versammltmg sprach sich in
ihren Antworten auf die das Rabbinat betreffenden Fragen für
die Abschaffung der Rabbinergerichtsbarkeit aus, wie auch für
die Beschränkung der Tätigkeit der Rabbiner auf die religiösen
Funktionen, wagte aber dabei nicht, irgendwelche Forderungen
hinsichtlich der Organisation der jüdischen Gemeinden aufzu-
stellen. Die Antworten der Versammlung auf die letzte Fragen-
gruppe „bezüglich des Wuchers" bildeten eine lange Apologie
der jüdischen Gesetzgebung, die die Wucherer niemals in Schutz
genommen habe. Mit Entrüstung wies die Versammlung den Ge-
danken von sich, daß die Juden „eine natürliche Neigung zum
Wucher" hätten: Gewiß gäbe es unter ihnen eine bestimmte
Gruppe von Personen, die sich „diesem schändlichen, von ihrer
Religion verpönten Beruf widmen". Aber sollen denn Zehn-
tausende für die Schuld eines Häufleins büßen ?
Die in den Augustsitzungen des Jahres 1806 von der Versamm-
lung ausgearbeiteten Antworten wurden dem Kaiser unter-
breitet; im großen und ganzen befriedigten sie ihn*). Mit dem In-
stinkte eines gewohnten Eroberers begriff der Kaiser, daß er dies-
mal einen neuen Sieg davontrug — den Sieg über das Judentum.
Nun galt es, die Ergebnisse dieses Sieges zu festigen. Die Be-
schlüsse einer zufälligen Versammlung von Personen, unter denen
sich sehr wenige Vertreter des geistlichen Standes befanden,
konnten für die ganze jüdische Bevölkerung auch nicht bindend
sein. Es müßte also ein maßgebendes Organ ins Leben gerufen
werden, das diese Beschlüsse bestätigen und ihnen bindende Be-
*) Wie aus einem Priratbriefe Napoleons zu ersehen ist, wollte er, daß die
Versammlung einen kühneren Entschluß in Sachen der Mischehe fasse imd
„solche Verbindungen zwischen Juden und Franzosen als ein Mittel des Schutze«
und ab Zeichen der Bhxe(!) für das jüdische Volk empfehle".
137
deutung verleihen sollte. Und da verfiel Napoleon, der eine Vor-
liebe für großartige Gesten hatte, auf den Gedanken, eine große
alljüdische Synode, das Synhedrion einzuberufen. Aus den ihm
unterbreiteten Antworten der Notabelnversammlung erfuhr er,
daß das jüdische Volk seit dem Falle Judäas über kein Kollegium
von autoritärer Macht verfügte, das mit dem großen alten
Synhedrion, welches die die Thora ergänzende Gesetzgebung aus-
gearbeitet hatte, zu vergleichen wäre. Um all diesen neuen Be-
schlüssen, die das jüdische Leben von Grund aus umgestalten
sollten, besonderen Nachdruck zu verleihen, müsse man in Paris
ein eigenes Sjnihedrion einberufen, das ihnen die Weihe zu
erteilen hätte. Die neue Synode müßte nach dem Vorbild der
alten ebenfalls aus 71 Mitgliedem, vornehmlich aus Personen
geistlichen Standes und aus Gelehrten bestehen. Da aber
Napoleon andererseits befürchtete, daß die „fanatischen Rab-
biner" in der künftigen Sjrtiode durch ihr numerisches und viel-
leicht auch geistiges Übergewicht die I^iberalen verdränget
würden, so sorgte er rechtzeitig für die Sicherung einer gefügigen
Zusammensetzung. ,,Man muß", schrieb er an den Minister des
Innern, Champagny (3. September), „eine achtunggebietende
Versammlung von Männern schaffen, die um die Wahrung und
Aufrechterhaltung ihrer Errungenschaften (der Gleichberech-
tigung) besorgt wären, eine Sjnaode jüdischer Führer, die sich
scheuen würden, die Schuld am Unglück des jüdischen Volkes
(wenn nämlich dem Kaiser unerwünschte Beschlüsse angenom-
men werden) zu tragen." Eine zuverlässige Mehrheit der Synode
„wird die schüchternen Rabbiner mit sich reißen und auf die
fanatischen unter ihnen, die möglicherweise einen zähen Wider-
stand an den Tag legen werden, einen entscheidenden Einfluß
insofern ausüben, als sie sich vor dem Dilemma sehen werden,
entweder die Beschlüsse (der Notabelnversammlung) anzunehmen
oder die Gefahr einer Vertreibung des jüdischen Volkes
heraufzubeschwören."
In der Sitzung vom 17. September erklärten die Kommissare
der Versammlung der Abgeordneten, daß die Beschlüsse der Ver-
sammlung den Kaiser zufriedenstellten, und verkündeten die
bevorstehende Einberufung des „Großen Synhedrions" (Grand
Sanhedrin). Diesmal hielt Mole eine Rede, die bei weitem ver-
söhnlicher klang. Er sprach von dem großartigen Anblick, den
138
„diese Versammlung aufgeklärter, aus der Nachkommenschaft
des ältesten der Völker gewählter Männer" gewährte; er ver-
sicherte, daß Napoleon der einzige Erlöser „der über den ganzen
Erdball verstreuten Überreste einer auch in ihrem Falle herr-
lichen Nation" wäre; aber dieser mächtige Beschützer „fordere
religiöse Bürgschaften" dafür, daß die in den Antworten der
Versammlung niedergelegten Prinzipien streng gewahrt werden.
Eine derartige Bürgschaft müsse von einer anderen maß-
gebenderen Versammlung ausgehen ,, deren Beschlüsse neben die
des Talmuds gestellt und für die Juden aller Länder die größte
Autorität haben sollten". Das Große Synhedrion sei berufen,
den wahren Sinn der jüdischen Gesetze zu interpretieren „und die
falschen Auslegungen der früheren Jahrhimderte" zu beseitigen.
Das Synhedrion solle zu zwei Dritteln aus Rabbinern bestehen;
letztere können aus der Zahl der Versammlungsabgeordneten
entnommen, können aber auch von den Gemeinden neu gewählt
werden. Das andere Drittel jedoch müsse auf dem Wege geheimer
Abstimmung aus Laien gewählt werden. Der Kaiser beauftragt
die jetzige Abgeordnetenversammlung das dem Synhedrion vor-
zulegende Material vorzubereiten; sie werde aber auch nach dem
Zusammentritt des Synhedrions bis zum Abschlüsse seiner Ar-
beiten bestehen bleiben. Vorderhand müsse die Versammlung
einen aus neun Mitgliedern bestehenden Organisationsausschuß
wählen, in welchem alle drei Abgeordnetengruppen — „portu-
giesische", deutsche und italienische Juden — gleicherweise ver-
treten sein sollen. Dem Organisationsausschuß wird der Auftrag
erteilt, „sämtlichen Synagogen Europas" mitzuteilen, daß sie
ihre Abgeordneten zur Teilnahme am Synhedrion schicken
dürfen.
Die Versammlung, die in die Pläne Napoleons nicht eingeweiht
war, nahm diese Mitteilung mit Begeisterung auf. Viele freuten
sich aufrichtig über die traditionelle Form der bevorstehenden
Sjmode; schon der bloße Name, der die glorreiche Vergangenheit
in der Erinnerung hervorzauberte, brachte die Gemüter in
Wallung. Diese historische Dekoration verdeckte vor den einen
die dreiste Anmaßung, das Judentum nach Weisungen der
Obrigkeit erneuern zu wollen; die anderen wiederum sahen es
wohl, aber billigten im Stillen das Vorhaben der Regierung.
Einer von den Befürwortern der offiziellen Reformation, der Vor-
139
sitzende der Versammlung, Furtado, hielt in Erwiderung auf die
Ansprache Moles eine lange begeisterte Rede. Er verherrlichte
den Kaiser, der die „Schicksale Europas reguliere" und der mitten
in seinen Sorgen um den Erdball sich Zeit nehme und es für
nötig erachte, an „unsere Wiedergeburt" zu denken, und brachte
den Gedanken zum Ausdruck, daß jede „positive Religion" der
Kontrolle der Regierung unterstellt wetden müsse, um die Ver-
breitung von abergläubischen Vorstellungen und moralschädigen-
den Ideen zu verhüten.
Die letzten Monate des Jahres 1806 und der Beginn des Jahres
1807 verliefen für die Notabein Versammlung in vorbereitenden
Arbeiten für das S5Tihedrion, die von dem neungliedrigen Aus-
schuß unter Beteiligung der kaiserlichen Kommissare mit be-
sonderem Eifer ausgeführt wurden. Anfangs Oktober erließ der
Ausschuß einen Aufruf an sämtliche Juden Europas, in dem das
/,große Ereignis", die Eröffnung des Synhedrions, verkündet
wurde; die Eröffnung sollte am 20. Oktober stattfinden (später
wurde sie auf drei Monate verschoben) : dieses Ereignis werde ,,für
die zerstreuten Überbleibsel von Abrahams Nachkommen eine
Periode der Erlösung und des Glückes" eröffnen. Der in vier
Sprachen — französisch, hebräisch, italienisch und deutsch —
abgefaßte Aufruf machte einen gewaltigen Eindruck, insbesondere
auf die außerhalb Frankreichs lebenden Juden, die von den
eigentlichen Triebfedern der vom Kaiser unternommenen par-
lamentarischen Organisation des Judentums nichts ahnten. Im
Dezember wurde ein vom „Ausschusse der Neun" ausgearbeiteter
Entwurf der Organisierung jüdischer Konsistorien als Binde-
glieder zwischen den Gemeinden und der Regierung von der
Notabeinversammlung gutgeheißen. In einem erläuternden Zu-
satz zum Projekt wurde als Beweis für dessen Notwendigkeit
nicht sowohl das Interesse der gemeindlichen Selbstverwaltvmg
als vielmehr der Umstand angeführt, daß die genannten Kon-
sistorien den Absichten der Regierung dienen, indem sie für die
strikte Durchführung aller Beschlüsse der Abgeordnetenver-
sammlung und des Synhedrions, und unter anderem auch für die
Heranziehung der jüdischen Jugend zum „edlen Kriegshand-
werk", sorgen werden. In all diesen Erklärungen und Beschlüssen
läßt sich nur ein einziges Bestreben erkennen, und zwar das,
dem Kaiser gefällig zu sein.
140
In einer der letzten Notabeinsitzungen (5. Februar 1807) hielt
ein junger Abgeordneter aus dem Departement der Seealpen, ein
gewisser Isaak-Samuel Avigdor aus Nizza eine seltsame Rede:
er bemühte sich, den „historischen" Nachweis zu liefern, daß die
bedeutendsten Vertreter der christlichen Kirche sich zu allen
Zeiten den Juden gegenüber freundlich verhalten hätten und
deren Verfolgung verpönten, und daß sie daher auf den Dank des
jüdischen Volkes Anspruch erheben dürfen. Avigdor beantrag
eine Resolution folgenden Inhaltes: „Die an der jüdischen Synode
teilnehmenden Abgeordneten des französischen Kaiserreichs und
des italienischen Königreichs, die von den Gefühlen der Erkennt-
lichkeit für die fortwährenden Wohltaten der christlichen Geist-
lichkeit in vergangenen Jahrhunderten gegen die Juden ver-
schiedener Länder Europas geleitet werden und von Dankbarkeit
für die Aufnahme erfüllt sind, die verschiedene Oberhäupter der
Kirche (Päpste) und andere geistliche Würdenträger den Juden
verschiedener Länder in jenen Zeiten gewährten, als Barbarei,
Aberglaube und Unwissenheit sich zur Verfolgung tmd Aus-
stoßung der Juden aus dem Schöße der Gesellschaft vereinten,
fassen den Beschluß, den Ausdruck all dieser Gefühle im
heutigen Protokolle der Versammlung niederzulegen, damit
dies die Dankbarkeit der hier versammelten Juden für die von
den kirchlichen Würdenträgem erwiesenen Wohltaten für
immer besiegele. Eine Abschrift dieses Protokolls geht dem
Kultusminister zu." Dieser seltsame Antrag wurde von der Ver-
sammlung angenommen. Die Abkömmlinge der im Mittelalter
aus Frankreich vertriebenen Juden, der Marranen und der Opfer
der päpstlichen Inquisition verewigten in dieser Kundgebung die
„Wohltaten" solcher Päpste, wie Innozenz III, Patd IV und der
zeitgenössische Pius V, der Urheber des unmenschlichen „Juden-
edikts" von 1775. Eine derartig knechtische Gesinnung setzte
sogar die der Sitzung beiwohnenden kaiserlichen Komjnissare in
Erstaunen, und einer von ihnen (PortaHs) teilte es dem Kaiser
als einen „pikanten" Fall mit : Juden preisen die Dxildsamkeit und
die Milde der katholischen Kirche zu einer Zeit, wo Viele Christen
„im Namen einer vermeintlichen Philosophie gegen den Fanatis-
mus und die Unduldsamkeit der katholischen Geistlichen auf-
treten". Wer von den beiden Parteien hier im Rechte war, konnte
man aus einer Beschwerde ersehen, die gleichzeitig mit der
141
Resolution der jüdischen Versammlung beim Kultusminister ein-
lief : ein Jude, der das Amt eines Munizipalrates der Stadt Cogny
bekleidete, beklagte sich, daß der dortige kathoh'sche Geistliche
ihm den Eintritt in die Kirche an einem Tage verwehrt hatte,
an dem ein Tedeum für den Kaiser verrichtet wurde . . . Natür-
lich verschaffte die katholikenfreundliche Kundgebung der jüdi-
schen Abgeordneten dem Kaiser eine riesige Genugtuung: er
gewann die Überzeugung, daß man sich auf eine derartig ge-
fügige Versammlung getrost verlassen könne und daß die von ihr
gewählten Mitglieder die Absichten der Regierung auf dem bevor-
stehenden Pariser Synhedrion mit Erfolg durchsetzen würden.
§ 23. „Das große Synhedrion*^ zu Paris. Am 9. Februar
1807 wurden in Paris die Sitzungen des Synhedrions er-
öffnet. Die Synode setzte sich aus 46 geistlichen Personen und
25 I^aien zusammen, dazu 10 Stellvertretern und 2 Schriftführern.
Der überwiegende Teil der neu gewählten Rabbiner gehörte den
italienischen und deutschen Provinzen an. Das vom Minister des
Inneren ernannte Präsidium bestand aus 3 Rabbinern, die
die Ehrentitel der Mitglieder des Präsidiums des alten Synhe-
drions führen durften: als Präsident (nassi) fungierte der elsäs-
sische Rabbiner David Sinzheim, als sein erster Gehilfe (ab-beth-
din) der italienische Rabbiner Segre, als sein zweiter Gehilfe
(chacham) Abraham de Cologna aus Mantua. Nach einem
Gottesdienste in der Synagoge, bei dem die Rabbiner Sinzheim
und Cologna Reden hielten, wurde die Sitzung in einem der
Räume derselben, „Hotel de Ville", eröffnet, wo früher die
„Notabein" getagt hatten. Große Aufmerksamkeit wurde der
dekorativen Seite der Sache zugewendet. Nach Anordnung der
Behörden waren alle Mitglieder des Synhedrions mit schwarzen
Mänteln und schwarzen Hüten bekleidet, die Mitglieder des Prä-
sidiums außerdem mit Talaren aus Samt oder Seide mit breiten
Gürteln und pelzverbrämten Hüten. Die Mitglieder saßen im
Halbkreise, zu beiden Seiten des Präsidiums, in einer nach dem
Alter bestimmten Rangordnung. Die Sitzungen waren öffentlich
und boten ein interessantes Schauspiel nicht nur für das jüdische,
sondern auch für das christliche Publikum. Dies störte die Frei-
heit der Debatten und verurteilte viele Delegierte, die sich genier-
ten, ihre tiefempfundenen, aber nicht modernen Überzeugungen
auszusprechen, zum Schweigen.
142
Und in der Tat bildeten die Synhedrionssitzungen nur einen mit
feierlichen Zeremonien umstellten Nachtrag zu der Arbeit, die
von der Versammlung der Notabelndelegierten bereits vollendet
worden war. Der lebendige Zusammenhang zwischen diesen beiden
Versammlungen machte sich auf eine drastische Weise geltend
und lag klar vor aller Augen : der Vorsitzende der früheren Ver-
sammlung, Furtado, trat als Referent in den wichtigsten Fragen
der Synhedrionssitzungen auf. Das Synhedrion brachte es im Ver-
laufe von sieben Sitzungen fertig, die Antworten der Delegierten-
versammlung auf alle zwölf Fragen einer Prüfung zu unterziehen
und außerdem einen schönen Vortrag Furtados über jede einzelne
Frage anzuhören; die Antworten der früHeren Versammlung
wurden fast ohne Debatten und einstimmig angenommen; dar-
gelegt wurden sie jedoch in der Form von „belehrenden Be-
schlüssen" (decisions doctrinales) mit Zusätzen in der Formu-
lierung und im erläuternden Texte. In der neuen, dem Texte der
Antworten vorangeschickten ,, Deklaration" wurde die prin-
zipielle Stellungnahme des Synhedrions zur Frage der Verträg-
lichkeit der jüdischen Gesetze mit denen des Staates zum Aus-
druck gebracht. In dieser offensichtlich von Furtado inspirierten
Deklaration wurde gesagt, daß die jüdischen Gesetze in zwei
Kategorien eingeteilt werden müssen : in religiöse und politische.
Die ersteren seien unveränderlich und weder an zeitliche
noch an örtliche Bedingungen gebunden. Was jedoch die
politischen Gesetze betrifft, die aus einer Zeit stammen, als das
jüdische Volk ein selbständiges Dasein in seinem ehemaligen
Heimatlande Palästina führte, so hätten sie ,,jede Wirksamkeit
eingebüßt, seitdem das jüdische Volk aufgehört hat, einen
nationalen Organismus zu bilden". Aber auch die religiösen Vor-
schriften müssen bei einem eventuellen Zusammenstoße mit den
staatsbürgerh'chen Gesetzen vor diesen zurücktreten oder
wenigstens sich ihnen anzupassen suchen — der letztere Gedanke
wurde zwar in der einleitenden Deklaration nicht direkt aus-
gesprochen, gewann aber greifbare Gestalt in einer ganzen Reihe
vonSynhedrionsbeschlüssen. So hat beispielsweise das Synhedrion
in den mit der Ehescheidung zusammenhängenden Fragen die
Ungültigkeit aller rabbinischen Entscheidungen betreffs Ehe-
schheßungen und Ehescheidungen beschlossen, denen nicht ent-
sprechende standesamtliche Akte vorangegangen waren. In der
Frage der Mischehen wurde dem betreffenden Beschluß eine sehr
konziliante Form gegeben: solche Ehen bewahren ihre volle
Gültigkeit in staatsbürgerlicher Hinsicht, und obwohl sie keine
religiöse Sanktion erhalten können, ziehen sie doch kein
Anathema nach sich. Über das Verschwinden des nationalen
Familientypus bei Mischehen brauchte man sich keine Sorgen zu
machen, nachdem das Judentum zu einer abgestorbenen Nation
erklärt worden war . . . Des ferneren beschloß das Synhedrion,
daß die jüdischen Soldaten während ihres Dienstes aller mit
dessen Ausübung unvereinbaren religiösen Verpflichtungen ent-
hoben werden. Und nur in den die Gewerbe und den Wucher
betreffenden Fragen führte das Synhedrion eine würdige Sprache,
indem es die schändlichen Wuchergeschäfte aufs Entschiedenste
verurteilte und die Stammesgenossen zu nutzbringenden, nun-
mehr allen zugänglichen Beschäftigungen aufrief.
Die Tagung des Synhedrions dauerte genau einen Monat. Die
Schlußsitzung fand am 9. März 1807 statt. Der Vorsitzende ver-
las ein Schreiben der kaiserlichen Kommissare, in dem es hieß,
daß die Regierung die Arbeiten des S3nihedrions für glücklich ab-
geschlossen erachte. Das Synhedrion wurde geschlossen, aber die
meisten seiner Mitglieder kehrten zur Delegiertenversammlung
zurück, die die Rolle einer allgemeinen Versammlung spielte und
am 25. März ihre Sitzungen wieder aufnahm. Furtado referierte
über die Tätigkeit des Sj'nhedrions und redete im Tone eines
Menschen, der eine mühevolle Heldentat vollbracht hatte. Und
nur als die Rede auf den alle Anwesenden peinlich berühren-
den Umstand kam, daß die Synhedrionsmitglieder keiner Audienz
beim Kaiser gewürdigt worden waren, verriet seine Rede eine
etwas resignierte Wendung : die plötzliche Abreise des Kaisers an
die Front habe ihn verhindert, die jüdischen Vertreter zu emp-
fangen, sowie sie auch diese Vertreter daran verhindert habe,
sich bei „unserem herrlichen Wohltäter" persönlich zu bedan-
ken. In den darauffolgenden Sitzungen nahm die Versammlung
nach langen Debatten eine Resolution an, worin dem Wunsche
Ausdruck gegeben wurde, gegen all jene jüdischen Wucherer
und Trödler mit äußerster Strenge vorzugehen, die durch
ihr Benehmen zu verschiedenen Beschwerden Anlaß geben imd
auf alle anderen „Glaubensgenossen" einen Schatten werfen; zu-
gleich wurde jedoch beschlossen. Schritte zur Abschaffung des die
144
Juden niinierenden Erlasses vom 30. Mai 1806 zu unternehmen,
der die Schuldforderungen annullierte. Nach der Verlesung einer
einfachen Erklärung der Kommissare, daß sämtliche der Ver-
sammlimg überwiesenen Arbeiten nun beendet seien, wurde die
Delegiertenversammlung am 6. April 1807 geschlossen.
Diese beiden jüdischen „Parlamente", die ihre Entstehung
einer Laune Napoleons verdankten, verloren für ihn nach und
nach jedes Interesse. Anfangs wuchsen die Gelüste des Kaisers
immer mehr in dem Maße, als die jüdischen Vertreter sich ge-
fügiger und nachgiebiger zeigten. Abgesehen von den bereits ge-
machten Konzessionen, erwartete er vom Synhedrion folgende
drei gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Maßnahmen*);
das Verbot von Leihoperationen und die Beschränkung aller
anderen Geschäftszweige für eine bestimmte Frist; die Förderung
von Mischehen, die sogar einer bestimmten Norm unterliegen
sollten: eine Mischehe auf zwei jüdische Ehen („damit das
jüdische Blut seine spezifischen Eigenschaften einbüße");
schließlich verlangte er, daß das Synhedrion die genaue Erfüllung
der Müitärpflicht durch die Juden sicherstelle. Das Bestreben
Napoleons ging überhaupt darauf aus, durch Vermittlung der
jüdischen ,, Vertreter" die Juden dauernd bevormunden zu
können ; das Synhedrion sollte ihm die nötigen Handhaben dazu
geben. Sein getreuer Diener, der Minister Champagny, war mit
seinem Herrn in diesem Punkte eines Sinnes. „Diese Versamm-
lungen", schrieb er dem Kaiser, „sollen uns eine Waffe gegen
sich selbst, wie gegen das durch sie vertretene Volk in die Hände
spielen." Dies war die Sprache, die die zwei Auguren der Politik
in jenen Tagen führten, als die jüdischen Delegierten sich in Lob-
hymnen auf den ,, herrlichen Wohltäter, Napoleon den Großen"
ergingen, den Gott zur Rettung der bedrückten ,, Nachkommen
des alten Jakob" als „Werkzeug seiner Gnade" erkoreü habe.
Bald traten die geheimen Pläne des Kaisers ans Licht, und die
Juden bekamen seine ,, wohltätige" Hand am eigenen Leibe zu
spüren.
§ 24. „Das schmachvolle Dekret." Napoleon, der mit der Ab-
änderung der Landkarte beschäftigt wat, hatte nicht viel Zeit
übrig, um an die Juden zu denken. Das Jahr der „jüdischen
^) Wie aus dem Briefwechsel Napoleons mit dem Minister des Inneren Cham-
pagny zu ersehen ist.
10 Dubnow, Geschichte der Juden I 145
Parlamente*' (1806 — 1807) war zugleich das Jahr der schärfsten
politischen Krisen: Der Rheinbund wurde ins Leben gerufen,
Preußen wurde endgültig geschlagen und gedemütigt, aus Polen
wurde das Herzogtum Warschau herausgeschnitten, der Tilsiter
Friede wurde geschlossen. Der Erschütterer der Throne, der
Herrscher über das gebändigte Europa hatte tmter diesen Um-
ständen nicht die geringste Neigung, sich mit den jüdischen An-
gelegenheiten abzugeben. Zur Niederhaltung der Juden brauchte
er weder Truppen noch kaiserliche Dekrete, und selbst gewöhn-
liche Verfügungen der Behörden genügten, um auf friedlichem
Wege dasselbe Resultat zu erzielen. Die Beamten setzten das Werk
ihres Herrn in dem gleichen Geiste fort. Als die Wirkungsfrist
des Erlasses von der Einstellung aller Zahlungen an jüdische
Gläubiger im Frühling 1807 abgelaufen war, verlängerte der
kaiserliche Erzkanzler Cambacer^s die Gültigkeit dieses gesetz-
widrigen und ruinierenden Dekrets durch ein einfaches Rund-
schreiben auf tmbestimmte Zeit, d. h. bis auf weitere Anord-
nungen des damals im Felde stehenden Kaisers. Das dies-
bezügliche Gesuch der Delegiertenversammlung wurde nicht be-
achtet; und auch in anderen Punkten blieben die Schritte der
jüdischen Delegierten fruchtlos. Alle Hoffnungen des „jüdischen
Parlamentes" scheiterten, als Napoleon sich wieder Zeit nahm,
an die jüdische Frage zu denken.
In der verhältnismäßig kurzen Zeit zwischen der Einberufung
und der Auflösung der Delegiertenversammlung schwankte
der Kaiser in seinen Beziehungen zu den Juden; schließlich
aber nahm seine natürliche Abneigung überhand. Es besteht
nicht die geringste Notwendigkeit, diesen Umstand durch die un-
günstigen „Eindrücke" zu erklären, „die die jüdischen Massen
Deutschlands und Polens auf den Kaiser während seines Feld-
zuges gemacht hatten"^); hier traten eher organische Ursachen
^) Mutmaßung eines der erwälinten Kommissare, des späteren Jlanzlers
Pasquier, in seinen Memoiren. Er behauptet, daiJ Napoleon schon vor der Ein-
berufung des Synhedrions die Juden Deutschlands und Polens, wohin er einen
Peldzug plante, an seine Seite habe bringen wollen. Ein anderer Memoiren-
schreiber (Barantes, bei Guizot zitiert) berichtet, daß die Erwartungen Napo-
leons sich erfüllt hätten: während seines Marsches durch Polen hätten ihm die
dortigen Juden durch Lieferung von Proviant und wichtigen Nachrichten
große Dienste geleistet. Der Kaiser habe im Scherz gesagt: „Dazu habe ich
das große Synhedrion gebraucht f"
146
in Wirksamkeit: die ursprüngliche Abneigung des Kaisers gegen
die Juden und das Temperament des Eroberers, der es ge-
wohnt war, den Klnäuel komplizierter Fragen mit einem einzigen
Hiebe zu durchhauen. Nach der Auflösung der jüdischen Ver-
sammlungen wurden die Synhedrionsbeschlüsse im Zusammen-
hange mit den Gesetzentwürfen der drei Kommissare und der
Minister mit großem Eifer im Reichsrate behandelt. Die Gesetz-
entwürfe empfahlen verschiedene Maßnahmen zur Beseitigung
all jener wirtschaftlichen Reibungen in den Rheinprovinzen, die
vor einem Jahre den Kaiser veranlaßt hatten, zu Repressalien
und zur Befragung der jüdischen Delegierten zu greifen; es
wurden auch Mittel zur Regelimg der Judenfrage in staatsbürger-
licher Hinsicht und zur strikten Erfüllung der Militärpflicht
durch die Juden angeregt; letzteres war in den Augen des kaiser-
lichen Soldaten eines der heiligsten Gebote. Die Mehrheit des
Reichsrates, die auf die liberale Gesinnung noch nicht verzichtet
hatte, verwarf an dieser Entwürfen alles, was das Hauptgebot
der Verfassung — die bürgerliche Gleichberechtigimg anzutasten
drohte. Aber der Kaiser machte niemals viel Federlesens mit der
Verfassung, wo sie seinem Willen zuwiderlief. Und am 17. März
1808 erließ der Kaiser ein Dekret, das nach dem Urteile des
Kommissars Pasquier „durch seine Härte alle Grenzen der Ge-
rechtigkeit" überschritt, oder mit anderen Worten — das durch
die große Revolution aufgestellte Prinzip der Gleichberechtigung
in brutaler Weise über den Haufen warf.
Zwei Dekrete waren es, die der Kaiser am 17. März unter-
schrieb. Durch das eine wurde das von der Delegierten-
versammlung ausgearbeitete Reglement der konsistorialen Ein-
richtung der jüdischen Gemeinden bestätigt. Nach diesem Regle-
ment sollte in jedem Departement oder in jeder Gruppe von
Departements, die 2000 jüdische Einwohner zählen, ein lokales
Konsistorium und in Paris ein Zentralkonsistorium errichtet
werden. Als Mitgheder eines jeden Konsistoriums sollten zwei
oder drei Rabbiner und ebenso viele von einer kleinen Gruppe
angesehener Bürger gewählte Laien figurieren. Sowohl die
Wähler wie die Gewählten mußten von der lokalen oder zentralen
Behörde bestätigt werden. Die Aufgaben des Konsistoriums be-
standen im folgenden : aufzupassen, daß die Rabbiner die jüdischen
Gesetze nicht anders als im Geiste des „neuen Talmuds" — der
ra»
147
Beschlüsse des Pariser Synhedrions interpretieren; die Ordnung
in den Bethäusern aufrechtzuerhalten; die Juden zu nützlichen
Beschäftigungen, insbesondere zur Erfüllung der Militärpflicht,
anzuhalten und den Behörden alljährlich eine leiste mit Angabe
aller einzuberufenden jungen Juden im betreffenden Be-,
zirk zu unterbreiten ... So sah die Organisation der jüdischen
Beamten aus, die ausersehen waren, den politischen, ja polizei-
lichen Absichten der Regierung zu dienen, nicht aber die Auf-
gaben einer freien Selbstverwaltung zu verwirklichen. Das
kaiserliche Dekret, das diese Gemeindeverfassung bestätigte,
wurde als ein „gnädiges" betrachtet. Es war dies die einzige
organisatorische, durch die gemeinsamen Bemiihungen der
jüdischen Notabein und der napoleonischen Regierung ins Leben
gerufene Aktion. Die andere Reform bestand darin, daß in den
offiziellen Schriftstücken nunmehr das Wort „israelite" statt
des früher gebräuchlichen, einen verletzenden Beigeschmack
enthaltenden Wortes „juif" immer häufiger aufzutauchen be-
gann. In den offiziellen Schriftstücken aus dem ersten Kaiser-
reiche kamen noch die beiden Ausdrücke nebeneinander vor;
schließlich wurden aber die ,, Juden" von den „Israeliten"
gänzlich verdrängt.
Ein anderes Dekret Napoleons aus derselben unglückseligen
Zeit, ein Dekret, das sich mit der Regelung der wirtschaftlichen
Verhältnisse der Juden befaßte, sah einer Reform am wenigsten
ähnlich. In den drei Teilen dieses ohne die Zustimmung des
Reichsrates veröffentHchten Dekrets verfuhr Napoleon mit den
Juden auf eine rein militärische Weise. Der erste Teil behandelt
die Regelung der Kjreditoperationen. An Stelle des Dekrets
über die provisorische Einstellung der Zahlungen an jüdische
Gläubiger treten folgende, wahrhaft drakonische Maßregeln in
Kraft: Ungültig sind alle Forderungen jüdischer Gläubiger an
Militärpersonen, Frauen und Unmündige, wenn die Schulden
ohne die Einwilligung der Militärbehörden, Gatten imd Eltern
gemacht worden sind. Der einem jüdischen Gläubiger von einem
Angehörigen einer nichthandeltreibenden Klasse ausgestellte
Wechsel wird von den Gerichten nur dann anerkannt, wenn der
Jude den Beweis erbringen kann, daß der Betrag des Wechsels
dem Schuldner voll und ohne Abzüge ausbezahlt worden ist.
Geldgeschäfte, deren Zinsen io% überschreiten, gelten als
148
Wucher und werden vom Gericht nicht anerkannt. Auf diese
Weise waren durch einen einzigen Federstrich die Vermögens-
rechte vieler Tausende von Bürgern verletzt, deren Schuld
höchstens darin bestehen konnte, daß sie sich aus dem unter
einem jahrhundertlangen Druck entstandenen Kreise wirtschaft-
licher Verhältnisse nicht mit einem Male loszumachen ver-
mochten. Aber der Kaiser ließ es bei dieser Enteignung von Bar-
geld nicht bewenden: er schaffte die Gewerbe- und Handelsfrei-
heit überhaupt ab. Der zweite Teil des Dekrets enthält eine Reihe
von Paragraphen, die es den Juden imtersagen, irgendwel-
chen Handel ohne ein vom Präfekten des betreffenden Departe-
ments ausgestelltes „Patent" zu betreiben. Zur Erlangung
dieses Patents ist die Vorweisung eines vom Munizipalrate und
dem Kreiskonsistorium ausgestellten Zeugnisses erforderlich, das
für die moralische und kommerzielle Zuverlässigkeit der be-
treffenden Person bürgt und alljährlich erneuert werden muß.
Geschäftliche Abmachungen unpatentierter Juden werden für
ungültig erklärt. In dieser Richtimg weiterschreitend, verstieg
sich Napoleon bis zur Abschaffung der Bewegungsfreiheit — des
elementarsten Rechtes eines jeden Bürgers. Der dritte Teil des
Dekrets verbietet den Juden, sich in den Departements des
Oberen und Unteren Rheins (Elsaß) niederzulassen. Was die
anderen Departements des Kaiserreichs betrifft, so wird die
Niederlassung nur solchen Juden gestattet, die daselbst
Grundstücke behufs eigenhändiger Bebauung, aber keineswegs
zu geschäftlichen Zwecken, ankaufen. In bezug auf die Militär-
pflicht wird eine neue Rechtseinschränkung eingeführt : der Jude
ist verpflichtet, persönlich im Heere zu dienen und hat nicht das
jedem christlichen Rekruten zukommende Recht, sich durch
einen Freiwilligen ersetzen zu lassen. Der Erlaß vom 17. Mäi^
schließt mit zwei ,, Verfügungen allgemeiner Natur": a) Das
Dekret bleibt nur zehn Jahre in Kraft, denn die Regierung hofft,
daß die Juden nach dieser Frist sich infolge der ergriffenen Maß-
nahmen ,,von den anderen Bürgern nicht unterscheiden werden" ;
widrigenfalls werden die Repressalien fortgesetzt werden, b) Alle
durch das Dekret festgesetzten Rechtseinschränkungen er-
strecken sich nicht auf die Juden von Bordeaux und den Departe-
ments Gironde und Landes, die „keinen Anlaß zu Beschwerden
boten und keine unerlaubten Geschäfte betreiben".
149
Auf diese Weise vollzog sich der napoleonische Staatsstreich in
der jüdischen Frage. Statt die im Verlaufe von Jahrhunderten
entstandene und großgezogene wirtschaftliche Ordnung auf dem
Wege von Reformen nach und nach umzugestalten, wollte er ihr
durch den Machtspruch eines Befehls eine jähe Wendung geben
und richtete dabei Tausende von Familien wirtschaftlich zu-
grunde. Anstatt die Krankheit zu heilen, befahl er, den Kranken
durchzuprügeln. Die verwerfhchen Kreditoperationen eines
Teiles der jüdischen Bevölkerung beantwortete er durch eine
grausame militärchirurgische Operation, die fast sämtliche Teile
dieser Bevölkerung traf. Es wurde eine jener Enteignungen voll-
zogen, an die der kühne Heerführer in seinen Feldzügen von jeher
gewohnt war; aber das Dekret vom 17. März wurde doch nicht in
einem Kriegslager, sondern in den Tuilerien zu Paris erlassen, wo
der bürgerliche Kodex, der mustergültige Code civil desselben
Napoleons noch in Kraft war . , . Und nicht nur der bürgerliche
Kodex allein war verletzt: die grundlegenden Paragraphen der
Verfassung wurden durch diesen Bruch mit der durch den
Emanzipationsakt vom Jahre 1791 proklamierten staatsbürger-
lichen Gleichberechtigung der Juden in rücksichtsloser Weise
über den Haufen geworfen. Die meisten jüdisch-französischen
Bürger gingen ihrer Gewerbe- und Bewegungsfreiheit für die
Dauer von zehn Jahren verlustig, und viele wurden sogar ihrer
Vermögensrechte beraubt . . . Furchtbar waren die Folgen dieser
offiziellen Enteignung: im Elsaß weigerten sich die christlichen
Schuldner, selbst die unstrittigen und einwandfreien Schulden
den jüdischen Gläubigem zu bezahlen. Die Bürgermeister vieler
Städte verkündeten das kaiserliche Dekret mit absichtlicher
Feierlichkeit, unter Trommelwirbeln, und die christliche Be-
völkerung zog aus dieser pomphaften Zeremonie die entsprechen-
den Konsequehzen : der Jude steht außerhalb des staatsbürger-
lichen Gesetzes. Die geschäftliche Betätigung der Juden war von
einem System von Patenten umstrickt, und die Entziehung der
Bewegungsfreiheit war für die bewegliche jüdische Bevölkerung
die Quelle endlosen Elends.
Noch schwerer als der materielle Ruin lastete der moralische
Schlag auf einem durch die Revolution befreiten Volke, das im
Kampfe um die Freiheit seine Kraft vergeudet und in den mili-
tärischen Hekatomben des Kaisers sein Blut vergossen hatte.
150
Das Dekret vom 17. März ist in der Geschichte unter dem Namen
des „Schmachvollen Dekrets" (decret infame) bekannt. Sein ver-
werflicher Charakter überraschte jene „Notabein", die noch an
die I^iebe Napoleons zu den Juden glaubten und in ihm den
Helden der jüdischen „Wiedergeburt" sahen. Als der frühere
Vorsitzende der Delegiertenversammlimg, Furtado, und einige
angesehene MitgHeder vom bevorstehenden Erlasse erfuhren,
begaben sie sich in aller Eile nach der Residenz des Kaisers,
Fontainebleau, tun gegen diese Gesetzwidrigkeit zu protestieren;
sie wurden aber nicht empfangen. Napoleon brauchte jetzt nicht
die Dienste der jüdischen Notabein; unter dem Deckmantel des
Friedens und der Freundschaft nahm er ihnen alles, was sich
nehmen ließ, um sie dann zu überrumpeln. Nicht Napoleon war
es, der die Juden getäuscht hatte, wie es viele Geschicht-
schreiber glauben, sondern die Juden hatten sich in ihm getäuscht,
indem sie seine Bühnendekorationen für Wirklichkeit nahmen.
Der Kaiser blieb sich treu: vor zwei Jahren ließ er im Reichsrate
die Worte fallen, daß man auf die Juden nicht den bürgerlichen,
sondern den politischen Kodex anwenden müsse, und nun hatte
er auf sie seinen internationalen Kodex des Krieges und der
Brandschatzung angewandt.
Die Anwendung des „Schmachvollen Dekrets" wurde durch
seinen gesetzwidrigen und gewalttätigen Charakter äußerst er-
schwert. Es regnete Klagen und Beschwerden seitens der Juden
der verschiedenen Departements, besonders der südfranzösischen
und italienischen, die Napoleon in seiner noblen Geste den
„schuldbeladenen" Juden der rheinischen Provinzen in punkto
Rechtlosigkeit gleichgestellt hatte. Die Regierung mußte eine
Reihe von Ausnahmen (exceptions) vom Gesetze des Jahres 1808
machen. Vor allen Dingen wurde eine Ausnahme zugunsten
der jüdischen Einwohner der Stadt Paris gemacht (26. April
1808), denen der Minister des Inneren, Crete, einen guten Leu-
mund ausgestellt hatte (auf 2593 Juden kamen nur 4 Wucherer;
im Heere dienten aber zu jener Zeit 150 Juden); dann wurden die
Juden von lyivomo und der zwanzig Departements des südlichen
Frankreichs und Italien der Repressalien enthoben. Im Jahre
1810 beauftragte der Kaiser den Minister des Inneren, alle die
vStädte unter die Kategorie der ausgenommenen zu bringen, deren
jüdische Bevölkerung sich eines derartigen Gnadenaktes würdig
151
erweisen würde. Im Juli 1812, als der Todesengel schon die große
napoleonische Armee in Rußland umschwebte, schaffte der
Kaiser das Verbot für die jüdischen Rekruten, sich durch einen
Freiwilligen ersetzen zu lassen, ab. Er hatte gesehen, wie die
jüdischen Soldaten in den Reihen der todgeweihten Armee auf
den Schlachtfeldern verbluteten, und hier begriff vielleicht der
Eroberer die ganze Verwerflichkeit seines Angriffes auf ein Volk,
das ihm sein Schicksal anvertraut hatte.
Die gedemütigte imd der staatsbürgerlichen Rechte beraubte
Judenheit konnte gegen den Verletzer des Grunddogmas der
Gleichberechtigimg keinen Protest erheben; aber eine indirekte
Verurteilung des gewalttätigen Aktes hörte man aus den unter-
tänigsten Berichten der Minister heraus, die mitzuteilen wußten,
daß die Juden nach Angaben der Präfekten und Konsistorien sich
rasch „verbessern". „Die Wiedergeburt der Juden macht sich
bereits bemerkbar," berichtete der Minister des Inneren dem
Kaiser im Jahre 1811, „überall sind sie bestrebt, sich der Güte
Eurer Majestät würdig zu erweisen, indem sie hoffen, die Aus-
nehmung vom Dekret zu erreichen". Viele Präfekten berichteten,
daß die Juden sich in immer größerem Maße den nützlichen
Gewerben widmen und die Militärpflicht gewissenhaft er-
füllen. In den italienischen Provinzen wies man mit Freude auf
den Beginn „einer vollen Auflösung der Juden in die Massen der
Franzosen" hin. Rühmend wird auch die patriotische Tätigkeit
der Konsistorien hervoi^ehoben, die den Juden die Pflicht des
Gehorsams gegen die Anordnungen der Regierungsorgane ein-
scharfen.
Im Juni 1810 unterbreitete das Pariser Zentralkonsistorium
dem Minister des Inneren einen umfangreichen, auf Grund von
Angaben der Landeskonsistorien zusammengestellten Bericht
über die Lage der Juden in Frankreich. Die jüdischen Beamten
führen hier dieselbe servile Sprache, die im Munde der Mitglieder
der jüdischen Parlamente noch zu entschuldigen, die aber nach
dem ,, Schmachvollen Dekret" einfach beschämend war. Die
Vertreter der Konsistorien berichten über die ,, Wiedergeburt der
Israeliten", indem sie den Kaiser als den ,, Helden unter den
Gesetzgebern" und „Wohltäter" feiern. Die Zahl der Grund-
besitzer, Fabrikanten, Vertreter freier Berufe, Militärpersonen,
Studierenden an den allgemeinen Lehranstalten nehme immer zu.
Nach Angaben der Konsistorien entfielen auf die gesamte jüdische
Bevölkerung des französischen Kaiserreichs (80 000 Seelen, ab-
gesehen von der Bevölkerung der autonomen Königreiche) im
Jahre 1810: 1232 Landwirte, 797 Militärpersonen, 2360 Kinder,
die allgemeine Lehranstalten besuchten oder sich für ,, nützliche
Gewerbe" vorbereiteten. Es gab 250 Fabriken, deren Inhaber
Juden waren. Diese „Wiedergeburt" der Juden wäre besser von-
statten gegangen — gestattet sich das Zentralkonsistorium
schüchtern zu bemerken — weim sie von den Fesseln des harten
Dekrets von 1808 befreit wären.
Aber die Fesseln wurden ihnen nicht genommen. In 44 von den
68 Departements des französischen Kaiserreichs herrschte noch
der durch das „Schmachvolle Dekret" geschaffene Ausnahme-
zustand. Erst der Sturz Napoleons und das Zeitalter der
Restauration brachten eine Änderung der Lage mit sich. Durch
eine Ironie des Schicksals waren es gerade die Männer der alten
„Ordnung", die eine der Errungenschaften der großen Revo-
lution wiederherstellen mußten, die der ,,Sohn der Revolution",
Napoleon, in den Staub getreten hatte.
153
Zweites Kapitel
Die Emanzipation der Juden in den Ländern französischer
Herrschaft
§ 25. Holland (Batavischc Republik und Königreich Hol-
land). Die Emanzipationsbewegung folgte in Europa der Be-
wegung der französischen Armeen, zunächst der republi-
kanischen und dann der napoleonischen. Überall, wo unter fran-
zösischem Einflüsse eine republikanische oder konstitutionelle
Gesellschaftsordnimg eingeführt wurde, erhielten die Juden
die Gleichberechtigung für die ganze I^ebensdauer der neuen
staathchen Ordnung, entweder mit einem Male oder nach mehr
oder minder langen Kämpfen innerhalb der Parlamente der be-
treffenden lyänder. Auf diese Weise wurde die Judenemanzipation
in allen ephemeren Republiken jener Zeit vollzogen — in der
Batavischen (Holland), der Zisalpinischen und römischen (Italien)
und in der Helvetischen (Schweiz), von denen die beiden ersten
unter dem napoleonischen Kaiserreich in „Königreiche" verwan-
delt worden waren. In der Schweiz imd in Italien, wo sie von
außen aufgezwungen war, zeigte sich die Emanzipation als eine
nur vorübergehende Erscheinung; hingegen faßte sie feste
Wurzeln in Holland, wo der französische Einmarsch den ersten
Anstoß zu einer selbständigen Lösung der Judenfrage gab.
Früher als alle anderen Länder wurde Holland, das Land der
halben Freiheit und der verhältnismäßigen Toleranz, von den
Strömungen der französischen Revolution ergriffen. Die 50 000
Juden Hollands, von denen sich ungefähr 20 000 in Amsterdam
konzentrierten, bildeten den Mittelpunkt einer bedeutenden
Kulturmacht, die zahlenmäßig der französischen Judenheit
keineswegs nachstand und diese in bezug auf die gesellschaft-
hche Organisiertheit sogar bei weitem übertraf. Obwohl die
holländischen Juden nur Stiefkinder dieses reformierten Landes
waren, wo auch die Katholiken Rechtseinschränkungen unter-
154
lagen, blieben ihnen doch alle die Formen gesellschaftlicher
Sklaverei erspart, unter denen ihre Brüder in den benachbarten
Ländern so viel zu leiden hatten. Eine weitgehende Gemeinde-
autonomie hielt in ihnen das Bewußtsein ihres kulturellen Zu-
sammenhanges wach, der hin und wieder durch die Spaltung der
Gemeinden in „portugiesische" und „aschkenasische" eine
Schwächung erfuhr. Eine stramme Gemeindedisziplin prägte der
Masse der holländischen Judenheit den Stempel einer konser-
vativen Gesinntmg auf, die auf die neue Emanzipationsbewegtmg
eine hemmende Wirkung ausübte. Nur wenige Vertreter der
jüdischen Gesellschaft von Amsterdam, die unter dem Einflüsse
der Ideen des XVIII. Jahrhunderts und der Mendelssohnschen
Schule standen, zeigten sich in der ersten Zeit für die Losungen
der französischen Revolution und die aus dieser folgenden refor-
matorischen Forderungen empfänglich. Diese vereinzelten Vor-
kämpfer der Befreiungsbewegung schlössen sich dem liberalen,
noch vor dem französischen Einmarsch in Amsterdam ent-
standenen Klub ,, Felix Libertate" an, der die Prinzipien der
Menschenrechte auf seine Fahne geschrieben hatte (1793 — 1794).
In diesem Klub fanden sich einige angesehene Amsterdamer
Juden mit Christen zusammen : der Kaufmann und Jurist Moses-
Salomon Asser und der Arzt de Lemon. Im Jahre 1795 ging
der Traum der holländischen liberalen „Patiioten" in Erfüllung:
mit Hilfe der Truppen der französischen Republik vertrieben sie
den Statthalter, Wilhelm V. von Oranien, und verwandelten
die niederländischen Staaten in die Batavische Republik.
Es wurde eine Deklaration der Rechte der holländischen Bürger
erlassen, die die volle bürgerhche Gleichberechtigung aller Kon-
fessionen zum Gesetze erhob. Am 4, März 1795 veranstalteten die
Amsterdamer Juden in Gemeinschaft mit den Christen eine
republikanische Kundgebung: die jüdischen Mitglieder des
Klubs „Felix Libertate" und die Zöglinge der Waisenanstalten
beteüigten sich gemeinsam an der Zeremonie der Pflanzimg des
,, Freiheitsbaumes" vor dem Rathause.
In der Amsterdamer jüdischen Gemeinde fehlte es jedoch an
Eintracht. Während die freidenkerische Minderheit die voll-
zogene Umwälzung mit Begeisterung aufnahm und sich von deren
Folgen das Heil des jüdischen Volkes versprach, erblickte — oder
vielmehr witterte — die orthodoxe Mehrheit den Beginn einer
155
Auflösung des Judentums als einer nationalen Organisation. Die
Konservativen begriffen, daß die' frühere Gemeindeautonomie,
die nicht nur das religiöse, sondern auch das öffentliche Leben
der Juden regelte, einem unvermeidlichen Zusammenbruch ent-
gegeneilen werde, sobald die Juden als vollberechtigte Mitglieder
in die bürgerliche Gesellschaft eintreten, sobald das bisher ein-
heitliche und auch wirtschaftlich abgesonderte jüdische Volk sich
ntmmehr in der einheimischen Bevölkerung nach Stand und Ge-
werbe verteüt: die jüdische Gerichtsbarkeit, die jüdische Schule,
die Umgangssprachen der Aschkenasim und der Portugiesen (der
deutsche und spanisch-portt^iesische Jargon) werden voll-
ständig verschwinden, und was die religiöse Disziplin betrifft, so
wird sie dem landläufigen französischen Unglauben kaum stand-
halten können und unter dessen Einwirkung eine innere Locke-
rung erfahren. Zu diesen Befürchtungen allgemeiner Natur ge-
sellten sich auch rein persönliche Erwägungen: Die Rabbiner
und Oberhäupter der aschkenasischen und portugiesischen Ge-
meinde in Amsterdam, die allmächtigen „Parnassim", konnten
sich mit dem Gedanken einer Schmälerung ihrer Macht unmög-
lich befreunden, und die bevorstehende Abschafftmg der alten
Reglements, die ihnen die gesetzliche Möglichkeit gaben, inner-
halb der jüdischen Bevölkerung die Rolle einer Regierung zu
spielen, flößte ihnen Besorgnis ein. Und da geschah es, daß, als
die freigesinnten Mitglieder der Amsterdamer Gemeinde sich an
die Parnassim mit der Bitte wandten, die republikanische
Deklaration der Rechte in der Synagoge zu verlesen, sie eine
entschiedene Absage erhielten. Die Parnassim sammelten eine
stattliche Anzahl von Unterschriften, welche bestätigten, daß
die Verlesung einer republikanischen Deklaration in den Bet-
häusem den Forderungen der jüdischen Religion zuwiderlaufe.
Die Liberalen verfaßten darauf einen Protest gegen die Hand-
lungsweise der Führer und ließen ihn in den Synagogen an-
schlagen; diese Aufrufe wurden jedoch auf Befehl der Parnassim
heruntergerissen.
So entstand eine Spaltung innerhalb der holländischen J udenheit
in einem Augenblick, wo ein einheitliches Vorgehen am nötigsten
gewesen wäre, denn die Wahlen für die Nationalversammlung
der Batavischen Republik standen vor der Türe. An diesen
Wahlen durften sich die Juden frei beteiligen; aber infolge der
156
iuneren Zwistigkeiten und Reibungen nahmen sie an der Wahl-
kampagne einen nur schwachen Anteil; daher gelang es ihnen
nicht, irgendeinen jüdischen Delegierten in das erste Parlament
zu bringen. Als die Nationalversammlung zu tagen begann,
ging ihr ein Gesuch von den jüdischen Mitgliedern des Klubs
Felix I^ibertate zu, das seitens der Aschkenasim von Moses
Asser imd seinem jungen Sohn Karl, Herz Bromet und Isaak
Jonge, seitens der Sephardim — vom Arzt de Lemon imd
Jakob Sasportas unterzeichnet war. Die Führer der jüdischen
liberalen Partei ersuchten die Mitglieder der Nationalversamm-
lung, für die rechtliche Gleichstellung der Juden mit allen anderen
Bürgern zu sorgen. Nachdem die Juden — hieß es im Gesuch —
effektiv zu Bürgern geworden sind, erwarten sie die juristische
Bekräftigung ihrer Gleichberechtigung; nachdem die jüdische
Bevölkerung sich an den Wahlen beteiligt hat, kommt ihr auch
das Recht zu, die christlichen Delegierten als ihre eigenen Ver-
treter zu betrachten und von ihnen den Schutz ihrer Interessen
zu verlangen (März 1794). Die Nationalversammlung setzte eine
besondere Kommission zur Untersuchung der jüdischen Frage ein.
Die Kommission stand vor einer schwierigen Aufgabe: es
handelte sich darum, eine Frage zu lösen, an die sich so viele Vor-
urteÜe innerhalb der christlichen Gesellschaft knüpften und die
die jüdische Gesellschaft selbst in zwei Parteien spaltete. Die
holländischen Volksvertreter mußten dem in der Geschichte der
Emanzipationsbewegung einzig dastehenden Umstände Rech-
nung tragen, daß nur die Minderheit der jüdischen Gesellschaft
die Gleichberechtigung erstrebte, während die Mehrheit dem
alten Regime zuneigte. Um die Wirkimg dieser Tatsache abzu-
schwächen, begann eine winzige Gruppe jüdischer Fortschrittler
eine intensive Agitation zu betreiben. Sie ließen der Parla-
mentskommission eine Anzahl von Denkschriften zugunsten der
Gleichberechtigung zugehen, unter anderen auch das Werk von.
David Friedrichsfeld^), einem aus Deutschland stammenden
Vertreter der Mendelssohnschen Schule.
Im August 1796 unterbreitete die Kommission der National-
versammlung einen in einem liberalen Geiste verfaßten Bericht.
^) Die Denkschrift Priedrichsfelds erschien später in hebräischer Sprache
unter dem Titel: „Diwre Negidim" (vgl. die bibliographischen Anmerkungeu
zu diesem Paragraphen).
In der Kammer entspamien sich allgemeine Debatten, die acht Tage
dauerten und sich durch außerordentliche Leidenschaftlichkeit
auszeichneten. Als Referent der Kommission trat der Delegierte
Hahn auf, der eine überzeugende Rede zugunsten der Emanzi-
pation hielt. Die holländischen Juden — sagte er — erwiesen sich
als Anhänger der alten Ordnung und der oranischen Dynastie, die
ihnen Schutz gewährte, aber durch Gewährung der Freiheit und
Gleichberechtigung kann sie die Republik viel stärker an sich
fesseln. Derartige Ergebnisse zeitigte bereits die Judenemanzi-
pation in Nordamerika und in Frankreich. Der Redner be-
rührte auch den wundesten Punkt des Emanzipationskampfes:
die Frage der jüdischen Nationalität. „Können wir Menschen,
die während 2000 Jahre über keinen Staat mehr verfügen, als
eine Nation oder ein besonderes Volk betrachten ? Der Ausdruck
Nation läßt sich nur auf einen staatlichen, keineswegs religiösen
Verband anwenden: wir bezeichnen die Gruppen der Anhänger
der lutherischen oder calvinischen Glaubenslehre in den verschie-
denen Staaten doch nicht als Nationen. Wahr ist es allerdings,
daß die Juden an den Wiederaufbau ihres alten palästinischen
Staates glauben, aber wir Christen sind doch davon überzeugt,
daß dieser messianische Glaube niemals in Erfülltmg geht."
Darauf ergriff der Abgeordnete Hammelsfeld das Wort: „Die
Juden sind keine Bürger, sondern Fremdlinge. Sie kamen einst
als Verfolgte nach Holland und fanden hier Unterkunft und
Duldung. Damit sollen sie sich begnügen und keine Ansprüche
auf staatsbürgerliche Rechte erheben. Sie bezeichnen sich selbst
als Nation, und auch wir bezeichnen sie so und halten sie nicht
für einen Bestandteü des holländischen Volkes." In seiner Er-
widerung auf die Rede Hahns berührte er das messianische Dog-
ma und sagte: „Ich bin zwar selbst Christ, und doch glaube ich,
daß die Verheißung Gottes dereinst in Erfüllung geht, und die
Juden nach ihrem Heimatlande zurückkehren." Des ferneren
machte der Redner auf den Umstand aufmerksam, daß von den
50 000 in Holland ansässigen Juden nur ein winziger Teü die
Gleichberechtigung anstrebt, und daß die übrigen möglicher-
weise kein Verlangen danach tragen; er erinnerte daran, daß die
Juden im Jahre 1787, zur Zeit des „Patriotenaufstandes" gegen
den Statthalter Wühelm von Oranien die Partei des letzteren er-
griffen hatten. Aus allem zog er die Schlußfolgerung, daß man
158
den Juden Gleichberechtigung wohl gewähren könne, aber nur
unter der Bedingung, daß sie auf ihre Sitten, Gemeinden und
Institutionen (mit Ausnahme der religiösen) Verzicht leisten
und nur eine Anzahl von „Individuen" unter den batavischen
Bürgern darstellen.
Auf diese beiden Reden, die die ganze Zwiespältigkeit des
jüdischen Problems je nach dessen politischer und nationaler
Gestaltung und Verwurzelung klar zum Ausdruck brachte,
folgten viele andere, die nur die Beweisführung des ersten oder
des zweiten Redners wiederholten. Die grimdlegende Mei-
nungsverschiedenheit zwischen den Befürwortern und Gegnern
der Emanzipation trat hier mit weit größerer Deutlichkeit
und Prägnanz als in der französischen Nationalversammlung
hervor. Daß das Staatsbürgertum sich mit der jüdischen Natio-
nalität nicht vertrage — darin waren sich beide Parteien einig,
aber während die eine das Vorhandensein einer jüdischen Natio-
nalität überhaupt leugnete, stellte die andere die Möglichkeit
eines jüdischen Staatsbürgertums in Abrede. Der Abgeordnete
Floh beantragte, die Juden selbst zu befragen, ob sie sich in-
bezug auf die Nationalität als „Batavier" oder als Juden be-
trachten. Er gab der Überzeugung Ausdruck, daß, abgesehen
von einer winzigen Gruppe „Atheisten oder Naturalisten", alle
anderen ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volke anerkennen
werden; trotzdem schlug er vor, die Juden in rechtlicher Be-
ziehung allen anderen Bürgern gleichzustellen, aber unter der
einzigen Bedingung, daß jeder Jude binnen eines Jahres die Ver-
pflichtung eingehe, keine andere Nationalität als die batavische
anzuerkennen. Ein anderer angesehener Abgeordneter, der be-
kannte Staatsmann Schimmelpenninck, verfocht die Gleich-
berechtigung für die Juden als „Individuen", aber nicht für die
Juden als einen völkischen Verband. Auf deii Boden dieser ab-
strakten Idee (einer Wiederholung der Losung Cl € nnont-Tonnerres,
siehe oben § 15) vereinigten sich die Anhänger und die Gegner
der Emanzipation, so daß sie zum Schlüsse die konkreten Mei-
nungsverschiedenheiten außer acht ließen. Nach achttägigen
Debatten, an denen sich etwa dreißig Abgeordnete beteüigten, ge-
langte die Nationalversammlung zu einem für die Juden gün-
stigen Resultat. Unter dem Drucke des französischen Bot-
schafters N06I, der auf die Proklamienmg der jüdischen Emanzi-
159
pation nach dem französischen Muster drängte, wurde dieses
Resultat beschleunigt, und am 2. September 1796 wurde fol-
gender Beschluß dekretiert: ,,Kein einziger Jude darf der mit
dem batavischen Staatsbürgertum verbundenen Rechte imd
Vorrechte beraubt werden, sofern er von ihnen Gebrauch
machen will, und zwar imter der Bedingung, daß er allen
Forderungen genügen und alle durch die Verfassung festgestellten
Pflichten erfüllen wird."
Dieses Dekret beseitigte mit einem Schlage die weitgehende
Selhstverwaltung der jüdischen Gemeinden mit allen ihren auto-
nomen löstitutionen außer der rein religiösen; die von den kon-
servativ-nationalen Kreisen der Amsterdamer Judenheit gehegte
Befürchtung wurde also zur Tatsache. In diesem Akte, der den
Fortschrittlern als Triumph der Gerechtigkeit und der bürger-
lichen Freiheit erschien, spürten sie eine Verletzung der inneren
Freiheit der Nation. Nach allem, was vorgefallen war, konnten
die Fortschrittler innerhalb der alten Gemeinde nicht weiter ver-
bleiben; eine kleine Gruppe schied aus und bildete zu Amster-
dam eine besondere Gemeinde, die sich „Adath Jeschurun"
nannte und eine eigene S5niagoge mit einem eigenen Rab-
biner an ihrer Spitze hatte. Die neue Kongregation führte bei
sich eine Anzahl Reformen ein: der religiösen Erziehung wurde
statt des Talmudstudiums das der Bibel zugrunde gelegt, die
Predigt in holländischer Sprache eingeführt, die Sitt6 der
schnellen Bestattimg der Verstorbenen abgeschafft, aus dem
Gebetbuche veraltete, gegen getaufte Juden gerichtete Fluch-
formen ausgemerzt usw. Diesen offenen Abfall beantwortete die
alte orthodoxe Gemeinde mit Bannflüchen und Repressalien.
Die Pamassim strengten gegen die „Abtrünnigen" einen gericht-
lichen Prozeß an, indem sie von jedem der abgefallenen Mit-
glieder einen Schadenersatz im Betrage von 1000 Gulden für die
Entziehung der Gemeindesteuern und verschiedener anderer Ge-
bühren forderten. Der Magistrat vonAmsterdam imd die Stadt-
richter unterstützten diese auf alten Privilegien begründeten
Ansprüche, und den Fortschrittlem drohten unangenehme
Folgen. Da griff die von dem französischen Gesandten Noel in-
spirierte Regierung ein. Sie ließ durch Munizipalbeamte bekannt-
geben, daß die alten Statuten der Amsterdamer Gemeinde, die
nicht nur die religiösen, sondern auch die zivilen Angelegen-
160
heiten der Juden regelten, im Augenblick der Veröffentlichung
des Dekretes von der Gleichberechtigung ihre Gültigkeit ver-
loren hätten und daß infolgedessen die frühere Verwaltung in
Person der Parnassim ihrer Vollmachten verlustig ginge; die
Parnassim müßten ihrer Ämter enthoben werden imd an ihre
Stelle solle ein aus fünf Personen bestehendes Kollegium zur
Regeltmg der Gemeindeangelegenheiten auf Gnmd neuer Statuten
treten (i6. März 1798). Die Reform wurde sofort verwirklicht.
Die neuen Gemeindevorsteher wurden aus der Mitte jener fort-
schrittlich gesinnten ]\Iinderheit gewählt, die sich mit der ge-
schmälerten Selbstverwaltung der Gemeinde bereits abgefunden
hatte. Die ernmgene bürgerliche Gleichberechtigung versetzte
auf diese Weise einen harten Schlag nicht nur der Verbohrtheit
imd dem Fanatismus der eifrigen Hüter veralteter Traditionen,
sondern auch der dutch die Anstrengungen von Generationen er-
worbenen autonomen Organisation des Judentums. Die Emanzi-
pation heilte mit der einen und verwundete mit der anderen
Hand.
Bei alledem verfehlte die Frühlingsluft der politischen Freiheit
ihre Wirkung auf die Gemüter nicht. Die Juden kamen in immer
engere Berührung mit dem politischen Leben des Landes. Als es
zu den Wahlen für die zweite Nationalversammlung kam, entfalte-
ten sie eine bei weitem regere Tätigkeit als früher und beteüigten
sich am Wahlkampfe in weit größerem Umfange; es gelang ihnen,
zwei Delegierte aus ihrer Mitte in das Parlament zu bringen — die
Amsterdamer Liberalen de Lemon und Bromet (1797). Es waren
dies die ersten jüdischen Parlamentsabgeordneten in Europa.
Die Wahlen in die dritte Nationalversammlung (1798) ergaben
einen neuen jüdischen Abgeordneten — Isaak da Costa Athias,
ein ehemaliges Mitglied des Stadtrates von Amsterdam. Hervor-
ragende Persönlichkeiten wurden in den Gerichts- imd Munizipal-
dienst aufgenommen. So wurde beispielsweise der bereits er-
wähnte Moses Asser zum Beamten am Justizministerium er-
nannt.
Trotzdem sind alle diese Erscheinungen der jugendlichen
„Sturm- und Drang"-Periode der Batavischen Republik nur
wenig geeignet, uns ein richtiges Bild von den realen Ver-
änderungen innerhalb der sozialen Lage der Juden zu geben. In
der Praxis konnte man auch hier die übliche Erscheinung beob-
II Dubnow, Geschichte der Juden r lÖl
achten: die auf dem Papier gewährte Gleichberechtigung, die
mit alten Gewohnheiten schwer zu kämpfen hatte, setzte sich im
Leben nur mit Mühe und Not durch. Während jüdische Ab-
geordnete an den Parlamentssitzungen teilnahmen, war jüdischen
Kindern der Zutritt zu den öffentlichen Lehranstalten verwehrt.
Eine stattliche Anzahl von Rechtseinschränkungen bewahrten
noch ihre volle Geltung, imd in den letzten Jahren dieser ephe-
meren Republik, als der Freiheitsdrang merkKch nachzulassen
begann, gaben sich diese Rechtseinschränktmgen besonders
scharf zu erkennen. Erst der Regierung des Königreichs
Holland, das im Jahre 1806 die Batavische Republik ablöste,
war es beschieden, die Sache der Emanzipation zu ihrem Ab-
schlüsse zu bringen. Der neue Landesfürst Ludwig Bonaparte,
ein Bruder des Kaisers von Frankreich, sorgte für die strikte
Wahrung aller die Juden betreffenden Gesetzesparagraphen, wie
er auch sonst den Juden sehr gewogen war. Unter anderem
schaffte Ludwig den veralteten, das jüdische Ehrgefühl ver-
letzenden, unter dem Namen „more judaico" bekannten ge-
richtlichen Eid ab; aus Rücksicht auf die religiösen Über-
zeugungen der Juden ordnete er die Verlegung der Jahrmarkts-
tage von Sonnabend auf Montag an.
Sein erstes Regierungsjahr fiel mit dem feierlichen Augenblick
zusammen, als die ,. jüdischen Parlamente" in Paris, die Notabeln-
und Synhedrionsversammlungen ihre Tätigkeit zu entfalten be-
gannen. Eine freudige Erregung hatte sich aller fortschrittlich ge-
sinnten holländischen Juden bemächtigt. Mit Spannung und an-
gestrengter Aufmerksamkeit verfolgten sie die Vorgänge inner-
halb der Notabeinversammlung, deren Beschlüsse eine nahe Ver-
wandtschaft mit ihren eigenen, von altersher genährten Idealen
zu haben schienen. Die Freude der Fortschrittler steigerte sich
zu einem grenzenlosen Jubel, als das Rundschreiben der
Pariser Versammlung über die Einberufung des ,, Großen Syn-
hedrions" nebst der Einladung, Bevollmächtigte zu schicken, in
Amsterdam anlangte. In der Sitzung vom 15. Oktober 1806 be-
schloß die Verwaltung der refornüerten Gemeinde „Adath
Jeschurun", eine Abordnung zur Mitwirkung an den „großen
Zielen" des von „Napoleon dem Großen, dem Retter Israels"
einberufenen Synhedrions nach Paris zu schicken. In einer be-
sonderen Audienz beim König Ludwig baten ihn die Gemeinde-
162
Vorsteher um die Erlaubnis, eine solche Abordnung zu schicken;
dabei ergingen sie sich in begeisterten Gefühlsäußerungen über
„die herrlichen, nur der Familie Napoleon eigenen Tugenden"
und gaben der Hoffnung Ausdruck, daß die lichten Freiheitstage,
die in den letzten Jahren der Batavischen Republik durch die
teilweise Wiederherstellung der alten Ordntmg getrübt worden
waren, mit dem neuen Herrscher zurückkehren würden. Die Er-
laubnis wurde erteilt ; die Abordnung bestand aus folgenden drei
Personen: dem gewesenen Parlamentsmitglied de Lemon, dem
jungen Advokaten Karl Asser und dem Talmudisten und Mathe-
matiker J eh u da Litwak, einem aus Polen stammenden Juden,
der zu einem der Führer der reformierten Amsterdamer Ge-
meinde geworden war. Die Abordnung kam in Pa'ns bereits nach
der Eröffnung des Synhedrions an und beteüigte sich zum ersten-
mal an dessen zweiter Sitzung (12. Februar 1807). Die drei Mit-
glieder der Abordnung wandten sich an die Versammlung mit
Begrüßungsreden in französischer und hebräischer Sprache
(hebräisch sprach nur J. Litwak). Die Reden überströmten von
Ausdrücken der Freude über die Einberufung des Synhedrions,
das eine neue Ära in der Geschichte des jüdischen Volkes er-
öffnet habe, eine Ära des Glückes, der Freiheit und der Auf-
klärung. Dem Vorsitzenden der Versammlung überreichten die
Abgeordneten eine schriftliche Erklärung der Gemeinde Adath
Jeschurun, die sie ermächtigt hatte, sich den Resolutionen des
Synhedrions in allen von Napoleon beantragten Fragen anzu-
schließen. Die Vollmachten wurden gewissenhaft ausgenützt : die
Amsterdamer Abgeordneten fanden, daß sämtliche Beschlüsse
des Synhedrions den Geist der Weisheit atmeten und das Wohl
des jüdischen Volkes im Auge hätten; in ihren in der letzten
Sitzung gehaltenen Abschiedsreden sprachen sie es deutlich aus.
Karl Asser erinnerte in seiner Rede daran, daß die Aufklärungs-
prinzipien des Synhedrions mit jenen identisch wären, die die
Gründer der Gemeinde Adath Jeschurun bereits im Jahre 1796
beseelt hätten. Der Redner sah schon im Geiste den „Tempel
der Toleranz", in welchem die Völker sich zusammenfinden
werden, um dem „Vater aller Menschen", wiewohl auf ver-
schiedene Weise, zu dienen. De I^emon sagte, daß die aufgeklärten
Juden in den Beschlüssen des Synhedrions Beruhigung für ihr
Gewissen und eine feierliche Bestätigung ihrer notwendigen
"• 163
religiösen Reformen finden werden. Litwak prophezeite dem
S3mhedrion ewigen Ruhm bei den künftigen Generationen . . .
Die künftigen Generationen bestätigten jedoch diese Prophe-
zeiung nicht.
Die bittere Enttäuschung an den napoleonischen „Wohl-
taten", die auf die Auflösung des Synhedrions folgte, wurde
in Holland nicht so schmerzlich wie in Frankreich empfun-
den. Das „Schmachvolle Dekret" von 1808 hatte in der Gesetz-
gebung dieses Königreichs keinen Nachhall gefunden. Und auch
die Gemeindereform nach dem Muster des französischen Kon-
sistoriums vermochte in diesem Boden keine festen Wurzeln zu
fassen: die Zersplittenmg der Gemeinden, die Kluft zwischen
Konservativen und Fortschrittlem und der noch ältere Bruch
zwischen den Aschkenasim imd den Portugiesen — dies alles
stand diesem Beginnen hindernd im Wege. Alle diese zersplitter-
ten Elemente suchte die Regierung durch die Schaffung einer
„starken Macht" in Gestalt des „Zentralkonsistoriums" zu ver-
einigen; dieses Konsistorium wurde in Amsterdam zur Ver-
waltung der Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde im ge-
samten Königreich (September 1808) gegründet. Aber dieses aus
zwölf Mitgliedern bestehende Zentralkonsistorium erwies sich als
ohnmächtig und vermochte weder gegen den alten Streit zwischen
den Aschkenasim und Portugiesen, noch gegen die allgemeine,
durch die rasche politische und kulturelle Umwälzung im Leben
der Juden bedingte Zerfahrenheit etwas auszurichten. Die ge-
plante Eröffnung von Provinzialkonsistorien wurde verhindert.
Das Amsterdamer Konsistorium, das vornehmlich aus der Re-
gierung nahestehenden Reformisten bestand, spielte nur die
Rolle eines besonderen Regierungsdepartements in jüdischen
Angelegenheiten. Im Jahre 1809 betätigte es sich an der Heran-
ziehung der Juden zum Militärdienst. Da verschiedene Bataülone
der holländischen Bürgermiliz keine Juden aufnahmen, wurde be-
schlossen, ein besonderes, aus jüdischen Milizionären bestehendes
Regiment zu bilden. Dieser vom König Ludwig gebilligte Plan
ging bald in Erfüllung, und noch im selben Jahre kam ein eigen-
artiges jüdisches Korps zustande. Das Korps setzte sich aus zwei
Bataillonen Infanterie zusammen, von denen jedes 883 Mann
zählte. An der Spitze standen jüdische Offiziere. Diese eigen-
tümliche Armee war nicht von langer Dauer. Als nach der Ab-
164
dankung Louis Bonapartes Holland im Jahre 1810 an das
französische Kaiserreich kam, wurden auch die jüdischen
Soldaten den verschiedenen französischen Regimentern zu-
geteilt. Zwei Jahre darauf wurde Holland von den deutsch-
russischen verbündeten Truppen, die die Franzosen vertrieben
hatten, besetzt, imd im Jahre 1815 wurde die oranische Dynastie
wiederhergestellt. Die Übergangsperiode der „ersten Emanzi-
pation" war zu ihrem Abschluß gekommen.
Es war dies eine stürmische Epoche, die alle Lebenssphären,
der holländischen Judenheit erschütterte. Ganz besonders
machte sich die Ejrise auf wirtschaftlichem Gebiete geltend. Das
napoleonische „Kontinentalsystem", das gegen den Handel
Großbritanniens gerichtet war tmd den gesamten europäischen
Handel in Mitleidenschaft zog, wirkte besonders verheerend auf
Holland und dessen jüdische Kaufmannschaft, die in vielver-
zweigten und mannigfachen Beziehungen zu Großbritannien stand.
Die reichen Kaufleute schlössen ihre Handelshäuser und lebten
von ihren angehäuften Vermögen; die imbemittelten Klassen
litten äußerste Not. Die Armut nahm derartige Dimensionen an,
daß zwei Drittel der Aschkenasim in der Amsterdamer Ge-
meinde von Unterstützungen leben mußten. Die Bevölkerung
Amsterdams hatte sich während der Republik und des Kaiser-
reichs vergrößert: in den Jahren 1808 — 1813 zählte die Ge-
meinde der Aschkenasim 30 000 imd die der Portugiesen 2800
Seelen. Im Haag lebten 2180 Juden; bedeutende Gemeinden
von Aschkenasim befanden sich außerdem in Rotterdam, Leyden
und Groningen. Auf dem Gebiete der geistigen Kultur tobte ein
ununterbrochener Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen.
In den breiten Schichten der Aschkenasim behauptete sich mit
Zähigkeit der deutsch-polnische „Jargon". In den traditionellen
Schulen, den Chedarim und den Jeschiwoth, die von der refor-
mierten jüdischen Schule noch lange nicht verdrängt waren,
wurde der Unterricht in dieser Sprache geführt. Um die letztere
kümmerten sich übrigens die Reformer sehr wenig: die „neuen
Männer" schickten ihre Kinder in die allgemeinen christlichen
Schulen, sobald man sie dort aufnahm; aber diese Schulen zogen
eine Generation von Assimüanten groß. Das Zentralkonsistorium,
die Hochburg der Neologen, führte einen hartnäckigen Kampf
gegen den „Jargon" und verlangte von den Synagogenver-
165
waltungen, daß sie ihre geschäftliche Korrespondenz in hol-
ländischer Sprache führen; aber diese Forderung wurde selten
erfüllt. Die begonnene Übertragung des Pentateuchs in die hol-
ländische Sprache wurde nicht zum Abschluß gebracht. Im all-
gemeinen machte hier die relative Dichte der jüdischen Be-
völkerung den Widerstand gegen die Assimilation stärker und
erfolgreicher als in allen anderen Ländern.
§ 26. Italien (die Römische und die Zisalpinische Republik;
das Königreich Italien). In keinem I^ande hatte die aus dem
revolutionären und napoleonischen Frankreich verpflanzte
ephemere Emanzipation einen so plötzlichen Umschwung in
der Lage der Juden hervorgerufen, wie in Italien, insbeson-
dere im Kirchenstaate, wo die sich befehdenden Mächte
— die Kirche und die Revolution, das Ghetto und die Freiheit,
gleich im ersten Augenblick aufeinanderprallten. In den meisten
Staaten des zerstückelten Italiens (Toskana und einige einzelne
Städte ausgenommen) gerieten die Juden in den Zustand der
bürgerlichen Freiheit direkt aus dem einer niedrigen Knecht-
schaft und nicht aus dem einer halben Freiheit, wie es in
Holland der Fall war. Das Judenviertel von Rom lag noch ganz
in den Fesseln des inquisitorischen Reglements von 1775 (§7);
das mittelalterliche gelbe Abzeichen prangte noch an den Hüten
der „Ausgestoßenen", und die Jagdhunde der Kirche hetzten
noch die Masse der gebrandmarkten Menschen, die für diese Jagd
an das schlammige Ufer des Tibers zusammengetrieben waren,
als sich bereits das ferne Tosen der Revolution vernehmen ließ
und die französische Freiheitsarmee an die Mauern Roms immer
näher heranrückte. Im Januar 1793 loderten die ersten Flammen
eines vom französischen Agenten Basseville angestifteten Auf-
standes auf, der ein trauriges Ende nahm : Basseville wurde von
einer Menge fanatischer Anhänger der Kirche getötet. Die Menge
versuchte, die in Rom ansässigen Franzosen zu überfallen und
auszuplündern, aber da sie auf energische Gegenwehr stieß,
wählte sie die Linie des geringsten Widerstandes und ging auf
das Judenviertel los. Hier feierte sie ihren Sieg über die fran-
zösische Revolution durch die Plünderung einiger jüdischer
Läden. Auch die päpstliche Regierung ließ sich die Gelegenheit
zu einer Plünderung nicht entgehen. Sie verbreitete das Gerücht,
daß man bei einem jüdischen Händler einige Tausend drei-
166
farbige, für die Revolutionäre vorbereitete Kokarden gefunden
habe. Daraufhin verhaftete die Polizei die Rabbiner und die
Gemeindevorsteher des Judenviertels, um sie dann gegen Zahlung
einer ungeheuren Geldbuße aus der Haft zu entlassen. Um den
Verkehr des Judenviertels mit der Stadt zu erschweren, befahl
die Regierung, scharf aufzupassen, daß die Paragraphen des alten
Reglements, wonach die Juden ein gelbes Abzeichen auch inner-
halb des Ghettos tragen mußten und die Grenzen ihres Aufent-
haltsortes nachts nicht überschreiten durften, streng eingehalten
werden. Man suchte in Rom an den Ghettobewohnern das Miß-
geschick der weltlichen und kirchlichen Macht in Frankreich zu
rächen. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. in Paris bot dem rö-
mischen Pöbel einen neuen Vorwand, um das Judenviertel zu
überfallen. Die Einführung der ,, Religion der Vernunft" in Paris
A^nirde in Rom durch Taufen von Juden beantwortet, die man
gewaltsam oder mit List ins ,,Haus der Katechumenen" gelockt
hatte. In Paris hatte der jüdische Jakobiner Pereira den Erz-
bischof Gobel gezwungen^ in einer Sitzung des Konvents das
Kreuz abzulegen, und in Rom wurden die jüdischen Kinder ge-
waltsam mit Kreuzen geschmückt . . .
Endlich kam auch der Augenblick, wo Rom nicht bloß den
fernen Widerhall der Revolution, sondern ihre nahen Schritte zu
hören bekam. In den Jahren 1796 und 1797 wurde Italien von den
französischen Truppen überschwemmt. Das militärische Genie
des jungen Korsikaners wirkte Wunder: vor ihm zerstoben die
Armeen der Österreicher in der Lombardei, beugten sich die
Herrscher Sardiniens, Toskanas, Venedigs imd Genuas; selbst
der päpstliche Thron erbebte in seinen Grundfesten. Durch die
französischen Kontributionen ausgeplündert, mit geschmäler-
tem Besitz, harrte Papst Pius VI. seines Schicksals. Den
letzten Vorwand zu einer Intervention bot der Zusammenstoß
des römischen klerikalen Pöbels mit den von Frankreich prote-
gierten Republikanern. Der französische General Bertier besetzte
Rom; die einheimischen Republikaner proklamierten die Ab-
setzung des Papstes und die souveräne Gewalt des Volkes
{15. Februar 1798). Am gleichen Tage, dem ersten Tage der
,, Römischen Republik" entfernten die Juden das Schandmal der
Sklaverei, das gelbe Abzeichen (Sciamano — vom hebräischen:
Siman-Zeichen) und frohlockten über den Anbruch einer neuen
167
Zeit. Zwei Tage darauf gab es im Ghettoviertel eine Fest-
beleuchtung, und vor der Synagoge wurde unter den feierlichen
Klängen der Musik ein „Baum der Freiheit" gepflanzt. Am
Morgen des 20. Februar verließ der gestürzte Papst Pius VI., der
Urheber des unmenschlichen Ediktes von 1775, die Stadt Rom
für immer. Der alte Kerkermeister ging, als die Tore des Ghetto-
kerkers sich weit auftaten und der Strom der befreiten Gefange-
nen sich über die Straßen der Stadt ergoß. Eine der ersten Hand-
lungen der neuen Regierung war die Proklamierung der jüdischen
Gleichberechtigung: „Da nach den durch den Verfassungsakt
der Römischen Republik geheüigten Prinzipien die Rechte sämt-
licher Bürger gleich sein müssen, geben wir folgendes Gesetz be-
kannt : Die Juden, die allen Bedingungen zur Erlangung der mit
dem römischen Staatsbürgertum verbundenen Rechte genügen,
unterliegen den für alle Bürger der Römischen Republik gelten-
den Gesetzen; infolgedessen werden mit diesem Augenblick alle
besonderen, die Juden betreffenden Gesetze und Verfügungen
für abgeschafft erklärt."
Nur allmählich gewöhnten sich die christlichen Massen daran,
die gestrigen Sklaven als gleichberechtigte Mitbürger anzusehen.
Vielen von ihnen war es peinlich, zu sehen, wie die Juden anstatt
des soeben abgelegten gelben Abzeichens die dreifarbige Offiziers-
kokarde trugen und sich an den republikanischen Kundgebungen
erhobenen Hauptes beteiligten. Um nicht mit den Juden ver-
wechselt zu werden, befestigten die christlichen Nachbarn des
Ghettoviertels an ihre Kokarden kleine Kreuze. In der ersten
Zeit nahm die Nationalgarde nur widerwillig Juden in ihre
Reihen auf, da aber die Juden einen republikanischen Eifer an
den Tag legten, ihren Patriotismus bewiesen und der National-
garde sogar einige Offiziere lieferten (Barrafal u. a.), verflüchtigte
sich allmählich dieses Mißtrauen. Der Jude Ezechiel Marpurgo
wurde zum ,, Senator" am obersten Gerichtshof der Republik er-
nannt. Bei alledem hatten die Juden viel Ungemach unter den
anarchischen Zuständen jener Zeit auszustehen. Unerträglich
war die Last der unaufhörlichen Kontributionen, die der Be-
völkerung von den französischen Generälen auferlegt wurden.
Man zwang die Leute, ungeheure Geldsummen an die Kriegs-
kasse abzuführen; groß war der Unmut und die Aufregung im
Ghettoviertel, als die jüdischen Frauen gezwungen wurden, Sol-
168
datenunifonnen selbst an Sabbattagen zu nähen. Teuer bezahlten
die Juden ihre Freiheit und die Genugtuung, ihre Feinde, die
katholische Geistlichkeit, gedemütigt zu sehen. Die republi-
kanischen Behörden beschlagnahmten alle Mobilien des
Papstes und der Kardinäle und versteigerten es; unter den
Käufern fanden sich auch Juden, denen unter anderen Dingen
auch Kirchengeräte zufielen. Über diese Beteiligung der „Feinde
der Kirche" an der Liquidierung ihres Vermögens entrüsteten
sich die frommen Katholiken; aber das Verhalten vieler Christen
diesen Reliquien gegenüber war nicht viel besser. Die römische
Geistlichkeit wurde zu jener Zeit verspottet und verhöhnt. In
einer Bürgerversammlung wurde einmal der Wunsch geäußert,
daß man die Geistlichen an der Stirn brandmarken solle; die
anderen wiederum forderten, daß man den Priestern dasselbe
Ghettoviertel als Wohnort zuweisen solle, in welchem sie früher
die Juden eingesperrt hielten. Noch niemals hatte sich die ge-
schichtliche Nemesis so deutlich zu erkennen gegeben, wie in
dieser plötzlichen Schicksalswendung. Es war aber nur eine
Augenblickswendung : das Ende der ephemeren Römischen Re-
publik nahte heran.
Im Herbst des Jahres 1799 wurde die Herrschaft der Fran-
zosen in Rom von der der neapolitanischen Truppen abgelöst. Es
kam der Augenblick, wo die Juden für ihre Beteiligung an
den revolutionären Umtrieben empfindlich büßen mußten. Es
begann eine Reihe von Strafkontributionen, die von der jüdischen
Bevölkerung mit äußerster Härte eingetrieben wurden. Abge-
sehen von einer allgemeinen Summe, die fünf Synagogen auf-
erlegt wurde, wurde noch von jedem einzelnen Einwohner eine
Geldbuße im Betrage von 2% seines Vermögenswertes gefordert.
So arg hausten die Neapolitaner, daß, als sich die militärischer
Banden entfernten, und der neugewählte Papst Pius VII. in Rom
seinen Einzug hielt (sein Vorgänger, Pius VI., starb als Ver-
bannter in Frankreich), die Juden ihn beinahe als einen Befreier
begrüßten (3. Juli 1800). Sie glaubten, daß der neue Papst, be-
lehrt durch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, die
veralteten, inquisitorischen Verwaltungsmethoden nicht mehr
in Anwendung bringen werde. Ihre Hoffnung täuschte sie nicht
ganz. Pius VII. milderte in der Tat einigermaßen das harte
Ghettoregime: er erleichterte die Steuerlast, gab der Gewerbe-
169
freiheit etwas weiteren Raum und drang nicht auf die Anwendung
der demütigenden kanonischen Gesetze. Mit Genehmigung des
Papstes wurde eine aus 27 Mitgliedern bestehende Gemeinde-
verwaltung gewählt; die gewählten Rabbiner und Gemeinde-
vorsteher wurden dabei von der persönlichen Haftung für die
zivilen imd kriminellen Angelegenheiten der Gemeindemitglieder
befreit, die in früheren Zeiten die Ghettoführer in beständiger
Angst hielt.
Nach 8 Jahren wurde die Restauration durch einen neuen
politischen Umschwung über den Haufen geworfen. Zu Beginn
des Jahres 1808 wurde Rom von den napoleonischen Truppen be-
setzt, und am 10, Juni 1809 der ganze Kirchenstaat dem
französischen Kaiserreich angegliedert. Pius VII. wurde als Ge-
fangener nach Fontainebleau abgeführt, wo er fast 8 Jahre ver-
bringen mußte. Die jüdische Emanzipation wurde von neuem
verkündet; von neuem wurden innere Reformen im Geiste der
Synhedrionsbeschlüsse durchgeführt. Bin Erlaß Napoleons vom
4. Juni 1811 verkündete die Gründung eines Zentralkonsisto-
riums in Rom für sämtliche jüdische Gemeinden des früheren
Kirchenstaates. An der Spitze des Konsistoriums stand der
römische Großrabbiner, Leon de Leone. Bei der Eröffnimgsfeier
des Konsistoriums hielt eines seiner Mitglieder eine Rede, in der
er Kaiser Napoleon als Befreier verherrlichte und unter anderem
folgendes sagte: ,,In der kurzen Frist von zwei Jahren (der fran-
zösischen Herrschaft) gelangten bei uns Ackerbau und Fabrik-
industrie zur Entfaltung; unsere Söhne strebten mutig den
Wissenschaften und den Künsten zu; mehr als dies: sie sind be-
rufen, an den Siegeszügen (der napoleonischen Heere) teilzu-
nehmen." Die Teünehmer dieser Feier ahnten in jenem Augen-
blicke nicht, daß man sie in weniger als drei Jahren in das
Ghettodunkel zurückwerfen würde. Als der Stern Napoleons
unterging, kam der Kirchenstaat unter die Botmäßigkeit des
zurückgekehrten Papstes, imd für die Juden setzte eine Periode
schwerer Reaktion ein (1-814). Diesen circulus vitiosus — von Ver-
sklavung zur Freiheit, von Freiheit zur Versklavung — machten
die Juden auch in den anderen Staaten des zerstückelten Italiens
durch. Aus der aristokratischen Republik Venedig machte die
durch die französischen Siege hervorgerufene Revolution des
Jahres 1797 eine demokratische Republik, die sich während eines
170
halben Jahres behauptete. In dieser kurzen Zeit vollzog sich die
jüdische Emanzipation. Am ii, Juli wurden die Mauern des
Ghettos von Venedig unter dem Jubel der Bevölkerung ge-
schleift, und die mit der Stadt in Verbindung gebrachte Juden-
gasse erhielt zum Zeichen der Verbrüderung und der Einigung
aller Bürger den Namen „die Bundesstraße" (Contrada dell'
Unione). Bei dieser Gelegenheit wurden viele schöne Reden ge-
halten; selbst katholische Geistliche beteiligten sich an dieser
Kundgebung der Freiheit und der Gleichheit. In den neu ge-
bildeten demokratischen Stadtrat traten drei Vertreter der
jüdischen Bevölkerung ein. Die neue Ordnung erwies sich jedoch
als nicht von langer Dauer. Eine Folge des Siegeszuges der
französischen Armee, fiel sie bald den selbstsüchtigen politischen
Plänen des kaiserlichen Heerführers zum Opfer. Nach dem
Friedensvertrag von Campo Formio wurde Venedig an den Hort
der alten Ordnxmg, Österreich ausgeliefert. Die österreichische
Herrschaft (Januar 1798) fegte alle liberalen Neuerungen, dar-
unter auch die Gleichberechtigung der Juden, weg. Im Jahre
1805 kam Venedig an das von Napoleon gegründete König-
reich Italien, welches letztere seinerseits dem französischen
Kaiserreiche einverleibt wurde. Die Gleichberechtigung der
Juden wurde von neuem stattdert und dauerte diesmal 9 Jahre,
bis zum Triumphe der Reaktion im Jahre 1814,
Das Schicksal der Juden in all jenen Teüen Italiens (der Lom-
bardei, dem Herzogtum Modena und den dem Elirchenstaat und
der Republik Venedig entrissenen Ländern), die sich unter
dem gleichen Drucke der französischen Invasion zur Zis al-
pinischen Republik vereinigten, wies minder schroffe
Schwankungen und Übergänge auf. Die Republik bestand
8 Jahre, bis sie dem „Italischen Königreiche" (1805) einver-
leibt wurde tmd ihre jüdischen Einwohner als gleichberechtigte
Mitglieder in den Verband des französischen Volkes eintraten;
in diesem Zustande verharrten sie bis zum Ende des „Zeitalters
der ersten Emanzipation". Derartige Freiheitspausen von län-
gerer oder kürzerer Dauer wurden auch den anderen Gebieten des
zerstückelten Italiens in jenen stürmischen Zeiten der Um-
wälzungen zuteü. Die Juden Toskanas mit ihrer Haupt-
gemeinde Livorno erlangten die Emanzipation im Jahre 1808,
als das Herzogtum Medici an Frankreich abgetreten wurde. Die
171
wirtschaftlich und kulturell hochstehende jüdische Bevölkerung
der Hafenstadt lyivomo, der die demütigenden Formen der
Rechtlosigkeit auch früher fremd waren, erwies sich als völlig reif
für das neue staatsbülrgerliche lieben. — Etwas schroffer ge-
staltete sich der Übergang für die Juden in Piemont (die Ge-
meinden Turin, Alessandria und andere), wo die alten Fürsten der
sardinischen Dynastie regierten und der Geist des kirchlichen
Roms herrschte. Nach den Berichten der französischen Präfekten,
die die piemontesischen Bezirke während des Kaiserreichs ver-
walteten, waren die Juden unter dem Druck der sardinischen
Herrscher auf einen derartigen Grad physischer Erschöpfung
gebracht, daß bei den Aushebtmgen viele militärpflichtige
Juden wegen körperlicher Unzulänglichkeit zurückgestellt wer-
den mußten.
Die vorübergehend in Italien konstituierte neue Staatsordnung
beeinflußte nicht nur die staatsbürgerliche Stellung der Juden,
sondern auch ihre gemeindliche Selbstverwaltung. Die Verzicht-
leistung auf die Gemeindeautonomie büdete überall die Be-
dingung für die Emanzipation. An Stelle der früheren Selbst-
verwaltung, die sich in so bedeutenden jüdischen Zentren,
wie Rom, Venedig, Livomo, in einem weitverzweigten System
national-kultureller Institutionen verkörperte, bot die Regierung
des Kaiserreichs einen schlechten Ersatz in der Konsistorial-
organisation nach Pariser Muster. Die italienischen Juden fanden
sich in den meisten Fällen mit dieser offiziellen Selbstverwaltung
ab und beklagten nicht die verlorene Autonomie, wie es mit den
holländischen Juden der Fall war. Die Rabbiner und die Gemeinde-
vorsteher nahmen einen überaus regen Anteü an den Arbeiten
der Notabeinversammlung und des Synhedrions in Paris. An
jeder dieser Versammlungen beteiHgten sich etwa 25 Mitglieder
aus Italien (was ungefähr ein Viertel der Gesamtzahl der Dele-
gierten der ersten und ein Drittel der Delegierten der zweiten
Versammlung ausmachte). Zwei italienische Rabbiner hatten
sogar ihre Sitze im Präsidium; es waren dies der Rabbiner von
Mantua Abraham de Cologna, früheres Mitglied der Regierung
der Zisalpinischen Republik, imd der Rabbmer von Piemont,
Jehoschua Segre; als zweiter Referent des Synhedrions nach dem
berühmten Furtado trat der Rabbiner von Venedig, Jakob
Cracovia, auf. Die meisten italienischen Rabbiner schlössen sich
172
der radikalen Gruppe der beiden Versamminngen an, die den
assimilatorischen Bestrebungen Napoleons ein freundliches Ent-
gegenkommen zeigte. Aus Italien stammte auch jener Dele-
gierte Avigdor von Nizza, der in der Notabeinversammlung den
Antrag stellte, die Wohltaten der katholischen Geistlichkeit im
Andenken des dankbaren jüdischen Volkes zu verewigen (§22).
Italien atmete damals den Geist der Freiheit. Viele suchten
Berührung mit der christlichen Gesellschaft. Ein freundliches
Entgegenkommen seitens der christlichen Gesellschaft genügte
nicht selten, um in fortschrittlich gesinnten jüdischen Kreisen
die Hoffnung auf ein baldiges Verschwinden aller nationaler und
religiöser Schranken zu wecken. Über die Erfolge dieser An-
näherung legten die Departementspräfekten in ihren Berichten ein
beredtes Zeugnis ab (1808). Aber die annäherungssüchtigen
Juden stiei3en nicht immer auf Gegenliebe. Das Zentralkonsisto-
rium in Rom weiß darüber zu berichten (1810), daß in der katho-
lischen Bevölkerung noch eine tiefe Abneigtmg gegen die Juden
wurzelte. Die Berichte der Präf ekten und der Konsistorien standen
im Zusammenhange mit dem napoleonischen Unterdrückungs-
erlaß vom 17. März 1808, der im Eifer der Übereüung auch auf
die italienischen Gebiete ausgedehnt worden war. Die Präf ekten
und die jüdischen Gemeinden unternahmen Schritte in Paris, um
die Abschaffung des Erlasses herbeizuführen, indem sie den
Nachweis zu liefern suchten, daß er die bereits begonnene Ver-
schmelzung verhindern und den noch nicht ganz erloschenen
religiösen Haß zu neuem Leben entfachen würde. „Die Anwen-
dung des kaiserlichen Erlasses vom 17. März 1808 in dem mir
unterstellten Departement" — schrieb z. B. der Präfekt von
Po (Piemont), „wird nicht nur die von seiner Majestät gewünsch-
ten Ergebnisse nicht zeitigen, sondern eher eine entgegengesetzte
Wirkung erzielen: er wird den Prozeß der Wiedergeburt der
Juden, die mit dem Ausbruche der Revolution begonnen und
nur durch die Gewährung der staatsbürgerlichen Rechte an die
Juden erfolgreich fortgesetzt werden kann, beeinträchtigen und
hemmen." Alle diese Gesuche blieben in Paris nicht ohne Wir-
kung und hatten einen gewissen Erfolg. Am 11. Aprü 1810
wurden 15 italienische Departements von der Wirkung des
„Schmachvollen Dekrets" ausgenommen. Nur für die römischen
Juden blieb der Erlaß bestehen, und der Präfekt dieses Departe-
173
ments sowie das römische Zentralkonsistorium mußten sich
noch im November 1810 um eine Erleichterung für Rom be-
mühen, „wo die Voreingenommenheit gegen die Juden stärker
als irgendwo anders ist, und wo man solche Vorurteile doch nicht
begünstigen darf".
Die bürgerliche Gleichberechtigimg, die das napoleonische
Regime den italienischen Juden brachte, erlöste sie nicht von der
wirtschaftlichen Not. Die itaUenische Bevölkerung überhaupt,
und die jüdische im besonderen, war durch die ununter-
brochenen politischen Krisen, durch Kriege, Requisitionen und
französische Kontributionen wirtschaftlich zugrunde gerichtet:
Unter diesen Krisen hatten besonders die jüdischen Handels-
firmen der Hafenstädte Livorno und Venedig zu leiden. Und doch
blieb die durch die Gleichberechtigung ins Leben gerufene Ge-
werbefreiheit nicht ohne jede günstige Wirkung: sie brachte eine
gleichmäßigere Beteüigung der jüdischen Bevölkerung an den
verschiedenen Zweigen der wirtschaftlichen Tätigkeit mit sich.
In dem am meisten zurückgebliebenen Teüe Italiens, Piemont,
trieb nur ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Handel, die
übrigen zwei Drittel beschäftigten sich mit Handwerk, Künsten,
der Landwirtschaft und dem öffentlichen Dienste (nach Angaben
aus den Jahren 1808 — 1811). Die im Staatsdienst beschäftigten
Juden bekleideten in der Regel Ämter in der Stadtverwaltung als
stellvertretende Maires und Munizipalräte, Postbeamte usw.
Trotz der Vorurteüe der christlichen Gesellschaft, deren Ver-
treter nach dem Zeugnis der Behörden nicht selten „in den
Amtssitzungen nur ungern neben den Juden saßen," war die
Zahl der jüdischen Beamten in einigen italienischen Städten
nicht unerheblich.
§ 27. Die Schweiz (Helvetische Republik). Das Büd einer
ephemeren Emanzipation wiederholte sich im kleinen auch in
der Schweiz, wenn auch mit einer spezifischen lokalen Färbung.
Die 200 jüdischen Familien, die in den beiden ,, Zufluchtsstädten"
Endingen imd Lengnau im Badischen ansässig waren, er-
neuerten im Jahre 1792 ihren Vertrag mit der Regierung, dem-
zufolge sie das Recht erhielten, in dieser Gegend zu wohnen und
sich mit knapper Not zu ernähren — unter der Bedingung jedoch,
daß sie ihr Geschlecht nicht fortpflanzen dürfen (§8). Das Über-
schreiten der ,, Ansiedelungszone" und die Einwanderung von
174
Juden aus anderen Ländern und Gegenden wurden nur vor-
übergehend und unter den schwersten Bedingungen ge-
stattet: die fremden Kaufleute mußten den sogenannten „Leib-
zoll" und viele andere spezielle Abgaben entrichten. Die erste
Bresche in diese chinesische Mauer wurde durch ein Werkzeug
französischer Herkunft geschlagen. Die französische Regierung
des Direktoriums verlangte vom schweizerischen Bundesrat die
Befreiung aller in Handelsangelegenheiten nach der Schweiz
reisenden französischen Juden von den speziellen Abgaben; die
Schweizer Regierung sah sich genötigt, dieser Forderung nach-
zukommen; auf diese Weise gab sie den ausländischen Juden vor
den einheimischen den Vorzug (1797). Nach einem Jahre er-
richtete Frankreich sein Protektorat in der Schweiz und zer-
störte deren mittelalterliche, wenn auch repubHkanische Staats-
ordnung. Im Jahre 1798 entstand auf den Ruinen der alten
schweizerischen Konföderation die „einige und ungeteilte" Hel-
vetische Republik mit einem Direktorium an der Spitze und
zwei gesetzgebenden Kammern. Unmittelbar nach diesem Um-
schwünge wandten sich die Juden des Badischen Bezirkes an
die gesetzgebenden Versammlungen mit dem Gesuche, sie mit
den bevorzugten ausländischen Juden in bezug auf Freizügig-
keit und Abgabenentrichtung gleichzustellen. Dieses Gesuch
wurde von der Regierung (dem Direktorium) befürwortet. Nach
leidenschaftHchen Debatten nahmen beide Kammern den An-
trag an tmd faßten folgenden Beschluß: „In allen Gebieten
Helvetiens werden künftighin alle den Juden auferlegten und die
menschliche Würde verletzenden speziellen Steuern und Abgaben
abgeschafft" (31. Mai und i. Juni 1798). So wurde die Gleich-
stellung der Juden in bezug auf die Steuern durchgeführt; nun
mußte auch noch die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung
durchgesetzt werden.
Die Frage der vollen Gleichberechtigung tauchte im Parla-
mente im Zusammenhange mit dem bürgerlichen Eid oder dem
„Verfassungseid" auf. Die Zulassung der Juden zu einem solchen
Eide bedeutete die Anerkennimg ihrer Gleichberechtigung, und
darauf konnte die judenfeindliche Partei nicht eingehen. Lang-
wierige Debatten in den beiden Kammern und in einem speziellen
Ausschuß (August 1798) ergaben eine grundsätzliche Meinungs-
verschiedenheit zwischen den Konservativen und Liberalen in
175
der Frage der Emanzipation. Der Delegierte von Zürich, Escher
und der von I^ausanne Secretan forderten die Gleichberechtigung
für sämtliche in der Schweiz geborenen und aUen Bedingungen
der bürgerlichen Rechtsfähigkeit genügenden Juden. Ihre
Gegner griffen zu der üblichen Beweisführung: die Juden wären
unfähig, einen bürgerlichen Eid reinen Herzens zu leisten, da sie
Mitglieder einer besonderen Nation seien imd von einem Messias
träumen, der ihr eigenes Reich wiederherstellen solle. Es wurde
eine vermittelnde I/5sung beantragt : Nur solche Juden sollen zum
bürgerlichen Eide zugelassen werden, die ein von den Gemeinden
ausgestelltes Zeugnis über ihre gute Aufführung vorweisen, auf
jede nationale Absonderimg verzichten und die Verpflichtung
übernehmen, sich der helvetischen Verfassung zu unterwerfen.
Aber auch in dieser Form wurde der Antrag von den Kammern
abgelehnt, xmd das Direktorium erhielt auf seine Anfrage folgende
Antwort : Die Frage wegen des von den Juden zu leistenden bürger-
lichen Eides ist bis zur eingehenderen Behandlung in einer
eigenen Kommission zu vertagen.
Im Februar 1799 unterbreitete die Kommission das von ihr
gesammelte Material den Kammern. Es enthielt die Antworten
der französischen tind deutschen Rabbiner sowie die der schwei-
zerischen Juden auf die an sie gerichteten Rundfragen. Die Ant-
worten lauteten dahin, daß der jüdischen Religion jeder Separa-
tismus fem sei und daß sie ihre Bekenner verpflichte, sich den
Gesetzen ihrer Wirtsländer zu unterwerfen. Anläßlich dieser
Denkschrift entspannen sich in den vier Sitzungen der damals in
lytizern tagenden Kammer (6., 12. bis 13. Februar und 6. März)
stürmische Debatten. Der Führer der Emanzipationsanhänger,
Secretan sagte, daß es nicht angehe, die Voreingenommenheit
der ungebÜdeten Schichten des Volkes gegen die Juden mit in
Rechnung zu ziehen. ,',Wir vertreten hier die Interessen der Auf-
klärung und der Vernunft und nicht die der Vorurteile des
Volkes." Der Gegner der Emanzipation, Elmliger, schilderte in
düsteren Farben das Büd einer zukünftigen Schweiz, in der sich
die Juden der Gleichberechtigung erfreuen. Die beste Lösung der
Judenfrage wäre es, sagte er, sämtliche Juden zu Napoleon
Bonaparte zu schicken, damit er sie in Palästina ansiedele (es
war dies die Zeit des syrisch-ägyptischen Feldzuges und des
bonapartischen Aufrufes an die palästinischen Juden). Nach
176
längeren Debatten lehnte die Kammer den Antrag wegen der
jüdischen Gleichberechtigung mit einer geringen Mehrheit ab.
Das schweizerische Parlament erwies sich auf diese Weise bei
weitem konservativer als die Regierung. Das Direktorium,
welches für unmöglich hielt, die Juden in ihrer früheren recht-
losen Stellung zu belassen, sorgte wenigstens dafür, daß ihre
Lage teüweise verbessert wurde: es stellte die Juden der
„Ansiedelungszone" den ausländischen gleich. Fürderhin durften
die Juden nicht nur in den zwei Siedelungen, sondern auf dem
gesamten Gebiet des Badischen Kreises wohnen und auch un-
bewegliche Güter erwerben. Aber die im mittelalterlichen Geiste
erzogene christliche Bevölkerung des Kantonä konnte sich auch
mit diesen unbedeutenden Erleichterungen nicht abfinden. Im
September 1802 plünderte eine Menge wüder Gesellen während
der jüdischen Feiertage die Wohnungen vieler Juden in Endingen
und lycngnau. Allem Anscheine nach standen diese Unruhen im
Zusammenhange mit der vorübergehenden Räumung der schwei-
zerischen Kantone durch die französischen Truppen, die den
unaufhörlichen Parteikämpfen nunmehr keinen Einhalt bieten
konnten. Kurz darauf aber kehrten die französischen Truppen
zurück, um den von Napoleon geplanten Staatsstreich- mit
Waffengewalt zu unterstützen.
Durch die sogenannte Mediationsakte vom Jahre 1803 geriet
die helvetische Republik in eine engere Abhängigkeit von Frank-
reich; andererseits wurde die alte eidgenössische Einrichtung
wiederhergestellt. Jeder Kanton erhielt volle Autonomie in-
bezug auf die Regelung seiner inneren Angelegenheiten. Die
Juden gerieten unter die unmittelbare Botmäßigkeit des Kantons
Aargau, dem der frühere Bezirk Baden, die jüdische „An-
siedelungszone", angegliedert wurde. Im selben Jahre wandten
sie sich an den Bundesrat der Eidgenossenschaft mit einem Ge-
such, in dem sie sich um die Gleichstellung in den Rechten
mit der christlichen Bevölkerung bewarben. Das Gesuch
wurde von dem allmächtigen französischen General Ney unter-
stützt. Als aber der Bundesrat das Gesuch der Regierung des
Kantons Aargau zur Beschlußfassung unterbreitete, erhielt er
die Antwort, daß der neuen Verfassung zufolge die Kantonal-
behörden ein Eingreifen der Zentralregierung in ihre inneren An-
gelegenheiten nicht zulassen können. Daraufhin arbeitete die
la Dubnow, G«sdiichte der Joden I I77
Kantonalregierung selber einen Gesetzentwurf aus, der auf die
Verbesserung der I^age der Juden im Aargau hinzielte, und unter-
breitete ihn dem Kantonalrat zur Behandlung. Aber auch diesen
gemäßigten Gesetzentwurf, der die im Kanton während eines
Zeitraumes von night weniger als 26 Jahren ansässigen Juden als
gleichberechtigt anerkannt wissen wollte, fand der Kantonalrat
zu liberal (1805). Nach langen Vorbereitungen wurde ein neues
Gesetz über die Juden des Kantons Aargau ausgearbeitet, das die
denkbar geringfügigsten Konzessionen an den fortschrittlichen
Geist der Zeit enthielt (5. Mai 1809). Dieses Gesetz, das schließ-
lich angenommen wurde, gab den Juden, wie ein schweizerischer
Geschichtschreiber meldet, „alle Pflichten, aber keine Rechte
der Kantonbürger". Die Ansiedelungszone blieb aufrechter-
halten, aber das Gesetz gewährte in großmütiger Weise allen
Juden, die sich über ihre treffliche Sittlichkeit, ihr Wissen und
ihren wirtschaftlichen Eifer ausweisen konnten, das Recht, sich
in allen anderen Kantonen mit Ausnahme von Endingen und
I/engnau niederzulassen. In Wirklichkeit aber war es den Juden,
die in ihrer Freizügigkeit und Berufswahl durch diese selbe
Regierung beschränkt waren, unmöglich, derartige Belege zu
liefern. Nur das Hausieren blieb den Juden freigestellt: der arme
Bewohner der Ansiedelungszone schwang sich jeden Sonntag
seinen mit Waren beladenen Korb auf die Schultern, ging
auf die Wanderung durch die Dörfer der Bezirke Endingen und
I/engnau, wo er seine Waren absetzte, und kehrte Freitag abendö
nach Hause zurück, um den Sabbattag im Familienkreise zu
verbringen. Andererseits wiederum blieb im Gesetz die alte
pharaonische Maßregel aufrechterhalten : es war den Juden ver-
boten, ohne die Genehmigung der Kantonalbehörden eine Ehe
einzugehen. Eine solche Genehmigung wurde nur aujF Gnmd
eines Zeugnisses über den Beruf des Aspiranten und die Sicher-
heit seiner materiellen Lage bewilligt.
Den Schweizern gelang es, auf diese Weise ihre eigenartige
Gesetzgebung inbezug auf die Juden nach einigen vorüber-
gehenden Konzessionen noch vor dem Ausbruche der allgemeinen
europäischen Reaktion wiederherzustellen. Und auch in der
Folge widersetzte sich dieses freie Völkchen auf das Hartnäckigste
allen Versuchen der Bef reitmg des auf sein Gebiet verschlagenen
winzigen Häufleins Juden.
178
Drittes Kapitel
Emanzipationstendenzen und kultureller Umschwung in
Deutschland
§ 28. Allgemeine Lage. Wenn in der inneren Politik der
deutschen Staaten sich eine gewisse Wandlung vollzog, so ge-
schah es nicht unter dem Einflüsse der französischen Revolution,
sondern unter dem Drucke des napoleonischen Kaiserreichs.
Die französischen Ideen hatten einen gewissen Teil der deutschen
Gesellschaft bezwungen, die französischen Waffen besiegten
aber die deutschen Machthaber imd trieben sie auf die Bahn
der Reformen. Das Jahr 1806 kennzeichnet den historischen
Augenblick des innerpolitischen Umschwungs; es ist das Jahr
der Zerschmetterung Preußens durch Napoleon, das Jahr der
Gründung des Rheinbundes und der Einsetzung des franzö-
sischen Protektorats über einen erheblichen Teil der deutschen
Lande ... Das Schicksal der deutschen Juden hängt mit diesem
Umschwünge aufs engste zusammen. Zwischen den Jahren 1789
und 1806 liegt die düstere Periode der Rechtlosigkeit im Geiste
der alten Staatsordnung; einzelne Lichtpirnkte — die ersten
Emanzipationsversuche — tauchen hier und da in der kurzen
Zeitspanne zwischen 1807 bis 18 13 auf.
Die Einflüsse der großen Revolution und das Beispiel der durch
sie erzeugten Emanzipation der französischen Juden berührten
die deutschen Regierungskreise nur insofern, als in eiiligen
Staaten zur kanzleimäßigen Behandlung der jüdischen Frage ge-
schritten wurde: Kommissionen wurden eingesetzt, uni. Beamte
heckten die denkbar gemäßigtsten Reformentwürfe aus; aber
dieses ganze Kanzleigeschreibsel führte zu keinem nennenswerten
Ergebnis. Die Rechtlosigkeit der Juden war mit dem gesamten
Regierungsapparate so eng verwachsen, daß sie nur durch eine
gründliche Erschüttenmg der ganzen alten Gesellschaftsordnung
beseitigt werden konnte. Eine bei weitem tiefer greifende
"• 179
Gärung rief die Befreiungsepoche bei den Unterdrückten
selbst aus. Die aufgeklärte jüdische Gesellschaft Deutsch-
lands, die sich die europäische Kultuj: zu eigen machte, lernte für
ihre Gleichberechtigung kämpfen imd bürgerUche Rechte im
Namen der unwiderruflichen „Menschenrechte" fordern. Als
aber alle diese Anstrengungen an der Hartnäckigkeit der ab-
solutistischen deutschen Regierungen zerschellten, wandten sich
die Kämpfer an die internationalen Organisationen: sie pochten
an die Türen all jener europäischen Kongresse imd diplomatischen
Konferenzen, die am Ende des XVIII. und zu Beginn des XIX.
Jahrhunderts häufig zusammentraten, als infolge der napoleoni-
schen Klriege die Landkarte Europas einer Revision unterworfen
wuide.
Dem Kongresse von Rastatt (1797 — 1798), der einberufen war,
um die französischen Errungenschaften auf dem linken Rhein-
ufer imd im nördlichen Italien zu festigen, wurden zwei Denk-
schriften über die jüdische Frage unterbreitet. Diese Denk-
schriften wandten sich hauptsächlich an die deutschen und
österreichischen Gesandten. Der anonyme Verfasser einer dieser
Broschüren 1) stellt den Mitgliedern des Kongresses die Not-
wendigkeit vor Augen, ein treues und arbeitsames Volk in seinen
Menschheitsrechten wiederherzustellen, ein Volk, das den unter-
drückenden Staat nicht lieben kann. Den verstorbenen Kaiser
Joseph II. von Österreich stellt er dem ,, guten" König von
Preußen und den übrigen Herrschern Deutschlands als Muster
hin. Die Juden müssen vom Handel abgelenkt werden, denn der
Handel sei unfähig, eine vornehme Nation zu schaffen; er schaffe
nur Engländer (Tribut an den Engländerhaß jener Zeit);
man müsse sie zum Ackerbau heranziehen, für ihre Kinder
deutsche Schulen gründen, und ihre Absonderung beseitigen,
welche letztere unter anderem „in ihrer häßlichen Mimdart"
(dem Jargon) wurzele. Dann werden sämtliche Vorurteüe gegen die
Juden von selber schwinden. Als Verteidiger der Judenheit trat
in einer anderen Denkschrift der deutsche Rechtsgelehrte
Christian Grund^) auf, den die Berliner Juden vorgeschoben
*) „Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland, an den Kon-
greß von Rastatt gerichtet". 1798.
*) „Ist eine bürgerliche Gleichstellung der Juden in Deutschland dem Rechte
and der Klugheit gemäß?" Regensburg 1798.
180
hatten. Allein die Stimme der Verfechtet der Gleichberechtigung
verlor sich im I^ärm des Rastatter Kongresses, dessen Tätigkeit
durch einen neuen Ausbruch des österreichisch-französischen
Elrieges unterbrochen wurde.
Als im Jahre 1801, nach dem Frieden von I^uneville, eine aus
Vertretern der deutschen Staaten bestehende „Reichsdelegation'*
zwecks neuer Verteilung der durch Napoleon zerstückelten
deutschen Gebiete in Regensburg tagte, wurde dieser Versamm-
lung eine Bittschrift „im Namen der deutschen Judenschaft"
von dem genannten Grund vorgelegt^). In dieser Bittschrift
wurde auf die gedrückte Lage der deutschen Juden hingewiesen,
die teilweise in Ghettos zusammengepfercht, teilweise durch den
lyeibzoll entehrt, teil^veise von einem Netz von Handelsein-
schränkungen umgarnt seien. Die Bittsteller ersuchen die Reichs-
delegation, die Juden von ihrem harten Joch zu befreien und
ihnen staatsbürgerliche Rechte zu gewähren, um „dieses Volk
mit der deutschen Nation zu verschmelzen". Die Bittschrift fand
bei dem böhmischen Gesandten Unterstützung, führte aber nicht
zum gewünschten Erfolg : die Vertreter des auseinanderfallenden
Reiches, die ausschließlich um die Heüung der von Napoleon ge-
schlagenen Wunden besorgt waren, konnten in jenem Augenblick
an die Juden nicht denken. Den gleichen Mißerfolg erlebte bei den
regierenden Kreisen Deutschlands der vorher veröffentlichte
Aufruf des jungen jüdischen Rechtsgelehrten aus Frankreich,
Michael Berr, der sich an „das Gerechtigkeitsgefühl der Völker
und der Könige" wandte („Appel ä la justice des nations et
des rois, ou adresse d'un citoyen frangais au Congrös de Ivune-
ville", 1801). Michael Berr, ein Sohn des Isaak iSerr, des Kämp-
fers für die jüdische Emanzipation in Frankreich, gehörte
bereits der neuen vom Geiste der Assimilation erfüllten Gene-
ration an. In seinem Aufrufe erklärte er selber, daß ,, er sich mehr
als Franzose, denn als Jude fühlt" und dessenungeachtet sich für
berechtigt hält, „im Namen aller Bekenner der jüdischen Religion
in Europa" aufzutreten. Sein Aufruf ist vom Stolz eines in der
Gegenwart lebenden Franzosen und eines in der Vergangenheit
lebenden Juden erfüllt. „Nicht als Mitglied einer unterdrückten
^) „Bittschrift der Juden in Deutschland an die Repräsentanten unserer
Nation um das deutsche Bürgerrecht von Hofrat Grund in Regensburg"
1802.
181
Klasse", heißt es im Aufrufe, „appelliere ich an das Gerechtig-
keitsgefühl der Könige m»d Völker, denn ich darf mit lauter
Stimme sagen; die französischen Juden haben den Zutritt zum
staatsbürgerlichen Leben erhalten. Als französischer Bürger, als
Freund der Menschheit trete ich zum Schutze der gerechten
Sache aller derjenigen auf, die ihre Laster dem grausamen Hasse
ihrer Feinde, ihre Tugenden aber nur sich selber zu verdanken
haben . . . AUen Schrecknissen, Foltern und Todesqualen zum
Trotz widerstanden sie dem Strome der Zeit, der in seinem Laufe
Völker, Religionen und Jahrhunderte wegfegte. Während von
Rom und Griechenland nur glänzende Erinnerungen geblieben
sind, lebt noch dieses, einige Millionen Seelen zählende Volk,
das durch dreißig Jahrhtmderte selbständigen Lebens und sech-
zehn Jahrhunderte verschiedenster Verfolgungen hindurchge-
gangen ist." Der Verfasser bittet, dfeser Nation, „die einzig
und allein durch das Mißgeschick erniedrigt ist", mehr Auf-
merksamkeit zu schenken und ihre Rolle während der fran-
zösischen Revolution und der Schreckensherrschaft zu würdigen,
wo man Juden weder in den Reihen der Terroristen^) noch in
denen der Vendeer, die „Feuer und Schwert in einen Teü des
Vaterlandes gebracht haben", finden konnte. „Möge das neue
Jahrhundert", heißt es zum Schluß, „mit diesem erhabenen
Akt der Befreiung der Juden von Unterdrückung und Demü-
tigung, mit dem Akt der vollen bürgerlichen Gleichstellung der
Juden in ganz Europa, die in Frankreich und Holland schon
durchgeführt ist, eröffnet werden."
Aber das Morgenrot des XIX. Jahrhunderts ging unter dem
blutigen Zeichen der napoleonischen Kriege auf. Die „Könige
und Völker" konnten in jenem Augenblick weniger denn je an
die Judenemanzipation denken, und nur die Klrise des deutschen.
Reiches und die Unterwerfung vieler seiner Teüe unter das Pro-
tektorat Napoleons schaffen einige Jahre darauf den Boden für
das fremdländische Gewächs — die Gleichberechtigung der Juden.
Wie sich der Übergang der Juden vom Zustande der bürgerlichen
Versklavung zu dem der bürgerlichen Freiheit oder Halbfreiheit
gestaltete, wird uns ein Überblick ihres Lebens in den einzelnen
Staaten Deutschlands, und insbesondere im Hauptstaate des
letzteren, in Preußen, lehren.
*) Diese Behauptting ist falsch. VgL oben § 19.
182
§ 29- Preußen: Rechtlosigkeit und „Reformentwürfe" . In
den Dezembertagen des Jahres 1789, als in der Pariser
Nationalversammlung die Frage von der Anerkennung der
Juden als „aktive Staatsbürger" leidenschaftlich erörtert wurde,
versuchten preoßische Beamte zu Berlin die jüdische Frage in
ihren Kanzleien zu lösen. Die Früchte der Arbeit der vom König
Friedrich Wilhelm II. eingesetzten speziellen Kommission zur
Milderung einiger Härten des judenfeindlichen „Reglements"
seines Vorgängers, des „großen" Friedrich (siehe oben § 4), ge-
langten in diesem Augenblick zur Reife. Nach zweijährigen Be-
trachtungen und Untersuchungen verfaßte die Regierungs-
kommission einen Gesetzentwiirf zur „Verbesserung der jü-
dischen Lage", und das Generaldirektorium unterbreitete es dem
Könige. Die alte Stufenleiter der „geduldeten" — und „Schutz-
juden", deren ganzes Leben in einem Netze demütigender
Rechtseinschränkungen verstrickt war, wurde von diesem Re-
formentwurfe nicht im geringsten angetastet. Aber er gewährte
auch einige eigentümliche Erleichterungen und Zugeständnisse:
die solidarische Haftung der Gemeindemitglieder bei der Ent-
richtung der Abgaben wurde abgeschafft, jedoch mit Bei-
behaltung aller ausschließlichen die jüdische Bevölkerung
ruinierenden speziellen Abgaben und Steuern; den Juden wurde
eine gewisse Handelsfreiheit gewährt, aber ntu: den Reichen und
nur an solchen Orten, wo keine genügende Anzahl christlicher
Kaufleute vorhanden war. Die Beschäftigung mit Ackerbau
wurde ihnen gestattet, aber der Ankauf bebauter Grundstücke
blieb nach wie vor unter strengem Verbot; Handwerke wurden
ihnen freigestellt, doch nur solche, für die es keine Zünfte gab.
Als Entgelt für alle diese Wohltaten wurde die Germanisierung
sämtlicher in Deutschland ansässiger Juden verlangt : sie sollten
im öffentlichen Leben sich der deutschen Sprache bedienen und
in ihren Schulen christliche Lehrkräfte anstellen; dann und nur
dann würde die jüdische Jugend mit der Zeit die große Ehre er-
leben, zum Militärdienst zugelassen zu werden. Zum Schlüsse
stellten es die Verfasser des Entwurfes den Juden in großmütiger
Weise anheim, sich nicht „Juden", sondern „Mosaisten" oder
,,Deisten" zu nennen; einige aufgeklärte Berliner hatten sich
nämlich darum bemüht. Als das Generaldirektorium diesen Ent-
wurf dem Könige überreichte, fügte es folgende Bemerkung
183
hinzu: „Übrigens ist es höchst wahrscheinlich, daß in der dritten
Generation, nach etwa 60 — 70 Jahren, die Juden in allen bis auf
wenige, dem Staat ganz unschädliche und gleichgültige Religions-
differenzen, den Christen durchaus gleich sein werden, und alsdann
werden auch die noch bis dahin nötigen Einschränkungen
gänzlich aufgehoben werden können."
Zu Beginn des Jahres 1790 wurde dieser Kanzleientwurf den
von der jüdischen Gemeinde zu Berlin und den anderen Städten
bevollmächtigten „Delegierten" zur Kenntnisnahme vorgelegt,
auf deren Initiative hin die ganze Reform unternommen worden
war. So wenig nun die jüdischen Ver^eter von der reaktionären
preußischen Regierung erwarteten, so mußten sie doch
von einem Gesetzentwurf, der den Juden alle möglichen Be-
günstigungen erst im dritten Geschlechte in Aussicht stellte,
aber die schmähliche Entrechtung in der Gegenwart nicht an-
tastete, schmerzlich enttäuscht werden. Und nun gaben im
Februar 1790 der bekannte Berliner David Friedländer, ein
Schüler Mendelssohns, und andere Bevollmächtigte dem General-
direktorium eine Erklärung ab, daß sie von ihren Gemeinden
keine Vollmachten zur Übernahme irgendwelcher Verpflich-
tungen ohne die gründliche Aufräumtmg mit den bisherigen
Rechtseinschränkungen erhalten hätten. Sie bitten um die Ab-
schaffung aller Ausnahmegesetze, insbesondere auf dem Gebiete
des Handels und des Gewerbes, und erklären sich mit den
strengsten Maßregeln gegen jeden unehrlichen Schacher und
Wucher einverstanden. Die Erklärung schließt mit folgenden
feierlichen, der Feder Friedländers entstammenden und an die
Regierung gerichteten Sätzen: „Es ist Zeit, daß tms die Fesseln
abgenommen werden, die uns so lange beschweren. Wenigstens
getrösten wir uns, daß Eine Hohe Landesregienmg Ihrerseits
Alles anwenden wird, den Unterschied, den die Verschiedenheit
der Religion festgestellt hat, so viel wie möglich in Vergessenheit
zu bringen. Dies kann aber nicht anders geschehen, als wenn wir
in vollkommene Gleichheit mit anderen Untertanen gesetzt
werden; wenn die Landesgesetze, bey Erwähnung des Namens
Jude, seiner nüt keiner Wegwerfung, oder auch nur mit Miß-
trauen in seine Moralität gedenken; mit einem Worte: wenn Eine
Hohe Landesregierung es nicht unter Ihrer Würde hält, den
Juden nicht allein mehr Nahrungsquellen zu eröffnen, sondern
184
auch ihre bürgerliche Ehre wiederherzustellen . . . Sollte aber die
allgerechte Vorsehung beschlossen haben, unsere Hoffnung zu
täuschen, so müssen wir mit tiefgekränktem Herzen einen
Wunsch äußern — einen schrecklichen Wunsch — , in den aber
doch alle Mitglieder der Colonie einstimmig werden, nehmlich
den, daß Bw. Königl. Majestät geruhen möchten, uns in der
alten Verfassung zu lassen, ob wir gleich voraussehen,
daß die Bürde dann von Tage zu Tage unerträglicher werden
wird . . /'
Dies war eine stolze und schöne Kundgebung. Die Vertreter
der Unterdrückten wiesen das von den Unterdrückern hin-
geworfene Almosen zurück. Das unter dem Uniformrock ver-
stockte Herz der Beamten des Generaldirektoriums blieb jedoch
von der Tragik dieses Verzichts vollständig unberührt. Ein
Mitglied der „Reformkommission" sagte sogar zu der Antwort
der jüdischen Delegierten, es sei nur eine spitzfindige Sophistik
und schöne, anmutige Deklamation . . . Die Seufzer der Ent-
rechteten und ihre Worte, die von Selbstbewußtsein und Würde
zeugten, muteten also die preußische Bureaukratie wie eine
Deklamation an. Der „Reformentwurf" wurde vom Beamten-
tum in aller Ruhe begraben, und während eines Zeitraumes von
zwei Jahren kam die jüdische Frage nicht mehr aufs Tapet.
Die alte Ordnung blieb in ihrer ganzen Häßlichkeit bestehen.
Noch im Jahre 1790 unterschrieb der König einen Erlaß über die
Normierung der jüdischen Bevölkerung in einem ihrer Haupt-
zentren, in Breslau. Bisher waren die jüdischen Einwohner
Breslaus in Kategorien nach folgender absteigender Stufen-
leiter ihres Geduldetwerdens eingeteüt: Generalprivilegierte,
Privilegierte, Geduldete, Fixentristen (von fix-entree: Zuge-
reiste, die bei ihrer Ankunft eine bestimmte Gebühr zu
entrichten hatten), Schutzgenossen, Angestellte, Bediente und
Fremde. Die Preußische Regierung erfuhr jedoch zu ihrem nicht
geringen Schrecken, daß „eine große Anzahl (Juden) unter aller-
lei Vorwand seit einiger Zeit daselbst sich eingeschlichen haben,
die zum Schaden der christlichen Kaufleute verschiedene ihnen
nicht zustehende Gewerbe getrieben". So heißt es in der könig-
lichen Verordnung. Aus diesem Grunde setzt der König eine ge-
naue Norm für die jüdische Bevölkenmg von Breslau fest, und
zwar auf 160 Familien. Die den genannten Kategorien zuge-
185
wiesenen Familienhäupter werden als das gesetzliche Wohnrecht
genießende „Schutzjuden" anerkannt; was darüber hinausgeht,
kann nur lebenslänglich geduldet werden. Aber auch diese vom
Schicksal begünstigten Juden, die innerhalb der festgesetzten
Norm verbUeben, unterlagen pharaonischen Einschränktmgen
im Punkte der natürlichen Vermehrung, damit die Norm nicht
überschritten werde. Jedem Schutzjuden stand es frei, nur einen
einzigen seiner Söhne zu verheiraten, denjenigen nämlich, der
seine „Famüiennummer" erbte; was die änderen Söhne betrifft,
so durften sie nur unter den folgenden zwei Bedingungen ver-
heiratet werden: wenn sie aus Breslau nach einem anderen Orte
übersiedelten oder wenn die Braut über eine vakante Nummer von
den i6o verfügte. Es folgen des ferneren zahlreiche subtile Vor-
schriften, die die Schwankungen des Familienbestandes inner-
halb der Grenzen der fatalen ,,Norm", die vorübergehende Zu-
lassung „überzähliger" Juden, die speziellen Abgaben, den
Tätigkeitsbereich der einem besonderen Polizeikommsissar unter-
stellten Gemeindeältesten u. dgl. m. zu regeln suchen. Dieser
königliche Erlaß wurde zu jener Zeit als recht „müde" ange-
sehen, da er einige Härten im Reglement Friedrichs II. beseitigte,
und der König hielt sich für berechtigt, in der Einleitung zu
seinem Erlaß die Sorge um „das Glück und die Wohlfahrt eines
jeden Unserer Unterthanen", zu denen „auch die zur jüdischen
Religion sich Bekennenden" gehören, hervorzuheben. Aber gleich
darauf macht er den Vorbehalt: „Ob Wir nun zwar wünschen,
diese Nation den übrigen Staatsbürgern völlig gleich zu machen,
und sie an allen Rechten der Bürger theilnehmen zu lassen,
so stehen diesem Unserm Vorsatze doch Hindernisse entgegen,
welche zum Teil in ihren reUgiösen Gebräuchen, zum Teü in
ihrer ganzen Verfassung liegen, und die gänzHche Ausführung,
wenigstens vor der Hand, noch unmöglich machen."
So war die Hölle des jüdischen Lebens in Preußen mit den
guten Absichten des Königs gepflastert, was aber natürlich den
Juden das Dasein nicht leichter machte. Und doch war Friedrich
Wühelm II. besser als seine Minister, die Reaktionäre Wällner
und Bischoffswerder. Selbst dieser erbärmliche Reformentwurf
wurde vom Generaldirektorium mit einem Gefühl der Genug-
tutmg im Kanzleiarchiv begraben; aber der König selbst er-
innerte sich seiner nach zwei Jahren. Ob hier die Proklamienmg
i86
der Judenemanzipation in Frankreich (September 1791) oder
irgendein anderer Umstand im Spiele war, ist unbekannt,
wir wissen nur, daß der König im Januar 1792 das General-
direktorium beauftragte, die Arbeiten in der Judenfrage wieder-
aufzunehmen. Wiederum wurde ein „Reformentwurf" mit er-
bärmlichen Erleichterungen ausgearbeitet. Dieser Entwurf
wurde von der gesetzgebenden Kommission gutgeheißen und
harrte nur der Bestätigimg durch den König. Aber in diesem
Augenblick entbrannte der Elrieg mit dem revolutionären Frank-
reich, und der König befahl, die diesbezüglichen Arbeiten bis zur
Beendigung des Krieges zu verschieben. Bis dahin sollte die
Regienmg die Durchführung der Sache, „die in anderen Ländern
längst eingeführt ist", vorbereiten (21. Mai). Der Aufschub
dauerte 20 Jahre, während welcher Preußen mehr als einen
Krieg zu führen hatte.
Unterdessen bekam Preußen durch die zweite und dritte
Teüung Polens (1793, 1795) neue Gebiete mit einer jüdischen
Bevölkerung. Zu der früheren polnischen Provinz, die West-
preußen genannt wurde, kamen Süd- und Neuostpreußen —
die Bezirke Posen, Kaiisch, Warschau, Plozk und Bialystok
hinzu. Es galt also diese ganze bunte Jüdische Masse der an-
gegliederten Gebiete, die es noch nicht gewohnt war, mit einem
jeder Familie aufgeklebten Etikette oder Nummer zu leben,
unter das preußische Kasemenreglement zu bringen. Dies er-
wies sich als undurchführbar. Die Regierung mußte eine be-
sondere, den lokalen Bedingungen angepaßte jüdische Verfassung
ausarbeiten, „Das Generalreglement für die Juden von Süd- und
Neuostpreußen" (17. Aprü 1797) gewährte das Wohnrecht an den
früheren Orten nur deiijenigen Juden, die im Augenblicke der
Angliedertmg dieser Provinzen an Pretißen dort dauernd an-
sässig waren und bestimmte Berufe ausübten; solche aber, die
keinen bestimmten Beruf und keine dauernde Seßhaftigkeit
nachweisen konnten, mußten zu einer festgesetzten Frist das
Land verlassen. Die im Lande Zurückgebliebenen mußten
registriert und mit Pässen oder ,, Schutzbriefen" versehen werden.
Die Abgaben erfuhren eine erhebliche Steigertmg. Anstatt der
polnischen „Kopfsteuer" wurden die verschiedensten Steuern
eingeführt: Steuer für „Schutz", für die Eheerlaubnis usw. Ehen
waren nur Männern von über 25 Jahren gestattet, die ein sicheres
187
Einkommen oder Vennögen hatten. Die rabbinische Gemeinde-
selbstverwaltung wurde auf das Gebiet der religiösen Interessen
beschränkt; das rabbinische Gerichtswesen wurde abgeschafft;
in den Schulen wurden die deutsche und polnische Sprache
als obligatorisch eingeführt.
Dieser gesetzgeberische Akt, der letzte in der Regierungszeit
des Königs Friedrich Wilhelm II., wurde damals für „liberal"
gehalten. Der Rang eines „geduldeten" und Schutzjuden war
die höchste Stufe, die ein Jude erreichen konnte. In demselben
Zustande verharrten die Dinge auch im er^en Dezennium der
Regierung Friedrich Wilhelms III. (1797 — 1840.)
§ 30. Der Versuch eines religiösen Kompromisses im Kampfe
für die Gleichberechtigung; die judenfeindliche Literatur. Das
auf der jüdischen Masse lastende Regime der Entrechtung wurde
von der jüdischen Intelligenz, die in ihrem Denken und ihrer
I^ebensweise der gebildeten christlichen Gesellschaft näherstand
als den jüdischen Massen, doppelt schwer und schmerzlich empfun-
den. Die germanisierten Spitzen der BerHner Judenheit erblickten
darin, daß man sie als einen Bestandteil der „ungebildeten" Masse
betrachtete, indem man sie derselben bürgerlichen Versklavung
unterwarf, eine persönliche Beleidigung. Die Vertreter dieser
Kreise bemühten sich, bei der Regienmg Verständnis für die
tragische I^age der gebildeten Halbdeutschen wachzurufen, aber
alle ihre Anstrengungen blieben fruchtlos. In seiner Antwort auf
eines der von den Berliner Gemeindeältesten — Itzig, Fried-
länder u. a. — eingereichten Gesuche, legte das Generaldirek-
torium folgende prinzipielle Stellungnahme zur jüdischen Frage
nieder (1798) : die Regierung sei sich dessen wohl bewußt, daß die
Gesetzgebung über die Juden eine ,, gewisse Härte" enthalte und
daß man „zur Ehre der Menschheit" einige Rechtsbeschrän-
kungen aufheben sollte; die Regierung könne jedoch bei ihrem
besten Wülen nicht nach ihrer besseren Einsicht handeln, da
diese Gesetze mit einem ganzen pohtischen Sj'-stem in Zusammen-
hang stehen, dessen Aufgabe es sei, die christliche Bevölkerung
vor all jenen ,,Inkonvenienzen zu sichern" und Unannehmlich-
keiten zu schützen, die mit einer etwaigen Erteilung bürgerlicher
Rechte an die „jüdische Nation" angesichts ihrer Absonderungs-
tendenzen, ihres „Nationalhasses", der Hierarchie und der Art
ihrer Erziehung, entstehen würden. Die Regierung sehe sich
188
daher genötigt, sdbst auf die Gefahr hin, daß mit dem einfachen
Volke auch die Gebildeten zu leiden haben, vorerst alles beim
alten zu lassen, bis „eine allgemeine Verbesserung erfolgt", dann
erst werde man zu einer „soliden Reform" greifen, um die Juden
„zur vollständigen Gleichsetzung mit den übrigen Staatsbürgern
zu qualifizieren".
Mit einem derartigen Zustande konnten sich aber die assi-
milierten Juden Berlins unmöglich abfinden. In diesen Kreisen
begann ein niederträchtiger Gedanke heranzureifen : wenn es un-
möglich sei, die Gleichberechtigung für das gesamte Volk zu er-
reichen, so müsse man sie eben für alle jene „Würdigen" zu er-
ringen suchen, die der nationalen Absonderung imd den „reli-
giösen Vorurteilen" bereits entsagt haben. Und nun beschloß
eine Gruppe von Personen, an deren Spitze der Vertreter der
Berliner Gemeinde, der Schüler Mendelssohns, David Friedländer,
stand, sich an die öffentliche Meinung zu wenden. Zu Beginn des
Jahres 1799 erschien in Berlin eine anonyme Broschüre imter
dem Titel: „Sendschreiben an Seine Hoch würden, Herrn Ober-
konsistorialrat und Probst Teller zu Berlin, von einigen Haus-
vätern jüdischer Religion." Pastor Teller war damals in Berlin
als Vertreter eines liberalen Protestantismus bekannt, und die
Verfasser des „Sendschreibens" wandten sich an ihn mit der
Bitte, die sie aufs tiefste erregende Gewissensfrage zu lösen. Die
anonymen Autcren bekennen etwa folgendes: Wir haben schon
längst eine bestimmte Position zwischen den beiden Extremen
eingenommen : dem blinden Glauben der Anhänger des Talmuds
imd dem modernen Unglauben der Jugend; wir anerkennen die
Grundwahrheiten einer jeden Religion: die Einheit Gottes, die
Unsterbhchkeit der Seele und daä Streben nach sittlicher Voll-
kommenheit. Moses und Christus haben diese Prinzipien ihren
Religionen zugrunde gelegt, dann aber sind beide Religionen von
ihren Urgründen abgewichen: das Judentum verfiel in den
rituellen Formah'smus, das Christentum — in mystischen Dog-
matismus. Die jüdischen Gebräuche hindern uns wirklich an der
Erfüllung unserer Bürgerpfhchten, und wir müssen, dem Glück
unserer Nachkommen zuliebe, das Joch der Riten vor ims werfen.
Wir können aber auch nicht ohne weiteres zum Christentum über-
treten, weil uns dabei seine Dogmen, seine ,, Geschichtswahr-
heiten", die imseren „Vernunftwahrheiten" widersprechen, im
189
Wege sind. Wir können z. B. unmöglich ohne Heuchelei das
Dogma vom Sohne Gottes im kirchlichen Sinne hinnehmen.
„Wir sind nunmehr am Ziele, ehrwürdiger Menschenfreund,"
wenden sich die Verfasser an Teller, „wo wir Sie dringend auf-
fordern müssen, uns Ihren Rat nicht zu versagen. Pflicht und
Gewissen fordern von uns, daß wir unseren bürgerlichen Zustand
durch Reinigung unserer religiösen Verfassimg verbessern, aber
auch schlechterdings nicht auf Kosten der Wahrheit und der
Tugend unsere Glückseligkeit erkaufen oder erschleichen sollen.
Wir sehen, daß viele aus unserer Mitte sich leichtsinnig in den
Schoß der Kirche werfen : ein paar Worte erretten sie vor Recht-
losigkeit; die Vermehrung solcher Neophyten kann aber einen
verständigen Menschen nicht freuen . . , Belehren Sie uns, edler
Tugendfreund: weim wir uns entschließen sollten, die große
christliche protestantische Gesellschaft zum Zufluchtsorte zu
erwählen, welches öffentliche Bekenntnis würden Sie, würden
die Männer, die mit Ihnen in dem ehrwürdigen Rate sitzen, von
uns fordern?" —
„. . . Unsere Zahl ist sehr klein, aber wir hoffen, daß noch eine
namhafte Zahl von Hausvätern unserem Beispiele folgen wird.
Wir leugnen nicht, „daß unser Ziel mit dahin geht, durch unsere
Erklärung die Rechte von Staatsbürgern zu erlangen". Aber wir
fürchten, daß wir unser Ziel nicht erreichen, daß wir nur „ein
Mittelding zwischen Juden und Christen" bleiben und in die
christliche Gesellschaft nicht aufgenommen werden. „Schreibt
die Religion der Protestanten gewisse Zeremonien vor, so können
wir uns diesen als bloßen Formen, die zur Aufnahme in eine Ge-
sellschaft erfordert werden, wohl unterwerfen; wohlverstanden,
daß diese Zeremonien nur als Handlungen, als Gebräuche ge-
fordert werden, um zu beurkunden, daß das aufgenommene Mit-
glied die ewigen Wahrheiten angenommen und sich den
daraus fließenden Pflichten als Mensch und Staatsbürger unter-
wirft; nicht aber als Zeichen, daß derjenige, der sie vollzieht,
eingesteht, er nehme die Dogmen der Kirche dieser Gesellschaft
gläubig an."
Und so trafen einige Bedrängte im jüdischen Lager alle An-
stalten in das ihrer Feinde überzugehen, indem sie sich dabei
hinter verschiedene Klauseln versteckten und von den Bedrängern
nur minder demütigende Kapitulationsbedingungen zu erreichen
190
m
suchten. Für die Berliner war es kein Geheimnis, daß der Ver-
fasser des „Sendschreibens an Teller" kein anderer als David
Friedländer war, und dieser Umstand trug nur dazu bei, das In-
teresse an der BrOvSchüre zu steigern. Ein Vertreter der fort-
schrittlich gesinnten Judenheit, ein Nachfolger Mendelssohns, ein
Mitglied des jüdischen Gemeinderats zu Berlin, tritt im Namen
seiner Gesinnungsgenossen als Vermittler zwischen Judentum
und Christentum auf — welch bedeutsame Erscheinung! . . .
Teller ließ nicht lange auf sich warten. Er veröffentlichte eine
„Beantwortung des Sendschreibens einiger Hausväter jüdischer
Religion", in der er die von einer jüdischen Gruppe abgegebenen
Erklärungen über ihre I^ossagung von den Riten der jüdischen
Religion begrüßt, sich aber dann sofort als Missionar aufspielt :
Ihr seid nicht mehr gegen Christus, also seid ihr für ihn. Warum
solltet ihr nun nicht auch „das kirchliche Ansehen derer haben,
die nach seinem Namen genannt sind ? Wer vermag es zu ent-
scheiden, ob. es nicht der Plan des Ewigen sei, Sie dazu zu
brauchen? ..." Ihr sagt, ihr könnt das christliche Dogma vom
Sohne Gottes nicht annehmen, aber daß ihr „kein Mittelding
zwischen Juden und Christen" sein wollet. Um aber Christen zu
sein, müßt ihr wenigstens Taufe und Abendmahl anerkennen und
von der „Geschichtswahrheit" ausgehen, daß Christus der Stifter
der besseren moralischen Religion war . . . Ich kann auch nur
die „I^ehrmeinungen", aber nicht die „Grundlehren" frei-
stellen . . . „Dies alles ist nur mein Privaturteil. Wie viele oder
wie wenige unter meinen Mitbrüdem ihm beitreten möchten,
weiß ich nicht." Was aber die Beantwortung der Frage betrifft,
„was und wieweit von bürgerlichen Rechten und Freiheiten ein
christlicher Staat Ihnen auf solches Bekenntnis einzuräumen für
sich ratsam finden möchte — gehört für ein ganz anderes
Forum". Denn im Protestantismus ist die Kirche dem Staate
untergeordnet, und der letztere darf der einen oder anderen
Sekte, selbst einer christlichen, die Gleichberechtigung ver-
sagen.
Um diese öffentliche Erörtenmg der Kapitulation des Juden-
tums entbrannte ein heftiger und lärmender Streit. In christ-
lichen Kreisen sprach man ironisch von einer „trockenen", einer
„wasserlosen" Taufe, zu der die Juden bereit seien. Die Verfasser
des Sendschreibens wurden aufgefordert, in der einmal ein-
191
geschlagenen Richtung fortzuschreiten, bis sie die Schwelle der
Kirche erreichen. Der klerikale Professor an der Universität
Göttingen du I/Uc entrüstete sich in seinem „Brief an die jü-
dischen Verfasser" über deren philosophischen Rationalismus,
deren Glauben an den „Fortschritt" und an die falsche und aber-
witzige Idee der Menschenrechte; nach Ansicht des Professors
stammte das alles von Mendelssohn und gereiche sowohl dem
Judentum wie dem Christentum zum Schaden. Ein anderer
Verfasser kommentiert in der Broschüre ,, Moses und Christus"
wohlwollend das „den edlen Geist Mendelssohns" atmende
„Sendschreiben" und^ ermuntert die Verfasser zu weiteren
Schritten in dieser Richtung, ganz in der christlichen Gesellschaft
aufzugehen. „Ivaßt uns zusammen durch das Tor des Christen-
tums in die Religion der Vernunft treten." Auch „unser edler
Fürst" — fügt der anonyme Autor hinzu — wird daran nicht
achtlos vorübergehen.
Aus dem Dutzend der um jene Zeit anläßlich des „Send-
schreibens" in Berlin erschienenen Broschüren, verdienen die
„Briefe eines Predigers außerhalb Berlins" eine besondere Be-
achtung. Dieser „Prediger" war niemand anders als der christ-
liche Modetheologe Friedrich Schleier macher, der Ver-
fasser der „Reden über Religion", der Liebling der Berliner
jüdischen Salons, zugleich aber prinzipieller Gegner des Juden-
tums. Dem jüdischen „Sendschreiben" mißt er keine Bedeutung
bei: es sei dies einfach ein pompöser Versuch, die bürgerliche
lyage der Juden zu verbessern. Eine derartige Praktik müsse alle
diejenigen jüdischen Männer aufs tiefste betrüben, die früher mit
anderen Mitteln für die Gleichberechtigung gekämpft haben.
Schleiermacher, der den Namen des Verfassers nicht kannte
(oder bloß so tat), rief aus: „Wie tief verwundet muß besonders
der treffliche Friedländer sein! Ich bin begierig darauf, ob er nicht
seine Stimme gegen diesen Verrath an der besseren Sache erheben
wird, er, ein achterer Anhänger Mendelssohns als dieser hier!"
Unschön ist, sagt Schleiermacher, dieses Streben zur neuen
Religion, das nur von praktischen Erwägungen diktiert ist.
Diese Religion wechsele heutzutage wie der Kurs, und es gäbe
Juden, die bereit wären, „ihre Kinder zugleich taufen und be-
schneiden zu lassen". Auch die Taufwut, die sich der jüdischen
Gesellschaft bemächtigte, macht dem Verfasser keine Freude:
192
es sd „ein Christentum ohne Christus". In die christliche Gesell-
schaft treten Ungläubige ein, die in den Schoß der Kirche ledig-
lich durch politischen Druck hineingedrängt werden; der Kirche
drohte die Gefahr, mit einem „Judenchristentum" angesteckt zu
werden. Zur Vermeidung dieser Gefahr müsse die Kirche die
Regierung zu veranlassen suchen, den Juden alles, was sie zu
solcher Heuchelei bewegt, aus dem Wege zu räumen und
wenigstens ihren KÜndem irgendwelche Bürgerrechte zu ge-
währen, um deren Zukunft die „Väter" (die Verfasser des Send-
schreibens) dermaßen besorgt sind, daß sie sich bereit erklären,
ihre religiösen Überzeugungen preiszugeben. Was die volle
bürgerliche „Naturalisierung" der Juden anbetrifft, so hält sie
Schleiermacher so lange für ausgeschlossen, solange die Juden
eine besondere Nation bilden, die ihre eigenen Gesetze hat und
von der Ankunft des Messias träumt.
Wie war es Friedländer wohl zumute, als er diesen Schlag voii
der Hand eines vermummten Freimdes erhalten hatte ? Auf der
einen Seite — Pastor Teller, der von denen, die der Kirche nur
einen Finger hingestreckt hatten, die ganze Hand forderte; auf
der anderen Seite — ein christlicher Philosoph, der diesen Kom-
promiß mit dem Gewissen mit scharfen Worten geißelte. Er-
innerte sich Friedländer daran, daß er vor neun Jahren das in
Gestalt des „Reformentwurfes" den Juden hingeworfene de-
mütigende Almosen stolz zurückgewiesen und die Würde seines
Volkes, die er jetzt unter dem Deckmantel einer Gruppe so roh
mit Füßen trat, verteidigt hatte ? ... Er schwieg. Irgend etwas,
was im Schüler vom geistigen Erbe des I^ehrers erhalten ge-
blieben war (und Mendelssohn haßte das Renegatentum), hielt
ihn Von weiteren skandalösen Schritten zurück. Der Versuch,
eine jüdisch-christliche Sekte zwecks Erlangimg bürgerlicher
Rechte zu gründen, scheiterte. Es fanden sich aber mutigere und
entschlossene Menschen, Personen, die ohne viel Federlesens zu
machen, den kürzesten Weg wählten: in den oberen Schichten
der jüdischen Gesellschaft entwickelte sich eine Taufepidemie,
und diesmal waren es echte Taufen, ganz ohne Vorbehalte und
Gewissensbisse.
Die „Hausväter" aus dem Friedländerschen Kreise konnten
sich bald überzeugen, daß der Haß gegen die Juden nicht nur
auf den Widersprüchen zwischen Judentum und Christentum
13 Dubnow, Ceachichte der Juden I I93
berulite. Im Jahre 1803 brach in Preußen eine noch nie da-
gewesene judenfeindliche Agitation aus, die weniger auf der
Abgeschlossenheit der Juden, als auf der Angst vor ihrem
Eindringen in die christliche Gesellschaft beruhte. Der An-
führer im literarischen Feldzuge gegen die Juden war ein kleiner
Berliner Gerichtsbeamter, der minderwertige Agitator Grat-
tenauer. Hinter ihm standen anscheinend die konservativ-
klerikalen Kreise der deutschen Gesellschaft, die schon seit
langer Zeit mit Unruhe den hartnäckigen Kampf der Juden
für die Gleichberechtigung und insbesondere ihren Verkehr mit
der liberalen Gruppe der preußischen Aristokratie in den vor-
nehmen Berliner jüdischen Salons verfolgten. Grattenauer ver-
öffentlichte ein scharfes Pamphlet „Wider die Juden" (1803),
in dem er nachwies, daß es schmachvoll sei, mit den Juden
Umgang izu pflegen, daß die Gleichberechtigung sie nicht bessern
könne, weil zwischen ihnen und den Christen ein Abgrund liege;
die Juden seien in ihrer Masse widerlich, ihre „elegante" Jugend
bestehe aus Gottlosen, Stutzern und Verschwendern; ihre
Salondamen seien unerzogen, obwohl sie mit deutschen Fürsten
und Grafen verkehrten; die Juden müssen den Stempel der
Verachtung tragen: man müsse sie wieder zum Tragen des
mittelalterlichen gelben Abzeichens an der Kleidung verpflich-
ten, damit man sie wie die Pest fliehen könne.
Das in der rohen Sprache der Straße abgefaßte Pamphlet
Grattenauers hatte eine zündende Wirkung. In kurzer Zeit er-
schien es in sechs Auflagen und 13 000 Exemplaren. Die Ver-
treter der Berliner Judenschaft hielten es anfangs nicht für
notwendig, gegen Grattenauer vorzugehen, und nur einzelne
Personen nahmen an ihm Rache: ein Jude gab ihm einmal
öffentlich eine Ohrfeige, und seine Gläubiger übergaben seine
Wechsel dem Gerichtsvollzieher. Dies versetzte den Agitator in
noch größere Wut. Er veröffentlichte einen Nachtrag zu seiner
Broschüre, in dem er sich stolz „Haman" nannte und die Leser
leidenschaftlich zu einer Judenhetze aufrief. Ihm antwortete der
christhche Professor Kos mann mit einer „Für die Juden"
betitelten Broschüre. Der Verteidiger der Juden beging aber
die Unvorsichtigkeit, auf dem Titel seines Buches die Widmung :
„Den Ältesten der Berliner Judenschaft und allen guten Men-
schen ohne Unterschied der Religion" anzubringen, was viele
194
auf den Gedanken bringen konnte, daß seine Verteidigungs-
schrift von interessierter Seite inspiriert sei. Die Apologie Kos-
manns war außerdem recht schwach, und in Berlin sagte man
im Scherz, daß sie für die jüdische Sache gefährlicher sei als
der Angriff Grattenauers. Man verbreitete sogar ein Epigramm,
in dem der Jude spricht:
A Grattenauer hat mich beleidigt, — es sei!
A Kosmann hat^mich vertheidigt, — ai wai!
Der Büchermarkt war wieder mit Flugschriften für und wider
die Juden überschwemmt. Die sich für „Gelehrte" ausgebenden
Paalzow und Buchholz^) wiesen auf Grund der Geschichte
und der I^ehre der Juden die Minderwertigkeit dieses Volkes
und die Unmöglichkeit, es in einem christlichen Staate zu dul-
den, nach. Paalzow erfand das Märchen, daß die Juden 280 Tage
im Jahre feiern und folglich ein Volk von Müßiggängern sei.
Buchholz wunderte sich, daß I^essing mit Mendelssohn Freund-
schaft gepflogen habe: eine Freundschaft zwischen einem
Deutschen, dem Vertreter des vollkommenen Christentums, und
dem Juden, der sich zu einer „viehischen Religion" bekenne,
sei doch unmöglich. Die ganze Judenfrage ginge nur darauf
hinaus, wie man die Christen vor den Juden schützen könne;
diese Ruchlosen müsse man zum Militärdienst verpflichten und
in die Strafbataillons stecken.
Als die Altesten der Berliner Gemeinde sahen, daß die Pole-
mik den Charakter einer gefährlichen Hetze annahm, erwirkten
sie bei der Behörde einen Erlaß, der der Zensur vorschrieb,
keine weiteren Veröffentlichungen für und wider die Juden
zuzulassen, da diese Polemik zu einem „Unfug" ausgeartet sei.
Grattenauer wandte sich mit einer Beschwerde an den Kanzler
und sogar an den König: man beraube ihn der Freiheit des
Wortes, ihn, der Deutschland von den Juden, die „nicht mit
uns, sondern von vms leben", retten wolle; er werde aber seine
Angriffe fortsetzen, in denen er „wesentliche Dienste dem Staate"
erblicke. Die Beschwerde dieses literarischen Pogromhelden
blieb unbeachtet.
Infolge des Zensurverbotes wurde die Polemik nun außerhalb
Berlins fortgesetzt. In der Provinz traten einige gebildete Juden
^) Die Titel der wichtigsten Werke der damaligen polemischen I<iteratur
sind in den Anmerkungen am Schlüsse dieses Bandes verzeichnet.
13« 195
zur Verteidigung ihres Volkes auf und macliten die verschieden-
sten, zuweilen recht naive Vorschläge zur I/isung der Juden-
frage. Ein Königsberger Jude empfahl ein patentiertes Mittel:
Mischehen mit Christen ; ein anderer warnte dagegen die Töchter
Israels vor dem Verkehr mit den Stammesgenossen Grattenauers.
Der Breslauer lychrer und Schriftsteller (Mitarbeiter der Zeit-
schrift „Meassef")i Aaron Wolfsohn, veröffentlichte eine
Apologie des Judentums: „Jeschurun, oder unparteiliche Be-
leuchtung der dem Judenthume neuerdings gemachten Vor-
würfe, in Briefen," (Breslau 1804). Die „Unparteilichkeit" des
Autots bestand dariii, daß er der Regierung empfahl, das ganze
Ivcben der Juden zu reformieren und den Talmud und die ganze
rabbinische lyiteratur zu zensurieren und von veralteten Aus-
sprüchen zu „säubern". Viel klüger als die Apologeten schrieben
die Satyriker. Ein jüdischer Schriftsteller veröffentlichte unter
dem Pseudonym Epiphanes zu Königsberg eine Broschüre,
deren Titel für den ganzen Inhalt bezeichnend ist: ,, Unumstöß-
licher Beweis, daß ohne die schleunige Niedermetzelung aller
Juden und den Verkauf aller Jüdinnen zur Sklaverei, die Welt, die
Menschheit, das Christenthum und alle Staaten noth wendig unter-
gehen müssen, ein Sendschreiben an Herrn Justizcommissarius
Grattenauer von Dominicus Hamann Epiphanes, dem Juden-
feind" (1804). Eine heftige Abfuhr den Judenfeinden gab ein
gewisser S. J. I^efrank aus Hamburg in der Broschüre:
„Bellerophon, oder der geschlagene Grattenauer nebst einer
Dedikazion an den Teufel" (1803). I^efrank wandte sich an
Grattenauer in dessen eigener Sprache: „Du selbst verfeilschst
elende Lügen und boshafte Tücke auf Löschpapier gedruckt
für sechs Groschen und du kannst behaupten : Betrug sey nur
ein eigenthümliches Laster der Juden ? . . . Du kannst es dem
Juden nicht vergeben, daß er richtig deutsch spricht, daß er
sich anständiger kleidet, daß er oft vernünftiger urtheilt als du.
Er hat nicht einmal einen Bart mehr, bei dem man ihn zupfen
kann, er spricht nicht mehr kauderwelsch, daß du ihn nach-
äffen könntest ..." Der Verfasser behält aber nicht immer
diesen anklagenden Ton, sondern wird stellenweise zu einem
Apologeten, was dem Eindruck sehr schadet. Offenbar sieht er
gar nicht ein, wie unpassend in der Polemik mit einem Gassen-
schreiber ein Satz wie der folgende ist: „Der Jude hat sich seit
196
zwanzig Jahren Mühe gegeben, sich den Christen zu nähern,
aber wie wurde er aufgenommen ? Wie manche Eingriffe hat er
schon in seine kanonischen Gesetze gethan, um sie euch anzu-
schmiegen, aber — den Rücken kehrt ihr ihm zu aus lauter
Humanität!" Aus solchen Phrasen klingt der klägliche Ton ver-
schmähter Liebe — ein trauriges Echo der Zeit, wo die jüdische
Gesellschaft in Deutschland mit Eifer nationale Entpersön-
lichung betrieb, zum größeren Ruhme des deutschen Staats-
bürgertums, das man ihr hartnäckig verweigerte.
§ 31. Der kulturelle Umschwung: Siitenrevolution und Tauf-
epidemie. Die von außen bedrückte deutsche Judenheit machte
zugleich eine tiefgehende innere Krise durch, die sowohl das
Geistige wie auch die ganze Lebenshaltung berührte imd an
nationale Auflösung grenzte. Von der Krise waren zunächst
nur die oberen Schichten der jüdischen Gesellschaft betroffen,
allmählich drang sie aber auch in die Tiefe ein. Sie hing aufs
engste hiit der kulturellen Wandlung, die Deutschland damals
durchmachte, zusammen, denn die Juden strebten im gleichen
Maße, indem sie vom politischen Leben ferngehalten wurden,
nach der deutschen Geisteskultur, von der sie beeinflußt wurden
und die sie auch ihrerseits beeinflußten.
Es war die Zeit, wo die Aufklärung und der Humanismus der
Lessing-Mendelssohnschen Periode dem klassischen Romantis-
mus Goethes und Schillers und dessen entartetem Zweige —
dem mystischen Romantismus Schlegels und Schleiermachers
Platz machte. Der vom ,, großen Heiden" aus Weimar wieder-
erweckte hellenische Schönheitskultus artete in zügellose Sinn-
Uchkeit, in das „Freidenkertum der Leidenschaft" aus. In den
gleichen Jahren ging in Paris eine politische und in Berlin eine
morahsche Revolution vor sich. Die gebildeten jüdischen Kreise
Berhns, die schon zu Mendelssohns Zeiten Anschluß an die
christlichen Kreise gefunden hatten, waren für die neuen lite-
rarischen Strömungen besonders empfänglich. Die Literatur der
Sturm- und Drangperiode berauschte sie und ließ sie die Wirk-
lichkeit vergessen. Ein heißer Strom von Empfindsamkeit und
Romantik ergoß sich in die stillen und strengen jüdischen Fa-
milien. Goethes „Werther", der so viele, besonders weibliche
Herzen erschüttert hatte, rief einen wahren Sturm in den Herzen
der gebildeten jüdischen Mädchen und jungen Frauen hervor,
197
die alle Romane verschlangen und die patriarchalische Sitten-
strenge als schwere Last empfanden. In den Salons der jüdischen
Damen Berlins (§ 4), in den intimen „I^esegesellschaften" wurde
eifrig über jede literarische Neuerscheinung, über jedes neue
Werk Goethes, Schillers imd der anderen bedeutenden Dichter
debattiert. Ein Berliner Korrespondent Schillers schreibt ihm
im Jahre 1797: „Der neue Musenalmanach wird hier mit größe-
rer Spannung als je erwartet. In den gebildeten Berliner jüdi-
schen Kreisen, den einzigen, wo man von I^iteratur spricht,
wird behauptet, daß Sie imd Goethe in diesem Almanach mit
einem ganz neuen Genre der Dichtung auftreten^)." Schleier-
macher schreibt seiner Schwester aus Berlin im Jahre 1798:
„Daß junge Gelehrte und Elegants die hiesigen großen jüdischen
Häuser fleißig besuchen, ist sehr natürlich . . . .Wer auf eine recht
ungenierte Art gute Gesellschaft sehen wiU, läßt sich in solchen
Häusern einführen, wo natürHch jeder Mensch von Talenten
gern gesehen wird ..." •
Die größte Rolle spielte der Salon der schönen Jüdin Hen-
riette Herz (1764 — 1847). Henriette, die Tochter des Ham-
burger Arztes sephardischer Abstammung de Lemos, hatte die
übliche ästhetische Erziehung der jungen Mädchen aus gebil-
deten Kreisen genossen. Die Kenntnis mehrerer europäischer
Sprachen und die Belesenheit in der neueren schönen Literatur,
die sich mit auffallender Schönheit paarten, gewährleisteten ihr
den Erfolg in der Gesellschaft. Im jugendlichen Alter von kaum
sechzehn Jahren heiratete sie einen Mann, der doppelt so alt
w?ir wie sie: den populären Arzt und Philosophen Markus
Herz, einen Schüler Mendelssohns imd Kants. Das gastfreund-
liche Herzsche Haus war in Berlin um 1785 herum der Mittel-
punkt der geistigen Aristokratie. Hier trafen sich die Vertreter
der beiden Richtungen: des lyCssing-Mendelssohnschen Humanis-
mus (Nicolai, Dohm, Ramler, Teller u. a.) und der neumodischen
Romantik (Schleiermacher, Friedrich Schlegel, Chamisso u. a.).
Doktor Herz schloß sich der ersteren, seine junge Frau der
letzteren Bewegung an. Der ernste Philosoph und seine roman-
tisch gestimmte, kokette Frau hatten fast nichts miteinander
*) Es gelang uns nicht, für diesen von Dubnow zitierten Passus das deutsche
Original zu finden, und wir haben die Stelle aus dem Russischen zurücküber-
setzt. Anm. des Ü.
198
gemein. Dies trieb die von glühenden Verehrern umgebene junge
Frau in einen intimeren Freundeskreis. Ein Teil der gemischten
Gesellschaft, die sich in ihrem Salon versammelte, schloß sich
zu einem engen Kreise männlicher und weiblicher Jugend, dem
„Tugendbund", zusammen. Im Mittelpunkt dieses Bundes stand
neben Henriette noch eine andere, in ihrem Eheleben unglück-
liche junge Frau: die kluge und talentierte Dorothea Mendels-
sohn (1763 — 1839), ^^ Tochter des großen Moses und die
Gattin des Bankiers Veit. Diesem Kreise gehörten in ihren
jimgen Jahren (um 1790) auch die Brüder Humboldt an: der
spätere Staatsmann Wilhelm imd der spätere Naturforscher
Alexander; neben ihnen tauchten aber auch recht zweifelhafte
Gestalten auf, wie z. B. der Schürzenjäger Gentz, der spätere
Agent der Mettemichschen Reaktion. Die Mitglieder des Tugend-
bundes duzten einander und korrespondierten in einer eigenen
geheimen Chiffre; eine Zeitlang diente als solche Chiffre das
hebräische Alphabet, das Henriette Herz auch dem in sie ver-
liebten Wilhelm Humboldt beibrachte. Von der landläufigen
Tugend war im „Tugendbunde" recht wenig zu spüren, und der
Paragraph der Statuten, der zwischen den Geschlechtem nur
platonische I^iebe gestattete, wurde wohl kaum beobachtet.
Es war eine Schule des „praktischen" und ein Spiegelbüd des
literarischen Romantismus. Es war wohl kaum bloßer Zufall,
daß die beiden Apostel der entarteten Romantik, die beiden
Friedrichs : Schleiermacher und Schlegel in den Mittelpunkt des
intimen Berliner Kreises gerieten und eine so tragische Rolle im
I/cben seiner beider Heldinnen — der Henriette Herz und der
Dorothea Mendelssohn- Veit — spielten.
Von allen Romanen Henriettes war am dauerhaftesten und
eigenartigsten ihr Verhältnis zu Schleiermacher, der seit dem
Jahre 1796 das Predigeramt an der Charitekirche zu Berlin
bekleidete. Der häufige Gast im Herzschen Hause eroberte das
Herz Henriettes durch seine I^ehre, in der die christliche Ro-
mantik mit der höchst modernen Predigt der „freien Liebe"
verwoben war. In Berlin sprach man viel vom intimen Verkehr
des jungen Predigers mit der schönen Jüdin; eine verbreitete
Karikatur stellte den kleingewachsenen und schmächtigen
Schleiermacher neben der großen und üppigen Henriette dar,
aus deren Tasche er hervorzugucken schien. Beide Teile be-
199
haupteten jedoch, daß ihre Beziehungen rein freundschaftlicher
Natur seien. Sie wurden erst im Jahre 1804 unterbrochen, als
Markus Herz starb, als sein Salon zu existieren aufhörte und
die kinderlose Witwe von den schmalen Zinsen der Erbsehaft
leben mußte. Henriette Herz verkehrte auch weiter in den
deutschen aristokratischen Kreisen Berhns, bheb aber formell
noch Jüdin. Als man ihr den Posten einer Erzieherin bei der
preußischen Prinzessin Charlotte (der späteren russischen Kai-
serin, der Gemahlin Nikolaus I.) anbot, mit der Bedingung, daß
sie sich taufen lasse, lehnte sie das Angebot ab: sie wolle durch
das Renegatentum ihre alte Mutter nicht betrüben. Sobald aber
die Mutter tot war, Heß sich Henriette nach lutherischem Ritus
taufen (1817) und blieb dieser Religion bis zu ihrem Tode treu.
Die schwachen Fäden, die diese Frau mit dem Judentum ver-
knüpften, waren schon längst gerissen; die Ideale des Judaismus
und die Interessen des jüdischen Volkes, das ihr, ebenso wie
ihrem Freund Schleiermacher als ein „I^eichnam", eine „Mumie"
erschien, waren ihr fremd. Sie war ganz — soweit es ihr der
oberflächliche Geist einer Salondame gestattete — von den
deutsch^-christlichen Idealen Schleiermachers durchdrungen und
teilte dessen Ansicht, daß ein Jude kein Bürger Deutschlands
werden könne, solange er nicht Christ geworden sei. So kam
der nationale Abfall in der Familie des bedeutenden Pioniers
der jüdischen Aufklärung, des Mitkämpfers Mendelssohns, auf.
Der Zauber der Romantik imd das Gift der Assimilation
wirkten verheerend auch in der Familie Mendelssohns selbst.
Besonders tragisch gestaltete sich das lieben seiner älteren
Tochter, der hochbegabten Dorothea. Die zweiunddreißigj äh-
rige Mutter zweier Söhne, die sich in der Ehe mit dem Berliner
Bankier Simon Veit unglückhch fühlte, warf sich dem stürmischen
Romantiker Friedrich Schlegel in die Arme, den sie im Hause
ihrer Freundin Henriette Herz kennengelernt hatte. Schlegel
war damals trotz seines jugendlichen Alters (er war nur fünf-
undzwanzig Jahre alt und jünger als Dorothea) in den lite-
rarischen Kreisen als Entdecker neuer Pfade in der Poesie und
als enfant terrible — hatte er doch in einer Elritik Schiller
angegriffen — berühmt. Zwischen dem deutschen Ritter der
Romantik und der Tochter des jüdischen Philosophen entstand
ein intimes Verhältnis, das die Verliebten gar nicht verheim-
300
lichten. Dorothea verließ das Haus ihres Gatten und zog zu
Schlegel. Durch Vermittlung der Henriette Herz erwirkte sie
von ihrem Manne die Scheidung; und Simon Veit war so groß-
mütig, daß er ihr sogar die Kinder überließ und allen eine
Rente aussetzte. Bald darauf wurde die ganze literarische Welt
durch das Erscheinen des Schlegelschen Romans „I^ucinde"
(1799) skandalisiert, eines Evangeliums der Erotik und der
zügellosen Sinnlichkeit, in dem der Autor die intimsten Einzel-
heiten seines Ehelebens enthüllte. Diese Predigt raffiniertester
Genußsucht, Müßigkeit und „unzüchtigen Nichtigkeit", die
überdies künstlerisch schlecht war, fand bei der Kritik scharfe
Verurteilung. Für den Autor traten nur wenige ein, darunter
sein Freund Schleiermacher, der zur Verteidigung des schlechten
Romans die anonymen „Vertraulichen Briefe über I^ucinde"
veröffentlichte. Im Jahre 1801 schrieb auch Dorothea einen
Roman — „Florentin" — , der in der Stimmung der „Lucinde"
verwandt war, aber das sittliche Gefühl und den guten Ge-
schmack viel weniger beleidigte. Das Schlegelsche Ehepaar
führte ein unstetes Leben: es tauchte bald in Berlin, bald in
Jena, Dresden, Leipzig, Köln und Pans auf, wurde oft von der
bürgerlichen Gesellschaft abgestoßen, imd mußte in bitterer Not
leben. Dorothea nahm im Jahre 1804 den lutherischen Glauben
an und ließ sich formell mit Friedrich trauen. Nach einigen
Jahren traten die beiden Ehegatten unter dem Einflüsse der
romantischen „Rückkehr ins Mittelalter" zum Katholizismus
über und ließen sich für dauernd in Wien nieder (1808), wo
Schlegel einen Posten an der österreichischen Hofkanzlei bekam.
In Wien verbrachte Dorothea fast den ganzen Rest ihres Lebens
und machte nur ab und zu Reisen nach Deutschland und
Italien, um ihre Söhne, die beiden Maler Veit, die ebenfalls
getauft waren, zu besuchen. Sie starb 1839 in Frankfurt, nach-
dem sie den Mann um zehn Jahre überlebt hatte. Auch ihre
jüngere Schwester, Henriette Mendelssohn, die unver-
heiratet geblieben war und den Beruf einer Lehrerin ausübte,
trat zum Katholizismus über. Der ältere Sohn Moses Mendels-
sohns, der Bankier Joseph, war bis zu seinem Tode (1848) Jude
geblieben, aber der zweite Sohn, Abraham, und sämtliche
Enkel Mendelssohns fielen vom Judentum ab. (Der berühmte
Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy war der Sohn Abra-
201
hams, der mit seiner ganzen Familie zum Christentum über-
getreten war.)
Auf eine so fatale Weise ging für das Judenttun das Geschlecht
des Urhebers der „Aufklärung" verloren. Die erste Berühnmg
der gebildeten jüdischen Gesellschaft mit der christlichen war
für die erstere unheilvoll. Dieser Triumphzug des Renegaten-
tums wurde von den Frauen eröffnet, die schon infolge ihrer
Erziehung weniger mit der Kultur und den Traditionen ihres
Volkes zusammenhingen und der Anziehungskraft der Romantik
nicht widerstehen konnten. Neben Henriette Herz und Dorothea
Mendelssohn ist noch der Name einer dritten hochbegabten
Frau zu nennen, die durch die deutsche Kultur der jüdischen
geraubt worden war. Rahel Lewin (1771 — 1833), die Tochter
eines Berliner Juweliers, hatte sich die Ideologie der Sturm-
und Drangperiode viel tiefer und bewußter angeeignet als ihre
beiden obengenannten Freundinnen. Sie stand ganz im Banne
der individualistischen I/cbensanschauung Goethes, den sie per-
sönlich karmte und dessen Werke sie wie nnr wenige in Deutsch-
land verstand. Nicht durch ihr Äußeres, das bescheiden imd un-
ansehnlich war, sondern durch ihren scharfen imd tiefen, beinahe
mäimlichen Geist zog sie die Vertreter der denkenden deutschen
Gesellschaft an. Ihr „Dachstubensalon" im Mezzanin des
Hauses ihres Vaters zu Berlin wurde von den meisten deutschen
Dichtem und Politikern wie auch von zugereisten Berühmt-
heiten (z. B. der Frau von StaSl) besucht. Rahel selbst schrieb
nur wenig, besaß aber die Fähigkeit, andere zur schöpferischen
Tätigkeit anzuregen und in dem Kreise, wo sie die Geister be-
herrschte, bedeutende Männer zu erziehen. Nach einer Reihe
von I^iebeleien heiratete Rahel, schon im reiferen Alter, ihren
Freund, den preußischen Diplomaten und Schriftsteller Varn-
hagen von Ense und trat zum Christentum über. Nichts
verband ^e bewußt mit dem von ihr verlassenen Volke, obwohl
diese I^sgerissenheit sie zuweilen auf traurige Gedanken brachte.
„Ich habe solche Phantasie, als wenn ein außerirdisch Wesen,
wie ich in diese Welt getrieben wurde, mir beim Eingang diese
Worte mit einem Dolch ins Herz gestoßen hätte: ,Ja, habe
Empfindung, sieh die Welt, wie sie wenige sehen, sei groß und
edel, ein ewiges Denken kann ich dir auch nicht nehmen. Eins
hat man aber vergessen; sei eine Jüdin!* und nun ist mein ganzes
202
lieben eine Verblutung." Dieses schmerzvolle Gefühl der I/ds-
gerissenheit und des seelischen Zwiespaltes äußerte sich aber im
Leben Raheis fast gar nicht : bis zu ihrem Lebensende teilte sie
die Freuden und Leiden des deutschen Volkes, seine patrio-
tischen Wallungen während der Napoleonischen Kriege und
über alles die Interessen der deutschen Literatur, deren zahl-
reiche Vertreter zu den Besuchern des Vamhagenschen Salons
gehörten. Erst in ihrer Sterbestunde erinnerte sich Rahel ihres
Volkes und sprach die ekstatischen Worte: „Mit erhabenem
Entzücken denke ich an meinen Ursprurg und an den Zu-
sammenhang der Geschichte, durch welches die ältesten Er-
innerungen des Menschengeschlechtes mit der neuesten Lage der
Dinge durch Zeit und Raum'esfeme verbunden sind. Ich, eine
Flüchtige aus Ägypten, bin hier und finde Hilfe. Was zeit
meines Lebens meine größte Schmach war, möchte ich jetzt um
keinen Preis missen."
Zeugen diese Worte von einer späten Reue einer sehend-
gewordenen Seele ? Kaum. Die treue Schülerin der literarischen
Propheten Deutschlands war dem Geiste der alten Propheten
ihres eigenen Volkes völlig entfremdet. Das gesellschaftliche
Milieu, aus dem Rahel imd die „neuen Menschen" ihrer Art ihre
Ideale schöpften, war von einer Antipathie gegen das Judentum
und seine höchsten geistigen Schätze durchdrungen. Der Auf-
erwecker des hellenischen Asthetizismus, Goethe, war im tief-
sten Wesen seiner Weltanschauung dem ethischen Judaismus
feindlich gesinnt, imd nicht umsonst schließt er aus der Ge-
meinschaft der „schönen Seelen" (im „Wilhelm Meister") die
Juden aus, die „den Ursprung der höchsten Kultur verleugnen".
Der politisch-konservative Goethe war überzeugter Gegner der
bürgerlichen Emanzipation der Juden. Er betrachtete die Juden-
frage vom Standpunkte seiner Standesgenossen, der Frankfurter
Patrizier, aus, die einen ruhmlosen Kampf gegen die Emanzi-
pation führten (siehe weiter § 33). Die andere Säule der damaligen
Literatur, der nationalistische Philosoph Fichte, predigte (in
seinem Buche von der französischen Revolution, 1793) grim-
migen Judenhaß. Im Judentum sah er einen „durch alle Län-
der verbreiteten, feindselig gesinnten Staat, der mit allen üb-
rigen im beständigen Kriege steht". Es sei gefährlich, die Bürger-
rechte solchen Menschen zu geben, die „von uns verschiedene
203
Sittengesetze haben". „Um uns vor ihnen zu schützen, dazu
sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes I^and
zu erobern und sie alle dahinzuschicken." Ebenso dachte von
den Juden auch Schleiermacher, der intime Freund und Seelen-
retter schöner jüdischer Damen. Die neue jüdische Intelligenz,
die von den Idealen aller dieser Beherrscher der Gedanken
lebte, eignete sich auch Verachtung gegen ihr eigenes Volk an
und hielt zuweilen, gleich Rahel, die Zugehörigkeit zu diesem
Volke für die größte Schmach.
So begann die Epidemie der Taufen. Die Seuche drang
allmählich auch in die mittleren und tieferen Schichten der
jüdischen Gesellschaft ein. Man ließ sich taufen, um „der deut-
schen Kultur teühaftig zu werden", um einen Christen oder eine
Christin zu heiraten, Karriere zu machen und der Rechtlosigkeit
oder der lästigen Bevormundung zu entgehen. Junge Männer
und Frauen aus den mittleren und niederen Schichten der jü-
dischen Gesellschaft kamen massenweise aus der Provinz nach
Berlin und gaben sich hier Zerstreuungen und zügellosem
Lebensgenuß hin. Als die Vorsteher der jüdischen Gemeinden
von ihrem Rechte Gebrauch machten und der ausgelassenen
Jugend Strafen zudiktierten, drohten die „Freidenker", sich
tatifen zu lassen, was sie oft auch wirklich taten, um die Be-
vormundung durch die Gemeinde abzuschütteln. Nun erwirkten
die Berliner Gemeindeältesten von der Behörde einen Erlaß,
der den Kindern und Dienstboten verbot, sich ohne Geneh-
migung der Eltern imd der Dienstherrschaften taufen zu lassen
und vorschrieb, die zugereisten Täuflinge aus Berlin auszu-
weisen. Die meisten Taufen gab es in Berlin, aber diese „Mode"
kam dann auch in den anderen Städten, wie Königsberg tmd
Breslau, auf. Die Preußische Regierung wurde endlich auf die
übermäßige Bereicherung der Kirche durch zweifelhafte Neo-
phjrten aufmerksam und beschloß, eine Kontrolle einzuführen.
Im Jahre 1810 wurde eg den Pastoren durch einen königlichen
Erlaß untersagt, Juden ohne eine schriftliche Bestätigung der
Ortspolizeibehörde über die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu
taufen.
Mit tiefer Trauer sahen dieser Epidemie diejenigen zu, die
gleich Mendelssohn nach Assimüation strebten und die Schwelle
der Kirche beinahe erreicht hatten, sie aber nicht zu übertreten
204
wagten. Ein Schüler Mendelssohns, der Direktor der jüdischen
„Freischule" zu Berlin, I^azarus Bendavid (1762 — 1832),
suchte diese Massenflucht aus dem jüdischen Lager damit zu
erklären, daß die Formen des Judentums veraltet seien und
nach Ern-euerung verlangten. Man dürfe die Proselyten nicht
dafür tadeln, daß sie die laute und lustige Kirche der verlassenen
und langweiligen Synagoge vorziehen. Dieser Vorläufer der Re-
formisten beurteilte überhaupt die jüdische Gesellschaft seiner
Zeit sehr pessimistisch. In seinem Büchlein: „Etwas zur Cha-
rakteristik der Juden" (1793) teilt er das jüdische Volk in vier
Klassen ein: r. Die Rechtgläubigen, die in den religiösen
Riten versteinert sind, sich aber oft durch hohe Moral aus-
zeichnen; diese sind eine aussterbende Klasse, die sich dem
Geiste der Zeit nicht anpassen kann; 2. die Wüstlinge, ge-
wöhnlich Kinder reicher Eltern, die nur an die Befriedigung
ihrer Gelüste denken, die elementarsten Moralgesetze verletzen,
oft zum Christentum übertreten, aber von den Christen ver-
achtet werden; 3. die Halbgebildeten, die die Unzulänglich-
keit der alten Ordnung ahnen imd daher von den Rechtgläubigen
verketzert werden; 4. die Gebildeten, die „gleich weit vom
Judentum und vom Indifferentismus entfernt sind". Diese
letztere Gruppe sei berufen, das Judentum durch die Wieder-
herstellung der „reinen Religion" Mosis und durch die Be-
seitigung aller historischen Auswüchse zu reformieren . . . Ben-
david, der sonst solider Philosoph der Kantischen Schule war
(er veröffentlichte mehrere Beiträge zur Erkenntnistheorie), war
ein schlechter Historiker: für ihn war die ganze jüdische Ge-
schichte der letzten siebzehn Jahrhunderte von einem undurch-
dringlichen Dunkel umhüllt; darum erschien ihm die ganze
Entwicklung des Judaismus nur als ein sinnloser Prozeß einer
Anhäufung von Gebräuchen und Aberglauben. Die Idee der
Entwicklung einer lebendigen Nation im Wechsel der sozialen
und geistigen Formen war ihm ebenso fremd wie allen beschränk-
ten Rationalisten.
Halbbildung, Oberflächlichkeit, geistiger Libertinismus waren
die charakteristischen Züge jener mittleren Gesellschaf tsschich-
ten, in denen die bhnde Zerstörung aller historischer Grundlagen
als eine Heldentat und als Zeichen guten Tones angesehen wurde.
Die „Berliner Mode" herrschte wie in den Ideen so auch in der
205
Kleidung. Putzsucht und Freidenkertum gingen Hand in Hand.
Die Nachfolger Mendelssohns waren viel zu unbedeutend, um
gegen die fortschreitende Auflösung anzukämpfen . Ihre Kraft
reichte eben nur dazu aus, um in Berlin und in Klönigsberg
einen Jugendbund unter dem Namen „Gesellschaft der Freunde"
zu gründen, die den Zusammenschluß der gemäßigten Elemente
der jüdischen Gesellschaft im Namen des Ideals der „Auf-
klänmg" bezweckte (1792). An der Spitze dieser Organisation
standen der älterfe Sohn Mendelssohns, Joseph, und Mendels-
sohns Schüler und Biograph, Isaak Euchel. Die „Gesellschaft"
hatte sich zur Devise die Mendelssohnschen Worte gemacht:
„Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das
Beste tun." Sie verhielt sich gleich ablehnend gegen die Ortho-
doxie wie gegen das Renegatentum, hatte aber selbst keine
bestimmte Richtung. Die einzige von ihr durchgesetzte Reform
bestand in der Abschaffung der Sitte, die Verstorbenen mög-
lichst früh zu beerdigen. Die Tätigkeit der Gesellschaft be-
schränkte sich fast aussdiließlich auf gegenseitige materielle
Hilfe. Diese rein klubmäßige Organisation, die einige Jahrzehnte
bestand, trug gar nichts zum geistigen Leben bei. Viel zu groß
war die seelische Verwüstung in dieser Übergangsgeneration,
als daß sie etwas Positives hätte schaffen können; viel zu spär-
lich waren die schöpferischen Kräfte im Zeitalter allgemeiner
Zerstörung. Erst später, nachdem die akute Krise überstanden
war, nahm der jüdische Geist seine unterbrochene schöpferische
Arbeit wieder auf.
§ 32. Die Reformen in Preußen und das Gleichberechtigungs-
edikt von 1812. Der Zerfall der preußischen Judenheit war
eine Frucht des Mißverhältnisses zwischen ihrem staats-
bürgerlichen und kulturellen Niveau, zwischen der alten
Rechtlosigkeit und dem plötzlichen Übergange von der alten
Kultur zur neuen. Nun kam aber der Augenblick, wo auch
Preußen ein Zerfall drohte — eine Frucht des Widerspruchs
zwischen seiner geistigen Fortschrittlichkeit und seiner poli-
tischen Rückständigkeit. Das Land des Absolutismus, wo es
nur der Beamtenschaft, aber nicht dem Volke erlaubt war,
„Politik zu machen", erfuhr eine vernichtende Niederlage durch
Napoleon (1806 — 1807). Nach dem Tilsiter Frieden verlor
Preußen die Hälfte seines Territoriums (fast alle polnischen
206
Provinzen, die nun das Herzogtum Warschau bildeten, und die
Gebiete zwischen der Elbe und dem Rhein) und geriet in eine
beschämende Abhängigkeit von Napoleon. Der erniedrigte
König Friedrich Wilhelm III. mußte sich nun mit seinem eige-
nen Volke aussöhnen und innere Reformen durchführen. Es
begann die Reformtätigkeit der liberalen Regierung von Stein
und Hardenberg (1807 — 1812). Die Leibeigenschaft wurde ab-
geschafft, die städtische Selbstverwaltung erweitert imd die alte
Stände- und Zünfteordnung eingeschränkt. Nun erinnerte man
sich auch der bedrücktesten Bevölkerungsgruppe von Preußen
— der Juden. Als im Jahre 1808 die Reform der städtischen
Selbstverwaltung durchgeführt wurde, verlieh man den Juden
das Recht der Beteüigung an den Stadtvertretungen, und so
wurden die kaum geduldeten „Schutzjuden" zu städtischen
Bürgern. Man gab ümen auch Zutritt in die Magistrate und
Kaufmannsgilden; David Friedländer wurde zum Mitglied des
Berliner Stadtrats erwählt und trug den Stadtrattitel mit kind-
lichem Stolz.
Die durch die neuen Strömungen ermutigten führenden Per-
sönlichkeiten der Berliner jüdischen Gemeinde, mit Friedländer
an der Spitze, nahmen nun wieder ihre Bemühungen um die
Erringung der Gleichberechtigtmg auf. Die Regierungskanzleien
begtmnen wieder an allerlei „Reformprojekten" zu arbeiten.
Ein liberales Projekt wurde im Jahre 1808 vom Königsberger
Juristen Brand, einem der bedeutendsten Mitarbeiter an der
Reform der städtischen Selbstverwaltung, eingereicht. Brand
forderte für die Juden volle Gleichberechtigung, weü man auf
diese Weise ihre nationale Abgeschlossenheit vernichten könne.
Bisher, erklärte er, „wurde die politische und gewerbliche
Rechtsfähigkeit der Juden unrichtig aus dem Gesichtspunkte
der Religion betrachtet. Das sei auch den Juden willkommen
gewesen, indem sie die Toleranz der Phüosophie auch für sich
in Anspruch genommen hätten. Es sei aber nicht die Religion,
sondern die Nationalität und das Bestreben der Juden, sich
darin zu erhalten was ihnen den Widerwillen der übrigen Be-
wohner zuziehe." Franzosen und Deutsche hätten wohl Ehen
miteinander geschlossen, Juden und Deutsche aber nicht. Sie
seien ,,ein Volk im Volke" geblieben und werden es bleiben,
solange Mischehen ohne die obligatorische Taufe des Juden
207
verboten bleiben; diese aber könne man gestatten, sobald die
Juden in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen werden.
Das Brandsche Projekt der Ausrottung der jüdischen Nationali-
tät mittels Verleihung der Gleichberechtigung wurde vom kon-
servativen Minister Schrötter imterstützt, deü Brand selbst
einen „Haman der Juden" nannte. Der Minister, der eifrig über
die Beobachtung aller Paragraphen des erniedrigenden Juden-
reglements wachte, wurde zu einem Verteidiger der Gleich-
berechtigung, sobald er in ihr ein Mittel zur Abschaffung des
Judentums witterte*). In seinem Bericht an den christlichen
König entwickelt er den Gedanken, daß die neue Judenverfas-
sung notwendig sei, um ,,ihre Nationalität zu untergraben";
man müsse ihnen die Bürgerrechte gewähren unter der Be-
dingung, daß sie auch alle Bürgerpflichten tragen; die Frage,
ob die Juden augenblicklich würdig seien, auch zum Militär-
dienst zugelassen zu werden, wird von Schrötter bejaht; er
meint, daß die Juden in der Armee, die das Vaterland zu
schützen habe, wohl nützlich sein könnten. Der König aber
schwankte noch, besonders in der Beantwortung der letzten
Frage.
Das Schwanken machte nach dem Rücktritt Schrötters unter
dem liberalen Kanzler Hardenberg entschiedenerem Vorgehen
Platz. Hardenberg, der in der gebildeten jüdischen Gesellschaft
zahlreiche Verbindungen natte, befürwortete die neue Eingabe
Friedländers und der Ältesten der Berliner Gemeinde wegen
der Verleihung von Gleichberechtigung an die Juden unter der
Bedingung, daß sie auch alle Bürgerpflichten bis zum Militär-
dienst einschließlich tragen (1810). Zwei Jahre dauerten die
Vorarbeiten zu den^ Emanzipationsakt; an ihnen war auch der
Kultusminister Wilhelm von Humboldt, der ehemalige Held der
1) Charakteristisch ist das in den Erinnerungen Brands wiedergegebene Ge-
spräch über die Judenfrage mit Schrötter. Als Brand ihm erklärte, daß er die
Möglichkeit habe, dem Judentum {als Nation) und nicht den Juden einen töd-
lichen Streich zu versetzen, beauftragte ihn der Minister mit der Abfassung
eines Entwurfs für den König. Der Liberale und der Konservative begegneten
sich also in der Ansicht, daß man die jüdische Nation auf dem Wege der Gleich-
berechtigung vernichten müsse. Vgl. Zitate aus den Akten bei Geiger: „Ge-
schichte der Juden in Berlin" II, i8a und bei Jolowicz: „Geschichte der Juden
in Königsberg", 118 — 120; der für die Assimilation eintretende Jolowicz pro-
testiert gegen die „Verleumdung", daß die Juden eine besondere Nation
bilden.
208
jüdischen Salons beteiligt*). Endlich, am ii. März 1812, unter-
zeichnete der König das „Bdikt betreffs die bürgerlichen Ver-
hältnisse der Juden".
Der erste Paragraph des Edikts erklärt alle Juden, die in
Preußen bisher auf Grund besonderer Privilegien und Kon-
zessionen lebten, zu „Einländern und preußischen Staats-
bürgern". Alle Beschränkungen im Wohnrecht und Beruf, alle
speziellen Abgaben und Ausnahmegesetze werden abgeschafft.
Die Juden werden zum Munizipaldienst und zu akademischen
Ämtern zugelassen; die Zulassung der Juden zu Staatsämtern
behält sich der König indes noch vor. Die Juden sollten aber
die gleichen Pflichten wie die anderen Bürger übernehmen und
auch zum Müitärdienst herangezogen werden; in allen Geschäfts-
akten müssen sie sich der deutschen oder einer anderen lebenden
Sprache bedienen; die hebräische und die jüdisch-deutsche
Sprache werden aber als unzulässig erklärt. Der letzte Paragraph
des Edikts schiebt die Regulierung der jüdischen „Kirchen-
angelegenheiten" und der Schulerziehung bis zu einer eigenen
Beratung hinaus, „zu der auch Juden, die wegen ihrer Kennt-
nisse und Rechtschaffenheit das öffentliche Vertrauen genießen,
zugezog.en werden sollen."
So emanzipierte Preußen zwanzig Jahre nach der jüdischen
Emanzipation in Frankreich seine Juden, wenn auch mit Vor-
behalten. Die Schmach der Rechtlosigkeit war von der jüdischen
Bevölkerung genommen. Groß war die Freude der Befreiten,
besonders in den höheren Gesellschaftsklassen, die die Schmach
der bürgerlichen Rechtlosigkeit besonders schmerzvoll empfan-
den. In diesen Kreisen verband sich das Gefühl der Dankbarkeit
für die gewährte Freiheit mit einem unfreien Bedürfnisse, alle
^) Dieser große Ideologe des I/iberalismus teilte die allgemeine Ansicht von
der Notwendigkeit, die nationale Einheit der Juden zu zerstören. Humboldt
sprach sich gegen die Paragraphen des Entwurfs aus, die von der Organisation
der jüdischen Gemeinden und der Einsetzung eines Oberrabbiners für ganz
Preußen handelten, mit der Begründung, daß dies zur Stärkung der inneren
Struktur und Einheit führen würde, während die Regierung nach einer Zer-
sphtterung der Judenheit und ihrer Verschmelzung mit dem ganzen Volke
streben müsse; er empfiehlt sogar, die religiösen ,, Schismen" im Judentume
zu begünstigen, was eine Schwächung des Zusammenhangs zwischen den jüdi-
schen Kirchen (Synagogen) und den Gemeinden herbeiführen müsse. Vgl. A.
Stein: „Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen
Reformzeit", S. 237 und folgende.
14 Dubnow, Geschichte der Juden I 209
solche Eigentümlichkeiten des jüdischen Lebens, die sie in den
Verdacht nationaler Absonderung bringen könnten, abzustrei-
fen. Der alte Anwalt der Juden, David Friedländer, war vom
Siege so berauscht, daß er der Regierung seine Dienste zur
Reformierung des jüdischen religiösen Lebens anbot, wie er sie
schon einmal den Vertretern der Kirche angeboten hatte. Bald
nach der Veröffentlichung des Edikts vom ii. März 1812 ließ
er eine anonyme Broschüre erscheinen unter dem Titel: ,,Über
die durch die neue Organisation der Judenschaften in den
Preußischen Staaten noth wendig gewordene Umbüdung i. ihres
Gottesdienstes in den Synagogen, 2. ihrer Unterrichtsanstalten
und deren Lehrgegenstände und 3. ihres Erziehungswesens
überhaupt. Ein Wort zu seiner Zeit." Der Verfasser geht vom
Gedanken aus, daß ohne eine Reform der Synagoge und der
Schule die kommende Generation die verliehenen Bürgerrechte
nicht in vollem Maße werde ausnützen können; „ohne eine
andere kirchliche Einrichtung würden die Israeliten nicht fort-
dauern." Die Reformen, die der Zeitgeist verlange, bestehen
aber im folgenden: unser altes Gebetbuch sei vpn Trauer-
hymnen über den Verlust der alten Heimat des jüdischen Volkes
und der politischen Freiheit erfüllt; heute haben wir aber die
Freiheit als preußische Staatsbürger erhalten. „Heute haben wir
nur ein Vaterland — Preußen — und nur für dieses dürfen wir
beten. Unsere Muttersprache ist die deutsche, und durch die
imverkümmerte Einführung dieser Sprache in das Gebet kann
der religiöse Dienst zu neuem Leben erweckt werden." Im
gleichen Geiste gänzlicher Germanisierung müsse auch die
jüdische Schule reformiert werden. Die Grundthese lautete ganz
eindeutig: die Assimüation ist die natürliche Folge der Emanzi-
pation.
Friedländer überreichte sein Buch als einen Entwurf seinem
Freund und Gesinnungsgenossen, dem Kanzler Hardenberg (im
Oktober 1812), und dieser übergab es dem Kultusministerium.
Der Verfasser schickte auch ein Exemplar an den König, bekam
aber von ihm eine recht kühle Antwort. Der fromme König, der
eine Scheu vor .allen Neuerungen hatte, schrieb: „Solange Juden
Juden bleiben wollen, deren eigentümlicher Glaube auf An-
erkennung der Mosaischen oder Alttestamentarischen Gesetze be-
ruht, kann ich Umbildungen, welche sowohl in ihren Gottes-
210
dienst, als in ihren religiösen Unterricht und in ihre Erziehung
eingreifen, nur insofern billigen, als sie mit dem obigen Wesen
und den Grundsätzen der jüdischen Religion gemäßen Haupt-
erfordemissen nicht im Widerspruch stehn. Ist dies auch in
Ihrer kleinen Schrift Ihre Ansicht, So wird man von derselben
den gehörigen Gebrauch zu machen wissen." Hardenberg be-
eilte sich, Friedländer unter seinen Schutz zu nehmen. In zwei
Briefen erklärte er dem König, daß das Edikt von der bürger-
lichen Gleichberechtigung, das die Juden dem deutschen Volke
einverleibe, auch eine innere Reform ihrer Angelegenheiten er-
heische: die Juden seien von nun an keine Feinde der christ-
lichen Gesellschaft und werden von dieser nicht mehr verachtet
werden; nun dürfen sie nicht mehr in ihren (J^beten die An-
kunft des Messias erflehen, sondern nur das Wohlergehen ihres
Beschützers und Befreiers — des Königs von Preußen; die Ein-
führung der deutschen Sprache in den Gottesdienst und in die
Schule rühre aber nicht an den Grundpfeilern der mosaischen
Religion. Das Friedländersche Projekt rief auch eine literarische
Polemik herA'-or. Der Vorsteher der Breslauer jüdischen Ge-
meinde, Dohm, trat für die Beibehaltung der heiligen Sprache
im Gottesdienst ein und beschuldigte Friedländer der Absicht,
eine religiöse Spaltung heraufzubeschwören. Der greise Hebraist
Salomon Pappenheimer nahm wie die nationale Sprache so auch
die Gebete nationalen Inhalts in Schutz (1813). Der innere
Streit wurde aber durch neues Waffengeklirr übertönt. Es be-
gann der große Befreiimgskrieg Preußens und der verbündeten
Staaten gegen Napoleon.
Die patriotischen Flammen, von denfen das ganze Land er-
griffen war, entzündeten auch die Herzen der Juden, die erst
eben in den Verband der preußischen Staatsbürger aufgenom-
men worden waren. Außer den auf Grund der Militärpflicht
Eingezogenen traten in die preußische Armee auch mehrere
Hundert jüdischer Freiwilliger ein. Die jüdischen Soldaten
nahmen an allen Kriegen von 1813 — 1814 auf allen Schlacht-
feldern Europas teil; viele von ihnen wurden bei I^eipzig und
bei Waterloo verwundet und getötet; viele zeichneten sich durch
Heldentaten aus und errangen das Eiserne Kreuz ; einige Dutzend
wurden sogar zu Offizieren befördert. Die jüdischen Frauen
gingen auf den Kriegsschauplatz als barmherzige Schwestern.
14' 211
Die Gemeinden spendeten große Summen für Heereszwecke,
Oft machte sich das Bestreben, seinen Patriotismus zu demon-
strieren und sich als der Emanzipation würdig zu zeigen,
bemerkbar. Aber weder die Heldentaten noch die anderen
Äußerungen des Patriotismus vermochten den Anmarsch der
judenfeindlichen Reaktion aufzuhalten, die in Preußen zugleich
mit der allgemeinen Reaktion nach dem Wiener Kongreß einzog.
Die vom zertrümmerten und erniedrigten Preußen erzwungene
Emanzipation zeigte sidi für das triumphierende Preußen als
überflüssig. Die verspätete Emanzipation der preußischen Juden
esdstierte nur drei Jahre und begarm dann, vom tödlichen Hauch
der Restauration getroffen, zu dorren.
§ 33. Die vorübergehende Emanzipation im Gebiete fran-
zösischer Herrschaft (Westfalen, Frankfurt, Hansastädte). Die
sechsjährige Herrschaft Napoleonischer Politik in Deutschland
(1806 — 1812) brachte den Juden jener Staaten, die dem fran-
zösischen Einflüsse unmittelbar unterlagen, eine vorüber-
gehende Emanzipation. Zuerst wurde sie den Juden des
neuen Königreichs Westfalen zuteil, das Napoleon (nach
dem Tilsiter Frieden, 1807) aus verschiedenen Teilen Han-
novers, Braunschweigs, Hessens und den preußischen Gebieten
zwischen der Elbe und dem Rhein geschaffen hatte. An
der Spitze dieses ephemeren Staates stand der ephemere König,
Napoleons Bruder, Jeröme Bonaparte, der nach Pariser
Weisungen regierte. Nach der Verkündigung der allgemeinen
Verfassung für das Königreich Westfalen, durch die allen Bür-
gern die Gleichheit verliehen wurde, erschien im Januar 1808
ein eigenes königliches Dekret über die Abschaffung aUer Be-
schränkimgen für die Juden. Das Dekret beginnt mit den Wor-
ten: „Unsere Untertanen, welche der Mosaischen Religion zu-
getan sind, sollen in Unseren Staaten dieselben Rechte vmd
Freiheiten genießen, wie Unsere übrigen Untertanen"; selbst
den aus den anderen Ländern zuziehenden Juden wurde volle
Gleichberechtigung versprochen. Dies war der erste Akt der
Emanzipation auf deutschem Boden.
Der Übergang von der Sklaverei zur Freiheit rief bei der
jüdischen Bevölkerung Westfalens ungeheuren Enthusiasmus
hervor. Als König Jeröme in seine Residenz Kassel einzog, wurde
er von den Juden mit besonderer Begeisterung begrüßt. Bei der
212
Festbeleuchtung waren im Fenster eines jüdischen Hauses
riesengroße Handfessehi ausgestellt mit der Inschrift: „Unsere
Ketten sind gesprengt." Bald darauf erschien eine jüdische
Deputation, tmi den König persönlich zu begrüßen. An der
Spitze der Deputation stand der einflußreiche Freund und Ge-
sinnungsgenosse Friedländers, Israel Jacobson aus Braun-
sehweig.
Jacobson der Hoffaktor oder Finanzrat des Braunschweiger
Herzogs Karl Ferdinand gewesen war, trat in die Dienste
Jerome Bonapartes über, als Braxmschweig dem Königreiche
Westfalen angegliedert wurde. Jacobson sehnte sich schon längst
nach französischen Zuständen, nach der Emanzipation der
deutschen Juden nach französischem Muster imd nach der
Reformierung des jüdischen I^ebens. Die Nachricht von der
Berufung der jüdischen Notabein durch Napoleon nach Paris
versetzte ihn in helles Entzücken; er schrieb (im Sommer 1806)
an den Kaiser einen Brief mit der Bitte, seine „reformierende
Tätigkeit auf die Juden aller I^änder auszudehnen"; dieser Brief
kam auch in die Zeitungen und bildete vielleicht einen der An-
lässe zur Einberufung des ,, Großen Synhedrions". Die Be-
schlüsse des Synhedrions beflügelten Jacobson, der sich auch
schon früher mit dem Gedanken, die Juden durch Assimüation
zu retten, herumtrug, zu neuen Taten. In der Stadt Seesen be-
stand seit dem Jahre 1801 eine auf Jacobsons Kosten begründete
Schule, in der jüdische und christliche Kinder zusammen er-
zogen wurden; die musterhaft organisierte Schule war weit und.
breit bekannt und brachte ihren Gründer in den Ruf eines frei-
gebigen Philantropen. Die äußerliche, zuweüen erkünstelte An-
näherung der Juden an die Christen, der jüdischen Lebens-
formen an die christlichen — diese Lieblingsidee Jacobsons
war zugleich die Quelle seiner guten Werke, wie auch seiner
traurigen Verirrungen.
Am 9. Februar 1808 stellten sich dem König Jeröme zu Kassel
zweiundzwanzig Vertreter der jüdischen Gemeinden Westfalens
mit Jacobson an der Spitze vor. Jacobson hielt eine Rede, in
der er den kleinen Bruder des großen Napoleons mit Cyrus,
dem Befreier Israels, „das imter dem Joche einer barbarischen
Gesetzgebung verschmachtete", verglich; die Juden werden sich
d^ Geschenkes der Gleichberechtigung würdig zeigen: „sie
213
werden euren Heeren Soldaten, euren Städten Kaufleute, euren
Feldern Ackerbauer liefern." Der König antwortete sehr herz-
lich: „Sagt euren Brüdern, daß sie die ihnen verliehenen Rechte
ausnützen sollen. Sie dürfen auf meinen Schutz ebenso wie alle
meine anderen Kinder rechnen."
Die Emanzipation war gesichert, und Jacobson machte sich
mit großem Eifer daran, im neuen Königreiche die französisch-
jüdische Konsistorialordnung einzuführen, deren Entwurf kurz
vorher in Paris ausgearbeitet worden war. Eine Regierungs-
kommission unter der I^eitung Jacobsons paßte diesen Entwurf
schnell den lokalen Verhältnissen an, und König Jeröme ordnete
mit dem Dekret vom 31. März 1808 die Neuorganisierung der
jüdischen Gemeinden im Königreiche Westfalen an. Dies ge-
schah zwei Wochen nach der VeröffentHchung des Napoleo-
nischen Dekrets von den Konsistorien in Frankreich (s. oben
§ 42). In der Einleitung ztim westfälischen Dekret waren fol-
gende charakteristischen Gründe aufgezählt: „Wenn die Juden
gleich Unseren anderen Untertanen die freie Ausübung ihres
Gottesdienstes genießen sollen, muß diese Religionsübung
auch, wie die anderen. Unserer Aufsicht unterworfen sein, da-
mit sie nicht mit der Gesetzgebung und derjenigen öffent-
lichen Moral in Widerspruch stehe, welche die Richtschnur aller
Menschen sein und aus ihnen nur eine einzige politische Ge-
sellschaft büden muß. Die Juden dürfen nicht ferner eine ge-
trennte Gesellschaft (im corps a part) im Staate ausmachen,
sondern müssen nach dem Beispiele aller Unserer Untertanen,
sich in die Nation, deren Glieder sie sind, verschmelzen —
(se fondre dans la nation)." Das Dekret errichtet zu Kassel, der
königlichen Residenz, ein aus einem Vorsitzenden, drei Rab-
binern und zwei gelehrten Laien bestehendes jüdisches Kon-
sistorium. Es soll von den Gemeinden selbst und nicht aus
Staatsmitteln unterhalten werden. Ebenso wie in Frankreich,
gehören ins Ressort des Konsistoriums alle geistlichen Ange-
legenheiten der Gemeinden, darunter auch der Religionsunter-
richt; es ist femer verpflichtet, die Rabbiner und die Lehrer in
dem Sinne zu beeinflussen, daß sie „Gehorsam gegen die Gesetze
und besonders gegen diejenigen, welche sich auf die Verteidigung
des Vaterlandes beziehen, lehren; daß sie in ihrem Unterrichte
den Militärdienst als eine heüige Pflicht darstellen, während
214
deren Ausübung das G^etz von allen damit unvereinbaren
religiösen Gebräuchen entbindet**.
Ende 1808 wurde das Elasseler Konsistorium eröffnet. Zu
seinem Präsidenten ernannte die Regierung Israel Jacobson,
obwohl er kein geistliches Amt bekleidete, und zu Mitgliedern —
drei Rabbiner und zwei Laien (einer der gelehrten Laien war
der Dessauer Lehrer David Fränkel, der Herausgeber der fort-
schrittlichen jüdischen Zeitschrift in deutscher Sprache ,,Sula-
mith"). Alle Mitglieder waren nach Weisungen Jacobsons er-
nannt worden, der unumschränkter Herr dieses neugeschaffenen
Instituts war. Er ließ ein Siegel anfertigen mit der Inschrift:
„Königlich Westfälisches Konsistorium Mosaischer Religion"
und legte sich eine Galauniform an, die aus einem goldgestickten
Talar aus schwarzem Tuch mit der Darstellung der zehn Gebote
auf der Brust bestand. Das Kasseler Konsistorium wurde zu
einer Art jüdischen Kultusministeriums und erließ zahlreiche
Dekrete, die das ganze Leben der Juden des Königreichs
regulierten 1). Jacobson machte sich mit Feuereifer an die Re-
formierung des Religions- und Gemeindewesens, Er ging dabei
(wie es aus der von ihm der Regierung überreichten Denkschrift
ersichtlich ist) von der Überzeugung aus, daß nur eine Reform
die jüdische Gemeinde und selbst die ganze junge Generation
vor gänzlicher Auflösimg retten könne. Er sah in der deutschen
Judenschaft zwei Extreme: einerseits die streng orthodoxe
Masse, die an den veralteten Formen der Religion tmd des
Lebens festhält, und andererseits — die neue Generation, die
unter dem Einflüsse einer, oft recht oberflächlichen europäischen
Bildtmg sich von der Religion der Väter lossagt oder der Schar
derjenigen beitritt, die außerhalb des Judentums und des
Christentums stehen — der hohlen Stutzer, sittenloser, ver-
dorbener Menschen, die die Idee der Aufklärung in konserva-
tiven Kreisen kompromittieren. In Frankreich hätte die Wieder-
gebiurt der Juden den richtigen Weg eingeschlagen: zuerst hätte
die Revolution die Juden emanzipiert und alle Religionen ein-
ander gleichgestellt und dann, während des Konvents, auch die
Religion selbst abgeschafft; heute hätte aber Kaiser Napoleon,
^) Im Jahre 1808 betrug die Zahl der Juden im Königreich Westfalen 15 000;
sie stieg aber fortwährend durch Zufluß von Binwanderem, die die Bnianzi-
pation aus den anderen Gebieten Deutschlands anlockte.
215
der Schöpfer des Pariser Synhedriohs, Maßregeln zur Organi-
sation des jüdischen Kulttis ergriffen; dieses französische System,
des Umbaues der jüdischen Gemeinde könne im Königreiche
Westfalen die beste Anwendung finden.
Und nun begann das Kasseler Konsistorium ein Rundschreiben
nach dem anderen zu erlassen: von den Rechten und PfHchten
der Rabbiner und Gemeindeältesten, von den Synagogen, Schu-
len, dem Ivchrerpersonal usw. Es ging dabei durchaus napoleo-
nisch vor, indem es die religiösen Gebräuche, insbesondere
solche, die mit bürgerlichen Akten zusammenhingen, durch
Dekrete abänderte. Mit Beruftmg auf das königliche Dekret er-
klärte das Konsistorium alle Eheschließungen und Eheschei-
dungen, denen kein entsprechender Akt in standesamtlichen
Institutionen vorangegangen war, für ungültig, imtersagte die
Trauungen unter freiem Bummel und schaffte einige veraltete
Hochzeitsbräuche ab. Es führte eine obligatorische religiöse
„Konfirmation" in der Synagoge ein: für Knaben mit dreizehn,
für Mädchen mit zwölf Jahren, nach dem Vorbilde der pro-
testantischen Konfirmation, mit einem öffentiichen Examen in
der Glaubenslehre, mit Reden, Rabbinervorträgen usw. Schon
diese Neueinführung allein war ein Attentat auf das Gewissen
der Rechtgläubigen; noch größere Aufregung riefen die Konsi-
storialerlasse bezüglich der Synagogen hervor. Um eine einheit-
liche Gottesdienstordnung durchzusetzen, verbot das Konsi-
storium jeden öffentlichen Gottesdienst in privaten Betstuben
und verpflichtete die Einwohner einer jeden Stadt, nur in der
einen offiziellen Synagoge zu beten, wo der Gottesdienst nach
einer vom Konsistorium vorgeschriebenen Ordnung, unter Weg-
lassung verschiedener Gebete imd Gebräuche, abgehalten wurde.
Als die aufs höchste erregten Gemeinden sich bei der Regierung
über die Einengung der Gewissensfreiheit beschwerten, erwirkte
Jacobson ein königliches Dekret (vom 5. Juli 1811), welches die
Verfügung des Konsistoriums über das Verbot des privaten
Gottesdienstes außerhalb der reformierten Sjmagogen aufs nach-
drücklichste bestätigte. Auf dem gleichen bureaukratischen
Wege wurde auch die Schulreform durchgeführt. Das Konsi-
storium ließ in jeder Stadt je eine Schule errichten, in der die
Religion und die biblische Sprache von einem jüdischen Lehrer,
die übrigen Gegenstände aber von einem Christen gelehrt
216
wurden. Privattmterriclit im „Cheder" wurde untersagt. Im
Jahre 1810 wurden in Kassel die erste Schule dieser neuen Art
und ein Lehrerseminar, eröffnet. Die Erhöhtmg der Steuern und
die allgemeine Unzufriedenheit mit den neuen Ordnungen riefen
zahlreiche Klagen der Gemeinden hervor; sie ersuchten den
König, das kostspielige Konsistorium abzuschaffen und die Last
der speziellen Abgaben, die die Juden neben den Staatssteuem
zu zahlen hatten, zu erleichtern.
Da nahte aber schon das Ende des ephemeren Königreichs
Westfalen: es schwand zugleich mit Napoleon (1813), und mit
ihm schwand auch die ganze Neuorganisation des Judentums.
Die Ära d^r vollen Emanzipation war nur von kurzer Dauer
gewesen: die westfälische Oase der Gleichberechtigung auf
deutschem Boden hatte kaum sechs Jahre bestanden. Während
dieser kurzen Zeitspanne konnten die rund zwanzigtausend aus
„geduldeten" zu freien Bürgern gewordenen Juden frei atmen.
Viele Rechtlose waren aus anderen deutschen Landen nach
Westfalen übersiedelt. Ebenso kurz war auch die Ära der in-
neren, von Jacobson unternommenen Reformen. Diese waren
übrigens auch, abgesehen von der politischen Krise, zu einem
Mißerfolg verurteilt. Jacobson hatte eine gute Absicht: das
geistige Leben der Juden mittels Reformen ästhetischer und für
die neue Generation der „Aufgeklärten", die sich von der jü-
dischen Gemeinde tmd Synagoge durch deren veraltete Formen
abgestoßen fühlten, anziehender zu machen. Neben diesem Motiv
hatte er aber auch noch ein anderes, auf die Außenwelt gerichte-
tes: den Wunsch, Synagoge, Schule und Gemeindeordnimg zu
germanisieren, um auf diese Weise die Juden mit den Christen
zu verschmelzen. Jacobson übersah die tieferen Gründe des
Abfalls der gebüdeten Klassen und setzte alle seine Hoffnungen
auf die Reformierung des Ritus, die er obendrein mit den Macht-
mitteln der Bureaukratie betrieb. Er verwandelte das Konsi-
storium in eine Fabrik von Reformen, die den Gemeinden auf-
gezwungen wurden, imd schenkte den Protesten der Unzu-
friedenen nicht die geringste Beachtung. Wie die meisten Männer
jenes Revolutionszeitalters hatte Jacobson für die Methoden
einer evolutionären, von historischen Wurzeln ausgehenden Re-
form kein Verständnis. Gleich Friedländer und den anderen
Führern „des neuen Judentums" negierte er die Idee der jü-
217
dischen Nationalität, und seine ganze Arbeit ging auf die Schaf-
fung eines oberflächliclien Kompromisses zwischen dem Un-
glauben und der nach der letzten Mode „gereinigten" Religiosität
hinaus.
Von noch kürzerer Dauer als in Westfalen war die vorüber-
gehende Emanzipation in der alten Hochburg der Rechtlosig-
keit, der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo die Er-
ringung der ephemeren Freiheit noch größere Mühe kostete.
Vor der Invasion Napoleons stand das Frankfurter Ghetto (§ 2)
als ein mittelalterlicher Fels im stürmischen Meere der Zeit da.
Die Patrizieroligarchie, die die Stadt regierte, wollte von ir-
gendwelchen Neuerungen nichts hören. Vergeblich pochten die
Gefangenen des Ghettos an die Türen der europäischen Kon-
gresse (§ 28) — sie bekamen keine Antwort. In den Mauern des
Ghettos regte sich aber schon etwas : der freie Geist drang durch
die von der Berliner Aufklärung geschlagenen Breschen ein und
rief zu-*einem neuen lieben auf. Eine Gruppe aufgeklärter Frank-
furter gründete das freie Gymnasium „Philantropin" zwecks
Erziehung der jüdischen Kinder im Geiste der Zeit, und dieses
Institut wurde zu einer Zitadelle der Reformen. Die Nach-
richten über die Versammlung der Notabein zu Paris hoben den
Mut der Frankfurter Aufklärer und beflügelten ihre Hoffnungen,
um so mehr als bald darauf (1806) Napoleon das Schicksal
Deutschlands in die Hand nahm und den ,, Rheinbund" mit
Frankfurt als Hauptstadt gründete. Aus Frankreich kamen
Hoffnungen auf die Emanzipation, und aus dem Ghetto erhoben
sich Befreiungshymnen. In Frankfurt büdete sich ein fort-
schrittlicher Verband aus zweihundertfünfzig Gemeindemitglie-
dem, der sich zur Aufgabe machte, die französischen Reformen
auf deutschen Boden zu verpflanzen. Im November 1806 schickte
dieser Verband eine Begrüßungsadresse an die Pariser Versamm-
lung jüdischer Deputierter. Diese Adresse rühmte den Groß-
mut der französischen Nation, „die die Fesseln eines so lange
bedrängten Volkes zerschlagen", die Wohltaten „des unsterb-
lichen Napoleons", der die besten Vertreter der Judenheit
zwecks „Säuberung unserer Religion" zusammengerufen habe,
und die „weisen Antworten" der Pariser Versanmilung auf die
Fragen des Kaisers. In der Adresse wurde femer der Wunsch
geäußert, daß „das schöne Beispiel Frankreichs auch außerhalb
2i8
der Grenzen des Kaiserreichs Nachahmung finden möchte".
Die Frankfurter Adresse wurde in der Versammlung gerade in
dem Augenblick verlesen, sls sie dem „Großen Sjmhedrion"
Platz machen wollte, und der Präsident der Versammlung,
Furtado, antwortete den deutschen Verehrern Napoleons mit
einem Briefe im gleichen Geiste. Schon zwei Monate später hatten
zwei Vertreter der Frankfurter Gemeinde (der Rabbiner Salo-
mon Trier und Isaak Hildesheim) das „Glück", an den Sitzungen
des Pariser Synedrions teilzunehmen. In einer der letzten
Sitzungen gaben die Frankfurter Vertreter die Erklärung ab,
daß ihre Gemeinde sich allen Beschlüssen des Synhedrions fügen
wolle, „sobald unser Regent sie gutheißt und unsere Brüder die
gleichen Bürgerrechte erhalten, die die Juden Frankreichs und
Italiens bereits genießen". In dieser Erklärung war der Zu-
sammenhang zwischen der inneren Reform und der Emanzi-
pation ganz unzweideutig ausgesprochen, und die Wallfahrt der
Frankfurter nach Paris wurde dadurch ins richtige Licht gerückt.
Der „Regent" Frankfurts, von dem die Deputierten sprachen,
war der von Napoleon eingesetzte Fürstprimas des Rheinbundes,
Karl von Dalberg, der ehemalige Kurfürst von Mainz, ein Mann
liberaler Gesinnimg im französischen Geiste. Er war bereit, die
schmähliche Ghettoordnung abzuschaffen, aber die Frankfurter
städtische Oligarchie, die konservativen Patrizier und Bürger
ließen sich nur zu einigen unbedeutenden Zugeständnissen her-
bei. Am 30. November 1807 wurde für Frankfurt die „Neue
Stättigkeit- und Schutzordnung der Judenschaft" erlassen, die
aber an der alten Ordnung nichts Wesentliches änderte. Sie er-
weiterte das Juden viertel, schaffte es aber nicht ab; die Zahl
der jüdischen Familien durfte auch jetzt die frühere Norm
(fünfhundert) nicht übersteigen, und neue Ehen wurden nur im
Falle einer „Vakanz" innerhalb dieser Norm gestattet; viele
Zweige des Handels blieben den Juden verschlossen; nur zum
Handwerk und in die Schulen wurden sie zugelassen; für diese
„Privilegien" mußte die jüdische Gemeinde der Stadt ein
„Schutzgeld" von zweiundzwanzigtausend Gulden im Jahre
zahlen. Als der Fürstprimas dieseä Reglement unterzeichnete,
machte er den Zusatz, daß vielleicht später einmal „dem Zeit-
geiste entsprechende" Änderungen und sogar die gänzliche Ab-
schaffung der Beschränkungen möglich sein würden.
219
Die Frankfurter Juden, die vom französischen Protektorat
jeden Segen erwarteten, sahen sich durch das neue Reglement
sehr enttäuscht. Die Fortschrittler erhoben einen Protest. Die
von der Regierung eingesetzten neuen Gemeindeältesten weiger-
ten sich, ihr Amt anzutreten. Eine Deputation von der Gemeinde
ging nach Paris und überreichte dem Eürstprimas eine von
einigen hundert Gemeindemitgliedern unterschriebene Petition.
Nun mischte sich auch der Führer der emanzipierten Westfalen,
Israel Jacobson, in die Sache. Er überreichte dem Fürstprimas
eine „alleruntertänigste" Eingabe, in der er ihn aufforderte, den
Spuren des „Helden des Jahrhunderts", Napoleons, zu folgen
und den Überresten einer barbarischen Zeit, die einen Schand-
fleck auf der Frankfurter Gesetzgebung büden, ein Ende zu
machen (Anfang 1808). Zur Verteidigung der alten Gesetz-
gebimg und gegen die Denkschrift Jacobsons trat der Verfasser
einer anonymen Broschüre auf. Dieser Kampf weckte auch das
Interesse des großen Sohnes Fr?inkfurts, des Dichterfürsten und
Fürstendichters Goethe. Goethe konnte sich selbst auf den
Höhen des Geistes nicht von den kläglichen Standesidealen
jener Patriziergesellschaft freimachen, der er entstammte, und
alle seine Sympathien waren auf Seiten der Bedrücker. Er
äußerte sich, daß die neue Frankfurter „Stättigkeit" die Juden
mit Recht „als wahre Juden und ehemalige kaiserliche Kammer-
knechte tractirte". Goethe leistet sich in einem Briefe den
Scherz: „Es war mir sehr angenehm zu sehen, daß man dem
finanzgeheimräthlichen jacobinischen Israelssohn so tüchtig nach
Hause geleuchtet hat." (Der Witz besteht in der Verdrehtmg des
Namens Israel Jacobson.) Alle Proteste und Petitionen der
Kämpfer für das Recht hatten anfangs tatsächlich keinen Erfolg.
Eine Änderung trat erst im Jahre 1810 ein, als unter der Re-
gierung des gleichen Fürstprimas das Großherzogtum Frankfurt
gebüdet wurde, welches aus der Reichsstadt Frankfurt, Teilen
des Kurfürstentums Mainz und einigen anderen rheinischen Ge-
bieten bestand. In den Grundgesetzen des Großherzogtums war
natürlich von der Gleichheit aller vor dem Gesetz die Rede,
aber niemand beeilte sich, auch den Juden Gleichberechtigtmg
zu gewähren. Es begann ein Feilschen zwischen der Bürger-
schaft und den Juden über den Umfang der zu gewährenden
Rechte und über die zu zahlende Entschädigung. Der frühere
220
Fürstprimas und nunmehrige Großherzog Kaxl erklarte sich
bereit, den Juden Gleichberechtigung zu gewähren, unter der
Bedingtmg, daß die Frankfurter Gemeinde 440 000 Gulden
einzahlt, d. h. das Zwanzigfache des Betrages, den sie vorher
alljährlich als „Schutzgeld" entrichtet hatte und um den die
Stadt nun geschädigt sein würde. Die Juden gingen darauf ein,
und das Geschäft kam zustande. Am 28. Dezember 181 1 wurde
ein großherzogliches Edikt erlassen, welches erklärte, daß für
die Juden von nun an der von der Gleichheit aller Bürger han-
delnde Paragraph der Grundgesetze gelte ufid daß alle früheren
Beschränkungen endgültig aufgehoben seien.
So kauften sich die Frankfurter Juden ihre Gleichberechtigung
für eine halbe Million Gulden; sie hätten aber dieses Geld wohl
kaum hergegeben, wenn sie gewußt hätten, daß diese Gleich-
berechtigung nur zwei Jahre in Kraft bleiben würde. Sobald
sich die Resultate der Befreiungskriege (1813 — 1814) zeigten,
beeüte sich die Frankfurter Bürgerschaft, zugleich mit dem
französischen Joch auch das „Joch" der jüdischen Gleichbe-
rechtigung abzuschütteln.
Vorübergehende Freiheit brachte die französische Herrschaft
auch den Juden der drei Hansastädte — Hamburg, Lübeck und
Bremen. Die große jüdische Gemeinde von Hamburg (an die
neuntausend Seelen) stöhnte unter dem Drucke eines strengen
Reglements, einer Schöpfung der Gesetzgeber dieser freien Stadt
— des Bürgersenats und der Kaufmannsgüden, die die Handels-
interessen der Christen vor jüdischer Konkurrenz schützen woll-
ten. Die Okkupation Hamburgs durch französische Truppen
(1810) schloß diese Stadt unmittelbar an das französische
Kaiserreich an, und die bürgerhche Gleichberechtigung der
Juden wurde sofort ohne jeden Kampf verwirklicht (1811).
Alle Beschränkungen in bezug auf das Wohnrecht, den Erwerb
von unbeweglichem Eigentum, Handel, Gewerbe und Schvd-
unterricht wurden abgeschafft; einige Juden wurden sogar in
die Stadtvertretung gewählt. Man begann auch die Selbstver-
waltung der Gemeinden nach dem in Paris aufgestellten Konsi-
storialtypus zu reformieren. Die von den Franzosen eingeführte
Gleichberechtigung verschwand aber zugleich mit ihnen, als
Anfang 1814 die deutsche Befreiungsarmee Hamburg besetzte.
Die in den Reihen dieser Armee kämpfenden Söhne der Ham-
231
burger Juden ahnten noch nicht, daß die Befreiung des deut-
schen Vaterlandes zu einer neuen Knechtung des jüdischen
Volkes führen würde.
In den Handelsstädten lyübeck und Bremen, die bisher
den Juden verschlossen waren, büdeten sich in dieser kurzen
Zeit von drei Jahren kleine jüdische Kolonien, vorwiegend aus
den Bewohnern der anliegenden Städte und Märkte. Aber die
Befreiung Deutschlands von den Franzosen „befreite" auch diese
Städte von dem für die ansässige christliche Kaufmannschaft
so unbequemen jüdischen Element.
§ 34. Die alte Ordnung und Reformversuche (Sachsen, Bayern,
Mecklenburg, Baden). In vielen deutschen Staaten gelang es den
Juden selbst während der französischen Herrschaft nicht, Gleich-
berechtigung zu erlangen. Keinerlei Zugeständnisse errangen die
wenigen Juden Sachsens, dessen Regierung zwar mehr als aUe
anderen vor Napoleon scharwenzelte, aber es dennoch fertig-
brachte, die alte judenfeindliche Gesetzgebung (§2) beizubehalten.
Die Juden wurden hier kaum geduldet, die Vermehrung war
ihnen verboten, und bei allen Stadttoren imd auf Reisen mußten
sie jenen „Viehzoll" entrichten, der in fast allen anderen deut-
schen Staaten schon abgeschafft war. Von dieser erniedrigenden
Abgabe waren, Napoleon ztdiebe, nur die französischen und
westfälischen Juden befreit. Der Zoll wurde erst zu Beginn
der Befreiungskriege (1813) abgeschafft, als die verbündete
preußisch-russische Armee Sachsen besetzte und eine provi-
sorische Regierung errichtete.
Hartnäckig hielt an seinem Recht auf die jüdische Recht-
losigkeit Bayern fest, dessen dreißigtausend Seelen*) zählende
jüdische Bevölkerung unter dem Drucke von Ausnahmegesetzen
verschmachtete. In einem I^ande, wo der Katholizismus die
herrschende Religion war, und wo selbst die Protestanten ge-
wissen Beschränkungen unterlagen, konnte der Kampf kaum zu
einem nennenswerten Erfolg führen. Der für „liberal" gehaltene
Kurfürst (ab 1806 König) Maximilian Joseph erließ ein Edikt
von der Glaubensfreiheit für die Protestanten (1800), dehnte
es aber auf die Juden nicht aus, sondern äußerte nur den Wunsch,
^) Diese Ziffer bezieht sich auf die zweite Hälfte der Periode (1801 — 1806),
als Bayern im Laufe der Napoleouischen Kriege die neuen Gebiete Frankens
und Schwabens bekam.
222
daß „dieser unglücklichen Menschenklasse, nachdem man sie
doch aus den Erbstaaten nicht verbannen könne, ohne sich
einer Grausamkeit und Ungerechtigkeit schuldig zu machen,
eine solche Einrichtung' gegeben werden möchte, durch welche
sie allmählich zu nützlichen Staatsbürgern erzogen werden wür-
den". Die durch diese „gnädige" Resolution ermutigten Juden
Frankens wandten sich an den Würzburger Theologieprofessor
Oberthür, der gerne die Rolle des edlen Abbe Gregoire spielen
wollte, mit der Bitte, sich vor dem Throne zu verwenden, daß
man ihnen alle Bürgerrechte und volle Gleichstellung mit den
Christen gewähre (1803). Oberthür fand diese Forderung allzu
kühn und reichte „aus diplomatischen Rücksichten" im Namen
der Juden eine bedeutend bescheidenere Petition ein, die er
selbst verfaßt hatte, und in der die Judenschaft Frankens um
„Erleichterung ihres sie schwerdrückenden Loses" und um die
Gleichstelltmg mit allen übrigen Untertanen „in Staatsauflagen,
im Handel xmd Wandel und in allen Vorteilen der bürgerlichen
Gesellschaft, soviel es einstweilen noch tunlich imd anderen
Staatsrücksichten und Verhältnissen nicht entgegen ist", er-
suchte. Die Regierung brauchte diese allzu bescheidene Bitte,
die der Theologe den Juden aufgezwungen hatte, nicht einmal
abzulehnen; hatten doch die Bittsteller selbst schon im voraus
eine mögliche Absage motiviert; gibt es denn einen Unter-
drückungsakt, den man nicht mit „Staatsrücksichten" recht-
fertigen könnte?
Der Sturm von 1806 reinigte auch in Bayern, das sich dem
Rheinbunde anschloß, einigermaßen die Luft. Die neue Ver-
fassung gewährte allen Einwohnern, „unabhängig von ihrer
Konfession", doch innerhalb der christhchen Religion, die
Bürgerrechte. Die Juden bekamen nur einige Erleichterungen:
sie wurden vom schändlichen „Leibzoll* befreit (1808) und be-
kamen Zutritt in die allgemeinen Schulen; vorher hatte man
sie schon der Zulassung in die Bürgermiliz für würdig befunden.
Die Regierung hielt die Juden vom nenCA Staatsbürgertum
ferne, beeilte sich aber, ihre alte Gemeindeautonomie abzu-
schaffen : die Rabbinergerichte für interne Streitigkeiten wurden
verboten. Gegen die Abschaffimg der alten Freiheiten ohne die
Gewährung von neuen protestierte die große Judengemeinde
von Fürth (1809). In einer Bittschrift an den König wies sie
223
darauf hin, daß das Rabbinergericht für die internen Angelegen-
heiten notwendig sei, weil viele Zivilakte (wie Ehekontrakte,
Testamente nsw.) mit religiösen Gesetzen zusammenhingen.
Der König kam dieser Bitte nach und willigte auf eine provi-
sorische Erhaltimg der Rabbinergerichte ein. Dafür wurden
aber sämtUche Bitten um die Gewährung von Gleichberechtigung
bis zum Jahre 1812 konsequent abgelehnt. Das preußische
Märzedikt über die Emanzipation gab den bayerischen Juden
neuen Mut. Die Gemeinden von München und Bamberg wandten
sich an den König mit Petitionen, in denen sie ihn um die
Emanzipierung ihrer ,, Glaubensgenossen" im ganzen König-
reiche auf Grundlage des Prinzips „der gleichen Rechte imd der
gleichen Pflichten** baten. Die Bittsteller beriefen sich auf die
Beschlüsse des Pariser Synhedrions, um zu beweisen, daß die
jüdische Religion ihre Anhänger durchaus nicht hindere, gute
Bürger zu sein, und auf die bereits in Frankreich, Holland,
Westfalen, Großherzogtum Frankfurt und schließlich Preußen
erfolgte Emanzipation.
Alle diese hartnäckigen Bitten zwangen endlich die Regierung
von Bayern, ein neues Gesetz für die Juden zu erlassen (10. Juni
1813). Dieses Gesetz brachte aber den Kämpfern für die Emanzi-
pation eine schwere Enttäuschung: die Juden erhielten statt
Freiheit nur die alte Elnechtung in neuer Aufmachung. Das
Edikt, das iij seiner Einleitung von der „vollen Gewissens-
freiheit'* spricht, bringt in seinen vierunddreißig Paragraphen
etwas ganz Entgegengesetztes. Das neue Gesetz ließ die beiden
Grimdpf eiler der alten Rechtlosigkeit in Kiait: das schmäh-
liche „Schutzjudentum", d. h. das Recht, nur auf Grund eines
eigenen, recht kostspieligen Privilegiums zu wohnen, und die
Normierung der jüdischen Bevölkerung. Jede jüdische Familie,
die sich vor 1813 mit gesetzlicher Erlaubnis in Bayern nieder-
gelassen hatte, mußte eine eigene sogenannte „Matrikel" be-
sitzen, die ihr das Wohnrecht in der betreffenden Stadt gewährte
und vom Vater auf den ältesten Sohn vererbt wurde. Der älteste
Sohn hatte das Recht, eine Famihe zu gründen, die übrigen
Söhne mußten aber auf eine Matrikelvakanz, d. h. auf den Tod
oder die Auswanderung irgendeiner Familie warten, ehe sie eine
eigene Familie gründen durften; ausnahmsweise wurde eine
solche Genehmigung beim Kaufe einer neuen Matrikel, die bis
224
zu tausend Gvdden kostete, erteilt. Der Zweck der neuen Re-
glementierung ist in § 12 des Edikts unverhüllt angegeben:
,,Die Zahl der Judenfamilien an den Orten, wo sie dermahlen
bestellen, darf in der Regel nicht vermehrt, soU vielmehr nach
und nach vermindert werden, wenn sie zu groß ist." Das
Ideal der allmähhchen Verminderung der Judenheit wurde,
außer durch die direkte Normierung, auch noch durch ein ganzes
Netz grausamer Beschränkungen in der Freizügigkeit und im
Handel angestrebt. Die Niederlassung neuer jüdischer Kauf-
leute im Lande war unbedingt verboten, und nur Fabrikanten,
Handwerker und Ackerbauer konnten vom König Matrikeln
erhalten.
So reagierte die bayerische Regierung auf die „Forderung
der Zeit". Sie selbst bezeichnete das neue könighche Edikt als
ein Verbesserungs- und Erziehungsgesetz, das die Juden mittels
Repressalien erziehen sollte, um sie später in das gelobte Land
der Freiheit einzuführen. Die Regierung zeigte aber damit nur,
daß sie selbst einer politischen Verbesserung und Erziehimg
bedurfte. Ein bayerischer Historiker (Lerchenfeld) weist mit
Recht darauf hin, daß die Berufung auf die „Gewissensfreiheit"
an der Spitze eines solchen Edikts wie ein Hohn klinge . . .
Das neue pharaonische Gesetz rief in den jüdischen Gemeinden
Stürme der Entrüstung hervor. Die Empörung war um so größer,
als das gleiche Gesetz auch der Gemeindeautönomie einen harten
Schlag versetzte : die Regierung verbot von neuem das Rabbiner-
gericht, gleichsam um die den Juden in bezug auf die Bürger-
rechte erwiesenen „Wohltaten" zu kompensieren. Und wieder
kam ein Protest aus dem alten jüdischen Fürth, das auf sein
Rabbinat, seine Gelehrten und seine Lehr- und Wohltätigkeits-
anstalten stolz war, „Schmerzlich ist uns diese Regel (der
Paragraph von der angestrebten Verminderung der Judenheit),"
schrieben die Fürther Gemeindeältesten in ihrer Petition, „theils
um deswillen, weil wir bisher im Zuwachs oder Abnehmen unse-
rer Genossenschaft ein untrügliches Anzeichen von Steigen und
Fallen unseres Wohlstandes sowie jenes der ganzen Stadt
beobachtet haben, mithin wir in dem Gebot Eurer Königlichen
Majestät den Stillstand unseres Wohlstandes, und da in keinem
Organismus ein anhaltender Stillstand möglich ist, sogar den
Untergang unseres Glückes zu erblicken glauben; andererseits
xs Dnbnow, Geschichte der Juden I 225
können wir die Betrübnis nicht verhehlen, aus dieser Aller-
höchsten Bestimmung bei der gemeinen Volksklasse die Miß-
deutung einer absoluten Schädlichkeit schöpfen, Druck und
Verachtung folgen zu sehen," Zum Schluß bittet die Fürther
Gemeinde um die Erhaltung des Instituts des Rabbinergerichts.
Der König willfahrte dieser letzten Bitte ausnahmsweise für
Fürth allein; dem Protest gegen das pharaonische Edikt schenkte
er aber sonst nicht die geringste Beachtung. Das schändliche
bayerische Gesetz bheb auch während der ganzen folgenden
Epoche der Reaktion in Kraft.
Die Reformversuche hatten mehr Erfolg in Mecklenburg,
das sich gleichfalls dem Rheinbunde angeschlossen hatte (1808).
Sogar derselbe Großherzog Friedrich Franz I., der früher am
Prinzip der Normierung der jüdischen Bevölkerung festgehalten
hatte (§ 2), ließ sich von der französischen Mode umstimmen;
aber bei seinen Reformversuchen hatte er einen Kampf mit den
judenfeindlichen „Ständen" im Landtag zu bestehen. Die Ver-
treter der Mecklenburger jüdischen Gemeinden überreichten im
Jahre 181 1 dem Großherzog eine Petition wegen Gewährung
von Gleichberechtigung; diese Petition wurde dem Landtag
weitergegeben unter Beifügung einer Resolution des Groß-
herzogs, die dahin ging, daß es erwünscht sei, die Juden den
anderen Einwohnern gleichzustellen, um die gewissen Übel, die
die jüdischen Untertanen bei ihrer jetzigen Lage im Staate zu
erdulden haben, zu beseitigen. Der Landtag, der aus Vertretern
des Adels und der Katifmannschaft bestand, sprach sich zwar
für eine Verbesserung der Lage der Juden aus, zweifelte aber
zugleich an der Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation,
die ihre eigenen materiellen Interessen schädigen könnte. „Der
freie Jude", sagten die Stände, „wird den ihm eigentümlichen
Handelsgeist zur Verdrängung aller Handelschaft der Christen
ausbilden." Der Landtag schlug daher eine Reihe von Bedin-
gungen für eine allmähliche Emanzipation vor: i. Die Juden
müssen auf einige „unwesenthche" Eigentümlichkeiten ihrer
Religion, zu denen die Beobachtung der Sabbatruhe, die Speise-
gesetze und Ehegebräuche zu zählen sind, verzichten; 2, die
junge Generation muß mittels Zwangsunterrichts in deutschen
Schulen umerzogen werden, und jeder Vater soll nur einen
einzigen Sohn im Handel unterweisen dürfen, während die
226
übrigen Söhne Handwerke, Künste oder Landwirtschaft zu er-
lernen haben (Januar 1812). Dieses Projekt einer polizeilichen
Reglementierung des Familien- und selbst des geistigen I^ebens
empörte die Mecklenburger Juden. Abgeordnete der Gemeinden
wandten sich an den Rostocker Theologieprofessor Tychsen,
den greisen Gelehrten und Kenner der hebräischen Literatur,
der sich viele Jahre lang — natürlich ohne jeden Erfolg — um
die Verbreitung des Christentums unter den Juden bemüht
hatte. Sie baten Tychsen, seinen ganzen Einfluß auf den Groß-
herzog geltend zu machen, um den tückischen Plan des Land-
tags zu vereiteln. Der Professor kam ihrer Bitte nach, wenn
auch mit einem neuen Hinweis auf seine alte Missionärweisheit,
daß die Juden ohne Verzicht auf ihren Talmud und Schulchan-
Aruch unmöglich mit den Christen zusammenleben können.
Der Großherzog war auch ohnehin zu Reformen geneigt. Die
preußische Emanzipation von 1812 machte ihm Mut, und im
Februar 1813 erließ er ein Edikt, das nach preußischem Muster
abgefaßt, wenn auch nicht unerhebüch zugestutzt war. Die
jüdischen Familien, die bereits „Schutzbriefe" besaßen, erhielten
den Rang von „Einländern" imd die gleichen Rechte wie die
Christen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Ihre Kin-
der, die noch keine „Schutzbriefe" besaßen, mußten von der
Regierung eine eigene Konzession für den „Einländer"titel
erbitten, die sie nur auf Grund einer eigenen Bestätigung über
ihre Rechtsfähigkeit erhielten. Alle Berufe und Gewerbe waren
den Juden nun freigestellt mit Ausnahme des Hausierhandels,
den sie nur auf Grund einer eigenen Genehmigung betreiben
durften. Juden konnten in den Mihtär- und den Magistrats-
dienst, aber nicht in den Staatsdienst aufgenommen werden;
dieser letztere würde ihnen vielleicht mit der 2^it möglich ge-
macht werden. Für alle diese Vorrechte mußten die Juden auf
das Rabbinergericht und selbst auf ihre Ehe- und Scheidungs-
gesetze verzichten, da alle diese Akte den standesamtlichen
Institutionen unterlagen. Mischehen zwischen Juden und Chri-
sten wurden gestattet, doch mit der Bedingung, daß die Trau-
ungen nach christhchem Ritus vorgenommen und die Kinder in
christlicher Religion erzogen würden. Selbst diese zugestutzte
Emanzipation mißfiel den Ständen, und in den Jahren 1812 bis
1814, als die jüdischen Jünglinge ihr Blut in den Befreiungs-
T5* 227
kriegen vergossen, bestürmten Adel und Kaufmannschaft den
Großherzog mit Bittschriften, in denen sie ihn um die Errettung
des Landes von der jüdischen „Gleichberechtigung" anflehten.
Ein Gemisch der neuen Emanzipationsbestrebungen mit den
alten Disziplinarmaßregeln war um jene Zeit für die Juden-
politik in Baden bezeichnend. In diesem an Frankreich gren-
zenden Großherzogtum, wo sich auch schon vor der Napoleo-
nischen Invasion der Einfluß ausländischer freier Ideen geltend
machte, siegte während der Krise von 1806 die liberale Rich-
tung. Nach der Verfasstuig von 1808 wurden die badischen
Juden aus dem Stande der „Erbpflichtigen" in die Klasse der
„erbfreien Staatsbürger" versetzt; um aber die mit diesem
neuen Stande verbundenen Rechte zu erhalten, mußte jeder
einzelne Jude eine Bestätigung vorweisen, daß er die gleichen
Erwerbsquellen besitze, wie die Christen, d. h. daß er weder
vom Hausierhandel noch vom Maklergeschäft oder Wucher lebe.
Vom gleichen Korrektions- und Disziplinargeist war auch das
Judenedikt des Großherzogs Karl Friedrich vom 13. Januar
1809 diktiert. Den Juden Badens als einem ,, Religionsteil des
Landes" wurde das „Gemeinde- oder Ortsbürgerrecht" nur
dann verliehen, wenn sie bürgerhche Berufe ausübten.
Ausgeschlossen waren also die Hausierer, Makler, Leihhändler
und Viehhändler, welch letztere einen beträchtlichen Teil der
badischen Judenheit ausmachten. Außer den Wucherern war
also die ganze jüdische Masse, die vorwiegend aus kleinen Händ-
lern bestand (das Gesetz bezeichnete ihren Beruf verächtlich mit
„Nothandel") zu der früheren Rechtlosigkeit verdammt. Dafür
sorgte die weise Regierung für die Umgestaltung der jüdischen
„religiösen" Gemeinden. Die französische Konsistorialorgani-
sation bekam, nach Baden verpflanzt, folgende Gestalt: Jede
Ortssynagoge hat ihren eigenen Rabbiner und tmtersteht einer
Bezirkssynagoge, die von einem Bezirksrabbiner geleitet wird,
das höchste Verwaltimgsorgan — der „Oberrat der Israeliten" —
hat seinen Sitz in Karlsruhe und besteht aus acht vom Groß-
herzog ernannten geistlichen Personen und Laien. Der Oberrat,
an dessen Spitze ein Rabbiner oder gebildeter Laie steht, setzt
einheitliche Normen für die Gemeindeautonomie fest und sorgt
für die inneren Reformen. Im Jahre 1812 wurde dem Oberrat
ein Regierungskommissar beigeordnet, ohne dessen Sanktion
228
die Beschlüsse des Oberrats keine Kraft hatten. Dem badischen
Edikt von 1809 lagen zweifellos viele gute Absichten zugrunde,
da es aber vom Geiste der Bevormundung und der Einteilung
der Bürger in Klassen durchdrungen war, war es durchaus
nicht der Emanzipationsakt, als welcher er in der späteren
Epoche der Reaktion angesehen wurde.
§ 35. Die neue Literatur und die neue Schule. Es wurde
schon oben darauf hingewiesen, daß die innere kulturelle
Krise innerhalb der deutschen Judenschaft viel schneller und
radikaler vor sich ging als die politische Krise. Die fortschritt-
liche jüdische Gesellschaft hatte viel zu voreilig den Ballast der
alten Kultur — zugleich mit den abgestorbenen Elementen auch
manche lebenserhaltende Prinzipien der Nation über Bord ge-
worfen, während die Regierungen und die Völker sich viel
schwerer von der alten, der Judenemanzipation feindlichen
Gesellschaftsordnung trennten. Wo aber der politische Um-
schwung sich auch in der I^age der Juden als volle oder teü-
weise Emanzipation äußerte, war diese nur eine zufällige Neben-
erscheinung bei dem rücksichtslosen Abbruch der alten Ord-
nung. Alle diese Krisen fanden in der jüdischen I^iteratur jener
Zeit, die mit dem schnellen Tempo des I^ebens nicht Schritt
halten konnte, nur einen schwachen Widerhall.
Das Zeitalter der Revolution und Napoleons mit seinen star-
ken Erschütterungen war für die damals noch junge und
schwachentwickelte jüdische aufklärerische I^iteratur äußerst
tmgünstig. Unter der kulturellen Krise hatte zuerst die Sprache
der Juden, die nationale Form ihrer Literatur zu leiden. Die
Umgangssprache der großen Volksmasse — der „Jargon" —
wurde im Zeitalter Mendelssohns aus der Schule und Familie
mit allen Mitteln ausgerottet. Das vom Mendelssohnschen Kreise
am Vorabend der Revolution unternommene nationale Werk —
die Schaffung einer neuen Literatur in einer erneuerten bib-
lischen Sprache — ging nur recht langsam vor sich und kam in
Deutschland^ bald gänzlich zum Stillstand. Die Zeitschrift des
„Vereins zur Förderung der hebräischen Sprache" („Hameassef"
Sammler) erschien bis zum Jahre 1790 mehr oder weniger
regelmäßig, dann mit großen Unterbrechungen, und stellte im
Jahre 1797 ihr Erscheinen ein. Der letzte Versuch, das Unter-
nehmen zu neuem Leben zu erwecken, wurde im Jahre 1809
229
gemacht; aber nach zwei Jahren ging die Zeitschrift wieder und
endgültig ein; während dieser Zeit wechselte der Verlagsort
dreimal: sie erschien in Berlin, Königsberg und Breslau. Die
Ursache dieses Verfalls war recht einfach : die nationale Sprache
schwand schnell aus dem I^iteratur- und Schulgebrauch der
„aufgeklärten" Juden, die in der deutschen Schule und deut-
schen Literatur erzogen waren; die Reihen der Freunde der
hebräischen Sprache lichteten sich immer mehr, und der
..Hameassef", dem neue literarische Kräfte und ein wachsender
Leserkreis fehlten, erstarrte in seiner elementar-erzieherischen
Richtung, siechte dahin und ging schließlich ein. Der Redakteur,
Schalom Kohen, der im Jahre i8oq den letzten Versuch, den
,, Hameassef" zu neuem Leben zu erwecken, machte, beklagt
sich bitter: „Mit betrübtem Herzen sahen wir den Verfall unserer
heiligen Sprache, die immer mehr dahinsiecht. Von Tag zu Tag
wird die Zahl ihrer Freunde kleiner . . . Gibt es denn gar keine
Hoffnung, ihre Bedeutung zu heben und den Völkern ihre
Schönheit zu offenbaren?" Es zeigte sich aber, daß nicht nur
die „Völker", sondern auch das einzige Volk, für das die ,, heilige
Sprache" einen Kulturwert darstellen sollte, im damaligen
Deutschland nicht das geringste Interesse für sie hatten. Das
hebräische Organ mußte einem solchen in deutscher Sprache
weichen.
Im Jahre 1806 begann in Dessau, der Geburtsstadt Mendels-
sohns, die Monatsschrift (später Zweimonatsschrift) „Sulamith,
eine Zeitschrift zur Beförderung 4er Kultur und Humanität
unter der jüdischen Nation", zu erscheinen. Der ständige
Herausgeber war David Fränkel, Direktor der jüdischen
Schulen im Herzogtum Anhalt-Dessau und vorübergehend Mit-
glied des Jacobsonschen Konsistoriums im Königreiche West-
falen. Diese Zeitschrift, die im AugenbHck der Einberufung der
Notabein zu Paris entstanden war, wurde zu einem Sprachrohr
dieser Versammlung und des Sjmhedrions, das später an die
Stelle der Notabeinversammlung trat. Die Ideale der „Kultur
und Humanität" äußerten sich in der Praxis in der doppelten
Losung: Assimilation und Emanzipation. In der ersten Zeit
kamen die Assimilationsbestrebungen in der Zeitschrift nur
recht gemäßigt zum Ausdruck; je tiefer aber die französische
Emanzipation nach Deutschland drang, um so radikaler wurde
230
diese Richtung. Nach dem Jahre 1807 verschwanden vom Titel
die Worte: „unter der jüdischen Nation" und machten der
neuen Formel: „unter den Israeliten" Platz. In den Jahren 1808
bis 1812 war die Zeitschrift ein Organ Israel Jacobsons und des
westfälischen Konsistoriums (§ 33), dem auch der Herausgeber
angehörte. Zu den Mitarbeitern der „Sulamith" gehörten auch
David Friedländer und die späteren Vorkämpfer der religiösen
Reform (Salomon, Klee, Jolsohn u. a.). Was den Inhalt und die
literarische Form betrifft, so stellte die ,, Sulamith" einen be-
deutenden Fortschritt gegenüber dem elementaren „Meassef"
dar; die neue Generation kehrte aber auch dem deutschen Organ
ebenso den Rücken wie seinem hebräischen Vorgänger: sie
hatte nicht nur ihre Sprache, sondern auch jedes Interesse für
jüdische I^iteratur in beliebiger Sprache verloren.
Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Judenschaft während
der ganzen Übergangsperiode der „ersten Emanzipation" keinen
einzigen bedeutenden Schriftsteller geliefert hat. Literaten zwei-
ten Ranges, die sämtlich vergessen wurden, gruppierten sich um
die genannten Zeitschriften. Die literarischen Arbeiten David
Friedländers hatten nur einen vorübergehenden agitatorischen
Wert im Zusammenhange mit seiner politischen Tätigkeit;
Lazarus Bendavid (§31) beschäftigte sich mit der Kantischen
Philosophie und widmete dem Judentume nur einige belanglose
Broschüren. Die Quellen jüdischer schöpferischer Arbeit schie-
nen in dieser Übergangszeit, als in den Reihen der assimilierten
Intelligenz radikale Zerstörungssucht tobte, versiegt. Und die
orthodoxe Masse, die vom Auflösungsprozeß noch nicht berührt
war, blieb starr in ihrer Angst um die Zukunft, ohnmächtig mit
ihren morschen Waffen gegen den Ansturm neuer historischer
Elemente zu kämpfen.
Der Kosmopolitismus des 2^italters der Revolution riß in
seinem Strome alles Freigeistige des damaligen Judentums mit.
Zum Dogma des Fortschritts wurde die Abschaffung aller
Scheidewände zwischen den Nationen und die Verschmelzung
aller Volkstypen, denn alle diese kulturhistorischen Einteüungen
erschienen der oberflächlichen Anschauung jener Zeit ebenso
willkürlich und künstlich wie die sozialen Teilungen — die
Folgen des Absolutismus und der Klassenherrschaft. In der
Praxis ging aber der jüdische Kosmopolitismus nur auf die
231
Negierung der jüdischen Nationalität hinaus, denn das andere
Dogma dieses Zeitalters — die Assimilation — trieb die Juden
in den Kreis der nationalen Interessen ihrer Wirtsvölker und
machte sie zu deutschen, französischen imd sonstigen Patrioten.
Gar nicht leicht fiel den Juden der Eingang in die deutsche
Gesellschaft, in der die judenfeindlichen Vorurteile noch nicht
verschwunden waren; die Eindringlinge waren oft Beleidigungen
und Erniedrigungen ausgesetzt. So entstand die sklavenwürdige
Gewohnheit, unter Christen seine Zugehörigkeit zum Judentum
zu verheimlichen, lyudwig Börne, der an der Heidelberger
Universität studierte, schrieb 1807 der Henriette Herz: „Es
studieren einige Juden hier von guter Familie, es ist aber merk-
würdig, wie ängsthch es diese Menschen zu verbergen suchen,
daß ihr Ahnherr gehinkt hat. Man sieht nie zwei Juden mit-
einander gehen oder auch nur sprechen." Der Historiker Jost,
der im Jahre 1813 zu Göttingen Vorlesungen hörte, berichtet,
daß seine jüdischen Kollegen an der Schwelle der Taufe standen.
In seiner „Neueren Geschichte der Israeliten" weist er auf die
damalige ,, Gefallsucht" der Juden gegenüber den Christen hin,
die ihnen oft Spott und Beleidigungen zuzog. Die Blicke des
gebildeten Juden waren nur nach außen gerichtet: er war be-
strebt, sich vor der Umwelt zu rechtfertigen und seine Geistes-
verwandtschaft mit ihr und seine Losgerissenheit von der alten
jüdischen Welt, die für ihn ein Symbol des Todes und der I^eere
war, zu bezeugen.
Die deutsche Schule — die niedere, mittlere und höhere,
nach der die jüdische Jugend jener Zeit strebte, wirkte im
hohen Grade assimilierend. Nicht weniger assimilierend war
auch die neue, nach deutschem Muster zugeschnittene jüdische
Schule. In der Berliner ,, Freischule", deren Direktor ab 1806
der Philosoph Bendavid war, und in der Jacobsonschen Schule
zu Seesen, wo die jüdischen und christlichen Kinder zusammen
erzogen wurden, war der ganze Unterricht auf die Germani-
sierung der jüdischen Kinder gerichtet*). Die Breslauer ,, Wil-
helmsschule", die 1791 auf Initiative der Regierung, aber auf
*) Im Bericht der „Freischule" für das Jahr 1815 wird mit Genugtuung auf
den gemeinsamen Unterricht hingewiesen, der die Annäherung der Juden an
die Christen garantiere; im gleichen Jahre erfolgte aber der neue Ausbruch
des Judenhasses in Deutschland.
232
Kosten der jüdischen Gemeinde gegründet war, bildete die
Quelle immerwährender Streitigkeiten zwischen den Orthodoxen
und den „Aufgeklärten": die ersteren sahen in der neuen Schule
den Untergang des Judentums, die letzteren — die Rettung
und Wiedergeburt. Der gleiche Geist herrschte auch im Frank-
furter „Philantropoin" (§ 33) und in den anderen ,, Normal-
schulen", die Zuchtstätten für „Deutsche jüdischen Glaubens"
bildeten.
Der kulturelle Umschwung unter den deutschen Juden hing
nicht nur mit den politischen und ideellen Krisen des damaligen
Deutschlands, sondern auch mit dem tiefgehenden wirtschaft-
lichen Umschwung im jüdischen lieben zusammen. Teils unter
dem Einfluß der Emanzipationsbewegung, teils unter dem der
wirtschafthchen Erschütterungen des Napoelonischen Zeitalters,
hörte der Handel auf, die einzige Form der v^drtschaftlichen
Betätigung der Juden zu sein; neben dem Handel kamen auch
Fabrikindustrie, Handwerk und freie Berufe auf. Nach den
letzteren strebte besonders die in den deutschen Schulen er-
zogene jüdische Jugend. Im Napoleonischen Zeitalter standen
ihr weite Perspektiven des staatHchen und öffentlichen Dienstes
offen, der ihnen an manchen Orten (Westfalen) bereits zugäng-
hch gemacht war, an anderen (z. B. in Preußen) in Aussicht
gestellt wurde. Diese Berufe oder die Vorbereitung zu den-
selben trugen am meisten zur Germanisierung der jüdischen
Intelligenz bei, die sich jede Mühe gab, ihre volle bürgerliche
und politische Rechtsfähigkeit zu beweisen.
233
Viertes Kapitel
Die Stabilität der alten Ordnung in Österreich-Ungarn
§ 36. Allgemeine Politik. Am standhaftesten erwies sich gegen
den Ansturm der Revolution die österreichische Monarchie,
Nach dem Tode Josefs II. (1790) machte der „aufgeklärte"
Absolutismus dem alten klerikalen Absolutismus Platz. Das
wiederhergestellte alte Regime lastete schwer auf dem Lande
mit der bunt zusammengesetzten Bevölkerung, der etwa eine
halbe Million Juden angehörte. Die Erschütterung der „Throne
und Altare" in den Jahren der iranzösischen Revolution ver-
stärkte nur den Widerstand der Stützpfeiler der alten Ordnung
gegen alle Reformen. Die Napoleonischen Kriege, die die
Grenzgebiete der Monarchie stark mitgenommen hatten, be-
rührten das Zentrum des Staates nicht, imd das Jahr 1806,
das vorübergehend die Schicksal Deutschlands änderte, brachte
Österreich nur eine moralische Erniedrigung, indem es dem
Kaiser die Krone des „Heiligen Römischen Reiches" und den
Titel des Oberhauptes der deutschen Nation nahm. Aber den
frormnen Habsburgischen I^anden wurde keine fremdländische
Verfassung aufgezwungen.
Inbezug auf die Größe der jüdischen Bevölkerung nahm
Österreich um jene Zeit die zweite Stelle neben Rußland ein.
Die jüdische Bevölkerung war in Wien und in Deutsch- Öster-
reich spärHch, in den slawischen und ungarischen Ländern
aber um so dichter: in Böhmen und Mähren betrug sie (nach
der Volkszählung von 1803) 76 000, in Galizien 295 000, in Un-
garn mit Slawonien und Triest 85 000 Seelen. Diese drei Gebiete
bildeten die Ansiedlungszone für die Juden; in den übrigen
Ländern wurden sie nur als vorübergehende Bewohner ange-
sehen. Die eigentümliche Stellung der Juden außerhalb jeder
Staatsbürgerlichkeit wurde in den verschiedenen Provinzen
nach verschiedenen Systemen reguliert. Es gab drei solche
234
Systeme: i. In Wien und in Deutsch- Österreich erhielten einige
wenige privilegierte Juden, vorwiegend die Vertreter des Groß-
kapitals, eine Konzession für das Wohnen und Handeln unter
bestimmten Bedingungen; 2. in Böhmen und Mähren gestattete
das Gesetz das Wohnrecht nur solchen jüdischen Familien,
die einer festgesetzten Norm entsprachen, über die hinaus die
Vermehrung verboten war; 3. in Galizien und Ungarn war
der jüdischen Masse die natürliche Vermehrung nicht untersagt,
aber ihr ganzes I^ben wurde durch eine eigene beschränkende
Gesetzgebung reguliert, die von zentralen oder lokalen Regie-
rungsorganen ausging. Zu der empfindlichen Beschränkung
in den persönlichen und bürgerlichen Rechten gesellte sich auch
(besonders in Böhmen und GaUzien) eine rohe Einmischung in
das innere I>ben der Juden zwecks ihrer Entnationalisierung, —
ein Erbe der vom „Toleranzedikt" begründeten Politik (vgl.
oben §5).
Als der Schöpfer des Edikts, Josef II., gestorben war, ver-
suchten die österreichischen Klerikalen die Abschaffung dieses
Staatsaktes mit der ihnen verhaßten Devise der ,, Toleranz"
zu erwirken. Die katholischen Bischöfe wandten sich an den
neuen Kaiser Leopold II. (1790 -92) mit einer Beschwerde über
die tolerante Behandlung der NichtkathoHken während der
letzten Regierung, insbesondere über die Zulassung von Juden
in die christlichen Schulen, die zu einem Abfall von Christen
zum Judentume führen könnte. Die christliche Geistlichkeit
bemühte sich durchzusetzen, daß die ,, Toleranz" gegen die
Juden nicht als ein allgemeines Gesetz angesehen, sondern vom
Ermessen der lokalen Behörden und der feudalen Herren ab-
hängig gemacht werde. Die Regierung konnte sich aber nicht
entschließen, die Thronbesteigung des neuen Kaisers mit
einem Akte der Grausamkeit zu inaugurieren. Der Chef der
Hofkanzlei, Graf Kolowrat, wies in seinem Bericht an den
Kaiser darauf hin, daß es dem Ansehen der Monarchie schaden
würde, wenn man „von der mit allgemeinem Beifalle des Aus-
landes eingeführten Toleranz absehen und einen harten Ge-
wissenszwang einführen" wollte. Der Staatsmann mußte seinem
Monarchen eine so einfache Schulweisheit erklären, wie „daß
der Zwang gute Christen nicht schaffet und höchstens Heuchler
erzeugt, die eine Religion, zu der sie sich gezwungener Weise
235
öffentücli bekennen müssen, im geheimen verhöhnen"» Ivcopold 11.
lehnte das Ersuchen der Klerikalen ab. Man brauchte übrigens
das Wort „Toleranz" gar nicht abzuschaffen, da man doch die
Mögüchkeit hatte, diesem Worte einen neuen Inhalt unterzu-
schieben : man konnte an Stelle der Toleranz gegen alle Juden
die Toleranz gegen bestimmte Kategorien von Juden setzen und
auf diese Weise innerhalb einer Masse von Rechtlosen ein Häuf-
lein Privilegierter schaffen, die ihre Privilegien teuer zu bezahlen
hätten. Diese Unterschiebung wurde während der folgenden
langen Regierungsperiode Franz I. vollzogen (1792 — 1835; bis
zum Verluste des deutschen Kaisertitels im Jahre 1806 nannte er
sich Franz II.).
Über dem Haupte dieses Monarchen zogen die größten histo-
rischen Stürme hinweg : das Ungewitter der französischen Revo-
lution; das Donnergetöse der Napoleonischen Kriege, die ihm
den deutschen Kaisertitel und einen nicht unbeträchthchen Teil
des Reichsgebiets nahmen; dann die Restauration und die
Reaktion; das gekrönte Haupt lernte aber dabei gar nichts.
Kaiser Franz fürchtete alle „Neuerungen" und beklagte sich oft,
daß die ganze Welt in ihrem Streben nach Verfassungen verrückt
sei. Die Angst vor den Neuerungen zwang ihn, selbst solche
Reformen, deren Notwendigkeit er selbst einsah aufzuschieben
oder sogar ganz zu begraben. In seinen Erlassen äußerte der
Kaiser mehr als einmal den Wunsch, die Lage der Juden zu
bessern, handelte aber stets im entgegengesetzten Sinne. Im
Jahre 1792 wurde mit seiner Bewilhgung in Wien ein eigenes
„Judenamt" errichtet, das auf die in die Hauptstadt kommen-
den und daselbst wohnenden Juden aufzupassen, ihre Rechte
nachzuprüfen und ihnen Ausweise für das Wohnen tmd für die
Abreise usw. auszustellen hatte. Durch dieses polizeiliche Fege-
feuer, eine finstere Hochburg von Beamtenwillkür und Korrup-
tion, mußten zwei Generationen rechtloser Juden hindurchgehen,
die das Unglück hatten, in die für sie verbotene Hauptstadt zu
geraten; das provisorisch und versuchsweise errichtete Judenamt
erhielt sich über ein halbes Jahrhtmdert bis zur Revolution von
1848.
Nach den Gesetzen von 1790 — 1798 genossen das Wohnrecht
in Wien nur solche Juden, die eine bestimmte Erwerbsquelle
und ein Kapital von nicht imter 8 — 10 000 Gulden besaßen
236
und ein Zeugnis über ihren tadellosen „moralischen Charakter"
vorweisen konnten. Diese Konzession hieß „Toleranz" und ko-
stete ein recht hohes „Toleranzgeld"; der Besitzer einer Konzes-
sion trug den Titel „Tolerierter Jude". Im Jahre 1804 gab es
in Wien nur 119 „tolerierte" jüdische Familien, die dem Staate
für das Wohnrecht allein den Betrag von 18000 Gulden jähr-
lich zahlten; die übigen „nicht tolerierten" Juden hielten sich
in Wien heimlich auf oder mit stillschweigender Duldung der
Polizei, die sich dafür ordentlich bezahlen ließ. Dieser Druck
wirkte demoralisierend. Die privilegierten reichen Juden sahen
den Zuzug ihrer ,, unlegalen" Brüder mit Mißgunst an, und es
kam sogar vor, daß sie die Regierung ersuchten, den Zuzug „frem-
der" Juden durch Repressalien einzudämmen. Die Bankiers und
die reichen Kaufleute bemühten sich um die Abschaffung der
Beschränkungen, doch nur für sich selbst und für die Leute ihres
Kreises. Die Vertreter der Wiener jüdischen Gemeinde richteten
im Jahre 1793 an die Hofkanzlei eine Petition, die u. a. folgende
Bitten enthielt: Die ,,Bolletentaxe", die in Wien von durch-
reisenden Juden für jeden Tag ihres Aufenthaltes erhoben wurde,
sei abzuschaffen, da sie eine indirekte Wiedereinführung des
schon abgeschafften ,, Leibzolles" bedeute; die ,, Hochzeitstaxen"
sollen in gleichem Maße für die Juden wie für die Christen sein;
die Notwendigkeit der Anwesenheit eines Polizeikommissars bei
den Trauungen solle aufgehoben werden; „bei amtlichen Zu-
stellungen an einen Israeliten sei die Bezeichnung ,Jude' weg-
zulassen, und die Aufschrift am Judenamte : ,Für Juden, Sessel-
träger und Fiaker* abzuändern". Neben diesen bescheidenen
Bitten enthielt die Petition auch zwei für jene Zeit äußerst küh-
ne Forderungen: „Die Juden sollen zu Staatsämtern zugelassen
werden" und: „Verordnungen in Judensachen sollen nicht ohne
Mitwissen der Vertreter erlassen werden." Auf diese Petition
bekamen die Ältesten von der Hofkanzlei eine entsprechende
Antwort. Die BoUetentaxe könne nicht abgeschafft werden, da
sie die Bestimmung habe, die „Beamten im Judenamte zu sala-
rieren", also ein Polizeiinstitut zu unterhalten, das über die
Rechtlosigkeit der Juden wachte und sie auf jede Weise drang-
salierte. Die Trauungstaxe unter dem Titel ,, Schleiertaxe" sei
gleichfalls notwendig; offenbar als Entgelt für den Schaden, den
die Vermehrung der Juden verursacht; der Polizeikommissar
237
aber müsse den Trauungen zwecks Kontrolle beiwohnen. Die
Hofkanzlei sei bereit, die Bezeichnung „Jude" in amtlichen Zu-
stellungen wegzulassen, die Aufschrift am Judenamte müßte aber
bleiben. Weiter will die Hofkanzlei gerne anerkennen, daß das
Gesetz kein Verbot enthalte, die Juden, ,, deren Jugend in allen
wissenschaftlichen Fächern gründliche Kenntnisse sich zu er-
werben beflissen ist, in den Staatsdienst aufzunehmen" ; dies lasse
sich aber nicht machen, „teils weil die Juden wegen ihrer Reli-
gionsgebräuche in vielen Ämtern nicht verwendet werden, teils
würde man dadurch von Juden überschwemmt werden". Die
Bitte der Vertreter, sie zu den Beratungen über Judenangelegen-
heiten zuzuziehen, erfuhr eine sehr barsche Abweisung : ,,Die Re-
gierung kann wohl Männer zu Rathe ziehen, doch sei ihr dieses
nicht als Pflicht aufzutragen. Die Bitte der Vertreter zeuge über-
dies von Stolz und Unfolgsamkeit."
So weise reagierte die Regierung auf die Gesuche um die Ver-
besserung der Lage der Juden. Übrigens ging sie auch auf die
Bemühungen der Judenfeinde um die Verschlechterung dieser
Lage nicht ein. Im Jahre 1794 lehnte die Hofkanzlei einen ano-
nyiaen Entwurf ab, welcher empfahl, von jedem in Wien tolerier-
ten Juden 12 000 Gulden als Kaution zu erheben, „damit man
die Garantie für die zu bezahlende Toleranzsteuer habe". Der
Verfasser dieses Entwurfs verknüpfte merkwürdigerweise diesen
Rat mit Vorschls^en für eine Reform des Judentums. Die Hof-
kanzlei antwortete ihm, daß „eine bessere Bildung der jüdischen
Nation und dazu die Reinigung ihrer I^ehren von den rabbini-
schen und talmudischen falschen Sätzen zwar zu wünschen
wäre", aber nicht durch „Beschränkung der Toleranz" angestrebt
werden dürfe; die Juden selbst „müssen unter sich an der Ab-
schaffung der von den Rabbinern in den Talmud eingeschalteten,
der Lehre Mosis imd dem alten Testamente nicht gleichförmigen
Lehrsätze arbeiten; man muß alles dieses ihnen selbst und den
unter ihnen selbst schon entstandenen vielen Gelehrten und gut-
denkenden philosophischen Köpfen überlassen".
Die Wiener „Tolerierten Juden" stellten eine eigene Klasse
der Bevölkerung dar. Dieser Titel kam auch in den offiziellen
Urkunden und selbst auf Grabsteinen vor; man kann heute noch
auf Grabsteinen aus jener Zeit lesen: ,,Hier ruht der Tolerierte
Jude Soundso." Da man diese „Toleranz" um Geld, wenn auch
238
w
nicht billig, kaufen konnte, so war die Nachfrs^e nach diesem
Artikel in stetem Steigen begriffen. Das Anwachsen der jüdischen
Bevölkerung Wiens machte der Regierung Angst, und im Jahre
1802 erging ein kaiserliches Dekret, das die Ausstellung weiterer
Toleranzzeugnisse untersagte. Von nun an war es ein persönliches
Vorrecht des Kaisers, Juden die Niederlassung in Wien zu ge-
statten, wovon er aber nur bei Großkapitalisten Gebrauch machte.
Später wurde entschieden, daß jedes Familienhaupt die „Tole-
ranz" nur zeit seines Lebens besitze, und daß seine Witwe und
Kinder nach seinem Tode das Wohnrecht in Wien verlieren. Dies
führte zu schrecklichen Grausamkeiten seitens der Polizei, die
mit größter Energie die Ausweisung der FamiHen Verstorbener
aus der Hauptstadt betrieb. Aber auch die legalen Einwohner
verfügten nicht über volle Freiheit in Erwerb und Beruf. Jüdi-
sche Kaufleute durften weder mit Getreide noch mit Salz und
verschiedenen Lebensmitteln handeln. Der jüdische Arzt durfte
keine Christen kurieren. Juden hatten nicht das Recht, in Wien
Häuser zu bauen oder zu kaufen. Erst im Jahre 181 1 bekamen sie
mit großer Mühe die Erlaubnis, ein eigenes Gebäude für ihre
Synagoge und Schule zu errichten. Außerdem gab es viele klein-
liche Bestimmungen in klerikalem Geiste. An katholischen Fast-
tagen durfte bei jüdischen Hochzeiten keine Musik gemacht
werden, und selbst die „Purim"belustigungen waren verboten.
Franz I. fand bei allen seinen Staatsgeschäften immer noch Zeit,
streng darauf zu achten, daß solche Verbote nicht übertreten
wurden.
Es gab einen Moment, wo Kaiser und Regierung große Angst
vor denen bekamen, die sie so schwer bedrückten. Es war in den
Jahren 1806 — 1807, als in Paris die Versammlung der jüdischen
Deputierten und das „Große Synhedrion" tagten. Als der Auf-
ruf, der die jüdischen Vertreter aller Länder zur Teilnahme an
den Arbeiten des Synhedrions einlud, veröffentlicht wurde, be-
kam die österreichische Regierung, die an Franzosenscheu litt,
eine Höllenangst. Sie erblickte in der Einberufung des „jüdischen
Parlamentes" einen politischen Kunstgriff Napoleons: die tücki-
sche Absicht, aus den Juden aller Länder einen Geheimbimd zur
Unterstützung der französischen Politik zu bilden; sie fürchtete,
daß die Juden österieichs diese Gelegenheit benützen würden,
um sich im Bunde mit den Eroberern an der Regierung für ihre
239
Entrechtung und Erniedrigung zu rächen. Nun erließ der Chef
der Polizeihof stelle, Freiherr von Sumerau, ein Rundschreiben
an alle Länderchefs (17. Oktober 1806), in dem er sie auf die von
Paris ausgehende Agitation aufmerksam machte und u. a. sagte :
„Schon ein oberflächlicher Blick in den Gang dieser Angelegen-
heit enthüllt die pohtische Tendenz derselben und läßt Folgen
von der höchsten Wichtigkeit für alle Staaten ahnen, in welchen
jenes Volk zerstreut und durch Reichtum, Verbindungen,
Schlauheit und Zusammenhang bedeutend ist. Die gleiche Tak-
tik, durch welche Napoleon der Freimaurerei eine politische
Richtung gab, und aus den Mitgliedern dieses Ordens in so man-
chen fremden Staaten eine geheime Polizei sich bildete, scheint
auch hier nicht bloß zu diesem, sondern zu noch höheren Zwecken
angewendet zu werden." Der Polizeichef ersucht daher die Be-
hörden, alle Maßregeln zu ergreifen, um eine Verbindung zwi-
schen den österreichischen Juden und dem jüdischen Kongreß
zu Paris zu vereiteln. Zu diesem Zwecke müssen sie die auslän-
dische Korrespondenz aller Juden, besonders der gebildeten,
überwachen und aufpassen, ob nicht irgendeine Judengemeinde
einen Einladungsbrief aus Paris bekommen habe ; außerdem soll-
ten die Behörden den Juden Reisepässe nach Paris unbedingt
verweigern und sie dabei aufklären, zu welchen schweren Folgen
für sie selbst und für ihr Volk eine solche Reise führen könnte.
Die österreichische Polizei fing also an, scharf aufzupassen und
nach Wien Berichte zu schicken, die teils auf richtigen Beobach-
tuilgen, teils auf albernen Gerüchten beruhten. Die Polizei von
Böhmen, Mähren und Galizien gewann aus diesen Beobachtungen
den Eindruck, daß die dortigen Juden, als streng Orthodoxe und
Chassidim, mit dem Pariser Synhedrion, das das Judentum refor-
mieren wolle, nicht sympathisierten. Der Wiener Polizeichef lie-
ferte sogar ein „Dokument": Eine Liste der in Wien lebenden
jüdischen Familien mit Angabe, welche von ihnen die religiösen
Gebräuche beobachten und koscheres Fleisch genießen, und in
welchen ein freier Geist herrsche. Die Polizei schnüffelte mit
großem Eifer in den Korrespondenzen. Sie berichtete angsterfüllt,
daß der eine oder andere Jude einen Brief mit Nachrichten über
das Synhedrion erhalten habe ; solche Briefe wurden nach Durch-
sicht den Adressaten übergeben, die letzteren aber einer strengen
Beobachtung unterstellt. Große Sorge machte der Regierung die
240
fortschrittliche jüdische Gemeinde von Triest, die einzige in
Österreich, die mit dem Pariser Synhedrion sj^mpathisierte; es
wurde angeordnet, einen jeden Juden, der nach Triest aus Paris
kommen würde, zu verhaften und peinlichst zu vernehmen. Der
österreichische Botschafter in Paris bekam den Auftrag, ,,auf die
sich dort etwa einfindenden erbländischen Juden nach Thunlich-
keit zu invigiliren". Freiherr von Sumerau legte alle bei ihm
einlaufenden Berichte dem Kaiser vor, und beide spannten ihren
ganzen staatsmännischen Geist zum Kampfe mit der drohenden
,, Gefahr" an. Der Kaiser sah mit Befriedigung die Abneigung
der konservativen jüdischen Kreise gegen die Neuerungen Napo-
leons, aber das Häuflein der Aufgeklärten, ,,die sich mehr dem
Deismus nähern", machte ihm Angst. Die feige Furcht der Re-
gierung steckte auch die einflußreichen Wiener Juden an. Als
der reichste unter den Gemeindevertretern, Bernhard Eskeles,
vom Sekretär der Pariser Versammlung einen Aufruf und eine
Einladung zum Synhedrion erhielt, beeilte er sich, dies dem
Polizeichef mitzuteilen. Eskeles hatte sogar die Ehre, von Herrn
von Sumerau persönlich empfangen zu werden, dem er verspre-
chen mußte, ihm den Inhalt des nach Paris abgehenden Antwort-
schreibens der Wiener Vertreter zu melden.
Über diese lächerliche Angst des Kaisers und der Regierung
von Österreich amüsierten sich wohl nicht wenig solche Juden,
die die wahren Absichten Napoleons bei der Einberufung des
Synhedrions kannten. Die Angst verflüchtigte sich übrigens recht
bald, und die Regierung fuhr fort, mit den Juden nicht viel
Federlesens zu machen. Derselbe Franz I., der um diese Zeit
vor den Juden solchen Respekt hatte, behandelte sie später
nach der Niederwerfung Napoleons aufs grausamste. Selbst
in Paris, wo er im Jahre 1814 mit den verbündeten Monarchen
weilte, vernachlässigte er in keiner Weise seine „internen
Angelegenheiten". Als er da z. B. erfuhr, daß manche Juden
in Umgehung des Gesetzes in Wien Häuser erwarben, schickte
er einen strengen Befehl an den Kanzler, Maßregeln gegen diesen
Unfug zu ergreifen. Eben dort, im Lande der großen Revolution,
regte sich Franz I. furchtbar über einen Bericht aus Öster-
reich auf, der ihm meldete, daß die Nichtkatholiken sich er-
lauben, in der Fastenzeit Bälle und Tanzvergnügen abzuhalten;
er schickte sofort den Befehl, alle derartigen Belustigungen ab-
16 Dubnow, Geschichte der Juden I 241
zustellen. Ein segensreiches Resultat dieser aus Paris erlassenen
Verfügungen war daß die österreichische Polizei streng auf-
paßte, daß die Purimunterhaltungen der Juden nicht von Chri-
sten besucht wurden.
§ 37. Das System der Normierung und Bevormundung in
Böhmen und Mähren. Das Konzessionssystem der „Toleranz**,
das für die Juden Deutsch- Österreichs außerhalb ihrer An-
siedlungszone bestand, stellte eine vereinfachte Form der
Rechtlosigkeit dar. Weit komplizierter war das System der
Normierung, das in den Kronländem Böhmen und Mähren an-
gewandt wurde. Hier waren noch immer die alten Normen für
die jüdische Bevölkerung in Kraft: 8600 Famüien in Böhmen
imd 5400 in Mähren. Für Böhmen wurde diese alte Norm im
Jahre 1789 neu bestätigt. Sie wurde sehr streng eingehalten
und bildete eine eiserne Schranke gegen den natürlichen Zu-
wachs der Familie. Das Gesetz der österreichischen Regierung
kämpfte gegen das biologische Gesetz der Vermehrung. Dabei
wurde ein erprobtes Kampfmittel angewendet: in jeder Familie
durfte nur der älteste Sohn heiraten, und seine Familie trat an
die nach dem Tode seiner Eltern frei werdende Stelle; der zweite
Sohn war zur Ehelosigkeit oder Auswanderuüg verurteilt, wenn
er nicht zufällig das Glück hatte, daß das Haupt einer der etat-
mäßigen Familien ohne Nachkommenschaft starb und auf diese
Weise eine sogenannte „Familiennummer" frei wurde ; die überzäh-
ligen Söhne bekamen das Recht zu heiraten, wenn sie freiwillig in
den Militärdienst traten oder sich der Landwirtschaft widmeten.
Aber auch die Personen, die nach der Familienlage oder infolge
besonderer Verdienste das Recht zu heiraten hatten, konnten
es nur unter Beobachtung folgender Bedingungen verwirklichen:
Der Bräutigam durfte nicht unter zweiundzwanzig und die Braut
nicht unter achtzehn Jahre alt sein; die in die Ehe Tretenden
mußten ein Zeugnis über die Absolvienmg einer Normalschule
vorweisen; sie mußten eine solide Erwerbsquelle und bares Ver-
mögen in bestimmtem Werte besitzen; endlich bedurften sie
noch einer besonderen Genehmigung des Kreisamts. Diese
gemeine Gesetzgebung, die die Jugend in „Familianten" (die
eine „Familiennummer" und das Recht zu heiraten hatten)
und zu Ehelosigkeit oder Konkubinat Verurteilte teilte, be-
drückte und erniedrigte die böhmischen Juden aufs, schwerste.
242
Dies war die schändlichste Form jüdischer Versklavung zu Be-
ginn des XIX. Jahrhunderts.
Die österreichische Regierung normierte nicht nur die natür-
liche Vermehrung, sondern auch die Erwerbsquellen^) und tat es
mit den ihr eigenen jesuitischen, salbungsvollen Redensarten
vom Wohle derjenigen, die sie zu erdrosseln suchte. „Da die
öffentliche Verwaltung zum Zwecke nimmt, die Juden zu voll-
kommen nützlichen Bürgern und des Schutzes, den ihnen der
Staat gewährt, würdig zu machen, so sind ihnen überhaupt alle
ehrbaren Nahrungswege eröffnet, welche den christlichen Unter-
tanen gestattet werden" — lautet ein Artikel des Reglements.
Weiter folgt aber eine Reihe von Bestimmungen, die den Sinn
dieses Paragraphen gänzlich zunichte machen : den Juden ist es
verboten, nicht nur Branntweinschenken, sondern auch Mühlen
in Pacht zu haben und mit Getreide und Salz zu handeln; es
sind ihnen also durchaus ehrbare Erwerbsquellen, die den
Christen gestattet sind, verboten. Jüdische Hausierer in Prag
dürfen nur mit alten Kleidern und alten Sachen handeln; auch
das wohl der ,, Ehrbarkeit" wegen!
Das Wohnrecht der Judeh in Böhmen war auf die Orte ihrer
Zuständigkeit beschränkt. Eine „nummerierte" Familie durfte
an einen neuen Ort nur mit Genehmigung der Behörden dieses
letzteren übersiedeln. Im Zentrum der böhmischen Judenschaft,
Prag, wurde selbst beim Umzug aus der „Judenstadt" in einen
,, christlichen" Stadtteil eine eigene Genehmigung, die übrigens
sehr selten erteilt wurde, verlangt. Die Juden tmterlagen beson-
deren Steuern und Abgaben, deren Höhe von der Kostspielig-
keit der österreichischen „Toleranz" zeugt. Das böhmische Re-
glement vom Jahre 1797 verkündete : „Die gesamte Judenschaft
soll in Ausübung ihrer väterlichen Religioi und ihrer angeerbten
Gebräuche durchaus frei und ungehindert sein"; in die Sprache
der Zahlen übersetzt, bedeutete aber diese „Freiheit" folgendes:
Für die Errichtung einer neuen Synagoge war eine eigene behörd-
liche Genehmigung notwendig, die 1000 Gulden einmalig und
*) Hier wie im folgenden werden die Resultate der Gesetzgebung des ganzen
Zeitalters geschildert, in deren Mittelpunkt das böhmische Judenpatent vom
Jahre 1797 steht, das im Vergleich mit den früheren Reglements als fortschritt-
lich galt. Das gleiche System wurde im allgemeinen auch auf die Juden Mährens
angewandt.
x6«
243
dann loo Gulden jährlich kostete; mit einer entsprechenden Ab-
gabe waren auch die Friedhöfe belegt. Das Rabbinat, die jü-
dische Schule und selbst die I^iteratur — die rehgiöse nicht aus-
genommen — unterstanden der wachsamen Aufsicht der christ-
lichen Behörden. Das Rabbineramt durften nur Personen be-
kleiden, die über deutsche Bildung verfügten; im Jahre 1798 er-
ließ das böhmische „Gubernium" eine Verfügung, daß zum
Rabbineramte nur solche Personen zugelassen werden dürfen,
die den Kursus „philosophischer Wissenschaften, natürlichen
Rechtes und Ethik" an einer österreichischen Universität absol-
viert haben. Der Besuch einer deutschen „Normalschule" war
für alle Knaben und Mädchen obhgatorisch: ohne ein Zeugnis
über die Absolvierung einer solchen Schule konnte niemand
eine Genehmigung für den Eintritt in die Ehe bekommen.
Andererseits wurde das Talmudstudium in den „Hausschulen"
— den Chedarim und den Jeschiboth — bekämpft. Talmudunter-
richt durfte nur ein offiziell bestätigter, den obenerwähnten Be-
dingungen entsprechender Rabbiner erteilen; die übrigen Haus-
lehrer („Melamdim") durften nur die hebräische Sprache und
elementare Glaubenslehre unterrichten. Zum Talmudstudium
wurden nur solche Knaben zugelassen, die ein Zeugnis über die
Absolvierung einer allgemeinen deutschen Schule vorweisen
konnten. Diese Einmischung in das geistiiche lieben der Juden
äußerte sich auch in der Zensur der hebräischen Bücher. Ein
kaiserliches Dekret vom Jahre 1811 verbot beim Gottesdienste
wie im Hause den Gebrauch aller reHgiösen Bücher, die nicht
durch die österreichische Zensur gegangen waren. Einer strengen
Zensur unterlagen auch die Bücher nichtreligiösen Inhalts.
Zum Bezüge hebräischer Bücher aus dem Auslande brauchte
man jedesmal eine eigene Genehmigung.
Man mußte schon sehr eigentümliche Begriffe vom Zusammen-
hange zwischen den bürgerlichen Pflichten und Rechten haben,
um beim Vorhandensein einer solchen pharaonischen Gesetz-
gebung öffentlich zu verkünden (in den Dekreten von 1808 vmd
1811): „Da die Juden gleiche Vorteile mit den christlichen
Untertanen genießen, haben sie auch mit diesen die gemein-
schaftlichen Pflichten gegen den Staat." Zur Bestätigimg der
,,gememschaftlichen Pflichten" heißt es gleich danach: „In
Steuersachen bestehen für die Juden eigene Vorschriften." So
244
verfuhr die österreichische Regierung in Böhmen und Mähren:
einem jeden ihrer grausamen und unmenschlichen Ausnahme-
gesetze schickte sie eine Einleitung über Duldsamkeit und über
ihre väterUche Sorge um das Wohl aller Untertanen, ohne Unter-
schied der Rehgion, voraus. Mit diesen schönen, durchaus unver-
bindlichen Redensarten zollte die Regierung ihren Tribut dein
Geiste der Zeit, gegen den sie im verbindlichen Texte der Gesetze
einen erbitterten Kampf führte.
§ 38, Die Körrektionspolitik in Galizien. In dem dicht von
Juden bevölkerten Galizien, das Österreich nach dem Zer-
falle Polens erhalten hatte^), war die Einschränkung der jüdi-
schen Bevölkerung durch Festsetzung von Normen unmöghch;
die österreichische Regierung fand aber andere Mittel, die Juden
zu drangsaheren, natürlich nur um sie zu „bessern". Für dieses
Land galt eine eigene jüdische Verfassung — das „Toleranz-
patent" Josefs II. vom Jahre 1789, zu dem später zahlreiche
Zusätze und „Novellen" im Geiste der vorhergehenden Regie-
rung hinzukamen. Auch hier trägt die ihrem Wesen nach re-
pressive «gesetzgeberische Akte einen wohlklingenden Titel:
„Patent, kraft dessen den Juden alle Rechte und Vorrechte der
übrigen Untertanen verliehen werden." Die ,, Gleichberechtigung"
bestand nur darin, daß die Juden den allgemeinen städtischen
Behörden und Gerichten unterstellt wurden, dafür war ihnen
aber schon früher das einzige wertvolle Erbe der polnischen Zeit
genommen worden — die weitgehende Gemeindeautonomie, die
nun aufs äußerste eingeengt wurde. Auch das wirtschaftliche
Leben wurde einer strengen Reglementierung unterworfen. Die
unter den Juden besonders verbreiteten Berufe — die Pacht
landwirtschaftlicher Unternehmungen, Branntweinschenken,
Brauereien und Mühlen — waren ihnen untersagt. Grundbesitz
auf dem Lande durften sie nur unter der Bedingung erwerben,
daß sie ihn auch selbst bestellten. In Lemberg war die Nieder-
lassung neuer jüdischer Familien untersagt, und die altansässigen
durften nur in bestimmten Vierteln und Vorstädten wohnen.
^) Das Gebiet dieses I^andes wechselte in den Jahren 1789 — 1815 mehrmals.
Nach der dritten Teilung Polens (1795) bekam Österreich, das vorher schon
Ostgalizien besaß, auch Westgalizien mit der Stadt Krakau. Im Jahre 1809
wurde letzteres von Österreich losgerissen und dem Großherzogtum Warschau
angegliedert; 1815 fiel es, aber wieder an Österreich zurück (vgl. weiter §44).
245
Alle Juden mußten sich zwecks öffentlicher Registrierung Fa-
miliennamen zulegen, die sie bis dahin nicht gehabt hatten. Die
Ehen unterlagen einer strengen Kontrolle, welche mit dem
System einer zwangsmäßigen offiziellen „Aufklärung" zusammen-
hing; dieses letztere nahm in der Korrektionspolitik der öster-
reichischen Regierung die erste Stelle ein.
In der ausgedehnten Provinz, wo das geistige lieben der jüdi-
schen Massen vom Rabbinismus und Chassidismus beherrscht
wurde, wo die europäische Aufklärung den Rechtgläubigen als
eine feindliche Macht erschien, welche berufen ist, das von Jahr-
hunderten geheihgte I>ben zu vernichten, und wo ein freier
Kampf des leichtes gegen die Finsternis so notwendig war, wollte
die österreichiscne Regierung die Aufklärung zwangsweise
betreiben, wobei sie ihr Bndziel gar nicht verheimüchte : die
Schaffimg eines neuen Judentums mit einem Minimum nationaler
Kultur. Mit der Durchfühnmg dieser Aufgabe wurde ein Jude
betraut, der aus dem Mendelssohnschen Kreise stammte und in
der Geschichte der österreichischen Judenheit eine verhängnis-
volle Rolle spielte: Herz Homberg.
Ein Sohn des alten böhmischen Prag, Zögling einer Talmud-
schule, war Homberg während seines Aufenthaltes in Berlin im
Kreise Moses Mendelssohns „sehend" geworden. Unter dem Ein-
flüsse des „Emile" von Rousseau widmete er sich der pädago-
gischen Tätigkeit. Eine Zeitlang (1778 — 82) unterrichtete er die
Kinder Mendelssohns; er beteiligte sich auch an der Schaffung
des rationahstischen Kommentars (,,Biur") zu der Mendelssohn-
schen Bibel. Die Nachricht vom ,, Toleranzedikt" und den auf-
klärerischen Maßregeln Josefs II, machte Homberg solche
Freude, daß er in seine Heimat zurückkehrte, um an den von
obenher betriebenen Reformen teilzunehmen. In Wien legte
er das Universitätsexamen in Philosophie ab und versuchte
darauf einen I^hrstuhl an der Prager Universität zu bekommen;
als es ihm nicht gelang, als Dozent bestätigt zu werden, stellte er
sich der Regierung zur Durchführung der jüdischen Schulreform
in Gahzien zur Verfügung. Homberg, der trockener Rationalist
und dem historischen Judaismus feindhch gesinnt war, glaubte
an die Möglichkeit einer vollständigen Reformierung des Juden-
tums mittels einer zwangsmäßigen „Aufklärung", und der ihm
eigene Strebergeist sagte ihm, daß es viel vorteilhafter sei, der
246
Regierung als dem unterdrückten Volke zu dienen. Im Jahre 1787
wurde Homberg zum „Oberaufseher" der neuen jüdischen
Schulen ernannt, die er in Galizien zu gründen hatte. Er kam
nach I^emberg, wo ihn die jüdische Bevölkerung als einen Frei-
denker und Regierungsagenten äußerst feindselig empfing (nie-
mand wollte ihm eine Wohnung vermieten), und machte sich mit
ungewöhnHchem Eifer ans Werk. Im Laufe von vier Jahren grün-
dete er in verschiedenen Städten GaHziens an die hundert
,, deutsch-jüdische" Elementarschulen, in denen das jüdische
Element vom deutschen verdrängt war, und warb mit großer
Mühe das notwendige Lehrpersonal aus der damals noch recht
kleinen Gruppe der „Aufgeklärten" an. Zur Heranbildung von
Lehrern wurde bald darauf in Lemberg ein jüdisches Lehrer-
seminar gegründet. Es war natürlich sehr schwer, die Cheder-
kinder in die offiziellen Schulen zu bringen, die die Bevölkerung
für Fabriken zur Herstellung von Abtrünnigen und Getauften
hielt; da kam aber die Regierung zu Hilfe: das „Patent" des
Jahres 1789 erklärte den Besuch der neuen Schulen für obliga-
torisch imd untersagte die Zulassung zum Talmudstudium in den
Chedarim solchen EÜndern, die keine Bestätigung über die Ab-
solvierung der „deutschen" Schule vorweisen konnten; ohne die
Bestätigung über den Besuch einer solchen Schule oder wenig-
stens über eine zu Hause erworbene deutsche Bildung konnten
die jungen Leute auch keine Ehe eingehen.
Die Durchführung dieses Systems zwangsmäßiger Aufklärung
mit Unterstützung der lokalen Behörden war die Aufgabe des
Oberaufsehers Homberg, und die jüdische Masse begann bald
unter dem Drucke des unerbittHchen jüdischen Beamten zu
stöhnen. Die eifrigen Agenten der Regierung, Homberg und die
ihm unterstellten Lehrer, zertrümmerten erbarmungslos das im
Laufe vieler Jahrhunderte aufgebaute System der jüdischen Er-
ziehung, brachen mit polizeilicher Willkür in das geistige Leben
der Massen ein und verfolgten die Widerspenstigen. Der Name
des Oberaufsehers der Schulen wurde dem Volke noch verhaßter,
als man von der Mitwirkung dieses Beamten bei der Einführung
einer neuen Steuer, nämlich der für die Sabbatkerzen, erfuhr.
Im Jahre 1795 reichte ein Lemberger Geschäftsmann, namens
Kofier, der Regierung ein Projekt ein, die Kerzen, die die jü-
dischen Frauen nach religiöser Sitte an Vorabenden von
247
Sabbaten und Feiertagen entzünden, zu besteuern; diese Steuer,
behauptete Kofier, würde dem Staate eine erhebliche Einnahme
bringen, und er erklärte sich bereit, den Ertrag der Steuer gegen
eine jährliche Abgabe von 200 000 Gulden in Pacht zu nehmen.
Obwohl diese Bereicherung der Staatskasse dem Kaiser Franz
außerordentlich verlockend erschien, konnte er sich doch nicht
entschließen, den religiösen Bedürfnissen der armen jüdischen
Masse in Galizien eine so schwere Last aufzuerlegen, und die Re-
gierung wandte sich an Homberg mit einer Anfrage, was er davon
halte. Homberg antwortete, daß die Sitte, Kerzen anzuzünden,
keine tiefen Wurzeln in der Religion habe und daß die neue Steuer
die Juden nicht sehr schwer treffen werde. So wurde im Jahre
1797 die drückende Kerzensteuer eingeführt, die zu großen
Mißbräuchen führte und auf der armen jüdischen Masse Galiziens
über ein halbes Jahrhundert lang (bis zum Jahre 1848) lastete.
Man war allgemein überzeugt, daß der Dienst, den Homberg
dem geschickten Steuerpächter Kofier geleistet hatte, nicht
ganz uneigennützig gewesen sei. Bald darauf Hef in Wien eine
Reihe von Klagen über allerlei Amtsmißbräuche Hombergs ein,
und er mußte in die Hauptstadt kommen, um sich vor der vor-
gesetzten Behörde zu rechtfertigen. Von den Feinden verfolgt,
verheß er schheßlich Lemberg und zog nach Wien (1801), und
einige Jahre sj)äter (im März 1806) verfügte ein kaiserlicher
Erlaß die Schließung der deutsch-jüdischen Schulen in Galizien.
Den jüdischen Kindern wurde gestattet, allgemeine Schulen zu
besuchen, doch mit der Bedingung, daß sie auf eigenen Bänken,
von den christlichen Kindern getrennt, sitzen.
Nachdem Homberg das Amt des Oberaufsehers verloren hatte,
wandte er sich einem neuen Beruf zu und begann amtliche Lehr-
bücher für die jüdische Jugend zu verfassen. Vom Jahre 1808 ab
veröffentlichte er eine Reihe von jüdischen Katechismen (, Jmre-
schefer", ,,Bne-Zion" „Ben-jakir") in hebräischer Sprache mit
parallelem deutschem Text. Die im Geiste eines offiziellen Pa-
triotismus und landläufiger Moral verfaßten Lehrbücher fanden
Beifall bei der österreichischen Regierung, als ein Mittel, die
Juden zu ,, bessern" und an sklavischen Gehorsam zu gewöhnen.
Das kaiserliche Dekret vom 14. Dezember 1810 verordnete:
I. Die Lehrbücher Hombergs an allen jüdischen Schulen einzu-
führen; 2. in Galizien und Böhmen nur solchen jungen Leuten
248
beiderlei Geschlechts Ehebewilligungen auszustellen, die eine
eigene Prüfung aus dem Katechismus „Bne-Zion" bei der Elreis-
polizeibehörde abgelegt haben. Die eigenartige österreichische
Ehegesetzgebung erhielt eine neue „Novelle": Examen bei der
Polizei zur Erlangung des Braut- oder Bräutigamtitels. Diese
Reform wurde während des ganzen folgenden Zeitalters der
Reaktion (1815 — 48) durchgeführt und hatte zahlreiche tragi-
komische Episoden zur Folge.
Zum Zensor für die hebräischen Bücher ernannt, berauschte
sich Homberg noch mehr an seiner Sendung, das Volk mittels
Polizeimaßregeln zu reformieren, und reichte im Jahre 181 1 d^r
Regienmg ein Projekt für die Säuberung der jüdischen I^iteratur
ein. Nach diesem Projekt, das eher einer Denunziation glich,
sollte die Zensur Werke folgender Art verbieten: „Alle neuen
Gebete, außer Krönungsgebeten; kabalistische Produkte; Pre-
digten, die keine erbaulichen Volkslehren enthalten oder mit
talmudischen Abhandlungen verbunden sind; neue Werke tal-
mudisch-rabbinischen Inhalts, woran ohnedies Überfluß ist;
Biographien von Rabbinern, die außer im Talmudfache nichts
geleistet haben, und alle Geschichten von Besessenen." Homberg
schlug auch vor, einen Kongreß von Rabbinern aus Böhmen,
Mähren, Ungarn und Galizien einzuberufen, um die Frage der
Entfernung aller für NichtJuden verletzenden Stellen aus den
talmudischen und gottesdienstlichen Werken zu entscheiden.
Homberg selbst stellte für die österreichische Zensurbehörde
einen Index hebräischer Bücher zusammen, die er vom poli-
tischen Standpunkte aus für nicht einwandfrei hielt. Zur Be-
lohnung für alle diese Verdienste ernannte ihn Kaiser Franz I.
zum Inspektor der jüdischen Schulen in Böhmen (1814), woselbst
dieser Missionär polizeüicher Aufklärung bis zu seinem Tode
(1841) blieb.
Die „Aufklärungspflicht" wurde von der galizischen Judenheit
ebenso ungern getragen, wie die ihnen im Jahre 1788 aufge-
zwungene persönHche Militärpflicht. ' Die in der jüdischen Masse
durch das Gesetz von der Militärpflicht (§5) hervorgerufene
Erregung hatte sich noch nicht gelegt. Die orthodoxe Masse,
die im neuen Gesetz ein Todesurteil für ihre Kinder, für ihre
Religion und Sitten sah, konnte sich nicht beruhigen; sie wandte
sich wie an den himmlischen so auch an den irdischen Herrscher,
249
hielt eigene Bittgottesdienste in den Synagogen ab und
schickte Deputationen nach Wien mit der Bitte um, Aufhebung
des „Todesurteils". Im Jahre 1790 erhörte die Regierung das
Flehen und erlaubte den Juden, an Stelle des persönlichen
Militärdienstes eine Rekrutensteuer zu zahlen, aber X804 wurde
die persönhche Mihtärpflicht wieder eingesetzt. Dies geschah
in der Zeit der Napoleonischen Klriege, und die rechtlosen Juden
Galiziens hatten gar keinen Grund, ihr Blut für den Staat, der
sie unterdrückte und erniedrigte, zu vergießen. Viele junge
Männer wanderten nach Rußland und anderen Ländern aus,
andere ersannen Mittel, das Gesetz zu umgehen; aber im öster-
reichischen Heere gab es doch nicht wenig jüdische Soldaten.
Die Behörde erleichterte ihnen die Mihtärpflicht auf die Weise,
daß sie sie gewöhnlich nicht in die Frontformationen, sondern
ins „Fuhrwesen" einreihte.
§ 39. Ungarn. Die ihrer sozialen Lage imd ihrem kulturellen
Zustande nach der gahzischen verwandte imgarische Judenschaft
imterschied sich von dieser durch einige Eigentünüichkeiten in
rechthcher Beziehung. Die ganze jüdische Bevölkerung Ungarns
hatte die schwere „Toleranzsteuer" zu zahlen, deren Ertrag eine
Mühon Gulden überstieg. Infolge der Eigentünüichkeiten der
ungarischen Autonomie und feudalen Ordnung, hatten die Juden
sehr viele Behörden über sich: in den königlichen Städten wurden
sie von den Beamten des Palatins (des Erzherzog-Statthalters
aus kaiserlicher Familie) imd von den Magistraten bevormundet;
auf dem flachen Lande — von den Gutsbesitzern. Die Juden,
die in großen Massen in solchen Zentren wie Preßburg, Ofen und
Pest lebten, mußten fortwährend für ihr Wohnrecht und Ge-
werbefreiheit gegen das Bestreben der Magistrate, sie auf Grund
des alten städtischen Privüegs „der Nichtzulassung von Juden"
(de non tolerandis judaeis) hinauszudrängen, kämpfen. Der
Aufenthalt in Bergwerksbezirken war den Juden grundsätzlich
verboten. Der Kleinhandel, tmd besonders der Hausierhandel,
von dem die armen Juden fast ausschließHch lebten, imterlagen
fortwährenden Einschränkimgen und stellenweise auch Ver-
boten.
Der Widerhall der Emanzipationsbewegung imd die auf die
neue Regierung (Leopolds II.) gesetzten Hoffnungen riefen in der
jüdischen Bevölkerung Ungarns eine Gärung hervor. Im Jahre
250
1790 wandte sie sich an den Kaiser mit einer Petition, die recht-
liche lyage der Juden zu verbessern. Die Petition wurde dem
Ungarischen Reichstag übergeben und in einer eigenen Kom-
mission behandelt. Es kam das Gerücht auf, daß der Reichstag
von 1791 geneigt sei, der Bitte nachzukommen, unter der Be-
dingung, daß die Juden die Bereitschaft äußern, ihre Söhne in
der aktiven Militärdienst zu geben (der damals für die unga-
rischen Juden nicht obligatorisch war). Jüdische Delegierte
traten in der Stadt Rechnitz zusammen und berieten über die
Frage, ob man diesen Schritt zur Erlangung der Gunst des
Reichstags unternehmen solle. Ein Delegierter, Naphtali
Rosenthal, trat für die Notwendigkeit ein, die MiHtärpflicht
zwecks Erlangung von Bürgerrechten freiwillig anzunehmen, da
die Regierung doch sowieso früher oder später diese Pfhcht den
ungarischen Juden auferlegen werde. Aber der populäre Ver-
treter der Preßburger Gemeinde, Koppel Täben, sprach sich
gegen die freiwillige Belastimg des Volkes mit der schwersten
der Pflichten aus, und seine Ansicht wurde von der Mehrheit
der Versammltmg gebilligt. Wie es sich bald darauf heraus-
stellte, war auch der Ungarische Reichstag noch lange nicht
geneigt, das Opfer der Juden anzunehmen. Als im Reichstage
die Rede auf die Heranziehung der Juden zum MiHtärdienst
kam, erklärte der Abgeordnete Kardinalprimas Batthyany in
großer Erregung, daß die Juden der Ehre, unter ungarischen
Fahnen zu dienen, gar nicht würdig seien. Der Entwurf der
Reichstagskommission zu einer partiellen Erweiterung der Rechte
der Juden kam im Reichstage von 1792 gar nicht zur Sprache,
und alles bUeb beim alten.
Die neue poHtische Strömung — die von den Eroberungen
Napoleons hervorgerufene Freiheitsbewegung — trieb auch die
ungarischen Juden auf den Weg des Kampfes um das Recht.
Im Jahre 1807 übereichten sie dem Reichstag eine Petition wegen
Gleichstellung der Juden inbezug auf die Rechte mit allen
nichtadligen Ständen, doch unter Beibehaltung ihrer Gemeinde-
autonomie; sie ersuchten femer, die Einteüung der Juden nach
Berufen in folgenden Klassen zu legalisieren: Ackerbauer, Fa-
brikanten, Handwerker, Kaufleute, Kleinbürger und Hausierer;
die letztere vom Gesetz verfolgte Kategorie sollte bis zur Ver-
breitung des Ackerbaues imd der Fabrikindustrie unter den
251
Juden geduldet werden. Die Reichtagskommission wollte die
Duldung des Hausierhandels, der den Ladengeschäften Kon-
kurrenz machte, nicht genehmigen, und die Juden mußten sich
mit ihrem Gesuch an Franz I. wenden : er möchte doch den Ruin
der armen Masse, die von dem für das Land so nützlichen
Hausierhandel lebe, nicht zulassen.
Während die Regierung noch schwankte, ob sie den vielen
Tausenden kleiner Händler ihr tägliches Brot nehmen solle,
entschied sie ohne jede Schwankung im positiven Sinne die
Frage von der Heranziehung der ungarischen Juden zum Mili-
tärdienst (1807). Und gleichsam zur Verhöhnung des Prinzips
der Übereinstimmung zwischen den bürgerlichen Rechten und
Pflichten, erhöhte sie um die gleiche Zeit um 50% die „Toleranz-
steuer" — das S5mibol der Rechtlosigkeit der „Fremdstämmigen",
denen man soeben die Pflicht, das Blut für das Vaterland zu
vergießen, auferlegt hatte. Im Jahre 1811 erreichte der Gesamt-
ertrag der Toleranzsteuer die Summe von i 600 000 Gulden.
Die ungarischen Juden blieben auch von amtlichen „aufkläre-
rischen" Experimenten nicht verschont, die hier übrigens in
viel bescheidenerem Maße betrieben wurden als in Galizien.
Beim Eintritt in die Ehe wurde aber ein Zeugnis über die Ab-
solvierung einer Normalschule verlangt. Die Juden mußten ent-
weder Mittel zur Umgehung des Gesetzes ersinnen oder zum
alterprobten Mittel dei Bestechung greifen.
§40. Der kulturelle Zustand. Die von der politischen Be-
wegung des Revolutionszeitalters nur wenig berührte öster-
reichische Judenheit wurde auch von der kulturellen Krise, die
im geistigen Leben der deutschen Juden solche Verheerungen
angerichtet hatte, wenig in Mitleidenschaft gezogen. In Öster-
reich bestanden noch immer die beiden Grundpfeiler der alten
Kultur: der Rabbinismus und der Chassidismus, von denen
der erstere in Deutschland endgültig erschüttert, der letztere
aber gar nicht aufgekommen war. Der Rabbinismus herrschte
noch in Böhmen, Mähren und Ungarn, wo in den großen Ge-
meinden seine hervorragenden Vertreter, die Stützen der alten
Rechtgläubigkeit wirkten (Jecheskel Landau und dessen Nach-
folger in Prag, der mährische Landesrabbiner Mordechai Bennet
in Nikolsburg, Moses Sofer in Preßburg u. a. m.). In Galizien
hatte sich aber der Chassidismus seit dem Ende des XVIII. Jahr-
252
hunderts über immer neue Gebiete ausgebreitet und fast alle
Gemeinden erobert, mit Ausnahme einiger bedeutender Zita-
dellen des Rabbinismus (I^emberg, Krakau und Brody). Die
Zaddikim exaltierten die Massen — die einen durcli ihre „Wunder-
werke", die anderen — duirch ihren asketischen und heiligen
lyebenswandel (Elimelech von I^ysenzu imd dessen Nachfolger,
Wolf von Zbarz, Mosche-I^ejb von Sassow u. a. m.). Um 1790
tobte in den Gemeinden der Kampf um die Macht zwischen den
Rabbinern und den Zaddikim. Der bekannte antichassidische
Prediger Israel Leibel war nach Galizien aus Litauen um die
Zeit gekommen (1797 — 98), als in Rußland von neuem der
Krieg zwischen den Misnagdim und den Chassidim entbrannt
war (s. weiter, §52). Hier stieß er aber auf gut organisierte
Chassidim, die Leibels Predigten in den Synagogen sprengten
und ihn selbst bei der Polizei als einen gefährlichen Agitator
anzeigten. In den ersten Jahren des XIX. Jahrhunderts hatte
sich der Kampf zwischen Rabbinismus und Chassidismus etwas
gelegt: die beiden Gegner witterten die Gefahr seitens des ge-
meinsamen Gegners — der Aufklärung, die von Menschen vom
Schlage des Herz Homberg und mit Unterstützung der Regie-
rimg verbreitet wurde.
Das Bündius der Aufklärer mit der österreichischen Regierung,
die die jüdische Masse unterdrückte, kompromittierte in den
Augen der letzteren die Idee der Aufklärung selbst. In verzwei-
felter Gegenwehr gegen die neuen „deutsch-jüdischen" Schulen
zeigte die Masse selbstverständlich viel geistige Zurückgeblieben-
heit und chassidischen Obskurantismus, zugleich aber auch
einen politischen Protest, denn die neuen Schulen wurden ihr
von derselben Regierung aufgezwungen, welche die pharaonischen
Gesetze gegen die Vermehrung der Juden erließ und sie in der
Hölle der Rechtlosigkeit zu schmachten zwang. Der Haß gegen
die offiziellen Aufklärer aus dem Kreise Hombergs traf auch die
bescheidenen Idealisten, die aufrichtig für die Idee einer kultu-
rellen Erneuerung des Judentums schwärmten. Solche „Ketzer"
wurden verfolgt und aus den Familien und Gemeinden hinaus-
gedrängt, ihre „schädlichen" Bücher aber verbraimt. Die „Freun-
de der Aufklärung" mußten sich in verschiedenen Städten Ga-
Uziens zu Geheimbünden zusammenschließen, wo sie Werke von
Lessing, Mendelssohn und Schiller lasen und sich an verbotenen
253
Früchten delektierten : den naiven Elaboraten der neuhebräischen
I/iteratur, deren Organ der Berliner „Hameassef" (§ 35) war.
Unter solchen Umständen konnte die neue hebräische I^ite-
ratur keine hervorragenden Vertreter in Österreich haben.
Außer Homberg, der sich der Herstellung schlechter amtlicher
Lehrbücher gewidmet hatte, wirkte hier ein weit bedeutenderer
Schriftsteller der neuen Schule — Jehuda - Leib Ben - Seeb.
Zu Kjrakau geboren, hatte sich Ben-Seeb schon in seiner Heimat
heimlich mit den verbotenen Wissenschaften abgegeben; nach-
dem er Berlin tmd Breslau besucht hatte, trat er offen als Mit-
arbeiter des freigeistigen „Hameassef" hervor. Er machte sich
zur Aufgabe, ein Werkzeug zur Wiedererweckung der vom rab-
binischen Dialekt verdrängten hebräischen literarischen Sprache
zu schaffen. Zu diesem Zwecke verfaßte er zwei gnmdlegende
Werke: eine vollständige Grammatik der hebräischen Sprache
(, .Talmud leschon iuri", Breslau, 1796) und ein vollständiges
Wörterbuch dieser Sprache („Ozar Haschoraschim", Wien, 1807).
Diese Werke bildeten eine notwendige Ergänzung zum Bibel-
kommentar der Mendelssohnianer und verfolgten den gleichen
Zweck: der neuen Literatur statt des Talmuds die Bibel zugrunde
zu legen. In der rationalistischen Auslegung der Bibel ging Ben-
Seeb noch viel weiter als die „Biuristen" : er hatte den Mut,
als erster eine „Einleitung zur Bibel" („Meuo lemikrae kodesch",
Wien, 1810) zu veröffentlichen, die einige, natürlich sehr ge-
mäßigte, dem bekannten deutschen Orientalisten Eichhorn ent-
lehnte Elemente der Bibelkritik enthielt. Ben-Seeb verfaßte
und veröffentlichte seine Werke zum größten Teil in Wien, wo
er die letzten zehn Jahre seines Lebens als Korrektor an der
hebräischen Druckerei von Schmid wirkte. Er starb zu Wien
im Jahre 1811, dreiundvierzig Jahre alt. Das Leben in der
österreichischen Hauptstadt, ferne von den galizischen Obsku-
ranten, gab ihm die Möglichkeit, ohne Angst vor Veffolgtmgen
zu schreiben. Und doch überfiel ihn zuweüen eine Angst vor den
Vertretern der Orthodoxie. Auf die Bitte eines seiner galizischen
Freunde, in der Presse mit der Entlarvung des Chassidismus
hervorzutreten, antwortete Ben-Seeb (1808), daß er Angst habe,
die Chassidim anzugreifen, weü sie aus Rache seine Werke in
ganz Galizien verbrennen könnten. „Übrigens," fügte er hinzu,
„müssen wir diesen Heuchlern dankbar sein: gäbe es sie nicht,
254
so würden uns die Anhänger des Rabbinismus das Leben noch
saurer machen. Wenn zwei Diebe streiten, bekommt der an-
ständige Mensch das Gestohlene wieder. Die Chassidim be-
kämpfen die Rabbinisten, imd die Rabbinisten die Chassidim,
zwischen ihnen tanzt der Teufel, uns aber (die Aufklärer) läßt
man vorläufig in Ruhe ..." Bittere Ohnmacht klingt aus diesen
Worten. Viel zu schwach waren die ersten Pioniere der Auf-
klärung unter der zurückgebUebenen patriarchalischen Masse
der österreichischen Judenheit, viel zu oberflächlich war auch
das System der Aufklärung. Mit der Zeit wird sich aber die
auf die kulturelle Erneuerung des Volkes gerichtete Bewegung
erweitem und vertiefen und ihr Zusammenstoß mit den alten
Lebensformen einen mehr dramatischen Charakter haben.
Die Berliner Epidemie der Massentaufen war noch nicht nach
Österreich gedrungen. Fälle von Renegatentum häuften sich
nur innerhalb der Wiener jüdischen Aristokratie, die mit
großem Eifer Anschluß an die christlichen Kreise suchte. Die
Assimilation hatte sich in diesen aristokratischen Häusern fest
eingenistet. Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts stand in Wien
noch der vornehme Salon der Fanny Amstein (§ 5), der Gattin
des reichen Nathan Amstein, dem der Kaiser den Barontitel
verliehen hatte, in Blüte. Im glänzenden Salon der Baronin
Arnstein, die vom Judentume offiziell nicht abgefallen war,
trafen sich die Vertreter der jüdischen und der christlichen Ge-
sellschaft Wiens; hier lernten reiche und gebildete Juden, die
aber vom Titel „Tolerierte" noch nicht befreit waren, öster-
reichische Beamte, Schriftsteller und Künstler kennen. In der
Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon zeigte die Baronin
Amstein in ihrer philantropischen Tätigkeit einen glühenden
deutschen Patriotismus. Während des Wiener Kongresses sah
ihr Salon zuweilen die diplomatischen Vertreter der verschie-
denen europäischen Staaten.
255
Fünftes Kapitel
Das jüdische Polen während der letzten Teilungen
§ 41. Die jüdische Frage in der Literatur des Vierjährigen
Reichstags. Das erste Jahr der französischen Revolution war
das erste Jahr der polnischen Reform. In Paris hatten sich
die Generalstaaten unter dem Drucke der freiheitlichen
Bewegung aus einem Ständeparlament in die ständelose
Nationalversammlung verwandelt; in Warschau war der neue
Reformreichsts^, der der „Vierjährige" oder der „Große" ge-
nannt wird, ein streng ständisches, adhges Institut geblieben,
aber auch auf ihm liegt schon ein Stempel der französischen
Ideen des XVIII. Jahrhimderts. An die Türe des Reichstags
pochte der dritte Stand — das Kleinbürgertum, das Gleich-
berechtigung forderte, und eine der wichtigsten Reformen des
Reichstags war die Gleichstellung der Bürger mit der Szlachta
in bürgerlichen, wenn auch nicht in politischen Rechten. Noch
zwei andere wichtige Fragen der inneren Poütik lenkten die
Aufmerksamkeit der Gesetzgeber auf sich: die Bauemfrage und
die Judenfrage. Die erstere kam zur Behandlung, konnte aber vom
adligen Parlament nicht anders als im Interesse der sklavenhal-
tenden Gutsbesitzer entschieden werden. Die Judenfrage aber
tauchte nur ganz flüchtig im Lärm der Sitzungen des Vierjährigen
Reichstags auf imd wurde wie ein schwarzes Gespenst in eine
ferne Ecke der Kammer, in eine eigene ,, Deputation" oder
Kommission gedrängt, wo sie auch steckenblieb, ohne jemals
zur Entscheidung zu kommen. Dieses Resultat darf man aber
nicht ausschließhch dem Konservativismus der Erneurer Polens
zuschreiben; es gab noch eiben anderen Grund, der den radikalen
Reformen im Wege stand: über Polens Haupt hing das bloße
Schwert Rußlands, welches eine innere Erneuerung dieses Landes,
das nach der ersten Teilung als zweiter und dritter Gang auf die
Tafel der Großmächte kommen sollte, gar nicht wünschte.
256
Der Reichstag kämpfte gegen die unerträgliche Bevormundung
durch Rußland, die durch den russischen Residenten in War-
schau ausgeübt wurde, und bereitete das I^and zu dem unver-
meidlichen Kriege mit dem mächtigen Nachbarn vor. Die „im
Reichstage vertretenen Stände" hatten sich viel mehr um die
Reorganisierung der Armee und die Stärkung des Kriegsfonds
zu kümmern, als um die inneren Reformen.
Draußen tobte imd brandete aber das öffentliche lieben.
Neben der gesetzgebenden Versampilung gab es auch ein lite-
rarisches Parlament — die berühmte politische „I^iteratur des
Vierjährigen Reichstags", die die liberalen Strömungen der
Zeit widerspiegelte. Die sogenannte „Schmiede Kollontais"
die pubHzistische Kanzlei der Reformisten, überschwemmte das
lyand mit Broschüren und Flugblättern, die alle mit der Neu-
ordnung der Republik zusammenhängenden Fragen behandelten.
Dutzende von Broschüren waren ganz oder teilweise der Juden-
frage gewidmet. Die Polemik über alle Projekte zu der „Juden-
reform" wurde hier mit großer Leidenschaftlichkeit geführt und
ersetzte die Debatten im Parlament.
Den ersten Anstoß zur literarischen Polemik über die Juden-
frage gab eine vom Reichstagsabgeordneten für Pinsk, Butri-
mowicz, dem bedeutendsten Kämpfer für die Reformierung
der Judenheit in Polen, veröffenthchte Broschüre. Sie enthielt
einen Nachdruck der bekannten Broschüre des „Namenlosen
Bürgers", die in zwei Auflagen — 1782 und 1785 — verbreitet
war (§9). Als Butrimowicz diese Broschüre im Jahre 1789
neu herausgab, versah er sie mit einem neuen Titel : „Maßnahmen
zur Verwandlung der polnischen Juden in für das Land nützliche
Bürger" und mit eigenen Anmerkungen. Der populäre Reichs-
tagsabgeordnete bestätigte auf diese Weise mit seiner Unter-
schrift das „Reformprojekt", das auf dem Prinzip beruhte, daß
die Juden in ihrem jetzigen Zustande „für den Staat schädlich"
seien, doch nicht ihrer Natur nach, sondern infolge einer eigenen
Erziehung und Lebensgestaltung; ehe man sie in den Verband
der Bürger aufnehmen könne, müsse man sie daher zunächst
politisch und geistig umerziehen. Die Reform bestand in der
Förderung produktiver Arbeit — des Ackerbaues und des Hand-
werks — unter den Juden, in ihrer Fernhalttmg vom schädhchen
Schankgewerbe ; im Kampfe gegen ihre Abgeschlossenheit mittels
17 Dubnow, Gescbichte der Juden I ^57
Einschränkung ihrer Gememdeautonomie ; in der Verdrängung
ihres „Jargons" in der Schule und im Geschäft durch die pol-
nische Sprache und im Verbot einer eigenen Kleidung und der
Einfuhr jüdischer Bücher aus dem Auslande. Zu diesem Projekt
„aufklärerischer" Repressalien fügte Butrimowicz noch einen
Punkt hinzu: die Juden dürfen nicht zum persönHchen Militär-
dienst zugelassen werden, solange sie nicht durch die Aufklärung
in Patrioten, die dem Vaterlande dienen wollen, verwandelt
sind.
Aber auch dieses auf dem System der Bevormundung imd
Zv/angsassimilierung begründete Projekt war für die Mehrheit
der polnischen Gesellschaft viel zu Hberal. In einer der fort-
schrittHchen polnischen Zeitschriften erschienen „Gedanken über
die von Butrimowicz projektierte jüdische Reform" (Dezember
1789), Der Autor der „Gedanken" findet zwar, daß das Projekt
Butrimowiczs Elemente einer ,, gesunden Politik" enthalte,
macht aber dem Verfasser den Vorwurf, daß er ,,in seiner Sorge
um die Erhaltung der Menschenrechte, die I^aster der Juden
begünstige". Der anonyme Journalist fordert die gänzliche Ab-
schaffung der Gemeindeautonomie (nur die synagogale Auto-
nomie darf erhalten bleiben); empfiehlt ferner, den I^aden-
handel der Juden in den Städten einzuschränken, um sie aus dem
Handel zum Handwerk imd Ackerbau zu drängen. Manche
Publizisten äußerten sich über die Juden mit einer Schärfe,
die an Judenhaß grenzte. Ein demokratisch gesinnter Priester,
der berühmte Staczic, der Verfasser der „Warnungen an die
Polen" nennt die Juden „Sommer- und Winterheuschrecken
für das I^and" und sagt, daß diese „Schar von Schmarotzern"
nur in einem solchen Lande sich hat eiimisten können, wo man
jeden Müßiggang begünstige; er vergißt aber dabei, daß die
„Schmarotzer" in diesem Lande der Edelleute und Öauern den
ganzen Handel geschaffen hatten. Die meisten Ankläger der
Juden waren sich darüber einig, daß man die Fehler dieser Nation
durch eine von oben her betriebene Reform beseitigen könne.
Das alte historische Volk mit seiner Jahrhunderte alten Auto-
nomie wurde als ein Gesindel angesehen, das man nach Belieben
umformen könne: zu diesem Zwecke brauche man nur die jü-
dische Sprache durch die polnische zu ersetzen — zuerst in den
öff entheben Akten, dann auch im Privatleben; an Stelle der
258
Volksschule eine Staatsschule setzen, an Stelle des „Kahals"
den Magistrat und an Stelle des Handels Ackerbau und Hand-
werk. Die Verfasser der verschiedenen Projekte gingen nur im
Grade der Radikalität und der Zwangsmäßigkeit der „Reformen"
auseinander: die einen wollten die Gemeindeautonomie gänzlich
abschaffen (Kollontai), die anderen wollten sie nur auf bestimmte
Funktionen beschränken und den Kahal der Oberaufsicht der
Regierung imterstellen (Butrimowicz u. a.); die einen machten
den Vorschlag, den Juden Bart und Schläfenlocken abzuschnei-
den, den Talmud zu verbrennen und die Zahl der jüdischen
P eiertage zu kürzen; die anderen begnügten sich mit dem Verbot
der traditionellen Kleidung, mit der Schließung der jüdischen
Druckereien und der „Begünstigung der Übersetzung der jüdi
sehen religiösen Bücher in die polnische Sprache"; die Normie-
rung der jüdischen Ehen nach österreichisch-preußischem Muster
(obrigkeitliche Genehmigung nach Vorlage von Beweisen über
die materielle Lage und allgemeine Büdung) fand aber den Bei-
fall aller Projektemacher. Einige Publizisten vermengten mit
der jüdischen Frage auch die Frage von den ,,Neoph3rten", d. h.
den getatiften Frankisten, die in den polnischen Adel und das
Bürgertum Eingang gefunden hatten sich da aber fremd fühlten
und ganz isoliert zwischen der christlichen und jüdischen Gesell-
schaft standen. Die Verfasser biUigten die Verachtung der pol-
nischen Gesellschaft gegen die heuchlerischen Neophyten, die
sich von der Sekte nicht ganz loggesagt hatten und zu Frank
nach dem Auslande pilgerten oder ihm Geld schickten.
Gegen den Chor der Stimmen, die die jüdische Bevölkerung
verurteilten und mittels polizeilicher Maßnahmen „reformieren"
wollten, erhob sich nur eine einzige jüdische Stimme. Der Rab-
biner von Cholm, Hersch Josefowicz, veröffentlichte eine
Broschüre in polnischer Sprache: „Gedanken anläßlich des
Planes der Umwandlung der polnischen Juden in für den Staat
nützliche Bürger." Indem er das aufgeklärte Wohlwollen Butri-
mowiczs anerkeimt, gibt der Rabbiner seinem Erstaunen dar-
über Ausdruck, daß selbst aufgeklärte Menschen die Judenheit
als Ganzes verdammen und die Vergehen einzelner Personen
dem ganzen Volke zur I^ast legen, dem Volke, welches auch
viele Tugenden hat und dem Lande Nutzen bringt. Der Autor
protestiert aufs Entschiedenste gegen die vorgeschlagene Ab-
x7* 259
Schaffung des Kahals und gegen jede Einmischung in die geist-
lichen Angelegenheiten der Juden, überhaupt gegen alle Projekte
einer Assimilierung, die „zu einem gänzHchen Untergange der
Judenheit führen müsse". Der orthodoxe Rabbiner will sogar
von der Reformierung der Kleidung nichts hören und bemerkt
nicht ohne Ironie : solange die Juden zur Kategorie der schlechten
Menschen gerechnet werden, solle man ihnen doch ihre tradi-
tionelle Kleidimg belassen, welche die Möglichkeit gibt, sie von
den Christen zu unterscheiden.
In jenen Jahren gab es in Warschau noch keine einflußreiche
Gruppe aufgekläiter Mendelssohnianer (sie kamen erst in den
folgenden Jahren unter preußischer Herrschaft auf), die sich zu
der projektierten Reform auch von ihrem Standpunkte aus
hätten äußern können. Als „aufgeklärt" galten damals solche
Juden, die durch Finanzoperationen und Lieferungen Be-
ziehungen zum Hofe oder zur Regierung hatten. In den Archiven
findet sich ein Projekt, das einer dieser „Aufgeklärten", der
königliche Faktor Abraham Hirschowicz, dem Könige
Stanislaus-August während der Tagung des Vierjährigen Reichs-
tages überreicht hatte. Der Verfasser bringt einige patentierte
Mittel der polnischen Reformatoren in Vorschlag: die Heran-
ziehung der Juden zu Handwerk und Ackerbau („in den leeren
Steppen der Ukraine") xmd das Verbot der frühen Ehen; die
Reform in der Kleidung empfiehlt er aber mit dem Verbot von
jedem Prunk — von Seide, AÜas, Samt, Perlen und Edelsteinen
— zu beginnen, weü die Putzsucht die mittleren Klassen ruiniere.
Hirschowicz empfiehlt, Rabbiner nur in den großen Städten
aber nicht in den Marktflecken einzusetzen : in den Marktflecken
kaufen die Rabbiner ihre Posten von den Gutsbesitzern und
ruinieren hernach ihre Gemeinden durch Erpressimgen. Die
Ordnimg in den Kahals müsse von der Regierung festgesetzt
werden, weÜ die Juden selbst, infolge ihrer Meinungsverschieden-
heiten, „keine vernünftige Ordnung einführen können". Der
Entwurf zeugt von Bereitwilligkeit, sich bei der „Ausrottung
der Vorurteile und falschen Begriffe des verirrten Volkes" dem
Willen der Machthaber zu fügen . . . Um jene Zeit durfte man
ja auch nicht die Stimme eines freien Juden erwarten/ der den
polnischen Reformatoren gesagt hätte: wenn ihr die Juden zu
„nützlichen Staatsbürgern" machen wollt, müßt ihr es zuerst
260
so eintichten, daß der Staat für die Juden im gleichen Maße
nützlich sei, in dem er es für die anderen ihn bewohnenden
Stamme ist; bürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit sind
die einzigen Mittel zur Besserung eines Volkes, das durch jahr-
hundertelange Ungleichheit und Unterdrückung verkrüppelt
ist. Die dem Dogma des „aufgeklärten Absolutismus" treuen
polnischen Reformatoren konnten sich aber noch nicht zu der
einfachen Wahrheit erheben, die in Paris in den Jahren der
Revolution ausgesprochen wurde: „Es kann keine halbe Freiheit
geben, ebenso wie es keine halbe Gerechtigkeit geben kann!"
§ 42. Die Stimme der Straße und die Reichstagskommission.
Im Jahre 1789 und in der ersten Hälfte des Jahres 17^0
kam die jüdische Frage in den Sitzungen des Vierjährigen Reichs-
tags nicht zur Sprache. Bei den leidenschaftlichen Debatten
über Gesetzesvorlagen von größter Wichtigkeit, von denen
die ganze Zukunft der polnischen Republik abhing, schenkte
der Reichstag den mehrmaligen Mahnungen des Pinsker Ab-
geordneten, Butrimowicz, der den Vorschlag machte, die jü-
dische Reform auf die Liste, der dringendsten Fragen zu setzen,
gar keine Beachtung. Auch die leidenschaftliche literarische
Polemik über die jüdische Frage vermochte die Volksvertreter
nicht zu bewegen, die Behandlung dieser Frage zu beschleunigen.
Nun drang aber in die Kammer ein unheükündendes Geschrei
von dei Straße und der Reichstag fuhr auf.
Der Warschauer Pöbel hatte eben begonnen, die jüdische Frage
auf eigene Art zu lösen. Für die christlichen Händler und Hand-
werker war diese Fr^e in erster Linie eine Frage der Konkur-
renz. Während der beiden ersten Jahre des Großen Reichstags
war das alte (besetz, das den Juden den Aufentlialt in dem ihnen
sonst verbotenen Warschau nur in den Jahrmarkts wochen wäh-
rend der Reichstagstagungen gestattete, ganz von selbst außer
Kraft getreten. Da der Reichstag seine Vollmachten auf eine
Reihe von Jahren ausgedehnt hatte, hielten sich die Juden für
berechtigt, auch ihren Aufenthalt in Warschau auszudehnen .
Aus der Provinz kamen auf der Suche nach Erwerb immer neue
Massen jüdischer Kaufleute und Handwerker, und dieser Zuzug
wurde für die Warschauer Kleinbürger recht fühlbar: die Ein-
dringlinge machten die Käufer und Kunden den eingeborenen
Mitgh'edem der Warschauer Gilden und Zünfte abspenstig. Das
261
privilegierte Kleinbürgertum, das damals in den Rechten mit
dem Adel gleichgestellt werden sollte, empörte sich. Im März
1790 versammelte sich eine Menge von Zunfthandwerkem, vor-
wiegend Schneider imd Kürschner, vor dem Rathause und
begann zu schreien, daß, wenn der Magistrat nicht sofort alle
Juden aus Warschau vertreibe, sie, die Handwerker, ein Blutbad
anrichten würden. Der Bürgermeister, Jan Deckert, der bekannte
Verfechter der Gleichberechtigung des Kleinbürgertums, machte
von dieser Demonstration dem Reichstag Meldimg, und dieser
schickte zwei Abgeordnete, die die Menge beruhigen sollten. Als
die Abgeordneten nach der Ursache der Demonstration fragten,
antworteten ihnen die Handwerker, daß die zugereisten Juden
ihnen das lieben verbitterten: sie brächten die einheimischen
Schneider und Kürschner um den letzten Groschen. Die Abge-
ordneten versprachen, die Sache in Ordnung zu bringen. Am
nächsten Tage vertneb die Behörde tatsächlich sämtHche jüdi-
schen Handwerker und kleinen Straßenhändler aus Warschau
und ließ nur solche Kaufleute und Gewerbetreibenden zurück,
die eigene Ladengeschäfte oder Warenniederlagen besaßen.
Die vertriebenen Bettler, die nirgends Unterkunft finden
konnten, kehrten bald heimlich nach Warschau zurück. Unter
den Christen begann eine Gärung, tmd am 16. Mai 1790 kam es
zu einem Pogrom. An diesem Tage begegnete der zur Zunft
gehörige Schneider Foks auf der Straße einem jüdischen Schnei-
der mit irgendeinem Kleidimgsstück in der Hand. Er fiel übei
ihn her und versuchte ihm das Bündel zu entreißen. Der Jude
entwand sich aber seinen Händen und lief davon. Auf das Ge-
schrei des Foks lief eine Menge christlicher Handwerker zu-
sammen. In der Menge tauchte das falsche Gerücht auf, daß die
Juden einen polrüschen Schneider umgebracht hätten. Es er-
scholl der Ruf nach Rache und nach einem Pogrom. Die Christen
stürzten sich in dieTlomackistraße; die Juden hatten sich aber
hinter einem Zaune verschanzt und wiesen den Angriff zurück.
In den benachbarten Straßen gewann aber der Pöbel die
„Schlacht": die jüdischen Wohnungen, Läden und Geschäfte
wurden geplündert, alle Sachen von Wert weggeschleppt, alles
Übrige aber in die Brunnen geworfen. Die Stadtwache, welche
herbeigeeilt kam, wurde mit einem Hagel von Steinen und
Scherben empfangen. Erst einem Kommando von Fußsoldaten
262
und Berittenen gelang es, die Menge zu zerstreuen und die Ord-
nung wiederherzustellen. Der durch diesen Vorfall aufgebrachte
Reichstag befahl, die Sache zu untersuchen und die Schuldigen
zu bestrafen. Die Bestrafung beschränkte sich auf die Ver-
haftung des Haupträdelsführers Foks und einiger seiner Helfer.
Gegen die Juden aber wurden sehr energische Maßregeln er-
griffen: es wurde befohlen, alle jüdischen Hausierer und Hand-
werker, denen man auf der Straße mit Waren oder ihren Erzeug-
nissen in der Hand begegnen würde, zu verhaften, auf die Haupt-
wache zu bringen, mit Ruten zu züchtigen und dann auszu-
weisen ... So verfuhr man mit den jüdischen Handwerkern zu
einer Zeit, wo man in den Reformprojekten so schöne Worte
über die Heranziehung der Juden zur produktiven Arbeit machte.
Die Warschauer Unruhen hatten übrigens noch wichtigere
Folgen. Der Reichtsag gewann die Überzeugung, daß man die
Lösimg der Judenfrage, an die sich bereits die Straße auf ihre
rohe Weise gemacht hatte, nicht länger hinausschieben dürfe.
Am 22. Juni 1790 wurde eine eigene ,,Reichstagskonimission
zur Reform der Juden" gewählt. Ihr gehörten die Abgeordneten
Butrimowicz, Jacek Jezerski (der Kastellan vom Lukow) und
andere an. Jezerski wurde bald zum Vorsitzenden der Kommis-
sion. Dieser Abgeordnete war ein Anhänger der radikalen Re-
formen und erfaßte klarer als alle anderen das wirtschaftliche
Wesen der Judenfrage. Im Widerspruch zu der abgeleierten
Formel von der „Verwandlung der Juden in für den Staat
nützliche Bürger" sagte er im Reichstage, daß er die Juden
schon jetzt für nützlich halte, weü sie die Erzeugnisse des
Landes ins Ausland exportieren und auf diese Weise das Vaterland
bereichern; eine Verbesserung der Lage der Juden würde daher
die Staatsfinanzen heben und den Geldumsatz um viele Mil-
lionen erhöhen. Die Kommission arbeitete unter der Leitung
Jezerskis und Butrimowiczs sehr energisch. Sie imtersuchte eine
Reihe von Reformprojekten, die von Butrimowicz, Czacki und
anderen eingereicht waren. Das Projekt Butrimowiczs stellte
einen Auszug aus der oben erwähnten, von ihm herausgegebenen
Broschüre dar. Gleicher Art war auch das Projekt des bekannten
Historikers und Publizisten Tadeusz Czacki, des Leiters der
Finanzkommission des Reichstags. In seinem Projekt waren
folgende Vorschläge formuliert: i.Die Regierung hat die Juden
263
bisher nur als geduldet angesehen, von nun an werden ihnen die
Rechte von Bürgern gewährt, 2. indem die Regierung ihnen
die Rechte von Bürgern verleiht, darf sie von ihnen verlangen,
daß sie „zum Wohle des Staates aufgeklärt seien"; 3. alle Unter-
schiede zwischen Juden und Christen, außer den religiösen,
werden abgeschafft; 4. den Juden stehen alle Erwerbsquellen
offen, mit Ausnahme des Schankgewerbes, von dem sie fünfzig
Jahre lang fernzuhalten sind; statt dessen muß man sie zur
Ivandwirtschaft anhalten. Zwecks Zivilisierung der Juden schlägt
das Projekt eine Reihe von Beschränkungen imd Zwangsmaß-
regeln vor: die frühen Ehen (imter 20 Jahren für Männer, unter
18 Jahren für Frauen) werden verboten; mittellosen Personen
werden keine Ehebewilligungen gegeben; Personen, die kein
2^ugnis über die Absolvierung einer Elementarschule vorweisen
können, werden in den bürgerlichen und gewerblichen Rechten
beschränkt; die jüdischen Bücher imterliegen einer strengen
Zensur; die jüdische Kleidung soll durch polnische oder deutsche
ersetzt werden, die jüdische Sprache in offiziellen Urkunden
durch die polnische.
Zu Beginn des Jahres 1791 war die Reichstagskommission mit
ihrem Entwurf über die jüdische Reform fertig und unterbreitete
ihn dem Reichstag. Diesem Projekt, dessen Text uns nicht
erhalten geblieben ist, lagen zweifellos die Projekte Butrimowiczs
und Czackis zugrunde. Der Reichstag war aber mit den Vor-
bereitungen zur Proklamierung der Verfassung vom 3. Mai so
sehr beschäftigt, daß er sich der Behandlung der Judenfrage
nicht mehr widmen konnte. Erst nach der Proklamierung der
Verfassung verlangte Butrimowicz in der Sitzung vom 24. Mai
eine schleunige Behandlung des Projekts. Nun erhob sich ein
anderes Mitglied der „jüdischen Kommission", der Abgeordnete
von Bratzlaw, Cholonewski, und erklärte, daß er den Kom-
missionsentwurf, der die Handelsrechte der Juden erweitere,
für die Interessen von Elleinpolen für schädlich halte und daher
der Beachtung der Kammer sein eigenes Projekt empfehle.
Der Reichstag freute sich über den Vorwand, die Behandlung
der unangenehmen Frage hinausschieben zu können. Im Juni
wurde der Reichstag bis zum September vertagt. Auf diese
Weise wurde die wichtigste Akte der polnischen Reform — die
Verfassung vom 3. Mai 1791 proklamiert, ohne daß eine Ver-
264
änderung in der I<age der Juden eingetreten wäre. Die Verfassung
hatte allerdings auch die alte Ständeordnung der Republik —
die feudale Gewalt der Gutsbesitzer und die Leibeigenschaft
der Bauern in Kraft gelassen; aber sie gab immerhin dem Klein-
bürgertum die Bürgerrechte und demokratisierte einigermaßen
die parlamentarischen Institutionen. Nur das eine als Stiefkind
angesehene Volk war in diesem Testament des sterbenden
Polen gänzlich übergangen worden.
Die im Herbste 1791 wieder zusammengetretene Reichstags-
kommission arbeitete in einer besonders gespannten politischen
Atmosphäre: die reaktionären Gegner der neuen Verfassimg
stifteten überall im Lande Unruhen; es nahte ein neuer Bürger-
krieg und ein Krieg mit Rußland. Nichtsdestoweniger entschloß
sich der unermüdliche Butrimowicz, dem Reichstag von neuem
die Notwendigkeit in Erinnerung zu bringen, die Sorge der
Regierimg auch auf „das unglückliche Volk, das sich selbst nicht
helfen kann und sogar nicht weiß, worin die Verbesserung seines
Loses bestehen soU", auszudehnen. Er verlangte die Revision
des vorher ausgearbeiteten Projekts in einer eigenen Kom-
mission, die darin einige „von den neuen Umständen bedingte"
Änderungen anbringen tmd es von neuem der Kammer vorlegen
sollte Jezerski, der diesen Vorschlag unterstützte, hatte den
Mut, in der Reichstagssitzung vom 30. Dezember den oben-
erwähnten Gedanken auszusprechen, daß er die Juden schon
jetzt für „nützliche Bürger" halte. Der Reichstag nahm den
Vorschlag an, und die Kommission machte sich von neuem an
die Arbeit. Das Resultat dieser Arbeit war aber sehr kläglich.
Nach langen Beratungen kam die Kommission zu folgendem
Beschluß: „Zur Verbesserung des Loses der jüdischen Bevölke-
rung muß man ihre inneren Angelegenheiten in Ordnung bringen;
dies kann aber nicht erreicht werden, solange diese Bevölkerung
nicht von der Schuldenlast ihrer Gemeinden^) befreit ist, was
aber nur dann eintreten kann, wenn die Finanzkommission sich
zur Liquidienmg dieser Schulden entschließt." Vor der Verwirk-
^) Auf den jüdischen Gemeinden Polens iasteten KJesenschulden, die die
Gemeinden im Laufe der Zeit zur Deckiuig der Steuerrückstände und zur Be-
streitung außerordentlicher Ausgaben gemacht hatten. Die Gläubiger waren
die Magistrate, katholische Klöster und Privatpersonen. Die Frage von der
Liquidierung dieser Schulden kam in den Reichstagen der zweiten Haltte des
XVIII. Janrhunderts mehr als einmal zur Sprache.
265
lichung des Reformprojektes müsse daher die Regierung zunächst
die Mittel zur I^iquidierung der Gemeindeschulden ausfindig
machen. Der Beschluß der „jüdischen Kommission" wurde von
der Versammlung des Reichstags mit großer Freude angenommen :
nun war man die schwere Last los und brauchte nicht mehr an
die „Reform" und „Gleichberechtigung" zu denken; es genügte,
die örtlichen Gerichte mit der Feststellung der Höhe der jüdischen
Gemeindeschulden zu betrauen und die Finanzkommission zu
ermächtigen, diese Schulden aus den Gemeindefonds oder spe-
ziellen Quellen zu tilgen; diese Arbeit würde für eine Reihe von
Jahren genügen. So wurde unter dem Deckmantel der I^iqui-
dierung der Schulden auch die „jüdische Reform" liquidiert . . .
Die in der Verfassung vom 3. Mai übergangenen Juden mach-
ten, wenn man den Berichten einiger Zeitgenossen Glauben
schenken will, den Versuch, unter Ausnutzung ihrer Beziehungen"
zum Hofe, durch den König Stanislaus- August auf die Regie-
rung und den Reichstag einzuwirken. Irgendwo fand eine geheime
Beratung der jüdischen Führer statt, welche drei Bevollmächtigte
zur Unterhandlung mit dem König über die Verbesserung der
Lage der Juden wählten. Die Bevollmächtigten operierten Ende
1791 und Anfang 1792 durch den königlichen Sekretär Piatoli.
Bald darauf wurden sie vom König in eigener feierlicher Audienz
empfangen, wobei der König, wie es heißt, auf dem Throne saß.
Die Juden baten ihn um Verleihung des Bürgerrechts und des
Rechts, Immobilien in den Städten zu kaufen, um Brhaltimg
ihrer Gemeindeautonomie und ihrer Unabhängigkeit von den
Magistraten. Man erzählte sich, daß die jüdischen Bevollmäch-
tigten dem König 20 Millionen zur Tilgung seiner persönlichen
Schulden versprochen hätten. In diese Sache seien auch einige
Reichstagsführer eingeweiht gewesen, darunter auch der Radikale
KoUontai. Der König hätte sich bemüht, das Projekt der Juden-
reform in der Kommission und im Reichstag durch2:udrücken,
dies sei ihm aber nicht geltmgen . . . Die jahrhundertalte Frage
konnte nicht in diesem unruhigen Augenblick gelöst werden,
als über dem seine letzten Kräfte im letzten Drange nach Un-
abhängigkeit erschöpfenden Lande schon der Tod schwebte.
§ 43. Die zweite und die dritte Teilung; Berek Joselewicz. Der
Todeskampf Polens nahte heran. Die Gegner der Maiver-
fasstmg aus den konservativen Elementen des Landes ver-
266
banrien sich mit der russischen Regierung, dem verhängnis-
vollen Hemmschuh für jeden Fortschritt in seiner Einfluß-
sphäre. Die Targo witzer Konföderation kam zustande, und der
Bürgerkrieg brach aus (im Sommer 1792). Die vom politischen
Leben ferngehaltenen Juden zeigten jedoch hier und da ihre
Sympathie für die Verfechter der neuen Verfassimg: die
jüdischen Schneider von Wilna erklärten sich bereit, imentgelt-
lich zweihundert Uniformen für die Freiheitsarmee herzustellen;
die Gemeinden von Sochatschow und Pulawy gaben Geld zu
patriotischen Zwecken; die Juden von Berditschew beteiligten
sich an der Abordntmg der Kaufmannschaft, die den Befehls-
haber der polnischen Armee, Josef Poniatowski, begrüßte, und
stifteten der Regimentskapelle neue Musikinstrumente. Die
jüdischen Gemeinden in Wolhymien und Podolien hatten durch
die kriegerischen Operationen großen Schaden gelitten. Die
Gemeinde von Ostrog machte die Beschießung dieser Stadt
durch die Russen im Juli 1792 mit . . . Alle diese Opfer ver-
mochten aber das I^and nicht zu retten. Im Jahre 1793 kam
es zur zweiten Teilung Polens unter Rußland und Preußen.
Rußland bekam Wolhynien, Teüe des Kiewer Gebiets, Podolien
und die Minsker Wojewodschaft; Preußen den anderen Teil
von Großpolen (Kaiisch, Plozk) mit den Städten Danzig und
Thom. Von Polen war wieder ein riesengroßes Gebiet mit
mehreren Hunderttausenden jüdischer Bevölkenmg losge-
rissen. Die gedemütigte Nation empfand diesen neuen chirur-
gischen Eingriff überaus schmerzlich. Nun kam die Revolution
von 1794.
Der Führer der Erhebung, Kosciuszko, der schon die l^uft
zweier Weltrevolutionen — der amerikanischen und der fran-
zösischen — geatmet hatte, besaß viel weitere Begriffe von poU-
tischer und bürgerlicher Freiheit als das ganze Befreiungsheer
des adligen Polen: er wußte, daß ohne die Abschaffung der
Sklaverei der Bauern und der Ungleichheit der Bürger von einem
freien Staate keine Rede sein könne. Im Feuer des Kam.pfes für
die Rettimg des Vaterlands kamen zuweilen diese demokrati-
schen Bestrebtmgen des Führers zum Durchbruch, und die unter-
drückten Klassen fühlten, daß etwas weit Größeres im Gange sei
als eine Adelsrevolution. Auch gewisse Schichten der jüdischen
Gesellschaft waren vom Enthusiasmus der Freiheit ergriffen.
267
Dies zeigte sich bei der langen Belagerung Warschaus durch die
russisch-preujßische Armee im Sommer und Herbst 1794, als die
ganze Bevölkerung zur Verteidigung der Hauptstadt angerufen
wurde. Dieselben Juden, die vor kurzem erst Überfälle auf offener
Straße zu erdulden hatten und aus Warschau auf höheren Befehl
erbarmungslos vertrieben wurden, standen jetzt, in der Stunde
der Gefahr, in den gleichen Reihen mit ihren Verfolgern und
arbeiteten gemeinsam mit ihnen beim Anlegen von Gräben und
Wällen zum Schutze der Stadt. Oft eilten diese Freiwilligen auf ein
Alarmsignal bewaffnet herbei, um die Belagerer zurückzuwerfen.
Unter dem Hagel der Kugeln und Kartätschen wiesen sie mit
den anderen Warschauer Bürgern die Angriffe zurück, verloren
viele Tote und Verwundete, ließen aber ihren Mut nicht sinken.
Unter den Juden, die Warschau verteidigten, kam der Gedanke
auf, eine eigene jüdische Legion zum Schutze des Vaterlands
zu bilden. An der Spitze dieser Gruppe von Patrioten stand
Berek Joselewicz.
Um das Jahr 1765 im litauischen Städtchen Krottingen ge-
boren, legte Berek den ganzen domenreichen Weg eines armen
jüdischen Jünglings zurück: von der religiösen Schule, dem
,,Cheder", bis zur Stellung eines herrschaftlichen Faktors. Er
trat in die Dienste eines vornehmen Herrn, des Wünaer Bischofs
Massalski, und gleich darauf begann seine nicht ganz alltägliche
Karriere. Massalski, der häufig ins Ausland, hauptsächlich nach
Paris reiste, nahm oft auch seinen gewandten Faktor mit. Der
junge Berek erlernte die französische Sprache und bekam eine
Vorstellung vom Leben in den Pariser Salons, in denen sein
Herr verkehrte. Er sah da eine neue Welt und atmete die neue
Luft, die in der Hauptstadt der Welt am Vorabend der großen
Revolution wehte. In den Jahren des Vierjährigen Reichstags
hatte Berek schon Seine Stelle bei Massalski verlassen, einen
eigenen Hausstand gegründet und lebte mit seiner Familie in der
Warschauer Vorstadt Praga. Hier, in der Atmosphäre der patrio-
tischen Erregung reiften in der Seele Bereks jene Eindrücke
heran, die er während seines Lebens unter den großen Herren
und im Auslande empfangen hatte. Das Hervortreten des Helden
Kosciuszko und die Belagenmg Warschaus verliehen seinen un-
klaren Empfindungen greifbare Gestalt: es galt, für die Freiheit
des Vaterlandes, für die Errettung der Hauptstadt zu kämpfen,
268
wo Juden und Polen in gleicher Weise von Feindeshand bedroht
waren; es galt zu beweisen, daß auch die Stiefsöhne des Vater-
landes in den Reihen seiner echten Söhne zu kämpfen verstehen
und ein besseres I/)s verdienen. Im Scfptember 1794, als der
Kampf um Warschau den Höhepunkt erreicht hatte, ersuchte
Berek den Oberbefehlshaber Kosciuszko um Genehmigung, ein
eigenes Regiment leichter Kavallerie aus jüdischen Freiwilligen
zu bilden. Kosciuszko erfüllte gern die Bitte tmd hob in seinem
Tagesbefehl vom 17. September rühmend den patriotischen Eifer
Bereks tmd seiner Genossen hervor, „die des Landes, in dem sie
geboren sind, gedenken und wissen, daß die Befreiung dieses
lyandes ihnen die gleichen Vorteüe bringen wird wie allen an-
deren". Berek wurde zum Kommandeur des jüdischen Regi-
ments ernannt. Nun begann er mit der Anwerbung von Frei-
willigen und der Sammlung von Geld für die Ausrüstimg. Am
I. Oktober erschien in der Warschauer „Regierungszeitung"
folgender Aufruf Berek Joselewiczs an seine Stammesgenossen,
der zwar polnisch, doch im hebräischen Stüe abgefaßt war:
„Höret, ihr Söhne des Volkes Israel, alle, deren Herzen das
Ebenbüd des Allmächtigen Gottes aufgeprägt ist, alle, die uns
helfen wollen, für das Vaterland zu kämpfen! . . . Wisset, daß
nun die Stunde gekommen ist, diesem Werke alle unsere Kräfte
zu widmen . . . Bs gibt ja viele mächtige Herren, Söhne von
Edelleuten und große Geister, die bereit sind, ihr Leben für das
Vaterland zu opfern. Warum sollen aber wir, die wir unterdrückt
werden, nicht auch nach Waffen greifen, wo wir mehr in Knecht-
schaft sind als alle Menschen der Erde? . . . Warum soUen wii
nicht auch durch unsere Arbeit die Freiheit erringen, die uns
ebenso sicher imd wahrhaft wie den anderen Menschen ver-
sprochen ist? Wir müssen sie uns aber zuvor verdienen . . . Mir
ist das Glück zuteü geworden, auf Befehl der Obrigkeit, Oberst
zu werden. Erwachet nun, helft, das bedrückte Polen zu be-
freien! Treue Brüder, laßt uns für das Vaterland kämpfen,
solange noch ein Tropfen Blut in ims ist! Wenn wir die Freiheit
auch nicht erleben, so werden wenigstens unsere Kinder frei
und ruhig leben können Und nicht wie wüde Tiere herumirren.
Erwachet wie X/öwen und Leoparden! ..."
Einfach und naiv war die Sprache Bereks, naiv sein politischer
Gedankengang. Während er die Juden anrief, für die Freiheit
269
neben den .mächtigen Herren" zu kämpfen, übersah er, daß
die Freiheit der Juden durch die Freiheit der Herren, unter
denen es nur sehr wenig Humanisten vom Schlage Kosciuszkos
gab, durchaus nicht gewährleistet wurde. Er lebte in einer Zeit,
als die westlichen Juden sich bemühten, ihren „Zivismus" zu
zeigen. Ihm schwebten wohl die Juden vor, die seit 1789 in der
Pariser Nationalgarde dienten . . . Berek lockte mit seinem
Enthusiasmus viele Freiwillige an. In kurzer Zeit entstand ein
Regiment aus 500 Mann. Das in aller Eüe mit den knappen Mit-
teln, die die Revolutionsregierung dafür bewilligt hatte, und dem
Ertrag freiwilliger Sammlungen ausgerüstete jüdische Regiment
sah wie eine bunt zusammengewürfelte Volksmiliz aus; aber das
Gefühl der Soldatenpflicht war in allen diesen Menschen, von
denen viele zum erstenmal im lieben Waffen in der Hand
hielten, ungemein groß. Das jüdische Regiment bewies seine
Furchtlosigkeit und Selbstaufopfertmg am verhängnisvollen
4. November, am Tage der blutigen Erstürmung Pragas durch die
russischen Truppen Suworows. Unter den 15 000 Polen, die auf
den Schanzen Pragas, in den Straßen Warschaus und in den
Wellen der Weichsel den Tod fanden, war auch das Regiment
Berek Joselewiczs. Der größte Teil des Regiments fiel auf den
Schanzen den russischen Kugeln und Bajonetten zum Opfer.
Oberst Berek floh ins Ausland mit dem General Zajonczek,
dem Kampfgenossen Kosciuszkos, welcher schon vorher in russi-
sche Gefangenschaft geraten war. In Österreich verhaftet, ent-
kam Berek nach einiger Zeit nach Frankreich und gesellte sich
da zu den polnischen Emigranten, den Teilnehmern des letzten
Aufstands.
Die dritte Teilimg Polens (1795) brachte an Rußland den Kern
der polnischen Judenheit — die kompakten Massen Litauens
(die Wojewodschaften Wilna und Grodno). Preußen verschlang
den Rest von Großpolen mit Warschau und Masovien. Öster-
reich rundete seinen großen galizischen Besitz mit Krakau und
der Lubliner Wojewodschaft ab. Von nun an verschmüzt das
Schicksal der polnischen Juden mit dem ihrer Brüder in diesen
drei Staaten und bekommt eine dreifarbige — österreichisch-
preußisch-russische Färbung (§§ 29, 38 und 45). Aber auch die
dritte Teilung Polens war noch nicht die endgültige. Für eine
kurze 2^it ersteht in der Geschichte das Gespenst eines halb-
270
unabhängigen Polens. Zwölf Jahre nach der dritten Teilung
trennte Napoleon I., der die I^andkarte Europas ummodelte
und ephemere Staatsgebilde schuf, von der preußischen „Beute"
die Provinz Großpolen los und bildete aus ihr das Herzogtum
Warschau, einen kleinen Staat imter der Herrschaft des
sächsischen Königs Friedrich August III. (des Enkels des letzten
polnischen Königs aus der sächsischen Dynastie, August III.).
Es war im Jahre 1807, nach der Niederwerfung Preußens durch
Napoleon. Als Napoleon zwei Jahre später auch Österreich zer-
schmetterte, riß er einen Teil von dessen polnischen Provinzen
los und vereinigte ihn mit dem Herzogtum Warschau (1809).
§ 44. Das Herzogtum Warschau und die Napoleonische Re-
aktion. Das von den Preußen gesäuberte Warschau wurde
wieder nach zwölfjähriger Unterbrechung zur Hauptstadt
des imter der Vormundschaft Napoleons wiederhergestellten
polnischen Zentrums. Das Herzogtum Warschau, das aus
zehn Departements von Groß- und Kleinpolen bestand (War-
schau, Kaiisch, Plozk, I^mz, Posen, Bromberg, später auch
Krakau, Lublin, Radom und Siedlez), erhielt eine ziemlich
liberale Verfassung mit zwei Kammern (Reichstag und Senat)
und dem bürgerlichen „Code Napoleon", der soeben in Frank-
reich eingeführt worden war. Die Grundgesetze verkündeten
die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze. Die fortschrittlich
gesinnten Juden des neuen Staates, die das vorhergehende
preußische Regime nicht an die Gleichberechtigung (eine solche
gab es damals auch in Preußen nicht), sondern an den Kampf
für die Gleichberechtigung gewöhnt hatte, gaben sich nun
den rosigsten Hoffnungen hin, während die konservativen
chassidischen Massen die Erhaltung des alten Zustands vor-
zogen. Der Nimbus Napoleons war in der jüdischen Gesellschaft
noch nicht erloschen; man glaubte, daß der Kaiser seinen Schutz
auch auf die polnischen Juden ausdehnen würde. Diese Hoff-
nimgen wurden aber grausam getäuscht. Das erste Jahr des
Herzogtums Warschau (1807 — 1808) war das Jahr der Wen-
dung in der Politik Napoleons gegen die Juden : das , »Schmachvolle
Dekret" vom 17. März 1808 hatte das Gesetz von der Gleich-
berechtigung der Juden für die Dauer von zehn Jahren in fast
allen Gebieten des französischen Kaiserreichs atißer ELraft ge-
setzt. Diese in Frankreich eingetretene Reaktion machten sich
271
nun die Staatsmänner Polens zunutze, die trotz aller Schicksals-
schläge noch nichts gelernt hatten und auch jetzt noch die
Gleichberechtigung des verhaßten Volkes nicht zidassen wollten.
Im Frühjahr 1808 mußte sich die Regierung des Herzogtums
Warschau mit der jüdischen Frage befassen, wie infolge des
Gesuchs der Juden imi die Verleihimg der Bürgerrechte, so
auch im Zusammenhange mit den bevorstehenden Reichstags-
wahlen. Der Warschauer Afinisterrat, der vom Märzdekret
Napoleons schon Kenntnis hatte, klammerte sich an dieses wie
an einen Rettungsanker. Dem Herzog Friedrich August wurde
ein Bericht erstattet, in dem es hieß: „Dem Herzogtume droht
die traurigste Zukunft, wenn das israelitische Volk, das sich
hier in bedeutender Anzahl befindet, heute auf einmal die Bürger-
rechte bekommt; denn dieses Volk bewahrt einen unserem Lande
fremden Nationalgeist und befaßt sich mit unproduktiven
Brwerbsarten^)." Als auf ein Mittel, die nach dem Wortlaute
der Verfassung obligatorische „Gleichheit der Bürger" zu um-
gehen, wies der Ministerrat auf das suspensive Dekret Napo-
leons hin, welches die Gleichberechtigung nicht aufgehoben,
sondern nur hinausgeschoben hatte. Um die Sanktion Napoleons
für diese Sache zu erwirken, setzte sich die Warschauer Regie-
rung mit ihren Agenten in Frankreich und mit dem französischen
Minister des Inneren, dem bekannten Judenfeind Champagny,
in Verbindung. Als man in Dresden und Warschau erfuhr, daß
Napoleon sich diesem Akte gegenüber wohlwollend verhielt,
erließ der Herzog am 17. Oktober 1808 ein Dekret folgenden
Inhalts: „Die Bewohner Unseres Warschauer Herzogtums, die
sich zur mosaischen Religion bekennen, verlieren für
die Dauer von zehn Jahren die politischen Rechte, die sie zu
bekommen hätten, denn Wir hoffen, daß sie in dieser Frist alle
ihre Eigentümlichkeiten, die sie so sehr von den anderen Ein-
wohnern unterscheiden, ablegen. Dieser Beschluß darf Uns
aber nicht hindern, einzelnen Personen dieser Konfession zu
gestatten, von den politischen Rechten auch vor Ablauf der
*) Wie sich die polnischen Minister ideale Juden vorstellten, die der Emanzi-
pation wert wären, kann man aus einem Briefe des Finanzministers Dem
bowski (März 1808) ersehen: „Nach der Verfassung dürfen die Juden weder
eigene Gemeinden haben, noch eigene Gerichte, Eidesformeln, eigene Kleidung,
eigene Sitten und Vorurteile, eigene Schulen und eigene Erziehungsmittel; sie
dürfen überhaupt keinen eigenen Stamm mit eigenen Ehen bilden."
272
w
genannten Frist Gebrauch zu machen, wenn sie Unsere Gnade
verdienen, indem sie den Bedingungen entsprechen, die Wir in
einem eigenen Erlaß betreffs der Angehörigen der mosaischen
Religion festlegen werden."
So beraubte die Warschauer Regierung in höflichsten Aus-
drücken, im modernsten französischen Stil, alle „Bekenner der
mosaischen Religion" des Bürgerrechts, das ihnen die Ver-
fassung gewährte. Der Schönheit des Stiles wegen hatte man
zwar den Ausdruck „politische Rechte" gewählt, aber die Juden
verloren in Wirklichkeit die wesentlichsten bürgerlichen Rechte.
Im November 1808 wurde ihnen verboten, die Erbgüter üer
Adligen zu kaufen; die erniedrigenden Wohnrechtsbeschrän-
kimgen für Warschau wurden wiederhergestellt: das Dekret
vom 16. Mai 1809 schrieb den Juden vor, innerhalb sechs Mo-
naten einige Hauptstraßen Warschaus zu räumen; Ausnahmen
wurden nur für einzelne Personen — Bankiers, Großkaufleute,
Arzte und Künstler — gemacht. Die altpolnische Gesetzgebung
in ihren erniedrigendsten Formen lebte von neuem auf.
In der jüdischen Gesellschaft begann eine Gärung. In War-
schau gab es damals schon eine bedeutende Gruppe fortschritt-
licher Juden, die der modernen Berliner Aufklärung teilhaftig
geworden waren und alle die „Eigentümlichkeiten" in der
Kleidung imd im Aussehen abgelegt hatten, für die man die
Juden mit Entrechtung bestrafte. Unter Beruf tmg auf den zweiten
Artikel des suspensiven Dekrets, der eine Ausnahme für Per-
sonen, „die die Eigentümlichkeiten ablegen", gestattete, gab
eine aus siebzehn Personen bestehende Gruppe solcher Juden
im Januar 1809 dem Justizminister eine Erklärung ab, in der es
u. a. hieß: „Wir haben uns seit jeher bemüht, uns durch unsere
sittliche Aufführung und gleiche Kleidimg der übrigen Bevölke-
rung zu nähern und sind nun überzeugt, der Bürgerrechte nicht
mehr unwürdig zu sein." Der Justizminister I^ubenski, einer
der ,, verfassungstreuen" Minister, die es verstanden, unter
liberaler Maske den alten Despotismus zu betreiben, beant-
wortete diese knechtische Erklärung mit dem rohen Sophisma,
daß die veffassimgsmäßige' Gleichheit vor dem Gesetze noch
nicht aUe Menschen zu Bürgern mache, weü nur solch ein Mensch
Bürger sein könne, der dem Könige treu ist und nur dieses eine
Land für sein Vaterland hält; „können derm die Bekenner der
18 Dnbnow Geschichte der Juden I 273
mosaischen Religion dieses Land als ihr Vaterland ansehen?
Haben sie denn nicht den Wunsch, in die Heimat ihrer Vor-
fahren zurückzukehren? Fühlen sie sich nicht als eine eigene
Nation? Der Wechsel der Kleidung genügt noch nicht."
Neben diesen Vertretern der Kleiderkultur, die nach persön-
lichen Privüegien strebten, gab es in der Warschauer jüdischen
Gesellschaft auch solche Anhänger der Berliner Aufklärung, die
es für ihre Pflicht hielten, für die Rechte des ganzen Volkes
zu kämpfen. Am 17. März 1809 überreichten fünf Vertreter der
Warschauer Gemeinde (Michel Rawski-Ettinger und andere)
dem Senat des Herzogtums eine Denkschrift, die nicht nur
flehende, sondern auch entrüstete Töne anschlug: ,, Tausende
Angehörige des polnischen Volkes, der alttestamenta-
rischen Konfession, denen der jahrhundertelange Aufent-
halt in diesem Lande das Recht gibt, es gleich allen anderen
Einwohnern für sein Vaterland anzusehen, sind bisher ohne
jede Schuld, doch zum Schaden der Gesellschaft und zur Krän-
kung der Menschheit, aus unbekannten Gründen zur Erniedri-
gung verdammt und schmachten unter dem Drucke täglicher
Unterdrückung . . ." Dem aufgeklärten Geiste der Zeit und der
„Weisheit der Gesetze Napoleons des Großen" zum Trotz —
fahren die Bittsteller fort — , sind die Juden der Bürgerrechte
beraubt, haben weder im Reichstag noch im Senat Fürbitter
und sehen mit Trauer voraus, daß „auch ihre Kinder und Kindes-
kinder ein besseres Los niemals erleben werden". — „Wir sind
mehr als alle anderen Einwohner mit Steuern belastet; wir ent-
behren der angenehmen Möglichkeit, ein Stück Land zu erwer-
ben, ein Häuschen zu bauen, eine Wirtschaft oder eine Fabrik
zu gründen, freien Handel zu treiben und überhaupt alles zu
tun, was Gott und die Natur dem Menschen gestatten. In War-
schau ist uns befohlen, aus den Hauptstraßen auszuziehen.
Wird denn dieses Land, in dem unsere Vorfahren geboren sind,
die für diese Gnade teuer bezahlen mußten, ims immer fremd
bleiben? . . . Ihr Herren Senatoren! Wir bringen Euch die
Tränen der Väter, Kinder und der künftigen Geschlechter; wir
bitten Euch, uns recht bald die glückliche Möglichkeit zu ge-
währen, alle Rechte und Freiheiten zu genießen, die Napoleon
der Große allen Bewohnern dieses Landes geschenkt hat und die
unser geliebtes Vaterland allen seinen Kindern zuerkennt."
274
Diese flehentliche Denkschrift, in der sich die Bittsteller zu
den „Angehörigen des polnischen Volkes" zählen, beantwortete
der Senat mit einem grausamen Bericht an den Herzog, in dem
es hieß, daß die Juden die „Verminderung ihrer Rechte" durch
ihre „unehrlichen Erwerbsarten tmd den für das allgemeine
Wohl schädlichen Lebenswandel" verschuldet hätten; es sei
eine Reform des ganzen jüdischen I^ebens notwendig; zu diesem
Zwecke müsse man eine Kommission einsetzen, die den Plan zu
einer solchen Reform auszuarbeiten hätte. Eine solche Kommis-
sion bestand übrigens schon seit Ende 1808 unter dem Vorsitz
des Referendarius Woida und arbeitete an einem „Reformplan"
im Sinne einer Zwangsaufklärung und Polonisierung der Juden.
Jede solche Kommission war aber nur eine wohlanständige Art,
die Judenfrage zu begraben.
In der gleichen Zeit, als die Regierung des Herzogtums War-
schau die Bitte der Juden um Gleichberechtigung mit der Be-
gründung, daß sie zu wenig Patriotismus zeigen, ablehnte, lebte
und wirkte in Warschau das leuchtende Symbol des polnischen
Patriotismus, der Held der Revolution von 1794, Berek Josele-
wicz. Nach zwölfjährigen Irrfahrten durch Westeuropa, wo er
an vielen Kjiegen Napoleons in den Reihen der polnischen Le-
gionen Dombrowskis teilgenommen hatte, kehrte Berek im
Moment der Gründung des Herzogtums Warschau in seine
Heimat zurück und bekam den Posten eines Eskadronchefs
in der regulären polnischen Armee. Der Traum des alten Kämp-
fers war nicht in Erfüllung gegangen, umsonst hatte sein
„jüdisches Regiment" die Schanzen von Praga im Jahre 1794
mit seinen Leichen bedeckt: auch nach zwölf Jahren mußten
die Brüder der für das Vaterland Gefallenen um Bürgerrechte
betteln. Berek hatte aber seinen ersten Aufruf vergessen; er
war schon ganz Berufssoldat geworden. Rein polnischer Patrio-
tismus und persönlicher Mut bewegten ihn zu der letzten krie-
gerischen Heldentat seines Lebens: als im Frühjahr 1809 der
Krieg des Herzogtums mit den Österreichern entbrannte, stürzte
Berek Joselewicz an der Spitze seiner Schwadron in den Kampf
mit feindlicher Kavallerie; nach einer Reihe von Heldentaten
fiel er am 5. Mai in der Nähe von Kozk. Die Zeitungen beklagten
den Tod des Helden. Der Vertreter der polnischen Aristokratie,
Stanislaus Potocki, widmete seinem Andenken eine Rede in der
18« 275
Versammlung des, Warschauer „Vereins der Freimde der Wissen-
schaft". „Du stürztest das I^and der Helden in Trauer," sagte
der Redner, „tapferer Oberst Berko, als dein aUzu großer Mut
dich mitten imter die Feinde warf . . . Die Heimat gedenkt noch
deiner alten Wunden und deiner Schlachten, sie denkt ewig
daran, daß du deinem Volke als erster das Beispiel angeborener
Tapferkeit gabst imd die Gestalt der Helden zum neuen lycben
erwecktest, die einst von den Töchtern Zions beweint wurden."
Der Dank des „Vaterlands" äußerte sich darin, daß der Herzog
der Witwe Bereks, der es schwer fiel, von der kargen Pension
zu leben und ihre Kinder zu erziehen, mit einem eigenen Dekret
gestattete, in den für die Juden verbotenen Straßen Warschaus
zu wohnen und dort „mit Schnaps zu handeln" . . . Andere
Privilegien konnten damals Juden selbst ausnahmsweise nicht
bekommen.
Eine Scheu vor der bürgerlichen Gleichberechtigung hätten
nicht nur die Polen, sondern auch die finsteren jüdischen Massen,
die ganz im Banne des Chassidismtis und des Kultes der Zaddi-
kim standen. Die unterdrückte, darbende Masse wollte natürlich
von allen rechtlichen Beschränkungen, die ihnen das Leben ver-
gällten, befreit werden, aber von der „bürgerlichen Emanzi-
pation" erwarteten sie alle Schrecken: den Zusammensturz der
alten religiösen Ordnung, den Untergang der autonomen Ge-
meinde und Schule, die Ausbreitung des Unglaubens und die
erzwungene oder freiwillige Polonisierung. Die Beispiele des
Westens und die Projekte der polnischen „Reformatoren"
konnten, die jüdische Orthodoxie in diesem Glauben nur be-
stärken. Die größte Angst machte der patriarchalischen Masse
die ihr ungewohnte Militärpflicht, zu der sie die Regierung des
Herzogtums Wärschau herangezogen hatte, zu einer Zeit, als
man die Soldaten zum größeren Ruhme Napoleons zur Schlacht-
bank führte. Die Zaddikim (Israel Kosenitzer, Jaakow-Jazchk
I/Ubliner u. a.) und die einflußreichen Chassidim entwickelten
eine mächtige Agitation im ganzen I^ande zur Abwendung des
doppelten Unglücks (geseira) — der Gleichberechtigung imd der
Militärpflicht, die den Untergang der Religion und des Volks-
tums verhießen. Zum Kxiegsminister Josef Poniatowski und den
anderen Mitgliedern der Regierung pUgerten chassidische Depu-
tajüonen, die um Beibehaltung der altpolnischen Judenordnimg
276
flehten. Diese mitunter durch Versprechungen bedeutender
Geldsummen unterstützten Bitten gefielen den polnischen Mi-
nistern weit besser, als die Bemühungen der Warschauer Fort-
schrittler um die Gleichberechtigung. Die Regierung konnte jetzt
ihre üble Politik damit rechtfertigen, daß die frommen Juden
die Emanzipation gar nicht wollen. Die Regierung, die den
Wünschen der chassidischen Obskuranten schon im Jahre 1808
durch das Dekret von der Hinausschiebimg der Gleichberechti-
gung zuvorgekommen war, kam doch zur Einsicht, daß man
von Menschen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft ausge-
schlossen sind, keine Blutopfer verlangen darf, und gestattete
schließlich den Juden, sich von der persönlichen Militärpflicht
durch Zahlung einer Rekrutensteuer zu befreien. Das Dekret
vom 29. Januar 1812 legalisierte diesen Ersatz der persönlichen
Militärpflicht durch eine Steuer von etwa 700 000 polnischer
Gulden jährlich. Dies befreite die polnischen Juden vom traurigen
Lose eines Kanonenfutters in den blutigen Abenteuern Napo-
leons, gab aber den Judenfeinden einen neuen Grund, ihnen
Mangel an patriotischer Gesinntmg vorzuwerfen.
Kurz vor ihrem Sturze, während der KJriegsstürme des Jahres
1812, fand die Regienmg des Herzogtums Warschau noch Zeit,
der Judenheit einen wirtschaftlichen Schlag zu versetzen. Auf
Vorschlag des Justizministers I^ubenski erfolgte am 30. Oktober
ein herzogliches Dekret, das den Juden untersagte, nach Ablauf
einer Frist von zwei Jahien, Handel mit Schnaps zu treiben imd
das Schankgewerbe auszuüben, was vielen Tausenden von
Famüien die einzige Erwerbsquelle nahm. Die Regierung moti-
vierte diese Maßregel insgeheim mit dem damals erwarteten
Gebietszuwachs des Herzogtums und der projektierten Wieder-
herstelltmg des alten Polens, wo man die zurückkehrende jü-
dische Bevölkerung mit scharfen Repressalien empfangen mußte.
Die auf Napoleons Macht gesetzten Hoffnungen erfüllten sich
aber nicht : der Abgott wurde gestürzt; das Herzogtum Warschau,
das bleiche Gespenst eines unabhängigen Polens fiel auseinander,
und die Geschicke des I/andes gerieten wieder in die Hand der
drei Mächte, die es aufteüten, insbesondere Rußlands. Die Mü-
lionen Juden von Russisch-Polen wußten aber schon, was sie
von den neuen Herren zu erwarten hatten . . .
277
Sechstes Kapitel
Das neue jüdische Zentrum in Rußland
§ 45. Die Legalisierung des „Ansiedlungsgebiets'^ (die letzten
Regierungsjahre Katharinas II.). Als Rußland große Portionen
des polnischen Territoriums mit dessen jüdischer Bevölkerung
verschlungen hatte, begann es in seiner inneren Politik das
Anwachsen eines neuen Ingrediens — der Judenfrage — zu
spüren. Die I/)sung dieser Frage konnte unter den damaligen
Verhältnissen nicht den geraden Weg der Gleichheit vor dem
Gesetze gehen, sondern mußte die verschlungenen Pfade einer
Sondergesetzgebung einschlagen. Anders war es auch in diesem
Lande mit den eng abgegrenzten Ständen und einer Staats-
ordnimg, deren Fundament die leibeigene Bauernschaft büdete
und die von einer sich auf den Adel stützenden Autokratie
gekrönt war, gar nicht denkbar. Die liberalen Strömungen waren
hier nur das Resultat zufälliger politischer Einflüsse des Westens
und stellten eine viel zu schwache Ventüation für die schwüle
russische Atmosphäre dar. Als aber vom Westen ein scharfer
Wind kam — der Sturmwind der französischen Revolution — ,
beeilte man sich in Rußland, alle I/5cher und Ritzen zu ver-
stopfen, um sich vor der politischen Pest zu schützen. Die in
ihren Anfängen liberale Regierung Katharinas II. war in ihren
letzten Jahren (1789 — 1796) höchst reaktionär. In diesen Jahren
der Reaktion vollzog sich die Krise in der jüdischen Geschichte :
die zweite und die dritte Teilung Polens brachten unter die
Gewalt der russischen Regienmg die neuen, dicht von Juden
bevölkerten Gebiete von Wolhynien, Podolien und Litauen, die
mit dem schon früher annektierten Weißrußland das riesige
westrussische Randgebiet büdeten. Während dieses Gebiet
immer größer wurde, klärte sich auch das Verhältnis der russi-
schen Regierung zu der jüdischen Bevölkerung. Das ursprüng-
liche Schwanken Katharinas II. in der jüdischen Frage machte
278
einer sehr bestimmten Tendenz Platz : der Tendenz, die jüdischen
Massen an das annektierte I^andgebiet zu binden, ihnen den
Zutritt in das Innere des Reiches zu verwehren, den Wirkungs-
kreis ihrer wirtschaftlichen Betätigung selbst im westlichen
Gebiete zu beschränken und sie aus dem Kaufmanns- und Ellein-
bürgerstande in eine eigene, doppelt belastete Steuerzahlergruppe
hinauszudrängen. Die Sondergesetzgebung für die Juden wurde
zu einem System erhoben.
Schon vor der zweiten Teilung Polens hatte die russische Re-
gierung, in Erwartung des Zuflusses neuer jüdischer Massen,
ein verhängnisvolles Geschenk für sie vorbereitet: das Gesetz
von der „Ansiedlungszone", durch das im I^ande der bäuerlichen
Leibeigenschaft eine eigene Klasse an den Boden gebundener
Städter geschaffen wurde. Der Anstoß zu dieser Maßregel kam
übrigens nicht von oben, sondern von unten, aus den KJreisen
der einflußreichen christlichen Kaufleute, die vor der freien
Konkurrenz Angst bekamen und um Schutz flehten. Die jüdischen
Kaufleute der beiden weißrussischen Gouvernements — Mohi-
lew und Polozk (Witebsk) — , die an die großrussischen Gou-
vernements Smolensk imd Moskau grenzten, kamen hin und
wieder nach Smolensk und Moskau, um ausländische Manu-
fakturwaren en gros und en detail abzusetzen. Dieses Geschäft
entwickelte sich gut, da die jüdischen Kaufleute gute Ware zu
billigen Preisen verkauften. Dies versetzte die Moskauer Kauf-
leute in Unruhe, und sie beschwerten sich im Februar 1790 beim
Moskauer Höchstkommandierenden über die Juden, die „mit
ausländischen Waren zu herabgesetzten Preisen Handel treiben,
womit sie dem einheimischen Handel empfindlichen Schaden
zufügen". Die Petenten beriefen sich auf die glorreiche Tradition
des Moskauer Staates, der seine Grenzen für die Juden ver-
schlossen hielt, und bemühten sich, die Obrigkeit zu überzeugen,
daß die jüdische Konkurrenz den einheimischen Handel zer-
rütten und die russischen Kaufleule ruinieren würde. Diese
nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Interessen
der durch das Monopol der einheimischen Kaufmannschaft aus-
gebeuteten russischen Konsumenten gerichtete Beschwerde fand
in den Regierungskreisen Gehör. Und als im Herbst des gleichen
Jahres im Reichsrate über das Gegengesuch der Juden um die
Erlaubnis, sich in die Moskauer und Smolensker Kaufmannschaft
279
einzuschreiben, beraten wurde, kam man zum Beschluß, daß
man den Juden das Recht des freien Handels in den inneren
Gouvernements nicht gewähren dürfe, „weil davon keinerlei
Nutzen zu erwarten sei". Nach einem Jahre wurde dieser Be-
schluß durch einen Ukas Katharinas II. (23. Dezember 1791)
bestätigt, welcher lautete: ,, Juden sind nicht berechtigt, in die
Kaufmannschaft der inneren russischen Städte und der Hafen-
städte einzutreten; es ist ihnen nur erlaubt, die Rechte von
Bürgern tuid Kleinbürgern in Weißrußland zu genießen." Um
diese harte Maßnahme etwas zu mildern, fand es der Ukas ,,für
angemessen, dieses Bürgerrecht auch auf die Statthalterschaft
Jekaterinoslaw und auf das Taurische Gebiet auszudehnen",
d. h. auf das soeben einverleibte Neurußland, wohin die Regie-
rung damals mit großem Eifer Menschen zusammentrieb, um
die weiten leeren Steppen zu bevölkern.
So vollzog sich die erste Befestigung der Juden an die Scholle
in Weißrußland. Nach weiteren zwei Jahren kamen zu dem
nordwestlichen Ghetto durch die zweite Teilung Polens das
benachbarte Minsker Gouvernement tmd das südwestliche Ge-
biet — Wothynien mit einem großen Teüe des Kiewer Landes
und Podolien hinzu. Der Ukas vom 23. Juni 1794 legalisierte
die nun erweiterte Ansiedlungszone für die Juden. Es wurde
ihnen gestattet, „kaufmännische und kleinbürgerliche Gewerbe
in den folgenden Gouvernements auszuüben: Minsk, Isjaslaw
(später Wolhjmien genannt), Bratzlaw (Podolien), Polozk
(Witebsk), Mohüew, Kiew, Tschernigow, Nowgorod-Ssjewersk,
Jekaterinoslaw und Taurien". Durch diesen Ukas wurde
die Ansiedlungszone für die Juden um die längst von Polen
losgerissene (aus den Gouvernements Tschernigow, Nowgorod-
Ssjewersk — später Poltawa — und einen Teil des Kiewer
Gouvernements bestehende) russische Ukraine vergrößert, aus
der man imter den drei Vorgängerinnen Katharinas II. die
Juden mit großem Eifer „über die Grenze" vertrieben hatte.
Der organische Zusammenhang Kleinrußlands mit der soeben
annektierten polnischen Ukraine veranlaßte die Regierung, die
alteingesessenen Bewohner dieses Landes, die Juden, in dieses
Gebiet zuzulassen, und selbst die heilige Stadt Kiew öffnete
ihnen ihre Pforten. Der Dnjepr wurde zum zentralen Fluß des
„jüdischen" Territoriums. Im Jahre 1795, nach der dritten. Tei-
280
luug Polens, kam zu dem Becken des Dnjepr auch das des
Njemens hinzu — das Litauische Gebiet (die Gouvernements
Wihia und Grodno). Damit fand die Ausgestaltmig der „Ansied-
lungszone" im ausgehenden XVIII. Jahrhundert ihren Abschluß
Das östliche Rußland wurde vor dem jüdischen Element ebenso
peinlich geschützt, wie einst in der Zeit des alten Moskauer
Staates. Die dem neuen Rußland einverleibte, mehrere Millionen
Seelen zählende jüdische Masse sah wohl kaum voraus, daß die
primitive altmoskowitische Politik der für ein ganzes Volk
verschlossenen Türe eines der heiligsten Gebote des russischen
Regimes während des ganzen XIX. Jahrhimderts bleiben und
auch in das XX. Jahrhundert hinüberspielen würde.
Mit dem gleichen Ukas vom Jahre 1794, der um die Ansied-
lungszone für die Juden eine chinesische Mauer errichtete, wurde
noch ein anderes grundlegendes Sondeigesetz eingeführt, und
zwar in bezug auf die Steuern. Die Juden, die in den Klein-
bürger- und Kaufmannsstand der Städte eintreten wollten,
mußten doppelt so viel Steuern entrichten, „als die für die
Kleinbürger und Kaufleute christlicher Konfession festgesetzten" ;
diejenigen aber, die unter diesen Bedingungen nicht bleiben
wollten, mußten das Russische Reich verlassen, zuvor aber als
Geldbuße die doppelte Steuer für drei Jahre bezahlen. Die Juden
mußten also für das Recht, in ihren alten Wohnsitzen zu bleiben,
ohne Freizügigkeit zu genießen, dem Staate .doppelt so viel
Steuern bezahlen wie die Städter christlicher Konfession, die
über Freizügigkeit verfügten. Diese Steuerstrafe befreite die
Juden nicht von der Bezahlung einer eigenen „Rekrutensteuer",
die für sie wie für die russische Kaufmannschaft an Stelle der
persönlichen Militärpflicht festgesetzt war (Ukase von 1794 und
1796). Von der doppelten Besteuerung waren die Karäer im
Taurischen Gouvernement befreit, für die sich der Generalgouver-
neur des Neurussischen Gebiets, Subow, verwendet hatte. Den
Karäem war auch Landerwerb gestattet; sie wurden überhaupt
der christlichen Bevölkerung gleichgestellt, „doch mit der Ver-
warnung, daß die Karäer in ihre Gemeinden keine Juden auf-
nehmen, die unter der Benennung Rabbinen (Rabbinisten)
bekannt sind, für die wir eigene, genau zu befolgende Gesetze
erlassen haben" (Ukas vom 8. Juni 1795). Darin tritt das
national-religiöse Motiv der beschränkenden Gesetzgebung für
281
die Juden ganz offen zutage: die seit Jahrhunderten vom jüdi-
schen Volke und seinem geistigen Besitze losgerissenen wenigen
Karäer waren als Staatsbürger viel lieber gesehen als die echten
Juden, die mittels Repressalien gebändigt werden mußten.
Eine entschiedene Neigung zu Repressalien zeigte sich im
Ukas von 1795, welcher anordnete: alle in den Dörfern wohnen-
den Juden zu Stadtbewohnern umzuschreiben, una „sich zu
bemühen, sie in den Kreisstädten anzusiedeln, damit diese
Menschen sich nicht zum Schaden der Allgemeinheit herum-
treiben, sondern durch Ausübung des Handels und Hebung von
Handwerk und Gewerbe wie sich selbst so auch der Gesellschaft
nützen". Dadurch wurde die schon längst praktizierte Willkür
der lokalen Behörden legalisiert, die die Juden aus den Dörfern
in die Städte auswiesen mit der Begründimg, daß die Juden
nur den städtischen Ständen angehören können. Die aus den
Dörfern ausgewiesenen und ihres ganzen Erwerbs beraubten
Familien waren natürlich nicht imstande, auf den bloßen Befehl
der Behörden hin, „Handel auszuüben und Handwerk und Ge-
werbe zu heben", zumal auch die in den Städten schon vorhan-
denen Händler und Handwerker kaum ihren Lebensunterhalt
verdienten, imd gingen wirtschaftlich zugrunde. Das System der
behördlichen Bevormundung konnte die wirtschaftliche Be-
tätigimg der Juden nicht fördern, sondern nur unterbinden.
Es war das österreichische System Josefs II. (§§ 5 und 38), dem
die Kaiserin offensichtlich nacheiferte.
Es fehlte nicht an Versuchen, diese Bevormundung auch auf
die gemeindliche Selbstverwaltung auszudehnen. Im Jahre 1795
wurde ein älterer Erlaß wiederholt, durch den, angesichts des
den Juden gewährten Rechtes, an der städtischen Selbstver-
waltung (den Magistraten und Munizipalitäten) teilzunehmen,
den Gouvernements- und Kreiskahals alle öffentlich-gerichtlichen
Funktionen genommen wurden: „sie dürfen sich mit keinen
anderen Sachen befassen als mit religiösen Gebräuchen und
Fragen des Gottesdienstes". In Wirklichkeit war aber die aktive
Beteüigung der Juden an den Stadtverwaltungen, angesichts
der feindseligen Haltung der christlichen Bevölkerung ihnen
gegenüber, recht unt)edeutend. Die Kahals jedoch, denen die
Regierung steueramtliche Funktionen auferlegt hatte, blieben
im fiskalischen Interesse erhalten und fuhren fort, als Organe
282
der wenn auch zugestutzten und desorganisierten jüdischen
Gemeindeautonomie zu dienen (vgl. § 51).
So wurde in den letzten Regierungs jähren Katharinas II. ein
fester Grund zu der Sondergesetzgebung für die Juden gelegt:
zwischen dem westlichen tind östlichen Rußland wurde die
„Moskauer Mauer" errichtet; innerhalb des abgeschlossenen
Streifens machte sich aber die Tendenz bemerkbar, einen noch
schmäleren Streifen zu bilden und die jüdischen Massen aus den
Dörfern zu vertreiben und in den Städten und Marktflecken
zusammenzupferchen. Die Verkörperung dieser Tendenz in
einem Gesetz war erst den Nachfolgern Katharinas II. be-
schieden.
Der Historiker darf übrigens die einzige „Reform" dieses
Zeitalters nicht verschweigen: in den legislativen Akten des
letzten Jahrzehnts der Regierimg Katharinas II. wurde die bis
dahin gebräuchliche verächtliche Bezeichnung „Shid" durch
das Wort „Jewrej" ersetzt^). Die russische Regierung ging aber
über diese Wortreform nicht hinaus.
§ 46. Projekte einer Reglementierung des inneren jüdischen
Lebens (Regierung Pauls I.). Das System der strengen Be-
vormundung wurde auch während der kurzen Regierungszeit
Pauls I. fortgesetzt (1796 — 1801). Dem Streifen der jüdischen
Ansiedltmgszone wurde ein neues Randgouvernement — Kur-
land — angegliedert. In dem im Jahre 1795 an Rußland
angeschlossenen Herzogtum Kurland lebten einige tausend
Juden, die nach deutschem Muster als Ausländer „toleriert"
wurden und nur zum Teil eine Gemeindeorganisation erreicht
hatten. Man stand vor der Frage : wie soll man die Staatssteuem
von den Hausierern eintreiben, die den größten Teü der jüdischen
Bevölkerung Kurlands bDden und weder zu den Stadt- noch zu
den Dorfgemeinden gehören? Diese Frage wurde im Jahre 1799
durch die russische Regierung in folgender Weise gelöst: die
kurländischen Juden sind ihren Stammesgenossen in den anderen
westlichen Gouvernements gleichzustellen; es ist ümen das
Recht zu gewähren, dem Kaufmanns- und Kleinbürgerstahde
^) Das Wort „Shid", das in der ungarischen und polnischen Sprache die
einzige offizielle Bezeichnung für „Jude" ist, hat in der russischen Sprache
einen ausgesprochen beleidigenden Sinn (wie etwa „Saujude"); die korrekte
russische Bezeichnung lautet: „Jewrej" (Hebräer). Anm. d. Ü.
283
beizutreten und Gemeinden zu gründen. Die Interessen des
Fiskus gaben diesmal den Anstoß zur Organisienmg jüdischer
Gemeinden im Lande der deutschen Barone.
Die in den westlichen Gouvernements zusammengepferchte
jüdisdie Bevölkerung durfte auf Freizügigkeit wenigstens in den
Städten dieses Gebietes rechnen. Von diesem elementaren Rechte
machten viele Juden im verarmten Weißrußland Gebrauch und
wanderten in die reicheren und weniger von Juden bevölkerten
kleinrussischen Gouvernements aus, besonders in das Nowgorod-
Ssjewersker (später Poltawer genannt). Die Regiertmg wurde
auf diese innere Wanderung aufmerksam tmd machte auch sie
zum Gegenstand strenger Bevormundung: den Kaufleuten war
die Übersiedlung aus Weißrußland nach Kleuirußland ohne wei-
teres gestattet; den Kleinbürgern aber nur bei Beobachtimg eige-
ner Vorschriften und mit besonderer Erlaubnis (Dezember 1796).
Die Regierungszeit Pauls I., die an gesetzgeberischer Tätigkeit
wenig Bemerkenswertes bot, war an Vorarbeiten zu neuen Ge-
setzen ungemein reich: in dieser Zeit entstanden auch eine Menge
Projekte zur Reglementierung des inneren Lebens der Juden
auf Grund offizieller „Untersuchimgen". In den letzten Jahren
des XVni. Jahrhunderts entfalteten die Regierungskanzleien
eine fieberhafte Tätigkeit auf diesem Gebiete: die Regierung
wollte sich über den Zustand der soeben erworbenen polnischen
Provinzen tmd speziell über die Lage der jüdischen Bevölkerung
informieren. Das Studium begann mit einer Umfrage beim Adel
und den höheren Behörden der betreffenden Gebiete. Im Jahre
1797 war dies durch den Bericht über eine Hungersnot im
Minsker Gouvernement veranlaßt worden. Der Minsker
Gouverneur, Karnejew, bekam aus Petersburg den Befehl, nach
Anhörung der Ansichten der lokalen Adelsmarschälle, „ein
Gutachten über die Ursachen der Armut der Bauern" tmd ein
Projekt zur Besserung ihrer Lage zu verfassen und nach Peters-
burg zu schicken. Der weise Entschluß, die adligen Gutsbsitzer
nach den Ursachen der Verarmung ihrer leibeigenen Sklaven,
der Bauern, zu befragen, führte zu entsprechenden Resultaten.
Die polnischen Magnaten und Adelsmarschälle, die sich in
Minsk versammelten, machten für die Verarmung ihrer leib-
eigenen natürlich nicht sich selbst verantwortlich, sondern
schoben die Schuld einerseits auf die äußeren Umstände („Um-
284
wälzungen und Revolution im Lande", Mißernte, den schlediten
Zustand der Straßen usw.) und andererseits auf die Juden, „die
von den Besitzern der Dörfer als Pächter der Branntwein-
schenken auf dem Lande zurückgehalten werden, während die
Obrigkeit ihnen nur die Städte zum Wohnen angewiesen hat".
Die sich in den Dörfern aufhaltenden jüdischen Schankwirte „ver-
leiten", nach Ansicht der Adelsmarschälle, „die Bauern zur Trunk-
sucht, indem sie ihnen Schnaps auf Kredit geben, und machen sie
unfähig zum Wirtschaften". Zur Errettimg der Bauern sei es
notwendig, wiederholt zu bestätigen, daß „das Schnapsbrennen
nur den Gutsbesitzern allein gestattet und allen Juden und
sonstigen Schankwirten und Pächtern verboten sei" und daß
in den Dorf schenken „ausschließlich der von den Gutsbesitzern
hergestellte Branntwein verkauft werden dürfe". Mit anderen
Worten: der Bauernstand wird aufblühen und „fähig zum
Wirtschaften" werden, wenn er statt des jüdischen Schnapses
Gutsbesitzerschnaps trinken wird ... Es bedarf keines tiefen
staatsmännischen Geistes, um den tieferen Grund des „Gut-
achtens" des Adels zu erkennen, der um die Erhaltung seines
Branntweinmonopols (des polnischen Rechtes der „Propination")
besorgt war; dieses Gutachten wurde nichtsdestoweniger vom
Minsker Gouverneur dem Zaren imterbreitet, welcher folgende
Resolution faßte: ,,Es sind dem Gutachten der Adelsmarschälle
entsprechende Maßregeln zur Beschränkung der Rechte der
Juden, die die Bauern ruinieren, zu ergreifen" (28. Juli 1797).
Der Senat brachte zu gleicher Zeit dem Gouverneur den Ukas
Katharinas in Erinnerung, die Juden in den Kreisstädten anzu-
siedeln, „damit diese Menschen sich nicht zum Schaden der
Gesellschaft herumtreiben". Dies war ein Freibrief zur Vertrei-
bung der Juden aus den Dörfern.
Im Jahre 1798 kam nun der Adel von Wolhynien und
Podolien an die Reihe: auch er wurde nach seinen Wünschen
zum Wohle des Vaterlands befragt. Die Adelsrnarschälle von
Podolien stellten bei ihrer Zusammenkunft zu Kamenetz einen
viel weitergehenden Reformplan auf, als ihre Minsker Genossen.
Indem der Adel dem Zaren seinen Dank „für die Allerhöchste
Gnade, daß man ihm das Recht der Propination beläßt", aus-
spricht, ersucht er um Erlassung eines Verbots, „die Schnaps-
brennerei und das Recht der Propination in den Marktflecken
285
und Dörfern nicht nur an Juden, sondern auch an Christen zu
vergeben"; dem Adel soll aber die „Freiheit" belassen werden,
die Schenken durch eigene Leute zu bewirtschaften. Nachdem
sie sich das Monopol, das Volk durch Vermittlung eigener
Schankwirte mit Schnaps zu vergiften, gesichert hatten, machten
die adligen Gutsbesitzer den Vorschlag, die Mehrzahl der Juden
zu Kommissionären für den Export der ländlichen, d. h. der von
den Gutsbesitzern erzeugten Produkte ins Ausland zu machen,
„was den Ackerbauern (?) und dem Adel einen kommerziellen
Gewinn einbringen wird", die übrigen Juden aber teils „in den
Schenken der Gutsbesitzer zu belassen" und teüs „zu Ackerbau
und Handwerk zu zwingen". Diese glänzende Perspektive —
die Verwandlung der Juden in Angestellte des Adels zum Ex-
port der ländlichen Produkte und zum Verkauf des von den
Gutsbesitzern erzeugten Schnapses, erschien wohl auch den
Juden selbst wenig verlockend. Durch die Pläne des Adels
beunruhigt, hielten auch sie eine Versammlung ab (in Ostrog,
Sommer 1798) und faßten den Beschluß: Gelder zu sammeln
imd eine Deputation nach Petersburg zum Zaren zu entsenden
zwecks Darlegung der Bedürfnisse und Wünsche der Juden des
südwestlichen Gebiets, die man zu befragen vergessen hatte,
wie sie sich ihre Zukunft selbst denken. Aber der Generalgouver-
neur des südwestlichen Gebiets, Graf Gudo witsch „erfuhr auf
geheime Weise" von den Vorbereitungen der Juden. Der weit-
sichtige Politiker fürchtete, „daß die Geldsammlung zu irgend-
einem verbrecherischen Anschlage bestimmt sei"; darum kon-
fiszierte er das bereits gesammelte Geld, untersagte weitere
Sammlungen und berichtete von seiner Heldentat nach Peters-
burg. Zu seinem Erstaunen bekam der übereifrige Generalgou-
vemeur die Antwort, daß der Zar im Verlangen der Juden,
eine Deputation zu ihm zu entsenden, nichts Verbrecherisches
erblicke und befehle, die konfiszierten Gelder den Juden zurück-
zugeben und die Entsendung der Deputation zu gestatten
(September 1798). Ob die Deputation nach Petersburg kam
und was für ein Resultat diese Reise hatte, ist unbekannt; aber
die Tatsache allein zeigt, daß selbst in diesem finsteren Zeit-
alter, in der finsteren chassidischen Masse von Wolhynien imd
Podolien das Gefühl für die sich vollziehende politische und
soziale Krise nicht ganz erloschen war.
286
Als letzter reagierte auf die Umfrage der Regierung der Adel
von Litauen. Die Adelsmarschälle der neunzehn litauischen
Kreise imter breiteten im Jahre 1800 dem Wilnaer Gouverneur
Friesel ihr „Gutachten", das in der Beratung mit allen gegen
drei Stimmen angenommen worden war. Drei Adelsmarschälle
hatten vorgeschlagen, die Juden in ihrem bisherigen Zustande
wie unter dem polnischen Regime zu belassen; die übrigen
hatten aber den Plan zu einer „Reform" ausgearbeitet, der noch
viel radikaler war, als die Pläne des Minsker und des Podolischen
Adels. Man müsse den Juden nicht nur die Schnapsbrennerei
und das Halten eigener Schenken verbieten, sondern auch den
Schnapsausschank in den „adligen Schenken"; die jüdische
ländliche Bevölkerung, die auf diese Weise um ihre Erwerbs-
quellen kommen würde, sei teüs in den Städten, teils „in den
der Krone und den Gutsbesitzern gehörenden Dörfern anzu-
siedeln tmd soll das Recht bekommen, Ackerbau zu treiben und
Güter in Pfand und Pacht zu nehmen". Die wirtschaftliche
Reform sollte von einer inneren begleitet werden: ., Die eigene
jüdische Kleidung ist abzuschaffen und durch eine Kleidung
von gleicher Gestalt zu ersetzen, wie sie die übrigen Bewohner
tragen." Dann muß man überhaupt die Absonderung der Juden
bekämpfen, die „ein eigenes Volk darstellen und eine eigene
Verwaltung unter dem Namen von Sjmagogen und Kahals haben,
welch letztere nicht nur geistliche Gewalt ausüben, sondern sich
auch in alle zivüen, die Polizei angehenden Angelegenheiten
einmischen". Dies werde die Juden zwingen, in der übrigen
Bevölkerung aufzugehen. Der „reformatorische" Eifer des
litauischen Adels, der es für nötig hielt, im Zusammenhange
mit der Branntweinfrage auch die Frage der Gemeindeautonomie
zu lösen, beruhte auf äußerer Beeinflussung. Der Wilnaer Gou-
verneur, Friesel, ein gebüdeter Deutscher, der wohl über den
Stand der Judenfrage in Deutschland unterrichtet war, hatte
den litauischen Marschällen den Plan für die Reformen ein-
gegeben. Im April 1800 schickte qjr die Gutachten an den Senat
und fügte ihnen eine eigene umfangreiche Denkschrift bei, in
der vieles offensichtlich den Projekten des polnischen Vier-
jährigen Reichstags entlehnt war. Friesel sprach von der Not-
wendigkeit einer „allgemeinen Reform" imd berief sich sogar
auf die Beispiele des Westens; diesen Beispielen entnahm er
287
aber die allerschlimmsten Methoden des „aufgeklärten Abso-
lutismus*'". Nach seiner Ansicht „muß die Reform des jüdischen
Volkes bei der Religion beginnen": man müsse „alle Sekten und
Irrlehren ausrotten und alle Neueinführungen verbieten, mit
denen Betrüger den Pöbel zu einem noch schlimmeren Aber-
glauben verführen" (eine Anspielung auf den Chassidismus und
die Zaddikim, deren Kampf mit den Rabbinern die damalige
russische Regierung mit Interesse verfolgte) ; femer müsse man
die Juden verpflichten, ihre Kinder in den „öffentlichen Schulen"
unterrichten zu lassen, den ganzen Verkehr in polnischer Sprache
abzuwickeln, allgemeine Kleidung zu tragen und keine Ehen
vor zwanzig Jahren einzugehen; schließlich müsse man die
Juden in drei Klassen einteüen: Kaufleute, Handwerker und
Ackerbauer, und diese in die allgemeine Ständeordnung des
Reiches einreihen, um auf diese Weise die Dienste der Kahals
bei der Steuereintreibung entbehrlich zu machen, wodurch die
jüdische Autonomie ganz von selbst aufhören würde.
Alle die Gutachten des Adels und die Projekte der Gouver-
neure liefen im Frühjahr 1800 beim Senat ein, der sie als Material
zu einem neuen gesetzgeberischen Akte zu prüfen hatte. Hier
lernte sie der Senator G. R.-Derschawin, der berühmte russi-
sche Dichter kennen, dem es beschieden war, sich zu einem
„Fachmann" für die jüdische Frage heranzubilden. Im fernen
Osten Rußlands geboren, hatte Derschawin den größten Teil
seines I^bens in Petersburger Kanzleien verbracht und die
jüdische Masse zum erstenmal im weißrussischen Städtchen
Schklow zu sehen bekommen, wohin man ihn im Jahre 1799
zur Untersuchung der Afföre des verabschiedeten Generals
Soritsch kommandiert hatte. General Soritsch, ein ehemaliger
Günstling Katharinas, führte in dem ihm gehörenden Städtchen
Schklow da$ ausgelassene Leben eines echten russischen Sa-
trapen. Seine Launen bekam auch die zahlreiche jüdische Be-
völkerung des Städtchens zu spüren. Soritsch büdete sich ein,
daß die auf seinem Grund und Boden lebenden Juden die gleichen
Leibeigenen seien wie die Bauern, und behandelte sie dement-
sprechend: die einen vertrieb er aus dem Städtchen und nahm
ihnen ihre Häuser weg, die anderen prügelte er eigenhändig,
von den dritten ließ er sich Getränke liefern, ohne etwas dafür
zu zahlen. Auf die Beschwerde der Juden hin, kommandierte
288
man den Senator Derschawin nach Sdiklow, und Paul I. beauf-
tragte ihn, die Willkür des rasend gewordenen Gutsbesitzers zu
bändigen. Derschawin, der in tiefster Seele Anhänger der Leib-
eigenschaft war, zeigte große Nachsicht gegen die Exzesse
Soritschs und fand, daß die Juden selbst die Schuld hätten.
Infolge des Todes Soritschs (1800) wurde das Verfahren ein-
gestellt, der Senat kam aber zur prinzipiellen Entscheidung,
daß die Juden als Angehörige des Kaufmanns- und des Kllein-
bürgerstandes der Gewalt der Gutsbesitzer nicht imterstehen.
Ein Jahr später wurde Derschawin abermals nach Weißruß-
land kommandiert, diesmal mit sehr weitgehenden Vollmachten
ausgerüstet. In diesem Gebiete herrschte eine furchtbare Hungers-
not, die weniger auf Mißernte als auf dem empörenden Verhalten
der Gutsbesitzer beruhte: diese Herren sorgten in keiner Weise
für die Verpflegung ihrer Bauern und verwendeten Riesen-
mengen von Getreide für den Export und zur Herstellung von
Branntwein, mit dem sie ihre Bauern vergifteten. Als Kaiser
Paul Derschawin nach Weißrußland entsandte, gab er ihm die
Vollmacht, diese Mißbräuche abzustellen und die Gutsbesitzer
exemplarisch zu bestrafen, die „aus grenzenloser Habgier ihre
Bauern ohne Hufe darben lassen"; Derschawin sollte ihnen
ihre Güter wegnehmen und dem Vormundschaftsgericht in Ver-
waltung geben (16. Juni 1800). Die Zusatzinstruktion, die
Derschawin vom Generalanwalt des Senats, Oboljaninow, mit-
t)ekam, enthielt noch folgenden Punkt: „Da aber nach unseren
Informationen eine nicht unwesentliche Ursache für die Ver-
armung der weißrussischen Bauern die Juden bilden, so ist es
der Wille seiner Majestät, daß Eure Exzellenz eine besondere
Aufmerksamkeit der Tätigkeit dieser Juden zuwenden und
Ansichten über die Mittel zur Abwendimg dieses Schadens
äußern." Dieser offen judenfeindliche Nachtrag, der nicht ohne
Mitwirkung Derschawins zustande gekommen, von ihm jeden-
falls gutgeheißen worden war, hatte den Zweck, den gegen die
Gutsbesitzer gerichteten Schlag zu mildem und gegen die Juden
zu lenken.
Derschawin wurde mit seinem Auftrag in Weißrußland sehr
schnell fertig: einem polnischen Magnaten namens Oginski
nahm er das Gut weg, schloß persönlich eine jüdische Schnaps-
brennerei im Städtchen Liosna (der Residenz des berühmten
19 Dubnow, Geschichte der Juden I 28Q
Zaddiks R. Salman Schneersohn) und verftilir dabei so energisch,
daß eine Jüdin ihn wegen Mißhandlung verklagte. Nachdem
Derschawin auf diese Weise „Ordnung geschaffen" hatte, machte
er sich ans Werk, das er für seine Hauptaufgabe hielt: an die
Ausarbeitung einer umfangreichen Denkschrift über die Juden,
die folgenden charakteristischen Titel trug: „Ansicht des Sena-
tors Derschawin über die Bekämpfung des Getreidemangels in
Weißrußland mittels Einschränkung der eigennützigen Tätigkeit
der Juden, über die Reformierung dieser letzteren tmd über
andere Dinge." Schon dieser Titel allein verrät die Gnmdtendenz :
die Verantwortung für den wirtschaftlichen Verfall des Landes,
wo die Gutsbesitzer die Herren der Lage waren, auf die Juden
zu wälzen. Derschawin beschränkte sich aber nicht auf die
Kritik der wirtschaftlichen Betätigung der Juden; er wollte
auch ihr inneres Leben, ihren Glauben, Erziehung und Unter-
richt, die Gemeindeordnimg und den „sittlichen Zustand"
schildern. Dabei benutzte er sehr verschiedene Quellen. Als ier
an seiner Denkschrift im Herbst 1800 zu Witebsk arbeitete,
sammelte er Auskünfte bei den judenfeindlichen Kleinbürgern
und Kaufleuten, den „gelehrten" Lehrern des Jesuitenkollegs,
an verschiedenen Amtsstellen imd selbst bei den Kosaken.
Derschawin hatte übr^ens auch zwei Projekte ,, aufgeklärter
Juden" zur Hand. Der Verfasser eines dieser Projekte, der reiche
Kaufmann tmd ehemalige Heereslieferant bei der Potjomkin-
schen Armee, Notte Schklower, der um diese Zeit in Peters-
burg lebte imd die Stimmung der Regierungskreise kannte,
machte den Vorschlag, die Juden zur Fabrikindustrie heranzu-
ziehen, die neben Ackerbau imd Viehzucht in eigenen Kolonien
„in der Nähe der Häfen des Schwarzen Meeres" einzuführen
sei. Der andere Projektemacher, der Arzt Frank aus Kres-
lawka (Gouvernement Witebsk), offenbar ein deutscher Jude
aus dem Kreise der Anhänger Mendelssohns, empfahl der Re-
gierung durch Vermittlung Derschawins, ihre Aufmerksamkeit
einer Reformierung der jüdischen Religion zuzuwenden, „welche
in ihrer ursprünglichen Reinheit auf dem einfachen Deismus
und den Forderungen der reinen Moral beruht", aber im Laufe
der Zeit durch die „Dummheiten des Talmuds" verdorben wor-
den sei; Frank meinte, daß man auch in Rußland den von Men-
delssohn empfohlenen Weg gehen und öffentliche Schulen für
290
die Juden errichten solle, in denen die Jugend in der russischen,
deutschen und hebräischen Sprache unterrichtet werden würde;
der aufgeklärte Jude würde aber für den Staat unbedingt nütz-
lich sein. Außer diesen Projekten hatte Derschawin auch die
Muster der preußischen „Judenreglements", die obenerwähnten
Gutachten der westrussischen Adelsmarschälle imd Gouverneure
und ähnliches zur Verfügung. Auf Grund dieses Materiales ent-
schloß sich der Würdenträger, der die Juden nur einmal auf der
Durchreise in Weißrußland gesehen hatte, ein sehr detailliertes
Gutachten über die Reformierung des ganzen jüdischen I^bens
zu verfassen.
Das von Derschawin gezeichnete, überaus düstere Büd des
jüdischen lyebens zeugt von der sehr oberflächlichen Bekannt-
schaft des Dichters mit dem Gegenstand seiner Schüderung;
die Kritik der Erscheinungen ist oft von erstaunlicher Naivität:
Handel, Pacht, Schankgewerbe, Maklerei sind nur „fein erdachte
Vorwände, um unter dem Anscheine von Dienstfertigkeit und
der Sorge um den Nutzen seiner Nächsten, den Besitz der letz-
teren zu plündern"; die Schule ist „ein Herd von Aberglauben";
ein moralisches Gefühl ist bei den Juden überhaupt nicht vor-
handen: sie haben keine Ahnung von Menschenliebe, Selbst-
losigkeit und sonstigen Tugenden; sie sind nur mit dem An-
sammeln „von Schätzen zum Baue eines neuen Salomonischen
Tempels oder zu fleischlichen (?) Genüssen" beschäftigt. Nach
dieser seltsamen Charakteristik folgt das umfangreiche, aus
88 Punkten bestehende Derschawinsche Projekt zur Reformie-
rung der Juden. Man muß die Juden für „unter dem allerhöchsten
Schutze und Protektorat stehend" erklären und einen eigenen
„Protektor", einen christlichen Beamten, ernennen, der mit Hufe
eigener Gouvernementskommissionen das Reformwerk zu ver-
wirklichen hätte; alle Juden sind zu registrieren und müssen
Famüiennamen annehmen; sie sind in vier Klassen einzuteüen:
Kaufleute, städtische Bürger, ländliche Kleinbürger tmd Acker-
bauer, wobei jeder Jude verpflichtet ist, sich in eine dieser
Klassen eintragen zu lassen; diese ganze Masse ist gleichmäßig
über das ganze weißrussische Gebiet zu verteilen, der Überschuß
nach anderen Gouvernements zu verbringen. Die Kahals können
abgeschafft werden; zur Leitung der geistlichen Angelegenheiten
der Juden sind in den Gouvernements ,, Synagogen" mit Rab-
19' 291
binem und „Schulvorstehem", in Petersburg aber ein oberstes
geistliches Gericht unter dem Namen „Sendarin" zu errichten
(so schreibt Derschawin das hebräische Wort „Sanhedrin" =
Synhedrion, das er wohl nur vom Hörensagen kannte); an der
Spitze dieses Instituts soll ein Großrabbiner oder „Patriarch"
stehen. Weiter werden verschiedene Repressiv- und Zwangs-
maßregeln empfohlen. Es ist den Juden zu verbieten, ctiristliche
Dienstboten zu halten; das Recht, an den Stadtverwaltungen
mitzuwirken, ist ihnen zu nehmen; sie müssen ihre eigene Tracht
ablegen und alle Akten und Geschäftspapiere entweder russisch
oder polnisch oder deutsch schreiben; ihre Kinder dürfen die
religiösen Schulen nur bis zum Alter von zwölf Jahren besuchen
und müssen dann in allgemeine Schulen tibertreten; schließlich
muß die Regierung eine hebräische Druckerei gründen und in
dieser religiöse Werke „mit philosophischen Anmerkungen"
herstellen. Auf diese Weise würde „das widerspenstige und listige
Volk der Juden eine anständige Einrichtung bekommen", und
Kaiser Paul I. würde nach Abschluß dieser Reform für die Er-
füllung des Gebots: „Liebet eure Feinde und tut wohl denen,
die euch hassen" tinsterblichen Ruhm ernten.
So ist dieses Projekt ein Gemisch der Ansichten eines patriar-
chalischen Russen über eine ihm unbekannte Kultur mit Re-
formplänen im damaligen preußischen Kasernenstü, ein Ge-
misch klerikal-bureaukratischer Ansichten mit aufklärerischen
Strömimgen imd „phüosophischen"- Tendenzen, eines ererbten
Judenhasses mit einem intuitiven Gefühl für die historische
Tragödie des Judentums und dem Bestreben ,,sie zu nützlichen
Staatsbürgern zu machen". Alles ist vom Geiste der kanzlei-
mäßigen Bevormundung imd Reglementierung umschwebt,
vom Glauben, daß man eine uralte Kultumation nach Belieben
wie einen Haufen von Schachfiguren umstellen könne, dem
Glauben an das Heü einer mechanischen Reform, der damals,
wenn auch in einer weniger naiven Form, auch in Westeuropa
herrschte.
Das Gutachten, das Derschawin im Dezember 1800 dem Senat
übergab, sollte zugleich mit den früher eingelaufenen Gutachten
der westrussischen Adelsmarschälle und Gouverneure als Ma-
terial für einen neuen grundlegenden gesetzgeberischen Akt
betreffs der Juden dienen. Dieser kam aber unter der Regie-
292
rung Pauls I. nicht mehr zustande. Im März 1801 starb der
Zar auf tragische Weise, und die Angelegenheit der „jüdischen
Reform" trat in die neue Phase des Kampfes der liberalen
Strömungen der ersten Regierungs jähre Alexanders I. mit den
Vorurteilen der Ritter des alten Polens und des alten Rußlands.
§ 47. Das „Komitee zur Wohleinrichtung der Juden" und das
Statut von 1804. Der liberale Wind, der in den ersten Regie-
rmigs Jahren Alexanders I. wehte, brachte einen erfrischen-
den Hauch in die erstickende Atmosphäre der Petersburger
Kanzleien, wo die nichts vom jüdischen Leben wissenden Be-
amten an den verschiedenen Reformprojekten arbeiteten. Zur
Erörterung der jüdischen Frage kam es nicht so bald. In den
Jahren 1801 — 1802 war die Regierung mit dem Umbau des
ganzen Staatsmechanismus beschäftigt; es wurden die Mini-
sterien und der Reichsrat gegründet, der Senat verlor seine
bisherige „regierende" Gewalt, und das in seinen Kanzleien
aufgestapelte Material zur Judenfrage mußte einem neuen In-
stitut übergeben werden. Ein solches Institut entstand im No-
vember 1802. Auf allerhöchsten Befehl wurde das ,, Komitee
zur Wohleinrichtung der Juden" ins Leben gerufen, zu dessen
Mitgliedern folgende Personen ernannt wurden: Minister des
Inneren Kotschubej, der Justizminister und Fachmann für die
Judenfrage Derschawin, Graf W. Subow und zwei polnische
Würdenträger — der intime Freund Alexanders I. Adam
Czartoryski (Gehilfe des Ministers des Auswärtigen) tmd der
Senator Severin Potocki. Das Komitee wurde beauftragt, alle im
Derschawinschen „Gutachten" bezüglich Weißrußlands berühr-
ten Fragen zu untersuchen, um „die Wohleinrichtung der Juden
auch auf die anderen ehemals polnischen Gouvernements aus-
zudehnen".
Die Gerüchte von dem in Petersburg gegründeten eigenen
Komitee für jüdisdie Angelegenheiten, das seiner Tätigkeit das
Projekt Derschawins zugrunde legen werde, riefen unter den
Juden des nordwestlichen Gebiets, die die judenfeindlichen
Neigungen des Senators kannten, eine Panik hervor. In Minsk
fand im Dezember 1802 eine eigene Beratung statt, die zu
folgendem Beschluß kam: „Angesichts der ungünstigen Ge-
rüchte aus der Hauptstadt Petersburg, daß alle die Juden be-
treffenden Angelegenheiten einer Kommission von fünf hohen
293
Beamten übergeben werden, muß man sofort nach Petersburg
reisen und unseren Kaiser bitten, daß sie (die Beamten) keinerlei
Neueinfübrungen bei uns machen." Es wurde eine eigene Ge-
meindesteuer zur Deckung der mit der Reise der Bevollmächtig-
ten nach Petersburg verbundenen Kosten erhoben und ein für
alle Gemeindemitglieder obligatorisches dreitägiges Fasten fest-
gesetzt, während dessen in den Synagogen Bittgottesdienste um
Abwendung des drohenden Unglücks abgehalten wurden. Als
der Minister des Innern Kotschubej von dieser Erregung unter
den Juden erfuhr, schickte er an alle Gouverneure ein Rund-
schreiben (Januar 1803) mit dem Auftrag, die Gemüter zu be-
ruhigen. Es wurde ihnen vorgeschrieben, den Kahals mitzu-
teüen, daß „der Gründung des Komitees zur Behandlung ihrer
(der Juden) Angelegenheiten durchaus nicht die Absicht zu-
grunde liegt, sie irgendwie zu beschränken oder in ihren Vor-
teüen zu kürzen: es wird im Gegenteü beabsichtigt, ihnen
Sicherheit und eine bessere innere Verfassung zu gewähren".
Viel beruhigender als diese Worte hätte eine gleichzeitig er-
folgte Aktion der Regierung wirken können. Zu Beginn des
Jahres 1803 beschloß das „Jüdische Komitee", Delegierte von
allen Gouvemements-Kahals nach Petersburg zu laden, um ihre
Ansichten über die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes zu
hören, das man erst vor kurzem ungefrs^ hatte reformieren
wollen. Das war die erste Bresche in der Kanzleiroutine Peters-
burgs. In den Kahals arbeitete man nun eifrig an den Vorberei-
tungen zur Entsendung der Abgeordneten nach Petersburg; im
Winter tmd Herbst kamen in der Hauptstadt die Delegierten
der verschiedenen Gouvernements zusammen. Sie hatten die
Genugtuung, den Austritt Derschawins aus dem Jüdischen
Komitee zu erleben. Der konservative Derschawin hatte den
Justizministerposten verloren, da er in die liberale Regierung
der ersten Regierungs jähre Alexanders I. nicht hineinpaßte.
Nach seinem Rücktritt hörte sein „Gutachten" auf, dem Komitee
als obligatorischer Leitfaden zu dienen. Die aus der Provinz
gekommenen Deputierten trafen in der Hauptstadt eine kleine
Gruppe vorwiegend aus Weißrußland stammender Juden an,
die sich zeitweise in eigenen Angelegenheiten in Petersburg auf-
hielten. Diese wenigen kaum geduldeten Fremden, die kein
dauerndes Wohnrecht in Petersburg besaßen, hatten dennoch
294
das Recht errungen, hier zu sterben und ihre Toten auf einem
eigenen, 1802 eröffneten Friedhofe zu bestatten. Dieser Friedhof
war der symbolische Keim zu der jüdischen Gemeinde Peters-
burgs, und unter dem gleichen Symbol des Todes trafen sich
hier die Provinzdelegierten mit ihren Petersburger Stammes-
genossen bei einer eigenartigen „Feier" im Sommer 1803: auf
Initiative der Delegierten xmd in ihrer Gegenwart wurden die
sterblichen Überreste dreier Juden, die auf einem christlichen
Friedhofe beerdigt waren, auf den neuen jüdischen Friedhof
verbracht.
Unter den Petersburger Juden gab es einige, die infolge ihrer
Verbindungen mit hohen Würdenträgem imd ihrer Bekannt-
schaft mit dem Kanzleibetrieb den Delegierten aus der Provinz
sehr wesentliche Dienste leisten konnten. Einer von ihnen, der-
selbe Kaufmann Notte Schklower (der jetzt Notkin hieß), der
im Jahre 1800 Derschawin sein Reformprojekt überreicht hatte,
spielte anscheinend die Rolle des offiziellen Leiters der Depu-
tation, da er schon vorher zur Teilnahme an den Arbeiten des
Jüdischen Komitees herangezogen worden war. Notkin fuhr
fort, sein Projekt der Förderung der Landwirtschaft und der
Industrie unter den Juden zu verteidigen, erlebte aber den
Kanzleitriumph seiner Idee nicht mehr: er starb am Vorabend
der Veröffentlichung eines Gesetzes, in dem seine Idee zum Teil
Anerkennung fand. Ein anderer Petersburger Jude, der reiche
Elronlieferant und Kommerzienrat Abraham Perez nahm an
den jüdischen Angelegenheiten keinen unmittelbaren Anteil,
konnte aber auch seinerseits den Delegierten gewisse Dienste
leisten, da er geschäftliche Verbindungen in den Beamtenkreisen
hatte.
Das „Komitee zur Wohleinrichtung der Juden" imtersuchte
inzwischen die bei ihm eingelaufenen Projekte, arbeitete einen
allgemeinen Reformplan aus und teilte diesen den jüdischen
Delegierten mit. Nach langem Schwanken gaben die Delegierten
die Erklärung ab, daß sie ohne eine Beratung mit den Kahals,
von denen sie gewählt worden waren, sich zu dem Plan nicht
äußern könnten, und ersuchten um eine Frist von sechs Monaten
„zur Beratung". Das Komitee ging aber auf einen so langen
Aufschub nicht ein und entschloß sich, die Hauptpunkte seines
Projektes den Kahals durch Vermittlung der Gouverneure mit-
295
zuteilen; die Kahals „durften an den Artikeln nichts streichen",
sondern nur ihre Ansichten über die Methoden zur Verwirk-
lichimg der geplanten Reformen mitteilen. Aber auch diese
schriftliche Umfrage hatte nicht die „erwünschte Wirkung".
Die schon von vorneherein in der freien Meinungsäußening
beschränkten Kahals, die nicht einmal das Recht hatten, sich
über das Projekt als solches zu äußern, druckten in ihren Ant-
worten nur den Wunsch aus, daß man die ,,Korrektionsmaß-
regehi" auf zwanzig Jahre verschieben möchte; insbesondere
das beabsichtigte Verbot des Schankgewerbes und der lyand-
pacht, welches das ganze Wirtschaftsleben der Juden zerrütten
würde. Das Komitee schenkte dem Gesuche der Kahals, das eine
indirekte Verurteüung der Grundprinzipien des Projektes ent-
hielt, keine Beachtung und setzte seine Arbeit in bisheriger
Richtung fort.
Volle Einmütigkeit herrschte aber auch im Komitee selbst
nicht. Es kämpften hier anscheinend zwei Richtungen: die
utüitaristische gegen die humanistische, die Anhänger der
„Korrektionsmaßregeln" imd der Zwangsreform gegen die Ver-
fechter der absoluten Gleichberechtigung. Ein Vertreter der
letzteren war Speranskij, der hervorragende Staatsmann,
der Rußland schon im Anfang des XIX. Jahrhimderts in einen
Rechtsstaat hätte ximwandeln können, wenn er nicht den fatalen
Bedingungen der russischen Wirklichkeit zum Opfer gefallen
wäre. Um jene Zeit diente er am Ministerium des Inneren unter
Minister Kotschubej und verfaßte Reformprojekte für die
verschiedenen Zweige der Staatsverwaltung. Speranskij nahm
auch an der Tätigkeit des „Komitees für die Wohleinrichtung
der Juden" lebhaften Anteü, Im Journal des Komitees vom
20. September 1803 ist folgende bedeutungsvolle Außetung
Speranskijs erhalten geblieben: „Reformen, die durch die Re-
gierungsgewalt eingeführt werden, sind im allgemeinen nicht
dauerhaft und insbesondere in solchen Fällen unsicher, wo diese
Gewalt mit jahrhundertalten Gewohnheiten zu kämpfen hat.
Es ist daher am besten und sichersten, die Juden der Vollkommen-
heit entgegenzuführen, indem man sich darauf beschränkt,
ihnen die Wege zu ihren eigenen Vorteilen zu öffaien, ihre Be-
wegungen aus der Feme zu überwachen und alles fernzuhalten,
was sie von diesem Wege abbringen könnte, ohne irgendwelche
296
Gewalt anzuwenden, ohne eigene Ressorts dajfür zu gründen,
und anstatt für sie zu wirken, ihre eigene Wirksamkeit zu be-
günstigen. So wen^ als möglich Verbote, so viel als möglich
Freiheiten — das sind die einfachsten Elemente für jede gesell-
schaftliche Einrichtung." Das war das erste vernünftige Wort,
das man von der Petersburger Bureaukratie zu hören bekam,
seitdem sich die Regierung an die Beratung der Judenfrage
gemacht hatte. Es bedeutete die entschiedene Verurteilung jenes
Systems der staatlichen Bevormundung und der „Korrektions-
maßregeln", durch die man damals imd auch später ein ganzes
Volk „reformieren" zu können glaubte. Darin war zum erstenmal
das leuchtende Prinzip des Humanismus ausgesprochen worden:
öffnet den Juden freie Entwicklungswege, gebt ihnen Raum zu
selbständiger Betätigung, und sie werden schließlich einen Weg
wählen, der zur ,, Vollkommenheit" oder zum Fortschritt führt . . .
Auf dieser Höhe des politischen Denkens konnten sich die Staats-
männer selbst des damaligen liberalen Petersburgs nicht halten.
Die Idee Speranskijs war eine für das rauhe russische Klima
selbst in der Zeit des Frühlings viel zu zarte Blüte, die verwelken
miißte.
Im Komitee siegte die patentierte Staatsweisheit jener Zeit —
das System der Bevormundung und der Zwangsreformen. Im
Bericht, den das „Jüdische Komitee" im Oktober 1804 dem
Kaiser Alexander I. unterbreitete, war keine Spur von jenen
freigeistigen Stimmungen mehr enthalten, die vor einem Jahre
im Komiteejoumal zum Durchbruch gekommen waren. Der
Bericht berechnet die Zahl der steuerzahlenden jüdischen Be-
völkenmg auf 174 385 männlicher und weiblicher Seelen: ,, diese
Ziffer entspricht aber nicht einmal einem Fünftel ihrer wirk-
lichen Anzahl"; die Zahl aller Juden belief sich also nach An-
sicht des Komitees auf etwa eine Million; des ferneren war
darin gesagt, daß diese ganze Masse nur in den neu erworbenen
polnisch-litauischen Gouvernements, in Kleinrußland und Kur-
land wohne, aber in die inneren Gouvernements nicht zugelassen
werde (es folgt der historische Hinweis, daß Juden sich in
Rußland niemals niederlassen durften); daß die Juden doppelte
Steuern zu zahlen haben, den allgemeinen Gerichten und den
Stadtverwaltungen imterstehen, während ihre Kahals von der
Gouvemementspolizei beaufsichtigt werden; daß sie nichtsdesto-
297
weniger sich von den allgemeinen Institutionen fernhalten und
alle ihre Angelegenheiten in den Kahals erledigen; zuletzt wurde
darauf hingewiesen, daß das unter den Juden verbreitete Schank-
gewerbe eine Quelle vieler Miß brauche sei und Beschwerden
seitens der übrigen Bevölkerung hervorrufe. Auf allen diesen
Tatsachen basierend, arbeitete das Komitee den Entwurf zu
einem Reglement aus, der in seinen wesentlichen Zügen in das
bald darauf veröffentHchte und vom Zaren am 9. Dezember
1804 bestätigte „Statut von der Verfassung der Juden** auf-
genommen wurde.
Diese Akte — ein Gemenge von „Freiheiten" und Beschrän-
kungen — war, wie es in der Einleitung hieß, „von der Sorge
um das wahre Wohl der Juden imd um die Vorteüe der ein-
gesessenen Bevölkerung jener Gouvernements, wo den Juden
das Wohnen erlaubt ist", diktiert worden. Der zweite Teü dieses
Satzes enthält bereits eine I/isung der Frage von der Ansied-
lungszone für die Juden: diese Zone bUeb auf das gleiche Terri-
torium beschränkt und bestand aus dreizehn Gouvernements:
den zwei Litauischen, zwei Weißrussischen, zwei Kleinrussischen,
dem Minsker, Wolhyner, Kiewer und Podolischen und schließ-
lich den drei Neurussischen. Eine gewisse Erweiterung dieser
Zone war durch das neue „Statut" nur für die zukünftige
Klasse der jüdischen Ackerbauer vorgesehen worden, denen das
Wohnrecht in zwei weiteren Gouvernements gestattet werden
sollte: im Astrachaner und im Kaukasischen. Auf wirtschaft-
lichem Gebiete stellte das neue Gesetz zwei Pole fest: den
negativen — das ländliche Schank- und Pachtgewerbe, das
erbarmungslos ausgerottet werden sollte, und einen positiven —
den Ackerbau, der unter den Juden auf jede Weise zu begünstigen
und zu verbreiten sei. Gegen das Schankgewerbe und überhaupt
gegen jede Handelstätigkeit auf dem Lande war der härteste
Paragraph (§ 34) des Gesetzes von 1804 gerichtet, welcher
lautete: ,,Kein Jude darf in den Gouvernements Astrachan,
Kaukasus, Kleinrußland und Neurußland vom i. Januar 1807
an, in den übrigen Gouvernements aber vom i. Januar 1808
an in den Dörfern irgendeine Pacht, Schenke, Herbei^e und
Wirtshaus, weder unter seinem eigenen noch unter fremdem
Namen innehaben oder betreiben, und überhaupt in irgendeiner
Form wohnen, höchstens auf der Durchreise." Dieser Paragraph
298
merzte aus dem Ejreise der wirtschaftlichen Betätigung der
Juden einen Beruf gänzlich aus, der zwar nicht besonders ehren-
voll war, aber fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Ruß-
lands ernährte. Zugleich wurde das auch ohnehin enge Ansied-
lungsgebiet für die Juden durch die Ausschließung der Dörfer
noch mehr eingeengt.
Diese wirtschaftliche und rechtliche Benachteiligung sollte
durch die Vorrechte kompensiert werden, die das „Statut" von
1804 solchen Juden versprach, die sich dem Ackerbau widmen
wollten: sie erhielten das Recht, unbewohnte I^ändereien in den
westlichen und zwei östlichen Gouvernements zu kaufen oder
sich axif den der Krone gehörenden Ländereien anzusiedeln,
wo ümen bestimmte I/andparzeUen unter Befreiung von allen
Abgaben für die ersten Jahre in Aussicht gestellt wurden. Wie
es sich aber später herausstellte, entsprach die dargereichte
Arzenei nicht dem Ernst der zugefügten Wimde: Hvmdert-
tausende von Menschen, die seit vielen Jahren vom Handel auf
dem flachen Lande gelebt hatten, verloren plötzlich das Recht,
diesen Handel auszuüben; und zu der neuen Tätigkeit, dem
Ackerbau, konnten in der nächsten Zeit nur unbedeutende
Gruppen der jüdischen Bevölkerung herangezogen werden. Zu
den zu begünstigenden Berufen des zweiten Ranges zählte das
neue Gesetz die Fabrikindtistrie und das Handwerk: die Fabri-
kanten und Handwerker wurden von der Bezahlung der doppel-
ten Steuer befreit, und den Gründern „der notwendigsten
Fabriken" wurden außerdem Vorschüsse aus Staatsmitteln ver-
sprochen. Die Kaufmannschaft und das Kleinbürgertum kamen
in die letzte „geduldete" Klasse. Den Fabrikanten, Handwerkern
und Kaufleuten war der vorübergehende Aufenthalt zur Er-
ledigung geschäftlicher Angelegenheiten „in den inneren Gou-
vernements und selbst in den Residenzstädten" gestattet, doch
nur mit eigenen Gouvemeurspässen, wie sie für die Reisen
ins Ausland vorgeschrieben waren.
Im Artikel von „der bürgerlichen Einrichtung der Juden"
stellt das neue Gesetz eiiierseits die Abhängigkeit der Juden
von den Stadtmagistraten, Polizeibehörden und allgemeinen
Gerichten fest und gewährt ihnen andererseits das Recht, die
Rabbiner und Kahalbeamten zu wählen; die Wahlen müssen
alle drei Jahre vorgenommen werden und unterliegen der Be-
299
stätigung der Gouvemementsverwaltung, Ein weiterer Artikel
besagt, daß die Rabbiner „nur die Beobachtung der religiösen
Bräuche zu überwachen und alle sich auf die Religion beziehen-
den Streitigkeiten zu schlichten haben"; es wird ihnen aufs
strengste verboten, „Bannflüche" (,,Cherems") anzuwenden;
die Kahals haben aber für die pünkliche Bezahlung der Staats-
steuern zu sorgen. Die Gemeindeautonomie der Juden sollte
also unter zwei Flaggen wirken — der religiösen und der fiska-
lischen — und hatte alle ihre verschiedenen Aufgaben entweder
Gott oder dem Mammon anzupassen.
Als Aushängeschild für das Ausland diente der erste Artikel:
,,Von der Aufklärung." Den jüdischen Kindern wurde der Zu-
tritt zu allen russischen Volksschulen, Gymnasien und Universi-
täten gestattet; den Juden wurde auch das Recht gewährt, ihre
eigenen Schulen für allgemeine Bildung mit obligatorischem
Unterricht in einer der drei Sprachen — Russisch, Polnisch oder
Deutsch — zu gründen. In einer dieser drei Sprachen mußten
auch alle öffentlichen Urkunden und Wechsel geschrieben und
die Geschäftsbücher geführt werden; zur Durchführung dieser
Maßregel wurde eine Frist von 2 — 6 Jahren vom Tage der
Veröffentlichung des Gesetzes an gewährt. Die zu Magistrats-
mitgliedem sowie auch zu Rabbinern und Kahalmitgliedern
zu wählenden Juden mußten eine der drei genannten Sprachen
in Wort und Schrift beherrschen; die jüdischen Magistrats-
mitglieder wurden verpflichtet, Kleidung von pohlischem,
russischem oder deutschem Schnitt zu tragen. Mit diesem „auf-
klärerischen" Programm zollte die russische Regierung ihren
Tribut den gemäßigt-liberalen Ideen der Zeit. Im allgemeinen
war die Akte von 1804 ein typisches Reglement nach preußisch-
österreichischem Muster. Es lag ihr jenes System der durch
Regierungsgewalt betriebenen Reformen zugrunde, vor dem
Speranskij erfolglos gewarnt hatte. Dieses System bedeutete
den gewaltsamen Abbruch einer I^ebenskultur, die während vieler
Jahrhunderte entstanden war, und führte zu harten Repressalien
auf der einen und zur Verelendtmg der bevormundeten Massen
auf der anderen Seite.
§ 48. Die Folgen des Gesetzes von 1804: die Vertreibung aus
den Dörfern. Die jüdische Gesellschaft betrachtete das Gesetz
von 1804 durchaus objektiv als eine Verheißung fraglicher
300
Woiiltaten für die Zukunft und eines großen Elends für die
Gegenwart. Die Aussicht auf die künftigen Wohltaten, die
von einer Schwächung der Grundstützen der nationalen Selb-
ständigkeit — der Sprache. Schule und Gemeindeautonomie —
bedingt war, konpte den von den westlichen Strömungen noch
nicht berührten russischen Juden kaum besonders verlockend
erscheinen. Um so schmerzlicher empfanden sie den drohenden
wirtschaftlichen Schlag — die Vertreibung vieler Tausender
Familien aus den Dörfern. Es zeigte sich bald, daß von dieser
Maßregel sechzigtausend Familien betroffen werden sollten. In
den zwei oder drei Jahren, die bis zu der Elatastrophe noch blie-
ben, konnte diese große Masse immöglich neue Berufe ergreifen
und neue Niederlassungsmöglichkeiten finden; folglich stand
ihr der Himgertod bevor. Nim begannen in Petersburg ganze
Stöße von Gesuchen um Aufschub der Vertreibung der Juden
aus den Dörfern einzulaufen. Die Gesuche kamen nicht nur
von den Gemeinden, sondern auch von den Gutsbesitzern, für
die die Entfernung der jüdischen Pächter und Schankwirte aus
ihren Besitzungen großen Schaden bedeutete. Je näher der für
die Vertreibung festgesetzte Zeitpunkt — der Anfang des Jahres
1808 — heranrückte, um so lauter tönte das Jammergeschrei
aus der Provinz. Es ist unbekannt, wie die russische Regierung
auf diese Schreie reagiert hätte, wenn um diese Zeit sich nicht
etwas ereignet hätte, was eine große Panik in den politischen
Kreisen Petersburgs hervorrief.
Es war der Herbst des Jahres 1806, als aus Paris nach allen
Ländern Europas Aufrufe und Einladungen zu dem bevor-
stehenden „Großen Synhedrion" ergingen. Dieser Plan Napo-
leons, der der österreichischen Regierung solche Angst gemacht
hatte (§ 36), rief auch in Petersburg Unruhe hervor. Napoleon
hatte soeben Preußen zerschmettert, war in die polnischen Pro-
vinzen Preußens eingedrungen und näherte sich den Grenzen
Rußlands. Die Angst vor dem pohtischen Genie des französischen
Kaisers gab der russischen Regierung den Verdacht ein, daß
Napoleon durch die Einberufung des alljüdischen Synhedrions
die jüdischen Massen Preußens, Österreichs und Rußlands auf
seine Seite locken wolle; unter diesen Umständen war es wahr-
scheinlich, daß die Erbitterung der russischen Juden über die
bevorstehende Vertreibung aus den Dörfern die tückischen Pläne
301
Napoleons begünstigen und einen Herd von Russenhaß in den
Gebieten schaffen könne, die zum Kriegsschauplatz werden
würden. Um dieser Gefahr zu entgehen, mußte man die Erbitte-
rung besänftigen und die Austreibung einstellen. In den ersten
Februartagen von 1807 (den Tagen, wo in Paris die ersten Sit-
zungen des Synhedrions stattfanden) unterbreitete der Minister
des Inneren Kotschubej dem Kaiser Alexander I. den Vorschlag,
„die Übersiedlung der Juden aus den Dörfern in die Städte und
Marktflecken aufzuschieben und überhaupt diese Nation in
Anbetracht der Absichten der französischen Regienmg mit
Vorsicht zu behandeln". Der Kaiser war damit einverstanden,
und gleich darauf wurde ein eigenes Komitee zur Erörtenmg
der Frage von der Anwendung des „Statutes" von 1804 ins
Leben gerufen. Ein Senator Alexejew wurde beauftragt, die west-
lichen Gouvernements zu bereisen und sich zu überzeugen, in-
wiefern „die militärischen Umstände, der gegenwärtige Zustand
der Grenzgouvemements und das Elend, das den Juden droht,
wenn man sie zwangsweise in die Städte übersiedelt" diese
Übersiedlung erschweren oder sogar unmöglich machen würde
(15. Februar). Der Minister schrieb zugleich den Behörden
der westlichen Gouvernements vor, streng darüber zu wachen,
daß die russischen Juden keinerlei Beziehungen zu dem Pariser
Sjnihedrion unterhalten, das die französische Regierung zum
Werkzeug politischer Beeinflussimg der Juden machen wolle.
In diesem Rundschreiben wurde den Gouverneuren eine recht
kuriose Maßregel empfohlen: den Juden einzuflößen, daß das
Pariser Synhedrion die jüdische Religion abändern wolle und
daher keine Sjmipathie verdiene. Zu derselben Zeit versandte
auch der Heüigste Sjmod Rundschreiben an die Geistlichkeit
mit dem Auftrage, der Bevölkerung beizubringen, daß Napoleon
ein Feind der Kirche und ein Fretmd der Juden sei. „Zur Schmä-
hung der Kirche Christi", hieß es im Aufruf des Synods, „hat
er (Napoleon) in Frankreich jüdische Synagogen einberufen und
das Große Synhedrion errichtet — dieselbe gottlose Versammlung,
die sich einst erfrecht hatte, unseren Herrn und Heiland Jesus
Christus zum Tode am Klreuze zu verurteilen — , um die
durch den Zorn des Höchsten über das Angesicht der ganzen
Erde verstreuten Juden zu sammeln, um die Kirche Christi zu
stürzen und in Person Napoleons einen falschen Messias auszu-
302
rufen." So brachte es die russischie Regierung, die in Erwartung
des Krieges den Kopf verloren hatte, fertig, zur gleichen Zeit
die Juden mit der Judenfeindlichkeit Napoleons und die Christen
mit seiner Judenfreundlichkeit zu schrecken; den einen redete
sie ein, daß das Synhedrion gegen die jüdische Religion gerichtet
sei, und den anderen — daß es von einem jüdischen „falschen
Messias" zur Bekämpfung des Christentums einberufen werde.
Unter diesen schwierigen Umständen entschloß sich die Re-
gierung von neuem, eine Umfrage bei den jüdischen Gemeinden
über die zur Verwirklichung der Reform zu ergreifenden Maß-
regeln zu veranstalten. Der diese Umfrage anordnende kaiser-
liche Ukas (rg. Februar) ist in einem ungewöhnlich milden Tone
gehalten: „Indem Wir Unsem Untertanen jüdischer Nation
einen neuen Beweis für Unsere Sorge um ihre Wohleinrichtung
geben wollen, haben Wir es für gut befunden, allen jüdischen
Gemeinden in den Gouvernements: Wilna, Grodno, Kiew,
Minsk, Podolien, Wolhynien, Witebsk und Mohilew zu gestatten,
Abgeordnete zu wählen und durch deren Vermittlimg den Gou-
verneuren solche Mittel und Wege für die erfolgreichste Durch-
führung der im Statut des Jahres 1804 niedergelegten Maßregeln
anzugeben, die sie selbst für die besten halten." Die Abgeord-
neten wurden nicht nach Petersburg, sondern in die Gouveme-
mentsstädte zu den Gouverneuren berufen. Bald begannen die
Antworten der Abgeordneten oder „Bevollmächtigten" der
jüdischen Gemeinden einzulaufen. Diese Antworten beschränkten
sich nicht auf den verhängnisvollen 34. Artikel, der von der
Vertreibung aus den Dörfern handelte ; alle Abgeordneten waren
sich darin einig, daß man diesen Artikel entweder abschaffen
oder seine Durchführung für eine Reihe von Jahren hinaus-
schieben müsse ; es wurden auch sehr wesentliche Einwände gegen
die anderen Artikel der „jüdischen Verfassung" ausgesprochen.
Die Abgeordneten ersuchten um die Abschaffung der doppelten
Steuern, die die Kaufleute und Kleinbürger zu zahlen hatten,
um die Erweiterung der Kompetenz der Rabbinergerichte und
um eine Milderung der Artikel, die den Gebrauch der jüdischen
Sprache in Urkunden, Wechseln und Geschäftsbüchern unter-
sagten: die einen verlangten, daß man die Durchführung des
für den Handel störenden Sprachenparagraphen hinausschiebe,
die anderen wollten die Genehmigimg erwirken, Wechsel im
303
Betrage von unter hundert Rubeln hebräisch schreiben zu
dürfen (was mit der rabbinischen Form der Schuldverschreibung
— „Jiska" — zusammenhing). Die Abgeordneten wiesen auch
darauf hin, wie schwer es für sie, die Rabbiner und Magistrats-
mitglieder, sei, sich in einer so kurzen Zeit die russiche Sprache
und Schrift anzueignen. Mit der Änderung der Tracht für die
Magistratsmitgiieder und die sich vorübergehend außerhalb der
Ansiedlungszone aufhaltenden Juden waren sie einverstanden,
bemerkten aber, daß die vorgeschriebene ,, deutsche" Tracht
den Juden, denen das Gesetz verbietet, den Bart zu rasieren,
nicht zu Gesicht stehe, und daß sie es daher vorziehen würden,
in solchen Fällen den langen russischen Kaftan zu tragen. Und
was die Aufklärungsparagraphen betrifft, so meinten die Ab-
geordneten, daß die der russischen Sprache unkundigen jüdischen
Eünder in russischen Schulen gar nicht lernen können würden;
es sei daher zweckmäßiger, diese Kinder in eigenen jüdischen
Schulen, wo sie ihre Nationalsprache und die „Glaubensdogmen"
erlernen, auch in der russischen Sprache zu unterweisen.
Als diese Antworten der Abgeordneten durch Vermittlung der
Gouverneure Petersburg erreichten, hatte der dortige politische
Wind wieder umgeschlagen. Im Juli 1807 wurde der Tüsiter
Friede imterschrieben; zwischen Napoleon und Alexander I.
kam die „Entente cordiale" zustande, und Rußland brauchte
nicht mehr die „Ränke Bonapartes" zu fürchten. Auch die
Angst vor einer Verschwörung der russischen Juden mit dem
vor kurzem aufgelösten Pariser Synhedrion hatte sich verflüch-
tigt, und zugleich war auch jedes offizielle Mitleid mit den Juden,
die man eben zugrunde richten wollte, verschwunden. Der letzte
Termin für die Vertreibung aus den Dörfern (i. Januar 1808)
rückte heran, und am 19. Oktober 1807 erging ein äußerst harter
kaiserlicher Ukas an die Generalgouvemeure des westlichen Ge-
biets: „Die mit einem Kriege zusammenhängenden Umstände
hätten die Ausweisung der Juden erschweren oder unmöglich
machen können. Heute aber, nach Beseitigung der Kriegsgefahr,
können diese Schwierigkeiten durch die Festsetzung von geeig-
neten Maßregeln für die zweckmäßigste Übersiedlimg der Juden
beseitigt werden. Aus diesem Grunde haben Wir es für gut be-
funden, eine Ordnung aufzustellen, nach der die Übersiedlung
der Juden, die am festgesetzten Termin zu beginnen hat, ohne
304
jeden Aufschub und ohne Nachsicht durchgeführt werden soll."
Die „Ordnung" bestand darin, daß die Vertreibung aus den
Dörfern allmählich im I^aufe von drei Jahren zu geschehen hatte:
ein Drittel sollte im Jahre 1808 vertrieben werden, das zweite
Drittel im Jahre 1809, das letzte Drittel im Jahre 1810. Zur
Überwachung und Zeitung der Übersiedlung wurden eigene
Komitees bei den Gouverneuren errichtet; die Komitees hatten
auch den Auftrag, die Kahals zu veranlassen, den Ausgewiesenen,
d. h. den Menschen, die von der Regierung so erbarmungslos
ruiniert wurden, finanzielle Hilfe zu leisten.
Nun begannen die Schrecken der Vertreibung. „Solche, die
nicht freiwillig ausziehen wollten, wurden mit Gewalt vertrieben;
viele wurden unter Bewachung von Bauern und Soldaten ex-
mittiert. Man trieb sie wie Viehherden in die Flecken und Städte
zusammen und ließ sie da auf den Marktplätzen unter freiem
Himmel stehen. Am grausamsten ging die Vertreibung der
Juden aus den Dörfern im Witebsker Gouvernement vor sich."
Viele von den Ausgewiesenen ersuchten die Obrigkeit um Über-
siedlung nach den landwirtschaftlichen Kolonien Neurußlands,
wo sich schon einige Hundert jüdische Familien einigermaßen
eingerichtet hatten. Das Elend der jüdischen Bevölkerung
erreichte solche Grenzen, daß die Gouverneure nach Petersburg
von der Unmöglichkeit, dem Ukas von der Vertreibung, ohne die
gänzliche Zugrunderichtung zahlloser Familien, nachzukommen,
meldeten. Ende Dezember 1808 wurde ein neuer Ukas ver-
öffentlicht: die Ausweisung der Juden aus ihren bisherigen
Wohnorten ist bis zu einem neuen Erlaß einzustellen. Anfang
Januar 1809 wurde aber in Petersburg ein neues Komitee (schon
das dritte) berufen, welches die Frage von der Ablenkung der
Juden vom Schankgewerbe zu anderen Berufen allseitig zu unter-
suchen hatte. Diesem Komitee gehörten an: der Senator Alexe-
jew, der die westlichen Gouvernements bereist hatte, der Ge-
heimrät Popow, der Gehilfe des Ministers des Inneren Koso-
dawljew u. a, m. In der kaiserlichen Instruktion für den Präsi*
deuten des Komitees, Popow, wurde anerkannt, daß die Unmög-
lichkeit, die Juden aus den Dörfern in die Städte zu verpflanzen,
darauf beruhe, „daß die Juden infolge ihrer Armut keine Mittel
haben, um nach Ausweisung aus ihren bisherigen Wohnsitzen
sich in der neuen I^age einzurichten; ebenso kann die Regierung
so Dubnow, Geschichte der Joden I SOS
nicht die Kosteo jfür die Einrichtung der Juden an den neuen
Wohnsitzen auf sich nehmen; daher sind Mittel und Wege aus-
findig zu machen, um den Juden, die ihre einzige Erwerbsquelle
— den Schnapsausschank in Dörfern, Wirtshäusern und Her-
bergen, verlieren, die Möglichkeit zu geben, sich ihren I^bens-
unterhalt durch Arbeit zu verdienen". Das Komitee hatte auch
den Auftrag, die schon vorher eingelaufenen „Antworten" der
jüdischen Abgeordneten zu prüfen.
Das Komitee arbeitete drei Jahre, und das Resultat dieser
Arbeit war der höchst bedeutsame Bericht, der dem Kaiser
Alexander I. im März 1812 tmterbreitet wurde. In diesem offi-
ziellen Dokument wurde zum erstenmal seit der Deklaration
Speranskijs (§47) ein wahres Wort über die jüdische Frage
laut. Man will die Juden vom Schankgewerbe in den Dörfern,
das für die Bevölkenmg schädlich sei, fernhalten; an der Trunk-
sucht ist aber nicht der jüdische Schankwirt schidd, sondern das
„Recht der Propination", das ein Regal der Gutsbesitzer und
ihre wichtigste Einnahmequelle büdet. Wenn man aus den
Dörfern 60 000 jüdische Schankwirte vertreibt, so werden sofort
60 000 bäuerliche Schankwirte an ihre Stelle treten, und der Acker-
bau wird viele Tausende geschickter Arbeiter verlieren; die Juden
aber werden sich nicht auf einmal in ordentliche Ackerbauer
verwandeln, um so mehr als die Regierung keine Ressourcen
hat, um eine solche Menge von Schankwirten auf einen Schlag
in Ackerbauer zu verwandeln. Der Jude auf dem Dorfe bereichert
sich nicht auf Kosten des Bauern: in den meisten Fällen ist er
arm tmd fristet mit Mühe sein Dasein mit dem Schankgewerbe
imd dem Verkauf verschiedener notwendiger Waren an die
Bauern; indem der Jude dem Bauern das Getreide an Ort und
Stelle abkauft, befreit er ihn von dem mit den Fahrten in die
Stadt verbundenen Zeitverlust. Der Jude wirkt in der Landwirt-
schaft als Vermittler, und ohne seine Vermittlung kann weder
der Bauer noch der Gutsbesitzer auskommen. Es ist unmöglich,
alle Dorfjuden in die Städte zu verpflanzen und sie zu Fabri-
kanten, Kaufleuten und Handwerkern zu machen, wo die in
den Städten bereits vorhandene jüdische Bevölkerung fast nichts
zum Leben hat; Fabriken und Industrie werke künstlich zu
schaffen — bedeutet „das Kapital ins Wasser werfen"; der Staat
hat auch keine freien MÜlionen, um die Fabrikanten mit Vor-
306
Schüssen zu unterstützen. Die letzten Versuche der Regierung
haben nur dahin geführt, daß das jüdische Volk „nicht nur in
seiner elenden Lage geblieben ist, sondern durch den Zwang,
den Beruf, von dem es einige Jahrhunderte gelebt hat, aufzu-
geben, zugrunde gerichtet wurde. „In Anbetracht dieser Lage
des ganzen Volkes und der Gefahr, daß die weitere Anwen-
dung von Zwangsmaßregeln unter den gegenwärtigen
politischen Umständen dieses auch schon ohnehin aufs
äußerste bedrückte Volk noch mehr erbittern kann, erachtet es
das Komitee für notwendig, alle heute vorhandenen Schwierig-
keiten durch Belassung der Juden in ihren bisherigen Wohnsitzen
und durch die Freigabe der im Artikel 34 verbotenen Berufe
auf radikale Weise zu beseitigen." Die Regierung mußte nach-
geben, und zwar weniger unter Einwirkung der klaren und un-
widerleglichen Gründe des Komitees, die eine vernichtende
Kritik des damaligen Systems der staatlichen Bevormundung
enthielten, als unter dem Drucke jener „politischen Umstände",
auf die in den letzten Sätzen des Berichts hingewiesen wurde.
Gegen Rußland rückte die Armee Napoleons heran; es begann
der große russische Krieg, der zu einem europäischen wurde.
In einem solchen Moment, wo die französische Armee tatsächlich
ganz Westrußland überschwemmte, war es viel gefährlicher, in
diesem Gebiete eine unterdrückte und empörte Masse wohnen
zu haben, als es im Jahre 1807 der Fall war, wo man die Invasion
der Franzosen bloß befürchtete. So entschied sich die Frage
von der Belassung der Juden in den Dörfern inl günstigen Sinne
ganz von selbst, ohne jeden Ukas. Rußland brauchte im Augen-
blicke der Gefahr zu seiner Rettung die Anspannung der Klräfte
aller seiner Bewohner, darunter auch der Juden.
§ 49. Der Krieg von 1812. Die Rolle der Juden im Kriege
von 1812 war nicht so unbedeutend, wie man es angesichts
der Tatsache annimmt, daß im damaligen Rußland die Juden
zum aktiven Mihtärdienste nicht herangezogen wurden. Den
Schauplatz des großen Krieges büdete Westrußland, in erster
Linie Weißrußland und Litauen, wo in den Städten, Markt-
flecken und Dörfern eine kompakte jüdische Masse wohnte.
Von der Sympathie dieser Bevölkerung für die eine oder andere
Partei hing oft der Erfolg oder die Niederlage der in der be-
treffenden Gegend operierenden Truppen ab. Die Polen sym-
ao*
307
pathisierten bekanntlich in ihrer Mehrzahl für Napoleon, von
dem sie die Wiederherstellung des polnischen Staates erwar-
teten. Viel komplizierter war das Verhältnis zu Rußland in
der jüdischen Gesellschaft. Einerseits mußte die Verfolgung,
denen die Dorf Juden erst vor kurzem ausgesetzt waren, feind-
selige Gefühle gegen die russische Regierung wecken; hätten
diese Verfolgungen noch fortgedauert, so wäre die französische
Armee als Retterin begrüßt worden; die Vertreibung aus den
Dörfern war aber schon seit drei Jahren vor Kriegsausbruch
eingestellt worden, auch wurde die gänzliche Aufhebung des
im offiziellen Bericht des Komitees so scharf verurteilten harten
Gesetzes erwartet. Andererseits war der Glorienschein Napo-
leons selbst in den westjüdischen Kreisen erheblich getrübt.
In Rußland, dessen jüdische Bevölkerung durchwegs orthodox
war, wnirden die Reformpläne Napoleons als gefährlich und der
Ersatz der Gemeindeautonomie durch eine Konsistorialverwal-
tung als ein Verderben für die Nation angesehen. Die besonders
konservativen chassidischen Massen waren dem Kaiser Alexan-
der I. dankbar, weil er ihnen (in dem von den Sekten handeln-
den Artikel des „Statuts" von 1804) das Recht gewährt hatte,
eigene Synagogen innerhalb der Gemeinden zu bilden. Der
Führer der weißrussischen Chassidim, Rabbi Schnejur-Salman,
der von der russischen Regierung anfangs verdächtigt, später
als zuverlässig erkannt worden war, drückte das Verhältnis
der orthodoxen jüdischen Gesellschaft zu den beiden krieg-
führenden Monarchen in folgender Prophezeiung aus: „Wenn
Bonaparte siegt, wird sich der Reichtum der Juden vermehren
und ihre (bürgerliche) Lage heben, dafür wird sich von ihnen
das Herz unseres himmlischen Vaters entfernen; wenn aber
unser Zar Alexander siegt, werden sich die jüdischen Herzen
unserem himmlischen Vater nähern, obwohl die Armut Israek
sich vergrößern und seine I^age erniedrigt werden wird." Dies
bedeutete, daß man die bürgerliche Rechtlosigkeit der Gleich-
berechtigung vorziehen müsse, insofern die erstere mit der Un-
antastbarkeit der Religion und die letztere mit deren Zerstörung
verknüpft ist.
Alle diese Ursachen, im Zusammenhang mit der instinktiven
Empörung der Massen gegen den eingebrochenen Feind, führten
dazu, daß die Juden des nordwestlichen Gebiets überall Er-
308
gebenheit für die Interessen Rußlands zeigten und der russi-
schen Armee oft wesentliche Dienste in bezug auf Aufklärung
und Verpflegung erwiesen. Der bekannte russische Kriegsheld
und Dichter Dawydow berichtet: „Der Geist der polnischen
Bewohner von Grodno war für uns höchst ungünstig; dagegen
waren sämtliche in Polen wohnenden Juden uns dermaßen
ergeben, daß sie dem Feinde niemals Spionagedienste leisteten,
uns aber sehr oft wichtige Nachrichten über den Feind liefer-
ten." Infolge der Unzuverlässigkeit der polnischen Beamten
mußte man in Grodno die ganze Polizeigewalt dem jüdischen
Kahal übergeben. Der Wilnaer Gouverneur bezeugte: ,,Das
jüdische Volk zeigte während des Aufenthalts der Feinde in
unserem Gebiet eine besondere Treue gegen die russische Regie-
rung." Die Polen ärgerten sich über die Russenfreundhchkeit
der Juden; es wurden Gerüchte verbreitet, daß sie Vorberei-
tungen machen, alle Juden und Russen in den Gouverne-
ments Wilna und Minsk und in der Provinz Bjelostok nieder-
zumetzeln. Bs sind auch einige Heldentaten zu verzeichnen.
Viele Juden, die in ihren Häusern russische Kuriere mit De-
peschen versteckt hielten, um sie später zu den russischen Be-
fehlshabern zu geleiten, oder den Russen Nachrichten über
die lyage der feindlichen Armee lieferten, wurden, wenn sie in
die Hände der Franzosen fielen, füsiliert oder gehenkt. Alexan-
der I. wußte von solchen Taten. In Kaiisch empfing er die
Mitglieder des Kahals in Audienz und unterhielt sich lange
mit ihnen. Unter den Juden dieses Gebiets wurden Aufrufe
in der Volkssprache verbreitet, in denen sie angerufen wurden,
für den Sieg Alexanders I. zu beten, der die Juden aus der Ge-
fangenschaft erlösen werde. Die patriotische Stimmung hatte
auch sonst die jüdische Masse ergriffen.
Im Hauptquartier der nach Westen vorrückenden russischen
Armee befanden sich 1812 — 13 zwei jüdische „Deputierte":
Sundel Sonnenberg aus Grodno und Lejser DiUon aus Neswisch.
Diese beiden spielten offenbar eine doppelte Rolle: sie waren
Großlieferanten, die von der Intendantur unmittelbare Auf-
träge erhielten und an ihre Agenten an verschiedenen Orten
weitergaben, und zugleich Bevollmächtigte der Kahals, die die
Wünsche der Juden dem Zaren und den höchsten Würdenträgern
übermittelten. Es war für die Regierung in jener unruhigen
309
Zeit von Vorteil, im Hauptquartier jüdische Vertreter zu haben,
die ihre Stammesgenossen im Sinne der ihnen gegebenen poli-
tischen Instruktionen beeinflussen konnten. Im Juni 1814
ließ Alexander I. während seines Aufenthalts im Auslande
(in Bruchsal) durch Vermittlung dieser Deputierten „den jüdi-
schen Gemeinden seine allergnädigste Gewogenheit" ausdrücken
und versprach, in kürzester Zeit „einen Beschluß über die
Wünsche und Bitten der Juden bezüglich einer Besserung ihrer
Lage" zu fassen. Unter dem Eindrucke der Berichte über die
patriotische Haltung der Juden war Alexander I. nicht ab-
geneigt, ihr I^os tatsächlich zu verbessern. Aber die allgemeine
Reaktion, die nach dem Wiener Kongreß in Europa und in
Rußland eintrat, war auch für die russischen Juden verhäng-
nisvoll.
§ 50. Das Wirtschaftsleben und seine Krisen. Die politischen
Krisen der Übergangszeit (1789 — 1815) mußten auch im lieben
der polnisch-russischen Juden wirtschaftliche Erschütterungen
hervorrufen. Die etwa eine Million Seelen betragende jü-
dische Bevölkerung der westrussischen Gouvernements zerfiel
damals in zwei Gruppen: der größte Teil lebte in den
Städten und Marktflecken, und der kleinere in den Dörfern.
Die Bemühungen der damaligen russischen Regierung, die
ganze jüdische Masse in die Städte zu verpflanzen und eine
neue Klasse von jüdischen Ackerbauern zu schaffen, erreichten
das angestrebte Ziel nicht, brachten es aber fertige das frühere
Gleichgewicht zwischen den städtischen und ländlichen Er-
werbsarten der Juden zu stören.
Der städtische Jude war Händler, Handwerker oder Schank-
wirt. In vielen Städten gab es viel mehr jüdische Kaufleute
als christliche. Einen besonderen Aufschwung nahm die Betei-
ligung der Juden am auswärtigen Handel: viele jüdische Kauf-
leute besuchten alljährlich die ausländischen Messen (in Leipzig
usw.), um Waren, vorwiegend Manufakturerzeugnisse, einzu-
kaufen und russische und polnische Produkte, wie Felle, I^eder
usw., abzusetzen. Als immer größere Teile des polnischen Terri-
toriums dem Russischen Reiche angegliedert wurden, öffnete
sich für die eingeführten ausländischen Erzeugnisse ein neuer
Markt — die inneren russischen Gouvernements ; die jüdischen
Kaufleute wandten sich sofort hin, stießen aber auf heftigen
310
Widerstand seitens der russischen Kaufleute, die über die Kon-
kurrenz zu jammern anfingen und die Regiening veranlaßten,
das Monopol der einheimischen Ausbeuter zum Schaden der
Konsumenten anzuerkennen (§45). Es gelang den Monopolisten
allerdings nicht, den inneren Markt für die schönen und billigen
ausländischen Waren, die von jüdischen Kaufleuten bei ihren
erlaubten Reisen zum vorübergehenden Aufenthalt (nach dem
Statut von 1804 waren solche Reisen mit eigenen Gouverneurs-
pässen gestattet) eingeführt wurden, ganz zu sperren, aber die
freie Entwicklung des jüdischen Handels wurde durch die
strenge Grenzsperre zwischen dem westlichen und östlichen
Rußland gehemmt. Der andere städtische Beruf, das Hand-
werk, galt als weniger ehrenvoll und wurde von der ärmeren
Klasse ausgeübt. Die Handwerksarbeit wurde sehr schlecht
bezahlt. Speziell jüdische Zunftorganisationen kamen nur sehr
selten vor. Wenn der jüdische Handwerker aus einem armen
Städtchen in eine große Stadt zog, wurde er von den organi-
sierten christlichen Zünften feindselig empfangen. Im pol-
nischen Warschau hatte so ein „Empfang" am Vorabend der
zweiten Teilung die Form eines Pogroms angenommen. An
dritter Stelle neben dem Handel und dem Handwerk stand das
Schankge werbe; die Schenke war meistens mit einem Gast-
hause und einer Herberge verbunden. Der Schnapsausschank
in den Städten war hauptsächlich für die Bauern bestimmt,
die an Feiertagen und Markttagen aus ihren Dörfern kamen.
In den Städten spielte aber das Schankgewerbe eine unter-
geordnete Rolle; sein eigenes Gebiet waren die Dörfer.
Alle ernsthaften Beobachter des damaligen Wirtschaftslebens
bezeugen, daß der jüdische Vermittler und der jüdische Hand-
werker die wichtigsten Stützen einer zivihsierten Wirtschaft
in den Städten und Dörfern waren, und daß man ohne den
Juden weder etwas kaufen noch verkaufen noch herstellen
konnte. Der Jude bemühte sich stets um die Verbilligung des
Produkts wie im Handel so auch im Handwerk; er begnügte
sich mit einem minimalen Verdienst, weil auch seine Bedürf-
nisse minimal waren. Durch Vermittlung des allgegenwärtigen
jüdischen Aufkäufers konnte der Bauer alle seine Produkte
an Ort und Stelle absetzen, selbst solche, die es sich nicht lohnen
würde, infolge ihres geringen Wertes, in die Städte zu bringen.
311
Trotz seiner unermüdlichen und fieberhaften Arbeit war aber
der Jude im Durchschnitt ebenso arm wie der Bauer, obwohl
ihm eine der wichtigsten Ursachen der Verarmung dieses letz-
teren — die Trunksucht — fremd war. Das kam daher, daß die
Städte und Marktflecken von Händlern und Handwerkern über-
füllt waren, was wiederum darauf beruhte, daß man die Juden
systematisch aus ihren alten ländhchen Berufen verdrängte und
in die Städte trieb.
Wenn die offiziellen Urkunden vom Schankgewerbe der Juden
in den Dörfern als von ihrem einzigen Beruf sprachen, so be-
zeichneten sie damit nur ungenau den tatsächlichen Umfang
der Betätigung des I^andjuden, die immer mit dem Schankge-
werbe zusammenhing, sich aber mit ihm nicht deckte. Der Jude,
der das Recht der „Propination" vom Gutsbesitzer oder der
Krone pachtete, nahm auch die anderen Zweige der Landwirt-
schaft — Milchwirtschaft, Mühle und Fischfang in Pacht;
ferner kaufte er das Getreide bei den Bauern auf und verkaufte
ihnen die notwendigsten Waren — Salz, Geschirr, Sensen,
Sicheln usw., die er aus der Stadt einführte. Meistens war er
Schankwirt, Krämer und Aufkäufer in einer Person. An den
Landstraßen zwischen den Städten und den Dörfern zog sich
eine ganze Kette jüdischer Herbergen hin, die beim damaligen
Postverkehr auch als Stationen für die Reisenden dienten.
Die russische Regierung wollte nun diese ganze wirtschaftliche
Organisation, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden war,
zerstören. Schon unter Katharina II. vertrieben oft die Gouver-
neure die Dorf Juden in die Städte mit Berufung auf das „Grund-
gesetz", das den Juden vorschrieb „in den Kaufmanns- und
Kleinbürgerstand einzutreten"; der doppelsinnige Ukas von
1795, der den Behörden vorschrieb, die Juden in die Kreisstädte
zu übersiedeln, „damit sich diese Menschen nicht zum Schaden
der Gesellschaft herumtreiben", gab den eifrigen Beamten freie
Hand. Als aber das Gesetz von 1804 erlassen wurde, kraft
dessen alle Juden in drei Jahren aus den Dörfern vertrieben
werden sollten, kündigten viele Gutsbesitzer, ohne erst den
Ablauf dieser Frist abzuwarten, ihren jüdischen Pächtern das
Recht, in ihren Dörfern zu wohnen und zu handeln. So kam
es zu der Überfüllung der Städte, wo sich auch die schon bereits
vorhandenen Juden mit Mühe durchschlugen. Die Regienmg
312
animierte die Vertriebenen zu zwei neuen Berufen: der Grün-
dung von Fabriken und landwirtschaftlichen Kolonien, Der
arme Dorf Jude hatte aber nicht die für die Gründung einer
Fabrik notwendigen Mittel und Kenntnisse; es war auch un-
mögUch-, eine Fabrikindustrie künstlich ins I/cben zu rufen,
ohne einen Markt zum Absatz der Produkte zu haben. Einige
Juden gründeten zwar Fabriken von Wollwaren in I^itauen
und Wolhynien, die die vielen Tausende Menschen natürlich
nicht beschäftigen konnten. Darum wandten sich alle Blicke der
landwirtschaftlichen Kolonisation zu.
Der Ukas von 1804 versprach unbemittelten Juden, die sich
der Landwirtschaft widmen wollten, Landparzellen aus dem
Staatsbesitz in einer Reihe von Gouvernements, Geldvorschüsse
für die erste Einrichtung und die Befreiung von Steuern im
Laufe einiger Jahre. Die vertriebenen Dorfjuden klammerten
sich an dieses Versprechen wie an einen Rettungsanker. Im Jahre
1806 wandten sich einige Gruppen von Juden aus dem Mohilewer
Gouvernement (den Kreisen von Tscherikow und Mstislaw)
an den Gouverneur mit der Bitte, sie in das Neurussische Gebiet,
wo sie Ackerbau betreiben wollten, zu verbringen. Der Bevoll-
mächtigte einer dieser Gruppen, Nochim Finkelstein, reiste,
nach Petersburg und unterbreitete seine Bitte dem Minister
Kotschubej. Nach Weisung dieses letzteren ging er dann ins
Chersoner Gouvernement, um das Land zu besichtigen und zu
wählen. Der Minister hatte im Einverständnis mit dem Cher-
soner Gouverneur, dem Herzog Richelieu, beschlossen, den
jüdischen Kolonisten eigene Landparzellen in den dortigen
Steppen zuzuteilen und sie unter der Aufsicht des neurussischen
„Vormundschafts(Einwanderungs)kontors" anzusiedeln. Die
ersten Mohilewer Gruppen hatten ihre Vorbereitungen für die
Übersiedlung noch nicht abgeschlossen, als schon Gesuche von
zahlreichen jüdischen Gruppen aus den verschiedenen Gouverne-
ments (Tschemigow, Witebsk, Podohen usw.) um die Über-
siedlung in die neurussischen landwirtschaftlichen Kolonien
einUefen. Die Zahl der Juden, die zur Landwirtschaft gehen
wollten, erreichte gegen Ende des Jahres 1806 eineinhalbtausend
Familien von etwa 7000 Seelen. Die Regierung war ratlos: sie
war auf die Übersiedlung einer solchen Menge Menschen auf
Staatskosten gar nicht vorbereitet. Im Jahre 1807 entstanden
3^3
die ersten Kolonien jüdischer Acketbauer in Südrußland:
Bobrowyj-Kut, Ssedeimenucha, Dobraja, Israjilewka (sämtlich
im Chersoner Gouvernement); ihre Bevölkerung betrug etwa
300 Familien mit 2000 Seelen.
Die Masse der Auswanderer nahm immer zu. Im lyaufe des
ganzen Jahres 1808, als die Juden mit besonderem Eifer aus den
Dörfern vertrieben wurden, überschütteten die weißrussischen
Gouverneure den Minister des Inneren mit Gesuchen, eine mög-
lichst große Zahl jüdischer FamiHen nach Neurußland ziehen
zu lassen. So meldete der Witebsker Gouverneur: „Man hat die
hiesigen Dorfjuden vorzeitig vertrieben, ruiniert und an den
Bettelstab gebracht; die meisten haben weder Nahrung noch
Obdach und ziehen daher in erheblicher Anzahl nach Neuruß-
land. Viele Juden haben in der Hoffnung, nach Neurußland
ziehen zu können, ihren ganzen Besitz verkauft und flehen un-
ablässig, dorthin gehen zu dürfen, wenn auch nur zum bloßen
Wohnen." Zur gleichen Zeit liefen in Petersburg aber auch
Berichte vom neurussischen „Einwanderungskontor" und vom
Herzog Richelieu ein, daß man den Strom der Auswanderung
aufhalten müsse : schon die ersten Partien der Kolonisten hätten
große Mühe gehabt, sich einzurichten, für die neuen gäbe es
aber weder Häuser noch sonstige Einrichtungen. Zu Beginn
des Jahres 1810 unterstanden dem Einwanderuhgskontor an
die tausend Familien von Kolonisten, und weitere Tausende
„eigenmächtig" angekommener Juden warteten auf die Ein-
richtung. Infolge der ungewohnten klimatischen Verhältnisse
und des Mangels an Wohnungen und Nahrungsmitteln machten
sich unter ihnen Massenerkrankungen bemerkbar. Alle diese
Umstände veranlaßten die Regierung, die Ansiedelung von
Juden in den Neurussischen Kolonien zeitweilig einzustellen.
(Ukas vom 6. April 18 10.)
Der Versuch, einen Teil der jüdischen Bevölkerung zu Acker-
bauern zu machen, wäre wohl vom schönsten Erfolg gekrönt
worden, wenn die Regierung die nötigen Vorbereitungen zu
einer so wichtigen wirtschaftlichen Umwälzung getroffen hätte.
An die 10 000 Kolonisten waren schon nach Neurußland
gekommen, und unübersehbare darbende Massen wollten ihnen
nachfolgen. Aber die Regierung bekam Angst vor den Schwierig-
keiten und bot dieser ganzen Bewegung halt. Zugleich wurde
314
auch die zwangsweise Axisweisung der Juden aus den Dörfern
in den westlichen Gouvernements, die mit einer unerhörten
wirtschaftHchen Katastrophe drohte, eingestellt. Nach einer
Reihe von Schwankungen und Krisen befestigte sich das Wirt-
schaftsleben der Juden von neuem auf seinen alten Stützen:
dem Handel, dem Handwerk und den Dorfberufen.
§ 51. Die Krise der Selbstverwaltung; die Kahals und die Ma-
gistrate. Vom System der staatlichen Bevormundung wurde auch
die Selbstverwaltimg der jüdischen Gemeinden betroffen.
Schon in den letzten Regierungsjahren Katharinas II. zeigte
sich die Tendenz der Regierung, die weitgehende Autonomie
der Kahals zu kürzen, die man vorher, als die Erinnerung
an das Versprechen der Kaiserin, den Bewohnern des an-
nektierten Weißrußlands „ihre alten Freiheiten zu belas-
sen", noch frisch war, legalisiert hatte. Die russische Regie-
rung, die eine Selbständigkeit der Untertanen nicht gewohnt
war, betrachtete mit Argwohn die verschiedenartigen wirt-
schaftlichen, geistlichen und gerichtlichen Funktionen, die die
Kahals neben den fiskalischen Pflichten bei der Steuereintrei-
bung ausübten. Die Ukase von 1786 und 1795 beschränkten
die Tätigkeit der Kahals auf die geistlichen und fiskalischen
Angelegenheiten. Die „jüdische Verfassung" von 1804 ging
noch weiter: sie teilte diese beiden Funktionen zwischen dem
Rabbinat und dem Kahal, die früher ein Ganzes gebildet hatten;
den Rabbinern wurde gestattet, „die Beobachtung der reli-
giösen Bräuche zu überwachen und die sich auf die Religion
beziehenden Streitigkeiten zu schlichten"; die Kahals aber
„mußten aufpassen, daß die Staatssteuem pünktlich einliefen".
Auf diese Funktionen war nun die einstige Autonomie der jüdi-
schen Gemeinden Polens mit dem weitverzweigten Netz von
Institutionen und den zentralen Landtagen, den „Waads",
zusammengeschrumpft. Die ihnen noch verbliebene Autonomie
war natürlich in Wirklichkeit bedeutender als auf dem Papier:
die Juden fuhren fort, auch ihre Streitigkeiten in Vermögens-
fragen von ihrem Rabbinergericht entscheiden zu lassen; das
an die Rabbiner ergangene Verbot, die Widerspenstigen mit
dem „Cherem" (Bannfluch) zu belegen, wurde nicht immer be-
obachtet, weil das geistliche Gericht über andere Abschreckungs-
mittel nicht verfügte. Andererseits mußte die Regierung, die die
315
Steuertätigkeit der Kahals und überhaupt eine verantwortliche
jüdische Organisation, mit der sie in jüdischen Angelegenheiten
verhandeln konnte, brauchte, die Erweiterung der Tätigkeit der
Kahals weit über die fiskalische Sphäre hinaus mit in Kauf
nehmen. Wenn die Regierung die Ansicht der jüdischen Ge-
meinden über die eine oder andere projektierte Maßregel hören
wollte, wandte sie sich an die Kahals und bevollmächtigte sie,
Abgeordnete nach Petersburg oder in die Gouvernementsstädte
zu schicken (1803 und 1807).
Diese Konzession war durch die Macht der Umstände er-
zwungen, durch die Macht der kompakten Masse, die ein selb-
ständiges lieben führte und der es widerstrebte, ihre Eigenart
bis zur Vermischung mit der übrigen Bevölkerung und der
Verschmelzung ihrer Gemeindeinteressen mit den Aufgaben
der munizipalen Selbstverwaltungen aufzugeben. Die russische
Regierung strebte aber nach einer solchen „Munizipalisierung"
der jüdischen Gemeinden. Seit der Regierung Katharinas II.
wiegte sie sich in der Hoffnung, daß man die Absonderung der
Juden durch deren Einreihung in die ständischen Organi-
sationen der Kaufmannschaft und des Kleinbürgertums be-
kämpfen könne. Als sie den Juden gegen 1780 das bisher un-
erhörte Recht gewährte, an den Stadtverwaltungen als Wähler
und gewählte Mitglieder der Magistrate und städtischen Ge-
richte teilzunehmen, glaubten die Petersburger Gesetzgeber,
daß die beglückte jüdische Bevölkerung auf ihre alte Kahal-
autonomie verzichten und mit den christlichen Ständen in der
allgemeinen städtischen Selbstverwaltung verschmelzen würde.
Aber weder die jüdische noch die christliche Gesellschaft recht-
fertigte diese Hoffnungen. Die Juden beteiligten sich, ohne
auf ihre eigene alte Gemeindeautonomie zu verzichten, mit
großem Eifer an den Wahlen zu den Magistraten, in denen ihre
alten Feinde — die christlichen Kaufleute und Kleinbürger —
wirtschafteten; sie wählten und ließen sich wählen, um die
Interessen der Juden, die den größten Teil der Steuerzahler ab-
gaben, zu vertreten. Hier stießen sie auf erbitterten Widerstand
seitens der Christen. In den weißrussischen Gouvernements
wurden einige Juden als Gerichtsbeisitzer und Ratsmänner in
die Magistrate gewählt; in den meisten Fällen gelang es aber
den Christen, eine künstliche Majontät zu bilden, um die Juden
316
von der Teilnahme an den Stadtverwaltungen fernzuhalten.
Die russischen und insbesondere die polnischen Kleinbürger
sahen in der Gewährung von Munizipalrechten an die Juden
ein Attentat gegen ihre alten „Vorrechte". Mit Rücksicht auf die
Stimmung der christUchen Gesellschaft setzten die südwest-
hchen Gouverneure aus eigener Machtvollkommenheit eine
einschränkende Norm für die Teilnahme der Juden an den
Magistraten fest: in Städten mit vorwiegend jüdischer Bevöl-
kerung gestattete man ihnen, nur ein Drittel aUer Magistrats-
mitglieder zu stellen (1796 — 1802). Die Vertreter der jüdischen
Bevölkerung, die eine Majorität der Gesamtbevölkerung bildete,
bheben daher in den Stadtverwaltungen in der Minorität und
konnten die Interessen ihrer Stammesgenossen weder bei der
Festsetzung der städtischen Umlagen noch bei den Verhand-
lungen in den Stadtgerichten vertreten. Die Bevollmächtigten
der podolischen Juden beschwerten sich einmal über diese Ge-
setzlosigkeit in Petersburg, erreichten aber nichts.
In den beiden litauischen Gouvernements, die Rußland nach
der dritten Teilung Polens zufielen, hatte die Opposition der
Christen noch mehr Erfolg: hier mußte die Regierung das Ge-
setz von der Vertretung der Juden in den Magistraten ganz
außer Kraft setzen. Besondere Empörung rief der Ukas des
Senats von der Zulassung der Juden zu den Wahlen für die
städtischen Institutionen in Wilna hervor (1802). Der Bürger-
hochmut der alten „Stadtväter" und der niedrige ständisch-
religiöse Haß kamen in der Bittschrift zum Ausdruck, die die
Wilnaer christlichen Kleinbürger im Februar 1803 an den
Kaiser Alexander I. richteten. Sie protestierten gegen die Ver-
letzung ihres alten Privilegs, kraft dessen es den Juden und
sonstigen Andersgläubigen verboten war, in I^itauen öffentliche
Ämter zu bekleiden; die Zulassung der Juden zum Magistrats-
dienst sei ein Unglück und eine Schmach für die Hauptstadt
Litauens: „denn die Juden haben gar keine Ahnung von Moral
und sind durch ihre Erziehung zum Richterberuf nicht vor-
bereitet; dieses Volk hält sich überhaupt nur durch seine
Schliche"; ,,den Christen ist jede I^ust genommen, öffentliche
Amter zu bekleiden, wenn den Juden die Gewalt gegeben ist,
sich über sie zu erheben". Die Bittsteller drohen, daß die „Herr-
schaft" der Juden, d. h. ihre Beteiligung an den Magistraten,
317
und wenn sie auch nur ein Drittel aller Abgeordneten ausmachen,
das Vertrauen des Volkes zu der Stadtverwaltung und den Ge-
richten untergraben würde: „der Gehorsam des Pöbels wird
sich in Beschimpfung verwandeln, wenn einer, der an die ge-
weihte Stätte kommt, daselbst einen Juden als Vorgesetzten
und Richter vorfindet, dem zu gehorchen ihm weder sein Stand
noch seine Religion erlauben". Die christhche Gesellschaft von
Kowno führte in einer ähnlichen Beschwerde noch ein weiteres
unwiderlegliches Argument gegen die Zulassung der Juden zu
Munizipalämtem an: auf dem Richtertische steht für die Eides-
leistung ein Kreuz mit der „heiligen Figur" des Gekreuzigten;
der jüdische Gerichtsbeisitzer „wird diese Figur anschauen
und sich dabei etwas seiner Religion Entsprechendes denken;
statt Gerechtigkeit wird er nur Hohn über das christliche Gesetz
zeigen". Diese Gründe erschienen der Regierung als stichhaltig,
und der Senat hob seinen Ukas vom Wahlrecht der Juden für
die Magistrate in I^itauen auf (1803).
So gelang es der stumpfen Gehässigkeit des privilegierten
Kleinbürgertums, die Tätigkeit der Juden in den Stadtverwal-
tungen zu beschränken und stellenweise auch ganz aufzuheben.
Die jüdische Gesellschaft zeigte trotz ihrer sonstigen Zurück-
gebliebenheit Mut genug, um ihre Vertreter in das feindliche
I^ager zur gemeinsamen Arbeit zum Wohle der gesamten Be-
völkerung zu entsenden; aber das verschlossene, von mittel-
alterlichem Geiste erfüllte Klleinbürgertum wollte die Juden
nicht als Stadtbürger anerkennen. Die Juden mußten mit diesem
rohen Konservatismus rechnen. Sie hatten noch ihre eigene ge-
meindliche Selbstverwaltung; wenn sie ihre ganze soziale Energie
auf dieses Gebiet gerichtet hätten, so wäre die alte Kahal-
autonomie trotz aller Beschränkungen seitens der Regierung
in gewissem Maße wiederhergestellt worden. Dem war aber eine
andere Ursache im Wege — die tiefe Spaltung innerhalb der
Gemeinden, die durch das Anwachsen des Chassidismus in der
zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts hervorgerufen war und
zu Beginn des XIX. ihren Abschluß gefunden hatte.
§ 52. Das chassidische Schisma und die Einmischung der Re-
gierung. Die Zeit der Teilungen Polens war auch die Zeit
der Spaltung der polnischen Judenheit. Die äußere Teüung
war von einer inneren, die poHtische von einer geistigen be-
318
gleitet. Der Körper der polnischen Judenheit war zwischen
Rußland, Österreich und Preußen aufgeteilt, ihre Seele —
zwischen dem Rabbinismus und dem Chassidismus. Es ist sogar
eine bedeuttmgsvolle Übereinstimmung der Daten festzustellen:
das erste Auftreten des Wilnaer Rabbinats gegen die Chassidim,
das den ersten Anstoß zur religiösen Spaltung gegeben hatte,
fiel auf das Jahr der ersten Teilung Polens (1772), und die letzte
entscheidende Kundgebung des gleichen Rabbinats brachte die
Spaltung bald nach der dritten Teilung Polens (1796) zum Ab-
schluß. Zwischen diesen beiden Daten liegt eine ganze Reihe
von Siegen des Chassidismus. Das südwestliche Gebiet (Wol-
h5aiien, Podolien, Kiew) war fast ganz von den Chassidim
erobert: mit Ausnahme einiger Städte waren sie in fast allen
Gemeinden in der Überzahl; sie führten ihre Gottesdienstord-
nung in allen Synagogen ein, und ihre Zaddikim, die alle Seelen
beherrschten, hatten das Übergewicht über die offizielle
rabbinische Geistlichkeit errungen. Im nordwestlichen Gebiete
hatte der Chassidismus um diese Zeit nur in Weißrußland
festen Fuß gefaßt, welches zwanzig Jahre lang unter russischer
Herrschaft gewesen und vom übrigen, noch ungeteilten Polen
politisch abgeschnitten war. Hier hatte sich ein bedeutendes
chassidisches Zentrum gebildet, an dessen Spitze der Zaddik
Rabbi Schnejur-Salman von Liosna stand; kompakte chassi-
dische Gemeinden gab es da aber noch nicht, in den meisten
Städten bestanden die Gemeinden aus den beiden Elementen —
den Chassidim und ihren Gegnern, den sogenannten Misnagdim;
bald herrschte die eine und bald die andere Partei vor, was
zu endlosen Streitigkeiten in den Gemeinden und Synagogen
führte. Nur in Litauen, der Hochburg des Rabbinismus,
konnte der Chassidismus nicht Wurzel fassen. Hier gab es an
wenigen Orten (Pinsk, Amdur, Minsk, Wilna) kleine Gruppen
von Chassidim, die ihre bescheidenen Betstuben in Privat-
wohnungen („Minjanim") hatten und sich oft vor den Kahal-
behörden, welche die Sektierer verfolgten, verbergen mußten.
Im Jahre 1794 veranlaßte der Minsker Kahal die Schließung
einer chassidischen Betstube. In Wilna, der Residenz des
großen Glaubenseiferers, des Gaons Elia, stellten die Chassidim
eine geheime ,, unlegale" Organisation dar. Nur in der Vorstadt
von Pinsk, Karhn, gelang es ihnen, ein dauerhaftes Nest mit
319
eigenen Synagogen und Zaddikim zu schaffen. (Einer dieser
Zaddikim, Rabbi Salomon Karliner, wurde, nach der Über-
lieferung, im Jahre 1792 während der Schreckensherrschaft der
polnisch-russischen konföderieiten Truppen ermordet.) Von
hier aus ging die ganze chassidische Propaganda in I^itauen aus,
und die Chassidim wurden daher meistens „Karliner" ge-
nannt.
Die verfolgten litauischen Chassidim wurden dreister, als das
südwestliche Gebiet und I^tauen nach der zweiten tmd dritten
Teilung Polens sich unter russischer Herrschaft mit Weißruß-
land wieder vereinigten und alle chassidischen Zentren sich zu
einer gemeinsamen Offensive verbünden konnten. Nun wurde
die Propaganda des Chassidismus viel energischer betrieben.
Man verbreitete zu Propagandazwecken das Gerücht, daß der
einstige. Verfolger der Chassidim, der Wilnaer Patriarch, der
Gaon Elia, sein Vorgehen gegen die Sekte bereute und den früher
ausgesprochenen Bannfluch zurückgenommen habe. Als man
in Wilna von diesem Manöver erfuhr, überredeten die empörten
Eiferer des Rabbinismus den alten Gaon, ein Sendschreiben
zu erlassen, in dem er bestätigte, daß sein Verhältnis zu den
„Ketzern" das alte geblieben sei und daß alle seine Bannflüche
in Kraft blieben (Mai 1796). Zwei Wilnaer Bevollmächtigte
wiirden mit dieser Kundgebung in eine Reihe von Städten
zur Agitation gegen die Chassidim kommandiert. Nach einiger
Zeit erfolgte ein neuer energischer Aufruf des Gaons an die
Gouvernementskahals von Litauen, Wolhynien, Weißrußland
und Podolien. ,,Ihr Berge Israels," schrieb der greise Eiferer,
„ihr geistlichen Hirten jedes Gouvernements, ihr weltlichen
Führer jedes Gouvernements, ihr ]>iter der Gouvernements-
Kahals von Mohilew, Polozk, Schitomir, Winniza, Kamenez-
Podolsk, — ihr habt in eurer Hand einen Hammer, mit dem
ihr die Verbrecher, die Feinde des Lichts, die Widersacher
des Volkes zerschmettern könnt. Wehe diesem Geschlecht! Sie
verletzen die Gesetze, sie verzerren unsere Lehre, sie erfinden
einen neuen Bund, sie schmieden Ränke im Hause Gottes,
sie verdrehen die Glaubenssätze. Es gilt, die Lehre Gottes zu
rächen, es gilt, diese Wahnsinnigen zu ihrer eigenen Besserung
zu strafen. Niemand darf sich ihrer erbarmen, niemand darf
sie in Schutz nehmen! . . . Umgürtet euch mit Eifer im Namen
320
Gottes!" Der greise Ritter des Rabbinismus, der diese leiden-
schaftlichen Aufrufe zum Kampfe gegen die Chassidim erließ,
war fest davon überzeugt, daß die „neue Sekte", die schon
Hunderttausende von Adepten zählte, die Religion und die
Nation dem Verderben entgegenführe, weil sie das Haus Israels
in seinem Inneren zu einer Zeit spaltete, als es von außen durch
politische Ereignisse gespaltet wurde. Große Angst macht ihm
auch der üppig aufblühende chassidische Kultus der wunder-
tätigen Zaddikim, der die Reinheit des jüdischen Glaubens be-
drohte. Den Zorn des Gaons hatte besonders das im gleichen
Jahre 1796 erschienene Werk des Oberhauptes der nordrussischen
Chassidim, Rabbi Salman („Taniä") hervorgerufen, in dem
jenes rehgiös-pantheistische System des Chassidismus dargestellt
war, in dem die Eiferer des alten Dogmas Gotteslästerung und
Ketzerei erblickten. Der Aufruf des Gaons enthielt auch An-
spielungen auf dieses Buch, und der Verfasser spürte den gegen
ihn gerichteten Schlag sehr schmerzlich. Salman veröffentlichte
ein Antwortschreiben, in dem er nachwies, daß der Wilnaer
Patriarch über das wahre Wesen des Chassidismus falsch unter-
richtet sei, und seinem Gegner vorschlug, in einem schriftlichen
Disput die Wahrheit zu klären und „Frieden in Israel zu stif-
ten". Der Gaon weigerte sich aber mit dem „Ketzer" zu streiten.
Das Wilnaer Sendschreiben wurde indessen weiter verbreitet
tmd führte in vielen Gemeinden zu heftigen Zusammenstößen
zwischen den Misnagdim und den Chassidim, wobei die erstferen
meistens die Angreifenden waren.
Der durch diese Verfolgungen aufs äußerste gereizte Kreis
der Wilnaer Chassidim erlaubte sich nun eine grobe Taktlosig-
keit. Als der greise Gaon Rabbi Elia im Herbste 1797, ein Jahr
nach der Veröffentlichung seines letzten Sendschreibens ver-
schied imd die ganze Wilnaer Gemeinde sich in Trauer kleidete,
versammelten sich die Wilnaer Chassidim in einem Privathause
und veranstalteten einen lustigen Schmaus, um die Befreiung
der Sekte von ihrem Hauptgegner zu feiern. Diese häßliche De-
monstration, die sich am Tage der Beerdigung des Gaon ab-
spielte, rief in der Wilnaer Gemeinde allgemeine Empörtmg
hervor. Die Altesten der Gemeinde leisteten auf dem Friedhofe,
vor dem Grabe des Gaons den Eid, an den Chassidim Rache zu
nehmen. Am nächsten Tage fand eine außerordentliche Sitzimg
3t Dubnow, Geschichte der Juden I ^2T
der Gemeindeältesten statt, in der eine Reihe von Repressalien
gegen die Chassidim beschlossen wurde. Neben öffentlich bekannt-
gegebenen Maßregeln, wie der Verkündigung eines neuen Anathe-
mas gegen die Sektierer, wurde auch eine Reihe von geheimen
Beschlüssen gefaßt. Eine eigene Kommission aus fünf Kahalälte-
sten bekam die weitestgehenden Vollmachten zum Kampfe gegen
die ,, Ketzerei"; zu den in Aussicht genommenen Kampfmitteln
gehörten auch, wie es die späteren Ereignisse zeigten, Denunzia-
tionen bei der russischen Regierung gegen die Führer der »Sekte.
Bald darauf geschah das Schändlichste. Dem Generalstaats-
anwalt Lopuchin in Petersburg wurde eine Anzeige „von den
staategefährUchen Handlungen des Oberhauptes der Karliner
(chassidischen) vSekte Salman Boruchowitsch in Weißrußland
und seiner Gehilfen in Litauen" überreicht. Im Frühherbst 1798
schickte der Generalstaatsanwalt dem Gouverneur den kaiser-
lichen Befehl : der Führer der Sekte Salman in Liosna und seine
zweiundzwanzig „Spießgesellen" in Litauen sind zu verhaften.
Salman wurde unter strengster Bewachung nach Petersburg
gebracht; die übrigen blieben in Wilna in Haft. Salman wurde
in der „Geheimen Expedition", wo die Staatsverbrechen be-
handelt wurden, vernommen. Gegen ihn war eine Reihe von
Anklagen erhoben: er hätte eine schädliche religiöse Sekte, die
die Gottesdienstordnung der Juden abgeändert habe, gegründet,
verkehrte Ideen verbreitet und Gelder gesammelt, um sie zu
irgendeinem geheimen Zweck nach Palästina zu schicken.
Die ganze Art der Untersuchung zeugte von der Annahme,
daß der Häftling politisch verdächtig sei. Er beantwortete
alle an ihn gestellten Fragen in einer ausführlichen schriftlichen
Erklänmg in hebräischer Sprache. Diese Erklärung wurde ins
Russische übersetzt und machte in Petersburg einen günstigen
Eindruck. Der Generalstaatsanwalt erstattete dem Kaiser
Pauli. Bericht ,,über alle Umstände, die sich bei der Unter-
suchung herausstellten", und bald darauf erging die allerhöchste
Resolution: Salman und die übrigen verhafteten Führer der
Sekte sind aus der Haft zu entlassen, doch „streng zu über-
wachen, ob sie nicht irgendwelche geheime Beziehungen oder
Korrespondenzen mit Leuten unterhalten, die verkehrte An-
sichten über die Regierung und die Regierungsform verbreiten".
Ende 1798 wurde Salman befreit.
322
Nun kam die Reihe an die Chassidim, an ihren Verfolgern
Rache zu nehmen. Da die Urheber der Verfolgungen die fünf
Mitglieder des Wilnaer Kahals waren, die zu der erwähnten
Kommission gehörten, so beschlossen die Chassidim, diese fünf
Ältesten abzusetzen und an ihre Stelle ihre Gesinnungsgenossen
zu bringen. Zunächst machten sie sich durch Bestechimg die
Gouvernementsbehörden gefügig. Anfangs 1799 reichten sie
der Obrigkeit eine Klage gegen die Gemeindeältesten ein, die
sie verschiedener Mißbräuche und der Unterschlagung öffent-
licher Gelder bezichtigten. Die Folge davon war die Absetzung
und Verhaftung einiger Gemeindeältesten. Unter dem Drucke
der Gouvernementsbehörden wurden die neuen Altesten aus den
Reihen der Chassidim und nach ihren Weisungen gewählt.
Die Wilnaer Gemeinde spaltete sich. Die einen waren für die
abgesetzten Gemeindeältesten, die anderen für die Neugewähl-
ten. Die einander befehdenden Parteien schickten Klagen und
Denunziationen nach Petersburg. Die Pest der Angeberei, deren
Aufkommen in Litauen gerade in den ersten Jahren der russi-
schen Herrschaft wohl kaum ein bloßer Zufall war, brachte eine
überaus abstoßende Persönlichkeit auf den Schauplatz: dön
Denunzianten Avigdor Chaimowitsch aus Pinsk. Avigdor,
ein ehemaliger Rabbiner im Pinsker Kreise, der sein Amt in-
folge der Ränke des ihm feindlich gesinnten Teiles der Ge-
meinde verloren hatte, betrauerte am meisten den Verlust der
Einkünfte. Der entthronte Eürte führte lange Zeit Prozesse
mit seiner einstigen Herde vor allerlei Gerichten; da er nichts
erreichte, entschloß er sich, an den Führern der Sekte, die seinen
Ruin verschuldet hatte, Rache zit nehmen. Zu Beginn des Jahres
1800 reichte Avigdor ein ausführliches Gesuch an den Kaiser
Paul I. ein, in dem er die chassidische Sekte als eine „schädliche
und gefährliche" Organisation darstellte, die das Werk der
einstigen Messianisten-Sabbatianer fortsetze; der Denunziant
bemühte sich, mittels einer ganzen Reihe gefälschter Zitate aus
chassidischen Werken zu beweisen, daß die Führer der Sekte
ihre Adepten lehren, nur Gott allein, aber nicht die Menschen
zu fürchten („fürchtet den Schöpfer und nicht die Schöpfung"),
folglich auch keinen Respekt vor den Behörden und selbst vor
dem Zaren zu haben. Die Denunziation fand Gehör, Anfangs
November des gleichen Jahres wurde der Zaddik Salman Borucho-
"• 323
witsch von neuem verhaftet und in Begleitung zweier Senats-
kuriere nach Petersburg gebracht. Der in die Festung gesperrte
Zaddik wurde nach dem Verhör mit seinem Ankläger Avigdor
konfrontiert. Die gegen ihn erhobenen neunzehn Anklagepunkte
beantwortete er auch diesmal schriftlich und wies alle Beschul-
digungen, daß er die Regierungsgewalt nicht anerkenne, ein un-
moralisches Leben führe, Gelder sammle und Versammlungen zu
geheimen Zwecken einberufe, auf das entschiedenste zurück.
Ende November wurde Salman aus der Haft entlassen, mußte aber
in Petersburg bis zum Abschluß der ganzen Affäre bleiben, deren
Akten die Geheime Expedition dem Senat übergeben hatte.
Während der Senat sich mit der Sache befaßte, spielte sich die
Palastrevolution vom ii. März 1801 ab. Als Alexander I. den Thron
bestieg, wehte gleich ein neuer Geist, und ein kaiserlicher Ukas
vom 29. März 1801 gestattete Salman, Petersburg zu verlassen.
Nachdem die Regierung sich von der absoluten Unschädlich-
keit der jüdischen rehgiösen Spaltung für den Staat überzeugt
hatte, legalisierte sie sie. Ein Paragraph des Statuts von 1804
gestattete den Sektierern, in jeder Gemeinde ihre eigenen Syna-
gogen zu haben und eigene Rabbiner zu wählen, doch unter der
Bedingung, daß die Kahalverwaltung in jeder Stadt alle Teile
der Gemeinde umfasse. Das Gesetz hatte nur das sanktioniert,
was in Wirklichkeit schon längst bestand. Die religiöse Spaltung
war längst abgeschlossen, und der Zwist von 1796 — 1801 war
nur ihr Schlußakt. Doch für die durch die pohtischen Um-
wälzungen auch ohnehin schoit erschütterte Kahalorganisation
hatte das Schisma traurige Folgen. Die durch die inneren Kämpfe
geschwächten, durch die Denunziationen und die Einmischungen
der Regierung demoralisierten Gemeinden konnten in jenen ersten
Jahren der Regierung Alexanders I. nicht mehr einmütig handeln,
als die Regierung ihren Plan der ,, Reformierung der Juden" ins
Werk setzte und die Kahals zur Mitarbeit heranzog. Die Gemein-
den des südwestlichen Gebiets, die ganz im mystischen Banne des
Chassidismus standen, reagierten auf die drohende soziale und
wirtschaftliche Krise nur sehr schwach; die Antworten auf die
Rundfragen der Regierung in den Jahren 1803 und 1807 kamen
vorwiegend von Delegierten der weißrussischen und litauischen
Gouvernements, wo in der jüdischen Gesellschaft die politischen
Interessen noch nicht ganz erstorben waren.
324
§ 53- Rabbinismus, Chasstdismus, aufklärerische Einflüsse (das
,,Berlinertum" J . Während in Westeuropa die alten Formen des
jüdischen Lebens zusammenstürzten, blieben die kompakten
jüdischen Massen Osteuropas kulturell unbewegt. Beide Mächte,
die ihr geistiges lieben leiteten, — der Rabbinismus und der
Chassidismus — wachten eifrig über die Erhaltung aller Grund-
pfeiler der alten Ordnung. Unverändert blieb das traditionelle
System der Erziehung; die alte Schule — der Cheder und
die Jeschiwa — mit ihrem ausschließhch talmudischen Ge-
halt gaben ihren ZögHngen wohl einen großen Vorrat an
geistiger Energie, bereiteten sie aber in keiner Weise für das
praktische lieben vor; die Frauen bekamen überhaupt keine
Schulbildung. Das patriarchalische Famihenleben mit den frü-
hen Ehen (im Alter von 13 — 16 Jahren), mit der langen Be-
köstigung der verheirateten Kinder im Eltemhause, mit dem
erdrückenden Elinderreichtum bei großer Armut, mit der Be-
schränkung der leiblichen Bedürfnisse bis zur Erschöpfung und
Degeneration wurde unverändert aufrechterhalten. Diese ganze
patriarchalische Masse fürchtete alle aufklärerischen „Neu-
einführungen", jeden Versuch einer Erweiterung ihres gei-
stigen und sozialen Horizonts. Die religiöse und die weltliche
Kultur waren noch nicht in Kollision gekommen. Der Kampf
zwischen Chassidismus und Rabbinismus war nur ein rein reli-
giöser Kampf um den Typus der Gläubigen: die alte Disziplin
der Bücher- und Ritendogmatik kämpfte gegen die Woge des
verzückten Mystizismus und des blinden „Heiligenkults".
Ob der erstarrte Rabbinismus tmter der Einwirkung des
heißen Kampfes zum neuen Leben erwachte? In diesem Zeit-
alter sind keine auffallenden Merkmale eines neuen Lebens fest-
zustellen, sondern nur Versuche zu einer rein theoretischen
Erneuerung. Die vom Gaon Rabbi Elia eingeführte Methode
der Textanalyse an Stelle der verworrenen Scholastik — des
„Pilpuls" — beim Talmudstudium fand in den Talmudschulen
Litauens immer größere Verbreitung. Im litauischen Städtchen
Woloschin wurde 1803 eine eigene Jeschiwa gegründet, wo die
neue Methode unter der Leitung eines Schülers des Gaons,
Rabbi Chaim Woloschiner, angewandt wurde. Diese Hoch-
schule lieferte eine ganze Reihe Gelehrter und Rabbiner „vom
Geiste des Gaons". In diesen Kreisen zeigte sich sogar eine ge-
325
wisse Toleranz gegen die sonst verfehmten „weltlichen Wissen-
schaften", doch nur auf dem Gebiete der Mathematik und zum
Teil der Naturwissenschaften. Der Wilnaer Gaon, der manchmal
etwas Mathematik trieb, erlaubte seinem Schüler Baruch
Schklower, die Geometrie von Euklid in hebräischer Über-
setzung herauszugeben (1780). Die Angst vor der Philosophie
blieb aber erhalten, imd die Unvereinbarkeit der freien For-
schung mit dem Judaismus galt als ein unwiderlegliches Dogma,
Der jüdische Geist bewegte sich noch immer in den engen „vier
Ellen der Halacha" und war zur Unfruchtbarkeit verdammt.
Im Ivaufe dieser stürmischen fünfundzwanzig Jahre hatte der
Rabbinismus seit dem Gaon keine einzige bedeutende litera-
rische Erscheinung und keinen einzigen Schriftsteller mit
weitem Horizont gezeitigt. Der schöpferische Geist hatte ihn
verlassen.
Mehr schöpferische Kraft hatte der Chassidismus jener Zeit
aufzuweisen, obwohl diese an Originalität gegen die vorher-
gehende Epoche des Beseht und seiner ersten Apostel stark
abfällt. Neb^n dem Triumph des praktischen Zaddikismus,
der mit „Wundern" operierte imd sich an den leichtgläubigen
Massen bereicherte, dauerte auch noch die Entwicklung der
Glaubenslehre als Fortsetzung der Beschtschen Lehre fort. Im
Norden verbreitete sich eine neue chassidische Lehre, die den
herzlichen Pietismus des Beseht mit der „Vemunftmäßigkeit"
der htauischen Bücherweisheit zu versöhnen suchte. Der
Schöpfer dieser Lehre, der schon erwähnte Held der rehgiösen
Kämpfe, Rabbi Schnejur-Salman, wollte den Chassidismus,
der entschieden dem Prinzip „credo quia absurdum" zustrebte,
rationalisieren. Die Ekstase des Gefühls verwandelte sich beim
Autor des „Tarda" in eine Ekstase des Gedankens; manchmal
spricht er von der Erkenntnis Gottes beinahe im Stile des
Maimonides. Rabbi Salman— lehnte den Kult der Zaddikim
in jener rohen Form des Wunderglaubens, die er im Süden an-
genommen hatte, entschieden ab.
Der Chassidismus ging seinen alten Weg im Süden, in der
Ukraine, Seine beiden Säulen — Rabbi Levi-JzchakBer-
ditschewer (gestorben 1809) imd Rabbi Nach um Tscher-
nobyler (gestorben 1799) hielten zum Teil noch die Traditionen
des Beseht aufrecht. Der erstere zeigte in seinem Werke „Ke-
326
duschath-I^evi" (1798) die ganze Herzenswärme der chassi-
dischen Lehre ohne deren krankhafte Überspanntheit. In seinem
persönlichen lieben war dieser Führer der wolhynischen Chassi-
dim eine Verkörperung der Menschenliebe und der I^iebe zum
gemeinen Volke. Von seiner glühenden I^iebe zu allen Erniedrig-
ten und Beleidigten berichten viele Volkslegenden. Rabbi
Nachum Tschernobyler, Zaddik und Prediger, der Wolhynien
und das Eliewer Gebiet bereiste, pflegte seine Predigten mit
kabbalistischen Elementen zu durchsetzen. In seinen letzten
I^ebensjahren betätigte er sich vorwiegend als „praktischer"
Zaddik und Wundertäter und gründete die in der Ukraine weit-
verzweigte „Tschernobyler" Zaddikim-Dynastie.
Ganz abseits steht der podolische Zaddik und Träumer
Nachman Bratzlawer (1772 — 1810), ein Urenkel von Beseht.
Von Natur aus reich poetisch begabt, ging er nicht die ausge-
tretenen Pfade der berufsmäßigen „Gerechten", sondern bahnte
sich seinen eigenen Weg. Sein Ziel war die Rückkehr zu der
kindlichen I^ehre des Beseht. In den Jahren 1798 — 99 machte
Nachman eine Reise nach Palästina. Um jene Zeit durchzog
das Heihge Land die Armee Napoleons, und ein Hauch des
stürmischen Europa fuhr über den schlummernden Orient.
Der podohsche Jüngling lauschte aber dem Raunen der Gräber
der großen KabbaUsten, Simon ben Jochai und Ari, und den
Stimmen der lebenden Zaddikim, die in Tiberias wohnten.
In die Heimat zurückgekehrt, ließ sich Nachman in Bratzlaw
nieder und stellte sich an die Spitze der podolischen Chassidim.
Im engsten Kreise predigte — oder genauer gesagt — phanta-
sierte er vom Reiche des Geistes und von der Einigung des
Zaddiks mit seiner Herde in der Ekstase des Glaubens ; er sprach
meistens in Aphorismen und kleidete seine Gedanken zuweilen
in die Form von Volksmärchen. Er verfaßte viele Werke („Likute
Maharan" u. a. m.), in denen er immer die Notwendigkeit des
blinden Glaubens ohne Klügelei verfocht. Die Philosophie hielt
er für ein Verderben für die Seele; Maimonides und die Ratio-
nalisten waren ihm verhaßt. Die „BerHner Aufklärung", die
er wenig kannte, flößte ihm eine dunkle Angst ein. Früh riß
sein Lebensfaden : von seinen Anhängern umgeben, starb er an
der Schwindsucht zu Uman, im 38. Lebensjahre. Sein Grab ist
auch heute noch für die „Bratzlawer Chassidim" eine heilige Stätte,
327
Doch der Durchschnittstypus eines Zaddiks, der sich in jenem
Zeitalter gebildet hatte, war in gleicher Weise von der geistigen
Kompliziertheit eines Rabbi Salman wie von der heiligen Ein-
falt eines Rabbi Nachman entfernt. Die Zaddikim vernach-
lässigten immer mehr den Beruf von Glaubenslehrern und wur-
den zu „Praktikern". Von einer Schar begeisterter Anhänger
umgeben, verstanden es diese „Mittler zwischen Gott und Volk",
ihren Nutzen aus dem blinden Glauben der Massen zu ziehen.
Sie bereicherten sich an Geschenken und dem „Lösegeld" und
wohnten in Palästen wie polnische Magnaten oder reiche Bischöfe.
Der „Hof" des Enkels von Beseht, Baruch Tultschiner,
(1780 — 1810) zu Medziboz zeichnete sich durch großen Prunk
aus; Baruch hatte sogar einen eigenen Hofnarren, Herschel
Ostropoler, der als Held von Volksschnurren weiterlebt. Zum
Typus der Wundertäter gehörten die Zaddikim des polnischen
Weichselgebiets, das um jene 2^it unter preußischer Herrschaft
stand und später unter das Protektorat Napoleons (Herzog-
tum Warschau) kam. Die beiden Pioniere des Chassidismus
in diesem Lande, Israel Kosenitzer und Jaakow-Jzchak
Lubliner (Hurwitsch), sahen in allen politischen und kultu-
rellen Krisen jener Zeit Vorboten des Messianischen Reiches.
Diese dunklen Seher witterten „die messianischen Geburtswehen"
im Zusammenbruch des patriarchalischen jüdischen Polens,
im stürmischen Siegeszuge Napoleons, in der Verbreitung des
Freidenkertums und darin, daß man die Juden zum Militärdienst
zu nehmen begaim. Aber dem chassidischen Dogma ,,des sorg-
losen Lebens" getreu, lebten diese beiden Zaddikim lustig
im lärmenden Kreise ihrer exaltierten Adepten, die ihnen reiche
Geschenke für die wundertätigen Talismane, Ratschläge und
Segnungen brachten. Im Jahre des Sturzes Napoleons erloschen
diese beiden Leuchten des polnischen Chassidismus, nachdem
sie noch den Beginn der russischen Herrschaft im Lande erlebt
hatten (1814 — 15).
Einflüsse der westlichen Aufklärung konnten in dieses voü
den beiden Mauern — dem Rabbinismus und dem Chassidismus
— geschützte Reich schwerlich eindringen. Und dennoch zeigte
sich hier und da auf der Oberfläche des jüdischen Lebens der
Schaum der fernen westhchen Brandung. Aus Deutschland
nahte den Grenzen Rußlands der freigeistige „Berliner" (so
328
nannte man damals allegmein die „neuen Menschen"). Er trug
den kurzen deutschen Rock, stutzte die Schläfenlocken, rasierte
den Bart, mißachtete die religiösen Bräuche, sprach deutsch
oder die „Sprache des I^andes" und schwor beim Namen Moses
Mendelssohns. Bs war eine noch sehr oberflächliche „Aufklä-
rung", die mehr auf das Äußere und die Kleidung als auf Geist
und Herz wirkte. Es- war das „Berlinertum", ein Vorbote der
weit komplizierteren „Haskala" der folgenden Epoche. Das
Berlinertum kam zuerst in Warschau auf, und zwar während
der zehnjährigen preußischen Herrschaft (1797 — 1806). Die
Verbindung zwischen der polnischen Hauptstadt und der preußi-
schen zeitigte ihre Früchte. Der europäische Stutzer aus Berlin
erschien auch in den Straßen Warschaus, und der Warschauer
Chassid im langen 15!af tan mußte oft verlegen dem „Aufgeklär-
ten" in deutscher Kleidimg Platz machen. Es kamen auch lite-
rarische Nachahmungen jüdisch-preußischer Vorbilder auf.
Im Jahre 1796 erschien in Warschau das Buch des Mendels-
sohnianers Jacques Calmanson: „Essai sur l'etat actuel
des Juifs en Pologne et leur perfectibilite"; es war französisch
geschrieben und dem preußischen Minister Grafen von Hoym.,
der in den polnischen Provinzen Preußens allerlei Reformen
einführte, gewidmet. Das Buch enthält eine Schilderung der
damaligen Verfassung der Juden und ein Projekt für die Re-
formierung ihres Lebens. Das nach westlichen Rezepten verfaßte
Werk verfocht den Standpunkt, daß das Unglück der Juden
in ihrer Absonderung, ihr Glück — in der Verschmelzung mit
den sie umgebenden Völkern liege. Das vom Juden Calmanson
vorgeschlagene Reformprojekt unterschied sich nur wenig
von den polnischen Projekten Butrimowiczs und Czackis.
Calmanson empfahl, die Gewalt der Rabbiner und Gemeinden
zu schwächen, die Chassidim und Zaddikim zu bekämpfen,
deutsche Tracht einzuführen, die Barte zu rasieren, deutsche
Schulen zu gründen imd den „Zivismus" zu pflegen. In den
folgenden Jahren (1807 — 12) bildete sich in dem von Napoleon
geschaffenen Herzogtum Warschau über dieser Schicht der
Berliner Mode eine Pariser Ablagerung. Eine Gruppe Warschauer
Stutzer forderte Gleichberechtigung zum Lohne „für die Ände-
nmg der Tracht und der moralischen Begriffe" (§44). Selbst
die ehrsamen Vertreter der Warschauer jüdischen Gemeinde
329
nannten sich in einer Petition an den Senat „Männer des
polnischen Volkes alttestamentarischer Konfession", eine
Nachahmung der letzten Pariser Mode ans der 2^it des Napo-
leonischen Synhedrions. Dies war die erste, noch naive und un-
überlegte Selbstversetzung aus der jüdischen Nationalität
in die polnische, der Keim der künftigen „Polen mosaischer
Konfession". Die Berliner Aufklärer aus dem Friedländerschen
Kreise tmterstützten eifrig diese Stimmimg und wandten sich
in ihrem „Hameassef" an ihre Brüder in Polen mit folgendem
Appell: „Wie lange werdet ihr noch eine verdorbene deutsche
Sprache (den Jargon), statt der Sprache eures I^andes — der
polnischen sprechen? Wieviel Unglück bliebe euren Vorfahren
erspart, wenn sie mit ihren Königen und Staatsmännern
gut polnisch zu sprechen verstünden! Greift doch beüebige
hundert- deutsche Juden heraus: sie verstehen entweder sämt-
lich oder zum größten Teü mit den Fürsten und Würdenträgern
zu sprechen; in Polen können es aber kaum fünf oder zehn von
hundert."
Selbst nach dem fernen Norden Rußlands kamen einige
Samen der westlichen „Aufklärung". Während der Revisions-
reise Derschawins durch Weißrußland predigte schon der Arzt
Frank aus Elreslawka, ein eifriger Anhänger Mendelssohns,
eine Reform der Religion und der Schule (§ 46). In Petersburg
lebte im Hause des Mäzens Abraham Perez sein einstiger I^ehrer
Lejb Newachowitsch, der aus der podolischen Stadt I^etit-
schew stammte. Während des Aufenthalts der jüdischen Dele-
gierten in Petersburg (1803) veröffentlichte Newachowitsch
eine Broschüre in russischer Sptache (die später auch hebräisch
erschien) unter dem Titel: „Die Wehklage der Tochter Israels",
mit einer Widmung an den Minister des Innern Kotschubej,
den Vorsitzenden des „Jüdischen Komitees". Die Tendenz
der „Wehklage" kommt schon in der Widmung zum Ausdruck:
es ist die Anbetung des „großen" Rußland und die Trauer über das
Schicksal der Stammesgenossen, die der „Glückseligkeit" dieses
Landes noch nicht teilhaftig sind. „So sehr die Siege und die
Macht des Russischen Reiches meine Seele erheben," schreibt
Newachowitsch, „so sehr ist sie auch durch den Schmerz meiner
Stammesgenossen bedrückt, die von den Herzen ihrer Lands-
leute verstoßen werden." In der ganzen Broschüre klagt die
330
„Tochter Israels", daß weder das XVIII. Jahrhundert, „das
Zeitalter der Menschenliebe, der Duldsamkeit und der Milde'*,
noch „der lächelnde I/Cnz des neuen Jahrhunderts, dessen
Beginn durch die Thronbesteigung Alexanders des Barmher-
zigen gekrönt ist", es vermocht hätten, die tief eingewurzelte
Feindschaft gegen die Juden auszurotten. „Das Geschlecht
der Juden ist von vielen Geistern der Verachtung preisgegeben.
Der Name ,Jude* ist zu einem Fluch- und Schimpfnamen für
die Kinder imd Unverständigen geworden." Unter Hinweis
auf Mendelssohn und Lessing ruft der Autor aus: „Ihr sucht
im Menschen den Juden! Sucht doch im Juden den Menschen,
ihr werdet ihn zweifelsohne finden." Das Buch Newachowitschs
schließt mit dem erbitterten Aufschrei: „Während die Herzen
aller europäischen Völker einander nahe gekommen sind, sieht
sich das jüdische Volk noch immer verachtet. Ich fühle die ganze
Last dieser Qual. Ich rufe allen Empfindsamen und Mitleidigen
zu : Wofür verdammt ihr mein ganzes Volk zur Verachtung ? . . .
So klagte die betrübte Tochter Israels, sie wischte sich die Augen,
seufzte und wurde immer untröstlicher ..." Der Autor selbst
tröstete sich aber recht bald: einige Jahre nach der Veröffent-
lichung der „"W ».nklage" fand er, da er sich noch immer „von
den Herzen der Landsleute verstoßen" sah, einen magischen
Schlüssel zu diesen Herzen: er ließ sich taufen, verwandelte
sich in einen „Ljew Alexandrowitsch" und begann belehrende
russische Dramen zu schreiben, die dem unverwöhnten Ge-
schmack des damaligen Publikums entsprachen. So führte
Newachowitsch sein „BerHnertum" zu dem effektvollen Ab-
schluß, der damals auch in Berlin, wo die Taufepidemie wütete,
Mode war. Diesem Beispiel folgte auch sein Mäzen, Abraham
Perez, der bei den Heereslieferungen im Jahre 1812 sein ganzes
Vermögen verloren hatte. Die Nachkommen beider bekleideten
später hohe Amter im russischen Staatsdienste.
Bin blasser Widerschein der westlichen aufklärerischen Lite-
ratur zeigte sich damals auch auf dem dunklen Horizonte Ruß-
lands. Mendel Lewin aus Satanow (1741 — 1819), der die
Gnade gehabt hatte, den Vater der Aufklärung, Moses Mendels-
sohn, in Berlin von Angesicht zu Angesicht zu sehen, machte
den Versuch, die neue Saat in seiner Heimat anzubauen. Er
übersetzte ins Hebräische die populäre Medizin von Tissot,
331
das System der lyebensmoral von Franklin und Reisebeschiei-
bungen von Kampe; auch versuchte er, die Sprüche Salomonis
und den Prediger in die Volkssprache, den „Jargon", zu über-
setzen. Dieser Versuch zog ihm den Zorn des Berditschewer
Schriftstellers Tobias Feder (gestorben 1817) zu, der ein
heftiges Pamphlet gegen die „Profanierung" der heüigen Bücher
durch die Übersetzung in die „Sprache der Straße" schrieb.
Feder selbst veröffentlichte Werke über hebräische Grammatik
und biblische Exegese, moralische Abhandlungen, harmlose
Satiren und Oden. Diese farblosen Werke bedeuten noch keinen
Umschwung im literarischen Schaffen, zeugen aber von einer
neuen Tendenz: neben dem rehgiösen — rabbinischen oder
chassidischen — Buch tauchte auch schon das weltliche
Buch auf, dessen bloßes Erscheinen ein Murren der erschrocke-
nen Orthodoxie hervorrief. Das waren die ersten Vorboten der
späteren Säkularisienmg der jüdischen Literatur.
332
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Die jüdische Welt am Vorabend des Jahres 1789
§ I. Die Grundlagen der alten Ordnung 7
§ 2. Deutschland 10
§ 3. Preußen 16
§ 4. Rechtlosigkeit und Aufklärung 19
§ 5. Österreich 25
§ 6. Frankreich 32
§ 7. Italien 4°
§ 8. Die Niederlande. England, Schweiz und Skandinavien 45
§ 9. Polen nach der ersten Teilung 50
§ 10. Rußland (Weißrußland) 62
§ II. Die außereuropäischen Länder 63
II. Die Hauptprozesse der neueren Geschichte der Juden
§ 12. Emanzipation und Reaktion 66
§ 13. Assimilation und nationale Bewegung 69
Erste Abteilung: Das Zeitalter der ersten Emanzipation
(1789— 181S)
I. Kapitel: Die Emanzipation der Juden in Frankreich unter der Revo-
lution und dem K£Liserreich
§ 14. Der Kampf um die Gleichberechtigung auf dem Boden der Deklaration
der Rechte 77
§ 15. Die Debatten in der Nationalversammltmg über die aktiven Bürger-
rechte der Juden 85
§ 16. Der Separatismus der Sephardim und die Anerkennung ihrer Gleich-
berechtigung 93
§ 17. Die Agitation der Pariser Kommune zugunsten der Juden ... 98
§ 18. Der weitere Kampf und die Proklamierung der Emanzipation . .105
§ 19. Patriotismus der Freiheit; Opfer der Schreckensherrschaft . . . 112
§ 20. Die ersten Früchte der Emanzipation (1796 — 1806) 120
§ 21. Napoleon und die Juden; dsis Dekret von 1806 125
§ 22. Versammlung der Notabein . 131
§ 23. Das große Synhedrion zu Paris 142
§ 24. „Das schmachvolle Dekret." 145
333
II. Kapitel: Die Emanzipation der Juden in den Ländern französischer
Herrschaft
§ 25. Holland (Batavische Republik und Königreich Holland) .... 154
§ 26. Italien (die Römische und Zisalpinische Republik und das Königreich
Italien) 166
§ 27. Die Schweiz (Helvetische Republik) 174
III. Kapitel: Emanzipationstendenzen und kultureller Umschwung in
Deutschland
§ 28. Allgemeine Lage 179
§ 29. Preußen: Rechtlosigkeit und „Reformentwürfe" 183
§ 30. Der Versuch eines religiösen Kompromisses im Kampfe für die
Gleichberechtigung; die judenfeindliche Literatur 188
§ 31. Der kulturelle Umschwung: Sittenrevolution und Taufepidemie 197
§32. Die Reformen in Preußen und das Gleichberechtigungsedikt von 1812 206
§ 33. Die Vorübergehende Emanzipation im Gebiete französischer Herr-
schaft (Westfalen, Frankfurt, Hansastädte) 212
§ 34. Die alte Ordnung und Reformversuche (Sachsen, Bayern, Mecklen-
burg, Baden) • 222
§ 35. Die neue Literatur und die neue Schule 229
IV. Kapitel: Die Stabilität der alten Ordnung in Österreich-Ungarn
§ 36. Allgemeine Politik . 234
§ 37. Das System der Normierung und Bevormundung in Böhmen und
Mähren 242
§ 38. Die Korrektionspolitik in Galizien ....'. 245
§ 39. Ungarn 250
§ 40. Der kulturelle Zustand 252
V. Kapitel: Das jüdische Polen während der letzten Teilungen
§ 41. Die jüdische Frage in der Literatur des Vierjährigen Reichstags . 256
§ 42. Die Stimme der Straße und die Reichstagskommission 261
§ 43. Die zweite und die dritte Teilung; Berek Joselewicz 266
§ 44. Das Herzogtum Warschau und die Napoleonische Reaktion . . . 271
VI. Kapitel: Das neue jüdische Zentrum in Rußland
§ 45. Die Legalisierung des „Ansiedlungsgebiets" (die letzten Regierungs-
jahre Katnarinas II.) 278
§ 46. Die Projekte einer Reglementierung des inneren jüdischen Lebens
(Regierung Pauls I.) 283
§ 47. Das „Komitee zur Wohleinrichtung der Juden" und das Statut von
1804 293
§ 48. Die Folgen des Gesetzes von 1804 : die Vertreibung aus den Dörfern 300
§ 49. Der Krieg von 1812 307
§ 50. Das Wirtschaftsleben und seine Krisen 310
§ 51. Die Krise der Selbstverwaltung; die Kahals und die Magistrate 315
§ 52. Das chassidische Schisma und die Einmischung der Regierung . .318
§ 53. Rabbinismus, Chassidismus, aufklärerische Einflüsse (das „BerUner-
tum") 325
334