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Full text of "Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes. [1789-1914]"

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P.  FELDHEIM 

Hebrew   Bookilore 
4S  ESSEX  ST. 


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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2009  with  funding  from 

University  of  Toronto 


Iittp://www.archive.org/details/dieneuestegeschi01dubn 


Dubnow, 

Die  neueste  Geschichte 
des  füdischen  Volkes 


DIE  NEUESTE  GESCHICHTE 
DES  JÜDISCHEN  VOLKES 

(1789- I9t4) 


Voi 


S.  M.  DUBNOW 


Deutsch     von     Alexander     Eliasbergf 


I.  Band 


19  2  0 
Jüdischer    Verlag     /     Berlin 


DIE  NEUESTE  GESCHICHTE 
DES  JÜDISCHEN  VOLKES 


L  Band 


Einleitung; 

Erste  Abteilung: 
Das  Zeltalter  der  ersten  Emanzipation 

(1789— J8J5) 


19  2  0 
Jüdischer     Verlag     /     Berlin 


Copyright  hy  the  JüdtocKer  Vwlag,  BetU»  1920 


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Oiuck 

det  Spamcnchen. 

Bnobdmckerei  in  Leipxle 


Einleitung 


L   Die  jüdische  Welt  am  Vorabend  des  Jahres  1789 

§  I,  Die  Grundlagen  der  alten  Ordnung.  Am  Vorabend  des 
Jahres  1789  hatte  die  politische  und  soziale  Lage  aller 
Gruppen  des  jüdischen  Volkes  in  aUen  Staaten  Europas  einen 
im  allgemeinen  gleichartigen  Charakter.  Überall  unterstanden 
die  Juden  einem  speziellen  Kodex  des  beschränkten  Rechtes, 
dem  eigenartigen  „jus  Judaicum",  das  an  manchen  Orten  an 
völlige  Entrechtung  grenzte  —  einem  Überbleibsel  des  Mittd- 
alters,  das  je  nach  den  lokalen  Verhältnissen  und  der  juri- 
stischen Findigkeit  der  Regierenden  oder  der  herrschenden  Elassen 
in  verschiedenen  Ländern  verschiedene  Schattierungen  aufwies. 
Diese  Grundfesten  der  alten  Ordnung  fanden  ihren  Ausdruck  in 
folgendem : 

A.  In  politischer  und  staatsbürgerlicher  Hinsicht  bildeten 
die  Juden  eine  eigenartige  Gruppe  von  Ausländern,  die  nirgends 
einen  eigenen  Staat  besaßen  und  daher  durch  völkerrechtliche 
Traktate  nicht  geschützt  waren.  Unter  mehr  oder  minder  be- 
schwerlichen Bedingungen,  die  von  der  Regierung  oder  auch  von 
den  feudalen  und  munizipalen  Behörden  der  betreffenden  Gegend 
diktiert  waren,  wurde  ihnen  gestattet,  in  bestimmten  Bezirken 
zu  wohnen  und  einige  Berufe  auszuüben.  Es  waren  dies  Ab- 
machungen zwischen  dem  Wirtsvolk  und  den  Ankömmlingen  (wenn 
auch  diese  „Ankömmlinge"  seit  einer  Reihe  von  Generationen 
in  der  betreffenden  Gegend  lebten),  die  i^e  Vorteüe  der  stärkeren 
Partei  zur  Grundlage  hatten :  dem , ,  AnkömmHng"  wurde  irgendeine 
dunkle  Ecke  als  Wohnstätte  zugewiesen,  auch  wurden  ihm  einige 
Kleingewerbe  freigestellt,  in  denen  seine  Konkurrenz  sich  dem 
„Einheimischen"  am  wenigsten  fühlbar  machen  sollte;  als  Er- 
satz dafür  mußte  er  ungeheure  Gebühren  als  Schutzgeld  an  die 
Schatzkammer  entrichten,  abgesehen  von  einer  ganzen  Menge 
anderer  spezieller  Besteuerungen.  In  den  meisten  Ländern  wurde 
allen  Versuchen,  die  der  Jude  machte,  um  das  ihm  zugewiesene 


engbemessene  Gebiet,  wie  auch  den  ihm  freigestellten  Kreis 
von  Berufen  zu  erweitern,  unüberwindliche  Hindernisse  in  den 
Weg  gelegt;  selbst  die  natürliche  Vermehrung  der  Juden  wurde 
mancherorten  von  den  Behörden  in  offizieller  Weise  verboten, 
indem  die  letzteren  die  Zahl  der  Eheschließungen  regelten  und 
dem  Zuwachs  der  Bevölkerung  einen  Damm  entgegensetzten. 
Die  harte  Reglementierung  des  jüdischen  Lebens  wurde  in  den 
beiden  Hauptzentreu  der  westeuropäischen  Judenheit,  Deutsch- 
land und  Österreich,  auf  die  Spitze  getrieben.  In  den  dichten 
Massen  der  osteuropäischen  Judenheit  (Polens  und  seines  Erben 
Rußland)  hat  die  Reglementierung  der  elementaren  Rechte  des 
Juden  das  Gesetz  der  Vermehrung  in  direkter  Weise  nicht  an- 
getastet, aber  im  absterbenden  Polen  wurde  das  Leben  des  Juden 
durch  spezielle,  von  den  Königen,  dem  Adel  oder  den  Munizipal- 
behörden ausgehende  Konzessionen  geregelt,  die  ihn  als  An- 
gehörigen einer  abgesonderten,  außerhalb  aller  Staatsbürgerlich- 
keit stehenden  Kaste  behandelten;  in  den  an  Rußland  abgetre- 
tenen polnischen  Provinzen  hingegen  machten  sich  schon  Ten- 
denzen zur  Schaffung  einer  die  Juden  betreffenden  ausschließ- 
lichen Gesetzgebung  geltend. 

B.  Mit  dieser  staatsbürgerlichen  Ausschließlichkeit  ging 
auch  die  wirtschaftliche  Hand  in  Hand.  Die  Regierenden, 
die  herrschenden  Stände,  die  Magistrate,  Zünfte  und  Gilden 
drängten  die  jüdische  Masse  in  einen  sehr  engen  Kreis  von 
Berufen  und  Gewerben  hinein.  Von  allen  wirtschaftlichen  Be- 
tätigungsarten wurden  den  Juden  im  westlichen  Europa  nur 
der  Kleinhandel  und  dfer  Wucher  zur  Verfügung  gestellt  (selbst 
zum  Handwerk  wurde  ihnen  in  den  meisten  Fällen  der  Zutritt 
verwehrt);  m  Südfrankreich,  Holland  und  England  konnte  man 
hin  und  wieder  Großkaufleuten,  Fabrikanten  imd  Bankiers  be- 
gegnen; aber  in  Preußen  und  Österreich  traten  solche  erst 
gegen  das  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  hervor,  als  die  „auf- 
geklärten" Monarchen  Friedrich  II.  und  Joseph  II.  die  Fabrik- 
industrie der  Juden  zu  fördern  suchten;  darin  lag  aber 
schon  der  Ansatz  zu  einer  außerhalb  der  Volksmasse  stehen- 
den Geldherrschaft.  Im  östlichen  Europa  waren  es  vornehm- 
lich das  Kleinhandwerk  und  der  Handel,  die  Pacht  verschie- 
dener Zweige  der  Landwirtschaft  auf  den  Landgütern,  ins- 
besondere die  Pacht  der  sogenannten  „Propination"  oder  der 

8 


Branntweinverkauf  in  den  Städten  und  Dörfern,  die  die  wirt- 
schaftlichen Betätigungsarten  der  Juden  bildeten.  Die  in  die 
Schlupfwinkel  der  Volkswirtschaft  gewaltsam  hineingedrängte, 
notleidende  jüdische  Masse,  deren  wirtschaftliche  Position  durch 
ihre  geringfügigen  und  vom  Zufall  abhängigen  Verdienste  keines- 
wegs gesichert  war,  diente  für  die  Umwelt  als  Sinnbild  der  wirt- 
schaftlichen Ausgestoßenheit.  Solche  aufgezwungenen  Gewerbe, 
wie  der  Wucher  im  Westen  und  die  Schankwirtschaft  im 
Osten,  verschärften  das  Erniedrigende  in  ihrer  Stellung 
und  weckten  feindselige  Gefühle  gegen  diese  Stiefkinder  des 
Vaterlandes. 

C.  In  nationaler  Hinsicht  bildete  die  jüdische  Masse  der 
Diaspora  bis  in  das  Jahr  1789  hinein  eine  in  sich  geschlossene, 
charakteristische  Einheit  von  eigenartiger  Gestaltung  des  Ge- 
meinde- und  Geisteslebens.  Ein  Ergebnis  dieser  I^ebensgestaltung 
ist  die  staatlich  anerkannte  Gemeindeautonomie  der  Juden.  Ein 
gewisser  geschichtlicher  Prozeß  brachte  es  mit  sich,  daß  tief- 
greifende Faktoren  nationaler  Natur  im  Leben  der  jüdischen 
Masse  mit  solchen  religiöser  Natur  so  eng  verwoben  waren,  daß 
es  einem  außenstehenden  Beobachter  scheinen  konnte,  als  sei 
hier  die  Einheit  lediglich  auf  rein  religiöser  Grundlage,  auf  der 
Gemeinschaft  des  Glaubens  und  der  Riten  aufgebaut.  Daher  die 
Meinimgsverschiedenheit  in  der  Definition  des  Judentums  sei- 
tens der  umgebenden  Gesellschaft:  Für  die  einen  ist  das  Juden- 
tum eine  scharf  ausgeprägte  stammeseinheitliche  und  nationale 
Individualität,  die  in  der  Hoffnung  auf  den  Wiederaufbau  ihrer 
Staatlichkeit  in  der  Gestalt  des  messianischen  Reiches  lebt;  für 
die  anderen  wiederum  ist  es  bloß  eine  religiöse  Gruppe  oder 
Sekte,  die  unter  günstigen  Umständen  einen  Bestandteü  der 
umgebenden  Nationen  ausmacht  oder  ausmachen  kann.  Seit  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  seit  der  Epoche  der  ,, Auf- 
klärung", bringt  diese  Meinungsverschiedenheit  eine  Entzweiung 
in  die  jüdische  Gesellschaft  hinein.  Die  Grundfesten  der  Ge- 
meinde-Autonomie, die  einen  jahrhundertelangen  Bestand  auf- 
zuweisen hatte,  beginnen  zu  wanken.  Im  Westen  —  unter  den 
Schlägen  des  „aufgeklärten  Absolutismus",  der  die  Abgesondert- 
heit des  Judentums  als  ein  Verbrechen  betrachtete.  Im  Osten  — 
infolge  der  Zersetzung  des  polnischen  Zentrums  der  zwischen 
Preußen,  Österreich  und  Rußland  verteilten  Judenheit. 


D.  Auf  dem  Gebiete  der  geistigen  Kultur  tritt  zu  dieser 
Zeit  zuerst  die  Spaltung  zwischen  den  zwei  maßgebenden  Zentren 
des  alten  Judentums  —  Deutschland  und  Polen  —  zutage.  Wäh- 
rend die  alte  Kultur  in  Polen,  die  aus  dem  Rabbinismus  keine 
genügende  Nahrung  gezogen,  einen  neuen  lyebensbora  in  dem 
Chassidismus  entdeckt  und  für  eine  gewisse  Zeit  diese  Position 
festigt  —  entsteht  ihr  in  Deutschland  eine  Gegnerin  in  Gestalt 
der  in  der  Mendelssohnschen  Epoche  aufgetauchten , , Aufklärtmg" . 
Die  Bestrebungen  dieser  Bewegung  gehen  in  ihren  gemäßigten 
Elementen  darauf  aus,  der  jüdischen  Kultur  eine  neue  Gestalt 
zu  geben,  in  ihren  extremen  Elementen  hingegen  diese  Kultur 
zu  zerstören.  Die  Ergebnisse  dieser  beiden  einander  widerstrei- 
tenden Tendenzen  werden  erst  nach  dem  Jahre  1789  in  die  Er- 
scheinung treten. 

Die  alte  Ordntmg  behauptete  sich  auf  diese  Weise  am  Vor- 
abend des  Jahres  1789  in  ihrer  ganzen  Macht  im  wirtschaftlichen 
und  staatsbürgerlichen  Leben,  und  nur  auf  dem  national-kul- 
turellen Gebiete  traten  hie  und  da  die  ersten  Anzeichen  einer 
Umbüdung  auf.  Wollen  wir  nun  untersuchen,  wie  sich  das  alte 
Regime  in  den  einzelnen  Ländern  äußert. 

§  2.  Deutschland.  In  seinem  bekannten  Buche  unter  dem 
Titel  „Über  die  bürgerliche  Verbesserung  der  Juden"  (Berlin 
1781)  gibt  uns  Christian  Wilhelm  Dohm  ein  Bild  der  Rechtlosig- 
keit der  Juden  in  dem  zersplitterten  Deutschland  und  dem  üim 
verwandten  französischen  Elsaß.  Dieses  Büd,  das  ein  preußischer 
Publizist  und  Beamter,  der  im  Namen  der  St;..atsräson  gemäßigte 
Reformen  forderte,  entwirft,  zeichnet  sich  durch  eine  beinahe 
offizielle,  auf  Tatsachen  fußende  Genauigkeit  und  Exaktheit  aus. 

„In  einigen  Staaten,"  sagt  Dohm,  ,,hat  man  ihnen  den  Auf- 
enthalt ganz  versagt,  und  erlaubt  nur  für  einen  gewissen  Preis 
den  Reisenden,  des  landesherrlichen  Schutzes  für  eine  kurze  Zeit 
(oder  für  eine  Nacht)  zu  genießen.  In  den  meisten  andern  Staaten 
aber  hat  man  die  Juden  nur  imter  den  lästigsten  Bedingimgen 
nicht  sowohl  zu  Bürgern  als  zu  Einwohnern  und  Unterthanen 
aufgenommen.  Nur  einer  gewissen  Anzahl  jüdischer  Familien 
ist  es  meistens  erlaubt,  sich  in  einem  Lande  niedeizulassen,  und 
diese  Erlaubnis  ist  gewöhnlich  nur  auf  gewisse  Orte  einge- 
schränkt und  muß  allemal  mit  einer  anselmlichen  Summe  Geldes 
erkauft  werden  .  .  .  Hat  ein  jüdischer  Vater  mehrere  Sohne,  so 


10 


kann  er  gewöhnlich  die  Begünstigung  des  Daseyns  in  dem 
Lande  seiner  Geburt  nur  auf  einen  derselben  fortpflanzen,  die 
übrigen  muß  er  mit  einem  abgerissenen  Theüe  seines  Vermögens 
in  fremde  Gegenden  ausschicken,  wo  sie  mit  gleichen  Hinder- 
nissen zu  kämpfen  haben.  Bey  seinen  Töchtern  kön^mt  es  darauf 
an,  ob  er  glücklich  genug  ist,  sie  in  einer  der  wenigen  Familien 
seines  Ortes  einzuführen.  Selten  kann  also  ein  jüdischer  Vater 
das  Glück  genießen,  unter  seinen  Kindern  und  Enkeln  zu  leben, 
den  Wohlstand  seiner  Familie  auf  eine  dauerhafte  Art  zu  gründen. 
Denn  auch  der  wohlhabende  wird  durch  die  nothwendige  Tren- 
nung seiner  Kinder  und  die  Kosten  ihres  Etablissements  an  ver- 
schiedenen Orten,  zu  einer  beständigen  Zerreißung  seines  Ver- 
mögens gezwimgen.  Hat  man  dem  Juden  die  Erlaubnis,  sich  in 
dem  Staate  aufzuhalten,  bewilligt,  so  muß  er  dieselbe  jährlich 
durch  eine  starke  Abgabe  wieder  erkaufen,  er  darf  sich  nicht 
ohne  besondere  Erlaubnis,  die  von  gewissen  Umständen  ab- 
hängt, und  nicht  ohne  neue  Kosten  verheyrathen ;  jedes  Kind 
vermehrt  die  Größe  seiner  Abgaben,  und  fast  alle  seine  Hand- 
lungen sind  damit  belegt .  .  .  Und  bey  diesen  so  mannigfaltigen 
Abgaben  ist  der  Erwerb  des  Juden  auf  das  äußerste  beschränkt. 
Von  der  Ehre,  dem  Staat  sowohl  im  Frieden  als  im  Kriege  zu 
dienen,  ist  er  allenthalben  ganz  ausgeschlossen;  die  erste  der 
Beschäftigungen,  der  Ackerbau,  ist  ihm  allenthalben  imtersagt, 
und  fast  nirgends  kann  er  liegende  Gründe  in  seinem  Namen 
eigenthümlich  besitzen.  Jede  Zunft  würde  sich  entehrt  glauben, 
wenn  sie  einen  Beschnittenen  zu  ihrem  Genossen  aufnähme,  und 
daher  ist  der  Hebräer  fast  in  allen  Landen  von  den  Handwerken 
und  mechanischen  Künsten  ganz  ausgeschlossen.  Nur  seltenen 
Genies  (die,  wenn  vom  Ganzen  der  Nation  die  Rede  ist,  nicht 
gerechnet  werden  könifen)  bleibt  bey  so  vielen  niederdrückenden 
Umständen  noch  Muth  und  Heiterkeit,  sich  zu  den  schönen 
Künsten  oder  den  Wissenschaften  zu  erheben,  von  denen,  zu- 
gleich als  Weg  des  Erwerbs  betrachtet,  nur  allein  Meßkunst, 
Naturkunde  und  Arzneygelahrtheit  dem  Hebräer  übrig  bleiben. 
Und  auch  diese  seltenen  Menschen,  die  in  den  Wissenschaften 
und  Künsten  eine  hohe  Stufe  erreichen,  sowie  die,  welche  durch 
die  untadelhafteste  Rechtschaffenheit  der  Menschheit  Ehre 
machen,  können  nur  die  Achtung  weniger  Edlen  erwerben;  bey 
dem  großen  Haufen  machen  auch  die  ausgezeichnetsten  Ver- 

ir 


dienste  des  Geistes  und  Herzens  den  Fehler  nie  verzeiWich  — 
ein  Jude  zu  seyn.  Diesem  Unglücklichen  also,  der  kein  Vater- 
land hat,  dessen  Tätigkeit  allenthalben  beschränkt  ist,  der 
nirgend  seine  Talente  frey  äußern  kann,  an  dessen  Tugend 
nicht  geglaubt  wird,  für  den  es  fast  keine  Ehre  gibt  —  ihm 
bleibt  kein  andrer  Weg,  des  vergünstigten  Daseyns  zu  genießen, 
sich  zu  nähren,  als  der  Handel.  Aber  auch  dieser  ist  durch  viele 
Einschränkungen  und  Abgaben  erschwert,  und  nur  wenige 
dieser  Nation  haben  so  viel  Vermögen,  daß  sie  einen  Handel  im 
Großen  unternehmen  können.  Sie  sind  also  meistens  auf  einen 
sehr  kleinen  Detaühandel  eingeschränkt,  bey  dem  nur  die  öftere 
Wiederholung  kleiner  Gewinne  hinreichen  kann,  ein  dürftiges 
Ircben  zu  erhalten;  oder  sie  werden  gezwungen,  ihr  Geld,  das 
sie  selbst  nicht  benutzen  können,  an  andere  zu  verleihen." 

m  den  zahlreichen  großen  und  kleinen  Staaten,  in  die  das  da- 
malige Deutsche  Reich  zerfiel,  varüerte  die  gegen  die  Juden 
gerichtete  Politik  der  Unterdrückung  nur  innerhalb  der  Grenzen 
der  obenerwähnten  Grundnormen.  Den  drückendsten  Beschrän- 
kungen unterlag  das  Recht  der  Freizügigkeit.  An  allen  Grenz- 
stationen der  dreihundert  Zwergstaaten  des  damaligen  Deutsch- 
lands waren  dem  gehetzten  Tiere  —  dem  Juden  —  Fallen  ge- 
stellt. Wenn  ein  Jude  von  dem  einen  Staat  in  den  anderen, 
oft  auch  von  der  einen  Stadt  in  die  andere  innerhalb  der 
Grenzen  desselben  Landes  hinüberkam,  so  mußte  er  bei  seiner 
Ankunft  am  Bestimmungsort  dieselbe  Steuer  entrichten,  die 
für  die  Einfuhr  von  Vieh  festgesetzt  war.  Es  war  dies  der  schänd- 
liche Leib-  oder  Geleitzoll  (Judengeleit),  der  den  reisenden  Juden 
zur  Zielscheibe  des  Spottes  an  den  Toren  und  Grenzstationen 
vieler  deutscher  Städte  machte.  Und  nur  die  privüegierten  so- 
genannten Schutz-  oder  Geleitjuden  konnten  sich  unter  Beob- 
achtung erniedrigender  Formalitäten  bei  Reisen  auf  dem  Gebiete 
des  sie  beherbergenden  Staates  von  diesen  Abgaben  befreien, 
aber  an  der  Grenze  der  Besitztümer  irgendeines  anderen  Herzogs* 
Fürsten  oder  Kurfürsten  angelangt,  waren  auch  diese  Juden  ver- 
pflichtet, den  Leibzoll  zu  zahlen.  Als  der  bereits  berühmt  ge- 
wordene Denker  Moses  Mendelssohn  im  Jahre  1776  in  die  Haupt- 
stadt Sachsens,  Dresden,  einzog,  wurde  er  an  der  Grenze  an- 
gehalten und  gezwungen,  den  Leibzoll  nach  der  für  einen 
,, polnischen    Stier"    festgesetzten    Taxe    zu    zahlen,    wie   sich 

12 


der    beleidigte    Berliner    Weise    nachher    mit    bitteres    Ironie 
ausdrückte. 

Nach  der  „Judenordnung"  von  1746  war  es  den  Juden  er- 
laubt, in  Sachsen  (Dresden  und  Leipzig),  diesem  protestantischen 
Spanien,  unter  sehr  lästigen  Bedingungen  und  in  begrenzter 
Zahl  zu  wohnen.  Es  war  ihnen  verboten,  ein  Bethaus  behufe 
öffentlichen  Gottesdienstes  zu  besitzen,  und  sie  waren  genötigt, 
ihre  Gebete  unauffällig  imd  leise  in  einem  privaten  Hause  zu 
verrichten;  ferner  war  es  ihnen  verboten,  Häuser  zu  erwerben, 
Gewerbe  und  Handel  zu  treiben;  und  nur  der  Handel  mit 
alten  Kleidern  und  das  Wechselgeschäft  waren  ihnen  gestattet. 
Alle  diese  Härten  wurden  in  der  Folge  {1767,  1772 — 73)  noch 
verschärft.  Die  Polizei  paßte  scharf  auf,  daß  in  den  Häusern 
der  „geduldeten"  Juden  sich  nicht  ihre  kein  Wohnrecht  habenden* 
Stammesgenossen  heimlich  aufhielten.  Das  Schutzgeld  wurde 
bis  zu  der  ungeheuren  Summe  von  70  Talern  für  jeden  Familien 
vater,  von  30  Talern  für  dessen  Frau  und  5  Talern  für  jedes 
von  seinen  Kindern  erhöht.  Für  eine  Heiratserlaubnis  wurden 
40  Taler  erhoben.  Viele  Famüien,  die  die  Last  dieser  vSteuern 
nicht  zu  ertragen  vermochten,  sahen  sich  der  Ausweisung  aus 
Dresden  ausgeliefert,  und  nur  dem  Eingreifen  Mendelssohns  ist 
es  zu  verdanken,  daß  die  Vertreibung  vieler  Hunderte  von  Un- 
glücklichen nicht  zur  Ausführung  kam. 

Das  katholische  Bayern  wetteiferte  mit  der  Geburtsstätte  des 
Protestantismus  in  der  Unterdrückung  der  Juden.  Hier  hatten 
die  Juden  ihre  in  sich  abgeschlossenen  Gemeinden  oder  Ghetti 
nur  in  einigen  Städten ;  an  vielen  Orten  war  ihnen  das  Wohnen 
untersagt;  nur  in  Handelsangelegenheiten,  und  für  kurze  Dauer 
unter  polizeüicher  Bewachung,  nach  Art  der  Sträflinge  (,, leben- 
diges Geleit"  in  Nürnberg)  wurde  ihnen  der  Zutritt  zu  diesen 
Orten  gewährt,  und  nur  in  Fürth  gelang  es  den  Juden,  eine 
rege  kommerzielle  Tätigkeit  zu  entfalten. 

Zur  besonderen  Blüte  gelangte  das  mittelalterliche  Ghetto- 
regime in  der  freien  Reichsstadt  Frankfurt  a.  M.,  wo  sich  eine 
der  größten  jüdischen  Gemeinden  Deutschlands  befand.  Die  die 
Stadt  verwaltende  bürgerliche  Oligarchie,  von  lutherischer  Un- 
duldsamkeit und  Krämergeist  durchdrungen  (auch  Katholiken 
und  Reformierte  waren  in  ihren  Rechten  beschnitten),  zwäng- 
ten den  Juden  in  das  dunkelste  Kellerloch  des  gesellschaftlichen 

13 


Gebäudes.  Nicht  umsonst  wurde  das  Frankfurter  Ghetto  oder 
die  „Judengasse"  „das  neue  Ägjqpten"  genannt.  Ungefähr  500 
jüdische  Familien,  unter  denen  sich  viele  wohlhabende  und  ge- 
bildete Menschen  befanden,  waren  in  einem  entsetzlich  engen 
Ratime  zusammengepfercht.  Keinem  einzigen  Juden  war  es 
erlaubt,  außerhalb  der  Grenzlinie  des  Judenviertels  zu  wohnen. 
Die  Ghettobewohner  durften  sich  nur  am  Tage  in  die  Stadt 
begeben,  an  Sonntagen  jedoch  mußten  sie  auch  am  Tage  im 
Ghetto  bleiben.  Mit  dem  Anbruch  der  Nacht  wurde  das  Ghetto- 
tor verriegelt,  und  eine  Polizeipatrouille  wachte  darüber,  daß 
niemand  ohne  zwingenden  Grund  herauskam.  In  emem  dieser 
Sklavenhäuser  wurde  im  Jahre  1786  Ludwig  Börne  geboren, 
der  sich  in  der  Folge  einen  ruhmreichen  Namen  als  Kämpfer 
für  politische  Freiheit  erwarb  und  der  seine  ersten  Kindheits- 
eindrücke vom  Frankfurter  Ghetto  in  folgenden  Zeüen  voll 
beißenden  Spottes  schilderte: 

„Ehemals  wohnten  sie  in  einer  eigenen  Gasse,  und  dieser 
Fleck  war  bestimmt  der  bevölkertste  auf  der  ganzen  Erde ,  .  . 
Sie  erfreuten  sich  der  zärtlichsten  Sorgfalt  ihrer  Regierung. 
Sonntags  durften  sie  ihre  Gasse  nicht  verlassen,  damit  sie  von 
Betrunkenen  keine  Schläge  bekämen.  Vor  dem  25.  Jahre  durften 
sie  nicht  heiraten,  damit  ihre  Kinder  stark  und  gesund  würden. 
An  Feiertagen  durften  sie  erst  um  sechs  Uhr  abends  zum  Tore 
hinausgehen,  daß  die  allzu  große  Sonnenhitze  ihnen  nicht  schade. 
Die  öffentlichen  Spaziergänge  außerhalb  der  Stadt  waren  ihnen 
untersagt,  man  nötigte  sie,  ins  Feld  zu  wandern,  um  ihren  Sinn 
für  Landwirtschaft  zu  erwecken.  Ging  ein  Jude  über  die  Straße, 
und  ein  Christ  rief  ihm  zu:  Mach  Mores,  Jud'!  —  so  mußte  er 
seinen  Hut  abziehen;  durch  diese  höfliche  Aufmerksamkeit 
sollte  die  Liebe  zwischen  beiden  Religionsparteien  befestigt 
werden.  Mehrere  Straßen  der  Stadt,  die  ein  schlechtes  unbe- 
quemes Pflaster  hatten,  durften  sie  niemals  betreten." 

Den  Ghettobewohnern  war  es  verboten,  sich  während  öffent- 
licher Prozessionen  und  Feierlichkeiten  auf  den  Straßen  zu 
zeigen.  Am  Krönimgstage  des  Kaisers  Leopold  II.  wurden  von 
der  Stadtkanzlei  Passierscheine  folgenden  Inhalts  gnädigst  aus- 
gestellt: Der  Inhaber  dieses  darf  sich  am  bevorstehenden  Krö- 
nungstage in  die  Stadt  begeben,  um  der  Feier  aus  den  Fenstern 
irgendeines  Hauses  oder  von  einem  Gerüste  aus,  aber  keineswegs 

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auf  der  Straße  zuzuschauen.  Bei  einer  Bevölkerungszahl  von 
500  Familien  durfte  die  Norm  der  jüdischen  Eheschließungen 
in  Frankfurt  die  Zahl  12  nicht  überschreiten. 

Die  Fürsten  und  Regierungen  der  deutschen  Staaten  mach- 
ten kein  Hehl  aus  den  Beweggründen  ihrer  gegen  die  Vermeh- 
rung der  Juden  gerichteten  Pharaonenpolitik.  Der  mecklen- 
burgische Herzog  Friedrich  Franz  I.,  der  im  Rufe  eines  ,  liberal 
Denkenden"  stand,  verordnete  gleich  nach  seiner  Thronbestei- 
gung, daß  den  Juden  keine  ,, Schutz briefe"  —  Aufenthalts- 
bewilligungen —  über  die  einmal  festgesetzten  Normen  hinaus 
ausgestellt  werden  dürfen,  ,,bis  einTeü  der  früheren  Schutzjuden 
aussterben  und  dadurch  ihren  Glaubensgenossen  die  Möglich- 
keit eines  Unterhalts  eröffnen  wird";  erwachsene  Söhne  durften 
nicht  auf  Grund  des  Wohnrechtes  ihrer  Eltern  sich  im  Lande 
aufhalten,  sondern  mußten  den  Nachweis  liefern,  daß  sie  über 
ein  eigenes  Kapital  oder  gesicherte  Einnahmen  verfügen.  Die 
Regulierung  der  jüdischen  Bevölkerung  wurde  hier  mit  der 
Sorge  um  ihre  Nahrungsquellen  bemäntelt ;  zu  gleicher  Zeit  aber 
trafen  Regenten,  Magistrate  und  Zünfte  allerhand  Maßnahmen, 
um  den  Juden  die  meisten  dieser  Quellen  zu  verschließen,  und 
dadurch  der  Ausweisung  ihres  ,, Überflusses"  eine  gesetzliche 
Begründung  zu  geben.  Die  Nichtzulassung  der  Juden  zu  den 
Zunftgewerben  motiviert  die  badische  Regierung  damit,  daß 
die  Juden  bei  ihren  Fähigkeiten  in  manchen  Zweigen  Ge- 
schicklichkeit erreichen  und  die  Verdienste  an  sich  reißen  wür- 
den". 

Rücksichten  der  Handelskonkurrenz  lagen  ebenfalls  all  jenen 
drückenden  Erschwerungen  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  zu- 
grunde, unter  denen  die  große  jüdische  Kolonie  der  Industrie- 
stadt Hamburg  lebte.  Viele  Zweige  des  Handels  und  des  Hand- 
werks waren  den  Juden  unzugänglich.  Der  Erwerb  von  un- 
beweglichen Gütern  war  ihnen  untersagt;  in  die  städtischen 
Schulen  wurden  Kinder  jüdischer  Eltern,  selbst  wenn  sie  wohl- 
habenden und  gebildeten  Familien  angehörten,  nicht  aufge- 
nommen. Bei  der  Ankunft  in  eine  Stadt  mußte  ein  Jude  aus 
einer  anderen  Stadt  den  ,, Geleitsgulden"  und  dann  noch  den 
Schutztaler  zahlen.  Das  Ansiedelungsgebiet  der  Juden  in  Ham- 
burg war  begrenzt,  wenn  auch  nicht  so  abgeschlossen  wie  das 
Frankfurter  Ghetto. 

15 


§  3-  Preußen.  Die  Reglementierung  dei  staatsbürgerlichen 
Knechtung  der  Juden  artete  nirgends  in  solche  Ungeheuerlich- 
keiten aus,  wie  in  Preußen  zur  Aufklärungszeit  Friedrichs  II., 
des  Großen.  Hier  war  das  ganze  Leben  der  Juden  durch  die 
harten  Paragraphen  des  Friederizianischen  „Reglements  für 
die  Juden"  (1750)  wie  mit  ehernen  Fesseln  umklammert.  Seiner 
inneren  Tendenz  nach  unterschied  sich  dieses  Reglement,  die 
Frucht  der  schöpferischen  Phantasie  eines  an  die  kirchlichen 
Satzungen  nicht  glaubenden,  freidenkerischen  Königs  nur  sehr 
wenig  von  den  mittelalterlichen  kanonischen  Statuten  und  der 
judenfeindlichen  Gesetzgebtmg  des  westgotischen  Spaniens. 

Durch  das  Reglement  von  1750  und  die  nachträglichen  Er- 
läuterungen zu  diesem  wurden  die  Juden  des  Königreichs 
Preußen  unter  die  zwei  Hauptkategorien  der  Schutz-  und  der 
geduldeten  Juden  gebracht.  Die  Schutzjuden  zerfielen  ihrerseits 
nach  M£U3gabe  der  ihnen  gewährten  Rechte  in  drei  Gruppen; 
I.  Die  Generalprivilegierten  genossen  das  Wohn-  und  Gewerbe- 
recht auf  Grund  eines  königlichen  Privüegs,  das  sich  auf  alle 
ihre  Famüienangehörigen  und  auf  alle  den  Juden  als  Wohn- 
stätte angewiesenen  Orte  erstreckte.  2.  Die  ordentlichen  Schutz- 
juden wohnten  auf  Grund  eines  Schutzbriefes,  in  welchem  ge- 
nau angegeben  wurde,  in  welchen  Orten  sie  sich  aufhalten, 
welche  Gewerbe  sie  treiben  durften,  und  auf  welche  Familien- 
angehörigen sich  diese  Genehmigung  erstreckte;  die  ordentlichen 
Schutzjuden  durften  ihre  Rechte  nur  auf  eines  ihrer  Klinder 
übertragen,  aber  im  Falle  einer  besonderen  Befürwortung  und 
unter  der  Bedingung  eines  soliden  Kapitalbesitzes  durften  sie 
es  auch  auf  zwei  Klinder  übertragen;  den  anderen  Kindern  war 
das  Handelsrecht  entzogen.  3.  Die  außerordentlichen  3chutz- 
juden  genossen  das  persönliche,  lebenslängliche  Recht,  sich  in 
einem  bestimmten  Orte  aufzuhalten  und  ein  bestimmtes  Ge- 
werbe zu  betreiben,  aber  dieses  Recht  konnte  auf  ihre  Kinder 
nicht  übertragen  werden;  zu  dieser  Gruppe  gehörten  Ärzte, 
Maler  und  andere  freie  Gewerbe  ausübende  Personen.  Der  Ka- 
tegorie der  ,, geduldeten  Juden"  gehörten  Personen  an,  die  ein 
Amt  in  der  Gemeinde  ausübten  (Rabbiner,  Vorbeter,  Schächter), 
die  EÜnder  der  „ordentlichen",  außer  den  beiden  älteren,  sämt- 
liche Kinder  der  ,, außerordentlichen"  Juden,  das  Hausgesinde 
u.  a. ;  ihnen  war  in  verschiedenem  Grade  verboten,  Gewerbe  und 

16 


Handel  zu  treiben  und  Ehen  untereinander  zu  schließen  (nur 
durch  Verschwägerung  war  ihnen  die  Möglichkeit  geboten,  in 
die  Familien  der  „privilegierten"  Juden  einzutreten).  Über  die 
Beobachtung  aU  dieser  drakonischen  Gesetze  wachte  ein  von 
der  Regierung  eingesetztes  Generaldirektorium,  bestehend  aus 
Mitgliedern  des  Ministeriums  des  Innern  und  des  der  Finanzen, 
das  alle  jüdischen  Angelegenheiten  in  Preußen  unter  seiner  Auf- 
sicht und  Leitung  hatte. 

In  der  von  den  Abgeordneten  der  jüdischen  Gemeinden  der 
preußischen  Regierung  im  Jahre  1787  überreichten  Denkschrift 
werden  alle  Belastungen  und  Einschränkungen  aufgezählt,  die 
das  Leben  der  Juden  in  Preußen  vergällten.  Die  speziellen 
Besteuenmgen  nahmen  ungeheure  Dimensionen  an. 

Im  Vordergrunde  stand  das  sogenannte  Schutzgeld,  das  der 
Staatskasse  eine  jährliche  Einnahme  von  25  000  Talern  brachte 
imd  von  der  gesamten  jüdischen  Kolonie  Preußens  unter  gegen- 
seitiger Bürgschaft  gezahlt  wurde.  Dann  folgten :  die  Rekruten- 
steuer, die  Süberakzise  (kein  Mensch  weiß,  wofür  diese  Steuer 
erhoben  wird  —  erklären  die  Deputierten),  eine  Steuer  für 
die  Bestätigung  der  jede  drei  Jahre  erfolgenden  Wahlen  der 
Vertreter  der  Gemeinde,  die  Feuerwehrgebühr,  verschiedene 
Arten  der  Stempelsteuer  und  viele  andere.  Als  sehr  charakte- 
ristisch erscheint  die  bei  Ausfertigung  von  EhebewiUigungeu 
für  jede  unter  den  Juden  geschlossfene  Ehe  erhobene  „Ehe- 
steuer" ;  die  Steuerzahler  zerfielen  in  einige  Kategorien,  die  von 
20  bis  80  Taler  für  jede  Ehebewilligung  und  außerdem  noch  eine 
besondere  Gebühr  von  14  Talern  für  jeden  Trauschein  zahlten; 
bei  der  zweiten  Ehe  wurde  eine  Zuschlaggebühr  erhoben.  Solche 
beträchtlichen  Steuern  machten  imvermögenden  Leuten  das 
Eingehen  einer  Ehe  unmöglich.  Die  natürlichen  Folgen  der  Ehe 
flößten  den  Ehepaaren  noch  größere  Angst  ein.  Für  die  Re- 
gistrierung jedes  der  Kinder  mußte  man  an  die  Staatskasse 
bis  zu  160  Talern  zahlen.  Das  berühmte  Geleit  wurde  nicht 
nur  von  ausländischen,  sondern  auch  von  einheimischen  Juden 
bei  ihrer  Übersiedelung  von  der  einen  preußischen  Provinz 
nach  der  anderen  erhoben.  Die  Behandlung- der  Steuerzahler, 
erklären  die  obenerwähnten  Deputierten,  ist  äußerst  demütigend 
und  degradiert  den  Juden  zum  Vieh.  Im  Jahre  1788  befreite 
das  Gesetz  die  preußischen  Ju4en  von  dem  Geleit,  indem  es 

2    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  I7 


letzteres  nur  für  ausländische  Juden  als  obligatorisch  erklärte; 
aber  dadurch  wurde  die  demütigende  Prozedur  des  „Durchlasses" 
nicht  beseitigt,  denn  um  einen  steuerfreien  Passierschein  zu  er- 
halten, mußte  der  Jude  bei  den  städtischen  Torwachen  seine 
preußische  Staatsangehörigkeit  dokumentarisch  beweisen.  Übri- 
gens sicherte  ein  derartiger  Passierschein  in  einigen  Provinzen 
(Vorpommern  und  anderen)  dem  Juden  einen  Aufenthalt  von 
nur  24  Stunden.  Als  Gipfel  der  Findigkeit  der  Regierung  Fried- 
richs II.  muß  die  bekannte,  für  alle  preußischen  Juden  im 
Jahre  1769  festgesetzte  Porzellain-Exportation-Steuer  bezeichnet 
werden.  Jeder  Jude  wurde  beim  Eingehen  einer  Ehe,  dem  An- 
kauf eines  Hauses  und  dem  Abschließen  anderer  zivilrechtlicher 
Verträge  verpflichtet,  aus  der  königlichen  Fabrik  Porzellan- 
fabrikate im  Betrage  einer  bestimmten  Summe  (bis  300  Taler) 
zu  kaufen,  und  diese  Fabrikate,  wenn  auch  mit  Schaden,  im 
Auslande  abzusetzen.  Diese  aufgezwungene  Förderung  der  vater- 
ländischen Industrie  brachte  den  Juden  Preußens  im  Zeiträume 
von  nur  8  Jahren  (1779 — 87)  Verluste  aus  gekauftem  Porzellan 
im  Betrage  von  100  000  Talern;  bei  denjenigen,  die  nicht  kapital- 
kräftig genug  waren,  um  die  ihnen  aufgedrängte  Ware  zu  be- 
zahlen, wurden  die  Häuser  gepfändet  und  verkauft.  Und  auch 
nach  allen  diesen  Eintreibungen  blieben  dm  Juden  der  Staats- 
kasse eine  beträchtliche  Summe  schuldig  (im  Jahre  1786: 
52  000  Taler).  Erst  im  Jahre  1788  befreiten  sich  die  jüdischen 
Gemeinden  durch  Zahlung  einer  einmaligen  Abfindimgssumme 
von  dieser  Porzellansteuer-  Das  Berliner  Porzellan  der  könig- 
lichen Manufaktur  war  im  In-  und  Auslande  unter  der  ironischen 
Benennung  „Juden-Porzellan"  bekannt. 

Welches  waren  denn  die  Rechte,  die  den  Juden  als  Entgelt 
für  alle  diese  schweren  Opfer  zugunsten  der  Staatskasse  geboten 
wurden  ?  Trotz  des  Überflusses  an  freiem  Ackerland  in  dem  da- 
maligen Preußen  war  den  Juden  der  Ackerbau  verwehrt;  I^än- 
dereien  und  landwirtschaftliche  Betriebe  zu  erwerben  oder  auch 
bloß  in  Pacht  zu  nahmen,  war  ihnen  verboten,  ebenfallg  war 
ihnen  untersagt,  Branntweinbrennereien  und  Bierbrauereien 
zu  besitzen.  Die  in  allen  Städten  sich  breit  machenden  Ge- 
werbezünfte schnitten  den  Juden  den  Zutritt  zu  jeglichem 
Gewerbe  ab  und  nahmen  keine  jüdischen  Kinder  als  Lehrlinge 
auf.  Selbst  auf  dem  den  Judei\  zur  Verfügtmg  gestellten  Gebiete 

18 


des  Handels  blieben  ihnen  ganze  Zweige  verschlossen  (der 
Handel  mit  Lebensmitteln,  der  Hausiererhandel).  In  einigen 
Handelsstädten  (Stettin,  Magdeburg,  Kolberg,  Elbing)  war 
ihnen  überhaupt  der  Aufenthalt  verboten.  In  dem  den  Juden 
zugewiesenen  Ansiedelungsrayon  wachte  die  Administration 
darüber,  daß  sie  an  Zahl  nicht  zimahmen.  Selbst  die  „ordent- 
lichen Schutzjuden"  durften  nicht  mehr  als  zwei  erwachsene 
Kinder  in  das  Register  ihrer  Familienangehörigen  aufnehmen, 
was  darüber  hinausging,  mußte  auswandern.  Dies  brachte  den 
Zerfall  und  den  materiellen  Ruin  der  Familie  mit  sich.  Ein 
Jude,  aer  sich  irgendwelches  Vermögen  erworben,  mußte  einen 
beträchtlichen  Teil  davon  für  die  ausgewanderten  Kinder,  die 
in  fremden  Landen  ihren  Unterhalt  suchten,  hergeben.  Der 
jüdische  Famüienvater  durfte  sich  nicht  des  Glückes  erfreuen, 
im  Kreise  der  Seinigen,  der  Kinder  und  Enkel  zu  weüen.  Er 
war  genötigt,  sich  von  seinen  Angehörigen  zu  trennen  imd  sein 
Vermögen  zu  zersplittern.  In  Königsberg  bestand  die  christliche 
Kaufmannschaft  darauf,  daß  den  Juden  keine  neuen  Begün- 
stigungen hinsichtlich  ihres  Wohnrechts  zuteü  werden,  damit 
ihre  Zahl  nicht  zunehme.  Auf  das  Gesuch  zweier  jüdischer  Kauf- 
leute aus  Berlin,  Itzig  und  Ephraim,  die  um  Schutz  ihrer  Handels- 
rechte baten,  schrieb  Friedrich  II.  folgende  barsche  Resolution : 
„Was  wegen  ihres  Handels  ist,  behalten  sie.  Aber  daß  sie  ganze 
Fölkerschaften  von  Juden  zu  Breslau  anbringen  und  ein  gantzes 
Jerusalem  draus  machen  wollen,  das  kann  nicht  seynd."  Der 
König  wachte  sogar  eifrig  über  alle  Kuriositäten  der  alten 
„Gesetzgebung"  betreffs  der  Juden.  Auf  Gnmd  eines  unsinnigen 
Ediktes  vom  Jahre  1737,  das  alle  verheirateten  Juden  zum 
Tragen  eines  Bartes  verpflichtete,  beantwortete  er  abschlägig 
das  Gesuch  eines  reichen  Juden,  der  um  die  Erlaubnis,  sich 
den  Bart  abnehmen  zu  lassen,  nachsuchte.  Kein  Wunder, 
daß  der  berühmte  Mirabeau,  der  im  Todesjahre  Friedrichs 
(1786)  Berlin  besuchte,  einige  von  seinen  Gesetzen  betreffs  der 
Juden  ,, würdig  eines  Kannibalen '  nannte  (loi  digne  d'un 
canibale). 

§  4.  Rechtlosigkeit  und  Aufklärung.  Die  Schmach  der  jü- 
dischen Rechtlosigkeit  in  Preußen  fiel  besonders  im  letzten 
Viertel  des  18.  Jahrhunderts  auf,  als  sie  sich  in  einen  schroffen 
Widerspruch  zu  dem  kulturellen  Erwachen  der  jüdischen  Ge- 

a*  19 


Seilschaft  unter  dem  Einflüsse  der  Aufkläningsbewegung  der 
Mendelssohnschen  Epoche  setzte.  Mendelssohn  selber,  der  die 
Gedankenwelt  eines  beträchtlichen  Teiles  der  deutschen  Ge- 
sellschaft beherrschte,  der  Prototypus  Nathans  des  Weisen,  war 
in  politischer  Hinsicht  ein  rechtloser,  geduldeter  Jude,  der  das 
Wohnrecht  in  Berlin  als  Buchhalter  einer  Fabrik  genoß.  Mar- 
quis d'Argens,  der  zu  Friedrich  II.  in  freundschaftlichen  Be- 
ziehungen stand  und  Mendelssohn  zugetan  war,  erkundigte 
sich  einmal  über  die  rechtliche  I<age  des  letzteren  und  erhielt 
folgende  Auskunft:  Er  genießt  das  Wohnrecht  als  Angestellter 
bei  dem  Fabrikanten  Bernhard.  Wenn  dieser  ihn  heute  entläßt, 
und  er  keinen  anderen  Schutz  Juden  findet,  der  ihn  anstellen 
sollte,  so  wird  ihn  die  Polizei  des  Landes  verweisen.  Dem 
Philosophen  „verzieh"  man  seine  Stammesangehörigkeit.  Ein 
interessantes  Lebensbild  entwirft  uns  ein  Zeitgenosse,  der  das 
erste  Zusammentreffen  des  in  Königsberg  als  Gast  weilenden 
Mendelssohn  mit  Kant  schildert:  „Ein  kleiner  verwachsener 
Jude  mit  Spitzbart  und  starkem  Höcker  trat,  ohne  viel  sich 
um  die  Anwesenden  zu  bekümmern,  doch  mit  ängstUch  leisen 
Schritten  in  den  Hörsaal  und  blieb  unfern  der  Eingangstüre 
stehen.  Wie  gewöhnlich  begannen  Hohn  und  Spott,  die  zuletzt 
in  Schnalzen,  Pfeifen  xmd  Stampfen  übergingen;  aber  zum  all- 
gemeinen Erstaunen  blieb  der  Fremde  auf  seinem  Platze  wie 
festgebannt,  mit  einer  eisigen  Ruhe  und  hatte  sich  sogar,  um 
seinen  Willen,  den  Professor  zu  erwarten,  deutlich  an  den  Tag 
zu  legen,  eines  leerstehenden  Stuhles  bedient  und  darauf  Platz 
genommen.  Man  näherte  sich  ihm,  man  fragte,  er  antwortete 
kurz  und  artig;  er  wolle  dableiben,  um  Kants  Bekanntschaft 
zu  machen.  Nur  sein  Erscheinen  konnte  endlich  den  Lärm  be- 
schwichtigen. Sein  Vortrag  lenkte  die  allgemeine  Aufmerksam- 
keit auf  andere  Dinge,  und  man  ward  so  hingerissen,  so  versenkt 
in  das  Meer  von  neuen  Ideen,  daß  man  der  Erscheinung  des 
Juden  längst  nicht  mehr  gedachte,  als  dieser  nach  beendigtem 
Kollegium  sich  mit  einer  Heftigiceit,  die  mit  seinem  früheren 
Gleichmute  seltsam  kontrastierte,  durch  die  Menge  drängte, 
um  zum  Katheder  zu  gelangen.  Die  Studierenden  bemerkten 
ihn  kaum,  als  wieder  das  höhnische  Gelächter  erschallte,  das 
aber  sogleich  einer  stummen  Bewimdenmg  wich,  da  Kant,  nach- 
dem er  einen  Augenblick  den  Fremden  bedeutend  betrachtet 

20 


und  dieser  einige  Worte  gesagt  hatte,  ihm  mit  Herzlichkeit  die 
Hand  drückte  imd  dann  in  seine  Arme  schloß.  Wie  ein  I^atif- 
feiier  ging  es  durch  die  Menge:  »Moses  Mendelssohn!  Es  ist  der 
jüdische  Phüosoph  aus  Berlin!'  und  ehrerbietig  büdeten  die 
Schüler  eine  Gasse,  als  die  beiden  Weltweisen  Hand  in  Hand 
den  Hörsaal  verließen." 

Die  deutsche  Gesellschaft,  die  den  Juden  im  allgemeinen  ver- 
achtete, machte  für  einzelne  Personen  eine  Ausnahme.  Ein  ge- 
wisser Teil  der  Gesellschaft  stand  unter  dem  mächtigen  humani- 
sierenden Einflüsse  des  im  Jahre  1779  erschienenen  „Nathan  des 
Weisen".  In  diesen  Kreisen  wurde  der  Jude  nicht  mehr  mit  dem 
Kleinhändler  identifiziert:  in  ihm  erblickte  man  zuweilen  die 
Anlagen  einer  tiefen  intellektuellen  und  ethischen  Kultm.  Das 
obenerwähnte  Werk  von  Dohm:  „Über  die  bürgerliche  Ver- 
besserung der  Juden"  (1781)  brachte  ebenfalls  vielen  die  Über- 
zeugung bei,  daß  der  Niedergang  der  jüdischen  Masse  und  ihre 
soziale  Entfremdung  vornehmlich  auf  ihrer  Rechtlosigkeit  tmd 
bürgerlichen  Erniedrigung  beruhen.  In  den  höheren  Kreisen 
der  Berliner  Gesellschaft  machte  sich  schon  dann  eine  Annähe- 
rung zwischen  Juden  und  Christen  bemerkbar.  Es  war  dies 
nicht  mehr  jener  intime  Umgang,  den  vereinzelte  Denker  und 
literarische  Persönlichkeiten  miteinander  in  dem  bescheidenen 
Häuschen  Mendelssohns,  in  dem  Kreise  von  Lessing,  Nikolai 
imd  Gleim  pflogen.  In  den  1780  er  Jahren  war  der  „Berliner 
Salon"  im  Entstehen  begriffen,  wo  sich  die  Vertreter  der  christ- 
lichen und  jüdischen  Aristokratie  zusammenfanden.  Die  jüdische 
Geldaristokratie  war  eine  neue  Frucht  der  damaligen  wirtschaft- 
lichen Ordnung.  Friedrich  II.,  der  die  jüdische  Masse  im  Klein- 
gewerbe wirtschaftlich  verkümmern  ließ,  förderte  die  jüdischen 
Großkapitalisten  in  ihren  Fabrik-,  Bank-  und  Pachtuntemeh- 
mungen.  Viele  Juden  in  Berlin,  Königsberg  und  Breslau  be- 
reicherten sich  an  Heereslieferungen  zur  Zeit  des  Siebenjährigen 
Krieges;  die  Regelung  der  königlichen  Finanzen  kam  in  einem 
beträchtlichen  Grade  durch  ihre  Vermittelung  zustande.  Für 
solche  Personen  machte  allerdings  der  König  eine  Ausnahme 
von  dem  harten  „Judenreglement",  indem  er  ihnen  „General- 
privilegien nach  den  Rechten  christlicher  Kaufleute"  erteilte. 
Auf  diese  Weise  kamen  die  reichen  Häuser  der  Ephraim,  Itzig, 
Gxmipertz  und  anderer  auf.  Während  die  Familienhäupter  ganz 

21 


in  ihren  umfassenden  geschäftlichen  Unternehmungen  auf- 
gingen, eröffneten  ihre  Frauen  und  Kinder  in  reich  eingerich- 
teten Wohnungen  „Salons"  n^ch  dem  Muster  der  besten  aristo- 
kratischen und  höfisdhen  Salons  von  Berlin  und  suchten  sogar 
diese  durch  Eleganz  tmd  Üppigkeit  in  den  Schatten  zu  stellen. 
Die  Türen  dieser  Salons  standen  den  Vertretern  der  höheren 
christlichen  Gesellschaft  weit  offen.  Als  Hauptköder  dieser  Saloas 
dienten  die  hübschen,  gebüdeten  Jüdinnen,  die  vom  Drange 
nach  einer  Berührung  mit  der  deutschen  Aristokratie  ganz  er- 
griffen waren.  Die  Häuser  der  Bankiers  Ephraim,  Itzig,  Cohen 
imd  Meier  in  Berlin  wurden  von  preußischen  Offizieren,  Würden- 
trägem  und  Diplomaten  gerne  besucht;  hier  wurden  Liebesver- 
hältnisse mit  den  freundlicheu  Töchtern  Israels  angeknüpft, 
die  bereit  waren,  ihr  Judentum  für  den  Titel  einer  deutschen 
Baronin  oder  einer  preußischen  Offiziersdame  einzutauschen. 
Um  das  Jahr  1786  tat  sich  in  Berlin  besonders  der  intelligente, 
in  literarischer  Hinsicht  bedeutende  Salon  der  Henriette  Herz 
hervor  —  einer  üppigen  schönen  Jüdin,  der  Frau  des  Arztes 
Markus  Herz,  der  ein  Freund  Mendelssohns  war.  In  diesem 
Jahre  kam  zufällig  in  den  Herzschen  Salon  Graf  Mirabeau,  der 
in  einem  diplomatischen  Auftrage  in  Berlin  weüte,  und  auf  den 
der  Salon  durch  seineu  Prunk  einen  gewaltigen  Eindruck  machte. 
Aber  die  Glanzperiode  des  Salons  fällt  in  die  ersten  Jahre  der 
französischen  Revolution. 

Die  folgende,  von  einem  Zeitgenossen  erzählte  Episode 
illustriert  das  Verhalten  der  damaligen  Berliner  Gesellschaft 
den  Juden  gegenüber.  Im  August  des  Jahres  1788  wurde  im 
Nationaltheater  zu  BerUn  das  Drama  von  Shakespeare  ,,Der 
Kaufmann  von  Venedig"  aufgeführt.  Der  Schauspieler  Fleck, 
der  den  Shylok  meisterhaft  wiedergab,  hatte  nicht  den  Mut, 
in  dieser  Rolle  vor  einem  PubHkum,  in  deren  Mitte  sich  nicht 
wenige  Juden  befanden,  ohne  einleitende  Entschuldigungen  auf- 
zutreten. Vor  Beginn  des  Stückes  deklamierte  Fleck  in  Form 
eines  Prologs  ein  eigens  zu  diesem  Zwecke  verfaßtes  Gedicht, 
in  welchem  er  darauf  aufmerksam  machte,  daß  es  in  der  Ab- 
sicht der  Darsteller  gar  nicht  liege,  ,,die  Glaubensgenossen 
Mendelssohns"  auf  der  Bühne  zu  verspotten;  sie  stellen  auf  der 
Bühne  in  gleicher  Weise  die  Tugenden  und  Laster  der  Christen 
wie  der  Juden  dar: 

22 


Kon  das  kluge  Berlin  die  Glaabensgenossen  des  weisen 

Mendelssohn  höher  zu  schätzen  anfängt;  nun  wir  bei  diesem 

Volke  (dessen  Propheten  und  erste  Gesetze  wir  ehren), 

Männer  sehen,  gleich  groß  in  Wissenschaften  und  Künsten, — 

Wollen  wir  nun  dies  Volk  durch  Spott  betrüben?  .  .  . 

Nein,  dies  wollen  wir  nicht.    Wir  schildern  auch  bübische  Christen . . . 

Wir  tadeln  der  Klöster  Zwang  und  Grausamkeit .  .  . 

Im  Nathan  dem  Weisen  spielen  die  Christen  die  schlechtere  Rolle; 

Im  Kaufmann  Venedigs  tun  es  die  Juden . . . 

Der  zeitgenössische  Chronist  bemerkt  jedoch  dazu,  daß  dieses 
zuvorkommende  Verhalten  den  Juden  gegenüber  keinen  An- 
klang im  Publikum  fand,  und  daß  bei  den  darauf  folgenden  Auf- 
führungen der  Prolog  nicht  mehr  vorgetragen  wurde.  ,,Mit 
Recht"  —  sagt  er  — ^  „äußerte  man  seine  Unzufriedenheit  dar- 
über, daß  die  Juden  sich  eine  Sonderstellung  im  Theater  schaffen 
wollten,  wo  alle  Stände  dargestellt  werden,  jeder  in  seinen  ko- 
mischen und  ernsten  Zügen." 

Es  gab  einen  Moment,  wo  den  Juden  in  Preußen  die  Hoffnung 
auf  eine  etwaige  Verbesserung  ihrer  rechtlichen  Lage  winkte. 
Es  war  dies  um  das  Jahr  1786,  als  nach  dem  Tode  des  Schöpfers 
des  harten  ,, Judenreglements",  Friedrich  II.,  Friedrich  Wil- 
helm II.  den  Thron  bestieg  —  ein  Herrscher  mit  minder  despo- 
tischen Neigungen,  der  im  Honigmonate  seiner  Regiertmg 
dem  Generaldirektorium  seinen  Wülen  kundtat,  ,,daß  die  Lage 
dieser  verfolgten  Nation  nach  Möglichkeit  erleichtert  werde". 
Durch  die  gütigen  Worte  des  Königs  ermuntert,  wandten  sich 
die  Vorsteher  der  Berliner  jüdischen  Gemeinde  an  ihn  mit  einer 
Bitte  ,,voll  Ehrfurcht  und  kindlichen  Vertrauens"  (6.  Februar 
1787):  „Schon  lange  seufzen  wir  unter  der  Last  unaufbringlicher 
Abgaben  und  unter  dem  nicht  weniger  harten  Druck  der  Ver- 
achtung  Beide  haben  unsere  Nation  herabgewürdigt  und 

uns  gehindert,  auf  dem  Wege  der  Geistesbüdung,  der  größeren 
Industrie  und  jedet  Art  von  Glückseligkeit  Fortschritte  zu  ma- 
chen .  .  .  Ausgeschlossen  von  allem  Nahrungserwerb,  vom  Hand- 
werk, vom  Ackerbau,  von  allen  T^edienungen  des  Staates,  bleibt 
allein  die  Handlimg  und  auch  diese  noch  mit  viden  Einschrän- 
kungen das  einzige  Erwerbungsmittel  unserer  Kolonie."  Des 
weiteren  weisen  die  Bittsteller  darauf  hin,  daß  „auch  der  Staat 
gewinnen  muß,  wenn  eine  ansehnliche  Kolonie,  die  bis  jetzt  in 
Mutlosigkeit  verstmken  ist,  durch  eine  mildere  Behandlung  zu 
nützlicheren  Untertanen  umgebüdet  wird."  Die  demütige  Bitte 

23 


der  jüdischen  Vertreter  ^g  dahin,  daß  der  König  eine  Kom- 
mission einsetzen  möchte,  die  in  Gemeinschaft  mit  den  Bevoll- 
mächtigten der  jüdischen  Gemeinden  die  bestehende  Gesetz- 
gebung betreffs  der  Juden  einer  Prüfung  imterziehe  und  einen 
Entwurf  über  die  Verbesserung  ihrer  staatsbürgerlichen  I<age 
ausarbeite. 

Der  König  erfüllte  die  Bitte  und  erteilte  dem  Generaldirekto- 
rium in  diesem  Sinne  einen  Befehl.  Das  letztere  verfügte,  daß  die 
jüdischen  Gemeinden  aus  ihrer  Mitte  unverzüglich  Bevoll- 
mächtigte zu  wählen  haben,  die  der  Kommission  „die  Wünsche 
der  gesamten  Judenheit"  vorlegen  sollten.  Am  17.  Mai  1787 
ging  ein  umfangreiches  „imtertänigstes  Promemoria"  im 
Namen  „der  Abgeordneten  aller  jüdischen  Kolonien  des  preu- 
ßischen Staates"  der  bei  dem  Generaldirektorium  zu  jener  Zeit 
gegründeten  „Königlichen  Kommission  zur  Reform  des  jüdi- 
schen I^ebens"  zu.  In  diesem  Promemoria,  in  dem  alle  für  die 
Juden  festgesetzten  Rechtsbegrenzungen  aufgezählt  werden, 
baten  die  Abgeordneten  die  Kommission,  bei  der  Ausarbeitung 
des  Reformprojektes  nicht  von  dem  schändlichen  Reglement 
des  Jahres  1750  auszugehen,  sondern  in  Gemeinschaft  mit  den 
jüdischen  Abgeordneten  einen  auf  den  Prinzipien  der  Duldsam- 
keit tmd  der  Achtung  vor  dem  Menschen  beruhenden  Entwurf 
zu  verfassen. 

Alle  diese  Bemühungen  erzielten  als  nächstes  Ergebnis  zwei 
partielle  Steuererleichterungen:  im  Jahre  1787  wurde  das  schänd- 
liche „Geleit"  für  Juden  preußischer  Staatsangehörigkeit  ab- 
geschafft, und  im  Jahre  1788  kam  die  Befreiung  von  der  oben- 
erwähnten tragikomischen  Porzellansteuer  zustande.  Im  System 
der  jüdischen  Rechtlosigkeit  selber  hingegen  vollzog  sich  keine 
Wandlimg.  Die  vom  Könige  eingesetzte  Beamtenkommission 
erhielt  vom  Generaldirektorium  eine  vom  alten  Geiste  der 
Judenföindschaft  imd  Kasemendisziplin  erfüllte  Instruktion. 
In  dieser  Instruktion  wurden  der  Kommission  folgende 
Fingerzeige  gegeben:  ,,die  Verbesserung  ihres  Zustandes  muß 
mit  ihrer  Nutzbarkeit  für  den  Staat  in  genauem  Verhältnis 
stehen."  Die  Gewerbebeschränkungen  müssen  gemildert  wer- 
den, denn  die  Not  drängt  die  Juden  auf  die  Bahn  unerlaubter 
Bereicherungsmittel;  andererseits  aber  könnte  die  Rechtserwei- 
terung der  Juden  ohne  die  gleichzeitige  Beseitigung  ihrer  „Ab- 

24 


sondening"  dem  Staate  noch  größeren  Schaden  zufügen.  Daher 
die  Notwendigkeit,  jede  auf  die  Reform  des  jüdischen  JLebens 
hinzielende  Absicht  sorgfältig  abzuwägen;  die  Rechtserleich- 
terungen dürfen  nur  in  strengster  Abstufung  eingeführt 
werden,  „bis  ihre  Kinder  und  Nachkommen  für  sich  selbst  und 
für  den  Staat  sich  gänzlich  oder  zum  größten  Teil  verbessert 
haben  werden."  Nach  einer  derartigen  Instruktion  konnte  man 
freilich  von  der  Kommission  nur  sehr  wenig  erwarten.  Und  in 
der  Tat,  nach  einer  zweijährigen  Beratimg  arbeitete  sie  ein  der- 
artiges Reformprojekt  aus  (1789),  daß  selbst  die  demütigen 
jüdischen  Abgeordneten  sich  aufbäumten  und  erklärten,  daß 
sie  es  vorzögen,  beim  alten  Reglement  zu  bleiben  .  .  .  Dieser 
erbärmliche  Kanzleiversuch  fiel  in  das  Jahr  der  großen  franzö- 
sischen Revolution! 

§  5.  Österreich.  Die  Ohnmacht  des  aufgeklärten  Absolutis- 
mus in  Hinsicht  der  Lösung  der  jüdischen  Frage  trat  mit  be- 
sonderer Prägnanz  im  bedeutendsten  Zentrum  der  westlichen 
Judenheit  —  im  Österreich  der  1780  er  Jahre  zutage.  Der  streng 
katholische  Kaiser  Joseph  II.  war  zweifelsohne  den  Juden  gegen- 
über duldsamer  gesinnt  als  der  preußische  „schlechte  Protestant" 
Friedrich  II.  Daher  war  auch  die  praktische  Politik  in  der 
jüdischen  Frage  in  ihren  Einzelheiten  bei  beiden  Regenten  ver- 
schieden; aber  über  die  Rolle  der  Juden  ihi  Staate  teüten 
sie  dieselbe  Ansicht.  Wenn  der  König  die  Zügel  der  jüdi- 
schen Rechtlosigkeit  unter  keinen  Umständen  loslassen  wollte, 
der  Kaiser  hingegen  den  Juden  Duldsamkeit  unter  der  Be- 
dingung ihrer  nationalen  Entpersönlichung  verhieß,  so  hatte 
es  seinen  Grund  darin,  daß  der  eine  die  Juden  für  „unverbesser- 
lich" hielt,  der  andere  hingegen  an  die  Möglichkeit  glaubte,  „sie 
nutzbringend  für  den  Staat  zu  machen".  Aber  das  Korrektions- 
system Österreichs  war  den  Juden  nicht  leichter,  als  die  starre 
Judenfeindschaft  der  preußischen  Regierung.  Indem  Joseph  II. 
Reformen  einführte,  nahm  er  mit  der  einen  Hand  mehr,  als 
er  mit  der  anderen  gab.  Die  Schattenseiten  seines  Regimes  waren 
um  so  empfindlicher,  als  deren  Folgen  sich  auch  für  die  dichten 
Judenmassen  in  solchen  Provinzen  wie  Böhmen,  Mähren  und 
dem  soeben  von  Polen  losgetrennten  Galizien  fühlbar  machten. 

„Man  wütde  jedoch  irren,"  s£^e  ein  Historiker,  „weim  man 
annehmen  wollte,  daß  Joseph  II.  in  dem  Juden  den  Menschen 

25 


würdigte,  den  er  eben  als  Menschen  mit  den  anderen  Untertanen 
gleichgestellt  wissen  wollte.  Dies  war  nicht  der  Fall ...  Er  be- 
trachtete die  Juden  sozusagen  als  ein  Übel,  das  unschädlich  ge- 
macht werden  muß,  das  Judentum  als  einen  Ausbund  von  Tor- 
heiten und  Alfanzereien,  und  das  Gemeindewesen  als  eine  Art 
geheime  Gesellschaft,  um  den  Staat  auszubeuten."  An  der  Spitze 
des  Toleranzpatentes  für  Wien  befinden  sich  z.  B.  solche  Para- 
graphen: I.  Die  Juden  in  Wien  bilden  keine  Gemeinde,  und  ist 
ihnen  der  öffentliche  Gottesdienst  nicht  gestattet.  2.  Die  Zahl 
der  Juden  soll  nicht  vermehrt  werden,  und  da,  wo  sie  bisher 
nicht  ansässig  waren,  sollen  sie  auch  jetzt  nicht  wohnen.  Die 
übrigen  23  Paragraphen  des  Patentes  zerfallen  in  beschränkende 
und  begünstigende.  Zu  den  ersteren  gehören  die  nach  preußischem 
Muster  aufgestellten  Normen  für  den  Aufenthalt  der  Juden  in 
Wien.  Ein  Jude  aus  einer  österreichischen  Provinz  darf  sich  in 
Wien  nur  auf  Grund  einer  besonderen  Genehmigung  der  Re- 
gierung aufhalten,  ein  ausländischer  Jude  —  auf  Grund  einer 
Genehmigung  seitens  des  Kaisers.  Für  das  Wohnrecht  wird  von 
jeder  Famüie  das  „Toleranzgeld"  erhoben,  aber  dieses  Recht 
erstreckt  sich  nicht  auf  die  verheirateten  Famüienangehörigen ; 
in  den  Dörfern  Niederösterreichs  dürfen  Juden  nicht  wohnen; 
eine  Ausnahme  wird  für  solche  Personen  gemacht,  die  daselbst 
Fabriken  erbauen.  Zu  der  Kategorie  der  begünstigenden  Para- 
graphen gehören:  das  Recht  der  Juden,  ihre  Kinder  in  allge- 
meinen „normalen"  und  Realschulen  unterzubringen,  wie  das 
Recht,  höhere  Lehranstalten  zu  beziehen;  Juden  dürfen  bei 
christlichen  Meistern  in  die  Lehre  gehen,  um  sich  von  ihnen  in 
allerhand  Handwerken  unterweisen  zu  lassen,  ohne  jedoch  das 
Recht  auf  den  Titel  eines  Bürgers  oder  Meisters  erreichen  zu 
können.  Es  wird  den  Juden  gestattet,  Großhandel  zu  treiben,  In- 
haber von  Fabriken  zu  werden,  unbewegliche  Güter  als  Pfand 
zu  nehmen,  ohne  diese  jedoch  für  Schulden  sich  aneignen  zu 
dürfen;  die  alten  Bestimmungen  betreffs  einer  besonderen 
Tracht,  des  Verbotes,  sich  auf  der  Straße  bis  zur  Mittagsstunde 
an  Sonn-  und  Feiertagen  zu  zeigen,  öffentliche  Belustigungen 
und  Promenaden  zu  besuchen  u.  dgl.  m.  werden  abgeschafft; 
abgeschafft  wird  ebenfalls  die  entehrende  ,,Leibmauth". 

Als  Kompensation  für  alle  diese  Begünstigungen  wurde  eine 
Reihe  von  Dekreten  erlassen,  die  sämtlich  darauf  ausgingen, 

26 


die  Autonomie  der  jüdischen  Gemeinden  zu  vernichten,  die 
Sprache  und  nationale  Kultur  der  Juden  zu  verdrängen.  Das 
„Toleranzedikt"  verbot  ihnen,  die  Geschäftsbücher  und  Korre- 
spondenz in  jüdischer  Sprache  (hebräischer  und  jüdisch-deut- 
scher Umgangssprache)  zu  führen,  die  der  offiziellen  deutschen 
Sprache  Platz  machen  mußte.  Durch  ein  Dekret  vom  25.  August 
1783  schaffte  der  Kaiser  das  Rabbinergericht  in  Zivü-  und  geist- 
lichen Angelegenheiten  unter  den  Juden  ab  und  unterstellte 
sie  der  Rechtsprechung  der  allgemeinen  Gerichte.  Es  war  dies 
ein  harter  Schlag  für  die  jüdische  Gemeindeselbstverwaltung. 
Die  Regierungsgewalt  begann  auch  in  das  jüdische  Eherecht 
einzudringen:  die  Rabbiner  waren  in  Angelegenheiten  der  Ehe- 
schließung und  Ehescheidung  der  Kontrolle  der  Zivilgewalten 
unterstellt,  denen  es  freistand,  die  Trauung  oder  Scheidung  zu 
verhindern  (1785 — 1788).  In  solchen  „Reformen"  konnte  die 
jüdische  Masse  freilich  nur  einen  gefährlichen  Eingriff  in  jene 
Freiheit  ihrer  inneren  Lebensgestaltung  erblicken,  die  sie  selbst 
in  den  Zeiten  ihrer  gänzlichen  bürgerlichen  Rechtlosigkeit  genoß. 
Nicht  minder  beunruhigend  war  für  die  jüdische  Masse  eine 
andere  Neuerung:  die  Heranziehung  der  Jugend  zur  Militär- 
pflicht (1788).  Es  war  dies  das  erste  Beispiel  der  Aufnahme  von 
Juden  in  das  Heer  eines  christlichen  Staates  Europas  —  ein 
Beispiel,  das  die  konservativen  Kreise  sowohl  der  christlichen 
wie  der  jüdischen  Gesellschaft  entsetzte.  Die  österreichische 
müitärische  Aristokratie  erblickte  darin  eine  Herabsetzung  des 
Militärstandes;  die  jüdische  Masse  wiederum,  die  jahrhunderte- 
lang den  allgemeinen  Staatsinteressen  entfremdet  und  vieler 
elementarer  bürgerlicher  Rechte  beraubt  war,  konnte  nicht  um- 
hin, bei  dem  Gedanken  zu  erschrecken,  daß  ihre  Jugend  in  eine 
fremde,  meistens  feindliche  Umgebung  hineingezogen  wird,  wo  ihr 
die  Gefahr  des  Abfalls  von  ihrem  Glauben  und  ihrer  Nationalität 
droht.  Die  Rekrutenaushebungen  in  den  österreichischen,  von 
Juden  bewohnten  Provinzen  boten  ein  herzzerreißendes  Schau- 
spiel. Eine  von  solchen  Szenen  —  die  Rekrutenaushebung  im  böh- 
mischen Prag  im  Mai  des  Jahres  1789  —  wird  in  einer  zeit- 
genössischen Zeitschrift  geschüdert.  In  Prag  wurden  25  jüdische 
Rekruten  ausgehoben.  Der  Tag  ihrer  Beförderung  in  die  Armee 
war  ein  Tag  des  Wehklagens:  auf  den  den  Kasernen  anliegenden 
Straßen    weinten    laut    die    Mütter,    Schwestern    und    jungen 

27 


Gattinnen  der  Rekruten.  Der  berühmte  Prager  Rabbiner 
R.  Jecheskel  Landau  erschien  in  der  Kaserne  und  hielt  vor  den 
Rekruten  eine  Rede,  in  der  er  sie  ermahnte,  sich  dem  kaiser- 
lichen Willen  zu  fügen  und  den  militärischen  Dienst  ohne 
Murren  auf  sich  zu  nehmen  und  sich  zu  bemühen,  die  Gesetze 
des  jüdischen  Glaubens  und  insbesondere  das  tägliche  Gebet 
zu  beobachten  (dabei  überreichte  der  Rabbiner  jedem  von  ihnen 
eine  Rolle  mit  dem  zur  Verrichtung  der  Gebete  nötigen  Zubehör). 
Der  Rabbiner  hob  die  politische  Bedeutung  des  Momentes  her- 
vor, indem  er  darauf  hinwies,  daß  die  Erfüllung  der  schwersten 
bürgerlichen  Pflicht  durch  die  Juden  die  Regierung  bewegen 
könne,  „das  jüdische  Volk  auch  von  den  übrigen  Fesseln  zu  be- 
freien, die  es  noch  immer  drücken".  Als  der  erregte  Rabbiner 
seine  Rede  mit  dem  Ausrufe  schloß:  „Gott  segne  und  beschütze 
euch"  —  füllten  sich  die  Kaserne  und  der  anliegende  Hof  mit 
Schluchzen,  die  Rekruten  warfen  sich  in  die  Knie  vor  dem  greisen 
Seelenhirten,  als  ob  sie  um  Rettung  flehten;  den  schluchzenden 
Rabbiner,  der  nahe  daran  war,  in  Ohnfiiacht  zu  fallen,  ver- 
mochte man  kaum  fortzubringen.  Man  fühlte,  daß  hier  irgendein 
schwerer  Riß  vollzogen  wurde,  der  früher  eingetreten  war,  als 
der  Volksorganismus  Zeit  hatte,  sich  auf  ihn  vorzubereiten. 
Konnten  auch  die  alten  Metropolen  der  Judenheit:  Böhmen, 
Mähren  und  insbesondere  Galizien,  das  noch  in  den  alten  Tra- 
ditionen des  polnischen  Regimes  lebte  und  von  der  mehr  tmd 
mehr  um  sich  greifenden  chassidischen  Bewegung  erfaßt  war  — 
in  der  Kaserne  den  Übergang  zu  besseren  Zeiten  erblicken? 

In  Böhmen  bestand  noch,  auch  in  der  „Reformepoche" 
Josephs  II.,  die  alte  Normierung  der  jüdischen  Bevölkerung:  die 
letztere  war  begrenzt  durch  die  Zahl  von  8600  Familien;  in 
Mähren  war  die  Norm  bis  auf  5400  gebracht  worden;  eine  neue 
Ehe  wurde  nur  in  den  Grenzen  dieser  Norm  zugelassen;  die  Ein- 
wanderung der  Juden  aus  anderen  Provinzen  unterlag  vielen 
Schwierigkeiten.  Doch  wurde  die  Sphäre  der  industriellen  Tätig- 
keit für  die  „geduldeten"  Juden  bedeutend  erweitert.  Die 
Fabrikindustrie  wurde  zu  jener  Zeit  von  der  Regierung  gefördert 
und  entwickelt:  von  den  58  Manufakturfabriken  Böhmens  be- 
fanden sich  mehr  als  15  in  jüdischen  Händen.  In  Prag  waren 
Tausende  christlicher  Arbeiter  in  jüdischen  Fabriken  beschäftigt. 
Gemäß  den  Vorschriften  Josephs  II.  schmälerte  die  Regierung 

28 


auf  jede  Weise  die  Funktionen  der  jüdischen  Selbstverwaltung, 
aber  die  Grundlagen  der  Autonomie  blieben  gewahrt.  Eine  große 
autonome  Gemeinde  befand  sich  in  Prag,  aufs  äußerste  zu- 
sammengedrängt in  den  300  Häusern  ihres  Viertels.  Im  mäh- 
rischen Nikolsburg  hatte  sich  noch  das  Institut  des  „Bezirks- 
rabbinats"  erhalten. 

Die  „reformierenden"  Experimente  Josephs  II.  hatten  ins- 
besondere für  Galizien  schwere  Rückwirktmgen  im  Gefolge: 
Der  wirtschaftliche  und  gesellschaftliche  Bau,  der  sich  in  der 
langen  Reihe  der  Geschlechter  imter  polnischer  Herrschaft  ge- 
festigt hatte,  wurde  im  Verlaufe  von  18  Jahren  (1772 — 1790) 
unnachsichtig  zerklüftet.  Das  ganze  Gefüge  des  Volkslebens  in 
dem  angegliederten  I^ande  wollte  man  mit  einem  Male  durch 
Verordnungen  aus  Wien  von  Grund  aus  umgestalten;  imter 
dem  Vorwande  der  „Verbesserung"  verstümmelte  man  das  I^ben 
von  Zehntausenden  von  Menschen.  Da  es  im  jüdischen  Galizien 
eine  Sache  der  Unmöglichkeit  war,  die  in  Österreich  beliebte 
pharaonische  Ehenormierung  durchzuführen,  erfand  man  einen 
Ersatz  dafür:  Es  wurde  festgesetzt,  daß  die  Juden  bei  jeder 
Eheschließung  eine  Genehmigung  vom  Statthalter  unter  Ein- 
zahlung einer  beträchtlichen  Steuer  für  diese  einzuholen  haben. 
In  der  Folge  wurde  die  Geldsteuer  für  die  sich  „bewerbenden" 
Bräutigame  durch  die  Verpflichtung  ersetzt,  ein  Zeugnis  über 
die  vor  einer  besonderen  Kommission  bestandene  Prüfung  in 
Deutsch  vorzuweisen.  Gänzlich  zerrüttet  wurde  der  wirtschaft- 
liche Wohlstand  der  Juden  in  Galizien  durch  eine  Reihe  von  Ver- 
ordnungen, die  das  Schankgewerbe  und  die  Pachtung  von  land- 
wirtschaftlichen Betrieben  —  Beschäftigungen,  die  nicht  we- 
niger als  ein  Drittel  der  galizischen  Judenheit  (1776,  1784 — 85) 
ernährten  —  zunächst  beschränkten  imd  dann  untersagten.  Zehn- 
tausende von  Menschen  wurden  brotlos  und  kamen  an  den 
Bettelstab,  die  mittellosen  und  gänzlich  Verarmten  aber,  die 
drei  Jahre  hintereinander  keine  Kopfsteuer  zahlten,  wurden  von 
der  Regierung  des  I^andes  verwiesen  und  nach  Polen  geschafft. 
Die  Versuche  Josephs  II.,  die  Juden  an  die  Landarbeit  heran- 
zuziehen, fanden  Anklang  unter  dem  enterbten  Landvolk,  aber 
die  Regierung  war  außerstande,  alle  sich  darum  bewerbenden 
mit  Grund  und  Boden  zu  versehen,  da  sie  zur  selben  Zeit  damit 
beschäftigt  war,  auf  ihren  polnischen  Grenzgebieten  Deutsche 

29 


anzusiedeln.  Gleichen  Schritt  damit  hielt  die  Zerstörving  der 
komplizierten  Geineindeorganisation  der  Juden  in  Galizien.  Nach 
einer  Reihe  von  Versuchen,  in  Lemberg  ein  dem  Staate  unter- 
stelltes Bezirksrabbinat  zu  schaffen  und  die  Funktionen  der 
Gemeinde  zu  schmälern,  wurde  den  Rabbinern  und  den  Ge- 
meinden jede  außerhalb  der  Sphäre  der  rein  religiösen  Angelegen- 
heiten stehende  Gewalt  genommen.  Unter  solchen  Umständen 
nahm  das  Mißtrauen  der  jüdischen  Massen  gegenüber  der  öster- 
reichischen Regierung  immer  zu  —  und  in  solchen  „Reformen", 
wie  der  Heranziehung  der  Juden  zur  persönlichen  Wehrpflicht 
und  dem  an  sie  ergehenden  Lockruf,  in  die  allgemeinen  Schulen 
einzutreten,  konnte  man  in  Galizien  nur  Manifestationen  der 
alten  böswilligen,  zerstörenden  Politik  erblicken. 

Übrigens  machte  die  Regierung  kein  Hehl  aus  ihrem  End- 
zweck —  der  Vernichtung  der  nationalen  Eigenart  der  Judenheit. 
In  einer  Reihe  von  Dekreten  betonte  Joseph  II,  diese  Tendenz 
sehr  bestimmt.  In  der  der  Denkschrift  der  Hofkanzlei  über  das 
neue  Reglement  für  die  galizischen  Juden  beigelegten  Resolution 
(1788)  formulierte  der  Kaiser  seine  Ansicht  über  die  Judenfrage 
folgendermaßen:  ,,Aus  diesem  so  mühsam  als  schon  langeher 
immer  complicirten  Juden-Patententwurfe  kann  unmöglich  was 
Zweckmäßiges,  was  Gedeihliches  entstehen,  wenn  man  sich  in 
alle,  theils  von  Moses  hergeleiteten,  theüs  seither  ganz  ver- 
kehrten jüdischen  Gesetze  tmd  Gebräuche  einlassen,  selbe  er- 
gründen und  mit  den  allgemein  bestehenden  Anordnungen  nur 
verbinden  will .  .  .  Ihre  Religionsübungen  imd  Gebräuche,  die 
nicht  wider  die  allgemeinen  Gesetze  streiten,  können  sie  unge- 
stört fortsetzen,  die  aber  dagegen  streiten,  das  wäre  alsdann 
jedem  frei  zu  lassen,  entweder  von  seinen  Religionsgebräuchen 
nach  Zeit  und  Umständen  als  eine  Ausnahme  sich  zu  entfernen, 
oder  aber  den  Vorrechten,  die  er  als  Bürger  des  Staates  genießt, 
zu  entsagen  und  mit  Zahlung  des  Abfahrtsgeldes  außer  Land 
zu  gehen  ,  .  ."  Eine  derartige  Instruktion,  —  die  für  die  ,, Duld- 
samkeit" der  Epoche  des  aufgeklärten  Absolutismus  bezeich- 
nend ist  —  gab  der  Verwaltung  ein  gefährliches  Werkzeug  des 
Eingriffes  in  das  geistige  Leben  der  Bürger  in  die  Hand;  folge- 
richtig auf  die  patriarchalische  Lebensordnung  der  galizischen 
Judenheit  angewandt,  konnte  sie  zu  den  größten  Gewissens- 
vergewaltigungen führen.  Zu  Lebzeiten  Josephs  II.  kam  dieses 

30 


System  der  Reglementierung  der  inneren  Lebensgestaltimg  nicht 
dazu,  sich  in  der  Praxis  voll  und  ganz  zu  äußern  (der  Kaiser 
starb  im  Jahre  1790);  aber  in  dem  darauffolgenden  Zeitabschnitt 
wird  es  die  Maske  der  wohlwollenden  Reform  abstreifen  und 
unter  Zuhilfenahme  der  Machtmittel  des  Polizeistaates  sein 
Werk  der  Kulturvergcwaltigung  verrichten,  „Zuerst  die  na- 
tionale Entpersönlichung,  dann  die  bürgerliche  Gleichberech- 
tigung" —  so  lautete  die  Losung  dieser  Politik,  Von  den  bürger- 
lichen Reformen  Josephs  II,  wird  nichts  zurückbleiben,  aber  sein 
Bevormundungssystem  wird  zu  einem  Bestandteüe  der  admini- 
strativen Praxis  Österreichs  werden.  Nur  dem  nicht  genügend 
scharfblickenden  Häuflein  der  „Aufgeklärten"  aus  der  Mendels- 
sohnschen  Schule,  das  an  die  Möglichkeit  glaubte,  ein  Geschlecht 
von  gebildeten  und  folglich  gleichberechtigten  jüdischen  Bür- 
gern mit  Hufe  der  offiziellen  „Normalschulen"  zu  schaffen, 
konnte  die  zehnjährige  Regierungszeit  Josephs  II.  als  der  An- 
fang der  Emanzipation  erscheinen.  Übrigens  erfreute  sich  eine 
kleine,  ihrem  Volke  femstehende  Gruppe  von  Juden  in  Wirk- 
lichkeit beinahe  der  Gleichberechtigung:  es  war  dies  die  Gruppe 
der  aristokratischen  Famüien  in  Wien,  die  durch  finanzielle 
Operationen  mit  dem  Hofe  und  den  höheren  Würdenträgern  ver- 
knüpft waren.  Der  „Berliner  Salon"  hatte  seine  Füiale  in  Wien: 
hier  waltete  die  junge  Baronin  Fanny  von  Amstein,  die  Tochter 
des  Berliner  Kaufmanns  und  des  Oberhauptes  der  jüdischen 
Gemeinde,  Daniel  Itzig;  Joseph  II.  kannte  und  schätzte  die 
Baronin,  die  in  der  Folge  eine  ansehnliche  Rolle  in  den  diplo- 
matischen Kreisen  Wiens  spielte. 

Die  Regierungspolitik  Ungarns  glich  kurz  vor  dem  Jahre 
1789  ungefähr  derjenigen  Österreichs.  Das  „Toleranzedikt" 
Josephs  II.  paßte  sich  hier  imter  dem  Namen  „Systematica 
gentis  judaicae  regulatio"  (1783)  den  lokalen  Verhältnissen  an. 
Die  80  000  ungarischen  Juden,  die  früher  das  enge  Gebiet 
einiger  städtischer  Bezirke  bewohnten,  erhielten  das  beständige 
oder  provisorische  Wohnrecht  in  den  königlichen  freien  Städten, 
mit  Ausnahme  der  Bergbauzentren.  Doch  blieb  noch  für  sie  die 
Zahl  der  ihnen  zugänglichen  Gewerbe  knapp  bemessen  und  der 
Druck  der  Staatssteuem  ungemein  hart.  Die  Rechtserweiterung 
war  von  der  Erfüllung  des  „Aufklärungsprogramms"  Josephs  IL 
abhängig    gemacht:    Es    wurde    bekannt   gegeben,    daß  nach 

31 


Ablauf  von  lo  Jahren  von  jedem  Unternehmer,  der  im  Begriffe 
ist,  irgendein  Geschäft  zu  eröffnen,  die  Vorweisung  eines  die 
Absolvierung  eines  Kurses  der  Normalschule  bestätigenden 
Zeugnisses  gefordert  werden  wird.  Die  Kulturbevormundung 
nahm  mitunter  gar  seltsame  Formen  an.  Unter  den  durch  die 
kaiserliche  Verfügung  vorgeschriebenen  Reformen  betand  sich 
die  den  Juden  auferlegte  Verpflichtung,  sich  den  Bart  zu  rasieren. 
Da  dieser  Umstand  die  Verletzung  eines  Brauches  im  Gefolge 
hatte,  so  erging  kurz  darauf  an  den  Kaiser  eine  Bittschrift  der 
ungarischen  Juden,  sich  den  Bart  wachsen  lassen  zu  dürfen, 
indem  sie  sich  dabei  auf  das  verkündete  Prinzip  der  Glaubens- 
freiheit beriefen.  Die  Bitte  wurde  beachtet .  . .  Der  alters- 
schwache Kaiser  zeigte  sich  auf  diese  Weise  nachgiebiger  als 
der  preußische  König  Friedrich  II.,  der  den  freidenkerischen 
Berlinern  das  Bartrasieren  nicht  gestattete,  da  er  von  einer 
entgegengesetzten  Ansicht  über  die  Bedeutung  des  jüdischen 
Bartes  ausging  (oben,  §  3). 

§  6.  Frankreich.  In  Frankreich  bestand  vor  der  Revolution 
für  die  Juden  ein  „Ansiedelungsrayon":  die  Provinz  Elsaß 
(außer  der  Stadt  Straßburg)  und  ein  Teil  von  Lothringen  (die 
Städte  Metz  und  Nancy).  Das  ganze  übrige  Territorium  des 
Reiches  war  den  Juden  entweder  völlig  verschlossen  oder  nur 
in  beschränktem  Maße  zugänglich.  Die  Nachkommen  der  spa- 
nischen Juden,  die  Sephardim,  bewohnten  den  Süden  Frank- 
reichs —  die  industriellen  Zentren  Bordeaux  und  Marseille,  die 
Bretagne  und  Bayonne.  Nachdem  sie  in  diese  Gebiete  anfangs 
unter  dem  Deckmantel  der  ,,Marranen"  oder  ,, neuen  Christen" 
eingednmgen  waren,  streiften  sie  in  der  Folge  die  äußere  Hülle 
von  sich  ab  und  zwangen  die  Regierung,  das  bereits  Geschehene 
anzuerkennen.  Hatte  sich  aber  die  zentrale  Regierung  mit  der 
Tatsache  des  Aufenthaltes  der  Juden  in  den  verbotenen  Gebieten 
abgefunden,  so  taten  die  Lokalbehörden,  die  Munizipalitäten 
und  die  kaufmännischen  Zünfte  ihr  Möglichstes,  um  „die  sich 
auf  imgesetzlichem  Wege  Aufhaltenden"  aus  allen  den  Zentren 
zu  •  verdrängen,  in  denen  sich  ihre  Handelskonkurrenz  der 
christlichen  Kaufmannschaft  fühlbar  machte.  Im  Jahre  1773 
erwirkten  die  christlichen  Kaufleute  von  Nantes  beim  König 
einen  Erlaß,  der  die  Ausweisimg  der  jüdischen  Kaufleute  aus 
dieser  Stadt  verordnete.  Infolge  eines  Rechtsstreites,  den  der 

32 


Metzer  Jude  Creange  mit  zwei  Beamten  aus  Brest  führte,  ver- 
fügte das  Parlament  von  Rennes,  „den  Juden  Creange  imd  alle 
sich  gegenwärtig  in  der  Bretagne  aufhaltenden  Juden  nach 
ihren  ständigen  Wohnsitzen  auszuweisen",  und  zwar  innerhalb 
zweier  Wochen.  Feste  Wurzeln  hatte  nur  die  große  jüdische 
Kolonie  in  Bordeaux  gefaßt,  die  vorwiegend  aus  Großkaufleuten 
und  Bankiers  bestand,  welche  Finanzoperationen  mit  dem 
königlichen  Hofe  unterhielten.  Unter  I^udwig  XVI.  errangen  die 
Juden  von  Bordeaux  das  Recht,  auf  dem  ganzen  Territorium 
Frankreichs  zu  wohnen  imd  Handel  zu  treiben  (1776).  Die 
königliche  Schatzkammer  hatte  davon  keinen  Schaden :  hundert- 
tausende von  Livres  wurden  für  die  Vorrechte  eingezahlt,  und 
im  Jahre  1782  brachten  die  dankbaren  Juden  von  Bordeaux 
mehr  als  60  000  Livres  zusammen  imd  kauften  dafür  ein  Kriegs- 
schiff, das  sie  dem  König  zum  Geschenk  machten.  Ein  anderes 
jüdisches  Zentrum  hatte  sich  in  Avignon  erhalten,  das  noch 
kurz  vor  der  großen  Revolution  unter  der  Botmäßigkeit  der 
römischen  Päpste  stand.  Hier  herrschten  mittelalterliche  Ver- 
hältnisse: die  Juden  bewohnten  ein  besonderes  Viertel  (carriere 
des  juifs)  und  standen  unter  der  Aufsicht  der  päpstlichen  In- 
quisition; Jesuiten  und  Domiidkanermönche  erschienen  im 
Ghetto  und  hielten  an  Sabbaten  in  der  Synagoge  Predigten 
über  die  Heüsamkeit  des  Christentums  und  die  Verderblichkeit 
des  Judentums.  Nicht  selten  geschah  es,  daß  kleine  Judenkinder 
entführt,  in  Klöster  gebracht  und  zum  Christentum  bekehrt 
wurden,  ungeachtet  aller  Proteste  der  unglücklichen  Eltern. 

Die  Hauptmasse  der  französischen  Judenheit  konzentrierte 
sich  in  den  nordöstlichen  Provinzen  des  Königreichs  —  im  Elsaß 
und  einem  Teil  von  Lothringen  ^).  In  den  zwei  Städten  Lothrin- 
gens, in  Metz  und  Nancy  nebst  Umgebung,  war  die  Zahl  der 
Juden  streng  normiert:  in  der  ersteren  auf  480  Familien,  in  der 


*)  Nach  der  Volkszählung  von  1784  gab  es  im  Elsaß  19  524  Juden;  zu  dieser 
Zahl  wären  noch  viele  Juden  hinzuzurechnen,  die  infolge  der  strengen  Wohn- 
rechtsgesetze nicht  registriert  worden  sind.  Rechnet  man  die  480  jüdischen 
Familien,  die  nach  der  gesetzlichen  Norm  in  Metz,  und  die  180  Familien,  die  im 
Kreise  von  Nancy  wohnten  (insgesamt  etwa  4000  Seelen)  hinzu,  so  erhält  tuan 
für  die  gesamte  jüdische  Bevölkerung  von  Elsaß-Ivothringen  die  Zahl  40  000, 
In  ganz  Frankreich  gab  es  am  Vorabend  der  Revolution  von  1789  etwa  50  000 
Juden  (vgl.  Glaser,  Geschichte  der  Juden  in  Straßburg  1894,  S.  81 — 82  und 
die  anderen  am  Schlüsse  des  Bandes  zu  diesem  §  angegebenen  Quellen). 

3    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  33 


zweiten  auf  i8o.  Von  Zeit  zu  Zeit  pflegte  eine  Säuberung  vor- 
genommen zu  werden:  die  auf  dem  Wege  des  natürlichen  Zu- 
wachses öder  aer  geheimen  Einwanderung  hinzugekommenen 
überzähligen  Familien  wurden  vertrieben.  Am  Ende  des  i8.  Jahr- 
hunderts bildete  das  Ghetto  von  Metz  dasselbe  düstere  Nest  von 
Ausgestoßenen,  wie  zu  Beginn  des  Jahrhunderts:  dieselbe  Enge 
und  derselbe  Schmutz  eines  abgeschlossenen  Viertels,  dieselben 
ruinierenden  Steuern  für  das  Wohnrecht  (droit  d'habitation ; 
eine  jährliche  Abgabensumme  im  Betrage  von  20  000  Livres 
wurde  noch  in  den  ersten  Jahren  der  Revolution  zugunsten  der 
Nachkommen  des  Herzogs  Brauca  und  der  Gräfin  Fontaigne 
erhoben),  die  demütigende  Abgabe  zugunsten  der  lokalen  Pfarr- 
kirchen, und  dann  —  das  Verbot,  sich  in  der  Stadt  an  Sonn- 
und  Feiertagen  zu  zeigen  u.  dgl,  m.  —  alles  wie  im  Frankfurter 
Ghetto,  abgesehen  von  einigen  Variationen. 

Die  jüdische  Bevölkerung  vom  Elsaß  war  über  zweihundert 
Städte  und  Dörfer  zerstreut,  aber  in  der  Hauptstadt,  Straßburg, 
war  den  Juden  der  ständige  Aufenthalt  verboten.  Ein  altes 
Privilegium,  das  die  Stadt  zur  Zeit  des  schwarzen  Todes  (1349) 
erhalten  hatte,  gab  dem  Magistrat  das  Recht,  keinem  einzigen 
Juden  den  Zutritt  zu  gewähren  —  und  gegen  dieses  Vorrecht 
erwiesen  sich  selbst  die  den  Juden  freundlichen  Bemühungen 
der  Könige  ohnmächtig.  In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts wurde  den  Juden  der  Aufenthalt  in  Straßburg  ge- 
stattet, aber  nur  auf  der  Durchreise,  um  zu  übernachten,  ge- 
schäftshalber, für  einige  Tage  und  mit  jedesmaliger  besonderer 
Genehmigung  der  Polizei.  Dabei  mußte  jeder  Ankömmling  eine 
ganze  Reihe  demütigender  Prozeduren  durchmachen;  am  Stadt- 
tor entrichtete  er  einen  für  Vieh  festgesetzten  Passierzoll  (peage 
corporel,  dem  deutschen  Leibzoll  entsprechend);  in  den  Besitz 
des  Passierscheines  gelangt,  durfte  er  nur  in  einige,  eigens  für 
diesen  Zweck  bestimmte  Herbergen  einkehren,  und  die  Polizei 
paßte  auf,  daß  er  nach  Ablauf  der  ihm  gewährten  Frist  die 
Stadt  verließ.  Charakteristisch  ist  die  polizeUiche  Verordnung, 
die  in  Straßburg  im  November  1780  erlassen  wurde:  „Die  Rich- 
ter der  Polizeikammer  haben  bemerkt,  daß  einige  Bürger  sich 
unterstehen,  vom  Gelderwerb  verlockt  und  ohne  die  schlimmen 
Folgen  zu  bedenken,  an  Juden  Zimmer  und  Wohnungen  in 
ihren  Häusern  zu  vermieten,  was  eine  sehr  gefährliche  Annähe- 

34 


rung  und  Vertraulichkeit  zwischen  den  Christen  und  der  jüdi- 
schen Nation  bewirkt  und  den  alten  Reglements,  die  jedem 
Juden  ausdrücklich  verbieten,  unter  dem  gleichen  Dache  mit 
Christen  zu  wohnen,  strikt  zuwiderläuft.  Um  diesen  durch  seine 
Folgen  so  gefährlichen  Mißbrauch  abzustellen,  verbieten  wir 
allen  Bürgern  unter  Androhung  einer  Strafe  von  150  Livres, 
den  Juden  Häuser,  Geschäfte  oder  irgendwelche  Räume  zu  ver- 
nüeten.  Wir  befehlen  (den  Bürgern),  die  Juden,  die  bei  ihnen  zu 
mieten  begehren  oder  um  Nachtquartier  bitten,  an  die  Orte  zu 
schicken,  die  ihnen  gestattet  und  hierfür  bestimmt  sind  .  .  .  Da- 
mit niemand  sich  auf  die  Nichtkenntnis  dieser  Verordnxmg  be- 
rufen kann,  verordnen  wir,  sie  in  zwei  Sprachen  zu  drucken 
und  anzuschlagen."  Straßburg,  der  Mittelpunkt  des  „Ansied- 
lungsrayons"  vom  Elsaß,  blieb  auf  diese  Weise  den  Juden  ver- 
schlossen ebenso  wie  es  später  im  russischen  Ghetto  die  Stadt 
Kijew  war.  Spezielle  Herbergen  für  zugereiste  Juden,  die ,, Treib- 
jagd" der  Polizei  gegen  die  sich  ungesetzhch  Aufhaltenden  — 
dies  alles  machte  die  Stadt  am  Rhein  der  Stadt  am  Dniepr  zur 
Zeit  der  „alten  Ordnung"  ähnhch.  Wie  eifrig  dafür  gesorgt 
wurde,  die  Stadt  Straßburg  vor  einer  „Judeninvasion"  zu  be- 
wahren, ist  aus  der  folgenden  Episode  zu  ersehen.  Ein  reicher 
Jude,  der  königUche  Heereslieferant,  Herz  Cerf-Berr  aus  Bis- 
heim bemühte  sich  bei  den  Stadtbehörden  um  die  Erlaubnis, 
während  des  Winters  in  Straßburg  zu  verbleiben,  da  die  Wege 
durch  umherstreifende  Räuber  imsicher  gemacht  seien  und  es 
gefährlich  wäre,  in  Geschäften  nach  der  Stadt  zu  fahren  und 
von  dorther  zurückzukehren.  Die  Behörde  verweigerte  die  Er- 
laubnis. Da  intervenierte  der  bekannte  Staatsmann,  der  Herzog 
Choiseul,  der  in  einem  an  den  Stadtrat  gerichteten  Schreiben 
nachwies,  daß  der  Aufenthalt  eines  unter  wachsamer  polizeilicher 
Aufsicht  stehenden  jüdischen  Kaufmannes  während  des  einen 
Winters  keinen  Schaden  anrichten  könne.  Und  nur  dem  Drucke 
des  allmächtigen  Ministers  nachgebend,  ließen  die  lokalen  Be- 
hörden den  Berr  in  Ruhe.  Einige  Jahre  nach  diesem  Ereignis 
mußten  sie  sich  eine  schärfere  Abweichung  von  dem  mittelalter- 
lichen Reglement  gefallen  lassen.  Als  Entgelt  für  die  dem  Heere 
und  der  Regierung  erwiesenen  Dienste  erteilte  der  König  dem 
Cerf-Berr  und  seiner  Familie  ein  Naturalisationspatent  und  das 
unbeschränkte  Wohnrecht  im  ganzen  Lande.  Der  Stadtrat  von 

3*  35 


Straßburg,  das  Berr  zu  seinem  Wohnsitz  wählte,  suchte  ihm  an- 
fangs den  Erwerb  von  unbeweglichen  Gütern  möglichst  zu  er- 
schweren, fügte  sich  aber  schließlich  doch,  wenn  auch  mit  ver- 
haltenem GroU  dem  Willen  des  Königs.  Und  so  kam  es,  daß  die 
Volkszählung  im  Jahre  1787  —  zum  nicht  geringen  Entsetzen 
der  Väter  der  Stadt  —  vier  jüdische  Familien,  aus  68  Personen 
bestehend,  aufwies.  Es  waren  dies  die  Familien  des  Cerf-Berr 
und  seiner  Verwandten,  seine  Handelsgehüfen  imd  Dienstboten. 

Aber  die  große  Masse  der  Elsässer  Juden  blieb  unnaturalisiert : 
sie  bildeten  eine  Gruppe  recht-  und  schutzloser  Ausländer,  die 
nur  geduldet  waren.  In  den  Dörfern  und  herrschaftlichen  Städt- 
chen verdankten  sie  das  Wohnrecht  der  Gunst  der  feudalen 
Gutsherrn  oder  der  Seigneurs,  die  für  dieses  ,, droit  d'habita- 
tion"  drückende  Steuern  erhoben.  Durch  eine  Reihe  von  Ge- 
werbebeschränkungen wurde  die  jüdische  Masse  in  das  Gebiet 
des  Kleinhandels  und  des  Wuchers  hineingetrieben.  Die  in  den 
Dörfern  wohnenden  Juden  gaben  den  Bauern  Darlehen  auf 
Getreide  und  Trauben;  in  den  Städten  und  Dörfern  traten  sie 
als  die  Gläubiger  der  Kleinbürger  und  der  Handwerker  auf.  Der 
christliche  Schiüdner,  dem  die  unsichere  rechtliche  Lage  des  Juden, 
den  man  zu  jeder  Zeit  aus  jedem  Orte  hinausekeln  konnte,  be- 
kannt war,  nahm  das  Darlehen,  ohne  je  an  die  Rückerstatttmg 
zu  denken.  Dadurch  stieg  das  Risiko  des  Gläubigers,  der  sich  ge- 
nötigt sah,  Wucherzinsen  zu  nehmen.  Daraus  resultierte  eine 
Reihe  von  Zusammenstößen  und  Rechtsstreitigkeiten,  die  un- 
glückliche Lage  des  Juden  als  eines  „ausgebeuteten  Ausbeuters", 
die  allgemeine  Verachtung,  die  man  ihm  entgegenbracTite,  und 
die  Gleichsetzung  der  Worte  „Jude"  und  „Wucherer"  (usurier). 
Auf  diesem  Boden  entstand  die  berühmte  Affaire  des  Juden- 
feindes Hell,  eines  elsässischen  Landrichters,  der  eine  Massen- 
fälschung von  Zahltmgsquittungen  organisierte,  die  zur  Tilgung 
der  von  Christen  an  Juden  ausgestellten  Schuldscheine  dienten. 
Hell  büßte  für  seinen  Betrug,  indem  er  durch  einen  königlichen 
Erlaß  aus  dem  Elsaß  ausgewiesen  wurde  (1780),  aber  Hunderte 
jüdischer  Familien  waren  ruiniert. 

Die  alte  Ordnung  erreichte  ihr  Ziel:  sie  machte  den  Juden  zu- 
erst zu  einem  rechtlosen,  dann  zu  einem  verachteten  Wesen. 
Man  zwang  den  Juden,  alles  zu  kaufen:  das  Wohnrecht,  das 
Recht,  ein  Gewerbe  auszuüben  und  das  Recht  der  Freizügigkeit; 

36 


man  zwang  ihn^  für  jeden  Atemzug,  den  er  tat,  für  jede  Spanne 
Erde,  auf  der  ihm  zu  stehen  gestattet  war,  zu  zahlen.  Was  blieb 
ihm  anderes  übrig,  als  gierig  nach  Geld  zu  streben,  für  das  er 
sich  Rechte  kaufen  konnte,  welche  andere  ohne  Geld  besaßen? 
Die  adligen  Gutsbesitzer  oder  Seigneurs  preßten  aus  den  auf 
ihren  Besitztümern  lebenden  Juden  die  letzten  Säfte  aus.  Wäh- 
rend so  ein  Seigneur  einem  Juden  gegen  eine  große  alljährliche 
Abgabe  das  „Wohnrecht"  gewährte,  garantierte  er  dessen  Kin- 
dern, wenn  diese  aufwuchsen,  dieses  Recht  nicht;  ein  erwachsener 
Sohn  mußte  oft  das  väterliche  Haus  verlassen,  wenn  der  Seigneur 
ihm  das  Wohnrecht  versagte.  Und  wenn  die  Juden  sich  über 
solche  Willkür  beim  Obersten  Rat  vom  Elsaß  (Conseü  souverain 
d'Alsace)  beschwerten,  bekamen  sie  von  dieser  höchsten  Ver- 
waltungsbehörde des  Landes  Antworten  wie  diese:  „Der  Jude 
hat  keinen  ständigen  Wohnsitz;  er  ist  zur  ewigen  Wanderschaft 
verurteilt.  Dieses  Schicksal  verfolgt  ihn  überall  und  sagt  ihm, 
daß  er  sich  nirgends  dauernde  Ansässigkeit  gestatten  darf. 
Darum  ist  es  empörend  (revoltant),  wenn  ein  Angehöriger  dieser 
verurteüten  Nation  (nation  proscrite)  einen  Seigneur  zwingen 
will,  ihn  anzuerkennen  und  ihm  das  Schutzrecht  nur  aus  dem 
Grunde  zu  gewähren,  weil  der  Seigneur  die  Gnade  hatte,  den 
Vater  dieses  Juden  auf  seinen  Besitzungen  zu  dulden,  und  weil 
dieser  Jude  da  geboren  ist .  .  .  Der  Jude  ist  weder  Bürger  noch 
Städter  (ni  citoyen,  ni  bourgeois);  das  Wohnrecht  in  jedem 
Einzelfalle  kann  ihm  nur  der  Seigneur  verleihen,  der  auch  be- 
fugt ist,  ihn,  wenn  nötig,  auszuweisen." 

Im  Jahre  1784  machte  die  Regierung  einige  Schritte  zur  Er- 
leichterung der  Lage  der  Juden.  Im  Januar  dieses  Jahres  wurde 
durch  ein  Dekret  des  Königs  Ludwigs  XVI.  der  Leibzoll  (peage 
corporel),  d.  h.  der  Zoll,  der  von  den  durch  die  Provinz  Elsaß 
durchreisenden  Juden  erhoben  wurde  und  sie  ,, Tieren  gleich- 
stellte" (qui  les  assimile  aux  animaux)  abgeschafft.  Aber  im  Juli 
des  gleichen  Jahres  wurde  ein  neues  königliches  Reglement  für 
die  Elsässer  Juden  veröffentlicht,  durch  das  der  Monarch  alle 
auf  den  Juden  lastenden,  von  feudalen  und  bürgerlichen  Juden- 
feinden erfundenen  Beschränkungen  und  Repressionen  zu  einem 
Gesetz  erhob.  Abgesehen  von  einigen  Artikeln,  die  den  Juden 
eine  gewisse  Erweiterung  der  Gewerbefreiheit  (in  der  Pacht  von 
Gütern,  im  Ackerbau  und  in  der  Fabrikindustrie)  gewährten, 

37 


stellen  alle  Grundartikel  des  Reglements  nur  eine  Kodifikation 
der  Rechtlosigkeit  dar.  Am  auffälligsten  ist  die  Tendenz,  den 
natürlichen  Zuwachs  der  jüdischen  Bevölkerung  zu  hemmen. 
Der  erste  Artikel  lautet:  „Diejenigen  von  den  in  der  Provinz 
Elsaß  zerstreuten  Juden,  die  im  Augenblick  der  Veröffentlichung 
des  vorliegenden  Reglements  keinen  ständigen  Wohnsitz  be- 
sitzen und  die  Steuer  für  den  Schutz  (droit  de  protection)  an 
den  König,  die  Steuer  für  die  Zulassung  und  den  Aufenthalt 
(reception  et  habitation)  an  die  Seigneurs  und  die  Städte  und 
die  Abgabe  (contribution)  an  die  Gemeinden  nicht  eingezahlt 
haben,  müssen  diese  Provinz  innerhalb  dreier  Monate  verlassen, 
selbst  wenn  sie  sich  verpflichten,  von  nun  an  diese  Steuern  und 
Abgaben  zu  zahlen;  wenn  sie  aber  im  Lande  bleiben,  so  ist  mit 
ihnen  wie  mit  Landstreichern  und  gewissenlosen  Menschen 
(vagabonds  et  gens  sans  aveu)  nach  der  ganzen  Strenge  der 
Ordonnances  zu  verfahren."  Die  folgenden  Artikel  verbieten  den 
Seigneurs,  Städten  und  Gemeinden,  ausländischen  Juden  stän- 
digen Wohnsitz  zu  gewähren;  die  letzteren  dürfen  sich  im  Elsaß 
nur  in  geschäftlichen  Angelegenheiten  höchstens  drei  Monate 
lang  aufhalten,  falls  sie  eine  Bestätigung  über  ihre  Persönlich- 
keit und  den  Zweck  der  Reise  von  der  Behörde  des  Ortes,  aus 
dem  sie  kommen,  vorweisen.  Das  neue  Gesetz  schützt  das  Land 
vor  dem  Zuzug  fremder  Juden  und  normiert  zugleich  ihren  natür- 
lichen Zuwachs.  Allen  Elsässer  Juden  und  Jüdinnen  wird  ver- 
boten, ohne  eine  ausdrückliche  Genehmigung  des  Königs,  selbst 
auf  feudalen  Besitztümern  Ehen  einzugehen;  Zuwiderhandelnde 
werden  des  Landes  verwiesen ;  den  Rabbinern  wird  bei  An- 
drohung einer  Strafe  von  3000  Livres  —  im  Wiederholungs- 
falle der  Ausweisung  aus  der  Provinz  —  verboten  Eheschlie- 
ßungen ohne  eine  solche  Genehmigung  vorzimehmen. 

Durch  diesen  in  den  „liberalen"  Regierungsjahren  Lud- 
wigs XVI.  veröffentlichten  Erlaß  wurde  also  das  schmachvolle 
System,  das  die  Juden  zu  Leibeigenen  machte,  legitimiert.  Die 
jüdische  Bevölkerung  von  Elsaß  stöhnte  auch  weiter  unter  der 
väterlichen  Vormundschaft  der  Seigneurs  und  der  Stadtbehörden. 
Kühnere  Juden  suchten  dieses  Reich  der  feudalen  Sklavenhalter 
zu  fliehen  und  nach  den  größeren  Zentren,  besonders  nach  der 
Hauptstadt  des  Landes,  Paris,  zu  kommen.  Hier  standen  ihnen 
aber  neue  Erniedrigungen  bevor.  Die  Hauptstadt  befand  sich 

38 


außerhalb  des  „Ansiedlungsrayons",  und  mit  den  ankommenden 
Juden  wurde  in  Paris  ebenso  verfahren,  wie  in  unseren  Tagen 
in  Petersburg  oder  Moskau.  Sie  standen  hier  unter  der  Aufsicht 
einer  eigenen  „Inspektion  für  Juden  und  Vagabunden"  (in- 
spection  des  escrocs  et  des  juifs).  Zur  Erlangung  einer  Geneh- 
migung für  zeitweiligen  Aufenthalt  in  Paris  mußten  die  Juden 
schriftliche  Beweise  über  den  Zweck  ihrer  Reise  vorzeigen.  Die 
Polizeikommissare  kamen  jede  Woche  oder  alle  vierzehn  Tage 
in  die  von  Juden  bewohnten  Gasthäuser  und  Herbergen,  mach- 
ten Haussuchungen,  nahmen  die  „Verdächtigen"  mit  und 
schleppten  solche,  die  keine  Ausweise  über  das  Wohnrecht 
hatten,  ins  Gefängnis.  Solche  „Treibjagden"  wurden  gewöhn- 
lich abends  oder  sogar  nachts  abgehalten.  Auf  den  Polizei- 
revieren spielten  sich  Szenen  wie  die  folgende  ab:  ,, Womit  be- 
schäftigt sich  dieser?"  fragt  der  Polizeibeamte.  „Er  ist  Tröd- 
ler" antwortet  der  Schutzmann.  —  „Gut,  der  kommt  ins  Ge- 
fängnis. Und  dieser?"  —  ,,Leon  Caguin,  wohnt  in  der  Rue 
St.  Martin,  ist  nach  Paris  gekommen,  um  ein  Lieferungsgeschäft 
mit  dem  Grenadierregiment  abzuschließen;  wird  nach  einigen 
Tagen  verreisen."  —  „Gut.  Wenn  er  aber  über  die  festgesetzte 
Frist  hinaus  bleibt,  kommt  er  ins  Gefängnis!  Der  Dritte?"  — 
,,Ein  Kaffeemahler."  —  „Der  folgende?"  —  ,, Steht  in  schlech- 
tem Ruf."  —  ,, Ausweisen!  Und  der  letzte?"  —  „Alexandre 
Jacob  aus  der  Rue  Moduet,  Faktor,  hat  keinen  Paß  ..."  — 
„Ausweisen!  Jagen  Sie  auch  die  andern  fort!  Alle  ausweisen!" 
Trotz  aller  Verbote  imd  Verfolgungen  bestand  in  Paris  doch 
eine  ständige  jüdische  Kolonie,  die  um  1780  herum  an  die  800 
Seelen  zählte.  Die  Zusammensetzung  dieser  Kolonie  war  recht 
bunt.  Eine  privilegierte  Stellung  nahmen  die  Juden  aus  dem 
Süden,  die  Sephardim  ein,  hauptsächlich  Großkaufleute  aus 
Bordeaux;  an  der  Spitze  dieser  Gruppe  stand  der  bekannte 
Philantrop,  der  Begründer  der  Taubstummenanstalt,  Jakob- 
Rodrigues  Pereira.  Die  niedrigste  Stufe  in  der  Kolonie  nahmen 
die  Aschkenasim,  elsässische  und  deutsch-polnische  Juden,  ein. 
Vom  Jahre  1777  ab  waren  alle  nach  Paris  kommenden  Juden 
durch  einen  Erlaß  des  Polizeidirektors  verpflichtet,  ihre  Papiere 
(die  Empfehlungsschreiben  der  Notabein  ihrer  Gemeinden)  dem 
Pereira  vorzuweisen,  der  eine  genaue  Liste  über  die  Neuan- 
kommenden führte  und  diese  periodisch  der  Polizeibehörde  vor- 

39 


wies;  diese  jüdische  Inspektion  war  den  Aschkenasim  besonders 
lästig,  da  Pereira  sie  viel  strenger  behandelte  als  seine  Lands- 
leute,  die  Sephardim.  Die  Polizeijagden  auf  die  oablosen  Juden 
dauerten  fort,  und  selbst  in  den  ersten  Monaten  der  Revolution 
(Mai  und  Juni  1789)  fanden  in  Paris  mehrere  Überfälle  der 
Polizei  auf  jüdische  Quartiere  statt. 

Das  Edikt  von  1787,  das  den  Nichtkatholiken  volle  Freiheit 
in  Handel  und  Industrie  gewährte,  erstreckte  sich  auf  Pro- 
testanten, aber  nicht  auf  Juden.  In  den  letzten  Jahten  vor  der 
Revolution  wurde  die  jüdische  Frage  in  einer  Regierungs- 
kommission, unter  der  Leitung  des  liberalen  Ministers  Males- 
herbes behandelt;  dieser  Kommission  gehörten  auch  Vertreter 
der  Juden  an,  von  den  Sephardim:  die  Juden  aus  Bordeaux, 
Furtado,  Gradis  und  andere;  von  den  Aschkenasim:  der  er- 
wähnte Cerf-Berr  aus  Straßburg  und  Jesaja-Beer  Bing  aus 
Nancy.  Die  jüdischen  Vertreter  forderten  bürgerliche  Gleich- 
berechtigung; die  Regierung  konnte  sich  aber  zu  einer  so  radi- 
kalen Reform  nicht  entschließen,  bis  das  Ungewitter  von  1789 
losbrach. 

§  7.  Italien.  Im  Ghetto  der  Stadt  Rom  blieb  ein  dichter 
Extrakt  des  Geistes  des  Mittelalters  erhalten.  Die  päpstliche  Re- 
gienmg  wies  einigen  Tausend  Juden  am  niedrigen,  schlammigen 
Ufer  des  Tibers  ein  kasemattenartiges  Viertel  zu  imd  stellte  an 
ihnen  qualvolle  Experimente  an.  Am  Ende  des  18.  Jahrhunderts, 
als  die  durch  die  Angriffe  der  Vernunft  bedrohte  Kirthe  sich 
im  Elriegszustande  befand,  erreichte  die  Härte  dieser  Experi- 
mentatoren ihren  Höhepunkt.  Es  hatte  den  Anschein  als  wolle 
man  sich  an  den  erdrückten,  eingeschüchterten  Bewohnern  des 
römischen  Ghetto  für  die  Verunglimpfung  der  Kirche  im  Lande 
Voltaires  und  der  Enzyklopädisten  rächen;  unter  diesem  Häuflein 
von  Ungläubigen  fahndete  die  Kirche  nach  Proselyten,  gleich- 
sam um  ihre  Verluste  in  der  Herde  der  Gläubigen  zu  ersetzen. 

„Das  Edikt  über  die  Juden"  (Editto  sopra  gli  Ebrei),  das  im 
Jahre  1775  durch  den  Papst  Pius  VI.  erlassen  wurde,  ge- 
hört zu  den  unmenschlichsten  Akten  in  der  Geschichte  der 
Menschheit.  In  den  44  Paragraphen  dieser  „Verfassung  des 
Ghettos"  konzentrierte  sich  das  aus  verschiedenen  Bullen  und 
Kanons  zusammengetragene  Schlangengift  des  römischen  Katho- 
lizismus. Die  Juden  durften  außerhalb  des  Ghettos  nicht  wohnen. 

40 


Am  Tage  war  es  ihnen  gestattet,  sich  in  ihren  Angelegenheiten 
in  die  Stadt  zu  begeben,  aber  daselbst  zu  übernachten  war 
ihnen  unter  Androhung  einer  Geldbuße  und  körperlicher  Züch- 
tigung untersagt.  Die  Pförtner  an  den  Toren  des  jüdischen 
Viertels  durften  von  9  Uhr  nachts  an  niemand  hinein-  imd 
hinauslassen.  Außerhalb  des  Ghettos  durften  die  Juden  keine 
Geschäfte  betreiben;  nur  in  seltenen  Fällen  wurde  es  ihnen  frei- 
gestellt, außerhalb  des  Ghettos  oder  in  dessen  Nähe  ein  Geschäft 
zu  eröffnen.  Unter  keinen  Umständen  durften  die  Juden  sich 
in  der  für  den  Sommeraufenthalt  bestimmten  Umgebung  der 
Stadt  niederlassen,  imd  wäre  es  nur,  um  frische  Luft  zu  atmen. 
Ein  Jude  durfte  in  den  Straßen  Roms  keine  Wagen  benutzen. 
Die  Juden  beiderlei  Geschlechts  waren  verpflichtet,  immer  imd 
überall,  außerhalb  und  innerhalb  des  Ghettos,  „ein  gelbes  Ab- 
zeichen zwecks  Unterscheidung  von  den  andern"  zu  tragen. 
Die  Männer  nähten  sich  diesen  gelben  Fetzen  an  ihre  Mützen, 
die  Frauen  an  ihren  Kopfputz,  wobei  es  den  einen  wie  den 
anderen  tmtersagt  war,  das  Abzeichen  durch  ein  Tuch  oder 
eine  Binde  zu  verdecken;  wenn  aber  ein  Jude  in  einer  gewöhn- 
lichen, nicht  „vorgeschriebenen"  Mütze  aus  dem  Hause  trat,  so 
mußte  er  sie  in  Händen  tragen  und  entblößten  Hauptes  einher- 
gehen. Für  die  Übertretung  dieser  Vorschriften  wurden  die 
strengsten  Strafen  ,,nach  Ermessen"  festgesetzt.  Den  Juden  war 
untersagt-,  an  Christen  Fleisch  und  Müch  zu  verkaufen,  ihnen 
Passahbrot  (Mazzes)  zu  geben,  sie  als  Diener  und  Ammen  anzu- 
stellen, christliche  Hebammen  beizuziehen,  Christen  in  ihre  Sy- 
nagoge einzuführen,  mit  ihnen  zu  essen,  zu  trinken,  zu  spielen, 
selbst  sich  mit  ihnen  in  Häusern,  Gasthäusern  und  Straßen  zu 
unterhalten  —  dies  alles  unter  Androhung  von  körperlicher 
Züchtigung  und  Geldbußen  für  beide  Teile.  Vor  dem  „ver- 
derblichen" Einfluß  der  Ghettobewohner  wurden  besonders  jene 
von  ihren  unglücklichen  Brüdern,  Schwestern  und  Kindern  be- 
wahrt, die  in  die  Falle  det  katholischen  Missionare  gerieten  und 
im  „Katechumenenhause"  wie  in  einem  Gefängnisse  saßen. 
Unter  der  Androhung  einer  Geldbuße  von  300  Skudis,  der  Ga- 
leerenstrafe und  „anderer  körperlicher  Züchtigimgen  nach  Er- 
messen" war  es  den  Juden  tmtersagt,  sich  diesen  Katechumenen- 
häusem  oder  der  Kirche  zur  Verkündung  Maria  zu  nähern.  Je- 
dem Juden,  der  einen  flüchtigen  Katechumen  oder  Neubekehr- 

.  41 


ten  bei  sich  beherbergte,  drohte  die  Folterbank.  Für  die  Wieder- 
bekehrung dieser  zum  Judentum  wurden  die  Schuldigen  mit 
Gefängnis,  Einziehung  des  Vermögens  und  Galeerenarbeit  be- 
straft. Dem  intimsten  geistigen  Leben  der  Juden  wurden  Fes- 
seln angelegt.  Gegen  die  „gottlosen,  verdammten  talmudischen, 
kabbalistischen  und  anderen  Schriften,  die  voller  Irrtümer  und 
Verunglimpf migen  der  christlichen  Sakramente  sind",  waren 
acht  grimmige  Paragraphen  gerichtet.  Solche  Schriften  —  d.  h. 
alle  jüdischen  Schriften,  abgesehen  von  Gebetbüchern  und  der 
Bibel  —  durften  die  Juden  weder  bei  sich  haben,  noch  lesen, 
verkaufen,  verschenken  u.  dgl.  Kein  Jude  hatte  das  Recht, 
irgendein  Buch  in  hebräischer  Sprache  ins  Land  zu  bringen, 
zu  kaufen  oder  als  Geschenk  in  Empfang  zu  nehmen,  ohne  es 
vorher  der  Zensur  des  Pater  Maestro  am  apostolischen  Hofe 
in  Rom  und  der  Bischöfe  und  Inquisitoren  an  anderen  Orten 
unterbreitet  zu  haben.  Auf  die  Übertretung  dieses  Verbots  stand 
eine  siebenjährige  Gefängnisstrafe.  Als  ein  Hohn  auf  die  heilig- 
sten Gefühle  des  Menschen  erscheint  das  über  die  Juden  vet- 
hängte  Verbot,  ihre  Toten  bei  angesteckten  Kerzen,  unter  Ver- 
lesung von  Psalmen  und  sonstigen  religiösen  Zeremonien  zu 
beerdigen,  auf  den  Gräbern  ihrer  Verstorbenen  Gedenksteine  zu 
errichten  und  an  diesen  Aufschriften  anzubringen.  Neue  Syna- 
gogen durften  im  Ghettogebiet  nicht  gebaut  werden,  aber  auch 
alte  zu  restaurieren  war  verboten.  An  christlichen  Feiertagen 
durften  die  Ghettobewohner  in  ihren  Häusern  nur  bei  ge- 
schlossenen Türen  arbeiten.  Dem  Rabbiner  stand  es  nicht  frei, 
die  den  geistlichen  Stand  kennzeichnende  Tracht  zu  tragen:  er 
mußte  die  übliche  Kleidung  der  Laien  tragen.  Die  Rabbiner 
waren  verpflichtet,  dafür  zu  sorgen,  daß  die  Juden  zu  den 
Predigten  der  kathoUschen  Missionare  in  festgesetzter  Zahl  er- 
scheinen, denn  die  „Predigt  iät  das  beste  Mittel,  die  Juden  zu 
bekehren".  Die  geistlichen  Hirten  des  Judentums  wurden  an- 
gehalten, ihre  eigene  Herde  in  den  Rachen  der  Wölfe  zu  treiben 
—  zu  solcher  raffinierten  Grausamkeit  verstiegen  sich  die  Ver- 
künder der  „Religion  der  Liebe".  Schließlich  befiehlt  der  Papst, 
das  „Judenedikt"  an  allen  Straßen  und  Palästen  Roms  und 
an  den  Synagogen  innerhalb  des  Ghettos  zur  genauen  Kennt- 
nisnahme anzuschlagen.  Dieser  Befehl  wurde  am  20.  Aprü  des 
Jahres  1775  vollzogen  —  und  die  römischen  Einwohner  drängten 

42 


sich  um  die  riesigen  Bekanntmachungen,  die  die  Paragraphen 
der  päpstlichen  „Judenverfassung"  enthielten. 

So  war  das  Regime  beschaffen,  unter  dem  die  im  römischen 
Ghetto  zusammengedrängte,  7000  Seelen  zählende  jüdische  Ge- 
meinde leben  mußte,  abgesehen  von  den  in  den  übrigen  Gegenden 
des  Kirchenstaates  und  im  päpstlichen  Avignon  verstreuten 
Juden.  Dupaty,  der  im  Jahre  1783  Rom  besuchte,  schrieb,  daß 
die  Lage  der  Juden  dort  schlimmer  als  irgenwo  anders  wäre. 
,,Man  fragt:  wann  werden  die  Juden  Christen  werden?  Ich  aber 
frage:  wann  werden  die  Christen  tolerant  werden?  Christen, 
wann  werdet  ihr  aufhören,  die  Rolle  der  Pächter  der  göttlichen 
Gerechtigkeit  zu  spielen?"  .  .  .  Ein  schwarzes  Heer  von  Mön- 
chen verbreitete  abscheuliche  judenfeindliche  Schmähschriften, 
die  den  Fanatismus  der  Katholiken  schürten.  Tätlichkeiten 
gegen  die  Juden  in  Rom  auf  offener  Straße,  oft  von  Plünde- 
rungen und  Totschlag  begleitet,  waren  an  der  Tagesordnung. 
Wenn  ein  Jude  an  einer  Kirche  vorbeiging,  wurde  nach  ihm 
mit  Steinen  geworfen,  und  er  wurde  oft  verwundet.  Einmal  ge- 
schah es,  daß  ein  Stein  einen  einäugigen  Juden  traf,  der  infolge- 
dessen gänzlich  erblindete  (1789).  Wo  es  sich  um  Neubekehrte 
handelte,  da  erreichten  die  gegen  die  Juden  gerichteten  Gewalt- 
tätigkeiten eine  ganz  besondere  Intensität.  Im  Frühjahr  1787 
erklärte  sich  ein  Jude  bereit,  zum  Christentum  überzutreten. 
Als  er  in  das  Asyl  für  die  Neubekehrten  (casa)  gebracht 
worden  war,  erklärte  er,  daß  zwei  in  verwandtschaftlichem 
Verhältnis  zu  ihm  stehende  elternlose  Knaben  im  Ghetto  zurück- 
gebHeben  seien.  In  der  Tat  hielten  sich  die  Knaben  bei  ihren 
nahen  Verwandten  auf.  Als  die  Kunde  in  die  Gemeinde  drang, 
daß  die  päpstlichen  Argusse  nach  den  Knaben  fahndeten,  um 
sie  auf  gewaltsamem  Wege  zu  taufen,  beeüte  man  sich,  sie 
zu  verstecken.  Nun  verhaftete  die  römische  PoUzei  sechzig 
jüdische  Knaben,  sperrte  sie  ein  und  befahl,  die  Ältesten  der 
jüdischen  Gemeinde  auf  die  Folterbank  zu  spannen.  Die  un- 
glücklichen Waisen  mußten  schließlich  ausgeliefert  werden. 
Ungeachtet  des  verzweifelten  Widerstandes  des  ältesten  Knaben, 
wurden  sie  gewaltsam  zum  Taufbecken  geschleppt.  Den  Versuch, 
sie  zu  retten,  mußte  die  Gemeinde  mit  ^iner  großen  Kontribu- 
tion büßen.  Die  römischen  Juden  teüten  diesen  Fall  ihren 
Glaubensgenossen  in  Berlin  und  andern  Orten  mit. 

43 


Die  zu  Tode  gemarterte  römische  Gemeinde  faßte  endlich 
im  Jahre  1786  den  Beschluß,  sich  an  den  Papst  Pius  VI.  mit 
der  flehentlichen  Bitte  zu  wenden,  ihre  Lage  zu  erleichtern. 
In  der  vom  Gemeinderat  des  Ghettos  dem  Papst  unterbreiteten 
Denkschrift  werden  alle  dem  Ghetto  auferlegten  Steuerbela- 
stungen (in  dem  langen  Steuerregister  figurieren  unter  anderem 
auch  die  schändliche  „Karnevalsteuer"  und  die  Gebühren  zu- 
gunsten des  „Katechumenenhauses")  alle  Gewerbe-  und  Betäti- 
gungseinschränktmgen  und  die  dem  Juden  auf  Schritt  und  Tritt 
zuteil  werdenden  öffentlichen  Demütigungen  aufgezählt.  Die 
Verzweiflung  der  Bittsteller  machte  sich  in  dem  folgenden,  an 
den  Papst,  den  Verfasser  des  Edikts  von  1775  gerichteten 
naiven  Appell  Luft:  ,,Eure  Heüigkeit  möchte  sich  erheben  und 
von  der  Höhe  ihres  Thrones  einen  Blick  auf  das  unten  liegende 
Ghetto  werfen,  auf  dieses  unglückselige  Überbleibsel  Israels, 
das  doch  auch  das  Volk  Eurer  Heiligkeit  ist  und  das  unter  Tränen 
und  Flehen  die  Hände  zu  Eurer  Heiligkeit  ausbreitet!"  Der  Papst 
Pius  VI.  ließ  sich  durch  diese  Bitte  erweichen  und  setzte  eine 
spezielle,  aus  sieben  Mitgliedern  bestehende  Kommission  ein, 
um  diese  Beschwerden  zu  untersuchen.  Diese  Kommission  hatte 
es  mit  der  Erfüllung  ihres  Auftrages  nicht  besonders  eiHg,  und 
noch  im  Jahre  1789  war  sie  damit  beschäftigt,  die  von  den  Juden 
vorgelegte  Denkschrift  zu  prüfen.  Die  Beratung  der  heiligen 
Väter  führte  natürlich  zu  nichts.  Eine  andere  Macht  war  es, 
bei  der  die  Seufzer  der  gemarterten  Ghettos  einen  Widerhall 
fanden:  es  war  die  aus  dem  revolutionären  Frankreich  mar- 
schierende siegreiche  Armee,  die  in  Rom  eindrang,  den  Papst 
vertrieb  und  die  Fahne  der  Republik  im  Zentrum  des  despo- 
tischen Kirchen-  und  Polizeistaates  erhob. 

Die  Lage  der  jüdischen  Gemeinden  an  anderen  Orten  Italiens 
bot  ein  zwar  nicht  so  düsteres,  aber  immerhin©  unerfreuliches 
Bild.  Viele  Provinzen  befanden  sich  in  der  politischen  Einfluß- 
sphäre Österreichs  oder  Spaniens,  d.  h.  zweier  Staaten  mit 
einer  scharf  ausgeprägten  klerikalen  Richtung  in  der  Juden- 
frage. Der  Einfluß  der  europäischen  Reformen  des  Kaisers 
Josephs  II.  konnte  nur  in  solchen  an  Österreich  eng  angrenzen- 
den Punkten  wie  Triest,  zum  Ausdruck  kommen,  und  auch  dies 
nicht  im  Sinne  einer  Verbesserung  des  staatsbürgerlichen  Lebens 
der  Juden,  In  den  großen  Handelsstädten  Italiens  gestalteten 

44 


sich  die  Beziehungen  zu  den  Juden  unter  dem  Einflüsse  von 
Kompromissen  mit  den  entsprechenden  Munizipalbehörden.  Die 
wichtige  kommerzielle  RoUe,  die  die  Juden  in  der  Hafenstadt 
Livorno  spielten,  nötigte  die  betreffende  Munizipalbehörde, 
mit  der  jüdischen  Gemeinde  zu  rechnen,  und  die  Munizipal- 
verfassung des  Jahres  1780  mußte  den  Juden  das  Recht  ge- 
währen, ihre  eigenen  Abgeordneten  in  den  Stadtrat  zu  wählen. 
Hier  wie  in  Florenz  hielten  sich  die  Juden  ungestört  außerhalb 
des  Ghettos  auf.  Die  durch  die  Wachsamkeit  der  konservativen 
Regierung  der  Republik  sorgsam  behütete  alte  Ordnung  des 
Ghettos  von  Venedig  sträubte  sich  gegen  jeden  neuen  Einfluß, 
trotzdem  die  venezianischen  Juden  als  Exporteure  und  Bankiers 
auf  industriellem  Gebiet  eine  bedeutende  Rolle  spielten.  Was 
die  anderen  Gegenden  anbetrifft,  z.  B.  die  Herzogtümer  Pie- 
mont  und  Modena,  so  wurde  hier  die  Lage  der  Juden  durch  das 
kanonische  Recht  bestimmt;  die  klerikal  gesinnten  Regenten 
waren  bestrebt,  die  I/ebensordnung  in  den  jüdischen  Gemeinden 
möglichst  nach  dem  Vorbüde  des  römischen  Ghettos  zu  gestalten. 
§  8.  Die  Niederlande,  England,  Schweiz  und  Skandinavien. 
In  einem  schroffen  Gegensatz  zum  düsteren  Ghetto  im  Haupt- 
sitz des  Katholizismus  standen  die  jüdischen  Gemeinden 
im  reformierten  Holland,  dem  Horte  relativer  Glaubensfreiheit. 
Indem  Holland  seine  gastfreundlichen  Tore  Zehntausenden  jü- 
discher Flüchtlinge  aus  den  Ländern  der  Inquisition  (Spanien 
und  Portugal)  und  den  Opfern  der  Rechtlosigkeit  aus  Deutsch- 
land öffnete  und  ihnen  Zuflucht  gewährte,  sicherte  es  zu  gleicher 
Zeit  den  Neuankömmlingen,  wenn  auch  nicht  staatsbürger- 
liche Gleichberechtigung,  so  doch  Glaubensfreiheit  und  Unan- 
tastbarkeit der  Person.  In  Amsterdam,  Haag,  Rotterdam  und 
anderen  niederländischen  Städten  bestanden  zahlreiche  sowohl 
sephardische  wie  aschkenasische  Gemeinden,  die  sich  durch  gut- 
organisierte Selbstverwaltungen  auszeichneten.  Die  Juden  rag- 
ten besonders  im  Großhandel,  speziell  in  dessen  europäisch- 
amerikanischem  Zweige,  und  auf  finanziellem  Gebiete  hervor. 
In  staatsbürgerlicher  Hinsicht  führten  sie  jedoch  ein  abgeson- 
dertes Dasein  und  kamen  an  zweiter  Stelle  nach  den  Katholiken 
zu  stehen,  die  ebensowenig  wie  sie  bei  den  Anhängern  der 
herrschenden  Kirche  Gleichberechtigung  zu  erringen  vermochten. 
Die  Juden  büdeten  auf  diese  Weise  eine  Staatsbürgerklasse 

45 


dritten  Ranges.  In  Amsterdan  galt  noch  ein  altes  Gesetz,  nach 
dem  die  Juden  zu  den  kaufmännischen  und  gewerblichen  Zünf- 
ten nicht  zugelassen  wurden;  infolgedessen  waren  die  mittleren 
und  niederen  Ellassen  der  jüdischen  Bevölkerung  von  verschie- 
denen Erwerbszweigen  ausgeschlossen.  Die  öffentlichen  Schulen 
des  Landes  blieben  den  jüdischen  Kindern  verschlossen,  trotz- 
dem die  Juden  die  allgemeine  Schulsteuer  und  sogar  die  der 
herrschenden  Kirche  zugute  kommenden  Steuern  entrichteten. 
Im  allgemeinen  legten  die  Munizipalbehörden  eine  offensicht- 
liche Mißgunst  gegen  die  Juden  an  den  Tag  und  suchten  deren 
Wettbewerb  mit  den  Christen  auf  den  verschiedenen  Gebieten 
der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  zu  verhindern.  Wirklich  gute  Be- 
ziehungen bestanden  nur  zwischen  der  jüdischen  Aristokratie 
und  den  Statthaltern  der  Niederlande,  den  Prinzen  aus  dem 
Hause  Oranien.  Zur  Zeit  des  gegen  den  Statthalter  Wilhelm  V. 
gerichteten  Aufstandes  (1786 — 87)  stellten  sich  die  Juden  an 
die  Seite  der  „oranischen  Partei".  Der  aus  Haag  entflohene 
Statthalter  fand  im  Hause  des  Benjamin  Cohen  in  Amsterdam 
freundliche  Aufnahme.  Als  Wilhelm  mit  Hilfe  deutscher  Truppen 
die  Herrschaft  wiedererlangte,  beteiligten  sich  die  Juden  an 
den  Feiern  zu  Ehren  des  zurückgekehrten  Regenten.  Allem  An- 
scheine nach  hatten  sie  ihre  Gründe,  die  ,, regierende  Partei" 
denjenigen  „Patrioten"  vorzuziehen,  die  in  den  Magistraten  und 
Zünften  ihre  Rechte  auf  alle  erdenkliche  Weise  einzuschränken 
suchten  und  sie  von  ihrer  Gesellschaft  ausschlössen. 

Anzeichen  einer  systematischen  passiven  Unduldsamkeit 
traten  mit  voller  Deutlichkeit  in  England  hervor.  Hier  unter- 
lagen die  Juden  dem  allgemeinen  Schicksale  der  „Dissenters" 
(der  Christen,  die  der  herrschenden  anglikanischen  Kirche  nicht 
angehörten),  denen  im  18.  Jahrhundert  die  bürgerliche  Gleich- 
berechtigung hartnäckig  verweigert  wurde;  aber  als  Nicht- 
christen  standen  sie  auf  der  gesellschaftlichen  Stufenleiter  um 
eine  Stufe  tiefer  als  die  „Dissenters".  Die  Aufhebung  des  liberalen 
Gesetzes  von  1753  von  der  Naturalisation  der  Juden  in  England, 
die  im  Jahre  1754  auf  Betreiben  der  konservativen  Partei  er- 
folgte, schob  die  Entwicklung  der  englischen  Judenheit  in 
staatsbürgerhcher  Hinsicht  für  lange  Zeit  hinaus.  Die  Juden 
nahmen  regen  Anteil  am  Handel  und  an  der  Industrie  und 
besaßen  ihre  autonomen  Gemeinden  in  I/3ndon  und  anderen 

46 


Städten;  von  dem  gesellschaftlichen  und  politischen  Leben  des 
Landes  waren  sie  jedoch  ausgeschlossen.  In  vielen  elementaren 
Rechten  waren  sie  eingeschränkt  (z.  B.  dem  Erwerb  von  Im- 
mobilien). Die  Bekleidung  eines  öffentlichen  Amtes  war  mit  einer 
Eidesformel  verbunden,  die  folgende  Worte  enthielt:  „Nach 
dem  echten  und  wahren  Christenglauben."  Dieser  fatale  Satz 
hinderte  die  Juden,  dem  Parlament,  den  Munizipalbehörden 
und  den  verschiedenen  Standeskorporationen  anzugehören.  Ein 
originelles  System  bürgerte  sich  ein :  Der  Jude  wurde  nicht  ver- 
folgt, in  sein  intimes  Privatleben  drang  man  nicht  in  brutaler 
Weise  ein,  wie  es  in  Preußen  und  Österreich  der  Fall  war,  aber 
von  dem  staatsbürgerlichen  und  politischen  Ganzen  wurde  er 
durch  unüberwindliche  Schranken  getrennt.  Zwischen  dem  Juden 
und  dem  alle  Rechte  genießenden  Engländer  stand  die  Kirche 

—  nicht  eine  aggressive  und  kampflustige,  wie  die  römisch- 
katholische, sondern  eine  in  ihrer  Passivität  zähe,  den  Nicht- 
anglikaner,  um  so  weniger  den  Nichtchristen  als  Bürger  keines- 
wegs anerkennende  Kirche.  Die  Zugehörigkeit  zu  der  herrschen- 
den Kirche  konnte  aus  allen  Verlegenheiten  helfen.  Als  im 
Jahre  1780  auf  dem  Boden  religiöser  Konflikte  in  London 
Straßenkrawalle  entstanden,  ließen  die  Juden  an  den  Fenstern 
ihrer  Häuser  folgende  Inschrift  anbringen:  ,,Dies  Haus  gehört 
einem  echten  Protestanten."  Zu  jener  Zeit  begann  man  von  einer 
Änderung  der  äußeren  Etikette  in  weiterem  Sinne  immer  öfter 
Gebrauch  zu  machen.  Unter  der  jiidischen  Aristokratie  befanden 
sich  nicht  wenige  Familien,  die  sich  entschlossen  hatten,  ihre 
Kinder  in  den  Schoß  der  herrschenden  Kirche  zu  bringen,  um 
ihnen  eine  gute  Karriere  und  eine  Stellung  in  der  Gesellschaft 
zu  sichern.  Große  Versuchung  übte  das  Beispiel  eines  Finanz- 
mannes, des  Altesten  der  Londoner  Gemeinde  —  Simson  Gedeon 

—  aus,  der  gleich  nach  der  Aufhebung  des  Naturalisierungs- 
gesetzes seine  Kinder  taufen  ließ.  Eine  ganze  Reihe  jüdischer 
Familien  in  London  folgte  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
diesem  Beispiel,  Abtrünnigkeit  machte  sich  besonders  in  der 
Gemeinde  der  Sephardim  unter  den  reichen  Kauf-  und  Finanz- 
leuten bemerkbar.  Standhafter  erwiesen  sich  die  Aschkenasim, 
deutsch-polnische  Juden,  bei  denen  die  nationalen  Traditionen 
überwogen.  Auf  der  wirtschaftlichen  Stufenleiter  kamen  sie 
eine  Stufe  tiefer  zu  stehen,  und  zu  gleicher  Zeit  waren  sie  durch 

47 


einen  weiteren  Abstand  von  der  englischen  Gesellschaft  getrennt. 
Die  Aschkenasim  wohnten  nicht  nur  in  I^ondon,  sondern  auch 
in  anderen  Hafen-  und  Handelszentren:  Liverpool,  Pleamouth, 
Bristol  und  beschäftigten  sich  mit  Kleinhandel  und  Hausieren. 

Wenden  wir  uns  nun  von  lyändem  mit  gemischter  sephar- 
disch-aschkenasischer  Kultur,  wie  Holland  und  England,  zu 
solchen  Judenkolonien,  die  in  ihrer  inneren  Zusammensetzung 
gleichartiger  und  einheitlicher  waren,  und  entweder  zu  Deutsch- 
land oder  Österreich  hielten,  so  bietet  sich  unseren  Augen  das- 
selbe trostlose  Bild.  In  der  Schweiz,  wo  Juden  überhaupt 
nicht  wohnen  durften,  bestand  eine  besondere  „Zone",  inner- 
halb deren  ihnen  ein  zeitweiliger  Aufenthalt  bewilligt  wurde. 
Es  waren  dies  zwei  Städtchen  im  Badenschen:  Endingen  und 
I^ngnau,  die  später  dem  Kanton  Aargau  angegliedert  wurden. 
Die  ,, Schutzjuden",  die  hier  Unterkunft  fanden,  Einwanderer 
aus  Österreich,  Deutschland  und  Elsaß,  wohnten  hier  auf  Grund 
eines  mit  den  örtlichen  Behörden  gescl^ossenen  Vertrages,  der 
alle  i6  Jahre  erneuert  werden  mußte.  Die  Erneuerung  dieses 
Vertrages  in  den  letzten  Terminen  des  i8.  Jahrhunderts  (1760, 
1776,  1792)  kam  unter  folgenden  Bedingungen  zustande:  Die 
Juden  dürfen  sich  nicht  vermehren;  Eheschließungen  zwischen 
Unbemittelten  werden  nicht  zugelassen,  Bräute,  die  aus  anderen 
Ländern  kommen,  müssen  nicht  weniger  als  500  Gulden  als 
Mitgift  mitbringen;  Juden  dürfen  keine  Häuser  neu  erwerben; 
sie  dürfen  keinen  Boden  ankaufen,  keinen  Wucher  treiben ;  keine 
Gelder  auf  Immobilien  ausleihen;  ein  Jude  darf  nicht  mit  einem 
Christen  in  demselben  Hause  wohnen.  Zu  solchen  Maßnahmen 
griff  man  gegen  ein  Häuflein  Juden  (ungefähr  150  Familien)  im 
„Lande  der  Freiheit"  am  Vorabend  und  selbst  in  den  ersten 
Jahren  der  großen  französischen  Revolution. 

Die  jüdische  Kolonie  Dänemarks  (ungefähr  3000  Seelen) 
bildete  einen  Zweig  der  Hamburger  Gemeinde.  Die  an  Hamburg 
angrenzende  holsteinische  Stadt  Altona  gehörte  im  18.  Jahr- 
himdert  zum  Dänischen  Reiche,  und  die  jüdischen  Gemeinden 
der  beiden  Städte  (auch  die  dritte  Gemeinde  des  Städtchens 
Wandsbek  gehörte  dazu)  hielten  sich  einen  gemeinsamen  Rab- 
biner. In  die  inneren  Gebiete  des  eigentlichen  Dänemarks  war 
den  Juden  der  Eintritt  erschwert,  aber  den  reichen  Kaufleuten 
und  Fabrikbesitzern  gelang  es  doch,  dorthin  einzudringen  und 

48 


eine  Kolonie  in  der  Hauptstadt  des  Landes,  Kopenhagen,  zu 
gründen.  Unter  dem  Könige  Christian  VII.  (1766 — 1808)  ver- 
hielt sich  die  Regierung  gegen  die  sich  unter  den  dänischen 
Juden  verbreitende  „Berliner  Aufklärung"  wohlwollend.  Unter 
dem  Einflüsse  der  neuen  Bewegung  zerfiel  die  Kopenhagener 
Gemeinde  in  zwei  Gruppen:  in  Progressisten  und  Orthodoxe. 
Doch  waren  die  dänischen  Juden  am  Vorabend  des  Jahres  1789 
von  der  bürgerlichen  Gleichberechtigung  weit  entfernt. 

Was  das  andere  skandinavische  Land,  Schweden,  betrifft,  so 
wurde  die  christliche  Bevölkerung  ursprünglich  (im  17.  Jahr- 
hundert) von  „dem  möglichen  Einfluß  der  jüdischen  Religion 
auf  den  reinen  evangelischen  Glauben"  geschützt;  von  den  nach 
Stockholm  kommenden  Juden  wurde  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  die  Taufe  nach  lutherischem  Ritus  gefordert.  Im 
18.  Jahrhundert  brachten  es  jedoch  jüdische  Kaufleute  fertig, 
Wohnrecht  im  Lande  zu  erlangen,  ohne  dabei  ihre  Religion 
wechseln  zu  müssen.  Die  einheimischen  Juden  durften  im  ganzen 
Königreiche  wohnen  und  frei  ihren  Gottesdienst  verrichten, 
doch  ohne  alle  jene  Zeremonien,  „die  Anstoß  bei  der  christ- 
lichen Bevölkerung  erregen  können".  Jüdische  Gemeinden  mit 
einem  Rabbinat  und  Bethäusern  wurden  nur  in  den  drei  Städten 
Stockholm,  Göteborg  und  Norköpping  geduldet.  Ausländischen 
Juden  wurde  das  Wohnrecht  nach  einer  ganzen  Reihe  von 
Scherereien  und  nach  Vorlegung  von  Ausweisen  über  ihre  Person 
und  ihre  materielle  Lage  gewährt,  und  dies  nur  in  den  drei 
obenerwähnten  Städten.  Unter  günstigeren  Bedingungen  wurden 
ins  Land  reiche  Juden  zugelassen,  die  über  ausreichende  Kapi- 
talien verfügten,  um  Großbetriebe  in  solchen  Industriezweigen 
zu  eröffnen,  die  im  Lande  selber  schwach  entwickelt  waren. 
Solchen  Personen  wurden  allerlei  Konzessionen  erteilt.  Was  den 
Kleinhandel  und  das  Kleingewerbe  betrifft,  so  unterlagen  sie 
schweren  Beschränkungen. 

Die  Spuren  des  schwedischen  Reglements  vom  Jahre  1782, 
das  in  dessen  Heimat  längst  außer  Kraft  getreten  war,  hat  sich 
bis  auf  den  heutigen  Tag  in  der  gewesenen  schwedischen  Pro- 
vinz Finnland  erhalten,  wo  die  archaische  Gesetzgebung 
über  die  Juden  von  der  neuen  russischen  Metropole,  dieses 
großen  Reservoirs  der  jüdischen  Rechtlosigkeit,  unterstützt 
wurde. 

4    Dnbnow,  Geichichte  der  Joden  I  AQ 


§  g.  Polen  nach  der  ersten  Teilung.  Am  Vorabend  der  durch 
die  Revolution  von  1789  hervorgerufenen  Krise  im  Leben 
der  west-europäischen  Juden,  befand  sich  das  große  jüdische 
Zentrum  in  Polen  in  einem  Zustande  politischer  und  gesellschaft- 
licher Auflösung.  Es  war  dies  der  Moment  zwischen  der  ersten 
{1772)  und  der  zweiten  (1793)  Teilimg  Polens.  An  dem  unge- 
sunden Organismus  der  Polnischen  Republik  wurde  die  erste 
Vivisektion  vorgenommen:  Rußland  nahm  sich  Weißrußland, 
Österreich  Galizien,  Preußen  Pommern  und  einen  Teil  der 
Provinz  Posen.  Damit  wurde  auch  der  kompakte  Organismus 
der  polnischen  Judenheit  zerstückelt.  Ein  Teil  dieser  eigenartigen, 
in  sich  geschlossenen  Masse  wurde  mit  einem  Male  zum  Gegen- 
stande der  „Reformexperimente"  im  Laboratorium  Joseph  II.; 
der  andere  sah  sich  in  die  Rolle  der  ,, Geduldeten"  in  der  Staats- 
kaserne Friedrichs  II.  versetzt,  der  die  polnischen  Provinzen 
viel  lieber  ohne  die  jüdische  Bevölkerung  genommen  hätte;  der 
dritte  Teil  geriet  unter  die  Botmäßigkeit  Rußlands,  das  sich 
bis  dahin  auch  mit  dem  Vorhandensein  eines  Häufleins  Juden 
innerhalb  des  kleintussischen  Grenzgebietes  nicht  befreunden 
konnte.  Das  nach  der  chirurgischen  Operation  des  Jahres  1772 
übriggebliebene  zusammengeschrumpfte  Zentrum  der  polnischen 
Judenheit  machte  auf  seine  Weise  die  Krämpfe  des  im  Todes- 
kampfe liegenden  Staates,  dem  noch  zwei  Teüungen  bevor- 
standen, durch.  Das  sterbende  Polen  warf  sich  hiii  und  her  und 
rang  nach  einem  Lebenselixir  in  den  Reglementen  des  Ständigen 
Rates,  in  den  Reformen  des  Vierjährigen  Reichstages  (1788 
bis  1791).  Im  Zusammenhang  mit  den  allgemeinen  Reformen 
machte  sich  das  Bedürfnis  nach  der  Heilung  des  alten  Gebrechens 
—  der  Lösung  der  Judenfrage  —  fühlbar.  Die  Finanzkommission 
des  Vierjährigen  Reichstags  zog  Erkundigungen  über  die  Zahl  der 
jüdischen  Bevölkerung  in  Polen  nach  der  ersten  Teilung  und  über 
deren  wirtschaftliche  und  kulturelle  Lage  ein;  hier  sind  die  Ergeb- 
nisse der  offiziellen  Untersuchungen,  wie  sie  uns  in  den  Ermitte- 
lungen eines  der  Kommissionsmitglieder,  des  Geschichtsschreibers 
Tadeusz  Czacki,  der  die  jüdische  Frage  studierte,  vorliegen: 

Nach  den  offiziellen  Angaben  zählte  die  jüdische  Bevölkerung 
von  Polen  und  Litauen  gegen  das  Jahr  1788  ungefähr  617  000 
Seelen;  auf  Grund  einer  ganzen  Reihe  von  Berichtigungen 
weist  Czacki  mit  Recht  darauf  hin,  daß  die  wirkliche  Zahl  der 

50 


Juden,  die  sich  aus  Erwägungen  fiskalischer  Natur  der  offiziellen 
Registrierung  entzogen  hatten,  wenigstens  die  Ziffer  900  000 
erreichte.  Dies  entspricht  beinahe  dem  glaubwürdigen  Hinweis 
Butrimowiczs',  des  Mitgliedes  der  „jüdischen  Kommission"  am 
„Vierjährigen  Reichstag",  daß  die  Juden  in  Polen  ein  Achtel 
der  gesamten  Bevölkerung  (8  790  000)  ausmachen.  Infolge  der 
zu  jener  Zeit  stark  eingebürgerten  Sitte,  frühzeitige  Ehen  zu 
schließen,  vermehrte  sich  die  beinahe  eine  Million  zählende  jü- 
dische Bevölkerung  sehr  rasch.  Aber  eben  diese  Sitte  war  es, 
die  die  erhöhte  Sterblichkeit  der  jüdischen  Kinder  und  die  zu- 
nehmende Kränklichkeit  der  jungen  Generation  zur  Folge  hatte. 
Die  Schulbildung  der  Elinder  beschränkte  sich  auf  das  Studium 
des  religiösen  Schrifttums,  insbesondere  des  Talmuds.  Der  in 
jüdischen  Händen  befindliche  Handel  verteüte  sich  auf  dreiviertel 
der  Gesamtausfuhr  und  ein  Zehntel  der  Einfuhr,  Für  seineu 
Lebensunterhalt  verwendete  der  jüdische  Kaufmann  nur  die 
Hälfte  dessen,  was  der  christliche  Kaufmann  verbrauchte,  und 
daher  war  auch  der  jüdische  Handelsmann  in  der  Lage,  seine 
Waren  zu  mäßigeren  Preisen  abzusetzen.  Sieht  man  von  Groß- 
Polen  ab,  so  bildeten  die  Juden  in  der  Provinz  die  Hälfte  aller 
Handwerker.  Unter  den  Handwerkern  überwogen  Schuhmacher, 
Schneider,  Kürschner,  Goldarbeiter,  Zimmerleute,  Steinmetze 
und  Barbiere;  im  ganzen  Lande  gab  es  nur  14  Familien,  die 
Ackerbau  trieben.  Es  kam  nur  selten  vor,  daß  ein  von  einem 
Juden  erworbenes  Vermögen  in  seiner  Familie  einige  Generationen 
hintereinander  verblieb.  Es  lag  dies  an  den  häufigen  Zahlungs- 
einstellungen und  an  der  Neigung  zu  gewagten  Unternehmungen. 
Die  gesamte  jüdische  Bevölkerung  bestand  zu  einem  Zwölftel 
aus  „Müßiggehern",  d.  h.  aus  Leuten,  die  keine  bestimmte  Be- 
schäftigung hatten ;  zu  einem  Sechzigstel  aus  Bettlern. 

Zu  diesen  Ergebnissen  der  offiziellen  Zählungen  und  ander- 
weitigen Beobachtungen  muß  hinzugefügt  werden,  daß  eines 
der  Hauptgewerbe  der  Juden  zu  jener  Zeit  die  „Schank- 
wirtschaft" war.  Auf  den  Gütern  der  Gutsherren  stand  die 
Schankwirtschaft  in  einem  engen  Zusammenhange  mit  der 
Pacht-  und  Herbergswirtschaft.  Zugleich  mit  der  Verpachtimg 
verschiedener  Zweige  der  Landwirtschaft  (Molkerei,  Weide- 
plätze, Wald  u.  dgl.)  ging  an  den  Juden  auch  das  „Recht  der 
Propination",    d.  i.    des    Branntweinbrennens    und    des    Aus- 

4*  51 


schankes  in  den  Dorfschenken  und  Herbergen  über.  Diese  Be- 
schäftigungen brachten  den  Juden  zu  Konflikten  mit  den 
Bauern,  mit  den  an  die  Scholle  gefesselten  leibeigenen  Bauern, 
den  in  die  Schenke  nicht  der  Wohlstand,  —  sondern  die  bittere 
Not  trieb,  in  die  ihn  der  schwere  Frohndienst  brachte.  An  der 
Tür  der  Schenke  wurde  das  letzte  Stadium  der  bäuerlichen 
Verelendung  besiegelt,  und  daraus  entstand  natürlich  die  An- 
schauung, daß  der  jüdische  Schankwirt  den  Sandmann  ruiniere. 
Diese  Beschuldigung  wurde  gegen  die  Juden  von  jenen  Guts- 
herren, Verfechtern  der  Leibeigenschaft  erhoben,  die  in  der 
Tat  die  ganze  Verarmung  ihrer  bäuerlichen  Sklaven  verschul- 
deten, und  aus  ihrem  an  die  Juden  verpachteten  Rechte  der 
Propination  die  meisten  Vorteile  zogen.  Das  Schankgewerbe 
übte  auf  die  Juden  einen  demoralisierenden  Einfluß  aus.  Die 
Lage  des  Pächters  zwischen  dem  verschwenderischen,  selbst- 
herrlichen Gutsherrn  und  dem  zu  Boden  gedrückten  leibeigenen 
Bauern  war  nicht  beneidenswert.  Für  den  Gutsbesitzer  war  der 
Pächter  ebenfalls  nur  ein  Knecht,  mit  dem  er  nicht  besser,  als 
mit  dem  leibeigenen  Bauer  umging.  Nicht  selten  traf  es  sich, 
daß  der  Pächter  für  den  schlechten  Zustand  der  Wege  und 
Brücken  vom  Gutsherrn  Prügel  bekam;  gar  oft  kam  es  vor, 
daß  der  Gutsherr  im  Trünke  den  Pächter  und  dessen  Famüie 
verhöhnte.  Im  Tagebuche  eines  Gutsbesitzers  aus  Wolhyuien 
vom  Jahre  1774  finden  wir  beispielsweise  solche  Aufzeichnungen: 
„Der  Pächter  Herschko  bezahlte  mir  nicht  die  aus  früheren 
Terminen  bereits  fälligen  91  Taler.  Ich  sah  mich  daher  genötigt, 
das  Geld  zwangsweise  einzutreiben.  Nach  dem  Vertrage  steht 
mir  im  Falle  der  Nichtbezahlung  das  Recht  zu,  ihn  samt  Frau 
und  Kindern  für  beliebig  lange  einzusperren,  bis  er  mir  die 
Schuld  bezahlt.  Ich  ließ  ihm  Fesseln  anlegen  und  ihn  in  einen 
Schweinestall  sperren,  aber  seine  Frau  und  seine  Bachurim  (er- 
wachsene Kinder,  Burschen)  ließ  ich  in  der  Herberge  zurück; 
nur  den  jüngsten  Sohn  Lejser  nahm  ich  zu  mir  auf  die  Meierei 
und  befahl,  ihn  im  Katechismus  und  in  den  Gebeten  zu  unter- 
richten." Man  zwang  den  Knaben,  das  Zeichen  des  Kreuzes  zu 
machen  und  Schweinefleisch  zu  essen;  und  nur  die  Ankunft  von 
Juden  aus  Berditschew,  die  die  Schuld  des  ruinierten  Pächters 
bezahlten  errettete  den  Vater  vom  Gefängnis  und  den  Knaben 
von  der  gewaltsamen  Taufe. 

52 


Was  drängte  die  jüdische  Masse  zu  diesem  niedrigen  Gewerbe 
der  Pacht-  und  der  ländlichen  Schankwirtschaft?  Die  Juden, 
die  ein  Achtel  der  gesamten  polnischen  Bevölkerung  ausmach- 
ten, gaben  die  Hälfte  aller  Handwerker  ab  und  drei  Viertel  der 
Vermittler  im  Ausfuhrhandel  (in  der  Ausfuhr  landwirtschaft- 
licher Produkte:  Holz,  Flachs,  Fellen  und  Rohstoffen).  Aber 
alle  diese  Beschäftigungen  reichten  augenscheinlich  nicht  aus, 
den  Lebensunterhalt  zu  sichern.  Die  Zünfte  und  Gilden,  in 
denen  sich  nicht  wenige  Deutsche  befanden,  nahmen  ebenso- 
wenig in  Polen,  wie  im  Westen  jüdische  Handwerker  imd  Han- 
delsleute in  ihre  Organisationen  auf,  wodurch  ihr  Tätigkeits- 
bereich äußerst  eingeengt  wurde.  Von  diesen  Kleinbürgern  und 
Kaufleuten,  die  in  der  Zusammensetzung  der  Munizipalitäten 
überwogen,  hing  es  in  den  meisten  Städten  ab,  ihren  jüdischen 
Konkurrenten  das  Recht  auf  Handel  und  Gewerbe  zu  verleihen 
und  zu  versagen.  Es  hat  der  Anschein,  als  sei  die  Reichs- 
tagsverfassung vom  Jahre  1768,  die  die  wirtschaftliche  Tätig- 
keit der  Juden  in  den  Städten  unter  die  Kontrolle  der  Munizi- 
palitäten stellte,  von  diesen  letzteren  diktiert  worden:  „Sintemal 
die  Juden  den  Städten  und  den  städtischen  Bürgern  unerträg- 
liches Unrecht  antun  und  die  Nahrungsmittel  entziehen  .  .  . 
beschließen  wir:  daß  die  Juden  in  allen  Städten  imd  Städtchen, 
wo  sie  keine  besonderen,  von  der  Verfassung  bestätigten  Vor- 
rechte besitzen,  sich  gemäß  den  mit  den  Städten  geschlossenen 
Verträgen  aufzuführen  haben,  ohne  sich  dabei,  unter  Gefahr 
harter  Strafen,  große  Rechte  anzueignen."  Selbstverständlich 
gingen  alle  solche  ,, Verträge"  seitens  der  christlichen  Geschäfts- 
leute auf  die  gesetzliche  Unterbindung  oder  Einschränkung 
der  jüdischen  Konkurrenz  hinaus.  Auf  diese  Weise  drängten 
die  Urheber  der  Reichstagsverfassung,  die  Gutsbesitzer  und 
Städter,  selber  die  Juden  aus  den  Städten  hinaus  imd  trieben 
sie  auf  das  Gebiet  der  ländlichen  Pacht-  und  Schankwirtschaft. 

Die  nach  der  ersten  Teilung  Polens  erlassene  Reichstagsver- 
fassung vom  Jahre  1775,  die  das  oberste  Regierungsorgan, 
„den  ständigen  Rat'*  (Rada  nieustajaca)  instituierte,  erhöhte 
den  Betrag  der  von  den  Juden  zu  erhebenden  Kopfsteuer  (von  <• 
zwei  auf  drei  Gulden  von  jeder  Seele  beiderlei  Geschlechts,  mit 
den  Neugeborenen  beginnend),  zugleich  machte  sie  den  Versuch, 
die  jüdischen  Eheschließungen  gesetzlich  zu  normieren,  wenn 

53 


sie  auch  dabei  nicht  nach  dem  harten  westeuropäischen  Muster 
verfuhr.  Den  Rabbinern  wurde  untersagt,  Ehen  unter  solchen 
Personen  zu  schließen,  die  keine  vom  Gesetze  erlaubte  Beschäf- 
tigung, sei  es  Gewerbe,  Handel,  Ackerbau  oder  eine  Anstellung, 
hatten,  und  die  nicht  imstande  waren,  die  Quelle  ihres  Lebens- 
unterhaltes anzugeben.  Übrigens  wurde  dieses  Gesetz  in  der 
Praxis  des  Lebens  niemals  angewandt. 

Das  alte  Polen  hatte  keine  besondere  ,, Ansiedelungszone" 
für  die  Juden;  ihnen  war  bloß  der  Aufenthalt  in  einigen  „privi- 
legierten" Städten  verboten.  Zu  diesen  Städten  gehörte  auch 
die  Hauptstadt  Warschau.  Von  jeher  war  es  den  Juden  ver- 
boten, in  Warschau  einen  ständigen  Wohnsitz  zu  haben;  es 
war  ihnen  nur  gestattet,  in  der  Zeit  der  Reichstagstagungen  zu 
kommen,  in  der  die  Jahrmärkte  abgehalten  wurden.  Die  Ver- 
fassung vom  Jahre  1768  bestätigte  diese  „alte  Sitte"  der  zeit- 
weiligen Zulassung  der  Juden  nach  Warschau,  was  sie  als 
„allgemein  nützlich  und  als  Mittel  gegen  die  Teuerung"  be- 
gründete, welche  letztere  sich  immer  als  Folge  des  Ausbleibens 
jüdischer  Konkurrenz  zeigte.  In  der  Hauptstadt  bürgerte  sich 
folgende  Ordnung  ein:  Zwei  Wochen  vor  der  Eröffnung  des 
Reichstags  ließ  der  Kronmarschall  der  Stadt  durch  Posaunen- 
stöße verkünden,  daß  es  den  ankommenden  Juden  gestattet  sei, 
Handel  und  Gewerbe  zu  treiben,  und  zwei  Wochen  nach  Ab- 
schluß der  Landtagstagung  wurde,  ebenfalls  durch  Posaunen- 
stöße kundgegeben,  daß  nun  der  Zeitpunkt  gekommen  sei,  wo 
die  Juden  die  Stadt  zu  verlassen  haben;  die  Zögernden  wurden 
durch  polizeiliche  Gewalt  aus  der  Stadt  gejagt.  Am  nächsten 
Tag  kehrten  jedoch  die  Fortgejagten  als  Neuangekommene  unter 
verschiedenen  Vorwänden  zurück  und  hielten  sich  dort  einige 
Wochen  auf,  indem  sie  die  Aufseher  durch  Bestechungen  für 
sich  gewannen.  Nun  führte  der  Kronmarschall  Lubomirski 
eigene  Erlaubniskarten  zum  Preise  von  je  einem  Silbergroschen 
ein,  die  jeder  neu  ankommende  Jude  zu  lösen  hatte  und  die 
ihn  zu  einem  fünftätigen  Aufenthalte  in  der  Hauptstadt  be- 
rechtigten; ohne  eine  solche  Karte  wagte  kein  Jude  sich  auf  der 
Straße  zu  zeigen.  Und  bald  zeigte  es  sich,  daß  diese  Aufent- 
haltsgebühren dem  Marschall  eine  jährliche  Einnahme  von  un- 
gefähr 200  000  Gulden  (polnische)  sicherten.  Als  einige  hohe 
Beamte,  die  im  Besitze  vieler  Viertel  der  Stadt  Warschau  waren, 

54 


die  Möglichkeit  sahen,  sich  auf  Kosten  der  jüdischen  Recht- 
losigkeit zu  bereichern,  gestatteten  sie  den  Juden,  für  eine  be- 
stimmte Vergütung  auf  ihren  Besitztümern  hinter  dem  Wall  zu 
wohnen.  Und  so  kam  es,  daß  sich  eine  ganze  Ansiedelung  bildete, 
die  unter  dem  Namen  das  „Neue  Jerusalem"  bekannt  war 
Die  christlichen  Kleinbürger  der  Stadt  Warschau  erhoben  ein 
Jammergeschrei:  sie  forderten  die  strikte  Anwendung  des  Ge- 
setzes, das  den  ständigen  Aufenthalt  der  Juden  in  Warschau 
verbot.  Lubomirski  ergriff  harte  Maßnahmen  gegen  die  Juden, 
ohne  dem  Einspruch  der  hochgestellten  Hausbesitzer  und  selbst 
der  Fürsprache  des  Königs  irgendwelche  Beachtung  zu  schenken : 
am  22.  Januar  1775  wurden  die  Juden  aus  Warschau  vertrieben, 
ihre  Wohnungen  im  Neuen  Jerusalem  wurden  zerstört,  und 
alle  ihre  Waren  nach  dem  Zeughaus  und  den  Kadettenkasernen 
geschafft  und  ausverkauft.  Das  war  ein  harter  Schlag  für  die 
handeltreibende  jüdische  Bevölkerung,  die  sich  auf  diese  Weise 
vom  politischen  und  kommerziellen  Zentrum  des  Landes  ab- 
geschnitten sah.  Man  war  wieder  gezwungen,  sich  mit  den  vor- 
übergehenden Aufenthalten  für  die  kurze  Dauer  der  Landtags- 
t^gungen  zu  begnügen ;  mit  der  Zeit  aber  stellte  sich  das  frühere 
Umgehen  des  Gesetzes  wieder  ein.  Auf  eine  vom  Magistrat  er- 
hobene Klage  hin  ging  die  Administration  im  Jahre  1784  von 
neuem  daran,  Warschau  von  den  Juden  zu  säubern.  Vom  Ende 
des  Jahres  1788,  als  die  Tagung  des  Vierjährigen  Reichstags 
begann,  erfuhr  die  Lage  eine  Veränderung.  Die  Juden  gelangten 
schließlich  zur  Einsicht,  daß,  da  die  Tagung  des  Reichstags  un- 
unterbrochen dauerte,  auch  ihr  Wohnrecht  in  der  Hauptstadt 
keiner  Beschränkung  durch  irgendwelche  Frist  unterliegen  konnte. 
Und  so  sammelte  sich  in  Warschau  eine  jüdische  Bevölkerung 
von  ein  paar  Tausend  Seelen  an,  die  sich  im  Zentrum  der  Stadt 
niederließen.  Dieser  Umstand  hatte  gegen  die  Neuangekommenen 
die  Entrüstung  der  Kleinbürger  und  des  Magistrates  heraufbe- 
schworen, was  in  der  Folge  zu  einem  blutigen  Zusammenstoß 
führte  (im  Jahre  1790 ;  s.  weiter  unten,  §  42). 

So  kämpften  Gesetz  und  Leben  gegeneinander;  das  Leben 
wandelte  das  Gesetz,  welches  den  Bedürfnissen  und  An- 
forderungen des  ersteren  stracks  zuwiderlief,  in  eine  Fiktion 
um;  aber  das  Gesetz  rächte  sich  zuweüen  am  Leben  durch 
plötzliche  Schläge.   In  die  acht  Millionen  Seelen  zählende  Masse 

55 


der  polnischen  Bevölkerung  drang  die  Million  Juden  wie  ein 
Keil  ein,  der  sich  unmöglich  wieder  hinausdrängen  ließ,  nach- 
dem er  ursprünglich  die  Lücke  der  fehlenden  handelsindustriellen 
Klasse  ausgefüllt  und  im  Laufe  der  Jahrhunderte  dem  Volke 
der  Adligen  und  der  leibeigenen  Bauern  als  befestigende 
Ellammer  gedient  hatte.  Jetzt  suchte  ihn  ein  anderer  Keil  hin- 
auszudrängen —  das  christHche  bürgerliche  Element;  aber  dieses 
vermochte  ihm  nicht  beizukommen.  Die  Judenheit  war  schon 
allzueng  mit  dem  wirtschaftlichen  Organismus  Polens  ver- 
wachsen, dem  sie  in  nationaler  imd  geistiger  Hinsicht  fremd 
blieb.  Darin  lag  die  ganze  Tragik  der  jüdischen  Frage  in  Polen 
zur  Zeit  der  Teüimgen.  Das  durch  die  Katastrophe  des  Jahres 
1772  aufgerüttelte  Polen  drängte  nach  Reformen.  Es  entstanden 
zwei  Lösungsmethoden  der  jüdischen  Frage:  die  eine  repressiver 
Natur,  vom  alten  Geiste  der  Szlachta  durchdrungen,  die  an- 
dere verhältnismäßig  liberal,  im  Geiste  „der  gewaltsamen  Auf- 
klärung" des  Kaisers  Joseph  II.  Die  erste  fand  in  dem  Reichs- 
tagsentwurf von  Zamoiski  (1787 — 1780),  die  andere  in  den  dem 
reformatorischen  Vierjährigen  Reichstag  (1789)  vorgelegten  Ent- 
würfen des  Butrimowicz  und  Czacki  ihren  Ausdruck. 

„Der  ruhmgekrönte  Exkanzler  (Andrej  Zamoiski)"  —  sagt  ein 
polnischer  Historiker,  ,, arbeitete  das  Reglement  eher  in  der  Ab- 
sicht aus,  die  Juden  loszuwerden,  als  in  der  Absicht,  sie  mit 
dem  Volksorganismus  (Polen)  gewaltsam  zu  verschmelzen."  Das 
Reglement  Zamoiskis  trägt  einen  polizeilich-kanonischen  Cha- 
rakter. Den  Juden  wird  das  Wohnrecht  nur  in  jenen  Städten  ge- 
währt, wo  sie  auf  Grund  ehemaliger  Vereinbarungen  mit  den 
Munizipalbehörden  zugelassen  werden;  was  die  anderen  Städte 
anbetrifft,  so  dürfen  sie  sich  dorthin  begeben,  nur  um  die  daselbst 
stattfindenden  Messen  und  Märkte  zu  besuchen.  In  den  Städten 
müssen  sie  in  besonderen  Straßen  wohnen,  in  vöUiger  Abson- 
derung von  den  Christen.  Jeder  erwachsene  Jude  ist  verpflichtet, 
sich  bei  der  lokalen  Behörde  zu  melden  und  den  Beweis  zu  er- 
bringen, daß  er  entweder  Händler  ist,  der  über  ein  Vermögen 
von  nicht  weniger  als  tausend  (polnischen)  Gulden  verfügt,  oder 
Handwerker,  Pächter  und  Landarbeiter.  Wer  nicht  imstande  ist, 
seine  Zugehörigkeit  zu  einem  dieser  vier  Berufe  nachzuweisen, 
ist  verpflichtet,  binnen  eines  Jahres  das  Land  zu  verlassen;  und 
wer  es  nicht  freiwülig  tut,  unterliegt  der  Verhaftung  und  Ein- 

56 


Sperrung.  Des  Femeren  schließt  der  Urheber  des  Entwurfes,  dem 
Beispiel  alter  kanonischer  Vorschriften  folgend,  die  Juden  von 
all  jenen  finanziellen  und  wirtschaftlichen  Funktionen  aus,  durch 
die  sie  sich  eine  Macht  über  die  christliche  Bevölkerung  erringen 
können,  wie  z.  B.  von  Staatspachten  und  Steuereintreibungen, 
und  verbietet  ihnen,  christliche  Dienstboten  zu  halten  Die 
Juden  dürfen  nicht  zwangsweise  getauft  werden,  aber  die 
schon  getauften  Juden  müssen  von  ihrer  früheren  Umgebung 
abgesondert  und  isoliert  werden;  nur  in  Gegenwart  von  Christen 
dürfen  sie  mit  ihren  früheren  Glaubensgenossen  zusammen- 
kommen. Dieser  Entwurf  Zamoiskis  gefiel  der  katholischen 
Geistlichkeit  so  gut,  daß  der  Plotzker  Bischof  Schembek  sich  be- 
reit erklärte,  unter  ihn  seinen  Namen  zu  setzen.  Nachdem  sich 
Zamoiski  auf  diese  Weise  mit  kirchlich-polizeilichen  Bürgschaften 
versehen  hatte,  konnte  er  dem  Geiste  der  Zeit  einen  mageren 
Tribut  entrichten,  indem  er  nämlich  in  sein  Projekt  das  Prinzip 
der  Unäntastbarkeit  der  Person  und  des  Vermögens  der  Juden 
aufnahm.  Den  durch  drakonische  Maßregelungen  an  Händen  und 
Füßen  gebundenen  Juden  brauchte  aber  niemand  mehr  anzu- 
tasten. 

Einen  anderen  Standpunkt  vertrat  der  Verfasser  der  in 
Warschau  im  Jahre  1782  unter  dem  Titel:  „Über  die  Notwendig- 
keit einer  Judenreform  in  den  Landen  des  polnischen  Reiches" 
erschienenen  Schrift.  Der  Verfasser,  der  sich  hinter  dem  Pseu- 
donym „Namenloser  Bürger"  versteckt,  verficht  kein  reaktio- 
näres System,  sondern  eine  utilitär-aufklärerische  Reglementie- 
rung. Auf  religiösem  Gebiet  läßt  er  den  Juden  die  Unantastbar- 
keit ihrer  Dogmen,  hält  es  aber  für  nötig,  gegen  ihre  „schädlichen 
Gebräuche",  die  zahlreichen  Feiertage,  die  Speisegesetze  usw. 
zu  kämpfen.  Es  sei  erforderlich,  die  Kahalautonomie  einzuengen 
und  sie  auf  die  rein  religiöse  Sphäre  zu  beschränken,  damit  die 
Juden  keine  Republik  in  der  Republik  büden.  Um  die  Juden  mit 
dem  polnischen  Volke  zu  verschmelzen,  müsse  man  sie  dazu  an- 
halten, die  polnische  Sprache  in  ihrem  Handelsverkehr  zu  ge- 
brauchen imd  den  „Jargon"  aufzugeben,  und  den  Druck  von 
Büchern  in  hebräischer  Sprache,  wie  deren  Einfuhr  aus  dem  Aus- 
lande zu  verbieten.  Was  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  an- 
betrifft, so  könne  man  den  Juden  das  Handwerk,  den  ehrlichen 
Handel  und  die  Landwirtschaft  erlauben,  müße  ihnen  aber  ver- 

57 


bieten,  Herbergen  und  Schankwirtschaften  zu  halten.  Man  sieht, 
daß  der  Entwurf  des  „Namenlosen  Bürgers"  die  „Unschädlich- 
machung" der  Juden  auf  dem  Wege  einer  gewaltsamen  Ver- 
schmelzung anstrebt,  wie  das  vorangehende  Projekt  des  Zamoiski 
auf  dem  der  gewaltsamen  Isolierung.  Der  auf  diese  Weise  „un- 
schädlich" gemachte  Jude  konnte  dem  Christen  in  den  Rechten 
gleichgestellt  werden.  Ein  Einfluß  des  österreichischen  Systems 
Josephs  II.,  der  die  „Besserung"  der  Juden  auf  dem  Wege  der 
gewaltsamen  ,, Aufklärung"  und  Verschmelzung  mit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung  als  einer  notwendigen  Bedingung  für 
ihre  Gleichstellung  mit  der  übrigen  Bevölkerung  zu  erreichen 
suchte,  ist  in  diesem  Entwürfe  unverkennbar.  Das  Projekt 
scheint  in  den  von  den  Ideen  des  XVIII.  Jahrhunderts  beherrsch- 
ten Kreisen  der  polnischen  Gesellschaft  Anklang  gefunden  zu 
haben.  Die  kleine  Schrift  des  „Namenlosen"  erschien  im  Jahre 
1785  in  zweiter  Auflage,  und  im  Jahre  1789  wurde  sie  zum 
dritten  Male  vom  Abgeordneten  des  Vierjährigen  Reichstags 
Butrimowicz  herausgegeben,  der  sie  mit  eigenen  Nachträgen  ver- 
sah. Dieser  Ausgabe  entnahm  Butrimowicz  in  der  Folge  das 
Material  zu  seinem  Projekt  der  „jüdischen  Reform",  das  er  der 
Kommission  des  Landtags  vorlegte  (1790),  der  unter  dem  Lärm 
der  großen  französischen   Revolution    tagte    (s.   weiter    unten 

§41). 
Wie  war  die  innere  Lebensgestaltung  der  eine  Million  zählenden 

jüdischen  Masse  in  Polen  zu  jener  Zeit  beschaffen?  Auch  hier 
bietet  sich  unseren  Augen  ein  trauriges  Bild  des  Zerfalls.  Die 
soziale  Verwesung,  die  giftigen  Zerfallsprodukte  des  ver- 
wesenden Leichnams  Polens  drangen  auch  in  das  jüdische  Leben 
ein  und  brachten  dessen  einst  so  festen  Grundfpeiler  ins  Wan- 
ken. Die  nationale  Hochburg  der  Judenheit,  die  autonome  Ge- 
meinde ging  zusehends  aus  den  Fugen.  In  den  südwestlichen  Ge- 
bieten (Podolien,  Wolhynien  und  in  dem  an  Österreich  ab- 
getretenen Galizien)  erlitt  sie  einen  schweren  Stoß  durch  das 
große  religiöse  ,, Schisma"  des  Chassidismus ;  die  Spaltung  der  Ge- 
meinde in  zwei  einander  feindliche  Parteien,  und  die  Starrheit 
der  chassidischen  Mehrheit,  die  sich  zu  einer  gesellschaftlichen 
Organisierung  unfähig  erwies  und  den  Befehlen  der  Zaddikim 
blind  gehorchte,  führten  zu  einem  Zusammenbruche  der  Kahal- 
organisation.   Was  die  nordwestlichen  Gebiete  betrifft  (Litauen 

58 


und  das  an  Rußland  abgetretene  Weißrußland),  wo  die  sich  an 
die  Rabbiner  anlehnende  Kahalpartei  die  Oberhand  über  die 
chassidische  gewann,  unterlag  die  Kahalorganisation  dem  allge- 
meinen Entartungsprozeß,  der  Polen  zur  Zeit  der  Teilungen  er- 
griff. In  der  Ausbeutung  der  armen,  arbeitenden  Volksmasse 
stand  die  jüdische  Plutokratie  den  polnischen  Gutsherren  keines- 
wegs nach;  wie  die  polnische  Geistlichkeit,  so  hielten  es  auch 
die  Rabbiner  mit  den  Reichen.  Die  weltliche  und  geistliche 
Oligarchie,  die  in  den  Kahalorganisationen  schaltete  und  waltete, 
drangsalierte  die  Gemeinde  durch  eine  empörend  ungleichmäßige 
Verteüung  der  Staats-  und  Gemeindesteuern,  indem  sie  die 
schwersten  Lasten  den  unvermögenden  Gesellschaftsschichten 
aufbürdete  und  sie  an  den  Rand  eines  völligen  Ruins  brachte; 
die  „Parnessim"  (die  Vorsteher  der  Kahalorganisationen)  und 
die  Rabbiner  wurden  nicht  selten  des  Wuchers,  der  Erpressung 
und  der  Unterschlagung  der  für  Gemeindezwecke  bestimmten 
Summen  überführt. 

Der  von  der  Kahaloligarchie  ausgeübte  Druck  erreichte  einen 
derartigen  Grad  von  Härte,  daß  die  bedrängten  Massen  sich 
oft  an  die  christlichen  Behörden  mit  Beschwerden  gegen  die 
Satrapen  ihres  eigenen  Stammes  wandten,  ungeachtet  des  tra- 
ditionellen Verbots,  das  ,, Gericht  der  Fremdstämmigen"  anzu- 
rufen. Die  Bevollmächtigten  eines  Teiles  der  jüdischen  Ge- 
meinde von  Minsk,  Vertreter  des  einfachen  Volkes,  vornehm- 
lich der  Handwerker  —  beschwerten  sich  im  Jahre  1782  beim 
Litauischen  Schatztribunal  gegen  die  Kahal Verwaltung,  die  ,,die 
Minsker  Gemeinde"  vollständig  zugrunde  richtete:  Die  Kahals- 
leute  hätten  viele  eingezahlte  Abgaben  unterschlagen  und 
für  sich  verwendet;  sie  erpreßten  von  den  Armen  mittels 
des  ,,Cherems"  (Bannfluches)  Steuern,  um  dieses  durch  saure 
Arbeit  erworbene  Geld  zu  unterschlagen;  die  Kläger  fügten  hinzu, 
daß  sie  für  ihren  Versuch,  die  Missetaten  des  Kahals  vor  der 
Behörde  aufzudecken,  auf  Verfügung  der  Kahalsvorsteher  mit 
Verhaftung,  Einsperrung  und  Stellung  an  den  Pranger  in  der 
Synagoge  (den  Synagogenpranger  nannte  man  „Kuna")  bestraft 
worden  seien.  In  der  Hauptstadt  Litauens,  Wilna,  die  durch  ihre 
gelehrten  Rabbiner  und  ihre  Geburtsaristokratie  weit  und  breit 
bekannt  war,  entstand  eine  Spaltung  im  Schöße  der  Gemeinde- 
oligarchie selbst.  Hier  zog  sich  ein  Zerwürfnis  zwischen  dem 

59 


Rabbiner  Samuel  Wigdorowicz  und  dem  Kahal,  oder  richtiger 
zwischen  der  Rabbiner-  und  der  Kahalpartei  an  die  zwanzig  Jahre 
hin.  Der  Rabbiner  wurde  der  Bestechlichkeit,  Trunksucht, 
Rechtsbeugung  und  des  Meineides  angeklagt.  Der  Streit  zwischen 
dem  Rabbiner  und  dem  Kahal  wurde  zunächst  von  einem 
Schiedsgericht  und  von  einem  Kongreß  litauischer  Rabbiner 
untersucht;  da  aber  die  Zwistigkeiten  und  die  Aufregung  in 
der  Stadt  kein  Ende  nehmen  wollten,  wandten  sich  beide 
Parteien  an  den  Wojewoden  (Herzog)  RadziwiU,  der  sich 
auf  die  Seite  des  Kahals  stellte  tmd  den  Rabbiner  des  Amtes 
enthob  (1785).  Das  zwischen  diesen  einander  befehdenden 
Mächten  stehende  einfache  Volk  war  dem  Kahal,  dessen  Miß- 
bräuche und  Gewaltakte  in  der  Tat  jedes  Maß  überschritten, 
bei  weitem  feindlicher  gesinnt.  In  den  folgenden  Jahren 
(1786 — 1788)  wurde  der  Bevollmächtigte  des  einfachen  Volkes 
von  Wilna,  Simon  Wolfowicz  zum  Kämpfer  und  Märtyrer  für 
die  Sache  seiner  Wähler.  Vom  Kahal  verfolgt,  versah  er  sich 
mit  einem  „eisernen  Brief"  des  Königs  Stanislaus  August,  der 
ihm  und  dem  einfachen,  durch  die  Tyranei  des  Kahals  „völlig 
zugrunde  gerichteten  Volk",  die  Unantastbarkeit  der  Person 
und  des  Vermögens  sichern  sollte.  Dies  hinderte  jedoch  die 
Kahalverwaltung  nicht,  über  Simon  den  „Cherem"  zu  ver- 
hängen und  seinen  Namen  in  das  „schwarze  Buch"  einzu- 
tragen. Der  Wojewode  aber,  der  es  mit  den  Kahalsatrapen 
hielt,  warf  den  widerspenstigen  Volkstribim  ins  Gefängnis  von 
Nieswiz  (1788).  Der  Eingekerkerte  verfaßte  daselbst  ein  Send- 
schreiben an  den  Vierjährigen  Reichstag  über  die  Notwendig- 
keit der  Grundreform  des  jüdischen  Gemeindelebens  und  der 
Beseitigung  der  auf  dem  Volke  lastenden  Gewalt  des  Kahals. 
Dieser  zwischen  dem  Kahal,  dem  Rabbiner  und  dem  einfachen 
Volke  tobende  Kampf  erschütterte  bis  auf  den  Grund  die 
jüdische  gesellschaftliche  Organisation  in  Litauen  kurz  vor 
dessen  Angliedenmg  an  das  Russische  Reich.  Einer  der  wenigen 
freisinnigen  Rabbiner  jener  Zeit  schildert  in  düstem  Farben 
das  Gebaren  der  Gemeindeoligarchie:  „Die  Führer  (die  Rabbiner 
und  die  Vorsteher)  verzehren  die  Abgaben  des  Volkes  und  trinken 
Wein  für  die  Geldbußen;  über  alle  Steuern  verfügend,  setzen 
sie  diese  fest  und  verhängen  den  Cherem  (über  die  Ungehor- 
samen); die  Entschädigung  für  ihre  Tätigkeit  in  der  Gemeinde 

60 


nehmen  sie  sich  sowohl  in  offener  wie  geheimer  Weise,  mit  allen 
ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln;  keine  vier  Ellen  durch- 
schreiten sie  ohne  Bestechung,  und  die  Armen  tragen  das  Joch  .  .  . 
Die  Gelehrten  schmeicheln  den  Reichen;  und  die  Rabbiner  selbst 
verachten  einander:  die  dem  Studium  der  Thora  (des  Talmuds) 
obhegen,  verachten  alle  diejenigen,  die  sich  mit  Mystik  und 
Kabbala  beschäftigen,  und  das  gemeine  Volk  verbindet  die 
Urteile  beider  Parteien  und  sagt,  daß  alle  Gelehrten  sich  bla- 
mieren .  .  .  Den  Reichen  ist  die  Gunst  der  (polnischen)  Guts- 
herren wertvoller  als  das  Wohlwollen  der  Besten  und  Ehrlichsten 
(unter  den  Juden);  der  Reiche  ist  nicht  darauf  stolz,  daß  der 
Gelehrte  ihm  Ehre  erweist,  sondern  darauf,  daß  der  Fürst  ihn 
in  seine  Gemächer  einführt  und  ihm  seine  Schätze  zeigt." 
In  den  wohlhabenden  Klassen  ist  die  „Putzsucht"  verbreitet; 
die  Frauen  tragen  Perlenschnüre  und  bunte  Gewänder.  — 
Die  Erziehung  der  Jugend  in  den  Chedarim  und  den  Jeschi- 
both  entartete  immer  mehr.  Von  elementaren  Wissenschaften 
allgemeinbüdenden  Charakters  konnte  hier  nicht  die  Rede  sein; 
die  Schule  trug  einen  rein  rabbinischen  Charakter.  Die  talmu- 
dische Scholastik  schärfte  die  Gehirne,  aber  da  sie  kein  reales 
Wissen  bot,  verbreitete  sie  nur  Unsinn.  Der  Chassidismus 
entriß  diesem  Reiche  des  Rabbinismus  ein  weites  Terrain,  aber 
auf  dem  Gebiete  der  Schule  erwies  er  sich  ohnmächtig,  etwas 
Neues  zu  schaffen.  In  der  religiösen  und  nationalen  Stim- 
mung der  Gesellschaft  bewirkte  der  Chassidismus  tiefgreifende 
Veränderungen,  aber  diese  Veränderungen  zogen  den  Juden 
nach  rückwärts  in  die  Tiefen  mystischer  Beschaulichkeit  und 
eines  dem  Verstände  und  jedem  Versuche  einer  Gesellschafts- 
reform feindlichen  blinden  Glaubens  hinein.  In  den  achtziger 
Jahren  des  i8.  Jahrhunderts,  als  sich  im  jüdischen  Deutsch- 
land das  Panier  der  kampfeslustigen  Aufklärung  emporschwang, 
wurde  in  Polen  und  Litauen  ein  erbitterter  Kampf  zwischen 
den  Chassidim  und  Misnagdim  geführt,  ein  Kampf,  der  das 
Bewußtsein  der  von  der  polnischen  Judenheit  erlebten  politischen 
Krise  erstickte,  wie  auch  den  vom  Westen  ausgehenden  Mahn- 
ruf zur  Aufklärung  und  Reform  übertönte.  Das  Gespenst  der 
Aufklärung,  das  von  Deutschland  herüberschielte,  löst  hier 
Furcht  und  Schrecken  in  beiden  Lagern  aus,  wie  das  Gesicht 
des  Teufels.  Der  „Berliner"  wird  zum  Synonym  des  Abtrünnigen. 

6i 


Die  Salomon  Maimons  müssen  nach  Deutschland  flüchten,  um 
die  Welt  der  neuen  in  Polen  verbotenen  Ideen  kennen  zu  lernen. 
§  IG.  Rußland  {Weißrußland).  Das  dem  Russischen  Reiche 
angegliederte  Weißrußland  mit  seinen  zweihunderttausend 
Juden^),  führte  die  „jüdische  Frage"  in  die  innere  russische 
Politik  ein.  Einem  Staate  der  bisher  keine  scharfen  nationalen 
Konflikte  kannte,  wurden  zwei  Gouvernements  —  Mohüew  und 
Polozk  (Witebsk)  —  mit  einer  fremdstämmigen  Bevölkerung, 
die  sich  durch  eine  eigenartige  wirtschaftliche  Struktur  und  in- 
nere Lebensgestaltung  auszeichnete,  einverleibt.  Die  Regierung 
Katharinas  II.  machte  alsbald  die  weißrussische  Bevölkerung 
zum  Gegenstand  verschiedener  Experimente,  wenn  auch  in 
etwas  milderer  Form  als  die  weiland  von  Joseph  II.  in  Galizien 
vorgenommenen  Versuche.  Die  russische  Regierung  befaßte  sich 
in  der  ersten  Zeit  nicht  mit  kleinlicher  Reglementierung  des 
jüdischen  Lebens  nach  deutschem  Muster,  aber  auch  ihre  Juden- 
Politik  läßt  dieselbe  Zwiespältigkeit,  wie  die  österreichische 
erkennen  —  ein  Gemisch  von  Unterdrückung  imd  Liberalismus. 
Einerseits  durften  die  Juden  in  die  Kaufmann-  tmd  Klein- 
bürgerschaft eintreten  und  die  entsprechenden  Standesrechte 
erwerben  (1780);  andererseits  wurde  ihnen  dieses  Recht  nur 
innerhalb  der  zwei  weißrussischen  Gouvernements  {1786)  ein- 
geräumt; die  Juden  hatten  also  kein  Wohnrecht  in  allen  den 
Gebieten,  die  sich  außerhalb  der  dem  Polenreich  entrissenen  Pro- 
vinz befanden,  —  was  den  Keim  zu  der  fatalen  „Ansiedelungs- 
zone" bildete.  Auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiet  ging  eine  tief- 
greifende Umwälzung  vor  sich.  Es  wurde  der  Versuch  gemacht, 
das  Hauptgewerbe  der  jüdischen  Bevölkerung  —  die  Brannt- 
weinbrennerei und  den  Verschleiß  von  Getränken  lahmzu- 
legen; in  den  Städten  wurden  die  Juden  von  diesem  Gewerbe 
durch  die  Munizipalbehörden  ausgeschlossen,  und  auf  dem  Lande 
untersagten  die  weißrussischen  Behörden  ganz  eigenmächtig  den 
Gutsherren,  Schenken  an  Juden  zu  verpachten  (1783);  eine 
furchtbare  wirtschaftliche  Krisis  stellte  sich  als  Folge  ein: 
,, Tausende  von  Famüien"  —  sagt  ein  Zeitgenosse  —  „wurden 
ins  Elend  gestürzt."  Und  nur  das  Jammergeschrei  der  zu- 
grunde gerichteten  jüdischen  Bevölkerung,  das  bis  an  den  Senat 

')  Ein  Zeitgenosse  (Bennet)  gibt  die  Zahl  der  Juden  in  den  beiden  weiß- 
russischen  Gouvernements  auf  Grund  amtlicher  „Ijsten"  mit  40  000  Familien  an. 

62 


drang  (1786),  nötigte  die  Regierung  der  weiteren  Verelendimg 
dieser  Gebiete  Einhalt  zu  tun.  Große  Verwirrung  brachten  auch 
solche  Maßnahmen  der  Regierung,  die  einerseits  die  Aufrecht- 
erhaltung der  jüdischen  Kahalordnung  zu  fiskalischen  Zwecken 
anstrebten  (1776),  andererseits  die  Juden  in  die  Ordnung  der 
allgemeinen  städtischen  Selbstverwaltung  einzuführen  suchten 
(1783):  die  Funktionen  zweier  Selbstverwaltungen  allgemeiner 
und  spezieller  Natur,  die  einander  hemmten  und  störten,  wurden 
durcheinander  geworfen.  Diese  schwankende  Politik,  ein  Ge- 
misch von  Freiheiten  und  Repressalien,  war  nicht  dazu  an- 
getan, den  Wohlstand  der  neuen  jüdischen  Kolonie  in  Rußland 
zu  fördern.  Die  Krisen  der  Übergangszeit  —  des  Zeitraumes 
zwischen  der  ersten  und  der  zweiten  Teilung  Polens  lasteten 
schwer  auf  ihren  Schultern.  In  mechanischer  Weise  an  den 
Organismus  des  neuen  Staates  gefesselt,  war  das  jüdische  Weiß- 
rußland zur  selben  Zeit  von  allen  anderen  Teüen  dieses  Reiches 
durch  unüberschreitbare  Schranken  getrennt.  Aus  der  Peters- 
burger Maske  guckte  die  alte  moskowitische  Politik  hervor  .  . . 
Indessen  stand  vor  der  Schwelle  des  Reiches  eine  fast  eine 
Million  Seelen  zählende  jüdische  Bevölkerung  von  Litauen,  Po- 
dolien,  Wolhynien  und  einem  großen  Teile  des  zentralen  Polens, 
der  Gebiete,  die  nach  der  zweiten  und  dritten  Teüung  und  dann 
auch  nach  den  Bestimmungen  des  Wiener  Kongresses  (1793, 
^795.  1815)  an  Rußland  fielen,  eine  Bevölkerung,  die  daran  war, 
dem  Russischen  Reiche  einverleibt  zu  werden. 

§  II.  Die  außereuropäischen  Länder.  Die  jüdische  Welt 
außerhalb  Europas  konzentrierte  sich  gegen  das  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  an  den  beiden  Polen  der  Kultur  —  im 
fernen  Westen,  in  den  soeben  gebüdeten  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika,  und  im  asiatisch-afrikanischen  Osten,  der 
in  den  Fesseln  des  alten  patriarchalischen  Despotismus 
schlummerte. 

Die  junge  Tochter  Europas,  Amerika,  die  sich  von  der  elter- 
lichen Bevormundung  befreit  hatte,  beeÜte  sich,  die  alten  Fa- 
milienvorurteile abzustreifen,  und  verkündete  die  Prinzipien 
der  Freiheit  und  Gleichheit.  Während  die  Juden  in  England 
sich  noch  außerhalb  der  bürgerlichen  Gesellschaft  befanden,  von 
der  sie  durch  die  bürgerliche  Eidesformel  „nach  dem  wahren 
Glauben  des  Christen"  getrennt  waren,  stellte  das  Volk  der 

63 


Vereinigten  Staaten  in  der  Unabhängigkeitserklärung  von  1776 
ein  neues  Prinzip  anf:  „Kein  Mensch  darf  wegen  religiöser  Über- 
zeugungen seiner  Bürgerrechte  beraubt  und  Verfolgungen  aus- 
gesetzt werden."  Die  jüdische  Kolonie  der  transatlantischen 
Republik,  der  die  Wohltaten  der  Freiheit  zuteü  geworden,  war 
nicht  groß,  aber  wir  sehen  hier  zum  erstenmal  den  Akt  einer 
Emanzipation,  die  ganz  ohne  Kämpf  vermöge  des  allgemeinen 
Prinzips  der  bürgerlichen  Gleichheit  erreicht  wurde. 

Am  anderen  Pol,  in  den  alten  großen  Herden  der  Judenheit, 
im  moslemitischen  Orient  herrschte  düstere  Nacht.  Die  er- 
graute Mutter  Buropas,  Asien,  schien  unter  der  Bürde  der  Jahr- 
hunderte eingeschlafen  zU  sein.  Die  über  die  Türkei  verstreuten 
jüdischen  Massen  waren  nach  den  Fieberphantasien  Sabbatai- 
Zewis  schon  lange  in  einen  lethargischen  Schlaf  versunken. 
Trostlos  war  das  Leben  im  osmanischen  Reich,  das  die  Bruch- 
stücke zweier  großer  Teile  der  Diaspora,  des  sephardischen 
und  aschkenasischen,  beherbergte.  Zwei  abgesonderte  Gruppen 
der  Judenheit  vegetierten  hier  an  allen  Ecken  und  Enden 
des  Reiches:  die  eine  sprach  einen  spanischen,  die  andere 
einen  deutschen  Jargon.  Beide  waren  vom  Despotismus  eines 
Staates  geknebelt,  der  auf  gewaltsame  Weise  ein  Konglomerat 
von  Völkerschaften  imd  Religionen  in  sich  vereinigte.  Die 
zitternde  Judenheit  stand  hier  zwischen  zwei  Feuern  —  zwischen 
dem  Islam  und  dem  Christentum.  In  den  Zentren  der  euro- 
päischen Türkei,  in  Konstantinopel  und  in  Saloniki  waren  die 
großen  jüdischen  Gemeinden  von  einer  ihnen  fremden  Masse 
der  Griechen  und  Armenier  umgeben,  die  auf  wirtschaftlichem 
Böden,  auf  dem  Gebiete  des  Handels,  einen  Kampf  gegen  die 
Juden  führten.  In  der  asiatischen  und  afrikanischen  Türkei 
waren  die  Juden  von  einer  ihnen  der  Rasse  nach  verwandten, 
der  Religion  nach  feindlichen,  verwilderten  arabischen  Welt 
umgeben.  Hier  lebten  sie  unter  dem  doppelten  Druck  des  mosle- 
mitischen Fanatismus  und  der  orientalischen  Tyrannei.  Jedes 
Paschalyk  hatte  sein  System  der  Gesetzlosigkeit  und  Willkür. 
Die  Ausbeutung  der  Juden  durch  den  betreffenden  Pascha 
geschah  bald  auf  ,, friedlichem"  Wege,  indem  er  dem  Reichen 
den  Überfluß  und  dem  Armen  das  Unentbehrliche  wegnahm, 
bald  auch  gewaltsamerweise,  indem  er  die  jüdischen  Viertel 
durch  Überfälle  verheerte.  Die  verkümmerten,  eingeschüchterten 

64 


Gemeinden  suchten  sich  in  jeder  Provinz  den  lokalen  Zustanden 
außerhalb  des  Ghettos  anzupassen,  und  ihr  trauriges  Geheimnis 
innerhalb  desselben  zu  bewahren.  In  Palästina,  das  durch  die 
türkische  Herrschaft  in  ein  Land  von  Ruinen  verwandelt  worden 
war,  sammelten  sich  tausende  jüdischer  Familien,  die  sich  von 
Almosen  europäischer  Frömmlinge  ernährten,  um  die  vielen 
Totenstädte  und  die  heiligen  Gräber  zu  bewachen.  Jerusa- 
lem, Hebron,  Zephath,  Tiberias,  bildeten  die  Tetrarchie  der 
frommen  Bettelei.  In  den  Schlupfwinkeln  des  Ghettos  hatten 
hier  einst  der  Rabbinismus  imd  die  mystische  Kabbala  ge- 
herrscht; gegen  das  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  drang  von 
Rußland  und  Polen  die  lebensfrischere  Mystik  der  neuen  Chassi- 
dim  aus  der  Schule  Beschts  hinüber,  die  bedeutende  Zentren 
in  Hebron  und  Tiberias  bildete.  So  sah  das  Element  der 
„Reform"  in  diesem  schlafenden,  dunklen  Reiche  aus . . .  Auch 
weiter,  durch  die  Riesengebiete  Syriens,  Ägyptens  und  des 
Berberreichs  (Marokko,  Timis,  Algerien)  zieht  sich  die  Kette 
jüdischer  Kolonien  —  der  stummen  Denkmäler  einer  längst  er- 
loschenen Zivilisation,  großer  historischer  Umwälzungen.  Die 
Flut  der  Tyrannei,  der  Barbarei  ind  des  Fanatismus  hatte  hier 
den  Mittelmeerstreifen,  die  Wiege  der  jüdischen  Kultur  und 
der  Kultur  der  ganzen  Welt  verschlungen.  Der  Orient  schlum- 
merte an  der  Schwelle  des  stürmischen  19.  Jahrhunderts  .  . . 
Aber  auch  hierher  wird  einst  das  Brausen  der  europäischen 
Umwälzungen  dringen,  und  über  den  alten  Gräbern  die  frohe 
Kunde  des  Lebens  erschallen. 


5    Dabnow,  Geschichte  der  Jnden  I  65 


II.  Die  Hauptprozesse  der  neueren  Geschichte  der  Juden 

§  12.  Emanzipation  und  Reaktion.  Die  neuere  Geschichte 
der  Juden  in  dem  Zeitabschnitt  zwischen  1789  und  1905, 
vom  Beginne  der  ersten  französischen  bis  zur  ersten  rus- 
sischen Revolution,  bietet  uns  zwei  einander  parallel  laufende 
Reihe  von  Prozessen.  In  der  politischen  Geschichte  des  Volkes 
wird  die  bürgerliche  Emanzipation  (oder  der  Kampf  um  diese) 
von  der  Reaktion  (einer  allgemeinen  oder  speziell  antijüdischen) 
abgelöst.  Dementsprechend  geht  in  der  Kulturgeschichte  die  Ab- 
lösung der  Assimilation  durch  die  nationale  Bewegung  oder  wohl 
ein  Wetteifern  der  einen  mit  der  anderen  vor  sich.  Diese  zwei 
Reihen,  die  ihrerseits  ihren  Ursprung  in  den  früheren  Stadien 
des  geschichtlichen  I^ebens  der  Judenheit  haben,  werden  in  der 
Verkettung  der  Geschehnisse  der  neueren  Geschichte  durch  zahl- 
reiche Fäden  ineinander  verwoben. 

Der  Ausdruck  ,, Emanzipation"  zur  Bezeichnung  einer  auf  ge- 
setzgeberischem Wege  durchgeführten  rechtlichen  Gleichstellung 
der  Juden  mit  allen  anderen  Bürgern  des  I<andes  ist  ein  Er- 
zeugnis der  neuesten  Zeit.  Unter  der  Herrschaft  der  alten  Ge- 
sellschaftsordnung, in  der  die  Juden  die  Stellung  nicht  einer 
Gruppe  von  Bürgern,  sondern  die  einer  außerhalb  der  Bürger- 
schaft stehenden  Kaste  einnahmen,  die  vom  Staate  kraft  einer 
besonderen  Vergünstigung  ein  beschränktes  Quantum  von  Rech- 
ten zuerteilt  bekam,  konnte  wohl  die  Rede  von  Rechten,  nicht 
aber  von  einem  Rechte,  von  bürgerlicher  Gleichberechtigung 
sein.  Erst  mit  dem  Momente  des  Entstehens  des  modernen 
Rechtsstaates,  der  den  alten  Polizei-  und  Ständestaat  ablöste, 
konnte  die  ,, Emanzipation"  zu  einem  politischen  Faktum  wer- 
den. Dieser  Moment  trat  in  Europa  für  Frankreich  im  Jahre  1789, 
für  die  anderen  Länder  des  Westens  im  Verlaufe  des  19.,  für 
Rußland  tritt  er  im  20.  Jahrhundert  ein.  In  dem  Maße,  wie 
die  neue  konstitutionelle  Ordnung  in  verschiedenen  Ländern 

66 


Wurzel  faßte,  machte  der  Emanzipationsprozeß  in  der  Regel  eine 
ganze  Reihe  von  Stadien  durch  ^).  Schon  bei  der  Festlegung  der 
neuen  Ordnung  wurde  die  Emanzipation  bloß  mitgedacht,  als 
eine  Folgerung  aus  dem  in  den  Grundgesetzen  vorgezeichneten 
allgemeinen  Dogma  von  der  bürgerlichen  Gleichheit  (,, Dekla- 
ration der  Rechte",  die  ersten  Paragraphen  der  europäischen 
Konstitutionen).  Die  allgemeinen  Formeln  der  bürgerlichen 
Gleichheit  erwiesen  sich  jedoch  als  ungenügend  für  die  juridische 
Fixierung  der  Gleichberechtigung  der  Juden.  Es  erhoben  sich 
laute  Stimmen,  daß  das  Grundgesetz  der  Gleichheit  auf  die  Juden 
nicht  ausgedehnt  werden  dürfe.  So  lagen  die  Dinge  nach  der  Ver- 
öffentlichung der  Deklaration  der  Rechte,  als  die  bürgerliche 
Gleichheit  eben  im  Entstehen  begriffen  war.  Dann  entspann  sich 
eine  spezielle  Erörterung  der  jüdischen  Frage  (in  der  französischen 
Nationalversammlung  der  Jahre  1789 — 1791  und  in  den  deutschen 
und  österreichischen  Parlamenten  des  Jahres  1848),  und  nach 
einigem  Schwanken  wurde  die  Gleichberechtigung  kraft  der  Not- 
wendigkeit in  formeller  Weise  gesetzlich  bestätigt,  denn  es  er- 
wies sich  als  unmöglich,  die  Rechtlosigkeit  des  einen  Teües  der 
Bevölkerung  mit  der  erneuerten  staatlichen  Ordnung  zu  verein- 
baren. Aber  auch  diese  spezielle  Anerkennung  der  jüdischen 
Gleichberechtigung  stieß  auf  Hindemisse  zweifacher  Art:  ent- 
weder war  es  die  nach  der  Revolution  einsetzende  Reaktion,  die 
die  Grundgesetze  aufhob,  nachdem  die  erstere  der  Regierung  die 
konstitutionelle  Gesetzgebung  abgerungen  hatte,  oder  es  war  die 
christliche  Gesellschaft,  die  sich  mit  der  faktischen  Gleich- 
berechtigung der  Juden  nicht  abfinden  konnte.  Im  ersteren  Falle 
wurde  die  Gleichberechtigung  auf  juridischem  Wege  abgeschafft, 
im  letzteren  wurde  deren  praktische  Verwirklichung  faktisch 
verhindert.  Reaktionen,  die  von  Regierungen  ausgehen,  tragen 
einen  vorübergehenden  Charakter,  und  die  abgeschafften  Kon- 
stitutionen treten  nach  einiger  Unterbrechxmg  in  voller  oder  ein- 
geschränkter Gestalt  wieder  in  Kraft.  Einen  bei  weitem  dauern- 
deren Charakter  nehmen  die  gesellschaftlichen  Reaktionen  an, 

*)  Abseits  von  diesem  Kontinentalsystem  der  Emanzipation  steht  England, 
dessen  politische  Ordnung  sich  in  keiner  Abhängigkeit  von  den  Revolutionen 
der  neuesten  Zeit  befindet.  Die  Judenemanzipation,  die  hier  dem  Emanzi- 
pationskampf der  englischen  Katholiken  nahekommt  (1829),  mit  dem  sie  teil- 
weise in  einem  geschichtlichen  Znsammenhang  steht,  trug  einen  besonderen 
religiösen  Charakter. 

67 


d.  i.  der  Widerstand,  den  die  christliche  Gesellschaft  der 
Verwirklichung  der  juridisch  bereits  anerkannten  Emanzi- 
pation- entgegensetzt.  Eine  derartige  Reaktion  tritt  oft  in 
der  Form  eines  organisierten  Kampfes  auf  (der  Antise- 
mitismus im  Westen).  Mancherorten  ist  sie  nicht  gegen 
die  bereits  gesetzlich  anerkannte  Emanzipation  gerichtet, 
sondern  gegen  den  von  den  Juden  eingeleiteten  Kampf  für 
ihre  Freiheit  mit  einem  sich  zäh  behauptenden  alten  Regime 
(Rußland). 

Auf  Grund  all  dieser  vorhin  erwähnten  Prozesse  läßt  sich  eine 
Einteilung  der  neuesten  politischen  Geschichte  der  Juden  in 
Zeitalter  vornehmen,  die  im  allgemeinen  mit  der  der  neuesten 
Geschichte  Europas  zusammenfällt,  und  die  folgendermaßen  dar- 
gestellt werden  kann:  i.  Das  Zeitalter  der  ersten  Emanzi- 
pation, der  französischen  (1789 — 1815),  als  Frankreich  seine 
Juden  emanzipierte,  und  die  anderen  Staaten  unter  dem  Ein- 
flüsse der  siegreichen  Republik  und  des  napoleonischen  Kaiser- 
reiches die  Gleichheit  aller  Bürger  vor  dem  Gesetz  konstituierten 
oder  Schritte  zur  Besserung  der  bürgerlichen  Lage  der  Juden 
machten  (Holland,  Teile  Italiens  und  Deutschlands,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  Rußland  zu  Beginn  der  Regierung  Alexanders  I.); 
2.  Das  Zeitalter  der  ersten  Reaktion,  einer  allgemein- 
politischen (1815 — 1840),  als  die  Emanzipation  allerorten,  Frank- 
reich und  Holland  ausgenommen,  von  einer  gänzlichen  oder 
teüweisen  Rückkehr  zur  ersten  bürgerlichen  Entrechtung  der 
Juden  abgelöst  wurde;  3.  Das  Zeitalter  der  zweiten  Eman- 
zipation, der  deutschen  (1848 — 1881),  als  die  Festlegung  des 
konstitutionellen  Regimes  vornehmlich  in  den  Ländern  deutscher 
Kultur  zur  juridischen  (aber  nicht  überall  faktischen)  Gleich-  ■ 
berechtigung  der  Juden  im  Westen  führte,  und  als  die  „Epoche 
der  großen  Reformen  in  Rußland"  die  Emanzipationsbewegung 
und  den  Kampf  um  die  Emanzipation  innerhalb  der  östlichen 
Judenheit  ins  Leben  rief.  4.  Das  Zeitalter  der  zweiten 
Reaktion,  der  antisemitischen  (1881 — 1905),  als  der  gesell- 
schaftliche Antisemitismus  des  westlichen  Europas  zu  einer 
Macht  wurde,  die  in  vielen  Ländern  der  faktischen  Durchführung 
der  vollen  bürgerlichen  und  politischen  Gleichberechtigung  der 
Juden  Hindernisse  in  den  Weg  legte,  imd  die  Judenfeind- 
schaft des  reaktionären  Rußlands  für   den   Kern  der  Juden- 

68 


heit    ein    Regime    von    Pogromen    und    der    schändlichsten 
Entrechtung  schuf. 

§  13.  Assimilation  und  nationale  Bewegung.  In  engem 
Zusammenhange  mit  dem  zwiespältigen  äußeren  Prozeß  der 
Emanzipation  und  Reaktion  befindet  sich  der  zwiespältige 
innere  Prozeß  der  Assimilation  und  der  Nationalisierung.  Unter 
Assimilation  versteht  man  entweder  das  natumotwendige 
Verschlungenwerden  des  Juden  von  der  Kultur  der  herrschenden 
Umgebung,  das  zu  der  Einbuße  des  jüdischen  national-kul- 
turellen Typus  fiihrt,  oder  auch  das  formelle  Verzichtleisten 
des  Juden  auf  seine  von  der  Religiosität  als  solcher  unabhängige 
nationale  Eigenart  und  das  Angegliedertwerden  an  die  herr- 
schende Nation  in  jedem  einzelnen  Lande.  Dieser  Entnationali- 
sierung liegen  zwei  verschiedenartige  Triebfedern  zugnmde  — 
die  humanitäre  und  die  utilitäre.  Die  erstere  ist  in  der  jüdi- 
schen Geschichte  nicht  neu.  Unter  dem  Einflüsse  großer  welt- 
umspannender Kulturbewegungen  entfaltete  zu  verschiedenen 
Zeiten  die  zentrifugale  Tendenz  in  gewissen  Schichten  der  Juden- 
heit  eine  intensivere  Energie  als  die  zentripetale,  die  Hinneigung 
zu  der  „allgemein-menschlichen"  Kultur  der  Peripherie  über- 
wog die  zur  urwüchsigen  nationalen  Kultur.  So  war  es  in  Pa- 
lästina in  der  Zeit  der  Vorherrschaft  der  phönizischen  und 
dann  der  ass3nrisch-babylonischen  Kultur,  so  war  es  in  ganz 
Vorderasien  und  Ägypten  unter  der  Herrschaft  der  griechisch- 
römischen Kultur,  so  war  es  auch  in  der  Zeit  der  arabischen 
Renaissance  im  Orient  und  in  Spanien.  Die  westliche  Judenheit, 
die  jahrhundertelang  ein  vollständig  in  sich  at^eschlossenes  Da- 
sein führte,  konnte  der  europäischen  aufklärerischen  Bewegung 
des  18.  Jahrhunderts  und  dessen  kosmopolitischer  Ideologie 
nicht  widerstehen.  Die  Epoche  Mendelssohns  tmd  die  der  fran- 
zösischen Revolution  entwickelten  in  den  oberen  Schichten  der 
jüdischen  Gesellschaft  eine  ungeheuere  zentrifugale  Kraft.  Ihr 
IX)sungswort  lautete:  Vom  Nationalen  zum  Allgemein-Mensch- 
lichen. Es  begann  der  Prozeß  des  Anschlusses  der  Juden  an  die 
westliche  Kultur.  Da  es  aber  im  Westen  in  der  Wirklichkeit  gar 
keine  einheitlidie  Kultur  gab,  sondern  immer  nur  eine  deutsche 
oder  französische  und  überhaupt  eine  solche,  die  dieses  oder 
jenes  nationale  CJepräge  je  nach  dem  T^pus  der  Sprache,  der 
Schule  und  der  Literatur  der  herrschenden  Nation  trug,   so 

69 


machten  sich  auch  die  verschiedenen  Gruppen  des  jüdischen 
Volkes  in  jedem  Lande  faktisch  die  entsprechende  nationale 
Kultur  zu  eigen,  d.  i.  sie  verschmolzen  mit  den  Franzosen,  den 
Deutschen  usw.  Die  humanistische  Bewegimg  artete  in  den  Ver- 
zicht auf  die  jüdische  Nationalität  zugvmsten  der  fremden  Kultur 
des  gegebenen  I^andes  oder  der  gegebenen  Provinz  aus. 

Wäre  nun  diese  natürliche  zentrifugale  Bewegung  (bei  der  un- 
natürlichen I^age  des  jüdischen  Volkes  in  der  Diaspora)  sich  selber 
überlassen  geblieben,  so  wäre  sie  mit  der  Zeit  durch  die  normale 
Gegenwirkung  ihrer  Nebenbuhlerin  in  Schach  gehalten  worden; 
der  verderbliche  Prozeß  der  Assimilation  wäre  in  den  dichten 
Massen  des  Volkes  auf  die  alte  elementare  Tendenz  nach  dem 
Nationalen  hin  gestoßen.  Aber  hier  kamen  zu  den  humanitären 
Beweggründen  solche  utÜitärer  Natur  hinzu.  In  das  Ringen  um 
die  Emanzipation  wurde  auch  die  Assimüation  mit  hineingezogen 
und  diente  als  eine  Kampfeslosung.  Die  christlichen  Gegner  der 
Emanzipation  suchten  nachzuweisen,  daß  die  Gleichberechtigung 
unmöglich  einer  abgesonderten  Menschengruppe  mit  allen  Merk- 
malen einer  selbständigen  Nationalität  verliehen  werden  könne. 
Das  Argument  des  Abbe  Maurice  in  der  berühmten  Sitzung 
der  Nationalversammlung  im  Dezember  1789:  „das  Wort 
Jude  ist  nicht  der  Name  einer  Sekte,  sondern  der  einer 
Nation"  wurde  von  den  Gegnern  der  Emanzipation  im  Verlaufe 
des  ganzen  19.  Jahrhunderts  in  allen  Ländern  ausgenutzt. 
Darauf  erwiderten  die  Verfechter  der  Emanzipation  mit  den 
charakteristischen  Worten  des  Clermont-Tonnerre  in  derselben 
Sitzung:  „Den  Juden  als  Nation  ist  alles  zu  verweigern,  den 
Juden  als  Menschen  ist  alles  zu  gewähren."  Nach  langwierigem 
Kampfe  trugen  die  Verfechter  der  Emanzipation  den  Sieg  davon: 
die  bürgerliche  Gleichberechtigimg  wurde  den  Juden  in  der  An- 
nahme gewährt,  daß  sie  in  dem  gegebenen  Lande  keine  nationale, 
sondern  eine  religiöse  Gruppe  innerhalb  der  herrschenden  Nation 
bilden  würden.  Als  Napoleon  I.  bereits  nach  dem  Erlasse  des 
Emanzipationsaktes  im  Jahre  1791  über  das  Verhalten  der  Juden 
selber  zu  dieser  Frage  in  Zweifel  geriet,  ließ  er  in  Paris  eine  Ver- 
sammlung jüdischer  Vertreter  aus  dem  ganzen  französischen 
Reiche  einberufen  und  rang  ihnen  unter  Androhung  der  bürger- 
lichen Entrechtung  die  Formel  der  nationalen  Selbstverleug- 
nung  ab    („Aujourd'hui   que   les  juifs   ne   forment   plus   une 

70 


nation*)  et  qu'ils  ont  l'avantage  d'ßtre  incorpores  dans  la  grande 
nation"  .  .  . ).  Das  Pariser  Synhedrion  stand  vor  dem  Dilemma : 
entweder  das  Judentum  zu  einer  Nationalität  und  nicht  Kon- 
fession zu  erklären  und  der  Wohltaten  der  bürgerlichen  Freiheit, 
die  sich  auf  das  gesamte  Napoleonische  Reich  erstreckte,  mit 
einem  Male  verlustig  zu  gehen,  oder  aber  sich  dnrch  das  Einge- 
ständnis, nichts  weiter  als  Bestandteile  der  umgebenden  Nationen 
des  jeweiligen  Staates  zu  sein,  von  seiner  Nationalität  loszusagen, 
und  auf  diese  Weise  die  Gleichberechtigung  zu  erringen*).  Die 
utilitären  Erwägungen  gewannen  die  Oberhand,  und  der  Ab- 
dikationsakt  wurde  unterzeichnet. 

Übrigens  konnten  viele  einen  derartigen  Akt  für  sich  und  für 
ihre  Gesinnungsgenossen  bona  fide  unterschreiben,  denn  die  Zahl 
der  kulturell  assimilierten  Juden  im  Westen  war  schon  damals 
sehr  bedeutend  und  nahm  mit  jedem  Jahre  zusehends  zu.  Eine 
der  wichtigsten  Ursachen  dieses  Wachstums  der  Assimilation  be- 
stand darin,  daß  die  gebildeten  Klassen  der  deutschen  und  der 
französisch-elsässischen  Judenheit  ihren  Volksdialekt  aufgegeben 
hatten,  was  durch  die  Propaganda  der  Mendelssohnschen  Schule 
seit  der  deutschen  Bibelübersetzung  vorbereitet  worden  war.  Die 
allgemeine  Landessprache  ebnete  der  Verdeutschimg  und  Fran- 
zösierung den  Weg  in  die  jüdische  Familie  und  die  jüdische 
Schule.  Die  neuen  Generationen  wurden  schon  durch  die  Er- 
ziehung dem  Judentum  entfremdet.  Die  Generationen  des  ,,Ber- 


^)  £s  gilt  übrigens  zu  bedenken,  daß  in  jener  Epoche  das  Wort  „nation" 
in  der  Regel  zur  Bezeichnung  eines  staatlichen  oder  wenigstens  territorialen 
Volkes  gebraucht  wurde.  Die  Verleugnung  der  jüdischen  Nationalität  in  diese  m 
Si  nne  konnte  als  eine  einfache  Konstatierung  einer  Tatsache  angesehen  werden, 
und  diese  Zweideutigkeit  des  Ausdrucks  machten  sich  viele  Verleugner,  die  in 
ihrem  Innern  die  Juden  für  eine  historische  und  kulturelle  Nation  hielten,  zn- 
nntoe.  Hierin  lag  die  pia  fraus. 

')  In  allen  Parlamenten  des  Zeitalters  der  , .ersten  Emanzipation",  in  denen 
über  die  jüdische  Frage  debattiert  wurde,  wurde  der  Verzicht  der  Juden  auf 
ihr  , .spezielles  Privilegium",  die  Gemeinde-Autonomie  und  die  besonderen 
nationäl-kultureUen  Institutionen,  außer  den  synagogalen,  als  die  erste  Be- 
dingung gefordert.  Bine  derartige  Bedingung  wurde  von  dem  Emanzipations- 
dekret des  Jahres  1 791  in  Frankreich  (s.  weiter  §  18),  von  der  Gesetzgebung  der 
napoleonischen  Epoche  in  Italien  (§  26)  und  von  den  christlichen  und  selbst 
jüdischen  Kämpfern  um  die  Gleichberechtigung  in  Holland  gestellt  (was  den 
Widerstand  der  konservativen  Vorsteher  der  Amsterdamer  Gemeinde,  denen 
die  alte  Autonomie  am  Herzen  lag.  hervorrief.  §  25).  Als  Entgelt  für  die  frühere 
weitgehende  Autonomie  wurde  den  Gemeinden  ein  schlechtes  offizielles  Surro- 
gat —  das  Napoleonische  konsiatoriaie  System  dargeboten. 

71 


liner  Salons";  Börne  und  Heine;  Lassalle  und  Marx  —  das  sind 
drei  Etappen  einer  mehr  und  mehr  zunehmenden  Entfremdung. 
Wahr  ist  es  allerdings,  daß  sich  eine  parallel  laufende  Strömung 
in  der  Generation  der  Aufbauer  des  erneuerten  Judentums,  der 
eines  Friedländer  und  Jakobsohn,  eines  Rießer  und  Geiger  her- 
ausbildete, aber  was  war  es  denn,  was  diese  den  umgebenden 
Nationen  im  Namen  des  eigenen  Volkes  sagten  ?  Sie  wiederholten 
das  Losungswort  des  Pariser  Synhedrions : , ,  Wir  gehören  der  Natio- 
nalität nach  den  umgebenden  Nationen  an;  es  gibt  keine  jüdische 
Nation,  sondern  nur  Deutsche,  Franzosen,  Engländer,  die  sich 
zur  jüdischen  Religion  bekennen,"  In  diesen  Erklärungen,  die  für 
gewöhnlich  im  Eifer  des  Kampfes  abgegeben  wurden,  verwachsen 
humanitäre  und  rein  utilitäre  Erwägungen  derart  miteinander, 
daß  es  schwer  wird,  zu  ermitteln,  wo  die  einen  enden  und  die 
anderen  beginnen.  Überall,  wo  die  Emanzipationskämpfer  des 
völligen  Verschwindens  des  Judentums  als  Nation  nicht  ganz 
sicher  waren,  befahl  ihnen  ein  gebieterischer  Instinkt:  so  soll 
geredet  werden  —  sonst  werden  wir  nicht  imstande  sein,  für 
die  Gleichberechtigung  zu  kämpfen  und  den  Kampf  glücklich 
durchzuführen.  Der  Gedanke,  daß  eine  Nation  ohne  Staat  imd 
selbst  ohne  Territorium  berechtigt  sei,  staatsbürgerliche  Rechte 
in  vollem  Maße  samt  solchen  nationaler  Art  zu  fordern,  ist  in  den 
Köpfen  noch  nicht  aufgedämmert.  In  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts ist  die  nationale  Frage  in  der  politischen  Geschichte 
Europas  noch  nicht  an  die  Reihe  gekommen;  sie  tritt  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  nach  den  vielen,  im  Jahre  1848 
einsetzenden  nationalen  Freiheitskämpfen  in  den  Vordergrund. 
Für  einen  Moment  konnte  es  den  Anschein  gewinnen,  daß  das 
19.  Jahrhundert  in  der  jüdischen  Geschichte  eine  tiefe  Furche 
gezogen  habe.  Es  schien,  daß  die  älteste  Nation,  die  ihren  Bestand 
im  Verlaufe  von  Jahrhunderten  durch  alle  Stürme  der  Welt- 
geschichte hindurch  rettete,  gegen  den  Ansturm  des  19.  Jahr- 
hunderts nicht  mehr  aufzukommen  vermochte,  daß  sie  nachgab, 
sich  selber  verleugnete  und  zu  einer  religiösen  Sekte  degradierte, 
deren  Bruchteüe  in  die  umgebenden  Nationen  versprengt  sind. 
Es  schien,  daß  die  bona  fides  der  einen  und  die  pia  fraus  der 
anderen  in  den  Erklärungen  der  nationalen  Selbstverleugnung, 
oder  richtiger  gesagt,  die  aus  diesen  beiden  Elementen  bestehende 
Mischung  von  den  Völkern  in  gutem  Glauben  hingenommen 

72 


wurde,  daß  die  im  Westen  bereits  zustande  gekommene  Krisis 
auch  im  Osten  ihrer  Verwirklichung  imvermeidlich  entgegen- 
schreite. Hier  aber  vollzog  sich  eine  Krise  der  Krise.  Der  an- 
gehende Prozeß  des  nationalen.  Zerfalls  wurde  durch  zwei  Fak- 
toren, von  denen  der  eine  n^ativer,  der  andere  positiver  Natur 
war,  gebieterisch  zum  Stillstand  gebracht  —  durch  den  west- 
lichen Antisemitismus  einerseits  imd  durch  das  Schicksal  des 
Kerns  der  Judenheit  in  Rußland  andererseits. 

Die  Antisemiten  aller  Länder  sagten  den  Juden,  die  die  Eman- 
zipation auf  dem  Wege  der  nationalen  Selbstverleugnung  er- 
worben hatten:  „an  eure  Selbstverleugnung  glauben  wir  nicht; 
bei  all  euren  Bemühimgen,  mit  uns  zu  verschmelzen,  bleibt  ihr 
uns  fremd;  ihr  seid  nicht  nur  Ander^läubige,  sondern  auch 
Fremdstämmige."  Das  Schicksal  der  russischen  Judenheit  wie- 
derum verhalf  vielen  zu  einer  klaren  geschichtlichen  Erkenntnis, 
die  sie  eingebüßt  hatten. 

Seit  der  kulturellen  Umwälzung  der  Epoche  Mendelssohns  und 
der  französischen  Revolution  gingen  die  Wege  der  westlichen 
und  östlichen  Judenheit  auseinander;  die  frühere,  auf  einer 
strengen  bürgerlichen  und  nationalen  Absondenmg  aufgebaute 
Vorherrschaft  der  deutsch-polnischen  Juden  erfuhr  eine  Ent- 
zweiung ihres  Wesens;  die  deutschen  Juden  verwarfen  ihre  alte 
Grundlage  und  schlugen  den  Weg  der  Aufklänmg  und  der  Assi- 
milation ein;  die  polnischen  Juden  hingegen,  die  inzwischen 
unter  vornehmlich  russische  und  österreichische  Herrschaft  ge- 
rieten, bewahrten  ihre  Eigenart  und  erwiesen  sich  den  neuen 
kulturellen  Einflüssen  schwer  zugänglich.  Diese  vom  Westen 
hinüberkommenden  Einflüsse,  die  auch  in  den  Osten  eindrangen, 
verschafften  auch  hier  der  Assimilation,  dem  Kampfe  um  die 
bürgerliche  Gleichberechtigung  und  sogar  den  bewährten 
Methoden  der  Selbstverleugnung  Eingang.  (Die  Periode 
zwischen  1860 — 1880.)  Aber  kaum  faßte  die  kulturelle  Krise  in 
den  tieferen  Schichten  der  Gesellschaft  festen  Fuß,  als  die  Re- 
aktion der  Jahre  1881 — 1905  mit  ihren  mittelalterlichen  Ver- 
folgungen und  Pogromschrecken  ausbrach.  Die  Schläge  hagdten 
auf  den  östlichen  Kern  der  Judenheit  in  einem  Momente  nieder, 
als  einerseits  in  der  dichtesten  Masse  der  Bevölkerung  der  alte 
Vorrat  an  nationaler  Energie  noch  nicht  versiegt  war,  anderer- 
seits an  den  intelligenten  Spitzen  der  Gesellschaft  sich  ein  ge- 

73 


wisses  Quantum  neuer  sozialer  Energie  ansammelte,  die  zu  einem 
Kampfe  um  die  Freiheit  drängte.  Die  Verbindung  dieser  beiden 
Elemente  rief  eine  kompliziertere  Form  des  Daseinskampfes  ins 
Leben,  als  es  im  Westen  der  Fall  war:  die  nationale  Frei- 
heitsbewegung. 

Die  neue  Bewegung  fiel  in  zwei  Richtungen  auseinander:  die 
eine  ist  auf  die  Ausscheidung  der  Judenheit  oder  eines  Teiles 
derselben  aus  der  Welt  der  Diaspora  zum  Zwecke  einer  Reor- 
ganisation auf  autonomer  Grundlage  gerichtet  (Zionismus, 
Territorialismus);  die  andere,  die  eine  derartige  Ausschei- 
dung in  einem  Maße,  das  fähig  wäre,  das  ganze  Leben  der 
Nation  zu  beeinflussen,  für  undurchführbar  hält,  strebt  auf  dem 
Wege  eines  gleichzeitigen  Kampfes  um  bürgerliche  und  nationale 
Rechte  in  jedem  Lande  eine  national-kulturelle  Wieder- 
belebung.des  jüdischen  Volkes  in  der  Diaspora  an.  Die  Ver- 
treter der  beiden  Richtungen  sind  sich  darin  einig,  daß  die  Juden 
den  Kampf  um  ihre  Freiheit  nicht  als  Partikelchen  fremder 
nationaler  Organismen,  sondern  als  Teile  einer  geschichtlich  ein- 
heitlichen jüdischen  Nation  auszufechten  haben.  Im  Momente 
der  russischen  Revolution  des  Jahres  1905,  als  der  Kampf  um  die 
Emanzipation  von  der  Mehrheit  der  jüdischen  politischen  Par- 
teien unter  jüdisch-nationaler  Flagge  geführt  wurde,  fanden  diese 
Bestrebungen  in  bestimmten  politischen  Losungen  ihren  vollen 
Ausdruck.  Wenn  diese  ganze  Freiheitsbewegimg  durch  die  fatalen 
Bedingungen  der  russischen  Wirklichkeit  nicht  diesen  schweren 
Stoß  erlitten  hätte,  so  wären  wir  Zeugen  einer  dritten  „Emanzi- 
pation", der  russischen,  geworden,  einer  Emanzipation,  die  nicht 
imter  einem  russisch-nationalen  Deckmantel,  sondern  Millionen 
russischer  Bürger  jüdischer  Nationalität  dargeboten  worden 
wäre.  Aber  das  Schicksal  wollte  es,  daß  der  Moment  dieser  dritten 
Emanzipation  hinausgeschoben,  und  einer  neuen  grausamen 
Reaktion  der  Weg  geebnet  wurde. 

Die  innere  Krise  hat  sich  jedoch  vollzogen.  Der  kulturelle  Ein- 
fluß des  jüdischen  Westens  auf  den  Osten  machte  gegen  das  Ende 
des  Zeitalters  dem  entgegengesetzten  Einfluß  des  Ostens  auf 
den  Westen  Platz;  die  assimüatorische  Strömung  überläßt  nach 
und  nach  der  nationalen  in  ihrer  modernen  Gestalt  die  Füh- 
rung; die  erstere  war  typisch  für  das  19.,  die  letztere  verspricht 
es  für  das  20.  Jahrhundert  zu  werden. 

74 


Erste  Abteilung 

Das  Zeitalter  der  ersten  Emanzipation 
(J789— J8J5) 


Erstes  Kapitel 

Die  Emanzipation   der  Juden   in  Frankreich  unter  der 
Revolution  und  dem  Kaiserreich 

§  14.  Der  Kampf  um  die  Gleichberechtigung  auf  dem 
Boden  der  Deklaration  der  Rechte.  Im  historischen  Frühling 
des  Jahres  1789,  als  die  Generalstaaten  Frankreichs,  die 
sich  bald  darauf  in  die  konstituierende  Versammlung  ver- 
wandelten, in  Paris  zusammengetreten  waren,  erkannten  die 
französischen  Juden,  daß  die  heranroUende  Freiheitswelle  auch 
sie  aus  den  Tiefen  der  Rechtlosigkeit  mit  in  die  Höhe  ziehen 
könnte.  An  der  sozialen  Bewegimg,  die  der  Einberufung  der 
Volksvertreter  vorangegangen  war,  konnten  sich  die  vom  staats- 
bürgerlichen I^ben  ferngehaltenen  jüdischen  Massen  nicht  be- 
teüigen;  sie  wählten  keine  Abgeordneten  und  äußerten  keine 
Wünsche  in  „Instruktionen".  Einigen  Anteil  an  der  Wahl- 
kampagne nahm  nur  eine  einzige  Gruppe  naturalisierter  Juden 
im  südlichen  Frankreich  (die  sogenannten  Portugiesen  oder 
Sephardim);  in  Bordeaux  fanden  sich  einige  jüdische  Wähler, 
und  einem  von  ihnen  mangelte  es  bloß  an  einigen  »Stimmen,  um 
Abgeordneter  werden  zu  können  (David  Gradis).  Allein  die  Ver- 
fechter jüdischer  Interessen  in  den  nördlichen  Gebieten  rüsteten 
sich  auf  ihre  Weise  zum  Kampf  um  ihre  Rechte.  Der  Kampf 
wurde  auch  durch  die  Notwendigkeit  der  Selbstwehr  hervor- 
gerufen, denn  in  vielen  Bezirken  der  jüdischen  Ansiedelungszone 
—  Elsaß-I/)thringen  —  erteüten  die  christlichen  Wähler  aus  den 
beiden  ersten  Ständen  ihren  Abgeordneten  judenfeindliche  In- 
struktionen. In  den  Bistümern  Kolmar  und  Schlettstadt  verlangte 
die  Geistlichkeit,  daß  in  jeder  jüdischen  Famüie  nur  dem  ältesten 
Sohne  die  Ehe  gestattet  werde,  um  „die  übermäßige  Vermehrung 
dieses  Stammes"  zu  verhindern;  der  Adel  dieser  Gegend  äußerte 
die  Ansicht,  daß  schon  die  bloße  Existenz  der  Juden  ein  „gesell- 
schaftliches Unglück"  bedeute;  die  Stadt  Straßburg  beharrte  auf 

77 


ihrem  alten  „Vorrecht"  —  die  Juden  ans  ihrem  Gebiete  auszu- 
weisen. Die  judenfeindlichen  Tendenzen  der  Geistlichkeit  und 
des  Adels  fanden  oft  auch  in  den  Instruktionen  an  die  Abge- 
ordneten des  dritten  Standes  ihren  Ausdruck.  Wenn  in  Paris  und 
in  anderen  kulturellen  Zentren  (Metz)  den  Abgeordneten  ein- 
geschärft wurde,  „die  Lage  der  Juden  in  Erwägung  zu  ziehen" 
und  für  deren  Gleichberechtigung  einzutreten,  so  gab  sich  im 
Elsaß  auch  der  dritte  Stand  alle  Mühe,  dem  Wachstum  der 
jüdischen  Bevölkenmg  einen  Damm  entgegenzusetzen,  ihrer  ge- 
werblichen Tätigkeit,  insbesondere  auf  dem  Gebiete  der  Kredit- 
versorgung,  enge  Grenzen  zu  ziehen,  imd  selbst  einzelne  jüdische 
Gemeinden  zu  beseitigen.  Die  meisten  Elsässer  wünschten  —  am 
Vorabende  der  Revolution  —  eine  neue  vermehrte  Auflage  des 
drakonischen  Reglementes  des  Jahres  1784  (§  6)  herbei  . . .  Gegen 
diese  Bestrebungen  traten  die  Verfechter  jüdischer  Interessen  aus 
Elsaß  und  Lothringen  auf.  Dem  „Generalsyndikus"  der  elsäs- 
sischen  Juden  Cerf-Berr  gelang  es  nach  langwierigen  Bemühun- 
gen, von  der  Regierung  Neckers  die  Erlaubnis  zur  Einberufung 
eines  Kongresses  von  Bevollmächtigten  aus  deri  jüdischen  Ge- 
meinden dreier  Provinzen  (Elsaß,  Lothringen  und  Metz)  zu  er- 
wirken und  der  Regierung  ihre  Wünsche  darzutun.  Die  Be- 
ratungen der  jüdischen  Bevollmächtigten  begannen  im  Mai 
1789,  als  die  Generalstaaten  bereits  zusammengetreten 
waren;  es  wurde  eine  Anzahl  bescheidener  Forderungen  aufge- 
stellt, die  sämtlich  nicht  etwa  auf  die  gänzliche  Abschaffung  der 
jüdischen  Rechtlosigkeit  —  daran  wagte  damals  niemand  zu 
denken  —  sondern  lediglich  auf  die  Müderung  der  größten  Härten 
hinzielten  .  .  .  Allein  die  Sommerereignisse  des  großen  Jahres,  die 
eine  neue  politische  Ära  in  Frankreich  eröffneten,  gaben  auch  der 
jüdischen  Frage  eine  neue  Wendung. 

Die  Julitage  des  Jahres  1789  brachten  den  Juden  zugleich 
Freude  und  Kummer.  Die  Juden  der  Stadt  Paris  sahen  die 
niedergerissene  Bastille,  die  Demütigung  des  Despotismus  und 
den  Triumph  des  Volkes.  Die  Ghettobewohner,  die  gestern  noch 
vor  jedem  Polizeileutnant,  der  jeden  Beliebigen  dieser  „Recht- 
losen" aus  der  Hauptstadt  ausweisen  konnte,  zitterten,  waren 
mit  einem  Male  in  andere  Wesen  verwandelt:  der  belebende 
elektrische  Strom,  der  den  Organismus  Frankreichs  durchrieselte, 
berührte  auch  sie.  In  Paris  begannen  Gruppen  von  Juden  in  die 

78 


Armee  der  Freiheit,  in  die  Nationalgarde  einzutreten;  das  gleiche 
geschah  in  Bordeaux  .  ,  .  Aber  zur  selben  Zeit  (Ende  Juli)  kamen 
aus  dem  Elsaß  schlimme  Nachrichten:  im  Zusammenhange 
mit  den  Bauernaufständen  in  den  ländlichen  Provinzen  wurden 
jüdische  Wohnungen  geplündert.  Die  durch  den  jahrhunderte- 
langen Druck  aufs  äußerste  gereizten  Bauern  begannen  die 
Schlösser  und  Herrengüter  des  Adels,  mittmter  aber  auch  die 
Wohnungen  der  Juden  in  den  Dörfern  zu  plündern,  wobei  sie  es 
besonders  auf  die  Vernichtung  der  Schuldverschreibungen  und 
der  Handelsbücher  ihrer  Gläubiger  absahen.  Die  durch  den  Adel 
gedemütigten  Juden  wurden  nach  dem  Ausspruche  eines  Ge- 
schichtsschreibers zu  I^idensgefährten  ihrer  Unterdrücker.  Mehr 
als  tausend  Juden  flüchteten,  ihr  Hab  und  Gut  der  Willkür 
der  Plünderer  preisgebend.  In  der  schweizerischen  Stadt  Basel 
fanden  sie  zeitweilige  Unterkunft. 

Der  Schmerzensschrei  der  elsässischen  Juden  drang  bis  zur 
Nationalversammlung.  Ein  freiheitsliebender  Geistlicher,  der 
sich  die  Befreiung  der  Juden  zur  Lebensaufgabe  machte,  erhob 
seine  Stimme  zugunsten  der  Verfolgten.  Der  Abgeordnete  der 
Nationalversammlung  Abbe  Gregoire  aus  Nancy  (Verfasser 
einer  noch  vor  der  Revolution  geschriebenen  leidenschaftlichen 
Apologie  des  Judentums)  war  im  Begriffe,  mit  einer  Rede 
zugunsten  der  Gleichberechtigung  der  Juden  hervorzutreten,  als 
die  Kimde  von  den  elsässischen  Judenplünderungen  ihn  ver- 
anlaßte,  die  Rednertribüne  zu  besteigen,  um  für  die  Entrechteten 
Sicherheit  des  Lebens  und  Schutz  des  Eigentums  zu  fordern.  Mit 
sichtlicher  Teilnahme  hörte  die  Versammlung  die  Rede  des  auf- 
geregten Abbes  (in  der  Sitzung  vom  3.  August)  an  und  ging  zur 
Tagesordnung  über.  In  dem  Moment,  als  sie  sich  anschickte,  das 
uralte  Problem,  die  Abschaffung  der  Leibeigenschaft  in  radikaler 
Weise  zu  lösen,  konnte  sie  nicht  länger  bei  einem  Ereignis 
verweüen,  das  sie  für  eine  Episode  der  Agrarbewegung  hielt. 
Unter  der  Wirkung  des  wuchtigen  Protestes  der  Volksmassen 
gegen  die  feudale  Herrschaft  faßte  die  Nationalversammlung  in 
der  berühmten  Nacht  auf  den  4.  August  den  Beschluß,  die  feudale 
auf  Leibeigenschaft  beruhende  Ordnung  abzuschaffen. 

Die  Judenfrage  kam  in  der  Nationalversammlung  bei  der  Er- 
örtertmg  der  Punkte  „der  Deklaration  der  Rechte  des  Men- 
schen und  Bürgers"  zum  erstenmal  zur  Sprache.  Am  22.  August 

79 


wurde  der  Punkt  „von  der  Toleranz"  in  der  folgenden  Formu- 
lierung des  Abgeordneten  de  Castellaux  behandelt:  „Niemand 
darf  wegen  seiner  religiösen  Überzeugungen  verfolgt  werden." 
Die  konservativen  Abgeordneten  wollten  die  katholische  Religion 
als  die  herrschende  anerkannt  wissen,  indem  sie  den  Anders- 
gläubigen gegenüber  „Duldsamkeit"  einräumten.  Da  erschien 
auf  der  Rednertribüne  der  aufs  tiefste  entrüstete  Mirabeau. 
„Eine  herrschende  Religion!"  —  rief  er  aus.  „Möge  dieses 
t5rrannische  Wort  aus  unserer  Gesetzgebung  ausgemerzt  werden! 
Denn  wenn  ihr  eine  derartige  Bezeichmmg  auf  religiösem  Gebiet 
einmal  zulasset,  werdet  ihr  sie  auch  auf  allen  anderen  Gebieten 
zulassen  müssen:  Ihr  werdet  einen  herrschenden  Kultus,  eine 
herrschende  Philosophie  und  herrschende  Systeme  haben.  Nein, 
nur  die  Gerechtigkeit  allein  soll  herrschen;  das  höchste  Prinzip 
ist  das  Recht  der  Persönlichkeit;  ihm  soll  sich  alles  unter- 
ordnen" .  .  .  Der  Donnerschleuderer  der  ,, Konstituante"  fand 
Unterstützung  bei  dem  protestantischen  Pastor  Rabeau- 
Saint-Etienne.  Seine  Rede  über  die  Rechte  der  Protestanten 
schloß  mit  den  Worten:  „Für  die  französischen  Protestanten, 
für  alle  Nichtkatholiken  in  unserem  Königreich  fordere  ich  alles, 
was  ihr  für  euch  fordert:  Freiheit  und  gleiche  Rechte!  Ich 
fordere  es  auch  für  jenes,  vom  Boden  Asiens  losgerissene,  seit 
achtzehn  Jahrhunderten  unterdrückte  und  verfolgte  Volk,  das 
sich  unsere  Sitten  und  Gebräuche  angeeignet  haben  würde,  wenn 
unsere  Gesetzgebung  es  in  unsere  Mitte  eingeführt  hätte;  wir 
haben  auch  nicht  das  Recht,  diesem  Volke  seine  sittlichen  Mängel 
vorzuwerfen,  weil  sie  nur  die  Frucht  unserer  eigenen  Barbarei 
sind,  die  Frucht  jenes  erniedrigenden  Zustandes,  zu  dem  wir 
dieses  Volk  ungerechterweise  verdammt  haben."  Nach  langen 
Debatten  wurde  der  lo.  Punkt  der  Deklaration  —  der  über  die 
Gewissensfreiheit  —  in  folgender  Formulierung  angenommen 
(23.  August):  „Niemand  darf  wegen  seiner  Überzeugungen  ver- 
folgt werden,  selbst  wegen  der  religiösen,  insofern  deren  Äuße- 
rungen der  durch  das  Gesetz  festgelegten  gesellschaftlichen  Ord- 
nung nicht  widersprechen."  Wenn  gleich  nach  der  Annahme 
dieses  Punktes  alle  die  sich  daraus  ergebenden  praktischen  Folgen 
festgelegt  worden  wären,  so  hätte  die  Frage  der  Gleichberechti- 
gung der  Juden  auf  Grimd  der  Deklaration  der  Rechte  eine  so- 
fortige Entscheidung  gefunden.  Aber  die  Versammlimg  tat  es 

80 


nicht.  Es  ist  leichter,  dem  Menschen  die  Anerkennung  einer 
theoretischen  Wahrheit  abzuringen,  als  die  Zustimmung  zu  deren 
praktischer  Anwendung.  Die  Nationalversammlung  ging  zu  der 
Behandlung  der  anderen  Punkte  der  Deklaration  der  Rechte  und 
dann  zu  der  Ausarbeitung  der  Grundlagen  für  die  Verfassung 
über.  Das  Toben  der  Revolutionsstürme,  das  fortwährend  in  den 
Sitzungssaal  der  Volksvertreter  eindrang,  lenkte  ihre  Aufmerk- 
samkeit auch  von  anderen  speziellen  Fragen  ab,  die  sogar  be- 
deutender als  die  jüdische  waren.  Der  letzteren  stand  noch  ein 
langer  Leidensweg  bevor. 

Die  Proklamierung  der  Deklaration  der  Rechte  und  das  erste 
wohlwollende  Wort  über  die  Juden  in  der  Nationalversammlung 
lösten  unter  den  jüdischen  Führern  eine  freudige  Erregung  aus. 
Nun  konnten  sie  mit  mehr  Mut  imd  Zuversicht  jene  Politik  der 
außerparlamentarischen  Beeinflussung  —  durch  Petitionen  und 
Deputationen  —  verfolgen,  für  die  sie  sich  schon  früher  ent- 
schieden hatten. 

Am  26.  August  wurde  der  Nationalversammlung  eine  vor- 
wiegend von  Vertretern  der  sephardischen  Gemeinde  unter- 
zeichnete Adresse  der  Pariser  Juden  unterbreitet.  Entzückt  von 
den  „großen  Akten  der  Gerechtigkeit",  die  von  der  National- 
versammlung ausgehen,  und  der  Hoffnung  Ausdruck  gebend, 
daß  diese  Taten  eine  Rückwirkung  auf  das  Schicksal  der  jüdi- 
schen Bevölkerung  nicht  verfehlen  werden,  ersuchen  die  Ver- 
fasser der  Bittschrift  die  Versammlung,  in  ihren  Beschlüssen  des 
jüdischen  Volkes  besondere  Erwähnung  zu  tim  (faire  une  mention 
particuli^re)  und  „seine  staatsbürgerlichen  Rechte''  zu  sanktio- 
nieren, „damit  in  diesem  Punkte  keine  Zweifel  bestehen,  und  der 
lange  Druck  nicht  als  Rechtfertigung  für  weitere  Unterdrückung 
diene".  Einige  Tage  darauf  lief  eine  ebensolche  Adresse  von  den 
„Vereinigten  jüdischen  Deputationen"  aus  Elsaß-Lothringen  ein, 
die  sich  bei  der  Einberufung  der  Generalstaaten  mit  bescheidenen 
Wünschen  begnügen  wollten  und  um  Müderung  des  Schicksals 
der  Juden  baten.  Nun  begannen  die  Abgeordneten  eine  kühnere 
Sprache  zu  führen.  ,,Die  Revolution",  schrieben  sie  in  ihrer 
Adresse,  „verkündete  die  Rechte  des  Menschen  und  des  Bürgers : 
sollen  denn  wir  Juden  einzig  und  allein  von  diesem  Akte  aus- 
geschlossen sein?  Wir  werden  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag 
unterdrückt,  und  selbst  in  der  letzten  Zeit,  als  die  Volkswut  nach 

«    Dttbnow.  Geschiebte  der  Juden  I  81 


Opfern  fahndete,  wandte  sie  sich  gegen  uns,  denn  solange  nicht 
die  Gleichberechtigung  der  Juden  durch  einen  feierlichen  Erlaß 
verkündet  ist,  wird  das  Volk  in  dem  Glauben  leben,  daß  der 
Jude  außerhalb  des  Gesetzes  steht".  —  In  diesen  beiden 
Adressen,  von  denen  die  eine  von  den  privilegierten  Juden  der 
Hauptstadt,  und  die  andere  von  den  jüdischen  Massen  der  „An- 
siedelungszone" ausging,  fällt  eine  charakteristische  Meinungs- 
verschiedenheit auf.  Bei  ihrer  Forderung  nach  Gleichberechtigung 
erklären  die  Pariser  ihre  Bereitschaft,  „in  unserem  eigenen  In- 
teresse und  dem  des  Gemeinwohls  auf  das  uns  gewährte  Vor- 
recht, unsere  eigenen,  aus  unserer  Mitte  gewählten  und  von  der 
Regierung  ernannten  Vorgesetzten  (d.  h.  auf  die  Gemeindeselbst- 
verwaltung) zu  verzichten."  Hingegen  bitten  die  Elsässer  drin- 
gend, uns  „unsere  Synj^oge  (Gemeinde),  unsere  Rabbiner,  unsere 
Syndiker"  zu  belassen  und  die  Gemeindeselbstverwaltimg  nicht 
anzutasten,  ohne  welche  die  inneren  Angelegenheiten  der  Juden 
in  die  Brüche  gehen  würden.  So  verzichteten  bereits  die  vom 
Volke  losgerissenen  oberen  Schichten  der  Hauptstadt  auf  ihre 
kulturelle  Autonomie  im  bloßen  Vorgefühle  der  Gleichberechti- 
gung, während  die  kompakten  Massen  der  Judenheit  keine  de- 
mütigenden Konzessionen  als  Dank  für  die  Verleihung  staats- 
bürgerlicher Rechte  anboten  ...  In  der  Sitzung  vom  3.  Sep- 
tember wurden  diese  und  manche  anderen  jüdischen  Petitionen 
der  Nationalversammlung  vorgelegt.  Der  Abbe  Gregoire,  der  als 
Verfechter  der  jüdischen  Sache  auftreten  wollte,  verlangte  das 
Wort,  aber  andere  unaufschiebbare  Fragen  veranlaßten  die  Ver- 
sammlung, die  Untersuchung  der  jüdischen  Petitionen  einer  be- 
sonderen Kommission  zu  übergeben. 

Unterdessen  wollten  die  Klagen  der  während  der  Agrar- 
bewegung  zugrunde  gerichteten  jüdischen  Familien  in  den 
Dörfern  und  Städten  Elsaß-Lothringens  noch  immer  nicht  ver- 
stummen. Die  Pogromepidemie  hatte  sich  nocht  nicht  gelegt;  an 
manchen  Orten  rissen  die  Aufständischen  die  Dächer  von  jüdischen 
Häusern  herunter,  schössen  in  die  Synagoge  hinein  und  drohten 
mit  einem  Gemetzel.  Die  königlichen  Truppen  zeigten  sich  in  der 
Verteidigung  der  Juden  sehr  lässig.  Am  28.  September  forderten 
die  Abgeordneten  Gregoire  imd  Graf  Clermont-Tonnerre 
die  Nationalversammlung  auf,  die  laufenden  Arbeiten  zu  unter- 
brechen, um  unverzüglich  die  gegen  die  Judenpogrome  zu  er- 

82 


greifenden  Maßnahmen  zu  beschließen.  „Es  naht  der  jüdische 
Versöhnungstag  heran",  sagte  Germont,  „und  die  in  den  Syna- 
gogen versammelten  Menschen  bleiben  gegenüber  der  Volks- 
wut wehrlos;  der  Ort,  an  dem  die  Juden  ihre  Gebete  verrichten, 
kann  zu  dem  ihres  Todes  werden."  Beide  Abgeordnete  forderten 
sofortige  Einwirkung  auf  die  elsässischen  Behörden.  Die  Ver- 
sammlung, die  ihrer  Entrüstimg  über  die  im  Elsaß  verübten 
Greuel  Ausdruck  gab,  erteüte  ihrem  Vorsitzenden  Demennier  den 
Auftrag,  an  die  elsässischen  Behörden  sofort  ein  Rundschreiben 
wegen  Ergreifung  außerordentlicher  Maßnahmen  zum  Schutze 
der  Person  und  des  Eigentums  der  Juden  zu  erlassen  und  gleich- 
zeitig den  König  um  Unterstützung  dieser  Forderung  „durch  die 
ganze  Macht  seiner  Autorität"  zu  bitten. 

Am  Abend  des  14.  Oktobers,  einige  Tage  nach  der  Über- 
siedelung des  Königs  und  der  Versammlung  aus  Versailles  nach 
Paris,  spielte  sich  in  der  Nationalversammlung  eine  feierliche 
Szene  ab.  Der  Abbe  Gregoire  meldete,  daß  eine  aus  elsaß- 
lothringischen Juden  bestehende  Deputation  schon  lange  darauf 
warte,  der  Versammlung  vorgestellt  zu  werden,  imd  ersuchte, 
diese  sofort  zu  empfangen.  Es  wurde  der  Befehl  gegeben,  die 
jüdische  Deputation  in  den  Sitzungssal  eintreten  zu  lassen.  Sie 
trat  ein  und  blieb  am  Gitter  stehen.  An  der  Spitze  der  Deputation 
befand  sich  der  bekannte  jüdische  Vertreter  Beer-Isaak 
Herr  aus  Nancy,  Freund  und  Landsmann  von  Gregoire.  Mit 
einer  vor  innerer  Erregung  zitternden  Stimme  wandte  sich  Berr 
an  die  Versammlung  mit  folgenden  Worten:  ,, Meine  Herren!  Im 
Namen  des  ewigen  Schöpfers  jedes  Rechtes  und  jeder  Gerech- 
tigkeit; im  Namen  Gottes,  der  den  Menschen  gleiche  Rechte 
verlieh  und  ihnen  damit  auch  gleiche  Pflichten  auferlegte;  im 
Namen  der  im  Verlaufe  vieler  Jahrhunderte  beleidigten  Mensch- 
heit, beleidigt  durch  die  schmähliche  Behandlung,  die  den  Nach- 
kommen des  ältesten  der  Völker  fast  in  allen  Ländern  der  Erde 
widerfuhr  —  im  Namen  alles  dieses  beschwören  wir  euch:  wendet 
eure  Aufmerksamkeit  unserem  kläglichen  Los  zu!  Allerorten 
unterdrückt,  allerorten  gedemütigt  und  dabei  imnier  gefügig, 
nimmer  einen  Widerstand  entgegensetzend;  ein  Gegenstand  des 
Hasses  und  der  Verachtung  bei  allen  Völkern,  während  sie  doch 
eher  auf  Duldsamkeit  und  IViitleid  Anspruch  erheben  können,  ge- 
statten sich  die  Juden,  in  deren  Namen  wir  nun  vor  euch  treten, 

83 


sich  der  Hoffnung  hinzugeben,  d^ß  ihr  an  deren  Klagen,  trotz  der 
euch  beschäftigenden  Arbeit  nicht  achtlos  vorübergehen  werdet; 
daß  ihr  ihre  schüchternen  Erklärungen,  die  sie  aus  der  Tiefe  ihrer 
Erniedrigung  hier  vorzubringen  wagen,  mit  einigem  Interesse  an- 
hören werdet.  Wir  werden,  meine  Herren,  eure  Zeit  nicht  miß- 
brauchen, um  den  Charakter  und  die  Gerechtigkeit  unserer 
Forderungen  eingehend  zu  behanddn;  dies  alles  ist  bereits  in  den 
Denkschriften,  die  wir  die  Ehre  haben,  euch  zu  unterbreiten,  dar- 
gelegt. Von  euch  hängt  es  ab,  uns  in  eine  minder  traurige  Lage 
zu  versetzen,  als  die,  zu  der  wir  bisher  verurteüt  waren.  Möge 
jene  schändliche  Scheidewand,  die  uns  so  lange  von  der  Welt 
trennte,  in  sich  zusammenfallen!  Mögen  die  Menschen  in  uns 
Brüder  erblicken!  Möge  jene  göttliche  Liebe  zum  Nächsten,  die 
euch  so  teuer  ist,  sich  auch  auf  uns  erstrecken!  Möge  sich  eine 
gründliche  Umwälzung  in  allen  Institutionen  vollziehen,  die  uns 
zu  Sklaven  machen;  und  möge  diese  Umwälzung,  nach  der  wir 
bisher  vergeblich  rangen  und  um  die  wir  euch  nun  mit  Tränen 
in  den  Augen  anflehen,  eure  Wohltat,  das  Werk  eurer  Hände 
sein!" 

Mit  tiefer  Aufmerksamkeit  hörte  die  Versammlung  die  Rede 
des  Vertreters  der  Juden  an.  Viele  waren  gerührt.  Vor  der  christ- 
lichen Gesellschaft  standen  die  Sendboten  einer  jahrhunderte- 
lang unterdrückten  Nation,  die  das  Versprechen  gaben,  alle 
historischen  Kränkvmgen  zu  vergessen,  und  flehentlich  um  Ge- 
rechtigkeit, um  ein  brüderliches  Bündnis,  um  die  Abschaffung 
jahrtausendelanger  Feindschaft  baten. . .  Als  Berr  mit  seiner  Rede 
zu  Ende  war,  erhob  sich  der  Vorsitzende  der  Versammlung,  Preteau. 
von  seiAem  Sitz  und  wandte  sich  an  die  jüdische  Deputation  mit 
folgenden  Worten:  „Die  zur  Unterstützung  eurer  Forderungen 
angeführten  wuchtigen  Gründe  gestatten  es  der  Versammlung 
nicht,  euch  teünahmlos  zuzuhören.  Die  Versammlung  wird  euer 
Gesuch  zur  Kenntnis  nehmen  und  sich  für  glücklich  halten,  wenn 
sie  in  der  Lage  sein  wird,  euren  Brüdern  Ruhe  und  Glück  zu  ver- 
schaffen. Vorerst  könnt  ihr  euren  Wählern  von  unseren  Er- 
klärungen Mitteüung  machen."  Die  Antwort  des  Vorsitzenden 
löste  lauten  Beifall  bei  der  Versammlung  aus.  Auf  Antrag  Gr^ 
goires  wurde  es  den  jüdischen  Delegierten  gestattet,  als  Zeichen 
besonderer  Aufmerksamkeit  tmd  Ehrung,  in  der  Kammer  bis 
zum  Schlüsse  der  Sitzung  zu  bleiben. 

84 


Zar  selben  Zeit  veröffentlichte  der  unermüdliche  Abbe  Gregoire 
in  Form  einer  besonderen  Broschüre  jene  Rede,  die  er  infolge  der 
Vertagung  der  Behandlung  der  jüdischen  Petitionen  zu  halten 
nicht  in  der  I^age  war  („Motion  en  faveur  des  juifs").  Seine  Apo- 
logie schließt  mit  folgenden  an  die  Vertreter  des  Volkes  gerich- 
teten Worten :  „50000  Franzosen  sind  heute  als  Sklaven  erwacht; 
von  euch  hängt  es  ab,  daß  sie  als  freie  Männer  zu  Bette  gehen!" 

§  15.  Die  Dehatten  in  der  Nationalversammlung  über  die 
aktiven  Bürgerrechte  der  Juden.  Die  französischen  Juden 
befanden  sich  einige  Zeit  in  gehobener  Stimmung  unter 
dem  Eindrucke  des  feierlichen  Augenblicks  vom  14.  Oktober. 
Es  schien  ihnen,  daß  der  aus  den  Tiefen  ihrer  Seele  drin- 
gende Appell  an  die  Gleichheit  und  Brüderlichkeit  in  den 
Herzen  aller  derjenigen,  die  die  erhabenen  hohen  Gebote  der 
„Deklaration  der  Rechte"  dekretiert  hatten,  einen  Widerhall  ge- 
funden habe.  Die  Schönseher  wollten  glauben,  daß  die  freundliche 
Antwort  des  Vorsitzenden  Preteau  die  Stimmung  der  ganzen 
Nationalversammlung  zum  Ausdruck  bringe  tmd  daß  letzterer 
in  der  Tat  „sich  für  glücklich  erachten  werde,  wenn  es  ihm  ge- 
lingen sollte,  den  Juden  Ruhe  und  Glück  zu  verschaffen".  Diese 
Illusionen  zerschellten  bald  an  der  harten  Wirklichkeit.  Als  die 
jüdische  Frage  von  den  Höhen  der  Prinzipien  auf  den  Boden 
der  Praxis  herabstieg,  zeigte  es  sich,  daß  bei  weitem  nicht  alle 
Mitglieder  der  Versammlung  die  l/jsung  der  Judenfrage  für  eine 
einfache  Schlußfolgerung  aus  der  Deklaration  der  Rechte  hielten. 
Es  stellte  sich  heraus,  daß  die  reaktionären  und  klerikal  gesinnten 
Abgeordneten  aus  der  Partei  der  „Schwarzen"  (les  Noirs)  bereit 
waren,  für  solche  Grundfesten  des  alten  Regimes,  wie  die  Ent- 
rechtung imd  die  Rechtseinschränkung  der  Juden,  bis  zum 
Äußersten  zu  kämpfen;  daß  die  von  jahrhundertelangen  Vor- 
urteüen  durchdrungenen  Stände  des  Adels  und  des  Klerus  orga- 
nisch unfähig  waren,  die  politische  Gleichheit  von  Menschen 
anzuerkennen,  mit  denen  sie  wie  mit  Parias  umzugehen  ge- 
wöhnt waren. 

Die  jüdische  Frage  kam  wieder  auf  die  Tagesordnung  der 
Nationalversammlung  in  der  Sitzung  vom  21.  Dezember  1789, 
als  die  Bedingungen  der  ,, aktiven  Bürgerrechte",  d.  i.  des 
Rechtes  für  administrative  und  munizipale  Ämter  zu  wählen  und 
gewählt  zu  werdeh,  zur  Diskussion  standen.  Die  Liberalen  be- 

85 


antragten  die  Ausdehnung  der  aktiven  Bürgerrechte  auf  Nicht- 
katholiken,  vornehmlich  Protestanten.  Um  die  Annahme  dieses 
Antrags  zu  vereiteln,  verlangten  die  unruhig  gewordenen  Kon- 
servativen, daß  man  zugleich  auch  die  Frage  von  der  Verleihung 
der  aktiven  Bürgerrechte  an  Vertreter  niedriger  Berufe,  wie 
Komödianten  und  Henker  behandeln  mödite.  Der  liberale  Ab- 
geordnete Clermont-Tonnerre,  der  sich  dadurch  nicht  aus  der 
Fassung  bringen  ließ,  schlug  folgende  Gesetzesformel  vor:  „Die 
Nationalversammlung  beschließt,  daß  kein  aktiver, 
den  Bedingungen  der  Wählbarkeit  genügender  Bür- 
ger wegen  seines  Berufes  oder  seiner  Konfession 
aus  der  Wahlliste  gestrichen,  oder  des  Rechtes,  öf- 
fentliche Amter  zu  bekleiden,  beraubt  werden  darf." 
Es  erhob  sich  die  Frage  von  der  Anwendung  des  beantragten 
Gesetzes  auf  die  Juden.  Der  elsässische  Abgeordnete  Reubell, 
ein  grimmiger  Judenfeind,  sagte:  j,Ich  denke  von  den  Juden 
nicht  anders,  als  sie  von  sich  selber  denken :  sie  halten  sich  nicht 
für  Bürger.  Und  gerade  in  diesem  Sinne  lasse  ich  die  Formel  des 
Clermont  gelten:  iftdem  er  den  Ausdruck  .aktiver  Bürger  ge- 
brauchte, schließt  er  dadurch  die  Juden  von  dem  von  ihm  be- 
antragten Gesetze  aus."  Auf  diese  Herausforderung  antwortete 
Clermont-Tonnerre  mit  Würde,  daß  er  auch  die  Juden,  die  den 
formellen  Bedingungen  des  Gesetzes  genügen,  zur  Kategorie  der 
aktiven  Bürger  zähle.  In  der  Versammlung  entstand  ein  Tumult, 
die  Leidenschaften  entbrannten  — •  und  die  Debatten  mußten 
bis  auf  die  nächste  Sitzung  verschoben  werden. 

In  der  nächsten  Sitzung  stand  es  klar  vor  aller  Augen,  daß 
weder  die  protestantische  Frage,  deren  Lösung  in  einem  posi- 
tiven Sinne  bereits  gesichert  war,  noch  der  grobe,  bizarre 
Zwischenfall  mit  den  Komödianten  und  Henkern  die  Versamm- 
lung irgendwie  interessierte,  und  daß  ihre  ausschließliche  Auf- 
merksamkeit einzig  und  allein  dem  Streite  um  die  politischen 
Rechte  der  Juden  galt.  Diese  Frage  bedeutete  einen  Prüfstein  für 
beide  Parteien,  für  die  liberale,  wie  für  die  reaktionäre.  Für  die 
Führer  der  ersteren  handelte  es  sich  darum,  ihre  Treue  gegenüber 
den  Prinzipien  der  Deklaration  der  Rechte  in  praxi  zu  beweisen, 
die  Konservativen  hingegen  sahen  sich  vor  der  Aufgabe,  die  „Ge- 
fahr" der  politischen  Gleichstellung  der  Juden,  die  ihrem  ganzen 
System  das  Todesurteil  gesprochen  hätte,  zu  beseitigen.  Am 

86 


23-  Dezember  widerhallte  der  Sitzungssaal  der  Nationalver- 
sammlung vor  solchen  leidenschaftlichen  Debatten,  wie  sie  selbst 
in  diesem  stürmischen  Parlament  nur  äußerst  selten  vorkamen. 
Clermont-Tonnerre,  der  zur  Verfechtung  seines  Antrages  mit 
einer  begründenden  Rede  auftrat,  widmete  einen  beträcht- 
lichen Teil  seiner  Ausführungen  den  Juden.  „Ihr",  sagte  er, 
„habt  euch  über  diese  Angelegenheit  schon  ausgesprochen,  in- 
dem ihr  in  der  Deklaration  der  Rechte  die  Erklärung  abgäbet, 
daß  kein  Mensch  seiner  Überzeugungen  wegen,  und  seien  diese 
auch  religiöser  Natur,  irgendwelchen  Verfolgungen  ausgesetzt 
werden  darf.  Hieße  es  aber  nicht  die  Büi^er  wesentlich  ein- 
schränken, wenn  man  sie  einzig  und  allein  ihrer  Überzeugungen 
wegen  des  wertvollsten  Rechtes  (des  aktiven  Bürgerrechtes)  be- 
rauben wollte  ?  Das  Gesetz  darf  keineswegs  das  Glaubensbekennt- 
nis eines  Menschen  antasten;  keineswegs  steht  es  dem  Gesetze  zu, 
einen  Druck  auf  sein  Gewissen  auszuüben;  nur  die  Handlungen 
des  Menschen  unterliegen  der  Gewalt  des  Gesetzes,  das  ver- 
pflichtet ist,  ihnen  allen  Schutz  angedeihen  zu  lassen,  wenn  sie 
nicht  in  Widerspruch  zu  den  Normen  gesellschaftlichen  Zu- 
sammenlebens stehen.  Gott  wollte  es,  daß  die  Menschen  in  den 
allgemeinen  ethischen  Wahrheiten  eines  Sinnes  werden,  und  über- 
ließ es  unserem  eigenen  Ermessen,  moralische  Gesetze  zu  schaffen ; 
aber  die  dogmatischen  Gesetze  und  das  Gebiet  des  Gewissens  be- 
hielt er  für  sich  selber.  Gebet  also  das  Gewissen  frei!  Möge  keine 
der  Richtungen  des  Gefühls  und  des  Denkens  zum  Himmel  als 
ein  Verbrechen  angerechnet  werden,  für  das  die  Gesellschaft  mit 
sozialer  Entrechtung  zu  strafen  hätte!  Oder  aber  —  setzet  eine 
nationale  Religion  ein,  bewaffnet  sie  mit  dem  Schwerte  und  zer- 
reißt eure  Deklaration  der  Rechte!  .  .  .  Jedes  Glaubensbekennt- 
nis hat  nur  ein  einziges  Zeugnis  vorzuweisen:  das  Zeugnis  über 
die  gute  Beschaffenheit  seiner  Moral.  Wenn  es  eine  Religion 
gäbe,  die  ihren  Bekennern  Diebstahl  und  Brandstiftung  zur 
Pflicht  machte,  so  müßte  man  diesen  Bekennern  nicht  nur 
das  Wahlrecht  verweigern,  sondern  sie  einfach  des  lyandes  ver- 
weisen. Dies  läßt  sich  vom  Judentume  ganz  gewiß  nicht  behaup- 
ten. Den  Juden  wirft  man  verschiedenes  vor.  Die  schwersten 
unter  diesen  Vorwürfen  sind  ungerecht,  die  anderen  gehören  in 
das  Gebiet  der  sozialen  Vergehen.  Man  sagt,  die  Juden  beschäf- 
tigen sich  mit  Wucher  .  .  .  Aber  Menschen,  deren  ganzes  Ver- 

87 


mögen  ausscMießlich  in  Geld  besteht,  können  eben  ihre  Existenz 
nicht  anders  bestreiten,  als  indem  sie  das  Geld  in  Umlauf  setzen ; 
und  ihr  habt  sie  doch  immer  daran  gehindert,  etwas  anderes  zu 
besitzen . . .  Den  Juden  als  Nation  muß  alles  verweigert,  den 
Juden  als  Menschen  alles  gewährt  werden.  Es  ist  notwendig» 
daß  sie  Bürger  werden.  Man  sagt,  daß  sie  selbst  keine  Bürget 
werden  wollen;  wenn  sie  das  behaupten,  so  soll  man  sie  des 
l^andes  verweisen,  denn  es  darf  keine  Nation  in  einer  Nation 
geben  ...  In  ihrem  Gesuche  aber  verlangen  sie,  daß  man  sie  als 
Staatsbürger  betrachte.  Das  Gesetz  ist  verpflichtet,  ihnen  diesen 
Titel,  den  ihnen  nur  das  Vorurteil  verweigern  kann,  zuzuer- 
kennen." 

Die  Rede  Clermont-Tonnerres  forderte  den  besten  Redner 
der  Rechten,  den  Abbe  Maury,  einen  Mann  „von  scharfem 
Verstand,  aber  zweifelhafter  moralischer  Qualität"  (Aulard) 
zu  einer  Erwiderung  heraus.  Voltairianer  im  Grunde  seiner 
Seele,  der  mit  der  Revolution  zu  liebäugeln  verstand,  verfocht 
er  die  Sache  „des  Thrones  und  des  Altars"  mit  einem  Pathos, 
das  kaum  aufrichtig  war,  tmd  machte  oft  von  unsauberen  pole- 
mischen Kunstgriffen  Gebrauch.  Dieser  „schwarze"  Abbe  war 
Antipode  des  „roten"  Abbe  Gregoire,  des  edlen  Kämpfers 
für  die  Gleichberechtigung  der  Juden.  Für  seinen  Angriff 
auf  die  Judenheit  gebrauchte  der  tückische  Maury  nicht  nur 
die  verrosteten  Waffen  aus  der  Rüstkammer  der  Judenfeinde, 
sondern  auch  noch  eine  von  Clermont-Tonnerre  leicht  hinge- 
worfene Bemerkung,  nämlich,  daß  man  den  Juden  als  Nation 
alles  zu  verweigern,  den  Juden  als  Menschen  hingegen  alles  zu  ge- 
währen habe.  In  seiner  Erwiderung  auf  die  Rede  Clermont- 
Tonnerres  sagte  er:  „Vor  allen  Dingen  möchte  ich  bemerken,  daß 
das  Wort  ,Jude'  nicht  die  Benennung  einer  Sekte,  sondern  die 
einer  Nation  ist,  die  ihre  eigenen  Gesetze  hat,  diesen  Gesetzen 
immer  treu  blieb  und  fürderhin  treu  bleiben  will.  Die  Juden 
als  Bürger  (Frankreichs)  anerkennen,  wäre  dasselbe,  wie  wenn 
man  Engländer  oder  Dänen,  die  nicht  naturalisiert  sind  und 
nicht  aufgehört  haben,  sich  für  Engländer  und  Dänen  zu  halten, 
zu  den  Franzosen  rechnen  wollte  .  .  .  Die  Juden  sind  durch  sieb- 
zehn Jahrhunderte  hindurchgegangen  und  haben  sich  mit  den 
anderen  Völkern  nicht  vermengt.  Sie  trieben  nichts  anderes,  als 
Geldhandel.  (Des  Ferneren  verfällt  der  Redner  in  kuriose  ge- 

88 


schichtliche  Einzelheiten  und  behauptet  z.  B.,  daß  die  Juden 
auch  in  der  Zeit  der  Könige  David  und  Salomon  keinen  Ackerbau 
trieben  und  daß  sie  außer  den  Sabbaten  um  56  Feiertage  mehr 
haben,  als  die  Christen  .  .  .)  Der  Schweiß  christlicher  Sklaven  be- 
rieselt jene  Äcker,  wo  jüdischer  Reichtum  entsteht,  während  die 
Juden,  die  gut  bestellte  Äcker  besitzen,  sich  nur  mit  dem  Abwägen 
von  Dukaten  und  der  Berechnung  des  Gewinns  beschäftigen,  die 
sie  aus  diesen  Münzen  herausschlagen  können,  ohne  der  Verant- 
wortung vor  dem  Gesetz  zu  verfallen  .  .  .  Im  Elsaß  befinden  sich 
in  ihren  Händen  Hypotheken  in  einem  Betrage  von  12  Millionen. 
In  einem  Monat  können  sie  sich  der  Hälfte  der  Provinz  bemäch« 
tigen.  Und  in  zehn  Jahren  können  sie  diese  Provinz  vielleicht 
ganz  an  sich  reißen,  so  daß  sie  zu  einer  jüdischen  Kolonie  wird. 
Das  Volk  hegt  gegen  die  Juden  feindliche  Gefühle,  die  infolge  des 
mächtigen  Anschwellens  des  jüdischen  Reichtums  sich  unvermeid- 
lich in  Gewalttaten  entladen  müssen.  Man  sollte  eigentlich  im 
Interesse  der  Juden  selbst  diese  ganze  Frage  unberührt  lassen. 
Die  Juden  darf  man  keineswegs  unterdrücken:  sie  sind  Menschen, 
und  folglich  unsere  Brüder  — und  Fluch  allen,  die  Unduldsam- 
keit predigen  wollen!  Seiner  religiösen  Überzeugungen  wegen 
darf  kein  Mensch  verfolgt  werden.  Ihr  habt  dieses  Prinzip  an- 
erkannt und  dadurch  den  Juden  den  weitestgehenden  Schutz  ge- 
sichert. Möge  aber  ihnen  dieser  Schutz  als  Menschen  überhaupt, 
nicht  aber  als  Franzosen  zuteil  werden,  denn  sie  können  keine 
Staatsbürger  seinl" 

Die  Entstellung  der  Tatsachen  aus  dem  Leben  der  Vergangenheit 
und  der  Gegenwart  in  der  Rede  Maurys  wurde  im  Parlament  und 
außerhalb  desselben  von  vielen  bemerkt.  Das  „Journal  de  Paris", 
das  tags  darauf  in  einem  ausführlichen  Artikel  eine  Anzahl  tat- 
sächlicher Irrtümer  in  der  Rede  Maurys  aufdeckte,  bemerkte  zu 
seinen  Schlußworten  über  die  den  Juden  zu  gewährende  Pro- 
tektion : ,  ,Menschen  dürfen  nicht  andere  Menschen  protegieren: 
solche  Protektion  erinnert  an  Tyrannei.  Der  Protektor  aller 
Menschen  ohne  Unterschied  ist  das  Gesetz,  aber  ein  Gesetz  ist 
immer  ein  Gewaltakt,  wenn  an  seiner  Ausarbeitung  diejenigen, 
auf  die  es  angewendet  werden  soll,  nicht  teünehmen."  Der  grobe 
Sophismus  Maurys,  daß  die  Juden  ewig  Ausländer  bleiben  sollen, 
weü  sie  bisher  in  Frankreich  nicht  naturalisiert  waren,  d.  h.  daß 
man  die  Vergewaltigung  fortsetzen  müsse,  weü  sie  bisher  aus- 

89 


geübt  wurde,  fand  ebenfalls  eine  gebührende  Würdigung  in  der 
Presse.  Aber  schwerlich  konnte  damals  jemand  von  den  Freunden 
der  Juden  auf  die  durchaus  richtige  Bemerkung  Maurys,  daß  die 
Juden  keine  religiöse  Sekte,  sondern  eine  Nation  seien,  erwidern, 
daß  sich  daraus  die  Notwendigkeit  ergäbe,  ihnen  zugleich  mit  den 
staatsbürgerlichen  auch  die  nationalen  Rechte  zu  gewähren. 
Dieser  letztere  Ausdruck  fehlte  im  Lexikon  der  französischen 
Revolution.  Durch  den  Mund  Clermont-Tonnerres  hatte  der 
Liberalismus  jener  Zeit  erklärt:  Den  Juden  als  Menschen  —  alles, 
den  Juden  als  Nation  —  nichts.  Die  französische  Revolution  ließ 
die  Gleichberechtigung  der  Stände,  der  religiösen  Gruppen,  aber 
nicht  der  Nationalitäten  gelten.  Und  dies  bedeutet,  daß  die  voll- 
ständige Assimilation  der  Judenheit  außerhalb  des  Gebietes  der 
Konfessionalität  die  einzige  Bedingung  zur  Erlangung  der  aktiven 
Bürgerrechte  bildete. 

Dem  Abbe  Maury  antwortete  Robespierre,  der  sich  damals 
noch  nicht  als  führender  Revolutionär  bemerkbar  gemacht  hatte. 
„Ihr  habt  über  die  Juden  Dinge  zu  hören  bekommen,"  sagte  er  in 
seiner  kurzen  Rede,  ,,die  äußerst  übertrieben  sind  und  den  ge- 
schichtlichen Tatsachen  widersprechen.  Die  Mängel  der  Juden 
rühren  von  dem  Zustande  der  Erniedrigung  her,  in  den  ihr  sie  ver- 
setzt habt.  Sie  werden  sich  bessern,  sobald  sie  sehen  werden,  daß 
es  vorteühaft  ist .  .  .  Ich  meine,  daß  man  keinen  einzigen  An- 
gehörigen dieser  Klasse  jener  heiligen  Rechte  berauben  darf,  auf 
die  sie  als  Menschen  Anspruch  haben.  Die  Frage  ist  prinzipieller 
Natur  und  muß  auch  dem  Prinzip  gemäß  gelöst  werden." 

Robespierre  hatte  die  Judenfrage  von  neuem  auf  den  Boden 
der  allgemeinen  Prinzipien  der  Deklaration  der  Rechte  gebracht. 
Eine  derartige  Zuspitzung  der  Frage  war  den  Gegnern  der  Juden, 
zu  denen  auch  der  Bischof  La  Fare  aus  Nancy  gehörte,  nicht 
vorteühaft.  Ein  Gesinnungsgenosse  des  Abbes  Maury  und  seines 
Landsmanns,  des  Judenfeindes  Reubell,  konnte  sich  der  Bischof 
von  Nancy  seines  hohen  Ranges  wegen  ihrer  polemischen  Me- 
thoden nicht  bedienen.  Seine  Rede  war  mit  dem  Salböle  eines 
Dieners  der  Kirche  durchtränkt.  „Die  Juden",  sagte  er,  „haben 
viele  Kränkungen  erfahren,  die  man  wieder  gut  machen  muß. 
Man  muß  die  Gesetze  abschaffen,  die  der  Gesetzgeber  festlegte, 
ohne  daran  zu  denken,  daß  die  Juden  Menschen  und  unglück- 
liche Menschen  sind.  Man  muß  ihnen  Schutz,  Sicherheit  und 

90 


Freiheit  gewähren.  Soll  man  aber  in  eine  Familie  einem  fremden 
Stamm  (tribu),  dessen  Blicke  stets  nach  seiner  Heimat  gerichtet 
sind  und  der  den  Boden,  auf  dem  er  jetzt  wohnt,  zu  verlassen 
strebt,  Einlaß  gewähren  ?  Um  gerecht  zu  sein,  muß  ich  gestehen, 
daß  die  Juden  dem  Lande  Lothringen  und  insbesondere  der  Stadt 
Nancy  große  Dienste  erwiesen  haben ;  es  gibt  erzwungene  Lagen ; 
mein  Mandat  befiehlt  mir,  eurem  Antrag  entgegenzutreten  (dem 
Antrag,  die  Juden  als  aktive  Bürger  anzuerkennen).  Dieser  von 
mir  erhobene  Protest  liegt  im  Interesse  der  Juden  selbst.  Für  das 
Volk  bilden  sie  einen  Gegenstand  des  Entsetzens;  im  Elsaß 
sind  sie  stets  die  Opfer  der  Volksbewegungen.  Vor  vier  Monaten 
wollte  man  in  Nancy  ihre  Häuser  plündern.  Ich  begab  mich 
nach  dem  Orte  des  Aufruhrs  und  fragte : ,  Was  habet  ihr  gegen  die 
Juden?  Und  da  erklärten  mir  die  einen,  daß  sie  das  Getreide  auf- 
kaufen; die  anderen  beklagten  sich,  daß  sie  sich  allzurasch  ver- 
mehren, sich  die  schönsten  Häuser  erwerben  und  bald  die 
Stadt  in  ihre  Hand  bekommen  werden.  Einer  von  der  Rotte 
sagte:  ,Ja,  Eminenz,  wenn  wir  Sie  verlieren  sollten,  so  werden 
wir  vielleicht  einen  Juden  als  Bischof  sehen;  so  geschickt  eignen 
sie  sich  alles  an.  Ein  Gesetzesbeschluß,  der  den  Juden  bürgerliche 
Rechte  gewähren  würde,  könnte  zu  einer  großen  Volksempörung 
Anlaß  geben  .  .  .  Ich  schlage  vor:  einen  Ausschuß  zu  bilden  und 
ihn  mit  der  Revision  der  ganzen  die  Juden  betreffenden  Gesetz- 
gebung zu  betrauen." 

Anläßlich  der  Drohung  Reubeils  und  des  Bischofs  La  Fare,  daß 
die  Proklamierung  der  jüdischen  Gleichberechtigung  zu  Aus- 
schreitungen gegen  die  Juden  führen  könnte,  wurde  in  der 
Pariser  Presse  (,,Le  patriote  fran^ais"  vom  24.  Dezember)  fol- 
gende treffende  Bemerkung  gemacht:  ,, Seltsam  genug,  daß  man 
sich  auf  die  eine  Ungerechtigkeit  beruft,  um  zu  beweisen,  daß  es 
notwendig  sei,  eine  andere  zu  begehen.  Muß  denn  wirklich  das 
Gesetz  der  beständige  Helfer  des  Fanatismus  und  unsinniger 
Vorurteile  sein?"  Diesen  Standpunkt  machte  sich  ein  Redner  zu 
eigen,  der  dem  Bischof  von  Nancy  antwortete;  es  war  dies  der 
ehrliche  Duport,  einer  der  einflußreichsten  Führer  der  liberal- 
konstitutionellen Partei  in  der  Nationalversammlung  —  ein  Mann, 
dem  es  in  der  Folge  beschieden  war,  das  Werk  der  jüdischen 
Emanzipation  zu  seinem  endgültigen  Abschluß  zu  bringen.  ,,Das 
Gesetz",  sagte  er,  ,,ist  die  Verkörperung  der  strengen  Gerechtig- 

91 


keit,  und  wenn  die  Gebräuche  und  Sitten  zu  dieser  Gerechtigkeit 
im  Widerspruche  stehen,  so  ist  es  die  Pflicht  des  Gesetzes,  die 
Gebräuche  der  Gerechtigkeit  anzupassen ;  letzten  Endes  werden 
die  Sitten  mit  dem  Gesetze  eins  werden."  Duport  schlug  eine 
neue  Formulierung  des  Gesetzes  vor,  in  welcher  nur  das  Prinzip 
der  Gerechtigkeit  zum  Ausdruck  kommt,  ohne  daß  dabei  der 
Konfession  Erwähnung  getan  wird:  „Kein Franzose  darf  je  seiner 
aktiven  Bürgerrechte  verlustig  gehen,  es  sei  denn  aus  Gründen, 
die  in  den  Beschlüssen  der  Nationalversammlung  dargelegt  sind." 
Die  Formel  Duports  wurde  mit  einer  Mehrheit  von  nur  5  Stimmen 
abgelehnt  (408  gegen  403). 

Als  die  Debatten  am  nächsten  Tag  (24.  Dezember)  von  neuem 
einsetzten,  brachte  der  Herzog  Broglie  folgenden  Vermittlungs- 
antrag ein :  Die  Formel  Duports  ist  mit  dem  Vorbehalte  anzvmeh- 
men,  daß  die  Lösung  der  Judenfrage  auf  einen  späteren  Zeitpunkt 
hinausgeschoben  wird.  Beide  Parteien  beeilten  sich,  diesen  Vor- 
schlag anzunehmen:  die  Rechte  hoffte,  die  „Gefahr  der  Gleich- 
berechtigung" durch  diese  Vertagung  hinauszuschieben,  was 
Reubell  mit  der  ihm  eigenen  zynischen  Offenheit  zugab ;  was  die 
Liberalen  anbelangt,  so  stimmten  sie  ebenfalls  der  Vertagtmg  zu, 
denn  sie  fürchteten,  die  ganze  Formel  Duports,  die  vornehm- 
lich auf  die  Protestanten  hinzielte,  den  Juden  zuliebe  aufs  Spiel 
zu  setzen,  und  selbst  Mirabeau  schloß  sich  diesem  Antrage  an, 
mit  der  Begründimg,  daß  „die  Frage  nicht  genügend  geklärt  sei" 
Allem  Anscheine  nach  glaubte  der  Führer  der  Nationalversamm- 
lung, daß  die  Vertagung  von  kurzer  Dauer  sein  und  der  Triumph 
des  Rechts  und  der  Freiheit  nicht  lange  auf  sich  warten  lassen 
würde;  er  konnte  nicht  voraussehen,  daß  er  sterben  würde,  ohne 
die  Emanzipation  der  Juden  erlebt  zu  haben  . . .  Der  Beschluß 
der  Nationalversammlung  lautete  dahin,  daß  alle  Nichtkatho- 
liken  in  völliger  Gleichstellung  mit  den  Katholiken  das  aktive  und 
passive  Wahlrecht,  wie  auch  das  Recht,  im  Staatsdienste  tätig  zu 
sein,  genießen  dürfen,  „wobei  hinsichtlich  der  Juden,  über  deren 
Lage  sich  die  Versammlung  eine  Aussprache  vorbehält,  nichts 
Neues  beschlossen  wird". 

Im  Lärm  der  Debatten  entging  ein  sehr  gewichtiger  Umstand 
der  allgemeinen  Beachtung.  Indem  nämlich  die  Nationalver- 
sammltmg  die  Lösung  der  Frage  von  den  „aktiven  Bürger- 
rechten", d,  i.  von  der  Gewährung  der  vollen  bürgerlichen  und 


politischen  Rechte  an  die  Juden  vertagte,  schob  sie  zugleich  die 
lyösung  der  Frage  wegen  jener  elementaren  Rechte  der  Juden  bei- 
seite, gegen  die  auch  die  gemäßigt-rechte  Opposition  nichts  ein- 
zuwenden hatte.  Der  Abbe  Maury  und  der  Bischof  La  Fare 
gaben  zu,  daß  das  Gesetz  verpflichtet  sei,  den  Juden  als  Men- 
schen „Schutz  angedeihen  zu  lassen",  und  daß  Vieles  an  der  alten 
repressiven  Gesetzgebung  bezüglich  der  Juden  abgeschafft  wer- 
den müsse  —  und  dessenungeachtet  lautete  der  Beschluß  der 
Klammer:  „hinsichtlich  der  Juden  wird  nichts  Neues  be- 
schlossen", d.  h.  der  Beschluß  der  Kammer  beließ  sie  im  früheren 
Zustande  persönlicher  Entrechtung.  Die  Lösung  der  jüdischen 
Frage  wurde  auf  diese  Weise  von  der  Kammer  zweimal  ver- 
schoben: am  23.  August,  als  der  Paragraph  der  Deklaration  der 
Rechte,  der  sich  auf  die  Gewissensfreiheit  bezog,  zur  Abstimmung 
stand,  und  am  24.  Dezember,  als  die  Bedingungen  der  aktiven 
Bürgerrechte  zur  Sprache  kamcii. 

§  16.  Der  Separatismus  der  Sephardim  und  die  Anerkennung 
ihrer  Gleichberechtigung.  Der  Beschluß  vom  24.  Dezember 
versetzte  die  Juden  in  einen  Zustand  tiefster  Entmutigung. 
Getragen  vom  ersten  idealen  Aufschwünge  der  Revolution, 
lebten  sie  in  dem  Glauben,  daß  die  jüdische  Frage  in  aller- 
nächster Zukunft  eine  Lösung  im  Geiste  der  humanitären 
Prinzipien  der  „Deklaration  der  Rechte  des  Menschen  und  des 
Staatsbürgers"  durch  die  Nationalversammlung  finden  werde; 
da  mußten  sie  plötzlich  die  Erfahrung  machen,  daß  die  De- 
klaration sehr  gut  bestehen  könne,  auch  ohne  daß  den  Juden 
Rechte  —  nicht  einmal  „menschliche",  geschweige  denn  staats- 
bürgerliche —  eingeräumt  werden.  In  den  Räumen  des  großen 
Freiheitstribunals  mußten  sie  es  mit  anhören,  wie  die  Stimme  der 
Verfechter  der  Emanzipation  durch  die  Stimmen  des  religiösen 
und  nationalen  Hasses,  die  Stimmen  der  ,,Schwarzen",  übertönt 
wurde.  Es  war  dies  ein  moralischer  Schlag  für  das  ganze  jüdische 
Volk,  und  nicht  nur  für  jenen  winzigen  Teü  desselben,  der  in 
Frankreich  lebte.  So  faßten  es  nämlich  die  national  gestimmten 
„deutschen"  oder  elsaß-lothringischen  Juden  auf,  die  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  französischen  Judenheit  büdeten.  Ein 
anderes  Verhalten  der  ganzen  Sache  gegenüber  legte  die  ,, bevor- 
zugte" Minderheit  an  den  Tag.  Es  waren  dies  die  Sephardim  von 
Bordeaux,  die  im  Begriffe  waren,  sich  zu  „Franzosen  mosaischer 

93 


Konfession"  herauszubilden.  Die  neue  Niederlage  würdigten  sie 
nicht  vom  nationalen  —  sondern  vom  Gruppenstandpimkte  aus. 
Sie,  die  Juden  von  Bordeaux  hielten  sich  schon  seit  langem  für 
die  auserwählte  Aristokratie  der  Judenheit;  sie  genossen  die 
Rechte  der  in  Südfrankreich  Naturalisierten  und  folglich  die 
Rechte  des  „passiven  Bürgertums";  sie  waren  schon  tatsächlich 
nahe  daran,  die  „aktiven  Bürgerrechte"  für  die  Wahlen  zu  den 
Generalstaaten  (§  14)  zu  erhalten  —  und  mit  einem  Male  warf 
man  sie,  die  Bevorzugten,  durch  den  Beschluß,  die  jüdische 
Frage  zu  vertagen,  in  einen  Topf  mit  den  unglückseligen  ,, deut- 
schen Juden,  die  nicht  einmal  elementare  Bürgerrechte  besaßen, 
und  an  ihrer  nationalen  Absonderung  festhielten"!  In  tiefer  Ver- 
stimmung —  nicht  über  das  Schicksal  ihrer  größeren  Leiden  aus- 
gesetzten Brüder,  sondern  über  die  Schmälerung  und  Beein- 
trächtigung ihrer  Gruppenehre  und  ihrer  Gruppeninteressen, 
sagten  sich  die  Juden  von  Bordeaux  in  schändlicher  Weise  von  der 
nationalen  Solidarität  los*). 

Sobald  die  Resolution  vom  24.  Dezember  veröffentlicht  worden 
war,  wandten  sich  die  Juden  von  Bordeaux  mit  einer  Protestbitt- 
schrift an  die  Nationalversammlung  (31.  Dezember  1789).  Sie 
machten  die  Versammlung  darauf  aufmerksam,  daß  die  in  Süd- 
frankreich ansässigen  Juden  „portugiesischer"  Herkunft  sich 
schon  längst  der  Bürgerrechte  auf  Grund  königlicher  „Patente" 
erfreuten,  daß  sie  sowohl  de  jure,  wie  de  facto  die  Gleich- 
berechtigung besitzen,  und  es  ihnen  bloß  an  der  Sanktionierung 
der  ,, aktiven  Bürgerrechte"  fehle,  um  in  den  Besitz  aller  bürger- 
lichen Rechte  zu  treten.  Und  dies  sei  auch  der  Grund,  weshalb 
sie,  die  Juden  von  Bordeaux,  sich  durch  den  Umstand  verletzt 
fühlen,  daß  man  sie  in  der  Resolution  der  Nationalversammlung 
in  eine  Linie  mit  , .Juden  anderer  Herkunft"  stellte.  Sie  pro- 
testieren gegen  das  Verhalten  der  „Juden  von  Elsaß-Lothringen 


^)  Schon  nach  den  ersten  Pogromen  im  Elsaß,  im  August  1789,  wandten  sich 
die  Juden  von  Bordeaux  an  den  Abb6  Gr6goire  mit  einem  Brief,  in  dem  sie  zu 
beweisen  suchten,  daß  sie  sich  im  Gegensatz  zu  ihren  ,, unglücklichen"  Stam- 
mesgenossen im  £lsaß  schon  längst  den  Christen  genähert  hätten;  ,,wenn  da- 
her das  Benehmen  oder  das  unglückliche  Los  einiger  Juden  im  Elsaß  und  den 
drei  Bistümern  die  Nationalversammlung  bewegen  würde,  irgendein  alle  Juden 
des  Königreichs  berührendes  Reglement  zu  erlassen,  würden  die  Juden  von 
Bordeaux  darin  mit  Recht  eine  unverdiente  Beleidigung  erblicken".  Der  Brief 
war  von  Grandis,  Purtado  und  anderen  nnterschrieben. 

94 


und  der  drei  Bistümer",  die  unter  ihrer  selbsteigenen,  partikulären 
(Gemeinde-) Verwaltung  leben,  ihre  besonderen  Gesetze  haben 
und  eine  von  allen  anderen  abgesonderte.  Bürgerklasse  bilden 
wollen.  Die  Verfasser  der  Bittschrift  sind  über  eine  derartige 
„unvernünftige  Leidenschaftlichkeit  des  rehgiösen  Eifers"  ent- 
rüstet und  wollen  hoffen,  daß  dieser  Umstand  die  Sephardim 
oder  Portugiesen,  die  sich  „mit  der  Menge  aller  anderen  Nach- 
kommen Jakobs  niemals  vereinigten  und  vermischten",  nicht  kom- 
promittieren werde. 

Die  Bittschrift  („Adresse")  der  Juden  von  Bordeaux,  unter- 
zeichnet von  ihren  Bevollmächtigten  imd  215  ,,chefs  de  maison", 
wurde  im  Publikum  verbreitet  und  an  alle  Abgeordneten  der 
Nationalversammlung  verschickt.  Und  alle  erftihren  auf  die 
Weise,  daß  es  zwei  jüdische  Stämme  gibt:  einen  patentierten, 
patriotisch  gesinnten  und  der  Gleichberechtigung  würdigen 
„portugiesischen"  Stamm,  und  einen  ,, deutschen",  der  fanatisch 
und  in  staatsbürgerlicher  Hinsicht  nicht  rechtsfähig  ist.  Die  Bitt- 
schrift ging  dem  Verfassimgsausschuß  der  Nationalversammlung 
zu.  Der  Ausschuß  beauftragte  eines  seiner  MitgUeder,  den  Bischof 
von  Autun  —  den  später  berühmt  gewordenen  Diplomaten 
Talleyrand  — ,  über  das  Gesuch  der  Juden  von  Bordeaux  eine 
Denkschrift  zu  verfassen.  Am  28.  Januar  1790  wurde  die  Denk- 
schrift dem  Verfassimgsausschuß  mit  folgender  Bemerkung 
unterbreitet:  „Die  Revolution,  die  die  Rechte  aller  Franzosen 
wiederhergestellt  hat,  kann  keiner  einzigen  Bürgergruppe  die  ihr 
einmal  verliehenen  Rechte  entreißen.  Ohne  etwas  in  betreff 
der  vertagten  allgemeinen  Fr^e  (hinsichtlich  der  Juden)  im 
voraus  zu  bestimmen,  schlägt  daher  der  Ausschuß  der  Versamm- 
lung vor,  den  Juden  von  Bordeaux  alles  zu  gewähren,  was  sie  von 
Rechts  wegen  fordern,  und  sie  als  aktive  Staatsbürger  unter 
den  für  alle  anderen  Franzosen  geltenden  Bedingungen  zu  er- 
klären." Der  verlesene  Antrag  löste  im  Sitzungssaal  einen  mäch- 
tigen Tumult  aus.  Der  oblijgate  Judenfresser  Reubell  bestieg  die 
Rednertribüne  und  begann  mit  folgenden  Worten:  „Euch,  meine 
Herren,  schlägt  man  vor,  die  Juden  von  Bordeaux  nicht  mehr  als 
Juden  anzusehen  . .  .!"  Er  suchte  nachzuweisen,  daß  der  Antrag 
des  Verfassungsausschusses  zu  der  Resolution  vom  24.  Dezember 
in  Widerspruch  stehe,  daß,  wenn  den  Juden  von  Bordeaux  die 
Gleichberechtigung  gewährt  werde,  kein  Grund  vorliege,  sie  den 

95 


elsässischen  Juden  zu  verweigern,  was  gefährlich  wäre,  angesichts 
des  Umstandes,  daß  die  Proklamienmg  der  jüdischen  Gleich- 
berechtigung zu  Ausschreitungen  gegen  die  Juden  im  Elsaß 
führen  würde.  In  demselben  Geiste  sprach  auch  der  Abbe  Maury. 
Diesen  beiden  antworteten  die  Redner  der  linksstehenden  Partei, 
die  klarzumachen  suchten,  daß  man  die  Juden  von  Bordeaux  mit 
denen  vom  Elsaß  nicht  verwechseln  dürfe;  denn  bei  den  ersteren 
handele  es  sich  um  die  bloße  Erhaltung  der  früheren  staats- 
bürgerlichen Rechte,  während  es  sich  bei  den  letzteren  um  die 
Gewährung  von  Rechten  handle,  die  sie  früher  nicht  besaßen. 

Eine  berichtigende  Klausel  von  großer  Wichtigkeit  schlug  der 
Abbe  Gregoire  vor,  indem  er  erklärte,  daß  die  Gleichberechtigung 
nicht  nur  den  Juden  von  Bordeaux,  sondern  auch  allen  unter 
dem  Namen  der  „portugiesischen,  spanischen  imd  avignoner" 
bekannten  Juden  Süd-  und  Westfrankreichs  zu  gewähren  sei. 
Was  nun  die  elsaß-lothringischen  Juden  betrifft,  so  ersuchte  er, 
einen  eigenen  Tag  für  die  Erörterung  dieser  Frage  festzusetzen, 
imd  versprach,  alle  falschen  Beweise  des  Abbe  Maury  und  der 
anderen  Gegner  der  Emanzipation  zu  widerlegen. 

Nacfi  unendlichen  Formulierungen  und  Berichtigungen  wurde 
endlich  an  die  Abstimmung  geschritten.  Es  wurde  zunächst 
versucht,  die  Frage  durch  Aufstehen  von  den  Plätzen  zu  ent- 
scheiden, aber  der  zweimal  wiederholte  Versuch  ergab  zweifel- 
hafte Resultate.  Man  sah  sich  also  genötigt,  zu  einer  namentlichen 
Abstimmung  zu  schreiten.  Die  anti jüdische  Partei  beschloß,  die 
namentliche  Abstimmung  zu  vereiteln  und  eine  Auflösung  der 
Sitzung  herbeizuführen.  In  den  Reihen  der  Rechten  entstand  ein 
ungeheurer  Lärm;  die  geistlichen  und  adeligen  Abgeordneten 
erhoben  sich  von  ihren  Sitzen,  gingen  ein  und  aus,  redeten  durch- 
einander und  lärmten.  Die  Stimme  des  Sekretärs,  der  die  Namen 
der  Abgeordneten  aufrief,  erstickte  in  diesem  Lärm;  an  die 
zwanzig  Mal  wurde  die  Abrufung  unterbrochen  und  wieder  auf- 
genommen. Zwei  Stunden  dauerte  dieser  Skandal.  Das  freche 
Benehmen  der  judenfeindlichen  Abgeordneten  regte  die  Linke 
und  das  Zentrum  dermaßen  auf,  daß  sie  beschlossen,  den  Radau- 
machern keinesfalls  nachzugeben.  Der  Vorsitzende  der  Ver- 
sammlung erklärte,  daß  ihn  nichts  davon  abbringen  würde,  die 
Sitzung  bis  zu  ihrem  Ende  durchzuführen.  Schließlich  wurden 
die  „Schwarzen**  des  Lärmens  müde  —  tmd  die  namentliche  Ab- 

96 


Stimmung  nahm  einen  normalen  Verlauf.  Füi  den  den  Juden 
günstigen  Antrag  mit  der  Ergäuzungsklausel  Gregoires  wurden 
373  Stimmen  gegen  225  abgegeben.  Der  durch  eine  so  starke 
Mehrheit  angenommene  Beschluß  lautete  folgendermaßen:  „Die 
Nationalversammlung  beschließt,  daß  alle  als  por- 
tugiesische, spanische  und  avignoner  bekannte  Ju- 
den nach  wie  vor  alle  die  Rechte  genießen  sollen, 
die  sie  auf  Grund  königlicher  Patente  genossen, 
und  daß  sie  daher  alle  Rechte  der  aktiven  Bürger 
genießen  dürfen,  wenn  sie  den  von  der  Versammlung 
hierfür  festgesetzten  Bedingungen  genügen  wer- 
den." 

Der  Beschluß  der  Nationalversammlung  wurde  unverzüglich 
dem  Könige  zur  Bestätigung  unterbreitet  und  erhielt  einige 
Tage  darauf  gesetzliche  Kraft.  Die  in  Paris  wohnenden  Sephar- 
dim  schickten  einen  Boten  nach  Bordeaux,  um  ihren  Lands- 
leuten die  frohe  Botschaft  mitzuteilen.  Die  jüdischen  Einwohner 
von  Bordeaux  mußten  jedoch  noch  einige  peinliche  Tage  erleben. 
Das  durch  seinen  Mißerfolg  erbitterte  „schwarze  Hundert"  ver- 
suchte, das  städtische  Gesindel  in  Bordeaux  gegen  die  Juden  auf- 
zuhetzen. Nach  Paris  kamen  beunruhigende  Gerüchte  über  einen 
Pogrom,  der  dort  angeblich  stattgefunden  hatte;  die  klerikale 
Presse,  die  darin  eine  Bestätigung  ihrer  Meinung  erblickte,  daß 
„der  König  von  Frankreich  nicht  zu  einem  König  der  Juden  werden 
kann",  feierte  ihren  Triumph.  Aber  die  Pogromgerüchte  erwiesen 
sich  als  stark  übertrieben.  Am  9.  Februar  machte  der  Abgeordnete 
Garat  der  Nationalversammlung  eine  beruhigende  Mitteilung,  in- 
dem er  einen  von  den  Juden  von  Bordeaux  durch  einen  Eilboten 
nach  Paris  geschickten  Brief  verlas.  Daraus  ergab  sich,  daß  dort 
eine  unbedeutende  Demonstration  stattgefunden  hatte,  die  sich 
darin  äußerte,  daß  ein  Häuflein  junger  Leute  im  Theater  und 
im  Börsengebäude,  ,, Nieder  mit  den  Juden"  schrie  —  und  das 
jüdische  Publikum  zu  entfernen  versuchte.  Ein  großer  Teil  des 
Publikums  jedoch  mißbilligte  die  Ausschreitungen  der  unge- 
zogenen Schlingel,  und  tags  darauf  drückten  die  ehrbarsten  christ- 
lichen Bürger  der  Stadt  den  Vertretern  der  jüdischen  Gemeinde 
ihr  Bedauern  über  den  skandalösen  Vorfall  aus.  Das  Börsen- 
gebäude wurde  von  einer  müitärischen  Abteilung  bewacht,  aber 
diese  Maßregel  erwies  sich  als  überflüssig:  die  jüdischen  Besucher, 

7    Dubuow,  Geschichte  der  Juden  I  Q7 


die  den  darauffolgenden  Abend  im  Theater  erschienen,  wurden 
vom  christlichen  Publikum  mit  Beifallskundgebungen  begrüßt. 

§  17.  Die  Agitation  der  Pariser  Kommune  zugunsten  der 
Juden.  Im  Bericht  über  den  Triiimph  der  liberalen  Ideen, 
der  im  Beschluß  vom  28.  Januar  wegen  der  Juden  Südfrank- 
reichs zum  Ausdruck  gekommen  war,  machte  das  ,, Journal 
de  Paris"  folgende  Bemerkung :  „Aber  an  diesem  Triumph  blieb 
ein  bitterer  Beigeschmack  haften.  Die  Juden  der  elsaß-loth- 
ringischen  Gebiete  können  der  Nationalversammlimgdie  Worte 
Esaus  an  seinen  Vater  zurufen:  Hast  du  nur  einen  einzigen 
Segen?"  Die  elsaß-lothringischen  und  Pariser  Aschkenasim,  an 
denen  man  in  stiefväterUcher  Weise  achtlos  vorübergegangen 
war,  ließen  es  jedoch  bei  wehmütigen  Klagen  nicht  bewenden. 
Sie  hatten  es  gelernt,  die  Gleichberechtigung  als  ein  ihnen  zu- 
kommendes Recht  zu  fordern  und  nicht  als  ein  Geschenk  zu  er- 
flehen. Schon  nach  der  Vertagung  vom  24.  Dezember  verfertig- 
ten diese  durch  das  Zögern  der  Nationalversammlung  aufs 
äußerste  erregten  „deutschen  Juden"  eine  „Bittschrift"  an  die 
Versammlung,  in  welcher  sie  erklärten,  daß  sie  die  Gleich- 
berechtigung nicht  „auf  dem  Wege  allmählicher  Verbesserungen" 
sondern  „unverzüglich"  erwarten.  Sie  fordern  ihre  Rechte  „mit 
der  Unbeirrbarkeit  von  Menschen,  die  nicht  einen  Gnaden- 
sondern einen  Gerechtigkeitsakt  erwarten";  indem  sie  die 
lyasten  der  öffentlichen  Pflichten  mittragen,  müssen  sie  auch 
ihren  Anteü  an  den  Segnungen  des  öffentlichen  Lebens  gesichert 
wissen.  Es  sei  dies  für  sie  ,,eine  Existenzfrage  auf  dem  Gebiete 
des  öffentlichen  Lebens".  Die  Bittschrift,  unterzeichnet  von  den 
besten  Vertretern  der  Aschkenasimgruppe  von  Paris  (Cerf-Berr, 
Beer-Isaak-Berr,  David  Sinzheim,  dem  späteren  Vorsitzenden 
des  napoleonischen  Synhedrions  und  anderen),  wurde  in  der  Ver- 
sammlung vom  28.  Januar  1790,  am  Tage  des  Beschlusses  über 
die  sephardische  Gleichberechtigung  eingereicht,  blieb  aber  ohne 
jeden  Erfolg.  Die  verhängnisvolle  „Vertagung"  bheb  in  Kraft. 

Für  die  Juden  der  Stadt  Paris  machte  sich  diese  Kränkung  be- 
sonders fühlbar.  Sie  standen  im  eigentlichen  Mittelpunkte  der 
revolutionären  Bewegung  und  nahmen  an  ihr  einen  regen  Anteil. 
Über  hundert  Juden  standen  im  Dienste  der  Pariser  Nationalgarde, 
in  die  sie  kuri  nach  der  Erstürmung  der  Bastüle  als  Freiwillige 
eingetreten  waren.  In  einigen  Pariser  Bezirken  (besonders  im 

98 


Karmeliter-Bezirk)  betätigten  sich  die  Juden  trotz  der  Rechts- 
einschränkungen  in  den  Stadträten  und  anderen  städtischen  In- 
stitutionen. Die  Juden  legten  einen  patriotischen  Eifer  an  den 
Tag  und  waren  bereit,  ihr  Leben  für  ihre  stiefmütterliche  Heimat 
hinzugeben.  Nicht  unbeträchtlich  waren  auch  die  Summen,  die 
sie  für  gemeiimützige  Zwecke  spendeten.  Ein  armer  Gelehrter, 
der  Verfasser  der  vorrevolutionären  „Apologie  der  Juden",  Sal- 
kind  Hurwitz,  der  an  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Paris  als 
Übersetzer  angestellt  war,  spendete  den  vierten  Teil  seines 
knappen  Jahresgehalts  von  900  Franken  der  Gemeindekasse. 
Männer  dieser  Art  konnten  sich  nicht  länger  mit  dem  Brandmal 
der  gesellschaftlichen  und  staatsbürgerlichen  Entrechtung  zu- 
frieden geben.  Und  nun  griffen  die  Pariser  Juden  zu  einem  neuen 
Kampfmittel,  um  sich  ihre  Rechte  zu  erringen:  sie  beschlossen, 
auf  die  Nationalversammlung  durch  die  Pariser  Kommune 
oder  Stadtverwaltung  einzuwirken.  In  der  Kommune  konzen- 
trierten sich  die  radikalsten  Elemente  der  Hauptstadt,  die  durch 
ihre  Resolutionen  mehr  als  einmal  einen  Druck  auf  die  National- 
versammlung ausübten.  Die  Juden  rechneten  darauf,  daß,  wenn 
einmal  die  städtische  Verwalttmg,  die  das  Organ  der  öffentlichen 
Meinung  der  Hauptstadt  büdete,  zugunsten  der  Emanzipation 
aufträte,  auch  die  Nationalversammlung  mit  der  Wiederaufnahme 
der  vertagten  jüdischen  Frage  nicht  länger  zögern  könne  und 
sie  in  positivem  Sinne  lösen  würde. 

An  eben  demselben  28.  Januar,  als  die  Frage  wegen  der  süd- 
französischen Juden  in  der  Nationalversammlung  behandelt 
wurde,  spielte  sich  im  Sitzungssaale  der  allgemeinen  Versamm- 
lung (Assemblee  generale  de  la  commime)  eine  feierliche  Szene  ab. 
Eine  vielköpfige  Deputation  der  Pariser  Juden,  in  der  sich  auch 
an  die  fünfzig  Nationalgardisten  mit  der  dreifarbigen  Kokarde  be- 
fanden, trat  vor  die  Kommimalversammlung  mit  der  Bitte,  die 
Gemeinde  der  Hauptstadt  möge  durch  ihre  Abgeordneten  für 
die  Gleichberechtigung  der  jüdischen  Bevölkerung  eintreten. 
Als  Wortführer  dieser  Deputation  figurierte  der  Advokat 
des  Parlaments  und  Kommunemitglied  Godard,  der  von  den 
Pariser  Juden  bevollmächtigt  wurde,  sich  für  sie  zu  verwenden. 
Godard  verließ  seinen  Platz,  den  er  unter  den  Kommuneab- 
geordneten eingenommen  hatte,  .machte  ein  paar  Schritte  vor- 
wärts, trat  an  die  Spitze  der  jüdischen  Deputation  und  wandte 

7-  99 


sich  an  die  Versammlung  mit  folgendea  Worten:  ,, Meine 
Herren,  ich  verließ  für  kurze  Zeit  meinen  Platz,  den  ich  unter 
euch  einnahm,  um  ihn  mit  einem  zu  vertauschen,  der  mir  in 
einem  Augenblick,  wie  der  jetzige,  wo  ich  als  Wortführer  von 
Bittenden  und  Befürworter  von  Unglücklichen  auftrete,  mehr 
gebührt.  Von  dem  größten  Teü  der  im  Königreiche  lebenden 
Juden  bevollmächtigt,  ihre  Interessen  vor  der  Nationalver- 
sammlung zu  verfechten^),  erscheine  ich  zugleich  als  Vertreter 
der  in  Paris  lebenden  Juden.  Und  als  solcher  kann  ich  euch  von 
ihrer  tiefen  Verehrung  Zeugnis  ablegen,  kann  euch  ihre  Ergeben- 
heit beteuern  und  einen  Beweis  ihrer  Erkenntlichkeit  liefern. 
Denn  die  edlen  Einwohner  unserer  Hauptstadt  sind  inbezug  auf 
die  Juden  der  Wohltat  des  Gesetzes  vorausgegangen,  indem  sie 
sich  der  jetzigen  denkwürdigen  Revolution  bedienten,  um  sie  zu 
Waffengenossen  zu  machen  und  ihnen  die  Bürgeruniform  (der 
Nationalgarde),  in  der  einige  unter  ihnen  vor  euch  treten,  zu  ver- 
leihen. Was  die  Bevölkerung  betrifft,  so  legt  sie  schon  jetzt  ein 
brüderliches  Verhalten  ihnen  gegenüber  an  den  Tag,  noch  ehe  sie 
gelernt  hat,  mit  ihnen  wie  mit  Bürgern  zusammenzuleben .  .  ." 
Nachdem  er  des  ferneren  auf  den  patriotischen  Eifer  der  Pariser 
Juden  hinwies,  die  aus  ihrer  Mitte  hundert  Krieger  in  die  National- 
garde schickten,  brachte  Godard  die  Wünsche  der  jüdischen 
Deputation  in  folgenden  Worten  vor:  ,,Die  Juden,  die  ihr  An- 
liegen vor  die  Nationalversammlung  bringen  und  von  ihrer 
Weisheit  ein  für  sich  günstiges  Gesetz  erwarten,  messen  jenen 
gewichtigen  Kundgebungen  des  Wohlwollens,  denen  sie  in  der 
Hauptstadt  begegnen,  eine  große  Bedeutung  bei .  .  .  Sie  sind  der 
Meinung,  daß  dieses  Wohlwollen  seitens  der  hauptstädtischen 
Bevölkerung  sie  auch  zu  der  Bitte  berechtigt,  eure  Stimmen  zu 
ihrem  Schutze  zu  erheben  und  das  Wort  auszusprechen,  das  die 
Entscheidung  ihres  Schicksals  beschleunigen  könnte  .  .  .  Eure 
feierliche  Erklärung,  die-  nur  ein  der  Wahrheit  dargebrachtes 
Tribut  sein  würde,  soll  nicht  nur  der  Sache  der  Pariser,  sondern 
der  aller  Juden  im  ganzen  Königreiche  das  Wort  reden  und  auf 
diese  Weise  das  Wohl  von  fünfzigtausend  Seelen  vorbereiten 
helfen."  Der  Vorsitzende  der  Kommuneversammltmg,  Abbe 
Mulot,  erwiderte  darauf,  daß  das  Anliegen  der  jüdischen  Depu- 

^)  Godard  war  auch  der  bevollmächtigte  Anwalt  der  BIsässer  Juden  und  Ver- 
fasser der  erwähnten  Petition  vom  28.  Januar. 

ICD 


tation  von  der  Versammlung  ernstlich  erwogen  werden  würde, 
und  gab  der  Überzeugung  Ausdruck,  daß  die  Kommune  „ihren 
Beschluß  in  voller  Übereinstimmung  mit  den  Gesetzen  der  Ver- 
nunft und  der  Menschlichkeit  fassen  werde". 

Aber  die  jüdischen  Kämpfer  und  ihre  christlichen  Mitkämpfer 
ließen  es  dabei  nicht  bewenden.  Sie  entfalteten  eine  rege  agi- 
tatorische Tätigkeit  in  den  „Sektionen"  oder  Bezirksversamm- 
lungen der  Abgeordneten  der  Stadt  Paris  (die  Stadt  war  in 
50  Verwaltungsbezirke  eingeteilt,  von  denen  jeder  seinen  Ab- 
geordnetenrat besaß),  indem  sie  die  letzteren  dazu  zu  bewegen 
buchten,  ihre  Meinung  in  der  Frage  der  jüdischen  Gleichbe- 
rechtigung der  zentralen  städtischen  Verwaltung  mitzuteilen. 
Der  Karmeliterbezirk  war  der  erste,  in  dem  diese  Agitation  An- 
klang fand;  in  diesem  Bezirk  wohnte  der  überwiegende  Teil  der 
Juden,  die  sogar  ihre  Vertreter  im  Bezirksrat  der  Abgeordneten 
hatten.  Am  30.  Januar  erschien  im  allgemeinen  Versammlungs- 
saal der  Kommune  eine  Deputation  der  Abgeordneten  des  Kar- 
meliterbezirkes und  überreichte  dem  Vorsitzenden  die  ein- 
stimmig angenommene  Resolution  des  Bezirksrates:  „an  die 
Kommune  die  Bitte  zu  richten,  alle  ihr  zu  Gebote  stehenden 
Hebel  in  Bewegung  zu  setzen  um  die  Anerkennung  der  Juden 
als  aktive  Staatsbürger  bei  der  Nationalversammlung  zu  er- 
wirken." Der  Staatsanwalt  und  Syndikus,  Cahier-de-Gerville, 
der  an  der  Spitze  der  Deputation  stand,  hielt  dabei  eine  warme 
Rede  für  die  Juden:  „Unter  allen  Bezirken  der  Pariser  Ge- 
meinde", sagte  er,  ,,ist  es  der  Karmeliterbezirk,  der  den  über- 
wiegenden Teil  der  jüdischen  Bevölkerung  beherbergt.  Mehr  als 
alle  anderen  Bezirke  hat  der  Karmeliter  die  Möglichkeit  gehabt, 
die  Haltung  der  jüdischen  Einwohnerschaft  seit  dem  Beginne  der 
Revolution  zu  beobachten,  mit  ihren  Prinzipien  Fühlung  zu 
nehmen  und  sich  ein  Urteil  über  ihren  sittlichen  Zustand  zu 
bilden  ...  Es  wird  euch  daher  nicht  befremden,  wenn  die  Ver- 
treter des  Karmeliterbezirkes  sich  zu  allererst  die  Freiheit 
nehmen,  dem  Patriotismus,  der  Tapferkeit  und  der  edlen  Ge- 
sinnung der  Juden  öffentlichen  Tribut  zu  zollen.  Kein  Bürger 
legte  solchen  Eifer  in  der  Sache  der  Ertingung  der  Freiheit  an 
den  Tag,  wie  die  Juden;  niemand  zeigte  einen  dermaßen  heißen 
Drang  nach  der  Uniform  der  Nationalgarde,  wie  die  Juden;  ich 
kenne  keine  Menschen,  die  der  Ordnung  und  Gerechtigkeit  in 

lOI 


größerem  Maßt  als  sie  zugetan  wären,  die  sich  durch  Wohltätig- 
keit und  freiwillige  Spenden  für  die  Gemeinde  mehr  hervorgetan 
hätten  .  .  .  Die  m  Paris  lebenden  Juden  sind  noch  nicht  zu  Fran- 
zosen erklärt  worden,  aber  glaubt  uns,  sie  verdienen  vollauf 
diese  Benennung.  Ich  wage  sogar  zu  behaupten,  daß  sie  es  in 
Wirklichkeit  schon  sind.  Ja,  meine  Herren,  das  Karmeliter- 
viertel will  nicht,  daß  man  einen  Unterschied  zwischen  den 
Staatsbürgern  mache.  Die  Juden  werden  in  beratende  Aus- 
schüsse aufgenommen,  sie  teilen  mit  uns  die  Ehre  und  die  Mühen 
des  Militärdienstes,  und  von  keiner  Seite  wird  Unzufriedenheit 
gegen  die  Gewährung  von  staatsbürgerlichen  Rechten  an  sie 
laut  —  von  Rechtfen,  denen  nur  die  Bestätigung  und  Bekräftigung 
des  Gesetzes  fehlt .  .  .  Geruht  also,  meine  Herren,  unsere  ge- 
rechten und  eindringlichen  Erklärungen  zugunsten  unserer  neuen 
Brüder  zur  Kenntnis  zu  nehmen.  Fügt  unserer  Erklärung  auch 
die  eurige  bei  —  und  legt  sie  insgesamt  der  Nationalversammlung 
vor.  Seid  dessen  gewiß,  meine  Herren :  Ihr  werdet  für  die  Pariser 
Juden  mühelos  alles  erringen,  was  man  den  Juden  nicht  ver- 
weigerte, die  als  portugiesische,  avignoner  und  spanische  bekannt 
sind.  Und  weshalb  denn  sollte  man  die  letzteren  den  ersteren  vor- 
ziehen ?  Ist  denn  nicht  die  Lehre  aller  Juden  überall  die  gleiche  ? 
Sind  denn  unsere  politischen  Beziehungen  zu  den  einen  und  den 
anderen  nicht  dieselben?  Wenn  die  Vorfahren  derjenigen  Juden, 
deren  Interessen  wir  verfechten,  Härten  und  Plagen  seitens  will- 
kürlicher Behörden  in  größerem  Maße  ausstehen  mußten,  als  es 
bei  den  portugiesischen  Juden  der  Fall  war,  —  gibt  denn  nicht 
gerade  dieser  von  ihnen  erduldete  furchtbare  und  langwierige 
Druck  ein  Anrecht  mehr  auf  unsere  nationale  Gerechtigkeit?" 
Das  Drängen  der  Deputationen  verfehlte  nicht  die  gewünschte 
Wirkung.  Am  selben  Tage,  dem  30.  Januar,  kam  in  der  General- 
versammlung der  Pariser  Kommune  die  Frage  wegen  der  Unter- 
stützung der  von  den  Juden  imtemommenen  Schritte  vor  der 
Nationalversammlung  zur  Sprache.  Es  entspannen  sich  leb- 
hafte Debatten:  die  Mehrheit  war  für  die  Unterstützung,  die 
Minderheit  schwankte  unschlüssig.  Um  diese  Unschlüssigkeit  zu 
beseitigen  und  den  Boden  für  einen  einstimmigen  Beschluß  zu- 
gunsten der  Juden  vorzubereiten,  bestieg  einer  der  besten  Redner 
der  Kommune,  Abbe  Bertoliodie  Tribüne  und  hielt  eine  lange 
Rede,  in  der  er  die  wichtigsten  Seiten  der  Judenfrage  berührte. 

102 


Nachdem  er  darauf  hingewiesen  hatte,  daß  Frankreich  endlich 
an  dem  Zeitpunkte  angelangt  sei,  wo  es  möglich  wäre,  alle 
zwischen  den  Menschen  errichteten  Scheidewände  niederzu- 
werfen, rief  er  aus:  ,,Aber  diese  Revolution,  die  so  glücklich  ver- 
laufen und  so  unerwartet  gekommen  ist,  wird  ein  unvollendetes 
Werk  bleiben,  wenn  die  Anschauungen  der  Menschen  in  ihrem 
Wachstum  mit  dem  der  von  ihr  geborenen  Verfassung  nicht 
gleichen  Schritt  halten.  Erheben  wir  uns  doch  zur  Höhe  unserer 
Verfassung  .  .  , !  Die  durch  die  Nationalversammlung  geheiligten 
Prinzipien  gaben  drei  Millionen  Franzosen  das  staatsbürgerliche 
Leben  wieder.  Die  französischen  Protestanten  sind  in  ihren  staats- 
bürgerlichen Rechten  wiederhergestellt .  .  ,  Die  neuen  Prinzipien 
haben  vor  kurzem  ihren  Triumph  über  ein  anderes,  noch  fest- 
gewurzelteres Vorurteil  errungen.  Durch  einen  feierlichen  Gesetz- 
beschluß wurde  die  staatsbürgerliche  Stellung  der  Juden  von 
Bordeaux,  Bayonne  und  Avignon  bekräftigt.  Die  in  Paris  und 
den  anderen  Teilen  des  Königreichs  lebenden  französischen 
Juden  bemühen  sich  gegenwärtig  darum,  daß  man  ihnen  die 
gleiche  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen  möge.  Kann  man  eine 
abschlägige  Antwort  geben?  Welches  ist  der  wesentliche  Unter- 
schied, den  man  zwischen  ihnen  und  ihren  Brüdern  in  Bordeaux 
machen  könnte?  Man  wird  sagen,  daß  sie  Patente  und  Ver- 
mögensrechte besitzen,  deren  die  anderen  entbehren.  Darauf  er- 
widere ich  nun,  daß  die  Patente 'der  Juden  von  der  Natur  selber 
unterzeichnet  sind,  und  das  Siegel  der  Natur  wird  alle  Siegel  sämt- 
Ucher  Kanzleien  Europas  aufwiegen."  Der  Redner  schloß  seine 
Rede  mit  folgendem  Wunsch:  ,,Ich  meine,  wir  müssen  uns  dahin 
aussprechen,  daß  die  Nationalversammlung  die  Judenfrage, 
deren  Erörterung  von  ihr  vertagt  wurde,  sobald  wie  möglich  auf 
die  Tagesordnung  setzen  und  einen  Gesetzesbeschluß  erlassen 
solle,  wonach  sämtliche  Juden  den  Juden  von  Bordeaux,  Bayonne 
und  Avignon  gleichgestellt  werden.  Aber  eine  derartige  Er- 
klärung müßte  der  Nationalversammlung  nicht  eher  unterbreitet 
werden,  als  bis  sie  an  alle  60  Bezirke  von  Paris  versandt  und 
durch  Stimmenmehrheit  bewüligt  wird." 

Der  Redner  erreichte  sein  Ziel  vollauf.  Nach  seiner  Rede 
schwanden  Unschlüssigkeit  und  Schwanken  dahin.  Nach  einer 
kurzen  Debatte  nahm  die  Versammlung  der  Kommune  folgende 
Resolution  an:  i.  Ein  öffentliches  Zeugnis  über  die  gute  Auf- 

103 


führiing,  den  Patriotismus  und  die  persönlichen  Tugenden  der 
Juden  abzugeben;  2.  den  Wunsch  der  Pariser  Bevölkerung,  daß 
den  Juden  alle  Rechte  aktiver  Bürger  zuerkannt  werden  sollen, 
öffentlich  bekanntzugeben.  Um  diesem  Akt  den  Charakter  einer 
Volksabstimmung  zu  geben,  beschloß  die  Versammlung  der 
Kommune,  ihre  Resolution  sänatlichen  Bezirken  der  Stadt  Paris 
mitzuteilen  und  nach  Erhalt  ihrer  Einwilligung  der  National- 
versammlung vorzulegen.  Die  Resolution  wurde  von  dem  in  der 
Geschichte  der  Revolution  berühmt  gewordenen  Pariser  Maire 
Bailly  und  dem  Vorsitzenden  Mulot  unterzeichnet.  Godard 
dankte  der  Versammlung  im  Namen  der  Pariser  Juden  und 
schloß  seine  Rede  mit  der  Wiederholung  des  historisch  gewordenen 
Ausspruches  des  Maire  Bailly:  ,, Segnen  wir  die  Revolution,  die 
uns  alle  zu  Brüdern  macht!" 

Die  Pariser  Stadtverwaltung  konnte  alsbald  ihren  Beschluß  in 
Erfüllung  bringen.  Die  eigens  zu  diesem  Zwecke  einberufenen 
Bezirksversammlungen  beeilten  sich,  ihre  Stimmen  für  die  Eman- 
zipation zu  erheben.  Von  60  Bezirken  äußerten  sich  53  in  diesem 
Sinne;  die  Stellungnahme  von  6  Bezirken  bheb  unbekannt,  und 
nur  ein  einziger  Bezirk  (Maturin)  schlug  vor,  mit  der  Emanzi- 
pation der  Juden  so  lange  zu  warten,  bis  die  diesbezüg- 
lichen Äußerungen  der  Provinzversammlungen  einlaufen.  Es 
stand  außer  Zweifel,  daß  fast  „ganz  Paris"  sich  für  die  Gleich- 
berechtigung der  Juden  aussprach.  Am  25.  Februar  erschien  eine 
aus  dem  Vorsitzenden  Mulot,  Godard,  dem  Abbe  Bertolio  und 
anderen  bestehende  Deputation  der  Pariser  Kommune  vor  der 
Nationalversammlung.  Die  Deputation  überreichte  der  gesetz- 
gebenden Versammlung  eine  schriftlich  abgefaßte  Resolution 
über  die  Notwendigkeit,  sich  mit  der  Erörterung  der  Judenfrage 
zu  beeüen  und  diese  im  Sinne  der  Gewährung  der  aktiven^  Bürger- 
rechte an  die  Juden  zu  lösen.  Das  Verlesen  der  Resolution  wuide 
von  einer  warmen  Rede  des  Präsidenten  der  Kommune,  Abbe 
Mulot,  begleitet.  TallejTand-Perigord,  der  an  diesem  Tage  den 
Vorsitz  in  der  Nationalversammlung  führte,  antwortete  der 
Deputation  der  Kommune  mit  folgenden  Worten :  ,,Die  National- 
versammlung hat  es  sich  zur  heiligen  Pflicht  gemacht,  allen 
Menschen  ihre  Rechte  wiederzugeben.  Sie  hat  alle  die  Bedin- 
gungen bekanntgegeben,  die  erforderlich  sind,  um  die  aktiven 
Bürgerrechte  zu  erwerben.  In  eben  diesem  Geiste  und  gemäß 

104 


diesen  Bedingungen  wird  sie  in  aller  Gerechtigkeit  die  von  euch 
in  solch  rührender  Form  zugunsten  der  Juden  vorgebrachten 
Argumente  prüfen."  Als  jedoch  tags  darauf  der  Herzog  von 
lyiancourt  an  die  Nationalversammlung  mit  der  Forderung 
herantrat,  einen  Tag  für  die  Behandlung  der  Frage  der  staats- 
bürgerlichen Stellung  der  Juden  festzusetzen,  erklärte  einer 
der  Abgeordneten  folgendes:  „Die  jüdische  Frage  ist  ganz 
gewiß  eine  wichtige  Angelegenheit,  aber  wir  haben  auf  unserer 
Tagesordnung  noch  wichtigere  Fragen,  die  alle  Bürger  angehen. 
Was  wir  hinsichtlich  der  Juden  beschließen  werden,  wird  nur  die 
Interessen  eines  einzigen  Volksteiles  berühren;  hingegen  sind  die 
Festlegung  der  Gerifchtsordnung,  die  Bestimmung  der  Stärke 
und  die  Zusammensetzung  des  französischen  Heeres  und  die 
Regelung  des  Finanzwesens  —  drei  Fragen,  an  denen  das  ganze 
Land  interessiert  ist  und  die  unsere  ganze  Zeit  in  Anspruch 
nehmen  müssen.  Und  daher  beantrage  ich:  die  Judenfrage  von 
neuem  zu  vertagen."  Der  Antrag  wurde  angenommen.  Die 
Lösung  der  Judenfrage  in  der  Nationalversammlung  wurde 
wiederum  bis  zur  Lösung  der  nächsten  an  der  Tagesordnimg 
stehenden  Fragen  verschoben. 

§  18.  Der  weitere  Kampf  und  die  Proklamierung  der 
Emanzipation.  Die  Juden  und  ihre  liberalen  Freunde,  die  sich 
mit  der  abermaligen  Vertagung  der  Lösung  der  Judenfrage 
gegen  ihren  Willen  abfinden  mußten,  trösteten  sich  mit  dem 
Gedanken,  daß,  wenn  die  sofortige  Inangriffnahme  dieser  Lösung 
von  neuem  verhindert  wurde,  es  diesmal  einzig  und  allein  an  der 
Notwendigkeit  der  Behandlung  nächstliegender  allgemeiner 
Fragen  gelegen  habe,  und  daß  folglich  die  Jüdenfrage  von  der 
Tagesordnung  der  Verhandlungen  nicht  gänzlich  gestrichen  sei. 
Aber  die  judenfeindliche  Partei  hatte  ihre  bestimmte  Taktik.  Sie 
vereitelte  jeden  neuen  Versuch,  die  Judenfrage  in  der  National- 
versammlung aufzurollen,  indem  sie  immer  neue  Anlässe  zu  Ver- 
schleppimgen  ersann  und  zugleich  ihre  judenfeindliche  Agitation 
außerhalb  des  Parlaments  zwecks  Beeinflussung  der  Abgeord- 
neten verstärkte.  Als  aber  endlich  am  15.  April  1790  am 
Schlüsse  der  Osterferien  die  Reihe  an  die  Judenfrage  kam,  er- 
klärte der  elsässische  Abgeordnete  Reubell,  daß  im  Elsaß  eine 
neue  judenfeindliche  Bewegung  im  Anzüge  sei,  die  sich  im  Falle 
der  Proklamierung  der  Emanzipation  in  Gewalttätigkeiten  gegen 

105 


die  Juden  entladen  werde.  Ihm  antwortete  ein  liberaler  Ab- 
geordneter, daß  es  gerade  diese  ewigen  Vertagungen  seien,  die  die 
Juden  der  Gefahr  gewalttätiger  Angriffe  seitens  des  Pöbels  aus- 
setzen. „Die  Vertreter  der  jüdischen  Bevölkerung",  fügte  er  hin- 
zu, „versichern,  daß  ihre  Glaubensgenossen  nur  dann  ein  ruhiges 
Dasein  führen  werden,  wenn  die  Versammlung  sich  einmal  end- 
gültig über  ihr  Schicksal  ausspricht.  Und  auch  im  Elsaß  selbst 
hat  die  Erwartung  der  Emanzipation  eine  derartige  Spannung  er- 
reicht, daß  einige  Gemeinden,  die  mit  der  Verteilung  des  ihnen 
gehörenden  Grund  und  Bodens  begonnen  haben,  nahe  daran 
sind,  auch  den  Juden  (denen  der  Grundbesitz  verboten  war) 
Grundstücke  zuzuweisen."  Dieser  Stimme  der  Wahrheit  schenkte 
die  Versammlung  kein  Gehör  und  beschloß,  die  Judenfrage  einem 
Verfassungsausschuß  zu  übergeben.  Aber  das  immer  wieder  zu- 
rückgestoßene Schreckgespenst  der  Judenfrage  tauchte  tags 
darauf  wieder  in  der  Nationalversammlung  auf. 

Im  Elsaß  wurde  eine  kräftige  judenfeindliche  Agitation  be- 
trieben, deren  Herd  sich  in  Paris,  im  Kreise  der  reaktionären  Ab- 
geordneten dieser  Provinz  befand.  Im  brennenden  Verlangen,  die 
Proklamierung  der  Emanzipation  des  verhaßten  Stammes  hint- 
anzuhalten, setzten  die  ,, Schwarzen"  in  Paris  und  ihre  Helfers- 
helfer in  der  Provinz  alle  Hebel  in  Bewegung,  um  den  Schein 
einer  Volkserhebung  gegen  die  Juden  hervorzurufen.  Die  Agi- 
tation wurde  energisch  betrieben.  Judenfeindliche  Flugblätter 
und  Broschüren  wurden  überall  verbreitet;  die  reaktionäre  und 
klerikale  Presse  wimmelte  von  marktschreierischen  und  ver- 
leumderischen Artikeln,  von  giftgeschwollenen  Feuilletons  und 
Versen  gegen  die  Juden  und  ihre  liberalen  Verteidiger.  Die  Namen 
eines  Mirabeau,  eines  Gregoire,  eines  Talleyrand  und  Bailly 
wurden  von  feilen  Zeitimgsschimpfem  schonungslos  in  den 
Schmutz  gezerrt,  indem  der  eine  als  ,,von  den  Juden  bestochen", 
der  andere  als  „Judas",  der  dritte  wiederum  als  „Beschneidungs- 
lustiger"  verschrien  wurde.  Als  die  „Gesellschaft  der  Verfassungs- 
freimde"  in  Straßburg  Schritte  zur  Unterstützung  der  jüdischen 
Gleichberechtigung  unternahm,  bemächtigte  sich  der  ,, Seh  War- 
zen" eine  heftige  Erregung.  Sie  trommelten  eine  große  Versamm- 
lung „aktiver  Bürger"  zusammen,  um  die  Judenfrage  zu  be- 
handeln; nachdem  man  die  liberalen  Redner,  die  für  die  Emanzi- 
pation einzutreten  versuchten,  ausgepfiffen  oder  mit  Gewalt  ent- 

io6 


femt  hatte,  erzielte  man  eine  „Einigung".  Die  von  der  Versamm- 
lung angenommene  Resolution  lautete,  daß  die  in  Straßburg  seß- 
haften christlichen  Bürger,  vorwiegend  Kaufleute,  sich  in  der  Be- 
fürchtung einer  Konkurrenz  seitens  der  Juden  gegen  die  Ge- 
währung der  Gleichberechtigung  an  diese  aussprechen  (8.  April). 
Diese  offenmütige  Resolution  des  ,, Fanatikerkongresses"  wurde, 
mit  Tausenden  von  Unterschriften  versehen,  an  die  National- 
versammlung geschickt.  Eine  gleichlautende  Resolution  ging 
auch  von  den  Einwohnern  der  Stadt  Kolmar  zu. 

Die  Propaganda  blieb  nicht  ohne  greifbare  Folgen;  Juden- 
pogrome und  Metzeleien  lagen  schon  in  der  I^uft,  Der  unermüd- 
liche Verfechter  jüdischer  Interessen,  Cerf-Berr,  teüte  der 
Nationalversammlung  mit,  daß  in  der  Provinz  eine  offene  Agi- 
tation zur  Aufhetzung  des  Pöbels  gegen  die  Juden  betrieben 
werde.  Was  die  lokalen  Behörden  beträfe,  so  hätten  diese  nicht 
nur  keine  Maßnahmen  zur  Vorbeugung  von  Tätlichkeiten  ge- 
troffen, sondern  ermutigten  alle  gewalttätigen  Elemente  durch 
eine  rohe  Behandlung  der  Juden  und  durch  das  Betonen  ihrer 
Rechtlosigkeit.  In  der  Sitzung  der  Nationalversammlung  wurde 
folgende  Erklärung  einer  Elsässer  Stadtverwaltung  verlesen: 
„Die  Ungewißheit  der  lyage  der  Judeu  macht,  daß  sie  Gefahren 
ausgesetzt  sind,  die  nur  durch  einen  Beschluß  der  Versammlung 
verhindert  werden  können."  Angesichts  des  Ernstes  der  vorge- 
brachten Begründung  beantragte  der  radikale  Abgeordnete 
Röderer,  das  Dekret  in  folgender  Fassung  bekanntzugeben: 
„Die  Nationalversammlung  erklärt  von  neuem  die  in  Elsaß  und 
anderen  Orten  seßhaften  Juden  als  unter  dem  Schutze  des  Ge- 
setzes stehend,  untersagt  es  jedem,  sich  an  ihren  Interessen  zu 
vergreifen,  und  befiehlt  den  städtischen  Magisträten  und  der 
Nationaigarde,  von  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Machtmitteln 
zum  Schutze  der  Juden  und  ihres  Vermögens  Gebrauch  zu 
machen"  (i6.  April).  Diese  Formel  wurde  von  der  Versammlung 
fast  einstimmig  angenommen.  Nach  zwei  Tagen  wurde  das  Dekret 
auch  vom  König  unterzeichnet.  Die  Pogromgefahr  wich,  aber  die 
judenfeindliche  Partei  erreichte  ihr  Ziel:  da  die  Nationalver- 
sammlung eine  Verschärfung  der  Beziehungen  zwischen  den  ver- 
schiedenen Teilen  der  Bevölkerung  vermeiden  wollte,  erachtete 
sie  die  Vertagung  der  Lösung  der  Judenfrage  als  einen  im 
Interesse  der  Juden  selbst  liegenden  Akt  politischer  Klugheit. 

107 


Durch  diese  Erwägtmg  beruhigte  die  Versammlung  ihr  Ge- 
wissen, als  sie  nach  zwei  Wochen  wiederum  eine  günstige  Ge- 
legenheit zur  Lösung  der  Judenfrage  verpaßte.  Man  behandelte 
einen  Gesetzentwurf  wegen  Gewährung  von  aktiven  Bürger- 
rechten an  jede  Person,  selbst  an  einen  Ausländer,  der  nicht 
weniger  als  fünf  Jahre  in  Frankreich  ansässig  war  (30.  April). 
Reubell  forderte  nun,  in  den  Gesetzentwurf  folgende  Klausel  auf- 
zunehmen: ,,Die  Frage  wegen  der  staatsbürgerlichen  Stellung 
der  Juden,  die  als  vertagt  anzusehen  ist,  wird  aber  dadurch  nicht 
berührt."  Die  verräterische  Klausel  wurde  angenommen  —  und 
selbst  die  liberalen  Abgeordneten  dachten  anscheinend  nicht 
daran,  wie  gekränkt  sich  die  Juden  durch  diesen  Beschluß 
fühlen  mußten,  der  das  Naturalisierimgsrecht  allen  Ausländern, 
die  auf  einen  fünfjährigen  Aufenthalt  in  Frankreich  zurück- 
blicken konnten,  gewährte,  es  aber  einer  Gruppe  von  Einhei- 
mischen vorenthielt,  deren  Vorfahren  noch  zu  den  Einwohnern 
des  alten  Galliens  und  der  Frankenmonarchie  gehört  hätten. 

Nur  eine  einzige  Erleichterung  wurde  den  Juden  so  nebenbei 
gewährt:  Im  Zusammenhange  mit  der  allgemeinen  Steuerreform 
schaffte  die  Nationalversammlung  alle  die  demütigenden  imd 
drückenden  Steuern  ab,  die  von  den  Juden  in  Metz  und  anderen 
Orten  als  Wohnrecht-,  Schutz-  xind  Duldungssteuer  erhoben 
wurden. 

Die  Verfechter  der  jüdischen  Interessen  begannen  die  Geduld 
zu  verlieren.  Am  9.  Mai  1791  richtete  eine  Gruppe  Pariser  Juden 
eine  Adresse  an  die  Nationalversammlung,  die  in  einem  eher  pro- 
testierenden, als  bittenden  Ton  gehalten  war.  „Die  National- 
versammlung", heißt  es  darin,  „hat  ein  Dekret  erlassen, 
kraft  dessen  alle  Ausländer,  die  auf  einen  fünfjährigen  Aufent- 
halt in  Frankreich  zurückblicken  können,  sich  der  Rechte  fran- 
zösischer Staatsbürger  erfreuen  dürfen.  Aus  welchen  fatalen 
Gründen  werden  die  Überbringer  dieses  als  weniger  würdig  an- 
gesehen als  die  Ausländer  ?  Warum  werden  sie  von  allen  Rechten 
ausgeschlossen,  die  von  der  Natur  verliehen  und  durch  die  Be- 
schlüsse der  Nationalversammlung  den  Menschen  zurückerstattet 
worden  sind?  Will  man  sie  (die  Bittsteller)  als  Juden  betrach- 
ten, so  büden  sie  doch  einen  Teü  der  französischen  Staats- 
bürger, da  sie  allen  an  diese  gestellten  Bedingungen  genügen  und 
alle  Bürgerpflichten  erfüllen;  und  will  man  sie  als  Ausländer  be- 

108 


trachten,  wiewohl  ihr  überwiegender  Teil  in  Frankreich  geboren 
ist,  so  sind  sie  doch  kraft  des  Gesetzes  schon  französischer 
Staatsbürger  geworden,  da  sie  seit  vielen  Jahren  in  der 
Hauptstadt  ansässig  sind.  In  dem  einen  wie  dem  anderen  Falle 
dürfen  sie  sich  aller  aus  diesem  Titel  erwachsenden  Rechte  er- 
freuen," Dieser  Protest  teüte  das  Schicksal  aller  ihm  vorange- 
gangenen Bittschriften  und  Erklärungen:  er  wurde  dem  Ver- 
fassungsausschusse überwiesen. 

Nach  zwei  Wochen  wurde  ein  letzter  Versuch  gemacht,  auf  die 
zögernde  Nationalversammlung  vermittels  der  Pariser  Kom- 
mune einen  Druck  auszuüben.  Infolge  des  Dekrets  vom  7.  Mai 
1791  über  die  Freiheit  des  öffentlichen  Gottesdienstes  erhielten 
die  Pariser  Juden  die  Möglichkeit,  in  einem  der  öffentlichen  Ge- 
bäude ein  Bethaus  in  offizieller  Weise  zu  eröffnen.  Diese  Gelegen- 
heit wurde  von  dem  unermüdlichen  Anwalt  der  Juden,  Godard, 
aufgegriffen.  Kr  wandte  sich  an  den  Rat  der  Kommune  mit  einem 
Gesuch,  in  welchem  er  dem  Wunsche  Ausdruck  gab,  daß  auf  die 
Proklamierung  der  Freiheit  in  Sachen  der  Religion  auch  eine 
solche  in  staatsbürgerlicher  Hinsicht  folgen  möge,  da  die  eine 
ohne  die  andere  nicht  denkbar  sei.  ,, Können  sie  denn  der  Rechte 
und  des  Titels  von  Bürgern  beraubt  bleiben,  nachdem  sie  kraft  des 
Gesetzes  das  Recht,  Bethäuser  zu  errichten,  erhalten  haben? 
Können  sie  denn  nur  in  ihren  Synagogen  Bürger  sein,  außerhalb 
derselben  aber  Ausländerund  Sklaven  ?  Die  Glaubensfreiheit  bleibt 
ein  leeres  Wort,  wenn  sie  bürgerliche  Entrechtung  als  Strafe  nach 
sich  zieht.  Nein,  wenn  ihr  die  Menschen  zur  Höhe  der  religiösen 
Freiheit  erhoben  habt,  so  habt  ihr  sie  zugleich  zur  staatsbürger- 
lichen Freiheit  erhoben.  Eine  halbe  Freiheit  gibt  es  ebenso- 
wenig wie  eine  halbe  Gerechtigkeit."  Nachdem  die  Pariser  Kom- 
mune in  der  Sitzung  vom  28.  Mai  dieses  Gesuch  angehört  hatte, 
nahm  sie  folgende  Resolution  an:  ,, Überzeugt  von  der  Gerechtig- 
keit der  von  den  Juden  mit  solch  lobenswerter  Beharrlichkeit 
erneuerten  Forderung ;  genau  unterrichtet  über  die  Tatsachen,  auf 
denen  diese  Forderung  beruht  und  die  die  provisorischen  Ver- 
treter der  Stadt  schon  einmal  veranlaßt  hatten,  sie  persönlich  der 
Nationalversammlung  vorzulegen,  beschließt  die  Munizipalver- 
sammlung c  der  Nationalversammlung  von  neuem  zu  schreiben, 
ihr  das  Gesuch  der  Juden  und  den  Wunsch  der  Munizipalität  zu 
unterbreiten  und  sie  zu  bewegen,  die  Folgen  all  der  segensreichen 

109 


Prinzipien,  die  sie  soeben  durch  die  Verkündung  der  Freiheit  der 
religiösen  Überzeugung  von  neuem  geheiligt  hat,  auch  auf  die  Juden 
der  Hauptstadt  auszudehnen."  Die  Resolution,  versehen  mit  der 
Unterschrift  des  Pariser  Stadtpräfekten  Bailly,  wurde  an  die 
Nationalversammlung  abgeschickt.  Aber  in  dieser  stürmischen 
Zeit  hatte  man  an  andere  Dinge  zu  denken.  Im  Sommer  1791,  in- 
mitten der  politischen  Besorgnisse,  die  durch  die  Flucht 
Ludwigs  XVI.  nach  Varenne  hervorgerufen  waren,  hatte  man  die 
jüdische  Frage  vergessen.  Das  Land  erlebte  höchst  unruhige 
Tage,  indem  es  zwischen  Royalismus  und  Republik  unschlüssig 
hin  und  her  schwankte;  eine  neue  Phase  der  großen  Revolution 
war  in  Paris  im  Entstehen  begriffen  —  und  die  nebensächlicheren 
Fragen  des  staatlichen  Lebens  traten  zeitweüig  in  den  Hinter- 
grund. 

Endlich  aber  war  der  Augenblick  gekommen,  wo  eine  weitere 
Verschiebung  der  Lösung  der  Judenfrage  unmöglich  wurde.  Nach 
einer  zweijährigen  Arbeit  brachte  die  Konstituante  den  Text  der 
Verfassung  zum  Abschluß,  und  der  König  bestätigte,  sie 
(14.  September).  Die  Gleichberechtigung  der  Juden  ging  aus  den 
allgemeinen  Grundlagen  der  Verfassung,  die  die  Gleichheit  aller 
Bürger  vor  dem  Gesetz  festsetzte,  als  logische  Notwendigkeit 
hervor.  Es  blieb  nur  übrig,  diese  Gleichberechtigung  durch  einen 
formellen  Gesetzesbeschluß  zu  besiegeln  und  durch  einen  be- 
sonderen gesetzgeberischen  Akt  zu  verkünden.  Einer  neuen  Er- 
örterung der  Frage  bedurfte  es  nicht,  nachdem  die  Nationalver- 
sammlung die  Argumente  für  und  wider  die  Emanzipation 
während  zweier  Jahre  in  Reden,  Bittschriften,  Adressen  und 
Resolutionen  verschiedener  Institutionen  und  gesellschaftlicher 
Gruppen  zur  Kenntnis  genommen  hatte.  An  einem  der 
letzten  Tage  der  Nationalversammlung,  in  der  Sitzung  vom 
27.  September  179 1,  bestieg  der  Abgeordnete  Duport  die  Redner- 
tribüne und  sagte:  ,,Ich  meine,  daß  die  von  der  Verfassung  ein 
für  allemal  bestimmte  Glaubensfreiheit  es  nicht  mehr  gestattet, 
irgendwelchen  Unterschied  zwischen  Menschen  verschiedener 
Glaubensbekenntnisse  hinsichtlich  ihrer  politischen  Rechte  zu 
machen.  Die  Frage  wegen  der  politischen  Stellung  der  Juden 
wurde  vertagt,  während  Türken,  Muselmänner  und  Angehörige 
aller  Sekten  in  Frankreich  sich  bereits  im  Besitze  der  politischen 
Rechte  befinden.  Ich  fordere  daher  die  Aufhebung  dieser  Ver- 

iro 


tagung  und  als  Folge  davon  die  Proklamierung  eines  Gesetzes- 
beschlusses, kraft  dessen  die  Juden  in  Frankreich  in  den  Besitz 
der  Rechte  aktiver  Bürger  gelangen  sollen."  Die  Erklärung 
Duports  wurde  von  der  Versammlung  als  eine  Forderung  auf- 
genommen, die  keine  weiteren  Einwände  zuließ.  Der  Judenfeind 
Reubell  machte  den  Versuch,  gegen  den  Antrag  Duports  aufzu- 
treten, als  der  Abgeordnete  Regnault  sich  von  seinem  Sitze  er- 
hob und  rief:  „Ich  fordere,  daß  aUe  diejenigen,  die  es  nunmehr 
wagen,  gegen  diesen  Antrag  (die  Gleichberechtigimg  der  Juden) 
aufzutreten,  zur  Ordnung  gerufen  werden,  denn  ein  Angriff  auf 
diesen  Antrag  ist  zugleich  ein  Angriff  auf  die  Verfassung." 
Dieser  zornige  Ruf  eines  Konstitutionalisten  verfehlte  seine 
Wirkung  nicht:  die  Rechte  wurde  mäuschenstill,  und  die  Mehr- 
heit schloß  sich  dem  Antrage  Duports  an.  Im  selben  Augenblick 
wurde  ein  ktirzer,  aber  eindringlicher  Gesetzesbeschluß  verfaßt, 
der  in  der  darauffolgenden  Sitzung  (vom  28.  September)  durch 
einige  Wendungen,  den  Bemerkimgen  der  Abgeordneten  ent- 
sprechend, ergänzt  wurde:  „In  Anbetracht  des  Umstandes,  daß 
die  für  den  Stand  eines  französischen  Bürgers  und  für  den  Besitz 
der  Rechte  aktiver  Bürger  erforderlichen  Bedingungen  durch  die 
Verfassung  festgelegt  sind;  daß  jeder,  der  den  genannten  Be- 
dingungen geniigt,  einen  Bürgereid  leistet  und  alle  von  der  Ver- 
fassung ihm  auferlegten  Verpflichtungen  erfüllt,  ein  Anrecht  auf 
die  ihm  von  der  letzteren  gewährten  Vorteüe  besitzt,  hebt  die 
Nationalversammlung  alle  Aufschiebungen,  Vorbehalte  und  Aus- 
nahmen auf,  die  in  den  früheren  Beschlüssen  hinsichtlich  der 
Juden,  die  einen  Bürgereid  geleistet  haben,  enthalten  waren; 
dieser  Eid  ist  nur  als  ein  Verzicht  auf  alle  die  Privilegien  und 
Sondergesetze  aufzufassen,  die  früher  für  sie  gegolten  habeni)^* 
Die  judenfeindlichen  Abgeordneten  in  der  Nationalversamm- 
lung konnten  auch  in  diesem  letzten  Augenblick  den  Triumph  der 
Gleichberechtigung  nicht  ruhig  hinnehmen.  Da  sie  keine  Möglich- 
keit vor  sich  sahen,  diesen  Akt  zu  verhindern,  so  suchten  sie 
wenigstens  den  Juden  die  Freude  etwas  zu  vergällen.  Als  in  der 

*)  Der  letzte  Satz  wurde  auf  Drängen  einiger  Abgeordneter  aufgenommen, 
die  darauf  hinwiesen,  daß  die  Juden  nach  der  alten  Gesetzgebimg  ihre  „Privi- 
legien" haben  und  daß  die  Verleihung  der  Gleichberechtigung  an  sie  mit  diesen 
Privilegien  unvereinbar  sei.  Es  wurde  damit  beabsichtigt,  die  Gemeindeauto- 
nomie und  die  nationalkulturellen  Einrichtungen  der  Juden  einzuschränken 
oder  sogar  ganz  abzuschaffen. 

III 


Sitzung  vom  28.  September  die  Klauseln  zu  dem  von  Duport 
verfaßten  Beschluß  zur  Verhandlung  kamen,  machte  Reubell  den 
Versuch,  die  Kammer  durch  das  Gespenst  einer  „Volkserhebung, 
die  durch  diese  Beschlüsse  im  Elsaß  hervorgerufen  werden  würde", 
einzuschüchtern.  Um  Ausschreitungen  gegen  die  Juden  vorzu- 
beugen, beantragte  er,  die  christliche  Bevölkerung  im  Elsaß  für 
die  jüdische  Gleichberechtigung  zu  entschädigen,  und  zwar  auf 
folgende  Weise:  da  die  Verschuldung  der  christlichen  Bevölke- 
rung an  die  jüdischen  Gläubiger  sehr  groß  sei  (der  Betrag 
dieser  Schulden  im  Elsaß  soll  die  Höhe  von  12 — 15  Mülionen 
l4vres  erreicht  haben),  müsse  die  Regierung  die  Liquidierung 
dieser  Schulden  auf  dem  Wege  einer  Kürzung  des  Schuldbetrages 
um  zwei  Drittel  vornehmen;  mit  dieser  Maßnahme  hätten  sich 
angeblich  auch  die  Juden  einverstanden  erklärt;  und  daher  seien 
die  lokalen  Behörden  zu  beauftragen,  an  alle  jüdischen  Gläubiger 
die  Forderung  ergehen  zu  lassen,  binnen  eines  Monats  genaue  An- 
gaben über  die  ausgeliehenen  Summen  vorzulegen;  dann  müsse 
man  Erkundigungen  über  die  Zahlungsfähigkeit  der  Schuldner 
einziehen,  einen  Liqmdierungsentwurf  ausarbeiten  und  das  ge- 
samte Material  nach  Paris  schicken,  um  es  der  gesetzgebenden 
Versammlung  zu  unterbreiten.  Auf  diese  Weise  —  versicherte 
Reubell  —  würde  die  Kammer  zeigen,  daß  sie  die  Volksinteressen 
wirklich  wahrnimmt  und  die  christliche  Bevölkerung  im  Elsaß 
mit  der  jüdischen  Gleichberechtigung  versöhnen  will.  Der 
Reubellsche  Antrag  wurde  von  der  Nationalversammlung  an- 
genommen ...  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  auf  dem 
Boden  der  Kreditoperationen  entstandenen,  verworrenen  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  eine  offizielle  Einmischung  und  Regelung 
dringlich  erforderten,  damit  beide  Teile  aus  diesem  finanziellen 
Sumpfe,  dem  Erbe  des  alten  Regimes  herauskämen.  Und  doch 
mußte  das  Zusammenfallen  eines  derartigen  Beschlusses  mit  dem 
feierlichen  Emanzipationsakte  einen  deprimierenden  Eindruck 
machen.  Beide  Gesetzesbeschlüsse  —  der  über  die  Gleichberech- 
tigung und  der  über  die  Liquidierung  —  wurden  an  ein  und  dem- 
selben Tage  angenommen,  und  man  konnte  sich  des  Eindruckes 
nicht  erwehren,  als  sei  die  Gleichberechtigung  den  Juden  als  Entgelt 
für  die  zwangsmäßige  Tilgung  ihrer  Guthaben  verliehen  worden. 
§  19.  Patriotismus  der  Freiheit;  Opfer  der  Schreckensherr- 
schaft.   Seit  den  ersten  Revolutionstagen  waren  viele  Juden, 

112 


und  insbesondere  die  von  der  Freiheitsbewegung  hingeris- 
senen Pariser  Juden  von  jenem  Patriotismus  ergriffen,  der 
zu  jener  Zeit  die  I^iebe  zur  Freiheit  und  zur  Heimat  der  Freiheit, 
zum  Lande,  das  als  erstes  die  Rechte  des  Bürgers  und  des  Men- 
schen verkündet  hatte,  bedeutete.  (Als  Patrioten  wurden  be- 
kanntlich die  Anhänger  der  Revolution  bezeichnet.)  In  den  neuen 
Losungen  der  „Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlichkeit"  hörten 
die  Nachkommen  der  alten  Propheten  heimatliche  Töne,  die 
jahrhundertelang  vom  Kllirren  der  Sklavenketten  übertönt 
geworden  waren  .  .  .  Dieser  mächtige  Einfluß  der  revolutionären 
Atmosphäre  im  Zusammenhang  mit  der  vorangehenden  Ein- 
wirkung der  aufklärerischen  Ideen  des  XVIII.  Jahrhimderts  er- 
klärt den  so  raschen  Eintritt  der  Menschen,  die  gestern  noch  in 
sich  verschlossen  und  staatsbürgerlich  isoliert  lebten,  ins  poli- 
tische Leben.  Die  regste  politische  Aktivität  entfalteten  natür- 
lich die  Pariser  Juden.  Welchen  Grad  diese  Aktivität  erreicht 
hatte,  ist  daraus  zu  ersehen,  daß  die  kleine  jüdische  Kolonie  von 
Paris  schon  im  ersten  Revolutionsjahr  loo  FreiwiUige  in  die 
Nationalgarde  stellte.  Zur  selben  Zeit  traten  die  Juden  auch  den 
verschiedenen  einflußreichen  politischen  Klubs,  wie  dem  der 
Jakobiner  und  der  Feuillants  als  Mitglieder  bei.  Sie  beteiligten 
sich  auch  an  den  Sektions-  und  Bezirksversammlungen  der 
Pariser  Bürger.  An  diesen  Herden  politischer  Tätigkeit  erwarben 
sich  die  jüdischen  Politiker  die  Erfahrung  und  die  Energie,  die  sie 
im  Kampfe  für  ihre  Gleichberechtigung,  in  ihrer  außerparlamen- 
tarischen Agitation  und  in  der  unablässigen  Beeinflussung  der 
Nationalversammlung,  der  Pariser  Kommune  und  der  Presse, 
zeigten. 

In  der  Presse  hatten  die  Juden  nur  wenige  Vertreter.  Der 
tätigste  unter  ihnen  war  der  alte  Kämpfer  für  die  Sache  der 
Emanzipation,  der  bereits  genannte  patriotische  Schriftsteller 
Salkind  Hurwitz.  Seine  Aufsätze  in  der  radikalen  Pariser  Presse 
(„Chronique  de  Paris"  u.  a.  m.),  die  er  mit  „Polonais"  neben 
seinem  Namen  unteischrieb,  lenkten  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  durch  ihren  originellen,  scharfsinnigen  Stil,  einen  Vorläufer 
des  sarkastischen  Stües  Börnes.  Als  die  jüdische  Frage  in  der 
Nationalversammlung  vertagt  wurde,  veröffentlichte  Hurwitz 
einen  Brief  in  der  „Chronique  de  Paris"  (am  22.  Februar 
1790),    in   dem   er    die    ,, Kasuisten    aller   Religionen"   in  iro- 

8    Dnbnow,  Geschichte  der  Juden  I  H3 


nißcher  Weise  ersuchte,  folgenden  ihn  quälenden  Zweifel  zu 
lösen:  einerseits  hätte  er,  der  Verfasser,  den  „Bürgereid"  ge- 
leistet, daß  er  die  auf  der  Anerkennung  der  Menschenrechte  be- 
ruhende Verfassung  respektieren  werde;  andererseits  aber  ver- 
pflichte ihn  der  Beschluß  der  Nationalversammlung,  diese 
selben  Rechte  solchen  Menschen  nicht  zuzuerkennen,  die  ihren 
Gottesdienst  in  hebräischer  Sprache  verrichten  und  das  Glück, 
in  Bordeaux  oder  Avignon  geboren  zu  sein,  nicht  liaben  ,  .  . 
Hurwitz  beantwortete  auch  die  Parlamentsreden  des  Abbe 
Maury  und  die  Auslassungen  der  klerikalen  Presse  mit  bissigen 
polemischen  Aufsätzen.  Als  die  durch  das  Dekret  über  die  Ent- 
eignung der  Kirchengüter  aufgebrachte  katholische  Geistlichkeit 
gegen  die  Juden  zu  hetzen  begann,  ließ  Hurwitz  einen  satyrischen 
Aufsatz  erscheinen,  in  welchem  er  die  Kundigen  bat,  ihm,  dem 
Laien  „einige  physische  und  moralische  Erscheinungen  aus  der 
Naturgeschichte  der  Geistlichkeit"  klarzumachen. 

Nach  der  Proklamierung  der  Emanzipation  schwoll  die  patrio- 
tische Stimmung  der  Juden  noch  mehr  an.  Begeisterte  Briefe  und 
Dankhymnen  Befreiter  erschienen  in  den  Zeittmgen.  Ein  ge- 
wisser Samuel  Levy,  der  sich  den  sonderbaren  Titel:  „Fürst  der 
Gefangenschaft,  Oberhaupt  der  westlichen  und  östlichen  Syna- 
gogen" zugelegt  hatte,  schrieb  folgenden  Brief,  der  mit  be- 
sonderer Rührung  gelesen  wurde:  „Frankreich,  das  als  erstes  die 
Schmach  Judas  beseitigte,  ist  unser  Palästina;  seine  Berge  sind 
unser  Zion,  seine  Flüsse  —  unser  Jordan.  Lasset  uns  das  lebendige 
Wasser  seiner  Quellen  trinken :  es  ist  das  Wasser  der  Freiheit .  .  . 
Die  Freiheit  hat  nur  eine  Sprache,  und  alle  Menschen  kennen 
ihr  Alphabet.  Die  Nation,  die  mehr  als  alle  anderen  geknechtet 
war,  wird  für  die  Nation  beten,  die  die  Fesseln  der  Sklaven  löste. 
Frankreich  ist  die  Zuflucht  der  Bedrängten"  .  .  .  Viele  Juden 
riefen  beim  Leisten  des  Bürgereides  die  revolutionäre  Losung 
jener  Zeit:  ,,Als  Freie  leben  oder  sterben."  Ihre  Anhänglichkeit 
an  das  Vaterland  bemühten  sich  die  Juden  durch  „patriotische 
Gaben",  d.  h.  durch  reiche  Spenden  für  gemeinnützige  Zwecke 
zu  bezeugen.  Solche  Spenden  wurden  in  jenem  Jahre  der  Finanz- 
krise und  der  Kraftanspannung  des  ganzen  Landes  im  Kriege 
gegen  die  europäische  Koalition  (1792 — 1793)  sehr  geschätzt. 
Die  Spenden  bestanden  aus  barem  Geld  und  auch  Gegenständen: 
zuweilen  gab  man  das  Letzte  hin;  für  Kriegszwecke  wurde  auch 

114 


die  Ausstattung  einiger  Bethäuser  gespendet.  Der  Krieg  er- 
heischte auch  Opfer  an  Blut,  und  jüdische  Soldaten  zogen  an  die 
Grenze  unter  die  Kugeln  der  Preußen  und  Österreicher.  Die 
Grenzgebiete  Elsaß  und  Lothringen  befanden  sich  in  der  Kri^s- 
zone,  und  die  Juden  teilten  mit  allen  anderen  Bürgern  die  Sorgen 
und  Lasten  der  unruhigen  Zeit.  Im  Jahre  1793  wählte  die  fran- 
zösische Armee  ungefähr  2000  Juden.  Dies  hinderte  übrigens 
die  judenfeindliche  Einwohnerschaft  der  Stadt  Nancy  nicht,  in 
einem  von  ihr  im  selben  Jahre  gefaßten  Beschlüsse  zu  er- 
klären, daß  die  Vertreibung  sämtlicher  Juden  aus  Frank- 
reich eine  wünschenswerte  Maßregel  wäre.  Als  dieser  Beschluß 
dem  Jakobinerklub  in  Paris  mitgeteüt  wurde,  dekretierte  er 
folgendes:  ,,Die  Republik  kennt  nicht  das  Wort  Jude,  denn 
dieses  Wort  bezeichnet  im  gegenwärtigen  Augenblick  nicht  ein 
Volk,  sondern  eine  Sekte;  nun  erkennt  die  Republik  keine  Sekten 
an  und  hat  nicht  die  Absicht,  Sektierer  auszuweisen,  es  sei  denn, 
daß  letztere  sich  eine  Verletzung  der  gesellschaftlichen  Ordnimg 
zuschulden  kommen  lassen"  .  .  .  Unwillkürlich  drängt  sich  der 
Gedanke  auf:  was  wäre,  wenn  die  Juden  in  der  Eigenschaft  als 
Volk,  als  Nation  anerkannt  worden  wären  ?  .  .  . 

Die  jähen  Schwenkungen  der  Revolution  nach  der  Seite  des 
Despotismus  und  der  Schreckensherrschaft  hin  in  der  Zeit  des 
Konvents  von  1793 — 1794  trafen  zuweilen  auch  die  jüdischen 
Bürger  sehr  empfindlich.  Das  Dekret  des  Konvents  vom  No- 
vember 1793  über  die  Einführung  des  ,, Kultus  der  Vernunft", 
anstatt  des  katholischen  Gottesdienstes  erstreckte  sich  in  der 
Praxis  auch  auf  die  jüdische  Religion.  All  jene  Szenen  freiwilliger 
oder  erzwungener  Lossagung  von  der  Religion,  die  sich  in  aus- 
gedehntem Maße  unter  den  katholischen  Bürgern  abspielten, 
wiederholten  sich  auch  unter  den  Juden.  An  den  im  Revolutions- 
kalender festgesetzten  Feiertagen,  den  ,, Dekaden",  führten  die 
Pariser  jüdischen  Schullehrer  Ahron  Polak  und  Jakob  Kohen 
ihre  Schüler  in  den  „Tempel  der  Vernunft",  in  den  die  katholische 
Notre-Dame-Kirche  verwandelt  war.  Manche  jüdischen  Bet- 
häuser stellten  ihre  „Beute",  d.  h.  die  wertvollen  Gottesdienst- 
utensilien dem  Konvent  oder  den  städtischen  Kommunen  zur 
Verfügung;  sie  folgten  hierin  dem  Beispiele  vieler  katholischer 
Kirchen,  dieser  ,, Lügen buden",  wie  man  sie  zu  jener  Zeit  nannte. 
Die  Deputation  einer  der  Pariser  Synagogen  gab  am  Gitter  des 

«*  115 


Konvents  die  Erklärung  ab:  „Unsere  Vorfahren  haben  uns  Ge- 
setze überliefert,  die  vom  Gipfel  eines  Berges  (Sinai)  verkündet 
worden  waren;  die  Gesetze,  die  ihr  Frankreich  gebet,  gehen  von 
einem  Berge^)  aus,  den  wir  nicht  minder  verehren.  Wir  sprechen 
euch  dafür  unseren  Dank  aus"  . .  .  Ein  „jüdischer  GeistHcher" 
Salomon  Hesse,  überreichte  einer  Sektionsversammlung  der 
„Freunde  des  Vaterlandes"  in  Paris  seinen  sübergestickten  Gebet- 
mantel und  erklärte,  daß  er  „keinen  anderen  Gott  als  den  der 
Freiheit,  und  keine  andere  Religion  als  die  der  Gleichheit" 
kenne.  Ähnliche  Szenen  spielten  sich  auch  in  der  Provinz  ab.  In 
Avignon  lieferten  die  ,, unter  dem  Namen  Juden  bekannten 
Bürger"  alle  „Maschinen  aus  Gold  und  Silber",  deren  sie  sich  bei 
ihrem  Gottesdienste  bedienten,  an  die  Kreisverwaltung  ab.  Im 
rabbinischen  Zentrum  Lothringens,  Metz,  wurden  die  „Gesetzes- 
tafeln Mosis"  und  die  ThoraroUen  aus  Pergament  vernichtet. 
,,Die  auf  Häuten  geschriebenen  Gesetze  dieses  gewandten  Be- 
trügers (Mosis)",  erklärte  triumphierend  der  ,, Republikanische 
Kurrier",  ,, werden  mm  zur  Bespannung  von  Trommeln  dienen, 
um  Attacken  zu  schlagen  und  die  Mauern  des  neuen  Jerichos 
umzuwerfen."  Und  das  Blatt  versicherte,  daß  sich  unter  den 
Juden  kein  Mensch  darüber  grämte,  außer  einigen  „von  dummen 
Vorurteüen  befangenen  Weibern".  In  Nancy  mußten  die 
Juden  auf  Befehl  eines  Munizipalbeamten  ihre  „mystischen  Per- 
gamente" und  die  goldenen  und  silbernen  Verzierungen  und 
Embleme  ihres  Kults  abliefern.  In  Paris  forderten  die  sans- 
culottischen Blätter,  daß  man  den  Juden  verbieten  sollte,  ihre 
Neugeborenen  zu  beschneiden;  der  Konvent  schenkte  aber  dem 
keine  Beachtung.  Es  wurden  auch  Versuche  gemacht,  den  Juden 
die  Sabbatfeier  zu  verwehren,  in  Anbetracht  dessen,  daß  doch 
ein  Bürgersabbat,  die  Dekade,  als  Ruhetag  festgesetzt  sei;  an 
einigen  Orten  zwang  man  jüdische  Händler,  ihre  Läden  an  Sab- 
baten offen  zu  halten.  In  Metz  hatten  die  Juden  große  Angst  aus- 
zustehen, als  sie  ihre  Passahbrote  (Mazzes)  buken,  da  sie  be- 
fürchteten, wegen  „Aberglaubens"  angezeigt  und  angeklagt  zu 
werden.  Eine  Frau  erwirkte  aber  bei  der  Behörde  die  Erlaubnis, 
das  Passahfest  als  Gedenktag  der  pohtischen  Befreiung  der 
israelitischen  Nation  zu  feiern.  Es  kamen  auch  Fälle  von  Ver- 

^)  „D'une  Montagne"  —  Anspielung  auf  den  damals  herrschenden  linkten 
Flügel  des  Konvents,  der  ..Montagnards". 

ii6 


gewaltigungen  vor:  fanatische  Anhänget  des  „Kultes  der  Ver- 
nunft" und  der  aus  Rand  und  Band  geratene  Pöbel  drangen  in 
die  Synagogen  ein,  verbrannten  die  Thorarollen  und  die  heiligen 
Bücher  („gaben  ihre  lügenhaften  Bücher  dem  Feuer  patriotischer 
Scheiterhaufen  preis"  —  wie  die  offiziellen  Berichte  lauteten) 
und  schlössen  die  S3magogen;  einige  Rabbiner  im  Elsaß  hatten 
Verfolgungen  zu  erdulden. 

Im  Frühjahr  1794  wurde  die  „Religion  der  Vernunft"  vom 
Robespierrischen  deistischen  Kult  des  Höchsten  Wesens  abge- 
löst: die  Religionsverfolgungen  hörten  auf  —  aber  die  Schreckens- 
herrschaft wütete  weiter.  Die  Revolution  verschlang  ihre  eigenen 
Kinder :  unter  dem  Messer  der  Guillotine  fielen  hintereinander  die 
Köpfe  der  Girondisten,  Hebertisten,  Dantonisten;  die  Reihe  kam 
an  die  Partei  Robespierres.  Da  die  Juden  sich  an  verschiedenen 
politischen  Parteien  und  Klubs  beteiligten,  so  wurden  sie  auch 
vom  roten  Flügel  des  Terrors  getroffen.  Schon  die  Dekrete  des 
Konventes  vom  Jahre  1793  über  die  Verhaftung  aller,  die  sich 
einer  unfreundlichen  Haltung  gegenüber  der  Republik  verdächtig 
machten,  und  über  die  Ausweisung  aller  ,, Aristokraten"  und 
Ausländer  versetzten  viele  Pariser  Juden  in  eine  unerträgliche 
Lage.  Die  einen  wurden  auf  den  Verdacht  hin  verhaftet,  daß  sie 
fremdländischer  Herkunft  seien,  die  anderen  unter  der  Anklage 
eines  ,, verstockten  Aristokratismus",  die  dritten  —  wegen  der 
Zugehörigkeit  zu  der  Partei,  die  im  gegebenen  Augenblick  von 
den  zuständigen  Revolutionsausschüssen  dem  Untergange  ge- 
weiht war.  Der  jüdische  Politiker  aus  Bordeaux,  der  Girondist 
Furtado  mußte  flüchten,  um  dem  traurigen  Los  der  Idealisten  der 
Revolution,  der  Girondisten  zu  entgehen  (1793).  Verhaftungen 
und  Einsperrungen  wurden  des  öfteren  auf  falsche  Angaben  hin 
vorgenommen ;  man  unterzog  die  Verhafteten  und  Eingesperrten 
einem  gerichtlichen  Verhör,  worauf  sie  in  den  meisten  Fällen 
freigelassen  wurden;  zuweÜen  aber  hatten  die  Verhaftungen 
ernste  Folgen.  Einige  jüdische  Bankiers  und  Kaufleute  aus  Bor- 
deaux wurden  zu  beträchtlichen  Geldbußen  verurteilt,  weü  sie 
früher  in  Beziehungen  zum  königlichen  Hof  und  der  Aristokratie 
gestanden  hatten  oder  auch  einen  nicht  genügenden  Eifer  für  die 
Sache  der  Revolution  an  den  Tag  legten.  Der  Bankier  Peixotto 
wurde  neben  allen  diesen  Versündigungen  auch  noch  des  Ver- 
suches beschuldigt,  unter  dem  alten   Regirgie  den  Titel  eines 

117 


Adligen  zu  erlangen,  wobei  er  sich  auf  seine  Abstammung 
vom  biblischen  Geschlechte  I^evi  berufen  hätte.  Auf  Grund 
solcher  kurioser  Beschuldigungen  verurteilte  ihn  die  Kiiegs- 
kommission  zu  Bordeaux  zu  einer  Geldbuße  im  Betrage  von 
I  200  000  lyivres.  Nicht  immer  begnügte  man  sich  aber  mit 
Geldbußen:  mehrere  jüdische  Köpfe  kamen  unter  das  Messen 
der  Guülotine. 

Jakob  Pereira  bestieg  als  einer  der  ersten  das  Blutgerüst. 
Südfranzose  von  Geburt,  übersiedelte  er  im  Jahre  1790  nach 
Paris,  wo  er  eine  Tabakfabrik  gründete  und  sich  in  den  politischen 
Strudel  der  Hauptstadt  stürzte.  Er  schloß  sich  den  extremen 
linken  Parteien  an  und  wurde  zu  einem  hervorragenden  Reprä- 
sentanten des  Jakobinerklubs.  Als  die  „Religion  der  Vernunft" 
offiziell  eingeführt  wurde,  beteiligte  sich  Pereira  in  Gemeinschaft 
mit  dem  Kosmopoliten  Anacharsis  Klotz,  dem  „Redner  des 
Menschengeschlechtes"  an  einer  antikatholischen  Demonstration, 
die  ganz  Frankreich  in  Aufregung  versetzte.  Beide  Jakobiner 
kamen  zum  Pariser  Bischof  Gobel  und  forderten  ihn  auf,  vor 
dem  Konvent  zu  erscheinen,  um  sich  da  von  seinen  ,,Verirrungen" 
öffentlich  loszusagen,  d.  i.  sein  geistiges  Amt  niederzulegen.  Der 
eingeschüchterte  Bischof  begab  sich  nach  einigem  Widerstand 
vor  den  Konvent,  wo  er  die  Erklärung  abgab,  daß  er  auf  sein 
Amt  verzichte.  Er  legte  das  Kreuz  ab  und  setzte  die  rote  Mütze 
auf,  die  ihm  einer  von  den  Umstehenden  unter  dem  begeisterten 
Beifall  des  gesamten  Konvents  auf  den  Kopf  stülpte.  Die  Be- 
teiligung Pereiras  an  dieser  Komödie  besiegelte  sein  Schicksal. 
Als  Robespierre  bald  darauf,  nach  der  Abschaffung  des  Vemunf t- 
kultes  einen  Feldzug  gegen  die  „Missionäre  der  atheistischen 
Religion"  eröffnete  und  einen  Prozeß  gegen  die  Terroristen  aus 
der  Hebertschen  Partei  anstrengte,  geriet  auch  Pereira  in  Ge- 
meinschaft mit  Anacharsis  Klotz  unter  die  Angeklagten.  Nach 
einer  fünfmonatlichen  Haft,  wurde  Pereira  wegen  angeblicher 
„Beteiligung  an  einer  die  Vernichtung  der  nationalen  Vertre- 
tung (des  Konventes),  die  Ermordung  ihrer  Mitglieder  und  den 
Sturz  der  Republik  bezweckenden  Verschwörung"  vom  Revo- 
lutionstribunal zum  Tode  verurteilt.  Er  wurde  im  gleichen 
Wagen  mit  Hebert,  Klotz  und  den  anderen  auf  den  Richtplatz 
geschafft.  Unter  den  lauten  Schreien  der  Menge:  ,,Es  lebe  die 
Republik"  fiel  der  Kopf  des  jüdischen  Demagogen. 

118 


Einen  Monat  später  kam  der  Prozeß  der  Dantonisten  zur  Ver- 
handlung,  und  unter  diesen  befanden  sich  zwei  Angeklagte  jüdi- 
scher Abstammung:  die  Brüder  Frey.  Aus  Österreich,  wo  ihr 
Vater,  ein  reicher  Armeeheferant,  zum  Christentum  übergetreten 
war,  übersiedelten  die  Brüder  Julius  und  Emanuel  Frey  samt  ihrer 
jugendlichen  Schwester  Leopoldine  nach  Paris,  um  die  „Wohl- 
taten der  Freiheit"  zu  genießen  (1792).  Hier  trat  die  Famüie  Frey 
in  nähere  Beziehungen  zu  den  Montagnarden,  insbesondere  zu  dem 
rohen  Demagogen  Chabeau,  einem  ehemaligen  Kapuziner.  Um 
ihr  Bündnis  mit  der  Revolution  zu  befestigen,  verheirateten  die 
Brüder  ihre  sechzehnjährige  Schwester  mit  Chabeau,  indem  sie 
ihm  das  schöne  Mädchen  mit  einem  ansehnlichen  Vermögen  als 
Mitgift  beinahe  aufdrängten.  Das  Ehebündnis  erwies  sich  als 
verhängnisvoll  für  beide  Teüe.  Als  Chabeau  bald  darauf  in 
die  Netze  der  revolutionären  Spionage  geriet,  wurde  gegen 
ihn  die  Anklage  erhoben,  daß  er  sich  mit  einer  Österreicherin 
verheiratet  und  Geld  aus  dem  Auslande  erhalten  habe,  um  einen 
Staatsstreich  zu  inszenieren.  Die  Freys  wurden  beschuldigt,  eine 
Verschwörung  angezettelt  zu  haben,  zum  Zwecke,  „das  Prestige 
der  republikanischen  Regierung  mittels  Bestechungen  zu  unter- 
graben". Die  beiden  Brüder,  von  denen  der  eine  36,  der  andere 
27  Jahre  alt  war,  wurden  vom  Revolutionstribunal  verurteüt  und 
zugleich  mit  Chabeau,  Danton,  Desmoulins  tmd  anderen  Revo- 
lutionshelden im  Aprü  1794  hingerichtet.  Freigesprochen  und  am 
I/cben  gebheben  war  nur  die  nach  halbjähriger  Ehe  verwitwete 
I/Copoldine  Frey,  eine  zarte,  vom  Revolutionssturm  gebrochene 
und  vernichtete  Blüte. 

Eine  andere  Tragödie  spielte  sich  in  der  FamiUe  des  jüdischen 
Barons  Liefmann  Kalmer,  eines  Einwanderers  aus  Holland,  ah, 
der  sich  in  Frankreich  lange  vor  der  Revolution  naturalisiert  hatte. 
Von  seinen  beiden  Söhnen  stand  der  eine,  Isaak  Kalmer 
in  den  Reihen  der  wildesten  Sansculotten  („ein  Sansculotte  mit 
200000  Livres  Jahreseinkommen"),  der  andere  aber  sympathi- 
sierte mit  den  Royaliöten;  beide  Brüder  wurden  durch  die 
Schreckensherrschaft  von  zwei  Polen  der  politischen  Welt 
heruntergeholt  und  vor  die  Stufen  des  Schafotts  gebracht.  Isaak 
Kalmer,  ein  tätiges  Mitglied  des  revolutionären  Ausschusses  von 
Clichy  (bei  Paris),  in  dem  er  öfters  den  Vorsitz  führte,  wurde  von 
seinen  politischen  Gegnern  der  despotischen  Willkür,  der  ver- 

119 


letzenden  Behandlung  der  Munizipalitätsbeamteii  und  der 
Terrorisierung  der  Bürger  von  Clichy  angeklagt.  Kraft  eines  vom 
Revolutionstribunal  gefällten  Urteils,  wurde  er  im  Juni  des  Jahres 
1794  hingerichtet.  Sein  jüngerer  Bruder,  Louis-Benjamin, 
wurde  unter  der  Anklage,  „die  extremen  Roy  allsten  und  Konter- 
revolutionäre unterstützt  zu  haben",  ins  Gefängnis  geworfen. 

Die  Anklage  gründete  sich  darauf,  daß  er,  als  er  während  des 
Aufenthaltes  der  königlichen  Familie  in  den  Tuilerien  Grenadier 
war,  des  öfteren  ins  Schloß  gekommen  sei  und  mit  dem  Könige 
und  der  Königin  gesprochen  habe;  auch  daß  er  Aufträge  des 
„verächtlichen  Höflings"  Lafayette  ausgeführt  und  in  dessen 
Namen  Medaillen  verteüt  habe.  Im  Mai  1794  wurde  auch  der 
zweite  Kalmer  vom  Revolutionstribunal  zum  Tode  verurteilt 
und  bald  darauf  guillotiniert.  Die  Guillotine  drohte  auch  der 
Schwester  der  hingerichteten  Kalmers,  Sarah,  die  durch  einen 
glücklichen  Zufall  dem  Tode  entrann;  sie  war  im  Gefängnisse 
etwas  länger  als  ihre  Brüder  geblieben,  inzwischen  aber  voll- 
zog sich  der  Umsturz  vom  Termidor,  der  der  blutigen  Dik- 
tatur Robespierres  ein  Ende  setzte  (Juli  1794).  Die  eingekerkerte 
Jüdin  wurde  mit  allen  anderen  zum  Tode  verurteilten  Ge- 
fangenen freigelassen. 

Jüdische  Namen  tauchen  auch  in  den  politischen  Prozessen  der 
folgenden  Jahre,  der  Zeit  der  „Beruhigung",  auf.  Wenn  zur 
Z&t  des  Konvents  der  Verdacht  eines  mangelnden  Radikalismus 
genügte,  um  ins  Gefängnis  geworfen  zu  werden,  so  wurden  in  den 
Jahren  des  Direktoriums  {1795 — 1796)  Prozesse  gegen  Personen 
angestrengt,  die  sich  des  extremen  Jakobinertums  verdächtig 
machten.  Dies  alles  berührte  jedoch  nur  die  Interessen  einzelner 
Personen  und  wurde  nicht  der  ganzen  jüdischen  Bevölkerung  als 
solcher  auf  die  Rechnung  gesetzt. 

§  20.  Die  ersten  Früchte  der  Emanzipation  (1796  bis  1806). 
Das  Jahrzehnt  zwischen  dem  Direktorium  und  der  Errich- 
tung des  Napoleonischen  Kaiserreichs  war  im  Leben  der  fran- 
zösischen Juden  durch  keine  hervorragenden  Geschelmisse  aus- 
gezeichnet, aber  es  ebnete  den  Weg  zu  den  Ereignissen  der 
darauffolgenden  Jahre.  In  dieser  Zeit  reiften  die  ersten  Früchte 
der  Emanzipation  heran,  die  süßen  wie  die  bitteren.  Das  bürger- 
liche und  insbesondere  das  wirtschaftliche  Wachstum  der  jü- 
dischen Bevölkerung  löste  seitens  der  von  diesem  Wachstum  ge- 

120 


troffenen  fremden  Interessen  eine  Gegenwirkung  aus,  und  unter 
der  Sonne  der  Freiheit  reifte  eine  Frucht  heran,  die  ihre  Säfte  aus 
dem  Boden  der  Knechtschaft  sog. 

Seit  der  Revolutionszeit  nahm  die  jüdische  Bevölkenmg  Frank- 
reichs zusehends  zu.  Die  jüdische  Einwanderung  aus  dem  be- 
nachbarten Deutschland  nach  den  östlichen  Departements 
Frankreichs,  nach  Elsaß  und  Lothringen,  gewann  an  Ausdehnung; 
die  entrechteten  Bewohner  des  deutschen  Ghettos  fanden  hier 
eine  ihr  in  Lebensgestaltung  und  Sprache  (jüdisch-deutsche 
Mundart)  verwandte  jüdische  Bevölkerung  vor  und  akklimati- 
sierten sich  rasch  den  neuen  Verhältnissen.  Viele  von  ihnen 
drangen  noch  tiefer  ins  Land  und  gingen  insbesondere  nach  Paris, 
dessen  jüdische  Bevölkerung  in  fünfzehn  Jahren  auf  das  Dreifache 
gestiegen  war:  um  das  Jahr  1806  lebten  da  an  die  3000  Juden. 
Eine  bedeutende  jüdische  Gemeinde  büdete  sich  in  Straßburg, 
das  früher  den  Juden  verschlossen  war.  Die  Eroberungen  der 
französischen  Revolution  und  des  Kaiserreichs  (Belgien,  Hol- 
land, die  Schweiz,  Teüe  Italiens  und  Deutschlands)  hatten  eine 
mechanische  Vergrößerung  der  jüdischen  Bevölkerung  im  Ge- 
folge, die  in  den  ersten  Jahren  des  Kaiserreichs  (1804 — 1808)  die 
Zahl  135  600  überstieg.  Ungefähr  die  Hälfte  davon  entfiel  auf 
die  rein  französischen  Departements. 

Diese  ganze  Menschenmasse  zeigte  sich  bestrebt,  ihre  Kräfte 
im  Lande  der  Freiheit  zu  entfalten;  aber  jene  stürmische  Zeit 
war  nicht  dazu  angetan,  das  normale  Wachstum  des  befreiten 
Volkes  zu  fördern.  Die  inneren  Revolutionskrisen  wurden  von 
einer  Periode  imunterbrochener  äußerer  Kriege  abgelöst.  Der 
Drang  nach  Freiheit  machte  dem  Drange  nach  militärischem 
Ruhme  Platz,  der  den  Müitarismus  Napoleons  I.  so  üppig  empor- 
schießen ließ.  Unwillkürlich  mußten  die  Juden  in  dieses  Fahr- 
wasser hineingeraten,  das  die  bürgerlichen  Tugenden  in  die 
Kasernen  und  auf  die  blutigen  Schlachtfelder  mit  sich  riß.  Sie 
lieferten  nicht  wenig  Stoff  für  jenes  Kanonenfutter,  das  der 
,,Ruhm  Frankreichs"  benötigte.  Durch  die  starken  Aushebimgen 
wurden  die  jugendlichen  Reihen  der  jüdischen  Bevölkerung  er- 
heblich gelichtet.  Die  Juden  begäben  sich  unter  die  Fahnen  der 
Republik  und  des  Kaiserreiches,  indem  sie  persönlich  den  Militär- 
dienst leisteten  oder  gedungene  Söldner  stellten.  Es  gab  unter 
ihnen  auch,  viele  Freiwillige  und  Berufssoldaten,  die  es  zuweüen 

121 


bis  zum  Offiziersrange  brachten.  Die  I^age  der  Juden  unter  ihren 
christlichen  Kameraden  war  mitvmter  eine  sehr  schwierige;  dies 
bewog  viele  Juden  im  Heere,  ihre  Abstammung  zu  verheimlichen 
und  ein  militärisches  Pseudonym  (nom  de  guerre)  anztmehmen. 
In  dem  Maße,  als  sich  die  Aushebungen  verstärkten,  und  die 
„Blutsteuer"  immer  unerträglicher  wurde,  wuchs  auch  die  Zahl 
der  Drückeberger.  Die  Präfekte  der  östlichen  Departements  be- 
richteten darüber,  daß  viele  Juden  zur  Musterung  überhaupt 
nicht  erschienen,  daß  die  jüdischen  Geburtsscheine  rücht  in 
Ordnung  seien,  und  daß  viele  jüdische  Eltern  ihre  Kinder  männ- 
lichen Geschlechts  unter  Mädchennamen  eintragen  ließen,  um 
sie  dem  Militärdienste  zu  entziehen.  Trotzdem  Fälle  des  Nicht- 
erscheinens zur  Musterung  und  selbst  solche  der  Fahnenflucht 
sich  auch  unter  den  Christen  immer  häuften,  wurden  sie 
doch  den  Juden  besonders  zur  Last  gelegt,  da  man  darin  einen 
Mangel  an  staatsbürgerlichem  Gefühl  erbhckte.  Daß  die  Juden 
der  Beteiligung  an  den  Hekatomben  Napoleons  I.,  der  im  Ver- 
laufe von  fünfzehn  Jahren  über  drei  Millionen  Menschen  unter  die 
Fahnen  sammelte,  sich  zu  entziehen  suchten,  galt  für  viele  als 
Beweis  dafür,  daß  sie  die  Gleichberechtigimg  nicht  verdienten. 
Die  Tragik  der  Geschichte  bestand  darin,  daß  das  Morgenrot  der 
Befreiung  den  französischen  Juden  im  blutigen  Nebel  der  Schrek- 
kensherrschaft  und  im  Pulverrauch  der  Schlachten  aufging,  daß 
man  den  Befreiten  keine  Zeit  ließ,  sich  den  neuen  Verhältnissen 
des  staatsbürgerlichen  I,ebens  anzupassen  und  sich  auf  normalem 
Wege  zu  zivilisieren. 

Dies  zog  Anomalien  auch  im  kulturellen  Wachstum  nach  sich : 
jähe  Sprünge  auf  der  einen,  Starrheit  auf  der  anderen  Seite.  Die 
Spitzen  der  jüdischen  Gesellschaft,  insbesondere  die  der  sephar- 
dischen  in  Paris  und  im  Süden  verfielen  rasch  dem  Prozesse  der 
Französierung.  Statt  eine  reformierte  jüdische  Schule  zu  schaf- 
fen, brachten  die  Eltern  ihre  Kinder  in  allgemeinen  Lehranstalten 
tmd  in  „erlesenen  Pensionaten"  unter,  wo  sie  in  einer  christlichen 
Atmosphäre  erzogen  und  allem  Jüdischen  entfremdet  wurden. 
Wie  bereits  erwähnt,  zerriß  auch  der  Militärdienst  das  den  jungen 
Juden  mit  seiner  nationalen  Gemeinschaft  verknüpfende  Band. 
Wohl  taten  sich  einige  Juden  in  öffentlichen  Diensten,  wie  auch 
in  freien  Berufen,  hervor;  aber  von  der  jüngeren  Generation 
waren  es  nur  sehr  wenige,  die  ein  Interesse  für  das  Schicksal 

122 


ihres  Volkes  bekundeten  (der  Rechtsanwalt  Michael  Berr, 
Sohn  des  bekannten  Emanzipationskämpfers  Isaak  Berr  und 
andere).  Es  wurde  auch  der  erste  Keim  zur  Rassenassimilation 
gelegt  —  es  kamen  die  ersten  Mischehen  zwischen  Juden  und 
Christen  auf.  Der  Prozeß  der  AssimiHerung  hatte  selbst  in  den 
großen  jüdischen  Zentren  von  Elsaß  imd  Lothringen  bedeutende 
Erfolge  zu  verzeichnen.  Schon  im  Jahre  1791,  gleich  nach  Ver- 
kündung des  Emanzipationsaktes,  forderte  Isaak  Berr  seine 
Stammesgenossen  auf,  ihre  deutsch- jüdische  Mtmdart  f»iif zu- 
geben, sich  im  täglichen  Verkehr  der  französischen  Sprache  zu 
bedienen  und  ihre  Kinder  in  französische  Schulen  zu  schicken, 
da  durch  den  Verkehr  mit  den  christlichen  Kindern  in  der  Schule 
die  gegenseitige  Entfremdung  schwinden  und  bald  darauf  einer 
„brüderlichen  I^iebe"  zwischen  Juden  und  Christen  Platz 
machen  würde.  Die  Wünsche  Berrs  begannen  im  inneren  Leben 
der  jüdischen  Gesellschaft  greifbare  Gestalt  zu  gewinnen;  die 
Volkssprache  wurde  nach  und  nach  durch  die  offizielle  Staats- 
sprache —  das  Fanzösische  verdrängt,  die  jüdische  Schule  begann 
allmählich  der  französischen  zu  weichen,  die  Entfremdung  der 
jtmgen  Generation  gegen  alles  Jüdische  vollzog  sich  un- 
aufhaltsam, aber  vom  ,, brüderlichen"  Verhältnis  zu  der  um- 
gebenden Bevölkerung  war  man  noch  weit  entfernt.  Nach  fünf- 
zehn Jahren  seit  der  Verkündung  des  Emanzipationsaktes  mußte 
derselbe  Isaak  Berr  folgende  traurige  Zeilen  niederschreiben: 
„Gewiß,  das  segensreiche  Dekret  vom  28.  September  1791  stellte 
uns  in  unseren  Rechten  wieder  her  und  verpflichtete  tms  zu  einem 
Gefühle  ewiger  Dankbarkeit,  aber  bis  auf  den  heutigen  Tag  ist 
der  Gebrauch,  den  wir  davon  machen,  nur  ein  scheinbarer,  denn 
in  der  Lebenspraxis  ermangeln  wir  alles  dessen,  was  wir  de  jure 
errungen  haben.  Die  Verachtung,  die  dem  Namen  Jude  an^ 
haftet,  bildet  eines  der  Haupthindemisse  zu  unserer  Wieder- 
geburt. Kommt  ein  jüdischer  junger  Mann  zu  einem  Handwerks- 
meister, einem  Fabrikinhaber,  einem  Künstler,  einem  Landmann, 
um  Fachkenntnisse  zu  erwerben,  so  wird  er  zurückgewiesen, 
weü  er  Jude  sei.  Wird  ein  Jude  vor  Gericht  geladen  —  so  wird 
sich  die  gegnerische  Partei  selten  das  Vergnügen  entgehen  lassen, 
allgemeine  und  unziemliche  Auslassungen  gegen  die  Juden  vor- 
zubringen und  sie  mit  all  jenen  Vorwürfen  zu  überschütten,  die 
von  altersher  geltend  gemacht  werden.  Man  trägt  nicht  einmal 

123 


Bedenken,  uns  auf  der  Bühne  zur  Zielscheibe  des  Spottes  zu 
machen." 

Dieser  passive  Widerstand  gegen  die  Praxis  der  Gleichberech- 
tigung seitens  der  christlichen  Gesellschaft  begünstigte  die 
sozial-wirtschaftliche  Rückständigkeit  unter  den  jüdischen 
Volksmassen.  Trotz  der  Beseitigung  aller  Rechtseinschränkungen 
auf  dem  Gebiete  der  Berufe  und  der  Gewerbe,  verharrten  die 
meisten  Juden  im  Elsaß  und  I^othringen  (den  Departements  des 
unteren  und  oberen  Rheins,  der  Mosel  usw.)  in  ihrer  alten  wirt- 
schaftlichen Position  — dem  Kleinhandel  und  dem  Geldgeschäft. 
Die  langanhaltende  finanzwirtschaftliche  Krise  Frankreichs 
während  der  Revolution  und  des  Kaiserreichs  machte  es  den 
Juden  unmöglich,  sich  auf  neue  Erwerbsgebiete  zu  werfen,  ohne 
dabei  ihr  Vermögen  aufs  Spiel  zu  setzen;  andererseits  wurden  sie 
daran  durch  den  Widerstand  der  interessierten  Klassen  der  christ- 
lichen Bevölkerung  verhindert.  Daher  der  wirtschaftliche  Kon- 
servatismus, das  Festhalten  an  einem  der  traurigsten  Monopole 
der  jüdischen  Wirtschaft  —  dem  Geldkredit,  insbesondere  dem 
Kredit  für  landwirtschaftliche  Zwecke.  Der  durch  die  Revo- 
lution bewirkte  Umsturz  in  den  Agrarverhältnissen  (der  Fall  der 
feudalen  Ordnung,  die  Auswanderung  des  Adels,  das  Aufkommen 
des  bäuerlichen  Grundbesitzes)  erweiterte  nur  die  Sphäre  der 
jüdischen  Vermittlungstätigkeit  und  verlieh  ihr  eine  veränderte 
Gestalt.  Einige  jüdische  Kapitalisten  waren  durch  den  Besitz  von 
Bodenhypotheken  zum  unmittelbaren  Gnmdbesitz  übergegangen ; 
die  meisten  aber  befaßten  sich  mit  dem  Wiederverkauf  des  ihnen 
verpfändeten  Grundbesitzes  an  Bauern  und  Adlige.  Die  Speku- 
lation in  Immobilien  erreichte  im  Zusammenhange  mit  der 
Schreckensherrschaft  und  der  unruhigen  Zeit  unerhörte  Dimen- 
sionen; Profitjäger  kauften  zum  Spottpreise  die  von  den  Aus- 
wanderern verlassenen  Grundstücke  auf,  um  sie  dann  zu  hohen 
Preisen  wieder  zu  verkaufen.  Der  jüdische  Gläubiger,  der  den 
I^andmann  mit  Kapital  zwecks  Bodenankaufs  versorgte,  er- 
leichterte ihm  den  Übergang  von  Taglöhnerei  zum  selbständigen 
Bodenbesitz;  des  öfteren  aber  belastete  er  den  neuen  Eigen- 
tümer mit  drückenden  Schuldverschreibungen.  Der  Mangel  an 
barem  Geld  und  die  Unsicherheit  des  Kredits  machten  eine  Er- 
höhung des  Zinsfußes  erforderlich,  die  den  Juden  viele  Vorwürfe 
zuzog.     Die  Klagen  über  jüdische  „Ausbeutung"    Wucher  und 

124 


Raub  drangen  ununterbrochen  aus  den  Rheinischen  Departe- 
ments nach  Paris.  Marschall  Kellermann  erstattete  im  Jahre  1806 
an  Napoleon  I.  einen  Bericht,  in  dem  die  Lage  des  Elsaß  unter 
der  wirtschaftlichen  „Herrschaft"  der  Juden  in  düsteren  Farben 
geschildert  war.  Der  judenfeindliche  Bericht  weckte  die  Vor- 
stellimg,  als  ob  die  Juden  das  elsässische  Dorf  zugrunde  richteten, 
die  gesamte  ländliche  Bevölkerung  unterjochten  und  effektiv  die 
Herren  im  Lande  seien,  da  der  meiste  Grundbesitz  in  ihren 
Händen  liege.  Derartige  einseitige  Darstellungen  verfehlten  nicht 
einen  starken  Eindruck  auf  Napoleon  zu  machen,  der  in  den 
ersten  Jahren  des  Kaiserreichs  lebhaftes  Interesse  für  die 
Judenfrage  zeigte.  Die  in  Elsaß  und  Lothringen  ansässigen 
Juden  hatten  keine  Ahnung  davon,  welch  eine  furchtbare  An- 
klageschrift gegen  sie  in  Paris  vorbereitet  wurde  und  daß  sogar 
die  Frage  der  Abschaffung  ihrer  bürgerlichen  Gleichberechtigung 
zur  Diskussion  stand ... 

§  21.  Napoleon  und  die  Juden;  das  Dekret  von  1806.  Die 
neue  zerstörende  und  zugleich  aufbauende  Kraft,  in  der  sich 
despotische  Willkür  mit  Revolutionsfreiheit  paarte  —  diese 
wilde,  über  das  Leben  Europas  hereingebrochene  Gewalt  ging 
auch  an  dem  jüdischen  Volke  nicht  ohne  Wirkung  vorüber. 
Napoleon  I.  war  für  die  Juden  Unterdrücker  und  Befreier  in 
einer  Person,  ein  guter  und  ein  böser  Genius;  das  Verhältnis  des 
Weltbezwingers  zu  einer  Nation,  die  von  der  Welt  nicht  nieder- 
gerungen werden  konnte,  zeigte  eine  Mischung  von  Niedertracht 
und  Größe. 

Das  erste  Zusammentreffen  Bonapartes  mit  den  Juden  fällt  in 
die  Zeit  des  märchenhaften  Feldzuges  des  ruhmreichen  Generals 
nach  Syrien  und  Ägypten  und  spielte  sich  auf  dem  Boden  der 
alten  jüdischen  Heimat  ab.  Nach  der  Einnahme  von  Gaza  und 
Jaffa  (Februar  bis  März  1799)  erließ  der  vor  den  Toren  Jerusalems 
stehende  Bonaparte  einen  Aufruf  an  die  asiatischen  und  afri- 
kanischen Juden,  in  dem  er  sie  ermahnte,  dem  französischen 
Heere  behilflich  zu  sein,  und  die  Wiederherstellung  des  alten 
Jerusalems  in  Aussicht  stellte.  Es  war  dies  ein  politisches  Manö- 
ver, ein  Versuch,  in  den  orientahschen  Juden  wohlgesinnte  Ver- 
mittler bei  der  Einnahme  der  palästinischen  Städte  zu  ge- 
winnen. Dieser  Ruf  fand  bei  den  Juden  keinen  Widerhall;  die 
jüdische  Bevölkerung  der  betreffenden  Gebiete  hielt  treu  zu  der 

125 


türkischen  Regierung.  Die  Gerüchte  von  den  durch  die  fran- 
zösischen Truppen  verübten  Greueltaten  veranlaßten  die  in 
Jerusalem  ansässigen  Juden,  sich  an  den  Vorkehrungen  zum 
Schutze  der  Stadt  zu  beteiligen.  Der  phantastische  Plan  der 
Niederwerfung  Asiens  ging  nicht  in  Erfüllung,  und  Bonaparte 
kehrte  nach  dem  Westen  zurück,  um  Frankreich  durch  den 
Streich  vom  i8.  Brumaire  kirre  zu  machen  und  dann  Europa 
zu  erobern. 

Das  Problem  der  Regelung  jüdischer  Verhältnisse  im  modernen 
Staatswesen  weckte  die  Aufmerksamkeit  des  regierenden  Napo- 
leon, des  ersten  Konsuls,  zum  ersten  Male,  als  die  Frage  der 
Organisierung  der  religiösen  Kulte  in  Frankreich  nach  Abschluß 
des  Konkordates  mit  dem  Papste  auf  der  Tagesordnung  stand 
(1801).  Da  der  erste  Konsul  auch  die  Beziehungen  des  jüdischen 
Kultes  zum  Staate  regeln  wollte,  beauftragte  er  den  Minister  der 
Bekenntnisse,  Portalis,  einen  Bericht  über  dieses  Problem  zu  ver- 
fassen. Der  Bericht  wurde  verfaßt  und  in  der  Sitzimg  der  gesetz- 
gebenden Versammlung  (5.  April  1802)  verlesen,  aber  er  enthielt 
statt  eines  Vorschlags  zur  Regelung  der  geistlichen  Angelegen- 
heiten der  jüdischen  Bürger  nur  Beweise  für  die  Schwierigkeit 
der  Durchführung  eines  derartigen  Entwurfs.  „Die  Regierung", 
schrieb  Portalis,  „die  für  die  Organisierung  der  verschiedenen 
Konfessionen  Sorge  trug,  hat  auch  die  jüdische  Religion  nicht 
außer  acht  gelassen:  gleich  allen  anderen  soll  sie  sich  der  durch 
unsere  Gesetze  gewährleisteten  Freiheit  erfreuen.  Aber  die  Juden 
stellen  weniger  ein  Glaubensbekenntnis  als  eine  Nation  dar 
(forment  bien  moins  une  religion  qu'un  peuple);  sie  leben  unter 
allen  Nationen,  ohne  sich  mit  ihnen  zu  vermischen.  Es  war  die 
Pflicht  der  Regienmg,  die  Ewigkeit  dieses  Volkes  in  Betracht  zu 
ziehen,  eines  Volkes,  das  durch  alle  Umwälzungen  und  alles  Miß- 
geschick der  Jahrhunderte  hindurch  sich  in  unsere  Zeit  hinüber- 
rettete, das  auf  dem  Gebiete  des  Kultes  und  seiner  geistigen  Ver- 
fassung im  Besitze  eines  der  größten  Privilegien  ist  —  des  Pri- 
vüegiums,  Gott  selbst  zum  Gesetzgeber  zu  haben."  Diese  Sätze 
verrieten  bereits  die  spätere  Zwiespältigkeit  der  napoleonischeu 
Regierung  in.  der  jüdischen  Frage:  einerseits  historische  Kom- 
plimente für  die  Standhaftigkeit  des  Judentums,  und  anderer- 
seits die  Besorgnis,  daß  eine  derart  standhafte  Nation  sich  an  die 
französische  Staatlichkeit  nicht  werde  anpassen  können,  d.  h.  daß 

126 


sie  auch  künftighin  ihre  Standhaftigkeit  bewahren  werde.  Der- 
artige Befürchtungen  bewirkten,  daß  die  I/5sung  der  Frage  von 
der  Organisation  des  Judentums  vertagt  wurde. 

Der  Kaiser  mußte  das  Werk  zu  Ende  führen,  das  der  erste 
Konsul  unternommen  hatte.  Aber  dieses  neue  Unternehmen  war 
mehr  vom  Geiste  des  Verdachtes  und  der  Befürchtungen  als  von 
dem  der  Hochachtung  für  die  „Ewigkeit  des  jüdischen  Volkes" 
getragen.  Napoleon,  der  dem  jüdischen  Leben  vollständig  fem 
stand,  bildete  sich  einen  Begriff  davon  auf  Grund  flüchtiger,  bei 
Feldzügen  empfangener  Eindrücke,  privater  Beschwerden  und 
offizieller  Berichte.  Unter  dem  bunten,  aus  verschiedenen 
Völkerschaften  zusammengesetzten,  durch  die  Uniform  nivel- 
lierten Heere  bemerkte  er  die  jiidischen  Soldaten  nicht,  um  so 
weniger  als  diese  Soldaten  des  öfteren  ihre  Abstammung  unter 
militärischen  Pseudonymen  verbargen  (§  20);  dafür  aber  fielen 
ihm  die  Scharen  jüdischer,  dem  Heere  auf  die  Spur  folgender 
Händler  in  die  Augen,  die  der  Geldbeute  überall  nachjagten,  wo 
der  Führer  der  französischen  Truppen  auf  Kriegsbeute  ausging. 
Als  der  Kaiser  im  Jahre  1805  aus  dem  Feldzuge  von  Austerlitz 
zurückkehrte  und  durch  Straßburg  zog,  bekam  er  mehrere 
Klagen  gegen  die  Juden  zu  hören,  die  angeblich  durch  ihre 
Kreditoperationen  die  ganze  bäuerliche  Bevölkerung  des  Landes 
ausbeuteten.  Die  christliche  Bevölkenmg  von  Straßburg,  die  sich 
seit  langem  um  die  Wiedererlangung  des  ,, Privilegiums"  der 
Nichtzulassung  von  Juden  bemühte,  konnte  sich  noch  immer 
nicht  mit  dem  Emanzipationsakte  von  1791  versöhnen;  ebenso- 
wenig behagte  ihr  die  Entstehung  einer  gleichberechtigten 
jüdischen  Gemeinde  innerhalb  einer  Stadt,  wo  es  früher  „den 
Juden  verboten  war,  zu  übernachten".  Die  Straßburger  und 
Elsässer  Judenfeinde  erwarteten  von  Napoleon  das,  worum  sie 
sich  in  den  Revolutionsjahren  vergeblich  bemüht  hatten:  die 
tatsächliche  Hintertreibung  der  jüdischen  Gleichberechtigung. 
Sie  täuschten  sich  nicht;  der  Kaiser  versprach,  die  Klagen  zu 
prüfen  und  Maßnahmen  zu  ergreifen. 

Als  Napoleon  nach  Paris  zurückkehrte,  befand  er  sich  in  einem 
Zustande  äußerster  Mißstimmung  gegen  die  Juden  und  faßte  den 
festen  Beschluß,  einen  Kampf  gegen  sie  aufzunehmen,  der 
nötigenfalls  bis  zur  Verletzung  ihrer  Gleichberechtigung  gehen 
sollte.  Er  gab  dem  Staatsrat  den  Befehl,  diese  Frage  einer  so- 

127 


fortigen  Erörterung  zu  unterziehen.  Der  in  der  Folge  bekannt  ge- 
wordene konservative  Staatsmann  Graf  Mole,  damals  noch 
ein  junger  Beamter  und  Anhänger  des  napoleonischen  Regimes, 
wurde  mit  der  Berichterstattung  betraut.  Als  Mole  in  seinem  Be- 
richte von  der  Notwendigkeit  sprach,  die  Juden,  wenigstens  auf 
dem  Gebiete  des  Handels,  Ausnahmegesetzen  zu  unterwerfen, 
gerieten  die  meistens  liberal  gestimmten  Mitglieder  des  Rates  in 
große  Aufregung.  Es  wurden  Stimmen  laut  gegen  den  reaktio- 
nären Versuch,  das  alte  Regime  für  die  Juden  wiederherzu- 
stellen. Als  die  Frage  auf  der  nächsten,  u^ter  dem  Vorsitz  des 
Kaisers  abgehaltenen  Sitzung  (30.  April  1806)  von  neuem  er- 
hoben wurde,  hielt  das  liberale  Ratsmil^lied  Beugnot  eine  feurige 
Rede  gegen  das  Vorhaben,  die  Juden  in  ihren  Rechten  einzu- 
schränken, wobei  er  sich  dahin  ausdrückte,  daß  jede  ausschließ- 
liche Maßregel  dieser  Art  „einer  auf  dem  Felde  der  Gerechtigkeit 
verlorenen  Schlacht"  gleichkäme.  Die  Mehrheit  erklärte  sich  mit 
dem  Redner  einverstanden.  Aber  den  Männern  des  Gesetzes  er- 
widerte der  Mann  des  Schwertes.  In  einer  sehr  scharfen  Rede 
drückte  Napoleon  seine  Verachtung  gegen  alle  solche  „Ideo- 
logen" aus,  die  „die  Wirklichkeit  einer  Abstraktion  opfern", 
die  Wirklichkeit  erscheine  ihm  aber  in  einem  furchtbaren  laichte. 
„Die  Regierung",  sagte  Napoleon  gereizt,  ,  kann  nicht  gleich- 
gültig und  teünahmlos  zusehen,  wie  eine  gesunkene,  ver- 
lotterte und  zu  allen  Schandtaten  bereite  Nation  die  beiden 
schönen  Departements  des  alten  Elsaß  an  sich  reißt.  Die 
Juden  müssen  als  Nation  und  nicht  als  Sekte  ange- 
sehen werden  —  sie  sind  eine  Nation  innerhalb  einer 
Nation  ..  .  Man  darf  sie  nicht  in  die  gleiche  Kategorie  wie  die 
Protestanten  und  Katholiken  setzen ;  ihnen  gegenüber  muß  man 
nicht  das  bürgerliche,  sondern  das  politische  Recht  anwenden, 
denn  sie  sind  keine  Bürger  .  .  .  Ich  will  den  Juden,  wenigstens 
für  eine  Zeitlang,  das  Recht  entziehen,  Immobilien  in  Pfand 
zu  nehmen.  Ganze  Dörfer  sind  schon  von  den  Juden  in  Beschlag 
genommen:  sie  sind  an  die  Stelle  der  früheren  I^ehnsherren  ge- 
treten .  .  .  Nicht  unangemessen  wäre  es,  ihnen  den  Handel  zu 
verbieten,  den  sie  durch  Wucher  schänden,  und  aUe  ihre  früheren 
auf  Betrug  beruhenden  Abmachungen  zu  annullieren."  Zum 
Schlüsse  gab  der  Kaiser  die  Quellen  seiner  Informationen  über 
die  Juden  an :  sie  bestanden  in  den  Beschwerden  der  christlichen 

128 


Bevölkerung  der  Stadt  Straßburg  und  in  dein  Berichten  des 
dortigen  Präfekten. 

Wenn  man  die  Gedankengänge  des  Kaisers  von  den  zufälligen 
Stimmungen  lostrennt,  so  kann  man  in  ihnen  ein  bestimmtes 
System  erblicken:  Die  Revolution  hatte  den  Juden  Gleich- 
berechtigung gegeben,  die  einer  Sekte  innerhalb  der  französischen 
Nation  galt  (§  15);  da  sie  aber  eine  besondere  Nation  bilden,  so 
gehören  sie  nicht  in  das  Gebiet  der  staatsbürgerlichen,  sondern 
in  das  der  politischen  Gesetzgebimg;  wir  wissen  aber,  daß  der 
politische  Kodex  Napoleons  in  demselben  Maße  schlecht  war, 
wie  sein  „Code  civil"  gut ...  In  der  Praxis  nahm  der  Kaiser 
von  konsequentem  Vorgehen,  das  ihm  den  zweifelhaften  Ruf 
eines  Unterdrückers  der  Juden  einbringen  würde.  Abstand.  In  der 
folgenden  Sitzung  des  Staatsrats  vom  7.  Mai  verwarf  er  den 
radikalen  Vorschlag  des  Berichterstatters,  die  jüdischen  Hausierer 
des  Landes  zu  verweisen  und  den  Wucher  der  Überwachung  der 
Tribunale  zu  unterstellen.  „Fem  liegt  es  mir,"  sagte  er,  „Schritte 
zu  unternehmen,  die  meinen  Ruf  beeinträchtigen  und  die  Ver- 
urteilung bei  den  künftigen  Generationen  nach  sich  ziehen 
könnten ...  Es  wäre  eine  Schwäche,  die  Juden  zu  verfolgen, 
aber  es  ist  ein  Zeichen  der  Kraft,  sie  zu  bessern."  Unter  „Bes- 
serung" verstand  der  Kaiser  nicht  nur  Repressalien  gegen  die 
Schattenseiten  des  jüdischen  Handels,  sondern  auch  eine  gründ- 
liche Reform  der  ganzen  Lebensgestaltung  der  Juden.  Nachdem 
er  den  Gedanken  ausgesprochen,  daß  „der  von  den  Juden  ver- 
ursachte Schaden  nicht  von  einzelnen  Personen  ausgehe,  sondern 
in  der  ganzen  Verfassung  des  gesamten  Volkes  begründet  sei", 
beeilte  er  sich,  die  Erklärung  hinzuzufügen,  daß  es  notwendig  sei, 
jüdische  „Generalstaaten"  einzuberufen.  Die  Vertreter  des  an- 
geklagten Volkes  sollten  Rede  stehen  und  die  Frage  beantworten, 
ob  sich  die  schlechte  „Verfassung"  des  Judentums  bessern  und 
der  Staatsverfassung  des  Wirtslandes  unterordnen  lasse,  oder  ob 
die  Juden  eines  staatsbürgerlichen  Lebens  unfähig  seien. 

Alle  diese  Konferenzen  hatten  das  aus  zwei  Teilen  bestehende 
kaiserliche  Dekret  vom  30.  Mai  1806  zur  Folge.  Im  ersten  Teile 
wurde  befohlen,  die  Vollstreckung  aller  gerichtlicher  Urteile  be- 
treffend die  Schuldforderungen  jüdischer  Gläubiger  an  die  länd- 
liche Bevölkerung  in  den  Departements  des  Ober-  und  Nieder- 
rheins und  anderer  „deutscher"  Gebiete  für  die  Dauer  eines 

9    Dubnow,  Oeschichte  der  Juden  t  129 


Jahres  einzustellen.  Im  zweiten  Teile  wurde  verkündet,  daß  am 
15.  Juli  1806  „eine  Versammlung  von  Personen,  die  sich  zum 
jüdischen  Glauben  bekennen  und  in  Frankreich  seßhaft  sind,  in 
Paris  einzubenifen  sei.  Die  Versammlung  soll  aus  min- 
destens IOC  Personen  bestehen,  die  sämtlich  von  den  Präfekten 
unter  den  geistlichen  und  weltlichen  Vertretern  der  jüdischen 
Gemeinden  zu  wählen  sind.  Beide  Teile  des  Dekrets  wurden  in  der 
Einleitung  mit  dem  zwiefachen  Wunsch  begründet  —  einerseits 
der  von  dem  jüdischen  Wucher  umgarnten  ländlichen  Be- 
völkerung behilflich  zu  sein,  andererseits  in  den  Juden  alle  die 
„Gefühle  bürgerlicher  Moral  zu  wecken,  die  infolge  eines  lang- 
wierigen Verharrens  im  Zustande  von  Erniedrigung,  den  wir 
jedoch  weder  unterstützen  noch  erneuern  wollen,  bei  einem 
beträchtlichen  Teile  dieses  Volkes  eine  Schwächtmg  erlitten 
haben." 

Das  Dekret  von  der  Annullierung  aller  Schuldforderungen 
jüdischer  Gläubiger  bei  der  nichtjüdischen  Bevölkerung  be- 
deutete einen  harten  Schlag  nicht  nur  für  einzelne  Personen, 
sondern  für  das  Prinzip  der  staatsbürgerlichen  Gleichheit  selbst : 
denn  nicht  um  die  Wucherer  als  solche  handelte  es  sich  hier, 
sondern  ausdrücklich  um  jüdische  Wucherer.  Was  nun  den 
Plan  der  Einberufung  jüdischer  Volksvertreter  betrifft,  so  ist  er 
ganz  gewiß  von  einer  gewissen  Größe,  die  aber  durch  die  Ver- 
bindung mit  demütigenden  Repressalien  und  einer  das  Ehr- 
gefühl verletzenden  offiziellen  Begründung  beeinträchtigt  wird. 
Nichtsdestoweniger  war  die  jüdische  Gesellschaft  in  Frankreich 
und  auswärts  mehr  geneigt,  die  Lichtseite  als  die  pro- 
saische Schattenseite  des  Dekrets  zu  sehen :  die  Einberufung  des 
jüdischen  Parlaments  war  an  sich  ein  bedeutungsvoller,  achtung- 
gebietender Schritt  und  schien  den  Beginn  einer  neuen  Ära  für 
das  jüdische  Volk  zu  kennzeichnen. 

Zugleich  mit  den  regierenden  Kreisen  beschäftigte  sich  auch 
die  französische  Presse  sehr  eifrig  mit  der  jüdischen  Frage.  Gegen 
das  Prinzip  der  jüdischen  Emanzipation  selbst  trat  die  inzwischen 
erstarkte  kathohsche  Reaktion  auf,  die  in  dem  bekannten 
Bonald  ihren  geistigen  Vertreter  hatte.  In  einem  im  Februar 
1806  veröffentiichten  Auf satze  (im  „Mercure  de  France")  wieder- 
holte Bonald  die  üblichen  Anklagen  gegen  die  Juden  und  ge- 
langte zu  der  Schlußfolgerung,   daß,  „solange  die  Juden  das 

130 


Christentum  nicht  annehmen,  es  ihnen  trotz  aller  Bemühungen 
nie  gelingen  wird,  sich  zu  Bürgern  eines  christlichen  Staates  her- 
anzubilden". Gegen  diese  lange  nicht  mehr  gehörte  Losung  der 
streitbaren  Kirche  traten  die  Verfechter  jüdischer  Interessen  auf. 
Einer  von  ihnen,  der  sephardische  Publizist  Rodrigues,  ent- 
rüstete sich  darüber,  daß  „unter  der  Ägide  des  freiheitlichen  und 
mächtigen  Frankreichs  im  XIX.  Jahrhundert  Aufsätze  ver- 
öffentlicht werden  können,  deren  Bestreben  darauf  ausgeht,  den 
Juden  alle  die  staatsbürgerhchen  und  politischen  Rechte  zu  ent- 
ziehen, die  ihnen  nicht  von  den  Staatsgesetzen,  sondern  von  der 
Vernunft  selbst  gewährt  wurden".  Es  war  kein  Zufall,  daß  die 
judenfeindliche  Agitation  Bonaids  mit  dem  Beginne  der  Ver- 
handltmgen  über  die  jüdische  Frage  im  Staatsrate  zusammenfiel: 
der  den  Hofkreisen  nahestehende  Reaktionär,  dem  die  Stimmung 
des  Kaisers  bekannt  war,  beabsichtigte,  den  Beschluß  des  Rates  in 
eine  bestimmte  Richtung  zu  lenken.  Als  Graf  Mole  seinen  oben- 
erwähnten Bericht  im  Staatsrate  verlas,  stellten  darin  die  libe- 
ralen Mitglieder  des  Rates  den  Einfluß  der  Ansichten  der  ,, anti- 
philosophischen Partei  des  Fontane  und  Bonald"  fest.  Wohl 
spürten  sie,  woher  der  Wind  der  Reaktion  kam,  aber  sie  konnten 
nicht  umhin,  dem  Umstände  Rechnung  zu  tragen,  daß  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  auch  der  Kaiser  selbst  von  diesem  Winde 
ergriffen  war, 

§  22.  Die  Versammlung  der  Notahein.  Die  Vorbereitungen  zu 
dem  durch  den  Beschluß  vom  30.  Mai  1806  einberufenen 
„jüdischen  Parlament"  nahmen  einen  raschen  Verlauf.  Gemäß 
der  ihnen  erteilten  Weisung  setzten  die  Departementsprä- 
fekten  eine  bestimmte  Zahl  von  Abgeordneten  für  ihre  Wahl- 
bezirke fest,  die  aus  der  Mitte  der  Rabbiner,  Geschäftsleute  und 
sonstiger  angesehener  Personen  gewählt  wurden.  Man  faßte 
vornehmlich  gebildete,  fortschrittlich  gesinnte  Personen  ins 
Auge,  die  fähig  wären,  die  ,, wohlwollenden  Absichten  der 
Regierung"  vollauf  zu  würdigen.  In  den  Departements  des  eigent- 
lichen Frankreichs,  und  dann  auch  in  Elsaß-IvOthringen  und  den 
angrenzenden  deutschen  Provinzen  wurden  74  Abgeordnete  ge- 
wählt, von  denen  zwei  Drittel  auf  die  Rheindepartements  ent- 
fielen; diese  Zahl  wurde  jedoch  in  der  Folge  vergrößert.  Ab- 
gesehen davon,  schickte  auch  das  dem  Kaiserreiche  angegliederte 
Königreich  Italien  (Venedig,  Turin,  Ferrara  usw.)  seine  Ver- 

9»  131 


treter,  so  daß  bei  der  Eröffnung  der  Versammlung  etwa  112  Ab- 
geordnete aus  dem  ganzen  Kaiserreiche  anwesend  waren. 

Unter  den  Abgeordneten  ragten  besonders  die  durch  ihre 
frühere  Tätigkeit  bekannten  AbrahamFurtado  aus  Bordeaux. 
Beer-  Jsaak  Berr  aus  Nancy  und  der  Straßburger  Rabbiner 
David  Sinzheim  hervor.  Furtado  war  der  Vertreter  der 
Sephardim,  die  während  der  Revolution  so  energisch  ihre  Ver- 
schiedenheit von  der  aschkenasischen  Mehrheit  {§  16)  unter- 
strichen hatten.  Furtado,  ein  alter  Voltairianer  und  Girondist, 
seiner  Gemütsveranlagung  nach  mehr  Franzose  als  Jude,  flößte 
den  Vertretern  der  deutschen  Departements  kein  besonderes 
Vertrauen  ein.  Die  elsässischen  Abgeordneten  meinten  im 
Scherz,  daß  Furtado  die  Bibel  ausschließlich  aus  den  Werken 
Voltaires  kenne.  Dessenungeachtet  wurde  er  zum  Vorsitzenden 
der  Versammlung  gewählt,  da  er  über  die  nötigen  äußerlichen 
Eigenschaften:  pohtische  Schulung  und  Rednergabe  verfügte. 
Der  bedeutendste  Vertreter  der  Aschkenasim  war  der  unermüd- 
liche Anwalt  der  jüdischen  Sache  Isaak  Berr,  ein  Anhänger  der 
Mendelssohnschen  Schule,  der  einen  Ausgleich  zwischen  dem 
Judentum  und  der  modernen  Aufklärung  herbeizuführen  strebte. 
Kurz  vor  der  Eröffnung  der  Versammlung  wandte  sich  Berr  an 
die  jüdischen  Kapitalisten  mit  einem  Aufrufe,  in  dem  er  sie  er- 
mahnte, den  Absichten  der  Regienmg  entgegenzukommen  imd 
zunächst  die  Eintreibung  der  Wechselschulden  bei  der  ländlichen 
Bevölkerung  für  die  Dauer  eines  Jahres  einzustellen  und  dann 
das  schändliche  Wuchergeschäft  überhaupt  aufzugeben.  Unter 
den  Rabbinern  ragte  der  tiefe  Kenner  der  talmudischen  lyiteratur, 
der  Straßburger  Gelehrte  David  Sinzheim  hervor,  der  in  der  Zeit 
des  Konvents  von  den  übereifrigen  Verbreitern  des  ,, Kultes  der 
Vernunft"  viel  auszustehen  gehabt  hatte.  Er  war  durchaus 
orthodox  gesinnt,  hielt  es  aber  auch  für  möglich,  die  Schärfe 
seiner  religiösen  Prinzipien  zu  mildern,  wenn  es  die  politischen 
Umstände  verlangten.  Diesen  Führern  der  Versammlung 
schlössen  sich  eine  Anzahl  durch  ihre  Bildung  und  soziale  Ver- 
dienste hervorragender  Personen  an:  der  erste  jüdische  Rechts- 
anwalt in  Europa,  Michael  Berr,  der  Schriftsteller  Rodrigues, 
die  itahenischen  Rabbiner  Segre,  de-Cologna  und  Nepi.  Nach 
dem  Zeugnisse  eines  der  kaiserlichen  Kommissare,  der  an  der  Ver- 
sammlung teilgenommen,  machte  diese  Zusammensetzimg  einen 

132 


sehr  vorteilhaften  Eindruck.  „Wir  befinden  uns",  schrieb  er, 
„unter  Menschen,  die  die  Menge  weit  überragen  .  . .  unter  Men- 
schen mit  entwickeltem  Geiste,  denen  auch  allgemein  mensch- 
liches Wissen  nicht  fremd  ist.  Es  ist  unmöglich,  der  Existenz 
einer  jüdischen  Nation  die  Anerkennung  länger  zu  verweigern, 
einer  Nation,  in  der  sich  bisher  nur  der  Abschaum  bemerkbar 
machte,  und  die  nun  durch  den  Mund  ihrer  auserlesenen  Ver- 
treter eine  höchst  beachtenswerte  Sprache  zu  führen  beginnt." 

Drei  Sekretäre  des  Staatsrats  wurden  von  Napoleon  zu  Re- 
gierungskommissaren für  die  Versammlung  der  jüdischen  Ab- 
geordneten ernannt.  Es  waren  dies  die  Kreatur  Napoleons,  der 
obenerwähnte  Graf  Mole^),  der  jüngere  Portalis  (Sohn  des  Kultus- 
ministers) und  Pasquier,  der  uns  Memoiren  über  die  Tätigkeit  des 
„jüdischen  Parlamentes"  hinterließ.  Die  offizielle  Aufgabe  der 
Kommissare  bestand  in  der  Übermittlung  und  Erläuterung  der 
vom  Kaiser  redigierten  Fragen  und  in  der  Entgegennahme  der 
Antworten;  inoffiziell  waren  aber  diese  Kommissare  (nach  dem 
späteren  Geständnisse  eines  von  ihnen)  beauftragt,  „mit  den  ein- 
flußreichsten Mitgliedern  der  Versammlung  Fühlung  zu  suchen 
und  Mittel  und  Wege  zur  Erreichung  des  angestrebten  Zieles  aus- 
findig zu  machen";  sie  sollten  also  hinter  den  Kulissen  einen 
Druck  ausüben,  um  die  Tätigkeit  der  Versammltmg  in  eine  dem 
Kaiser  genehme  Richtung  zu  lenken. 

Als  die  Abgeordneten  in  Paris  eintrafen,  war  die  Eröffnung 
der  Versammlung  bereits  für  Sonnabend,  den  29.  Juli  1806  fest- 
gesetzt. Die  gesetzestreuen  Abgeordneten  nahmen  zunächst  An- 
stoß an  der  bevorstehenden  Verletzung  der  Sabbatruhe,  und  in 
einer  privaten  Konferenz  wurde  viel  darüber  gestritten,  ob  man 
nicht  um  die  Verlegung  der  ersten  Sitzung  auf  den  darauf- 
folgenden Tag  bitten  solle.  Aber  Erwägungen  politischer  Natur 
nahmen  überhand:  es  handelte  sich  darum,  der  Regierung  zu 

*)  Wie  das  Verhältnis  Molfes  zu  den  Juden  im  gegebenen  Augenblick  war, 
ist  aus  folgender,  kürzlich  in  den  Memoiren  eines  anderen  Kommissars  (Pas- 
quier) aufgedeckten  Tatsache  ersichtlich.  Einige  Tage  vor  Eröffnung  der  jüdi- 
schen Versammlung  erschien  in  der  offiziellen  Zeitung  ,,Moniteur"  ein  langes 
judenfeindhches  Pamphlet  unter  dem  Titel:  „Vom  Zustande  der  Juden  seit 
Moses  bis  auf  den  heutigen  Tag",  in  dem  bewiesen  wurde,  daß  das  I,aster  des 
Wuchers  schon  in  der  ReUgion  der  Juden  begründet  sei.  Diese  „Anklageschrift 
gegen  die  jüdische  Nation"  war,  nach  Mitteilung  Pasquiers,  im  Auftrage  Napo- 
leons vom  Kommissar Molfe  verfaßt  (oder  redigiert).  Vgl. :  Brann,  „Aktenstücke" 
I,   19 — 76,  81 — 95. 


zeigen,  daß  die  Juden  nötigenfalls  bereit  seien,  ihre  Gesetze  zu 
übertreten,  wenn  diese  der  Ausführung  obrigkeitlicher  Befehle 
im  Wege  stehen.  Die  erste  Konzession  wurde  gemacht:  die 
erste  —  vielleicht  von  der  Regierung  beabsichtigte  —  Prüfung 
des  Gehorsams  war  bestanden.  Die  feierliche  Eröffnung  der  Ver- 
sammlung erfolgte  an  dem  festgesetzten  Sonnabend  in  einer  zu 
einem  großen  Saale  umgebauten  Kapelle  am  Stadthaus.  Der 
Hauptkommissar  Mole  hielt  die  Eröffnungsrede.  Durch  die  höf- 
lichen Redensarten  drang  der  schlecht  versteckte  feindselige  In- 
halt hervor.  „Jeder  von  euch,"  sagte  Mole,  „die  ihr  von  allen 
Ecken  und  Enden  des  weiten  Reiches  hierher  berufen  worden 
seid,  kennt  zweifellos  die  ^iele,  um  derentwillen  seine  Majestät 
geruhte,  euch  hier  zu  versammeln.  Es  ist  euch  bekannt,  daß  das 
Benehmen  vieler  Bekenner  eurer  Religion  zu  Klagen  Anlaß  gab, 
die  sogar  bis  zu  den  Stufen  des  Thrones  gedrungen  sind.  Die 
Klagen  erwiesen  sich  als  wohl  berechtigt,  und  doch  beschränkte 
sich  der  Kaiser  nur  darauf,  daß  er  dem  weiteren  Wachstum  der 
Krankheit  Einhalt  gebot  und  den  Wunsch  äußerte,  von  euch  Rat- 
schläge zur  Beseitigung  des  Übels  zu  hören."  Der  Redner  sprach 
des  Femeren  die  Hoffnung  aus,  daß  die  Deputierten  die  Gnade 
des  Kaisers  zu  würdigen  wissen  und  mit  der  Regienmg  und 
nicht  gegen  die  Regierung  arbeiten  werden.  „Seine  Majestät  ver- 
langt von  euch,  daß  ihr  Franzosen  seid,  und  von  euch  hängt  es 
ab,  diesen  Titel  anzunehmen  oder  auch  einzubüßen,  weim  ihr 
euch  seiner  als  unwürdig  erweiset.  Die  an  euch  gerichteten 
Fragen  werden  euch  gleich  vorgelesen  werden,  und  eure  Pflicht 
ist  es,  zu  jeder  von  ihnen  die  ganze  Wahrheit  zu  sagen."  Nach  Be- 
endigung der  Rede,  die  mehr  Drohungen  als  Begrüßungen  ent- 
hielt, wurden  die  zwölf  vom  Kaiser  an  die  Versammlung  gerichte- 
ten Fragen  verlesen.  Die  ersten  drei  Fragen  betrafen  Angelegen- 
heiten der  Ehescheidung :  Ob  den  Juden  die  Vielweiberei  gestattet 
ist  ?  Ob  eine  Ehescheidung  auch  ohne  die  gerichtliche  Sanktion 
gültig  ist  ?  Ob  Mischehen  zwischen  Juden  und  Christen  zugelassen 
werden  ?  Die  folgenden  drei  Fragen  betrafen  den  Patriotismus: 
Ob  die  Franzosen  von  den  Juden  als  Brüder  oder  als  Fremde  an- 
gesehen werden  ?  Wie  stellt  sich  das  jüdische  Gesetz  zu  den  Fran- 
zosen christlichen  Glaubens?  Ob  die  in  Frankreich  geborenen 
Juden  dieses  Land  als  ihr  Vaterland  anerkennen,  ob  sie  sich  für 
verpflichtet  halten  es  zu  verteidigen  und  seinen  bürgerhchen 

134 


Gesetzen  zu  gehorchen  ?  Die  weiteren  Fragen  beziehen  sich  auf  die 
Tätigkeit  der  Rabbiner  und  insbesondere  auf  deren  gerichtliche 
Funktionen.  Die  letzteren  drei  Fragen  beziehen  sich  auf  die  Be- 
rufe und  insbesondere  auf  den  Wucher:  Ob  es  Berufe  gibt,  die  den 
Juden  verboten  sind  ?  Ob  es  dem  Juden  verboten  ist,  einem  Juden 
Geld  auf  Zins  zu  leihen,  und  ob  ihm  dies  bei  einem  Fremd- 
stämmigen ertaubt  ist  ? 

Als  beim  Verlesen  der  Fragen  die  Reihe  an  die  Frage  kam :  ob 
Frankreich  von  den  Juden  als  Vaterland  angesehen  wird,  und  ob 
sie  es  für  ihre  Pflicht  halten,  dieses  Vaterland  zu  verteidigen,  er- 
hoben sich  die  Abgeordneten  von  ihren  Sitzen  und  riefen  aus: 
,,Ja,  bis  zum  Tode!"  In  seiner  Erwiderung  auf  die  unfreundliche 
Rede  Moles  sprach  der  Vorsitzende  der  Versammlung,  Furtado, 
die  freudige  Bereitschaft  der  Versammlung  aus,  an  der  Verwirk- 
lichung der  „großmütigen  Absichten"  des  Kaisers  mitzuwirken, 
da  er  darin  ein  Mittel  erblicke,  ,, manchen  Irrtum  zu  zerstreuen 
und  manches  Vorurteil  zu  beseitigen".  Es  wurde  eine  besondere 
Kommission  aus  zwölf  Mitgliedern  eingesetzt,  der  Isaak  Berr, 
Rabbiner  Sinzheim  und  andere  angehörten,  und  die  mit  der  Aus- 
arbeitung der  Antworten  auf  die  gestellten  Fragen  betraut  wurde. 
Die  Beantwortimg  der  ersten  Fragengruppe  nahm  nur  einige 
Tage  in  Anspruch,  so  daß  die  Versammlung  schon  in  der  Sitzung 
vom  4.  August  an  ihre  Erörterung  herantreten  konnte.  Die  erste 
der  Fragen  (die  von  der  Vielweiberei),  wurde  mit  Leichtigkeit 
durch  den  Hinweis  auf  den  Umstand  abgefertigt,  daß  die  Sitte 
der  strengen  Monogamie  sich  bei  den  europäischen  Juden  seit 
langem  eingebürgert  hätte.  Die  Frage  wegen  der  Ehescheidung 
wurde  dahin  beantwortet,  daß  der  vom  Rabbiner  vollzogene 
religiöse  Akt  der  Ehescheidung  erst  nach  dessen  Bestätigung 
durch  das  allgemeine  bürgerliche  Gericht  in  Kraft  trete;  es 
wurde  dabei  darauf  hingewiesen,  daß  die  französischen  Rabbiner 
seit  der  Emanzipation  am  bürgerlichen  Eide  treu  festhalten 
und  die  religiösen  Akte  der  Kontrolle  der  staatlichen  Institu- 
tionen unterstellen.  Größere  Schwierigkeiten  bereitete  die  Be- 
antwortung der  dritten  Frage,  der  von  den  Mischehen.  Aber 
auch  hier  fand  sich  ein  Ausweg:  die  Antwort  lautete,  daß  alle 
zwischen  Juden  und  Christen  geschlossenen  Ehen  die  Kraft  nicht 
religiöser,  sondern  bürgerlicher  Akte  besäßen,  wie  es  auch  bei  den 
Mischehen  zwischen  Katholiken  und  Andersgläubigen  der  Fall 

135 


sei:  die  katholische  Geistlichkeit  anerkenne  zwar  solche  Ehen, 
erteile  ihnen  aber  keine  kirchliche  Weihe.  Andererseits  wurde 
festgestellt,  daß  ,^ein  mit  einer  Christin  verheirateter  Jude  in  den 
Augen  seiner  Stammesgenossen  nicht  aufhört,  Jude  zu  sein". 

Den  Antworten  ging  eine  von  der  Versammlung  angenommene 
charakteristische  ,, Deklaration"  voraus.  In  dieser  wurde  ges£^, 
daß  „die  von  den  Gefühlen  der  Dankbarkeit,  Liebe  und  Ehr- 
furcht gegenüber  der  geheiligten  Person  des  Kaisers  geleitete 
Versammlung  berechtigt  ist,  seinen  väterlichen  Willen  in  allen 
Dingen  zur  Richtschnur  zu  nehmen",  daß  die  jüdische  Religion 
befiehlt,  in  allen  bürgerlichen  und  politischen  Angelegenheiten 
den  Gesetzen  des  Staates  vor  denen  der  Religion  den  Vorzug  zu 
geben,  so  daß  im  Falle  eines  Widerspruches  zwischen  diesen  und 
jenen  die  religiösen  Gesetze  zurücktreten  müssen. 

Die  Versammlung,  die  von  Anfang  an  die  abschüssige  Bahn  der 
Nachgiebigkeit  und  Liebedienerei  betreten  hatte,  glitt  unaufhalt- 
sam in  dieser  Richtung  weiter.  Und  als  die  Reihe  an  die  zweite 
Gruppe  der  Fragen  kam,  die  sich  auf  die  Vereinbarkeit  des  bür- 
gerlichen Patriotismus  mit  dem  nationalen  Gefühl  bezogen,  über- 
schritt die  servile  Gesinnung  der  Versammlung  jedes  erdenkliche 
Maß.  Statt  sich  darauf  zu  beschränken,  die  Zulässigkeit  einer  der- 
artigen Vereinbarkeit  festzustellen,  gingen  die  Antworten  der 
Versammlung  weit  darüber  hinaus  und  leugneten  die  nationale 
Einheit  der  Juden.  Der  Satz,  daß  die  Franzosen  von  den  Juden 
als  Brüder  angesehen  werden,  wurde  folgendermaßen  erläutert: 
„Im  gegenwärtigen  Moment  bilden  die  Juden  keine  Nation  mehr, 
da  ihnen  der  Vorrang  zuteil  wurde,  einer  großen  Nation  (der 
französischen)  angegliedert  zu  werden,  und  sie  erblicken  darin 
ihre  politische  Erlösung."  Es  wurde  das  Fehlen  jedes  Solidaritäts- 
gefühls zwischen  den  Juden  verschiedener  Länder  hervorgehoben : 
ein  französischer  Jude  fühle  sich  als  Fremder  unter  seinen 
Stammesgenossen  in  England;  französisthe  Juden  kämpfen 
gern  gegen  ihre  in  feindlichen  Truppen  eingereihten  Stammes- 
genossen .  .  .  Auf  diese  Weise  wurde  die  Formel  der  nationalen 
Selbstverleugnung  verkündet.  Nicht  alle  schlössen  sich  dieser 
Formel  mit  derselben  Aufrichtigkeit  an.  Angesichts  der  offen- 
k,undigen  Drohungen,  die  in  der  „Begrüßungsrede"  Moles  im 
Namen  des  Kaisers  enthalten  waren,  enthielten  sich  viele  einer 
Entgegnung.  Man  drohte  den  Juden  mit  der  Entziehimg  der 

136 


staatsbürgerlichen  Rechte,  wenn  sie  sich  dem  Wunsche  des 
Kaisers,  „Franzosen  zu  sein",  widersetzten;  die  eingeschüchterten 
Abgeordneten  mußten  sich  fügen  und  erklären,  daß  die  Juden 
nur  „Franzosen  mosaischer  Religion"  und  auch  bereit  seien,  aus 
dieser  Religion  aUes  auszuschließen,  was  mit  den  Forderungen 
der  Regierung  sich  nicht  vereinbaren  ließe. 

Mit  derselben  äußerlichen  Leichtigkeit,  doch  anscheinend  nicht 
ohne  schwere  Kämpfe  in  den  Seelfen  vieler  Abgeordneter,  ver- 
zichtete die  Versammlung  auch  auf  jeden  Anspruch  auf  eine  weit- 
gehende Gemeindeautonomie.  Die  Versammltmg  sprach  sich  in 
ihren  Antworten  auf  die  das  Rabbinat  betreffenden  Fragen  für 
die  Abschaffung  der  Rabbinergerichtsbarkeit  aus,  wie  auch  für 
die  Beschränkung  der  Tätigkeit  der  Rabbiner  auf  die  religiösen 
Funktionen,  wagte  aber  dabei  nicht,  irgendwelche  Forderungen 
hinsichtlich  der  Organisation  der  jüdischen  Gemeinden  aufzu- 
stellen. Die  Antworten  der  Versammlung  auf  die  letzte  Fragen- 
gruppe „bezüglich  des  Wuchers"  bildeten  eine  lange  Apologie 
der  jüdischen  Gesetzgebung,  die  die  Wucherer  niemals  in  Schutz 
genommen  habe.  Mit  Entrüstung  wies  die  Versammlung  den  Ge- 
danken von  sich,  daß  die  Juden  „eine  natürliche  Neigung  zum 
Wucher"  hätten:  Gewiß  gäbe  es  unter  ihnen  eine  bestimmte 
Gruppe  von  Personen,  die  sich  „diesem  schändlichen,  von  ihrer 
Religion  verpönten  Beruf  widmen".  Aber  sollen  denn  Zehn- 
tausende für  die  Schuld  eines  Häufleins  büßen  ? 

Die  in  den  Augustsitzungen  des  Jahres  1806  von  der  Versamm- 
lung ausgearbeiteten  Antworten  wurden  dem  Kaiser  unter- 
breitet; im  großen  und  ganzen  befriedigten  sie  ihn*).  Mit  dem  In- 
stinkte eines  gewohnten  Eroberers  begriff  der  Kaiser,  daß  er  dies- 
mal einen  neuen  Sieg  davontrug  —  den  Sieg  über  das  Judentum. 
Nun  galt  es,  die  Ergebnisse  dieses  Sieges  zu  festigen.  Die  Be- 
schlüsse einer  zufälligen  Versammlung  von  Personen,  unter  denen 
sich  sehr  wenige  Vertreter  des  geistlichen  Standes  befanden, 
konnten  für  die  ganze  jüdische  Bevölkerung  auch  nicht  bindend 
sein.  Es  müßte  also  ein  maßgebendes  Organ  ins  Leben  gerufen 
werden,  das  diese  Beschlüsse  bestätigen  und  ihnen  bindende  Be- 


*)  Wie  aus  einem  Priratbriefe  Napoleons  zu  ersehen  ist,  wollte  er,  daß  die 
Versammlung  einen  kühneren  Entschluß  in  Sachen  der  Mischehe  fasse  imd 
„solche  Verbindungen  zwischen  Juden  und  Franzosen  als  ein  Mittel  des  Schutze« 
und  ab  Zeichen  der  Bhxe(!)  für  das  jüdische  Volk  empfehle". 

137 


deutung  verleihen  sollte.  Und  da  verfiel  Napoleon,  der  eine  Vor- 
liebe für  großartige  Gesten  hatte,  auf  den  Gedanken,  eine  große 
alljüdische  Synode,  das  Synhedrion  einzuberufen.  Aus  den  ihm 
unterbreiteten  Antworten  der  Notabelnversammlung  erfuhr  er, 
daß  das  jüdische  Volk  seit  dem  Falle  Judäas  über  kein  Kollegium 
von  autoritärer  Macht  verfügte,  das  mit  dem  großen  alten 
Synhedrion,  welches  die  die  Thora  ergänzende  Gesetzgebung  aus- 
gearbeitet hatte,  zu  vergleichen  wäre.  Um  all  diesen  neuen  Be- 
schlüssen, die  das  jüdische  Leben  von  Grund  aus  umgestalten 
sollten,  besonderen  Nachdruck  zu  verleihen,  müsse  man  in  Paris 
ein  eigenes  Sjnihedrion  einberufen,  das  ihnen  die  Weihe  zu 
erteilen  hätte.  Die  neue  Synode  müßte  nach  dem  Vorbild  der 
alten  ebenfalls  aus  71  Mitgliedem,  vornehmlich  aus  Personen 
geistlichen  Standes  und  aus  Gelehrten  bestehen.  Da  aber 
Napoleon  andererseits  befürchtete,  daß  die  „fanatischen  Rab- 
biner" in  der  künftigen  Sjrtiode  durch  ihr  numerisches  und  viel- 
leicht auch  geistiges  Übergewicht  die  I^iberalen  verdränget 
würden,  so  sorgte  er  rechtzeitig  für  die  Sicherung  einer  gefügigen 
Zusammensetzung.  ,,Man  muß",  schrieb  er  an  den  Minister  des 
Innern,  Champagny  (3.  September),  „eine  achtunggebietende 
Versammlung  von  Männern  schaffen,  die  um  die  Wahrung  und 
Aufrechterhaltung  ihrer  Errungenschaften  (der  Gleichberech- 
tigung) besorgt  wären,  eine  Sjnaode  jüdischer  Führer,  die  sich 
scheuen  würden,  die  Schuld  am  Unglück  des  jüdischen  Volkes 
(wenn  nämlich  dem  Kaiser  unerwünschte  Beschlüsse  angenom- 
men werden)  zu  tragen."  Eine  zuverlässige  Mehrheit  der  Synode 
„wird  die  schüchternen  Rabbiner  mit  sich  reißen  und  auf  die 
fanatischen  unter  ihnen,  die  möglicherweise  einen  zähen  Wider- 
stand an  den  Tag  legen  werden,  einen  entscheidenden  Einfluß 
insofern  ausüben,  als  sie  sich  vor  dem  Dilemma  sehen  werden, 
entweder  die  Beschlüsse  (der  Notabelnversammlung)  anzunehmen 
oder  die  Gefahr  einer  Vertreibung  des  jüdischen  Volkes 
heraufzubeschwören." 

In  der  Sitzung  vom  17.  September  erklärten  die  Kommissare 
der  Versammlung  der  Abgeordneten,  daß  die  Beschlüsse  der  Ver- 
sammlung den  Kaiser  zufriedenstellten,  und  verkündeten  die 
bevorstehende  Einberufung  des  „Großen  Synhedrions"  (Grand 
Sanhedrin).  Diesmal  hielt  Mole  eine  Rede,  die  bei  weitem  ver- 
söhnlicher klang.  Er  sprach  von  dem  großartigen  Anblick,  den 

138 


„diese  Versammlung  aufgeklärter,  aus  der  Nachkommenschaft 
des  ältesten  der  Völker  gewählter  Männer"  gewährte;  er  ver- 
sicherte, daß  Napoleon  der  einzige  Erlöser  „der  über  den  ganzen 
Erdball  verstreuten  Überreste  einer  auch  in  ihrem  Falle  herr- 
lichen Nation"  wäre;  aber  dieser  mächtige  Beschützer  „fordere 
religiöse  Bürgschaften"  dafür,  daß  die  in  den  Antworten  der 
Versammlung  niedergelegten  Prinzipien  streng  gewahrt  werden. 
Eine  derartige  Bürgschaft  müsse  von  einer  anderen  maß- 
gebenderen Versammlung  ausgehen  ,, deren  Beschlüsse  neben  die 
des  Talmuds  gestellt  und  für  die  Juden  aller  Länder  die  größte 
Autorität  haben  sollten".  Das  Große  Synhedrion  sei  berufen, 
den  wahren  Sinn  der  jüdischen  Gesetze  zu  interpretieren  „und  die 
falschen  Auslegungen  der  früheren  Jahrhimderte"  zu  beseitigen. 
Das  Synhedrion  solle  zu  zwei  Dritteln  aus  Rabbinern  bestehen; 
letztere  können  aus  der  Zahl  der  Versammlungsabgeordneten 
entnommen,  können  aber  auch  von  den  Gemeinden  neu  gewählt 
werden.  Das  andere  Drittel  jedoch  müsse  auf  dem  Wege  geheimer 
Abstimmung  aus  Laien  gewählt  werden.  Der  Kaiser  beauftragt 
die  jetzige  Abgeordnetenversammlung  das  dem  Synhedrion  vor- 
zulegende Material  vorzubereiten;  sie  werde  aber  auch  nach  dem 
Zusammentritt  des  Synhedrions  bis  zum  Abschlüsse  seiner  Ar- 
beiten bestehen  bleiben.  Vorderhand  müsse  die  Versammlung 
einen  aus  neun  Mitgliedern  bestehenden  Organisationsausschuß 
wählen,  in  welchem  alle  drei  Abgeordnetengruppen  —  „portu- 
giesische", deutsche  und  italienische  Juden  —  gleicherweise  ver- 
treten sein  sollen.  Dem  Organisationsausschuß  wird  der  Auftrag 
erteilt,  „sämtlichen  Synagogen  Europas"  mitzuteilen,  daß  sie 
ihre  Abgeordneten  zur  Teilnahme  am  Synhedrion  schicken 
dürfen. 

Die  Versammlung,  die  in  die  Pläne  Napoleons  nicht  eingeweiht 
war,  nahm  diese  Mitteilung  mit  Begeisterung  auf.  Viele  freuten 
sich  aufrichtig  über  die  traditionelle  Form  der  bevorstehenden 
Sjmode;  schon  der  bloße  Name,  der  die  glorreiche  Vergangenheit 
in  der  Erinnerung  hervorzauberte,  brachte  die  Gemüter  in 
Wallung.  Diese  historische  Dekoration  verdeckte  vor  den  einen 
die  dreiste  Anmaßung,  das  Judentum  nach  Weisungen  der 
Obrigkeit  erneuern  zu  wollen;  die  anderen  wiederum  sahen  es 
wohl,  aber  billigten  im  Stillen  das  Vorhaben  der  Regierung. 
Einer  von  den  Befürwortern  der  offiziellen  Reformation,  der  Vor- 

139 


sitzende  der  Versammlung,  Furtado,  hielt  in  Erwiderung  auf  die 
Ansprache  Moles  eine  lange  begeisterte  Rede.  Er  verherrlichte 
den  Kaiser,  der  die  „Schicksale  Europas  reguliere"  und  der  mitten 
in  seinen  Sorgen  um  den  Erdball  sich  Zeit  nehme  und  es  für 
nötig  erachte,  an  „unsere  Wiedergeburt"  zu  denken,  und  brachte 
den  Gedanken  zum  Ausdruck,  daß  jede  „positive  Religion"  der 
Kontrolle  der  Regierung  unterstellt  wetden  müsse,  um  die  Ver- 
breitung von  abergläubischen  Vorstellungen  und  moralschädigen- 
den Ideen  zu  verhüten. 

Die  letzten  Monate  des  Jahres  1806  und  der  Beginn  des  Jahres 
1807  verliefen  für  die  Notabein  Versammlung  in  vorbereitenden 
Arbeiten  für  das  S5Tihedrion,  die  von  dem  neungliedrigen  Aus- 
schuß unter  Beteiligung  der  kaiserlichen  Kommissare  mit  be- 
sonderem Eifer  ausgeführt  wurden.  Anfangs  Oktober  erließ  der 
Ausschuß  einen  Aufruf  an  sämtliche  Juden  Europas,  in  dem  das 
/,große  Ereignis",  die  Eröffnung  des  Synhedrions,  verkündet 
wurde;  die  Eröffnung  sollte  am  20.  Oktober  stattfinden  (später 
wurde  sie  auf  drei  Monate  verschoben) :  dieses  Ereignis  werde  ,,für 
die  zerstreuten  Überbleibsel  von  Abrahams  Nachkommen  eine 
Periode  der  Erlösung  und  des  Glückes"  eröffnen.  Der  in  vier 
Sprachen  —  französisch,  hebräisch,  italienisch  und  deutsch  — 
abgefaßte  Aufruf  machte  einen  gewaltigen  Eindruck,  insbesondere 
auf  die  außerhalb  Frankreichs  lebenden  Juden,  die  von  den 
eigentlichen  Triebfedern  der  vom  Kaiser  unternommenen  par- 
lamentarischen Organisation  des  Judentums  nichts  ahnten.  Im 
Dezember  wurde  ein  vom  „Ausschusse  der  Neun"  ausgearbeiteter 
Entwurf  der  Organisierung  jüdischer  Konsistorien  als  Binde- 
glieder zwischen  den  Gemeinden  und  der  Regierung  von  der 
Notabeinversammlung  gutgeheißen.  In  einem  erläuternden  Zu- 
satz zum  Projekt  wurde  als  Beweis  für  dessen  Notwendigkeit 
nicht  sowohl  das  Interesse  der  gemeindlichen  Selbstverwaltvmg 
als  vielmehr  der  Umstand  angeführt,  daß  die  genannten  Kon- 
sistorien den  Absichten  der  Regierung  dienen,  indem  sie  für  die 
strikte  Durchführung  aller  Beschlüsse  der  Abgeordnetenver- 
sammlung und  des  Synhedrions,  und  unter  anderem  auch  für  die 
Heranziehung  der  jüdischen  Jugend  zum  „edlen  Kriegshand- 
werk", sorgen  werden.  In  all  diesen  Erklärungen  und  Beschlüssen 
läßt  sich  nur  ein  einziges  Bestreben  erkennen,  und  zwar  das, 
dem  Kaiser  gefällig  zu  sein. 

140 


In  einer  der  letzten  Notabeinsitzungen  (5.  Februar  1807)  hielt 
ein  junger  Abgeordneter  aus  dem  Departement  der  Seealpen,  ein 
gewisser  Isaak-Samuel  Avigdor  aus  Nizza  eine  seltsame  Rede: 
er  bemühte  sich,  den  „historischen"  Nachweis  zu  liefern,  daß  die 
bedeutendsten  Vertreter  der  christlichen  Kirche  sich  zu  allen 
Zeiten  den  Juden  gegenüber  freundlich  verhalten  hätten  und 
deren  Verfolgung  verpönten,  und  daß  sie  daher  auf  den  Dank  des 
jüdischen  Volkes  Anspruch  erheben  dürfen.  Avigdor  beantrag 
eine  Resolution  folgenden  Inhaltes:  „Die  an  der  jüdischen  Synode 
teilnehmenden  Abgeordneten  des  französischen  Kaiserreichs  und 
des  italienischen  Königreichs,  die  von  den  Gefühlen  der  Erkennt- 
lichkeit für  die  fortwährenden  Wohltaten  der  christlichen  Geist- 
lichkeit in  vergangenen  Jahrhunderten  gegen  die  Juden  ver- 
schiedener Länder  Europas  geleitet  werden  und  von  Dankbarkeit 
für  die  Aufnahme  erfüllt  sind,  die  verschiedene  Oberhäupter  der 
Kirche  (Päpste)  und  andere  geistliche  Würdenträger  den  Juden 
verschiedener  Länder  in  jenen  Zeiten  gewährten,  als  Barbarei, 
Aberglaube  und  Unwissenheit  sich  zur  Verfolgung  tmd  Aus- 
stoßung der  Juden  aus  dem  Schöße  der  Gesellschaft  vereinten, 
fassen  den  Beschluß,  den  Ausdruck  all  dieser  Gefühle  im 
heutigen  Protokolle  der  Versammlung  niederzulegen,  damit 
dies  die  Dankbarkeit  der  hier  versammelten  Juden  für  die  von 
den  kirchlichen  Würdenträgem  erwiesenen  Wohltaten  für 
immer  besiegele.  Eine  Abschrift  dieses  Protokolls  geht  dem 
Kultusminister  zu."  Dieser  seltsame  Antrag  wurde  von  der  Ver- 
sammlung angenommen.  Die  Abkömmlinge  der  im  Mittelalter 
aus  Frankreich  vertriebenen  Juden,  der  Marranen  und  der  Opfer 
der  päpstlichen  Inquisition  verewigten  in  dieser  Kundgebung  die 
„Wohltaten"  solcher  Päpste,  wie  Innozenz  III,  Patd  IV  und  der 
zeitgenössische  Pius  V,  der  Urheber  des  unmenschlichen  „Juden- 
edikts" von  1775.  Eine  derartig  knechtische  Gesinnung  setzte 
sogar  die  der  Sitzung  beiwohnenden  kaiserlichen  Komjnissare  in 
Erstaunen,  und  einer  von  ihnen  (PortaHs)  teilte  es  dem  Kaiser 
als  einen  „pikanten"  Fall  mit :  Juden  preisen  die  Dxildsamkeit  und 
die  Milde  der  katholischen  Kirche  zu  einer  Zeit,  wo  Viele  Christen 
„im  Namen  einer  vermeintlichen  Philosophie  gegen  den  Fanatis- 
mus und  die  Unduldsamkeit  der  katholischen  Geistlichen  auf- 
treten". Wer  von  den  beiden  Parteien  hier  im  Rechte  war,  konnte 
man  aus  einer  Beschwerde  ersehen,  die  gleichzeitig  mit  der 

141 


Resolution  der  jüdischen  Versammlung  beim  Kultusminister  ein- 
lief :  ein  Jude,  der  das  Amt  eines  Munizipalrates  der  Stadt  Cogny 
bekleidete,  beklagte  sich,  daß  der  dortige  kathoh'sche  Geistliche 
ihm  den  Eintritt  in  die  Kirche  an  einem  Tage  verwehrt  hatte, 
an  dem  ein  Tedeum  für  den  Kaiser  verrichtet  wurde  .  .  .  Natür- 
lich verschaffte  die  katholikenfreundliche  Kundgebung  der  jüdi- 
schen Abgeordneten  dem  Kaiser  eine  riesige  Genugtuung:  er 
gewann  die  Überzeugung,  daß  man  sich  auf  eine  derartig  ge- 
fügige Versammlung  getrost  verlassen  könne  und  daß  die  von  ihr 
gewählten  Mitglieder  die  Absichten  der  Regierung  auf  dem  bevor- 
stehenden Pariser  Synhedrion  mit  Erfolg  durchsetzen  würden. 
§  23.  „Das  große  Synhedrion*^  zu  Paris.  Am  9.  Februar 
1807  wurden  in  Paris  die  Sitzungen  des  Synhedrions  er- 
öffnet. Die  Synode  setzte  sich  aus  46  geistlichen  Personen  und 
25  I^aien  zusammen,  dazu  10  Stellvertretern  und  2  Schriftführern. 
Der  überwiegende  Teil  der  neu  gewählten  Rabbiner  gehörte  den 
italienischen  und  deutschen  Provinzen  an.  Das  vom  Minister  des 
Inneren  ernannte  Präsidium  bestand  aus  3  Rabbinern,  die 
die  Ehrentitel  der  Mitglieder  des  Präsidiums  des  alten  Synhe- 
drions führen  durften:  als  Präsident  (nassi)  fungierte  der  elsäs- 
sische  Rabbiner  David  Sinzheim,  als  sein  erster  Gehilfe  (ab-beth- 
din)  der  italienische  Rabbiner  Segre,  als  sein  zweiter  Gehilfe 
(chacham)  Abraham  de  Cologna  aus  Mantua.  Nach  einem 
Gottesdienste  in  der  Synagoge,  bei  dem  die  Rabbiner  Sinzheim 
und  Cologna  Reden  hielten,  wurde  die  Sitzung  in  einem  der 
Räume  derselben,  „Hotel  de  Ville",  eröffnet,  wo  früher  die 
„Notabein"  getagt  hatten.  Große  Aufmerksamkeit  wurde  der 
dekorativen  Seite  der  Sache  zugewendet.  Nach  Anordnung  der 
Behörden  waren  alle  Mitglieder  des  Synhedrions  mit  schwarzen 
Mänteln  und  schwarzen  Hüten  bekleidet,  die  Mitglieder  des  Prä- 
sidiums außerdem  mit  Talaren  aus  Samt  oder  Seide  mit  breiten 
Gürteln  und  pelzverbrämten  Hüten.  Die  Mitglieder  saßen  im 
Halbkreise,  zu  beiden  Seiten  des  Präsidiums,  in  einer  nach  dem 
Alter  bestimmten  Rangordnung.  Die  Sitzungen  waren  öffentlich 
und  boten  ein  interessantes  Schauspiel  nicht  nur  für  das  jüdische, 
sondern  auch  für  das  christliche  Publikum.  Dies  störte  die  Frei- 
heit der  Debatten  und  verurteilte  viele  Delegierte,  die  sich  genier- 
ten, ihre  tiefempfundenen,  aber  nicht  modernen  Überzeugungen 
auszusprechen,  zum  Schweigen. 

142 


Und  in  der  Tat  bildeten  die  Synhedrionssitzungen  nur  einen  mit 
feierlichen  Zeremonien  umstellten  Nachtrag  zu  der  Arbeit,  die 
von  der  Versammlung  der  Notabelndelegierten  bereits  vollendet 
worden  war.  Der  lebendige  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden 
Versammlungen  machte  sich  auf  eine  drastische  Weise  geltend 
und  lag  klar  vor  aller  Augen :  der  Vorsitzende  der  früheren  Ver- 
sammlung, Furtado,  trat  als  Referent  in  den  wichtigsten  Fragen 
der  Synhedrionssitzungen  auf.  Das  Synhedrion  brachte  es  im  Ver- 
laufe von  sieben  Sitzungen  fertig,  die  Antworten  der  Delegierten- 
versammlung auf  alle  zwölf  Fragen  einer  Prüfung  zu  unterziehen 
und  außerdem  einen  schönen  Vortrag  Furtados  über  jede  einzelne 
Frage  anzuhören;  die  Antworten  der  früHeren  Versammlung 
wurden  fast  ohne  Debatten  und  einstimmig  angenommen;  dar- 
gelegt wurden  sie  jedoch  in  der  Form  von  „belehrenden  Be- 
schlüssen" (decisions  doctrinales)  mit  Zusätzen  in  der  Formu- 
lierung und  im  erläuternden  Texte.  In  der  neuen,  dem  Texte  der 
Antworten  vorangeschickten  ,, Deklaration"  wurde  die  prin- 
zipielle Stellungnahme  des  Synhedrions  zur  Frage  der  Verträg- 
lichkeit der  jüdischen  Gesetze  mit  denen  des  Staates  zum  Aus- 
druck gebracht.  In  dieser  offensichtlich  von  Furtado  inspirierten 
Deklaration  wurde  gesagt,  daß  die  jüdischen  Gesetze  in  zwei 
Kategorien  eingeteilt  werden  müssen :  in  religiöse  und  politische. 
Die  ersteren  seien  unveränderlich  und  weder  an  zeitliche 
noch  an  örtliche  Bedingungen  gebunden.  Was  jedoch  die 
politischen  Gesetze  betrifft,  die  aus  einer  Zeit  stammen,  als  das 
jüdische  Volk  ein  selbständiges  Dasein  in  seinem  ehemaligen 
Heimatlande  Palästina  führte,  so  hätten  sie  ,,jede  Wirksamkeit 
eingebüßt,  seitdem  das  jüdische  Volk  aufgehört  hat,  einen 
nationalen  Organismus  zu  bilden".  Aber  auch  die  religiösen  Vor- 
schriften müssen  bei  einem  eventuellen  Zusammenstoße  mit  den 
staatsbürgerh'chen  Gesetzen  vor  diesen  zurücktreten  oder 
wenigstens  sich  ihnen  anzupassen  suchen  —  der  letztere  Gedanke 
wurde  zwar  in  der  einleitenden  Deklaration  nicht  direkt  aus- 
gesprochen, gewann  aber  greifbare  Gestalt  in  einer  ganzen  Reihe 
vonSynhedrionsbeschlüssen.  So  hat  beispielsweise  das  Synhedrion 
in  den  mit  der  Ehescheidung  zusammenhängenden  Fragen  die 
Ungültigkeit  aller  rabbinischen  Entscheidungen  betreffs  Ehe- 
schheßungen  und  Ehescheidungen  beschlossen,  denen  nicht  ent- 
sprechende standesamtliche  Akte  vorangegangen  waren.  In  der 


Frage  der  Mischehen  wurde  dem  betreffenden  Beschluß  eine  sehr 
konziliante  Form  gegeben:  solche  Ehen  bewahren  ihre  volle 
Gültigkeit  in  staatsbürgerlicher  Hinsicht,  und  obwohl  sie  keine 
religiöse  Sanktion  erhalten  können,  ziehen  sie  doch  kein 
Anathema  nach  sich.  Über  das  Verschwinden  des  nationalen 
Familientypus  bei  Mischehen  brauchte  man  sich  keine  Sorgen  zu 
machen,  nachdem  das  Judentum  zu  einer  abgestorbenen  Nation 
erklärt  worden  war . .  .  Des  ferneren  beschloß  das  Synhedrion, 
daß  die  jüdischen  Soldaten  während  ihres  Dienstes  aller  mit 
dessen  Ausübung  unvereinbaren  religiösen  Verpflichtungen  ent- 
hoben werden.  Und  nur  in  den  die  Gewerbe  und  den  Wucher 
betreffenden  Fragen  führte  das  Synhedrion  eine  würdige  Sprache, 
indem  es  die  schändlichen  Wuchergeschäfte  aufs  Entschiedenste 
verurteilte  und  die  Stammesgenossen  zu  nutzbringenden,  nun- 
mehr allen  zugänglichen  Beschäftigungen  aufrief. 

Die  Tagung  des  Synhedrions  dauerte  genau  einen  Monat.  Die 
Schlußsitzung  fand  am  9.  März  1807  statt.  Der  Vorsitzende  ver- 
las ein  Schreiben  der  kaiserlichen  Kommissare,  in  dem  es  hieß, 
daß  die  Regierung  die  Arbeiten  des  S3nihedrions  für  glücklich  ab- 
geschlossen erachte.  Das  Synhedrion  wurde  geschlossen,  aber  die 
meisten  seiner  Mitglieder  kehrten  zur  Delegiertenversammlung 
zurück,  die  die  Rolle  einer  allgemeinen  Versammlung  spielte  und 
am  25.  März  ihre  Sitzungen  wieder  aufnahm.  Furtado  referierte 
über  die  Tätigkeit  des  Sj'nhedrions  und  redete  im  Tone  eines 
Menschen,  der  eine  mühevolle  Heldentat  vollbracht  hatte.  Und 
nur  als  die  Rede  auf  den  alle  Anwesenden  peinlich  berühren- 
den Umstand  kam,  daß  die  Synhedrionsmitglieder  keiner  Audienz 
beim  Kaiser  gewürdigt  worden  waren,  verriet  seine  Rede  eine 
etwas  resignierte  Wendung :  die  plötzliche  Abreise  des  Kaisers  an 
die  Front  habe  ihn  verhindert,  die  jüdischen  Vertreter  zu  emp- 
fangen, sowie  sie  auch  diese  Vertreter  daran  verhindert  habe, 
sich  bei  „unserem  herrlichen  Wohltäter"  persönlich  zu  bedan- 
ken. In  den  darauffolgenden  Sitzungen  nahm  die  Versammlung 
nach  langen  Debatten  eine  Resolution  an,  worin  dem  Wunsche 
Ausdruck  gegeben  wurde,  gegen  all  jene  jüdischen  Wucherer 
und  Trödler  mit  äußerster  Strenge  vorzugehen,  die  durch 
ihr  Benehmen  zu  verschiedenen  Beschwerden  Anlaß  geben  imd 
auf  alle  anderen  „Glaubensgenossen"  einen  Schatten  werfen;  zu- 
gleich wurde  jedoch  beschlossen.  Schritte  zur  Abschaffung  des  die 

144 


Juden  niinierenden  Erlasses  vom  30.  Mai  1806  zu  unternehmen, 
der  die  Schuldforderungen  annullierte.  Nach  der  Verlesung  einer 
einfachen  Erklärung  der  Kommissare,  daß  sämtliche  der  Ver- 
sammlimg  überwiesenen  Arbeiten  nun  beendet  seien,  wurde  die 
Delegiertenversammlung  am  6.  April  1807  geschlossen. 

Diese  beiden  jüdischen  „Parlamente",  die  ihre  Entstehung 
einer  Laune  Napoleons  verdankten,  verloren  für  ihn  nach  und 
nach  jedes  Interesse.  Anfangs  wuchsen  die  Gelüste  des  Kaisers 
immer  mehr  in  dem  Maße,  als  die  jüdischen  Vertreter  sich  ge- 
fügiger und  nachgiebiger  zeigten.  Abgesehen  von  den  bereits  ge- 
machten Konzessionen,  erwartete  er  vom  Synhedrion  folgende 
drei  gegen  die  jüdische  Bevölkerung  gerichtete  Maßnahmen*); 
das  Verbot  von  Leihoperationen  und  die  Beschränkung  aller 
anderen  Geschäftszweige  für  eine  bestimmte  Frist;  die  Förderung 
von  Mischehen,  die  sogar  einer  bestimmten  Norm  unterliegen 
sollten:  eine  Mischehe  auf  zwei  jüdische  Ehen  („damit  das 
jüdische  Blut  seine  spezifischen  Eigenschaften  einbüße"); 
schließlich  verlangte  er,  daß  das  Synhedrion  die  genaue  Erfüllung 
der  Müitärpflicht  durch  die  Juden  sicherstelle.  Das  Bestreben 
Napoleons  ging  überhaupt  darauf  aus,  durch  Vermittlung  der 
jüdischen  ,, Vertreter"  die  Juden  dauernd  bevormunden  zu 
können ;  das  Synhedrion  sollte  ihm  die  nötigen  Handhaben  dazu 
geben.  Sein  getreuer  Diener,  der  Minister  Champagny,  war  mit 
seinem  Herrn  in  diesem  Punkte  eines  Sinnes.  „Diese  Versamm- 
lungen", schrieb  er  dem  Kaiser,  „sollen  uns  eine  Waffe  gegen 
sich  selbst,  wie  gegen  das  durch  sie  vertretene  Volk  in  die  Hände 
spielen."  Dies  war  die  Sprache,  die  die  zwei  Auguren  der  Politik 
in  jenen  Tagen  führten,  als  die  jüdischen  Delegierten  sich  in  Lob- 
hymnen  auf  den  ,, herrlichen  Wohltäter,  Napoleon  den  Großen" 
ergingen,  den  Gott  zur  Rettung  der  bedrückten  ,, Nachkommen 
des  alten  Jakob"  als  „Werkzeug  seiner  Gnade"  erkoreü  habe. 
Bald  traten  die  geheimen  Pläne  des  Kaisers  ans  Licht,  und  die 
Juden  bekamen  seine  ,, wohltätige"  Hand  am  eigenen  Leibe  zu 
spüren. 

§  24.  „Das  schmachvolle  Dekret."  Napoleon,  der  mit  der  Ab- 
änderung der  Landkarte  beschäftigt  wat,  hatte  nicht  viel  Zeit 
übrig,  um  an  die  Juden  zu  denken.  Das  Jahr  der  „jüdischen 

^)  Wie  aus  dem  Briefwechsel  Napoleons  mit  dem  Minister  des  Inneren  Cham- 
pagny zu  ersehen  ist. 

10    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  145 


Parlamente*'  (1806 — 1807)  war  zugleich  das  Jahr  der  schärfsten 
politischen  Krisen:  Der  Rheinbund  wurde  ins  Leben  gerufen, 
Preußen  wurde  endgültig  geschlagen  und  gedemütigt,  aus  Polen 
wurde  das  Herzogtum  Warschau  herausgeschnitten,  der  Tilsiter 
Friede  wurde  geschlossen.  Der  Erschütterer  der  Throne,  der 
Herrscher  über  das  gebändigte  Europa  hatte  tmter  diesen  Um- 
ständen nicht  die  geringste  Neigung,  sich  mit  den  jüdischen  An- 
gelegenheiten abzugeben.  Zur  Niederhaltung  der  Juden  brauchte 
er  weder  Truppen  noch  kaiserliche  Dekrete,  und  selbst  gewöhn- 
liche Verfügungen  der  Behörden  genügten,  um  auf  friedlichem 
Wege  dasselbe  Resultat  zu  erzielen.  Die  Beamten  setzten  das  Werk 
ihres  Herrn  in  dem  gleichen  Geiste  fort.  Als  die  Wirkungsfrist 
des  Erlasses  von  der  Einstellung  aller  Zahlungen  an  jüdische 
Gläubiger  im  Frühling  1807  abgelaufen  war,  verlängerte  der 
kaiserliche  Erzkanzler  Cambacer^s  die  Gültigkeit  dieses  gesetz- 
widrigen und  ruinierenden  Dekrets  durch  ein  einfaches  Rund- 
schreiben auf  tmbestimmte  Zeit,  d.  h.  bis  auf  weitere  Anord- 
nungen des  damals  im  Felde  stehenden  Kaisers.  Das  dies- 
bezügliche Gesuch  der  Delegiertenversammlung  wurde  nicht  be- 
achtet; und  auch  in  anderen  Punkten  blieben  die  Schritte  der 
jüdischen  Delegierten  fruchtlos.  Alle  Hoffnungen  des  „jüdischen 
Parlamentes"  scheiterten,  als  Napoleon  sich  wieder  Zeit  nahm, 
an  die  jüdische  Frage  zu  denken. 

In  der  verhältnismäßig  kurzen  Zeit  zwischen  der  Einberufung 
und  der  Auflösung  der  Delegiertenversammlung  schwankte 
der  Kaiser  in  seinen  Beziehungen  zu  den  Juden;  schließlich 
aber  nahm  seine  natürliche  Abneigung  überhand.  Es  besteht 
nicht  die  geringste  Notwendigkeit,  diesen  Umstand  durch  die  un- 
günstigen „Eindrücke"  zu  erklären,  „die  die  jüdischen  Massen 
Deutschlands  und  Polens  auf  den  Kaiser  während  seines  Feld- 
zuges gemacht  hatten"^);  hier  traten  eher  organische  Ursachen 


^)  Mutmaßung  eines  der  erwälinten  Kommissare,  des  späteren  Jlanzlers 
Pasquier,  in  seinen  Memoiren.  Er  behauptet,  daiJ  Napoleon  schon  vor  der  Ein- 
berufung des  Synhedrions  die  Juden  Deutschlands  und  Polens,  wohin  er  einen 
Peldzug  plante,  an  seine  Seite  habe  bringen  wollen.  Ein  anderer  Memoiren- 
schreiber (Barantes,  bei  Guizot  zitiert)  berichtet,  daß  die  Erwartungen  Napo- 
leons sich  erfüllt  hätten:  während  seines  Marsches  durch  Polen  hätten  ihm  die 
dortigen  Juden  durch  Lieferung  von  Proviant  und  wichtigen  Nachrichten 
große  Dienste  geleistet.  Der  Kaiser  habe  im  Scherz  gesagt:  „Dazu  habe  ich 
das  große  Synhedrion  gebraucht  f" 

146 


in  Wirksamkeit:  die  ursprüngliche  Abneigung  des  Kaisers  gegen 
die  Juden  und  das  Temperament  des  Eroberers,  der  es  ge- 
wohnt war,  den  Klnäuel  komplizierter  Fragen  mit  einem  einzigen 
Hiebe  zu  durchhauen.  Nach  der  Auflösung  der  jüdischen  Ver- 
sammlungen wurden  die  Synhedrionsbeschlüsse  im  Zusammen- 
hange mit  den  Gesetzentwürfen  der  drei  Kommissare  und  der 
Minister  mit  großem  Eifer  im  Reichsrate  behandelt.  Die  Gesetz- 
entwürfe empfahlen  verschiedene  Maßnahmen  zur  Beseitigung 
all  jener  wirtschaftlichen  Reibungen  in  den  Rheinprovinzen,  die 
vor  einem  Jahre  den  Kaiser  veranlaßt  hatten,  zu  Repressalien 
und  zur  Befragung  der  jüdischen  Delegierten  zu  greifen;  es 
wurden  auch  Mittel  zur  Regelimg  der  Judenfrage  in  staatsbürger- 
licher Hinsicht  und  zur  strikten  Erfüllung  der  Militärpflicht 
durch  die  Juden  angeregt;  letzteres  war  in  den  Augen  des  kaiser- 
lichen Soldaten  eines  der  heiligsten  Gebote.  Die  Mehrheit  des 
Reichsrates,  die  auf  die  liberale  Gesinnung  noch  nicht  verzichtet 
hatte,  verwarf  an  dieser  Entwürfen  alles,  was  das  Hauptgebot 
der  Verfassung  —  die  bürgerliche  Gleichberechtigimg  anzutasten 
drohte.  Aber  der  Kaiser  machte  niemals  viel  Federlesens  mit  der 
Verfassung,  wo  sie  seinem  Willen  zuwiderlief.  Und  am  17.  März 
1808  erließ  der  Kaiser  ein  Dekret,  das  nach  dem  Urteile  des 
Kommissars  Pasquier  „durch  seine  Härte  alle  Grenzen  der  Ge- 
rechtigkeit" überschritt,  oder  mit  anderen  Worten  —  das  durch 
die  große  Revolution  aufgestellte  Prinzip  der  Gleichberechtigung 
in  brutaler  Weise  über  den  Haufen  warf. 

Zwei  Dekrete  waren  es,  die  der  Kaiser  am  17.  März  unter- 
schrieb. Durch  das  eine  wurde  das  von  der  Delegierten- 
versammlung ausgearbeitete  Reglement  der  konsistorialen  Ein- 
richtung der  jüdischen  Gemeinden  bestätigt.  Nach  diesem  Regle- 
ment sollte  in  jedem  Departement  oder  in  jeder  Gruppe  von 
Departements,  die  2000  jüdische  Einwohner  zählen,  ein  lokales 
Konsistorium  und  in  Paris  ein  Zentralkonsistorium  errichtet 
werden.  Als  Mitgheder  eines  jeden  Konsistoriums  sollten  zwei 
oder  drei  Rabbiner  und  ebenso  viele  von  einer  kleinen  Gruppe 
angesehener  Bürger  gewählte  Laien  figurieren.  Sowohl  die 
Wähler  wie  die  Gewählten  mußten  von  der  lokalen  oder  zentralen 
Behörde  bestätigt  werden.  Die  Aufgaben  des  Konsistoriums  be- 
standen im  folgenden :  aufzupassen,  daß  die  Rabbiner  die  jüdischen 
Gesetze  nicht  anders  als  im  Geiste  des  „neuen  Talmuds"  —  der 


ra» 


147 


Beschlüsse  des  Pariser  Synhedrions  interpretieren;  die  Ordnung 
in  den  Bethäusern  aufrechtzuerhalten;  die  Juden  zu  nützlichen 
Beschäftigungen,  insbesondere  zur  Erfüllung  der  Militärpflicht, 
anzuhalten  und  den  Behörden  alljährlich  eine  leiste  mit  Angabe 
aller  einzuberufenden  jungen  Juden  im  betreffenden  Be-, 
zirk  zu  unterbreiten  ...  So  sah  die  Organisation  der  jüdischen 
Beamten  aus,  die  ausersehen  waren,  den  politischen,  ja  polizei- 
lichen Absichten  der  Regierung  zu  dienen,  nicht  aber  die  Auf- 
gaben einer  freien  Selbstverwaltung  zu  verwirklichen.  Das 
kaiserliche  Dekret,  das  diese  Gemeindeverfassung  bestätigte, 
wurde  als  ein  „gnädiges"  betrachtet.  Es  war  dies  die  einzige 
organisatorische,  durch  die  gemeinsamen  Bemiihungen  der 
jüdischen  Notabein  und  der  napoleonischen  Regierung  ins  Leben 
gerufene  Aktion.  Die  andere  Reform  bestand  darin,  daß  in  den 
offiziellen  Schriftstücken  nunmehr  das  Wort  „israelite"  statt 
des  früher  gebräuchlichen,  einen  verletzenden  Beigeschmack 
enthaltenden  Wortes  „juif"  immer  häufiger  aufzutauchen  be- 
gann. In  den  offiziellen  Schriftstücken  aus  dem  ersten  Kaiser- 
reiche kamen  noch  die  beiden  Ausdrücke  nebeneinander  vor; 
schließlich  wurden  aber  die  ,, Juden"  von  den  „Israeliten" 
gänzlich  verdrängt. 

Ein  anderes  Dekret  Napoleons  aus  derselben  unglückseligen 
Zeit,  ein  Dekret,  das  sich  mit  der  Regelung  der  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  der  Juden  befaßte,  sah  einer  Reform  am  wenigsten 
ähnlich.  In  den  drei  Teilen  dieses  ohne  die  Zustimmung  des 
Reichsrates  veröffentHchten  Dekrets  verfuhr  Napoleon  mit  den 
Juden  auf  eine  rein  militärische  Weise.  Der  erste  Teil  behandelt 
die  Regelung  der  Kjreditoperationen.  An  Stelle  des  Dekrets 
über  die  provisorische  Einstellung  der  Zahlungen  an  jüdische 
Gläubiger  treten  folgende,  wahrhaft  drakonische  Maßregeln  in 
Kraft:  Ungültig  sind  alle  Forderungen  jüdischer  Gläubiger  an 
Militärpersonen,  Frauen  und  Unmündige,  wenn  die  Schulden 
ohne  die  Einwilligung  der  Militärbehörden,  Gatten  imd  Eltern 
gemacht  worden  sind.  Der  einem  jüdischen  Gläubiger  von  einem 
Angehörigen  einer  nichthandeltreibenden  Klasse  ausgestellte 
Wechsel  wird  von  den  Gerichten  nur  dann  anerkannt,  wenn  der 
Jude  den  Beweis  erbringen  kann,  daß  der  Betrag  des  Wechsels 
dem  Schuldner  voll  und  ohne  Abzüge  ausbezahlt  worden  ist. 
Geldgeschäfte,    deren    Zinsen    io%   überschreiten,    gelten    als 

148 


Wucher  und  werden  vom  Gericht  nicht  anerkannt.  Auf  diese 
Weise  waren  durch  einen  einzigen  Federstrich  die  Vermögens- 
rechte vieler  Tausende  von  Bürgern  verletzt,  deren  Schuld 
höchstens  darin  bestehen  konnte,  daß  sie  sich  aus  dem  unter 
einem  jahrhundertlangen  Druck  entstandenen  Kreise  wirtschaft- 
licher Verhältnisse  nicht  mit  einem  Male  loszumachen  ver- 
mochten. Aber  der  Kaiser  ließ  es  bei  dieser  Enteignung  von  Bar- 
geld nicht  bewenden:  er  schaffte  die  Gewerbe-  und  Handelsfrei- 
heit überhaupt  ab.  Der  zweite  Teil  des  Dekrets  enthält  eine  Reihe 
von  Paragraphen,  die  es  den  Juden  imtersagen,  irgendwel- 
chen Handel  ohne  ein  vom  Präfekten  des  betreffenden  Departe- 
ments ausgestelltes  „Patent"  zu  betreiben.  Zur  Erlangung 
dieses  Patents  ist  die  Vorweisung  eines  vom  Munizipalrate  und 
dem  Kreiskonsistorium  ausgestellten  Zeugnisses  erforderlich,  das 
für  die  moralische  und  kommerzielle  Zuverlässigkeit  der  be- 
treffenden Person  bürgt  und  alljährlich  erneuert  werden  muß. 
Geschäftliche  Abmachungen  unpatentierter  Juden  werden  für 
ungültig  erklärt.  In  dieser  Richtimg  weiterschreitend,  verstieg 
sich  Napoleon  bis  zur  Abschaffung  der  Bewegungsfreiheit  —  des 
elementarsten  Rechtes  eines  jeden  Bürgers.  Der  dritte  Teil  des 
Dekrets  verbietet  den  Juden,  sich  in  den  Departements  des 
Oberen  und  Unteren  Rheins  (Elsaß)  niederzulassen.  Was  die 
anderen  Departements  des  Kaiserreichs  betrifft,  so  wird  die 
Niederlassung  nur  solchen  Juden  gestattet,  die  daselbst 
Grundstücke  behufs  eigenhändiger  Bebauung,  aber  keineswegs 
zu  geschäftlichen  Zwecken,  ankaufen.  In  bezug  auf  die  Militär- 
pflicht wird  eine  neue  Rechtseinschränkung  eingeführt :  der  Jude 
ist  verpflichtet,  persönlich  im  Heere  zu  dienen  und  hat  nicht  das 
jedem  christlichen  Rekruten  zukommende  Recht,  sich  durch 
einen  Freiwilligen  ersetzen  zu  lassen.  Der  Erlaß  vom  17.  Mäi^ 
schließt  mit  zwei  ,, Verfügungen  allgemeiner  Natur":  a)  Das 
Dekret  bleibt  nur  zehn  Jahre  in  Kraft,  denn  die  Regierung  hofft, 
daß  die  Juden  nach  dieser  Frist  sich  infolge  der  ergriffenen  Maß- 
nahmen ,,von  den  anderen  Bürgern  nicht  unterscheiden  werden" ; 
widrigenfalls  werden  die  Repressalien  fortgesetzt  werden,  b)  Alle 
durch  das  Dekret  festgesetzten  Rechtseinschränkungen  er- 
strecken sich  nicht  auf  die  Juden  von  Bordeaux  und  den  Departe- 
ments Gironde  und  Landes,  die  „keinen  Anlaß  zu  Beschwerden 
boten  und  keine  unerlaubten  Geschäfte  betreiben". 

149 


Auf  diese  Weise  vollzog  sich  der  napoleonische  Staatsstreich  in 
der  jüdischen  Frage.  Statt  die  im  Verlaufe  von  Jahrhunderten 
entstandene  und  großgezogene  wirtschaftliche  Ordnung  auf  dem 
Wege  von  Reformen  nach  und  nach  umzugestalten,  wollte  er  ihr 
durch  den  Machtspruch  eines  Befehls  eine  jähe  Wendung  geben 
und  richtete  dabei  Tausende  von  Familien  wirtschaftlich  zu- 
grunde. Anstatt  die  Krankheit  zu  heilen,  befahl  er,  den  Kranken 
durchzuprügeln.  Die  verwerfhchen  Kreditoperationen  eines 
Teiles  der  jüdischen  Bevölkerung  beantwortete  er  durch  eine 
grausame  militärchirurgische  Operation,  die  fast  sämtliche  Teile 
dieser  Bevölkerung  traf.  Es  wurde  eine  jener  Enteignungen  voll- 
zogen, an  die  der  kühne  Heerführer  in  seinen  Feldzügen  von  jeher 
gewohnt  war;  aber  das  Dekret  vom  17.  März  wurde  doch  nicht  in 
einem  Kriegslager,  sondern  in  den  Tuilerien  zu  Paris  erlassen,  wo 
der  bürgerliche  Kodex,  der  mustergültige  Code  civil  desselben 
Napoleons  noch  in  Kraft  war  .  ,  .  Und  nicht  nur  der  bürgerliche 
Kodex  allein  war  verletzt:  die  grundlegenden  Paragraphen  der 
Verfassung  wurden  durch  diesen  Bruch  mit  der  durch  den 
Emanzipationsakt  vom  Jahre  1791  proklamierten  staatsbürger- 
lichen Gleichberechtigung  der  Juden  in  rücksichtsloser  Weise 
über  den  Haufen  geworfen.  Die  meisten  jüdisch-französischen 
Bürger  gingen  ihrer  Gewerbe-  und  Bewegungsfreiheit  für  die 
Dauer  von  zehn  Jahren  verlustig,  und  viele  wurden  sogar  ihrer 
Vermögensrechte  beraubt .  .  .  Furchtbar  waren  die  Folgen  dieser 
offiziellen  Enteignung:  im  Elsaß  weigerten  sich  die  christlichen 
Schuldner,  selbst  die  unstrittigen  und  einwandfreien  Schulden 
den  jüdischen  Gläubigem  zu  bezahlen.  Die  Bürgermeister  vieler 
Städte  verkündeten  das  kaiserliche  Dekret  mit  absichtlicher 
Feierlichkeit,  unter  Trommelwirbeln,  und  die  christliche  Be- 
völkerung zog  aus  dieser  pomphaften  Zeremonie  die  entsprechen- 
den Konsequehzen :  der  Jude  steht  außerhalb  des  staatsbürger- 
lichen Gesetzes.  Die  geschäftliche  Betätigung  der  Juden  war  von 
einem  System  von  Patenten  umstrickt,  und  die  Entziehung  der 
Bewegungsfreiheit  war  für  die  bewegliche  jüdische  Bevölkerung 
die  Quelle  endlosen  Elends. 

Noch  schwerer  als  der  materielle  Ruin  lastete  der  moralische 
Schlag  auf  einem  durch  die  Revolution  befreiten  Volke,  das  im 
Kampfe  um  die  Freiheit  seine  Kraft  vergeudet  und  in  den  mili- 
tärischen Hekatomben  des  Kaisers  sein  Blut  vergossen  hatte. 

150 


Das  Dekret  vom  17.  März  ist  in  der  Geschichte  unter  dem  Namen 
des  „Schmachvollen  Dekrets"  (decret  infame)  bekannt.  Sein  ver- 
werflicher Charakter  überraschte  jene  „Notabein",  die  noch  an 
die  I^iebe  Napoleons  zu  den  Juden  glaubten  und  in  ihm  den 
Helden  der  jüdischen  „Wiedergeburt"  sahen.  Als  der  frühere 
Vorsitzende  der  Delegiertenversammlimg,  Furtado,  und  einige 
angesehene  MitgHeder  vom  bevorstehenden  Erlasse  erfuhren, 
begaben  sie  sich  in  aller  Eile  nach  der  Residenz  des  Kaisers, 
Fontainebleau,  tun  gegen  diese  Gesetzwidrigkeit  zu  protestieren; 
sie  wurden  aber  nicht  empfangen.  Napoleon  brauchte  jetzt  nicht 
die  Dienste  der  jüdischen  Notabein;  unter  dem  Deckmantel  des 
Friedens  und  der  Freundschaft  nahm  er  ihnen  alles,  was  sich 
nehmen  ließ,  um  sie  dann  zu  überrumpeln.  Nicht  Napoleon  war 
es,  der  die  Juden  getäuscht  hatte,  wie  es  viele  Geschicht- 
schreiber glauben,  sondern  die  Juden  hatten  sich  in  ihm  getäuscht, 
indem  sie  seine  Bühnendekorationen  für  Wirklichkeit  nahmen. 
Der  Kaiser  blieb  sich  treu:  vor  zwei  Jahren  ließ  er  im  Reichsrate 
die  Worte  fallen,  daß  man  auf  die  Juden  nicht  den  bürgerlichen, 
sondern  den  politischen  Kodex  anwenden  müsse,  und  nun  hatte 
er  auf  sie  seinen  internationalen  Kodex  des  Krieges  und  der 
Brandschatzung  angewandt. 

Die  Anwendung  des  „Schmachvollen  Dekrets"  wurde  durch 
seinen  gesetzwidrigen  und  gewalttätigen  Charakter  äußerst  er- 
schwert. Es  regnete  Klagen  und  Beschwerden  seitens  der  Juden 
der  verschiedenen  Departements,  besonders  der  südfranzösischen 
und  italienischen,  die  Napoleon  in  seiner  noblen  Geste  den 
„schuldbeladenen"  Juden  der  rheinischen  Provinzen  in  punkto 
Rechtlosigkeit  gleichgestellt  hatte.  Die  Regierung  mußte  eine 
Reihe  von  Ausnahmen  (exceptions)  vom  Gesetze  des  Jahres  1808 
machen.  Vor  allen  Dingen  wurde  eine  Ausnahme  zugunsten 
der  jüdischen  Einwohner  der  Stadt  Paris  gemacht  (26.  April 
1808),  denen  der  Minister  des  Inneren,  Crete,  einen  guten  Leu- 
mund ausgestellt  hatte  (auf  2593  Juden  kamen  nur  4  Wucherer; 
im  Heere  dienten  aber  zu  jener  Zeit  150  Juden);  dann  wurden  die 
Juden  von  lyivomo  und  der  zwanzig  Departements  des  südlichen 
Frankreichs  und  Italien  der  Repressalien  enthoben.  Im  Jahre 
1810  beauftragte  der  Kaiser  den  Minister  des  Inneren,  alle  die 
vStädte  unter  die  Kategorie  der  ausgenommenen  zu  bringen,  deren 
jüdische  Bevölkerung  sich  eines  derartigen  Gnadenaktes  würdig 

151 


erweisen  würde.  Im  Juli  1812,  als  der  Todesengel  schon  die  große 
napoleonische  Armee  in  Rußland  umschwebte,  schaffte  der 
Kaiser  das  Verbot  für  die  jüdischen  Rekruten,  sich  durch  einen 
Freiwilligen  ersetzen  zu  lassen,  ab.  Er  hatte  gesehen,  wie  die 
jüdischen  Soldaten  in  den  Reihen  der  todgeweihten  Armee  auf 
den  Schlachtfeldern  verbluteten,  und  hier  begriff  vielleicht  der 
Eroberer  die  ganze  Verwerflichkeit  seines  Angriffes  auf  ein  Volk, 
das  ihm  sein  Schicksal  anvertraut  hatte. 

Die  gedemütigte  imd  der  staatsbürgerlichen  Rechte  beraubte 
Judenheit  konnte  gegen  den  Verletzer  des  Grunddogmas  der 
Gleichberechtigimg  keinen  Protest  erheben;  aber  eine  indirekte 
Verurteilung  des  gewalttätigen  Aktes  hörte  man  aus  den  unter- 
tänigsten Berichten  der  Minister  heraus,  die  mitzuteilen  wußten, 
daß  die  Juden  nach  Angaben  der  Präfekten  und  Konsistorien  sich 
rasch  „verbessern".  „Die  Wiedergeburt  der  Juden  macht  sich 
bereits  bemerkbar,"  berichtete  der  Minister  des  Inneren  dem 
Kaiser  im  Jahre  1811,  „überall  sind  sie  bestrebt,  sich  der  Güte 
Eurer  Majestät  würdig  zu  erweisen,  indem  sie  hoffen,  die  Aus- 
nehmung vom  Dekret  zu  erreichen".  Viele  Präfekten  berichteten, 
daß  die  Juden  sich  in  immer  größerem  Maße  den  nützlichen 
Gewerben  widmen  und  die  Militärpflicht  gewissenhaft  er- 
füllen. In  den  italienischen  Provinzen  wies  man  mit  Freude  auf 
den  Beginn  „einer  vollen  Auflösung  der  Juden  in  die  Massen  der 
Franzosen"  hin.  Rühmend  wird  auch  die  patriotische  Tätigkeit 
der  Konsistorien  hervoi^ehoben,  die  den  Juden  die  Pflicht  des 
Gehorsams  gegen  die  Anordnungen  der  Regierungsorgane  ein- 
scharfen. 

Im  Juni  1810  unterbreitete  das  Pariser  Zentralkonsistorium 
dem  Minister  des  Inneren  einen  umfangreichen,  auf  Grund  von 
Angaben  der  Landeskonsistorien  zusammengestellten  Bericht 
über  die  Lage  der  Juden  in  Frankreich.  Die  jüdischen  Beamten 
führen  hier  dieselbe  servile  Sprache,  die  im  Munde  der  Mitglieder 
der  jüdischen  Parlamente  noch  zu  entschuldigen,  die  aber  nach 
dem  ,, Schmachvollen  Dekret"  einfach  beschämend  war.  Die 
Vertreter  der  Konsistorien  berichten  über  die  ,, Wiedergeburt  der 
Israeliten",  indem  sie  den  Kaiser  als  den  ,, Helden  unter  den 
Gesetzgebern"  und  „Wohltäter"  feiern.  Die  Zahl  der  Grund- 
besitzer, Fabrikanten,  Vertreter  freier  Berufe,  Militärpersonen, 
Studierenden  an  den  allgemeinen  Lehranstalten  nehme  immer  zu. 


Nach  Angaben  der  Konsistorien  entfielen  auf  die  gesamte  jüdische 
Bevölkerung  des  französischen  Kaiserreichs  (80  000  Seelen,  ab- 
gesehen von  der  Bevölkerung  der  autonomen  Königreiche)  im 
Jahre  1810:  1232  Landwirte,  797  Militärpersonen,  2360  Kinder, 
die  allgemeine  Lehranstalten  besuchten  oder  sich  für  ,, nützliche 
Gewerbe"  vorbereiteten.  Es  gab  250  Fabriken,  deren  Inhaber 
Juden  waren.  Diese  „Wiedergeburt"  der  Juden  wäre  besser  von- 
statten gegangen  —  gestattet  sich  das  Zentralkonsistorium 
schüchtern  zu  bemerken  —  weim  sie  von  den  Fesseln  des  harten 
Dekrets  von  1808  befreit  wären. 

Aber  die  Fesseln  wurden  ihnen  nicht  genommen.  In  44  von  den 
68  Departements  des  französischen  Kaiserreichs  herrschte  noch 
der  durch  das  „Schmachvolle  Dekret"  geschaffene  Ausnahme- 
zustand. Erst  der  Sturz  Napoleons  und  das  Zeitalter  der 
Restauration  brachten  eine  Änderung  der  Lage  mit  sich.  Durch 
eine  Ironie  des  Schicksals  waren  es  gerade  die  Männer  der  alten 
„Ordnung",  die  eine  der  Errungenschaften  der  großen  Revo- 
lution wiederherstellen  mußten,  die  der  ,,Sohn  der  Revolution", 
Napoleon,  in  den  Staub  getreten  hatte. 


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Zweites  Kapitel 

Die  Emanzipation  der  Juden  in  den  Ländern  französischer 

Herrschaft 

§  25.  Holland  (Batavischc  Republik  und  Königreich  Hol- 
land). Die  Emanzipationsbewegung  folgte  in  Europa  der  Be- 
wegung der  französischen  Armeen,  zunächst  der  republi- 
kanischen und  dann  der  napoleonischen.  Überall,  wo  unter  fran- 
zösischem Einflüsse  eine  republikanische  oder  konstitutionelle 
Gesellschaftsordnimg  eingeführt  wurde,  erhielten  die  Juden 
die  Gleichberechtigung  für  die  ganze  I^ebensdauer  der  neuen 
staathchen  Ordnung,  entweder  mit  einem  Male  oder  nach  mehr 
oder  minder  langen  Kämpfen  innerhalb  der  Parlamente  der  be- 
treffenden lyänder.  Auf  diese  Weise  wurde  die  Judenemanzipation 
in  allen  ephemeren  Republiken  jener  Zeit  vollzogen  —  in  der 
Batavischen  (Holland),  der  Zisalpinischen  und  römischen  (Italien) 
und  in  der  Helvetischen  (Schweiz),  von  denen  die  beiden  ersten 
unter  dem  napoleonischen  Kaiserreich  in  „Königreiche"  verwan- 
delt worden  waren.  In  der  Schweiz  imd  in  Italien,  wo  sie  von 
außen  aufgezwungen  war,  zeigte  sich  die  Emanzipation  als  eine 
nur  vorübergehende  Erscheinung;  hingegen  faßte  sie  feste 
Wurzeln  in  Holland,  wo  der  französische  Einmarsch  den  ersten 
Anstoß  zu  einer  selbständigen  Lösung  der  Judenfrage  gab. 

Früher  als  alle  anderen  Länder  wurde  Holland,  das  Land  der 
halben  Freiheit  und  der  verhältnismäßigen  Toleranz,  von  den 
Strömungen  der  französischen  Revolution  ergriffen.  Die  50  000 
Juden  Hollands,  von  denen  sich  ungefähr  20  000  in  Amsterdam 
konzentrierten,  bildeten  den  Mittelpunkt  einer  bedeutenden 
Kulturmacht,  die  zahlenmäßig  der  französischen  Judenheit 
keineswegs  nachstand  und  diese  in  bezug  auf  die  gesellschaft- 
hche  Organisiertheit  sogar  bei  weitem  übertraf.  Obwohl  die 
holländischen  Juden  nur  Stiefkinder  dieses  reformierten  Landes 
waren,  wo  auch  die  Katholiken  Rechtseinschränkungen  unter- 

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lagen,  blieben  ihnen  doch  alle  die  Formen  gesellschaftlicher 
Sklaverei  erspart,  unter  denen  ihre  Brüder  in  den  benachbarten 
Ländern  so  viel  zu  leiden  hatten.  Eine  weitgehende  Gemeinde- 
autonomie  hielt  in  ihnen  das  Bewußtsein  ihres  kulturellen  Zu- 
sammenhanges wach,  der  hin  und  wieder  durch  die  Spaltung  der 
Gemeinden  in  „portugiesische"  und  „aschkenasische"  eine 
Schwächung  erfuhr.  Eine  stramme  Gemeindedisziplin  prägte  der 
Masse  der  holländischen  Judenheit  den  Stempel  einer  konser- 
vativen Gesinntmg  auf,  die  auf  die  neue  Emanzipationsbewegtmg 
eine  hemmende  Wirkung  ausübte.  Nur  wenige  Vertreter  der 
jüdischen  Gesellschaft  von  Amsterdam,  die  unter  dem  Einflüsse 
der  Ideen  des  XVIII.  Jahrhunderts  und  der  Mendelssohnschen 
Schule  standen,  zeigten  sich  in  der  ersten  Zeit  für  die  Losungen 
der  französischen  Revolution  und  die  aus  dieser  folgenden  refor- 
matorischen Forderungen  empfänglich.  Diese  vereinzelten  Vor- 
kämpfer der  Befreiungsbewegung  schlössen  sich  dem  liberalen, 
noch  vor  dem  französischen  Einmarsch  in  Amsterdam  ent- 
standenen Klub  ,, Felix  Libertate"  an,  der  die  Prinzipien  der 
Menschenrechte  auf  seine  Fahne  geschrieben  hatte  (1793 — 1794). 
In  diesem  Klub  fanden  sich  einige  angesehene  Amsterdamer 
Juden  mit  Christen  zusammen :  der  Kaufmann  und  Jurist  Moses- 
Salomon  Asser  und  der  Arzt  de  Lemon.  Im  Jahre  1795  ging 
der  Traum  der  holländischen  liberalen  „Patiioten"  in  Erfüllung: 
mit  Hilfe  der  Truppen  der  französischen  Republik  vertrieben  sie 
den  Statthalter,  Wilhelm  V.  von  Oranien,  und  verwandelten 
die  niederländischen  Staaten  in  die  Batavische  Republik. 
Es  wurde  eine  Deklaration  der  Rechte  der  holländischen  Bürger 
erlassen,  die  die  volle  bürgerhche  Gleichberechtigung  aller  Kon- 
fessionen zum  Gesetze  erhob.  Am  4,  März  1795  veranstalteten  die 
Amsterdamer  Juden  in  Gemeinschaft  mit  den  Christen  eine 
republikanische  Kundgebung:  die  jüdischen  Mitglieder  des 
Klubs  „Felix  Libertate"  und  die  Zöglinge  der  Waisenanstalten 
beteüigten  sich  gemeinsam  an  der  Zeremonie  der  Pflanzimg  des 
,, Freiheitsbaumes"  vor  dem  Rathause. 

In  der  Amsterdamer  jüdischen  Gemeinde  fehlte  es  jedoch  an 
Eintracht.  Während  die  freidenkerische  Minderheit  die  voll- 
zogene Umwälzung  mit  Begeisterung  aufnahm  und  sich  von  deren 
Folgen  das  Heil  des  jüdischen  Volkes  versprach,  erblickte  —  oder 
vielmehr  witterte  —  die  orthodoxe  Mehrheit  den  Beginn  einer 

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Auflösung  des  Judentums  als  einer  nationalen  Organisation.  Die 
Konservativen  begriffen,  daß  die'  frühere  Gemeindeautonomie, 
die  nicht  nur  das  religiöse,  sondern  auch  das  öffentliche  Leben 
der  Juden  regelte,  einem  unvermeidlichen  Zusammenbruch  ent- 
gegeneilen werde,  sobald  die  Juden  als  vollberechtigte  Mitglieder 
in  die  bürgerliche  Gesellschaft  eintreten,  sobald  das  bisher  ein- 
heitliche und  auch  wirtschaftlich  abgesonderte  jüdische  Volk  sich 
ntmmehr  in  der  einheimischen  Bevölkerung  nach  Stand  und  Ge- 
werbe verteüt:  die  jüdische  Gerichtsbarkeit,  die  jüdische  Schule, 
die  Umgangssprachen  der  Aschkenasim  und  der  Portugiesen  (der 
deutsche  und  spanisch-portt^iesische  Jargon)  werden  voll- 
ständig verschwinden,  und  was  die  religiöse  Disziplin  betrifft,  so 
wird  sie  dem  landläufigen  französischen  Unglauben  kaum  stand- 
halten können  und  unter  dessen  Einwirkung  eine  innere  Locke- 
rung erfahren.  Zu  diesen  Befürchtungen  allgemeiner  Natur  ge- 
sellten sich  auch  rein  persönliche  Erwägungen:  Die  Rabbiner 
und  Oberhäupter  der  aschkenasischen  und  portugiesischen  Ge- 
meinde in  Amsterdam,  die  allmächtigen  „Parnassim",  konnten 
sich  mit  dem  Gedanken  einer  Schmälerung  ihrer  Macht  unmög- 
lich befreunden,  und  die  bevorstehende  Abschafftmg  der  alten 
Reglements,  die  ihnen  die  gesetzliche  Möglichkeit  gaben,  inner- 
halb der  jüdischen  Bevölkerung  die  Rolle  einer  Regierung  zu 
spielen,  flößte  ihnen  Besorgnis  ein.  Und  da  geschah  es,  daß,  als 
die  freigesinnten  Mitglieder  der  Amsterdamer  Gemeinde  sich  an 
die  Parnassim  mit  der  Bitte  wandten,  die  republikanische 
Deklaration  der  Rechte  in  der  Synagoge  zu  verlesen,  sie  eine 
entschiedene  Absage  erhielten.  Die  Parnassim  sammelten  eine 
stattliche  Anzahl  von  Unterschriften,  welche  bestätigten,  daß 
die  Verlesung  einer  republikanischen  Deklaration  in  den  Bet- 
häusem  den  Forderungen  der  jüdischen  Religion  zuwiderlaufe. 
Die  Liberalen  verfaßten  darauf  einen  Protest  gegen  die  Hand- 
lungsweise der  Führer  und  ließen  ihn  in  den  Synagogen  an- 
schlagen; diese  Aufrufe  wurden  jedoch  auf  Befehl  der  Parnassim 
heruntergerissen. 

So  entstand  eine  Spaltung  innerhalb  der  holländischen  J  udenheit 
in  einem  Augenblick,  wo  ein  einheitliches  Vorgehen  am  nötigsten 
gewesen  wäre,  denn  die  Wahlen  für  die  Nationalversammlung 
der  Batavischen  Republik  standen  vor  der  Türe.  An  diesen 
Wahlen  durften  sich  die  Juden  frei  beteiligen;  aber  infolge  der 

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iuneren  Zwistigkeiten  und  Reibungen  nahmen  sie  an  der  Wahl- 
kampagne einen  nur  schwachen  Anteil;  daher  gelang  es  ihnen 
nicht,  irgendeinen  jüdischen  Delegierten  in  das  erste  Parlament 
zu  bringen.  Als  die  Nationalversammlung  zu  tagen  begann, 
ging  ihr  ein  Gesuch  von  den  jüdischen  Mitgliedern  des  Klubs 
Felix  I^ibertate  zu,  das  seitens  der  Aschkenasim  von  Moses 
Asser  imd  seinem  jungen  Sohn  Karl,  Herz  Bromet  und  Isaak 
Jonge,  seitens  der  Sephardim  —  vom  Arzt  de  Lemon  imd 
Jakob  Sasportas  unterzeichnet  war.  Die  Führer  der  jüdischen 
liberalen  Partei  ersuchten  die  Mitglieder  der  Nationalversamm- 
lung, für  die  rechtliche  Gleichstellung  der  Juden  mit  allen  anderen 
Bürgern  zu  sorgen.  Nachdem  die  Juden  —  hieß  es  im  Gesuch  — 
effektiv  zu  Bürgern  geworden  sind,  erwarten  sie  die  juristische 
Bekräftigung  ihrer  Gleichberechtigung;  nachdem  die  jüdische 
Bevölkerung  sich  an  den  Wahlen  beteiligt  hat,  kommt  ihr  auch 
das  Recht  zu,  die  christlichen  Delegierten  als  ihre  eigenen  Ver- 
treter zu  betrachten  und  von  ihnen  den  Schutz  ihrer  Interessen 
zu  verlangen  (März  1794).  Die  Nationalversammlung  setzte  eine 
besondere  Kommission  zur  Untersuchung  der  jüdischen  Frage  ein. 

Die  Kommission  stand  vor  einer  schwierigen  Aufgabe:  es 
handelte  sich  darum,  eine  Frage  zu  lösen,  an  die  sich  so  viele  Vor- 
urteÜe  innerhalb  der  christlichen  Gesellschaft  knüpften  und  die 
die  jüdische  Gesellschaft  selbst  in  zwei  Parteien  spaltete.  Die 
holländischen  Volksvertreter  mußten  dem  in  der  Geschichte  der 
Emanzipationsbewegung  einzig  dastehenden  Umstände  Rech- 
nung tragen,  daß  nur  die  Minderheit  der  jüdischen  Gesellschaft 
die  Gleichberechtigung  erstrebte,  während  die  Mehrheit  dem 
alten  Regime  zuneigte.  Um  die  Wirkimg  dieser  Tatsache  abzu- 
schwächen, begann  eine  winzige  Gruppe  jüdischer  Fortschrittler 
eine  intensive  Agitation  zu  betreiben.  Sie  ließen  der  Parla- 
mentskommission eine  Anzahl  von  Denkschriften  zugunsten  der 
Gleichberechtigung  zugehen,  unter  anderen  auch  das  Werk  von. 
David  Friedrichsfeld^),  einem  aus  Deutschland  stammenden 
Vertreter  der  Mendelssohnschen  Schule. 

Im  August  1796  unterbreitete  die  Kommission  der  National- 
versammlung einen  in  einem  liberalen  Geiste  verfaßten  Bericht. 


^)  Die  Denkschrift  Priedrichsfelds  erschien  später  in  hebräischer  Sprache 
unter  dem  Titel:  „Diwre  Negidim"  (vgl.  die  bibliographischen  Anmerkungeu 
zu  diesem  Paragraphen). 


In  der  Kammer  entspamien  sich  allgemeine  Debatten,  die  acht  Tage 
dauerten  und  sich  durch  außerordentliche  Leidenschaftlichkeit 
auszeichneten.  Als  Referent  der  Kommission  trat  der  Delegierte 
Hahn  auf,  der  eine  überzeugende  Rede  zugunsten  der  Emanzi- 
pation hielt.  Die  holländischen  Juden  —  sagte  er  —  erwiesen  sich 
als  Anhänger  der  alten  Ordnung  und  der  oranischen  Dynastie,  die 
ihnen  Schutz  gewährte,  aber  durch  Gewährung  der  Freiheit  und 
Gleichberechtigung  kann  sie  die  Republik  viel  stärker  an  sich 
fesseln.  Derartige  Ergebnisse  zeitigte  bereits  die  Judenemanzi- 
pation in  Nordamerika  und  in  Frankreich.  Der  Redner  be- 
rührte auch  den  wundesten  Punkt  des  Emanzipationskampfes: 
die  Frage  der  jüdischen  Nationalität.  „Können  wir  Menschen, 
die  während  2000  Jahre  über  keinen  Staat  mehr  verfügen,  als 
eine  Nation  oder  ein  besonderes  Volk  betrachten  ?  Der  Ausdruck 
Nation  läßt  sich  nur  auf  einen  staatlichen,  keineswegs  religiösen 
Verband  anwenden:  wir  bezeichnen  die  Gruppen  der  Anhänger 
der  lutherischen  oder  calvinischen  Glaubenslehre  in  den  verschie- 
denen Staaten  doch  nicht  als  Nationen.  Wahr  ist  es  allerdings, 
daß  die  Juden  an  den  Wiederaufbau  ihres  alten  palästinischen 
Staates  glauben,  aber  wir  Christen  sind  doch  davon  überzeugt, 
daß  dieser  messianische  Glaube  niemals  in  Erfülltmg  geht." 
Darauf  ergriff  der  Abgeordnete  Hammelsfeld  das  Wort:  „Die 
Juden  sind  keine  Bürger,  sondern  Fremdlinge.  Sie  kamen  einst 
als  Verfolgte  nach  Holland  und  fanden  hier  Unterkunft  und 
Duldung.  Damit  sollen  sie  sich  begnügen  und  keine  Ansprüche 
auf  staatsbürgerliche  Rechte  erheben.  Sie  bezeichnen  sich  selbst 
als  Nation,  und  auch  wir  bezeichnen  sie  so  und  halten  sie  nicht 
für  einen  Bestandteü  des  holländischen  Volkes."  In  seiner  Er- 
widerung auf  die  Rede  Hahns  berührte  er  das  messianische  Dog- 
ma und  sagte:  „Ich  bin  zwar  selbst  Christ,  und  doch  glaube  ich, 
daß  die  Verheißung  Gottes  dereinst  in  Erfüllung  geht,  und  die 
Juden  nach  ihrem  Heimatlande  zurückkehren."  Des  ferneren 
machte  der  Redner  auf  den  Umstand  aufmerksam,  daß  von  den 
50  000  in  Holland  ansässigen  Juden  nur  ein  winziger  Teü  die 
Gleichberechtigung  anstrebt,  und  daß  die  übrigen  möglicher- 
weise kein  Verlangen  danach  tragen;  er  erinnerte  daran,  daß  die 
Juden  im  Jahre  1787,  zur  Zeit  des  „Patriotenaufstandes"  gegen 
den  Statthalter  Wühelm  von  Oranien  die  Partei  des  letzteren  er- 
griffen hatten.  Aus  allem  zog  er  die  Schlußfolgerung,  daß  man 

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den  Juden  Gleichberechtigung  wohl  gewähren  könne,  aber  nur 
unter  der  Bedingung,  daß  sie  auf  ihre  Sitten,  Gemeinden  und 
Institutionen  (mit  Ausnahme  der  religiösen)  Verzicht  leisten 
und  nur  eine  Anzahl  von  „Individuen"  unter  den  batavischen 
Bürgern  darstellen. 

Auf  diese  beiden  Reden,  die  die  ganze  Zwiespältigkeit  des 
jüdischen  Problems  je  nach  dessen  politischer  und  nationaler 
Gestaltung  und  Verwurzelung  klar  zum  Ausdruck  brachte, 
folgten  viele  andere,  die  nur  die  Beweisführung  des  ersten  oder 
des  zweiten  Redners  wiederholten.  Die  grimdlegende  Mei- 
nungsverschiedenheit zwischen  den  Befürwortern  und  Gegnern 
der  Emanzipation  trat  hier  mit  weit  größerer  Deutlichkeit 
und  Prägnanz  als  in  der  französischen  Nationalversammlung 
hervor.  Daß  das  Staatsbürgertum  sich  mit  der  jüdischen  Natio- 
nalität nicht  vertrage  —  darin  waren  sich  beide  Parteien  einig, 
aber  während  die  eine  das  Vorhandensein  einer  jüdischen  Natio- 
nalität überhaupt  leugnete,  stellte  die  andere  die  Möglichkeit 
eines  jüdischen  Staatsbürgertums  in  Abrede.  Der  Abgeordnete 
Floh  beantragte,  die  Juden  selbst  zu  befragen,  ob  sie  sich  in- 
bezug  auf  die  Nationalität  als  „Batavier"  oder  als  Juden  be- 
trachten. Er  gab  der  Überzeugung  Ausdruck,  daß,  abgesehen 
von  einer  winzigen  Gruppe  „Atheisten  oder  Naturalisten",  alle 
anderen  ihre  Zugehörigkeit  zum  jüdischen  Volke  anerkennen 
werden;  trotzdem  schlug  er  vor,  die  Juden  in  rechtlicher  Be- 
ziehung allen  anderen  Bürgern  gleichzustellen,  aber  unter  der 
einzigen  Bedingung,  daß  jeder  Jude  binnen  eines  Jahres  die  Ver- 
pflichtung eingehe,  keine  andere  Nationalität  als  die  batavische 
anzuerkennen.  Ein  anderer  angesehener  Abgeordneter,  der  be- 
kannte Staatsmann  Schimmelpenninck,  verfocht  die  Gleich- 
berechtigung für  die  Juden  als  „Individuen",  aber  nicht  für  die 
Juden  als  einen  völkischen  Verband.  Auf  deii  Boden  dieser  ab- 
strakten Idee  (einer  Wiederholung  der  Losung  Cl  €  nnont-Tonnerres, 
siehe  oben  §  15)  vereinigten  sich  die  Anhänger  und  die  Gegner 
der  Emanzipation,  so  daß  sie  zum  Schlüsse  die  konkreten  Mei- 
nungsverschiedenheiten außer  acht  ließen.  Nach  achttägigen 
Debatten,  an  denen  sich  etwa  dreißig  Abgeordnete  beteüigten,  ge- 
langte die  Nationalversammlung  zu  einem  für  die  Juden  gün- 
stigen Resultat.  Unter  dem  Drucke  des  französischen  Bot- 
schafters N06I,  der  auf  die  Proklamienmg  der  jüdischen  Emanzi- 

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pation  nach  dem  französischen  Muster  drängte,  wurde  dieses 
Resultat  beschleunigt,  und  am  2.  September  1796  wurde  fol- 
gender Beschluß  dekretiert:  ,,Kein  einziger  Jude  darf  der  mit 
dem  batavischen  Staatsbürgertum  verbundenen  Rechte  imd 
Vorrechte  beraubt  werden,  sofern  er  von  ihnen  Gebrauch 
machen  will,  und  zwar  imter  der  Bedingung,  daß  er  allen 
Forderungen  genügen  und  alle  durch  die  Verfassung  festgestellten 
Pflichten  erfüllen  wird." 

Dieses  Dekret  beseitigte  mit  einem  Schlage  die  weitgehende 
Selhstverwaltung  der  jüdischen  Gemeinden  mit  allen  ihren  auto- 
nomen löstitutionen  außer  der  rein  religiösen;  die  von  den  kon- 
servativ-nationalen Kreisen  der  Amsterdamer  Judenheit  gehegte 
Befürchtung  wurde  also  zur  Tatsache.  In  diesem  Akte,  der  den 
Fortschrittlern  als  Triumph  der  Gerechtigkeit  und  der  bürger- 
lichen Freiheit  erschien,  spürten  sie  eine  Verletzung  der  inneren 
Freiheit  der  Nation.  Nach  allem,  was  vorgefallen  war,  konnten 
die  Fortschrittler  innerhalb  der  alten  Gemeinde  nicht  weiter  ver- 
bleiben; eine  kleine  Gruppe  schied  aus  und  bildete  zu  Amster- 
dam eine  besondere  Gemeinde,  die  sich  „Adath  Jeschurun" 
nannte  und  eine  eigene  S5niagoge  mit  einem  eigenen  Rab- 
biner an  ihrer  Spitze  hatte.  Die  neue  Kongregation  führte  bei 
sich  eine  Anzahl  Reformen  ein:  der  religiösen  Erziehung  wurde 
statt  des  Talmudstudiums  das  der  Bibel  zugrunde  gelegt,  die 
Predigt  in  holländischer  Sprache  eingeführt,  die  Sitt6  der 
schnellen  Bestattimg  der  Verstorbenen  abgeschafft,  aus  dem 
Gebetbuche  veraltete,  gegen  getaufte  Juden  gerichtete  Fluch- 
formen ausgemerzt  usw.  Diesen  offenen  Abfall  beantwortete  die 
alte  orthodoxe  Gemeinde  mit  Bannflüchen  und  Repressalien. 
Die  Pamassim  strengten  gegen  die  „Abtrünnigen"  einen  gericht- 
lichen Prozeß  an,  indem  sie  von  jedem  der  abgefallenen  Mit- 
glieder einen  Schadenersatz  im  Betrage  von  1000  Gulden  für  die 
Entziehung  der  Gemeindesteuern  und  verschiedener  anderer  Ge- 
bühren forderten.  Der  Magistrat  vonAmsterdam  imd  die  Stadt- 
richter unterstützten  diese  auf  alten  Privilegien  begründeten 
Ansprüche,  und  den  Fortschrittlem  drohten  unangenehme 
Folgen.  Da  griff  die  von  dem  französischen  Gesandten  Noel  in- 
spirierte Regierung  ein.  Sie  ließ  durch  Munizipalbeamte  bekannt- 
geben, daß  die  alten  Statuten  der  Amsterdamer  Gemeinde,  die 
nicht  nur  die  religiösen,  sondern  auch  die  zivilen  Angelegen- 

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heiten  der  Juden  regelten,  im  Augenblick  der  Veröffentlichung 
des  Dekretes  von  der  Gleichberechtigung  ihre  Gültigkeit  ver- 
loren hätten  und  daß  infolgedessen  die  frühere  Verwaltung  in 
Person  der  Parnassim  ihrer  Vollmachten  verlustig  ginge;  die 
Parnassim  müßten  ihrer  Ämter  enthoben  werden  imd  an  ihre 
Stelle  solle  ein  aus  fünf  Personen  bestehendes  Kollegium  zur 
Regeltmg  der  Gemeindeangelegenheiten  auf  Gnmd  neuer  Statuten 
treten  (i6.  März  1798).  Die  Reform  wurde  sofort  verwirklicht. 
Die  neuen  Gemeindevorsteher  wurden  aus  der  Mitte  jener  fort- 
schrittlich gesinnten  ]\Iinderheit  gewählt,  die  sich  mit  der  ge- 
schmälerten Selbstverwaltung  der  Gemeinde  bereits  abgefunden 
hatte.  Die  ernmgene  bürgerliche  Gleichberechtigung  versetzte 
auf  diese  Weise  einen  harten  Schlag  nicht  nur  der  Verbohrtheit 
imd  dem  Fanatismus  der  eifrigen  Hüter  veralteter  Traditionen, 
sondern  auch  der  dutch  die  Anstrengungen  von  Generationen  er- 
worbenen autonomen  Organisation  des  Judentums.  Die  Emanzi- 
pation heilte  mit  der  einen  und  verwundete  mit  der  anderen 
Hand. 

Bei  alledem  verfehlte  die  Frühlingsluft  der  politischen  Freiheit 
ihre  Wirkung  auf  die  Gemüter  nicht.  Die  Juden  kamen  in  immer 
engere  Berührung  mit  dem  politischen  Leben  des  Landes.  Als  es 
zu  den  Wahlen  für  die  zweite  Nationalversammlung  kam,  entfalte- 
ten sie  eine  bei  weitem  regere  Tätigkeit  als  früher  und  beteüigten 
sich  am  Wahlkampfe  in  weit  größerem  Umfange;  es  gelang  ihnen, 
zwei  Delegierte  aus  ihrer  Mitte  in  das  Parlament  zu  bringen  —  die 
Amsterdamer  Liberalen  de  Lemon  und  Bromet  (1797).  Es  waren 
dies  die  ersten  jüdischen  Parlamentsabgeordneten  in  Europa. 
Die  Wahlen  in  die  dritte  Nationalversammlung  (1798)  ergaben 
einen  neuen  jüdischen  Abgeordneten  —  Isaak  da  Costa  Athias, 
ein  ehemaliges  Mitglied  des  Stadtrates  von  Amsterdam.  Hervor- 
ragende Persönlichkeiten  wurden  in  den  Gerichts-  imd  Munizipal- 
dienst aufgenommen.  So  wurde  beispielsweise  der  bereits  er- 
wähnte Moses  Asser  zum  Beamten  am  Justizministerium  er- 
nannt. 

Trotzdem  sind  alle  diese  Erscheinungen  der  jugendlichen 
„Sturm-  und  Drang"-Periode  der  Batavischen  Republik  nur 
wenig  geeignet,  uns  ein  richtiges  Bild  von  den  realen  Ver- 
änderungen innerhalb  der  sozialen  Lage  der  Juden  zu  geben.  In 
der  Praxis  konnte  man  auch  hier  die  übliche  Erscheinung  beob- 

II     Dubnow,  Geschichte  der  Juden  r  lÖl 


achten:  die  auf  dem  Papier  gewährte  Gleichberechtigung,  die 
mit  alten  Gewohnheiten  schwer  zu  kämpfen  hatte,  setzte  sich  im 
Leben  nur  mit  Mühe  und  Not  durch.  Während  jüdische  Ab- 
geordnete an  den  Parlamentssitzungen  teilnahmen,  war  jüdischen 
Kindern  der  Zutritt  zu  den  öffentlichen  Lehranstalten  verwehrt. 
Eine  stattliche  Anzahl  von  Rechtseinschränkungen  bewahrten 
noch  ihre  volle  Geltung,  imd  in  den  letzten  Jahren  dieser  ephe- 
meren Republik,  als  der  Freiheitsdrang  merkKch  nachzulassen 
begann,  gaben  sich  diese  Rechtseinschränktmgen  besonders 
scharf  zu  erkennen.  Erst  der  Regierung  des  Königreichs 
Holland,  das  im  Jahre  1806  die  Batavische  Republik  ablöste, 
war  es  beschieden,  die  Sache  der  Emanzipation  zu  ihrem  Ab- 
schlüsse zu  bringen.  Der  neue  Landesfürst  Ludwig  Bonaparte, 
ein  Bruder  des  Kaisers  von  Frankreich,  sorgte  für  die  strikte 
Wahrung  aller  die  Juden  betreffenden  Gesetzesparagraphen,  wie 
er  auch  sonst  den  Juden  sehr  gewogen  war.  Unter  anderem 
schaffte  Ludwig  den  veralteten,  das  jüdische  Ehrgefühl  ver- 
letzenden, unter  dem  Namen  „more  judaico"  bekannten  ge- 
richtlichen Eid  ab;  aus  Rücksicht  auf  die  religiösen  Über- 
zeugungen der  Juden  ordnete  er  die  Verlegung  der  Jahrmarkts- 
tage von  Sonnabend  auf  Montag  an. 

Sein  erstes  Regierungsjahr  fiel  mit  dem  feierlichen  Augenblick 
zusammen,  als  die ,. jüdischen  Parlamente"  in  Paris,  die  Notabeln- 
und  Synhedrionsversammlungen  ihre  Tätigkeit  zu  entfalten  be- 
gannen. Eine  freudige  Erregung  hatte  sich  aller  fortschrittlich  ge- 
sinnten holländischen  Juden  bemächtigt.  Mit  Spannung  und  an- 
gestrengter Aufmerksamkeit  verfolgten  sie  die  Vorgänge  inner- 
halb der  Notabeinversammlung,  deren  Beschlüsse  eine  nahe  Ver- 
wandtschaft mit  ihren  eigenen,  von  altersher  genährten  Idealen 
zu  haben  schienen.  Die  Freude  der  Fortschrittler  steigerte  sich 
zu  einem  grenzenlosen  Jubel,  als  das  Rundschreiben  der 
Pariser  Versammlung  über  die  Einberufung  des  ,, Großen  Syn- 
hedrions"  nebst  der  Einladung,  Bevollmächtigte  zu  schicken,  in 
Amsterdam  anlangte.  In  der  Sitzung  vom  15.  Oktober  1806  be- 
schloß die  Verwaltung  der  refornüerten  Gemeinde  „Adath 
Jeschurun",  eine  Abordnung  zur  Mitwirkung  an  den  „großen 
Zielen"  des  von  „Napoleon  dem  Großen,  dem  Retter  Israels" 
einberufenen  Synhedrions  nach  Paris  zu  schicken.  In  einer  be- 
sonderen Audienz  beim  König  Ludwig  baten  ihn  die  Gemeinde- 

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Vorsteher  um  die  Erlaubnis,  eine  solche  Abordnung  zu  schicken; 
dabei  ergingen  sie  sich  in  begeisterten  Gefühlsäußerungen  über 
„die  herrlichen,  nur  der  Familie  Napoleon  eigenen  Tugenden" 
und  gaben  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß  die  lichten  Freiheitstage, 
die  in  den  letzten  Jahren  der  Batavischen  Republik  durch  die 
teilweise  Wiederherstellung  der  alten  Ordntmg  getrübt  worden 
waren,  mit  dem  neuen  Herrscher  zurückkehren  würden.  Die  Er- 
laubnis wurde  erteilt ;  die  Abordnung  bestand  aus  folgenden  drei 
Personen:  dem  gewesenen  Parlamentsmitglied  de  Lemon,  dem 
jungen  Advokaten  Karl  Asser  und  dem  Talmudisten  und  Mathe- 
matiker J  eh  u  da  Litwak,  einem  aus  Polen  stammenden  Juden, 
der  zu  einem  der  Führer  der  reformierten  Amsterdamer  Ge- 
meinde geworden  war.  Die  Abordnung  kam  in  Pa'ns  bereits  nach 
der  Eröffnung  des  Synhedrions  an  und  beteüigte  sich  zum  ersten- 
mal an  dessen  zweiter  Sitzung  (12.  Februar  1807).  Die  drei  Mit- 
glieder der  Abordnung  wandten  sich  an  die  Versammlung  mit 
Begrüßungsreden  in  französischer  und  hebräischer  Sprache 
(hebräisch  sprach  nur  J.  Litwak).  Die  Reden  überströmten  von 
Ausdrücken  der  Freude  über  die  Einberufung  des  Synhedrions, 
das  eine  neue  Ära  in  der  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  er- 
öffnet habe,  eine  Ära  des  Glückes,  der  Freiheit  und  der  Auf- 
klärung. Dem  Vorsitzenden  der  Versammlung  überreichten  die 
Abgeordneten  eine  schriftliche  Erklärung  der  Gemeinde  Adath 
Jeschurun,  die  sie  ermächtigt  hatte,  sich  den  Resolutionen  des 
Synhedrions  in  allen  von  Napoleon  beantragten  Fragen  anzu- 
schließen. Die  Vollmachten  wurden  gewissenhaft  ausgenützt :  die 
Amsterdamer  Abgeordneten  fanden,  daß  sämtliche  Beschlüsse 
des  Synhedrions  den  Geist  der  Weisheit  atmeten  und  das  Wohl 
des  jüdischen  Volkes  im  Auge  hätten;  in  ihren  in  der  letzten 
Sitzung  gehaltenen  Abschiedsreden  sprachen  sie  es  deutlich  aus. 
Karl  Asser  erinnerte  in  seiner  Rede  daran,  daß  die  Aufklärungs- 
prinzipien des  Synhedrions  mit  jenen  identisch  wären,  die  die 
Gründer  der  Gemeinde  Adath  Jeschurun  bereits  im  Jahre  1796 
beseelt  hätten.  Der  Redner  sah  schon  im  Geiste  den  „Tempel 
der  Toleranz",  in  welchem  die  Völker  sich  zusammenfinden 
werden,  um  dem  „Vater  aller  Menschen",  wiewohl  auf  ver- 
schiedene Weise,  zu  dienen.  De  I^emon  sagte,  daß  die  aufgeklärten 
Juden  in  den  Beschlüssen  des  Synhedrions  Beruhigung  für  ihr 
Gewissen   und   eine  feierliche   Bestätigung  ihrer   notwendigen 

"•  163 


religiösen  Reformen  finden  werden.  Litwak  prophezeite  dem 
S3mhedrion  ewigen  Ruhm  bei  den  künftigen  Generationen .  .  . 
Die  künftigen  Generationen  bestätigten  jedoch  diese  Prophe- 
zeiung nicht. 

Die  bittere  Enttäuschung  an  den  napoleonischen  „Wohl- 
taten", die  auf  die  Auflösung  des  Synhedrions  folgte,  wurde 
in  Holland  nicht  so  schmerzlich  wie  in  Frankreich  empfun- 
den. Das  „Schmachvolle  Dekret"  von  1808  hatte  in  der  Gesetz- 
gebung dieses  Königreichs  keinen  Nachhall  gefunden.  Und  auch 
die  Gemeindereform  nach  dem  Muster  des  französischen  Kon- 
sistoriums vermochte  in  diesem  Boden  keine  festen  Wurzeln  zu 
fassen:  die  Zersplittenmg  der  Gemeinden,  die  Kluft  zwischen 
Konservativen  und  Fortschrittlem  und  der  noch  ältere  Bruch 
zwischen  den  Aschkenasim  imd  den  Portugiesen  —  dies  alles 
stand  diesem  Beginnen  hindernd  im  Wege.  Alle  diese  zersplitter- 
ten Elemente  suchte  die  Regierung  durch  die  Schaffung  einer 
„starken  Macht"  in  Gestalt  des  „Zentralkonsistoriums"  zu  ver- 
einigen; dieses  Konsistorium  wurde  in  Amsterdam  zur  Ver- 
waltung der  Angelegenheiten  der  jüdischen  Gemeinde  im  ge- 
samten Königreich  (September  1808)  gegründet.  Aber  dieses  aus 
zwölf  Mitgliedern  bestehende  Zentralkonsistorium  erwies  sich  als 
ohnmächtig  und  vermochte  weder  gegen  den  alten  Streit  zwischen 
den  Aschkenasim  und  Portugiesen,  noch  gegen  die  allgemeine, 
durch  die  rasche  politische  und  kulturelle  Umwälzung  im  Leben 
der  Juden  bedingte  Zerfahrenheit  etwas  auszurichten.  Die  ge- 
plante Eröffnung  von  Provinzialkonsistorien  wurde  verhindert. 
Das  Amsterdamer  Konsistorium,  das  vornehmlich  aus  der  Re- 
gierung nahestehenden  Reformisten  bestand,  spielte  nur  die 
Rolle  eines  besonderen  Regierungsdepartements  in  jüdischen 
Angelegenheiten.  Im  Jahre  1809  betätigte  es  sich  an  der  Heran- 
ziehung der  Juden  zum  Militärdienst.  Da  verschiedene  Bataülone 
der  holländischen  Bürgermiliz  keine  Juden  aufnahmen,  wurde  be- 
schlossen, ein  besonderes,  aus  jüdischen  Milizionären  bestehendes 
Regiment  zu  bilden.  Dieser  vom  König  Ludwig  gebilligte  Plan 
ging  bald  in  Erfüllung,  und  noch  im  selben  Jahre  kam  ein  eigen- 
artiges jüdisches  Korps  zustande.  Das  Korps  setzte  sich  aus  zwei 
Bataillonen  Infanterie  zusammen,  von  denen  jedes  883  Mann 
zählte.  An  der  Spitze  standen  jüdische  Offiziere.  Diese  eigen- 
tümliche Armee  war  nicht  von  langer  Dauer.  Als  nach  der  Ab- 

164 


dankung  Louis  Bonapartes  Holland  im  Jahre  1810  an  das 
französische  Kaiserreich  kam,  wurden  auch  die  jüdischen 
Soldaten  den  verschiedenen  französischen  Regimentern  zu- 
geteilt. Zwei  Jahre  darauf  wurde  Holland  von  den  deutsch- 
russischen verbündeten  Truppen,  die  die  Franzosen  vertrieben 
hatten,  besetzt,  imd  im  Jahre  1815  wurde  die  oranische  Dynastie 
wiederhergestellt.  Die  Übergangsperiode  der  „ersten  Emanzi- 
pation" war  zu  ihrem  Abschluß  gekommen. 

Es  war  dies  eine  stürmische  Epoche,  die  alle  Lebenssphären, 
der  holländischen  Judenheit  erschütterte.  Ganz  besonders 
machte  sich  die  Ejrise  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  geltend.  Das 
napoleonische  „Kontinentalsystem",  das  gegen  den  Handel 
Großbritanniens  gerichtet  war  tmd  den  gesamten  europäischen 
Handel  in  Mitleidenschaft  zog,  wirkte  besonders  verheerend  auf 
Holland  und  dessen  jüdische  Kaufmannschaft,  die  in  vielver- 
zweigten und  mannigfachen  Beziehungen  zu  Großbritannien  stand. 
Die  reichen  Kaufleute  schlössen  ihre  Handelshäuser  und  lebten 
von  ihren  angehäuften  Vermögen;  die  imbemittelten  Klassen 
litten  äußerste  Not.  Die  Armut  nahm  derartige  Dimensionen  an, 
daß  zwei  Drittel  der  Aschkenasim  in  der  Amsterdamer  Ge- 
meinde von  Unterstützungen  leben  mußten.  Die  Bevölkerung 
Amsterdams  hatte  sich  während  der  Republik  und  des  Kaiser- 
reichs vergrößert:  in  den  Jahren  1808 — 1813  zählte  die  Ge- 
meinde der  Aschkenasim  30  000  imd  die  der  Portugiesen  2800 
Seelen.  Im  Haag  lebten  2180  Juden;  bedeutende  Gemeinden 
von  Aschkenasim  befanden  sich  außerdem  in  Rotterdam,  Leyden 
und  Groningen.  Auf  dem  Gebiete  der  geistigen  Kultur  tobte  ein 
ununterbrochener  Kampf  zwischen  dem  Alten  und  dem  Neuen. 
In  den  breiten  Schichten  der  Aschkenasim  behauptete  sich  mit 
Zähigkeit  der  deutsch-polnische  „Jargon".  In  den  traditionellen 
Schulen,  den  Chedarim  und  den  Jeschiwoth,  die  von  der  refor- 
mierten jüdischen  Schule  noch  lange  nicht  verdrängt  waren, 
wurde  der  Unterricht  in  dieser  Sprache  geführt.  Um  die  letztere 
kümmerten  sich  übrigens  die  Reformer  sehr  wenig:  die  „neuen 
Männer"  schickten  ihre  Kinder  in  die  allgemeinen  christlichen 
Schulen,  sobald  man  sie  dort  aufnahm;  aber  diese  Schulen  zogen 
eine  Generation  von  Assimüanten  groß.  Das  Zentralkonsistorium, 
die  Hochburg  der  Neologen,  führte  einen  hartnäckigen  Kampf 
gegen  den  „Jargon"   und   verlangte   von   den  Synagogenver- 

165 


waltungen,  daß  sie  ihre  geschäftliche  Korrespondenz  in  hol- 
ländischer Sprache  führen;  aber  diese  Forderung  wurde  selten 
erfüllt.  Die  begonnene  Übertragung  des  Pentateuchs  in  die  hol- 
ländische Sprache  wurde  nicht  zum  Abschluß  gebracht.  Im  all- 
gemeinen machte  hier  die  relative  Dichte  der  jüdischen  Be- 
völkerung den  Widerstand  gegen  die  Assimilation  stärker  und 
erfolgreicher  als  in  allen  anderen  Ländern. 

§  26.  Italien  (die  Römische  und  die  Zisalpinische  Republik; 
das  Königreich  Italien).  In  keinem  I^ande  hatte  die  aus  dem 
revolutionären  und  napoleonischen  Frankreich  verpflanzte 
ephemere  Emanzipation  einen  so  plötzlichen  Umschwung  in 
der  Lage  der  Juden  hervorgerufen,  wie  in  Italien,  insbeson- 
dere im  Kirchenstaate,  wo  die  sich  befehdenden  Mächte 
—  die  Kirche  und  die  Revolution,  das  Ghetto  und  die  Freiheit, 
gleich  im  ersten  Augenblick  aufeinanderprallten.  In  den  meisten 
Staaten  des  zerstückelten  Italiens  (Toskana  und  einige  einzelne 
Städte  ausgenommen)  gerieten  die  Juden  in  den  Zustand  der 
bürgerlichen  Freiheit  direkt  aus  dem  einer  niedrigen  Knecht- 
schaft und  nicht  aus  dem  einer  halben  Freiheit,  wie  es  in 
Holland  der  Fall  war.  Das  Judenviertel  von  Rom  lag  noch  ganz 
in  den  Fesseln  des  inquisitorischen  Reglements  von  1775  (§7); 
das  mittelalterliche  gelbe  Abzeichen  prangte  noch  an  den  Hüten 
der  „Ausgestoßenen",  und  die  Jagdhunde  der  Kirche  hetzten 
noch  die  Masse  der  gebrandmarkten  Menschen,  die  für  diese  Jagd 
an  das  schlammige  Ufer  des  Tibers  zusammengetrieben  waren, 
als  sich  bereits  das  ferne  Tosen  der  Revolution  vernehmen  ließ 
und  die  französische  Freiheitsarmee  an  die  Mauern  Roms  immer 
näher  heranrückte.  Im  Januar  1793  loderten  die  ersten  Flammen 
eines  vom  französischen  Agenten  Basseville  angestifteten  Auf- 
standes auf,  der  ein  trauriges  Ende  nahm :  Basseville  wurde  von 
einer  Menge  fanatischer  Anhänger  der  Kirche  getötet.  Die  Menge 
versuchte,  die  in  Rom  ansässigen  Franzosen  zu  überfallen  und 
auszuplündern,  aber  da  sie  auf  energische  Gegenwehr  stieß, 
wählte  sie  die  Linie  des  geringsten  Widerstandes  und  ging  auf 
das  Judenviertel  los.  Hier  feierte  sie  ihren  Sieg  über  die  fran- 
zösische Revolution  durch  die  Plünderung  einiger  jüdischer 
Läden.  Auch  die  päpstliche  Regierung  ließ  sich  die  Gelegenheit 
zu  einer  Plünderung  nicht  entgehen.  Sie  verbreitete  das  Gerücht, 
daß  man  bei  einem  jüdischen  Händler  einige  Tausend  drei- 

166 


farbige,  für  die  Revolutionäre  vorbereitete  Kokarden  gefunden 
habe.  Daraufhin  verhaftete  die  Polizei  die  Rabbiner  und  die 
Gemeindevorsteher  des  Judenviertels,  um  sie  dann  gegen  Zahlung 
einer  ungeheuren  Geldbuße  aus  der  Haft  zu  entlassen.  Um  den 
Verkehr  des  Judenviertels  mit  der  Stadt  zu  erschweren,  befahl 
die  Regierung,  scharf  aufzupassen,  daß  die  Paragraphen  des  alten 
Reglements,  wonach  die  Juden  ein  gelbes  Abzeichen  auch  inner- 
halb des  Ghettos  tragen  mußten  und  die  Grenzen  ihres  Aufent- 
haltsortes nachts  nicht  überschreiten  durften,  streng  eingehalten 
werden.  Man  suchte  in  Rom  an  den  Ghettobewohnern  das  Miß- 
geschick der  weltlichen  und  kirchlichen  Macht  in  Frankreich  zu 
rächen.  Die  Hinrichtung  Ludwigs  XVI.  in  Paris  bot  dem  rö- 
mischen Pöbel  einen  neuen  Vorwand,  um  das  Judenviertel  zu 
überfallen.  Die  Einführung  der  ,, Religion  der  Vernunft"  in  Paris 
A^nirde  in  Rom  durch  Taufen  von  Juden  beantwortet,  die  man 
gewaltsam  oder  mit  List  ins  ,,Haus  der  Katechumenen"  gelockt 
hatte.  In  Paris  hatte  der  jüdische  Jakobiner  Pereira  den  Erz- 
bischof Gobel  gezwungen^  in  einer  Sitzung  des  Konvents  das 
Kreuz  abzulegen,  und  in  Rom  wurden  die  jüdischen  Kinder  ge- 
waltsam mit  Kreuzen  geschmückt .  .  . 

Endlich  kam  auch  der  Augenblick,  wo  Rom  nicht  bloß  den 
fernen  Widerhall  der  Revolution,  sondern  ihre  nahen  Schritte  zu 
hören  bekam.  In  den  Jahren  1796  und  1797  wurde  Italien  von  den 
französischen  Truppen  überschwemmt.  Das  militärische  Genie 
des  jungen  Korsikaners  wirkte  Wunder:  vor  ihm  zerstoben  die 
Armeen  der  Österreicher  in  der  Lombardei,  beugten  sich  die 
Herrscher  Sardiniens,  Toskanas,  Venedigs  imd  Genuas;  selbst 
der  päpstliche  Thron  erbebte  in  seinen  Grundfesten.  Durch  die 
französischen  Kontributionen  ausgeplündert,  mit  geschmäler- 
tem Besitz,  harrte  Papst  Pius  VI.  seines  Schicksals.  Den 
letzten  Vorwand  zu  einer  Intervention  bot  der  Zusammenstoß 
des  römischen  klerikalen  Pöbels  mit  den  von  Frankreich  prote- 
gierten Republikanern.  Der  französische  General  Bertier  besetzte 
Rom;  die  einheimischen  Republikaner  proklamierten  die  Ab- 
setzung des  Papstes  und  die  souveräne  Gewalt  des  Volkes 
{15.  Februar  1798).  Am  gleichen  Tage,  dem  ersten  Tage  der 
,, Römischen  Republik"  entfernten  die  Juden  das  Schandmal  der 
Sklaverei,  das  gelbe  Abzeichen  (Sciamano  —  vom  hebräischen: 
Siman-Zeichen)  und  frohlockten  über  den  Anbruch  einer  neuen 

167 


Zeit.  Zwei  Tage  darauf  gab  es  im  Ghettoviertel  eine  Fest- 
beleuchtung, und  vor  der  Synagoge  wurde  unter  den  feierlichen 
Klängen  der  Musik  ein  „Baum  der  Freiheit"  gepflanzt.  Am 
Morgen  des  20.  Februar  verließ  der  gestürzte  Papst  Pius  VI.,  der 
Urheber  des  unmenschlichen  Ediktes  von  1775,  die  Stadt  Rom 
für  immer.  Der  alte  Kerkermeister  ging,  als  die  Tore  des  Ghetto- 
kerkers sich  weit  auftaten  und  der  Strom  der  befreiten  Gefange- 
nen sich  über  die  Straßen  der  Stadt  ergoß.  Eine  der  ersten  Hand- 
lungen der  neuen  Regierung  war  die  Proklamierung  der  jüdischen 
Gleichberechtigung:  „Da  nach  den  durch  den  Verfassungsakt 
der  Römischen  Republik  geheüigten  Prinzipien  die  Rechte  sämt- 
licher Bürger  gleich  sein  müssen,  geben  wir  folgendes  Gesetz  be- 
kannt :  Die  Juden,  die  allen  Bedingungen  zur  Erlangung  der  mit 
dem  römischen  Staatsbürgertum  verbundenen  Rechte  genügen, 
unterliegen  den  für  alle  Bürger  der  Römischen  Republik  gelten- 
den Gesetzen;  infolgedessen  werden  mit  diesem  Augenblick  alle 
besonderen,  die  Juden  betreffenden  Gesetze  und  Verfügungen 
für  abgeschafft  erklärt." 

Nur  allmählich  gewöhnten  sich  die  christlichen  Massen  daran, 
die  gestrigen  Sklaven  als  gleichberechtigte  Mitbürger  anzusehen. 
Vielen  von  ihnen  war  es  peinlich,  zu  sehen,  wie  die  Juden  anstatt 
des  soeben  abgelegten  gelben  Abzeichens  die  dreifarbige  Offiziers- 
kokarde trugen  und  sich  an  den  republikanischen  Kundgebungen 
erhobenen  Hauptes  beteiligten.  Um  nicht  mit  den  Juden  ver- 
wechselt zu  werden,  befestigten  die  christlichen  Nachbarn  des 
Ghettoviertels  an  ihre  Kokarden  kleine  Kreuze.  In  der  ersten 
Zeit  nahm  die  Nationalgarde  nur  widerwillig  Juden  in  ihre 
Reihen  auf,  da  aber  die  Juden  einen  republikanischen  Eifer  an 
den  Tag  legten,  ihren  Patriotismus  bewiesen  und  der  National- 
garde sogar  einige  Offiziere  lieferten  (Barrafal  u.  a.),  verflüchtigte 
sich  allmählich  dieses  Mißtrauen.  Der  Jude  Ezechiel  Marpurgo 
wurde  zum  ,, Senator"  am  obersten  Gerichtshof  der  Republik  er- 
nannt. Bei  alledem  hatten  die  Juden  viel  Ungemach  unter  den 
anarchischen  Zuständen  jener  Zeit  auszustehen.  Unerträglich 
war  die  Last  der  unaufhörlichen  Kontributionen,  die  der  Be- 
völkerung von  den  französischen  Generälen  auferlegt  wurden. 
Man  zwang  die  Leute,  ungeheure  Geldsummen  an  die  Kriegs- 
kasse abzuführen;  groß  war  der  Unmut  und  die  Aufregung  im 
Ghettoviertel,  als  die  jüdischen  Frauen  gezwungen  wurden,  Sol- 

168 


datenunifonnen  selbst  an  Sabbattagen  zu  nähen.  Teuer  bezahlten 
die  Juden  ihre  Freiheit  und  die  Genugtuung,  ihre  Feinde,  die 
katholische  Geistlichkeit,  gedemütigt  zu  sehen.  Die  republi- 
kanischen Behörden  beschlagnahmten  alle  Mobilien  des 
Papstes  und  der  Kardinäle  und  versteigerten  es;  unter  den 
Käufern  fanden  sich  auch  Juden,  denen  unter  anderen  Dingen 
auch  Kirchengeräte  zufielen.  Über  diese  Beteiligung  der  „Feinde 
der  Kirche"  an  der  Liquidierung  ihres  Vermögens  entrüsteten 
sich  die  frommen  Katholiken;  aber  das  Verhalten  vieler  Christen 
diesen  Reliquien  gegenüber  war  nicht  viel  besser.  Die  römische 
Geistlichkeit  wurde  zu  jener  Zeit  verspottet  und  verhöhnt.  In 
einer  Bürgerversammlung  wurde  einmal  der  Wunsch  geäußert, 
daß  man  die  Geistlichen  an  der  Stirn  brandmarken  solle;  die 
anderen  wiederum  forderten,  daß  man  den  Priestern  dasselbe 
Ghettoviertel  als  Wohnort  zuweisen  solle,  in  welchem  sie  früher 
die  Juden  eingesperrt  hielten.  Noch  niemals  hatte  sich  die  ge- 
schichtliche Nemesis  so  deutlich  zu  erkennen  gegeben,  wie  in 
dieser  plötzlichen  Schicksalswendung.  Es  war  aber  nur  eine 
Augenblickswendung :  das  Ende  der  ephemeren  Römischen  Re- 
publik nahte  heran. 

Im  Herbst  des  Jahres  1799  wurde  die  Herrschaft  der  Fran- 
zosen in  Rom  von  der  der  neapolitanischen  Truppen  abgelöst.  Es 
kam  der  Augenblick,  wo  die  Juden  für  ihre  Beteiligung  an 
den  revolutionären  Umtrieben  empfindlich  büßen  mußten.  Es 
begann  eine  Reihe  von  Strafkontributionen,  die  von  der  jüdischen 
Bevölkerung  mit  äußerster  Härte  eingetrieben  wurden.  Abge- 
sehen von  einer  allgemeinen  Summe,  die  fünf  Synagogen  auf- 
erlegt wurde,  wurde  noch  von  jedem  einzelnen  Einwohner  eine 
Geldbuße  im  Betrage  von  2%  seines  Vermögenswertes  gefordert. 
So  arg  hausten  die  Neapolitaner,  daß,  als  sich  die  militärischer 
Banden  entfernten,  und  der  neugewählte  Papst  Pius  VII.  in  Rom 
seinen  Einzug  hielt  (sein  Vorgänger,  Pius  VI.,  starb  als  Ver- 
bannter in  Frankreich),  die  Juden  ihn  beinahe  als  einen  Befreier 
begrüßten  (3.  Juli  1800).  Sie  glaubten,  daß  der  neue  Papst,  be- 
lehrt durch  die  Erfahrungen  der  jüngsten  Vergangenheit,  die 
veralteten,  inquisitorischen  Verwaltungsmethoden  nicht  mehr 
in  Anwendung  bringen  werde.  Ihre  Hoffnung  täuschte  sie  nicht 
ganz.  Pius  VII.  milderte  in  der  Tat  einigermaßen  das  harte 
Ghettoregime:  er  erleichterte  die  Steuerlast,  gab  der  Gewerbe- 

169 


freiheit  etwas  weiteren  Raum  und  drang  nicht  auf  die  Anwendung 
der  demütigenden  kanonischen  Gesetze.  Mit  Genehmigung  des 
Papstes  wurde  eine  aus  27  Mitgliedern  bestehende  Gemeinde- 
verwaltung gewählt;  die  gewählten  Rabbiner  und  Gemeinde- 
vorsteher wurden  dabei  von  der  persönlichen  Haftung  für  die 
zivilen  imd  kriminellen  Angelegenheiten  der  Gemeindemitglieder 
befreit,  die  in  früheren  Zeiten  die  Ghettoführer  in  beständiger 
Angst  hielt. 

Nach  8  Jahren  wurde  die  Restauration  durch  einen  neuen 
politischen  Umschwung  über  den  Haufen  geworfen.  Zu  Beginn 
des  Jahres  1808  wurde  Rom  von  den  napoleonischen  Truppen  be- 
setzt, und  am  10,  Juni  1809  der  ganze  Kirchenstaat  dem 
französischen  Kaiserreich  angegliedert.  Pius  VII.  wurde  als  Ge- 
fangener nach  Fontainebleau  abgeführt,  wo  er  fast  8  Jahre  ver- 
bringen mußte.  Die  jüdische  Emanzipation  wurde  von  neuem 
verkündet;  von  neuem  wurden  innere  Reformen  im  Geiste  der 
Synhedrionsbeschlüsse  durchgeführt.  Bin  Erlaß  Napoleons  vom 
4.  Juni  1811  verkündete  die  Gründung  eines  Zentralkonsisto- 
riums in  Rom  für  sämtliche  jüdische  Gemeinden  des  früheren 
Kirchenstaates.  An  der  Spitze  des  Konsistoriums  stand  der 
römische  Großrabbiner,  Leon  de  Leone.  Bei  der  Eröffnimgsfeier 
des  Konsistoriums  hielt  eines  seiner  Mitglieder  eine  Rede,  in  der 
er  Kaiser  Napoleon  als  Befreier  verherrlichte  und  unter  anderem 
folgendes  sagte:  ,,In  der  kurzen  Frist  von  zwei  Jahren  (der  fran- 
zösischen Herrschaft)  gelangten  bei  uns  Ackerbau  und  Fabrik- 
industrie zur  Entfaltung;  unsere  Söhne  strebten  mutig  den 
Wissenschaften  und  den  Künsten  zu;  mehr  als  dies:  sie  sind  be- 
rufen, an  den  Siegeszügen  (der  napoleonischen  Heere)  teilzu- 
nehmen." Die  Teünehmer  dieser  Feier  ahnten  in  jenem  Augen- 
blicke nicht,  daß  man  sie  in  weniger  als  drei  Jahren  in  das 
Ghettodunkel  zurückwerfen  würde.  Als  der  Stern  Napoleons 
unterging,  kam  der  Kirchenstaat  unter  die  Botmäßigkeit  des 
zurückgekehrten  Papstes,  imd  für  die  Juden  setzte  eine  Periode 
schwerer  Reaktion  ein  (1-814).  Diesen  circulus  vitiosus  —  von  Ver- 
sklavung zur  Freiheit,  von  Freiheit  zur  Versklavung  —  machten 
die  Juden  auch  in  den  anderen  Staaten  des  zerstückelten  Italiens 
durch.  Aus  der  aristokratischen  Republik  Venedig  machte  die 
durch  die  französischen  Siege  hervorgerufene  Revolution  des 
Jahres  1797  eine  demokratische  Republik,  die  sich  während  eines 

170 


halben  Jahres  behauptete.  In  dieser  kurzen  Zeit  vollzog  sich  die 
jüdische  Emanzipation.  Am  ii,  Juli  wurden  die  Mauern  des 
Ghettos  von  Venedig  unter  dem  Jubel  der  Bevölkerung  ge- 
schleift, und  die  mit  der  Stadt  in  Verbindung  gebrachte  Juden- 
gasse erhielt  zum  Zeichen  der  Verbrüderung  und  der  Einigung 
aller  Bürger  den  Namen  „die  Bundesstraße"  (Contrada  dell' 
Unione).  Bei  dieser  Gelegenheit  wurden  viele  schöne  Reden  ge- 
halten; selbst  katholische  Geistliche  beteiligten  sich  an  dieser 
Kundgebung  der  Freiheit  und  der  Gleichheit.  In  den  neu  ge- 
bildeten demokratischen  Stadtrat  traten  drei  Vertreter  der 
jüdischen  Bevölkerung  ein.  Die  neue  Ordnung  erwies  sich  jedoch 
als  nicht  von  langer  Dauer.  Eine  Folge  des  Siegeszuges  der 
französischen  Armee,  fiel  sie  bald  den  selbstsüchtigen  politischen 
Plänen  des  kaiserlichen  Heerführers  zum  Opfer.  Nach  dem 
Friedensvertrag  von  Campo  Formio  wurde  Venedig  an  den  Hort 
der  alten  Ordnxmg,  Österreich  ausgeliefert.  Die  österreichische 
Herrschaft  (Januar  1798)  fegte  alle  liberalen  Neuerungen,  dar- 
unter auch  die  Gleichberechtigung  der  Juden,  weg.  Im  Jahre 
1805  kam  Venedig  an  das  von  Napoleon  gegründete  König- 
reich Italien,  welches  letztere  seinerseits  dem  französischen 
Kaiserreiche  einverleibt  wurde.  Die  Gleichberechtigung  der 
Juden  wurde  von  neuem  stattdert  und  dauerte  diesmal  9  Jahre, 
bis  zum  Triumphe  der  Reaktion  im  Jahre  1814, 

Das  Schicksal  der  Juden  in  all  jenen  Teüen  Italiens  (der  Lom- 
bardei, dem  Herzogtum  Modena  und  den  dem  Elirchenstaat  und 
der  Republik  Venedig  entrissenen  Ländern),  die  sich  unter 
dem  gleichen  Drucke  der  französischen  Invasion  zur  Zis al- 
pinischen Republik  vereinigten,  wies  minder  schroffe 
Schwankungen  und  Übergänge  auf.  Die  Republik  bestand 
8  Jahre,  bis  sie  dem  „Italischen  Königreiche"  (1805)  einver- 
leibt wurde  tmd  ihre  jüdischen  Einwohner  als  gleichberechtigte 
Mitglieder  in  den  Verband  des  französischen  Volkes  eintraten; 
in  diesem  Zustande  verharrten  sie  bis  zum  Ende  des  „Zeitalters 
der  ersten  Emanzipation".  Derartige  Freiheitspausen  von  län- 
gerer oder  kürzerer  Dauer  wurden  auch  den  anderen  Gebieten  des 
zerstückelten  Italiens  in  jenen  stürmischen  Zeiten  der  Um- 
wälzungen zuteü.  Die  Juden  Toskanas  mit  ihrer  Haupt- 
gemeinde Livorno  erlangten  die  Emanzipation  im  Jahre  1808, 
als  das  Herzogtum  Medici  an  Frankreich  abgetreten  wurde.  Die 

171 


wirtschaftlich  und  kulturell  hochstehende  jüdische  Bevölkerung 
der  Hafenstadt  lyivomo,  der  die  demütigenden  Formen  der 
Rechtlosigkeit  auch  früher  fremd  waren,  erwies  sich  als  völlig  reif 
für  das  neue  staatsbülrgerliche  lieben.  —  Etwas  schroffer  ge- 
staltete sich  der  Übergang  für  die  Juden  in  Piemont  (die  Ge- 
meinden Turin,  Alessandria  und  andere),  wo  die  alten  Fürsten  der 
sardinischen  Dynastie  regierten  und  der  Geist  des  kirchlichen 
Roms  herrschte.  Nach  den  Berichten  der  französischen  Präfekten, 
die  die  piemontesischen  Bezirke  während  des  Kaiserreichs  ver- 
walteten, waren  die  Juden  unter  dem  Druck  der  sardinischen 
Herrscher  auf  einen  derartigen  Grad  physischer  Erschöpfung 
gebracht,  daß  bei  den  Aushebtmgen  viele  militärpflichtige 
Juden  wegen  körperlicher  Unzulänglichkeit  zurückgestellt  wer- 
den mußten. 

Die  vorübergehend  in  Italien  konstituierte  neue  Staatsordnung 
beeinflußte  nicht  nur  die  staatsbürgerliche  Stellung  der  Juden, 
sondern  auch  ihre  gemeindliche  Selbstverwaltung.  Die  Verzicht- 
leistung auf  die  Gemeindeautonomie  büdete  überall  die  Be- 
dingung für  die  Emanzipation.  An  Stelle  der  früheren  Selbst- 
verwaltung, die  sich  in  so  bedeutenden  jüdischen  Zentren, 
wie  Rom,  Venedig,  Livomo,  in  einem  weitverzweigten  System 
national-kultureller  Institutionen  verkörperte,  bot  die  Regierung 
des  Kaiserreichs  einen  schlechten  Ersatz  in  der  Konsistorial- 
organisation  nach  Pariser  Muster.  Die  italienischen  Juden  fanden 
sich  in  den  meisten  Fällen  mit  dieser  offiziellen  Selbstverwaltung 
ab  und  beklagten  nicht  die  verlorene  Autonomie,  wie  es  mit  den 
holländischen  Juden  der  Fall  war.  Die  Rabbiner  und  die  Gemeinde- 
vorsteher nahmen  einen  überaus  regen  Anteü  an  den  Arbeiten 
der  Notabeinversammlung  und  des  Synhedrions  in  Paris.  An 
jeder  dieser  Versammlungen  beteiHgten  sich  etwa  25  Mitglieder 
aus  Italien  (was  ungefähr  ein  Viertel  der  Gesamtzahl  der  Dele- 
gierten der  ersten  und  ein  Drittel  der  Delegierten  der  zweiten 
Versammlung  ausmachte).  Zwei  italienische  Rabbiner  hatten 
sogar  ihre  Sitze  im  Präsidium;  es  waren  dies  der  Rabbiner  von 
Mantua  Abraham  de  Cologna,  früheres  Mitglied  der  Regierung 
der  Zisalpinischen  Republik,  imd  der  Rabbmer  von  Piemont, 
Jehoschua  Segre;  als  zweiter  Referent  des  Synhedrions  nach  dem 
berühmten  Furtado  trat  der  Rabbiner  von  Venedig,  Jakob 
Cracovia,  auf.  Die  meisten  italienischen  Rabbiner  schlössen  sich 

172 


der  radikalen  Gruppe  der  beiden  Versamminngen  an,  die  den 
assimilatorischen  Bestrebungen  Napoleons  ein  freundliches  Ent- 
gegenkommen zeigte.  Aus  Italien  stammte  auch  jener  Dele- 
gierte Avigdor  von  Nizza,  der  in  der  Notabeinversammlung  den 
Antrag  stellte,  die  Wohltaten  der  katholischen  Geistlichkeit  im 
Andenken  des  dankbaren  jüdischen  Volkes  zu  verewigen  (§22). 
Italien  atmete  damals  den  Geist  der  Freiheit.  Viele  suchten 
Berührung  mit  der  christlichen  Gesellschaft.  Ein  freundliches 
Entgegenkommen  seitens  der  christlichen  Gesellschaft  genügte 
nicht  selten,  um  in  fortschrittlich  gesinnten  jüdischen  Kreisen 
die  Hoffnung  auf  ein  baldiges  Verschwinden  aller  nationaler  und 
religiöser  Schranken  zu  wecken.  Über  die  Erfolge  dieser  An- 
näherung legten  die  Departementspräfekten  in  ihren  Berichten  ein 
beredtes  Zeugnis  ab  (1808).  Aber  die  annäherungssüchtigen 
Juden  stiei3en  nicht  immer  auf  Gegenliebe.  Das  Zentralkonsisto- 
rium in  Rom  weiß  darüber  zu  berichten  (1810),  daß  in  der  katho- 
lischen Bevölkerung  noch  eine  tiefe  Abneigtmg  gegen  die  Juden 
wurzelte.  Die  Berichte  der  Präf  ekten  und  der  Konsistorien  standen 
im  Zusammenhange  mit  dem  napoleonischen  Unterdrückungs- 
erlaß vom  17.  März  1808,  der  im  Eifer  der  Übereüung  auch  auf 
die  italienischen  Gebiete  ausgedehnt  worden  war.  Die  Präf  ekten 
und  die  jüdischen  Gemeinden  unternahmen  Schritte  in  Paris,  um 
die  Abschaffung  des  Erlasses  herbeizuführen,  indem  sie  den 
Nachweis  zu  liefern  suchten,  daß  er  die  bereits  begonnene  Ver- 
schmelzung verhindern  und  den  noch  nicht  ganz  erloschenen 
religiösen  Haß  zu  neuem  Leben  entfachen  würde.  „Die  Anwen- 
dung des  kaiserlichen  Erlasses  vom  17.  März  1808  in  dem  mir 
unterstellten  Departement"  —  schrieb  z.  B.  der  Präfekt  von 
Po  (Piemont),  „wird  nicht  nur  die  von  seiner  Majestät  gewünsch- 
ten Ergebnisse  nicht  zeitigen,  sondern  eher  eine  entgegengesetzte 
Wirkung  erzielen:  er  wird  den  Prozeß  der  Wiedergeburt  der 
Juden,  die  mit  dem  Ausbruche  der  Revolution  begonnen  und 
nur  durch  die  Gewährung  der  staatsbürgerlichen  Rechte  an  die 
Juden  erfolgreich  fortgesetzt  werden  kann,  beeinträchtigen  und 
hemmen."  Alle  diese  Gesuche  blieben  in  Paris  nicht  ohne  Wir- 
kung und  hatten  einen  gewissen  Erfolg.  Am  11.  Aprü  1810 
wurden  15  italienische  Departements  von  der  Wirkung  des 
„Schmachvollen  Dekrets"  ausgenommen.  Nur  für  die  römischen 
Juden  blieb  der  Erlaß  bestehen,  und  der  Präfekt  dieses  Departe- 

173 


ments  sowie  das  römische  Zentralkonsistorium  mußten  sich 
noch  im  November  1810  um  eine  Erleichterung  für  Rom  be- 
mühen, „wo  die  Voreingenommenheit  gegen  die  Juden  stärker 
als  irgendwo  anders  ist,  und  wo  man  solche  Vorurteile  doch  nicht 
begünstigen  darf". 

Die  bürgerliche  Gleichberechtigimg,  die  das  napoleonische 
Regime  den  italienischen  Juden  brachte,  erlöste  sie  nicht  von  der 
wirtschaftlichen  Not.  Die  itaUenische  Bevölkerung  überhaupt, 
und  die  jüdische  im  besonderen,  war  durch  die  ununter- 
brochenen politischen  Krisen,  durch  Kriege,  Requisitionen  und 
französische  Kontributionen  wirtschaftlich  zugrunde  gerichtet: 
Unter  diesen  Krisen  hatten  besonders  die  jüdischen  Handels- 
firmen der  Hafenstädte  Livorno  und  Venedig  zu  leiden.  Und  doch 
blieb  die  durch  die  Gleichberechtigung  ins  Leben  gerufene  Ge- 
werbefreiheit nicht  ohne  jede  günstige  Wirkung:  sie  brachte  eine 
gleichmäßigere  Beteüigung  der  jüdischen  Bevölkerung  an  den 
verschiedenen  Zweigen  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  mit  sich. 
In  dem  am  meisten  zurückgebliebenen  Teüe  Italiens,  Piemont, 
trieb  nur  ein  Drittel  der  jüdischen  Bevölkerung  Handel,  die 
übrigen  zwei  Drittel  beschäftigten  sich  mit  Handwerk,  Künsten, 
der  Landwirtschaft  und  dem  öffentlichen  Dienste  (nach  Angaben 
aus  den  Jahren  1808 — 1811).  Die  im  Staatsdienst  beschäftigten 
Juden  bekleideten  in  der  Regel  Ämter  in  der  Stadtverwaltung  als 
stellvertretende  Maires  und  Munizipalräte,  Postbeamte  usw. 
Trotz  der  Vorurteüe  der  christlichen  Gesellschaft,  deren  Ver- 
treter nach  dem  Zeugnis  der  Behörden  nicht  selten  „in  den 
Amtssitzungen  nur  ungern  neben  den  Juden  saßen,"  war  die 
Zahl  der  jüdischen  Beamten  in  einigen  italienischen  Städten 
nicht  unerheblich. 

§  27.  Die  Schweiz  (Helvetische  Republik).  Das  Büd  einer 
ephemeren  Emanzipation  wiederholte  sich  im  kleinen  auch  in 
der  Schweiz,  wenn  auch  mit  einer  spezifischen  lokalen  Färbung. 
Die  200  jüdischen  Familien,  die  in  den  beiden  ,, Zufluchtsstädten" 
Endingen  imd  Lengnau  im  Badischen  ansässig  waren,  er- 
neuerten im  Jahre  1792  ihren  Vertrag  mit  der  Regierung,  dem- 
zufolge sie  das  Recht  erhielten,  in  dieser  Gegend  zu  wohnen  und 
sich  mit  knapper  Not  zu  ernähren  —  unter  der  Bedingung  jedoch, 
daß  sie  ihr  Geschlecht  nicht  fortpflanzen  dürfen  (§8).  Das  Über- 
schreiten der  ,, Ansiedelungszone"  und  die  Einwanderung  von 

174 


Juden  aus  anderen  Ländern  und  Gegenden  wurden  nur  vor- 
übergehend und  unter  den  schwersten  Bedingungen  ge- 
stattet: die  fremden  Kaufleute  mußten  den  sogenannten  „Leib- 
zoll" und  viele  andere  spezielle  Abgaben  entrichten.  Die  erste 
Bresche  in  diese  chinesische  Mauer  wurde  durch  ein  Werkzeug 
französischer  Herkunft  geschlagen.  Die  französische  Regierung 
des  Direktoriums  verlangte  vom  schweizerischen  Bundesrat  die 
Befreiung  aller  in  Handelsangelegenheiten  nach  der  Schweiz 
reisenden  französischen  Juden  von  den  speziellen  Abgaben;  die 
Schweizer  Regierung  sah  sich  genötigt,  dieser  Forderung  nach- 
zukommen; auf  diese  Weise  gab  sie  den  ausländischen  Juden  vor 
den  einheimischen  den  Vorzug  (1797).  Nach  einem  Jahre  er- 
richtete Frankreich  sein  Protektorat  in  der  Schweiz  und  zer- 
störte deren  mittelalterliche,  wenn  auch  repubHkanische  Staats- 
ordnung. Im  Jahre  1798  entstand  auf  den  Ruinen  der  alten 
schweizerischen  Konföderation  die  „einige  und  ungeteilte"  Hel- 
vetische Republik  mit  einem  Direktorium  an  der  Spitze  und 
zwei  gesetzgebenden  Kammern.  Unmittelbar  nach  diesem  Um- 
schwünge wandten  sich  die  Juden  des  Badischen  Bezirkes  an 
die  gesetzgebenden  Versammlungen  mit  dem  Gesuche,  sie  mit 
den  bevorzugten  ausländischen  Juden  in  bezug  auf  Freizügig- 
keit und  Abgabenentrichtung  gleichzustellen.  Dieses  Gesuch 
wurde  von  der  Regierung  (dem  Direktorium)  befürwortet.  Nach 
leidenschaftHchen  Debatten  nahmen  beide  Kammern  den  An- 
trag an  tmd  faßten  folgenden  Beschluß:  „In  allen  Gebieten 
Helvetiens  werden  künftighin  alle  den  Juden  auferlegten  und  die 
menschliche  Würde  verletzenden  speziellen  Steuern  und  Abgaben 
abgeschafft"  (31.  Mai  und  i.  Juni  1798).  So  wurde  die  Gleich- 
stellung der  Juden  in  bezug  auf  die  Steuern  durchgeführt;  nun 
mußte  auch  noch  die  volle  staatsbürgerliche  Gleichberechtigung 
durchgesetzt  werden. 

Die  Frage  der  vollen  Gleichberechtigung  tauchte  im  Parla- 
mente im  Zusammenhange  mit  dem  bürgerlichen  Eid  oder  dem 
„Verfassungseid"  auf.  Die  Zulassung  der  Juden  zu  einem  solchen 
Eide  bedeutete  die  Anerkennimg  ihrer  Gleichberechtigung,  und 
darauf  konnte  die  judenfeindliche  Partei  nicht  eingehen.  Lang- 
wierige Debatten  in  den  beiden  Kammern  und  in  einem  speziellen 
Ausschuß  (August  1798)  ergaben  eine  grundsätzliche  Meinungs- 
verschiedenheit zwischen  den  Konservativen  und  Liberalen  in 

175 


der  Frage  der  Emanzipation.  Der  Delegierte  von  Zürich,  Escher 
und  der  von  I^ausanne  Secretan  forderten  die  Gleichberechtigung 
für  sämtliche  in  der  Schweiz  geborenen  und  aUen  Bedingungen 
der  bürgerlichen  Rechtsfähigkeit  genügenden  Juden.  Ihre 
Gegner  griffen  zu  der  üblichen  Beweisführung:  die  Juden  wären 
unfähig,  einen  bürgerlichen  Eid  reinen  Herzens  zu  leisten,  da  sie 
Mitglieder  einer  besonderen  Nation  seien  imd  von  einem  Messias 
träumen,  der  ihr  eigenes  Reich  wiederherstellen  solle.  Es  wurde 
eine  vermittelnde  I/5sung  beantragt :  Nur  solche  Juden  sollen  zum 
bürgerlichen  Eide  zugelassen  werden,  die  ein  von  den  Gemeinden 
ausgestelltes  Zeugnis  über  ihre  gute  Aufführung  vorweisen,  auf 
jede  nationale  Absonderimg  verzichten  und  die  Verpflichtung 
übernehmen,  sich  der  helvetischen  Verfassung  zu  unterwerfen. 
Aber  auch  in  dieser  Form  wurde  der  Antrag  von  den  Kammern 
abgelehnt,  xmd  das  Direktorium  erhielt  auf  seine  Anfrage  folgende 
Antwort :  Die  Frage  wegen  des  von  den  Juden  zu  leistenden  bürger- 
lichen Eides  ist  bis  zur  eingehenderen  Behandlung  in  einer 
eigenen  Kommission  zu  vertagen. 

Im  Februar  1799  unterbreitete  die  Kommission  das  von  ihr 
gesammelte  Material  den  Kammern.  Es  enthielt  die  Antworten 
der  französischen  tind  deutschen  Rabbiner  sowie  die  der  schwei- 
zerischen Juden  auf  die  an  sie  gerichteten  Rundfragen.  Die  Ant- 
worten lauteten  dahin,  daß  der  jüdischen  Religion  jeder  Separa- 
tismus fem  sei  und  daß  sie  ihre  Bekenner  verpflichte,  sich  den 
Gesetzen  ihrer  Wirtsländer  zu  unterwerfen.  Anläßlich  dieser 
Denkschrift  entspannen  sich  in  den  vier  Sitzungen  der  damals  in 
lytizern  tagenden  Kammer  (6.,  12.  bis  13.  Februar  und  6.  März) 
stürmische  Debatten.  Der  Führer  der  Emanzipationsanhänger, 
Secretan  sagte,  daß  es  nicht  angehe,  die  Voreingenommenheit 
der  ungebÜdeten  Schichten  des  Volkes  gegen  die  Juden  mit  in 
Rechnung  zu  ziehen.  ,',Wir  vertreten  hier  die  Interessen  der  Auf- 
klärung und  der  Vernunft  und  nicht  die  der  Vorurteile  des 
Volkes."  Der  Gegner  der  Emanzipation,  Elmliger,  schilderte  in 
düsteren  Farben  das  Büd  einer  zukünftigen  Schweiz,  in  der  sich 
die  Juden  der  Gleichberechtigung  erfreuen.  Die  beste  Lösung  der 
Judenfrage  wäre  es,  sagte  er,  sämtliche  Juden  zu  Napoleon 
Bonaparte  zu  schicken,  damit  er  sie  in  Palästina  ansiedele  (es 
war  dies  die  Zeit  des  syrisch-ägyptischen  Feldzuges  und  des 
bonapartischen  Aufrufes   an   die  palästinischen  Juden).   Nach 

176 


längeren  Debatten  lehnte  die  Kammer  den  Antrag  wegen  der 
jüdischen  Gleichberechtigung  mit  einer  geringen  Mehrheit  ab. 

Das  schweizerische  Parlament  erwies  sich  auf  diese  Weise  bei 
weitem  konservativer  als  die  Regierung.  Das  Direktorium, 
welches  für  unmöglich  hielt,  die  Juden  in  ihrer  früheren  recht- 
losen Stellung  zu  belassen,  sorgte  wenigstens  dafür,  daß  ihre 
Lage  teüweise  verbessert  wurde:  es  stellte  die  Juden  der 
„Ansiedelungszone"  den  ausländischen  gleich.  Fürderhin  durften 
die  Juden  nicht  nur  in  den  zwei  Siedelungen,  sondern  auf  dem 
gesamten  Gebiet  des  Badischen  Kreises  wohnen  und  auch  un- 
bewegliche Güter  erwerben.  Aber  die  im  mittelalterlichen  Geiste 
erzogene  christliche  Bevölkerung  des  Kantonä  konnte  sich  auch 
mit  diesen  unbedeutenden  Erleichterungen  nicht  abfinden.  Im 
September  1802  plünderte  eine  Menge  wüder  Gesellen  während 
der  jüdischen  Feiertage  die  Wohnungen  vieler  Juden  in  Endingen 
und  lycngnau.  Allem  Anscheine  nach  standen  diese  Unruhen  im 
Zusammenhange  mit  der  vorübergehenden  Räumung  der  schwei- 
zerischen Kantone  durch  die  französischen  Truppen,  die  den 
unaufhörlichen  Parteikämpfen  nunmehr  keinen  Einhalt  bieten 
konnten.  Kurz  darauf  aber  kehrten  die  französischen  Truppen 
zurück,  um  den  von  Napoleon  geplanten  Staatsstreich-  mit 
Waffengewalt  zu  unterstützen. 

Durch  die  sogenannte  Mediationsakte  vom  Jahre  1803  geriet 
die  helvetische  Republik  in  eine  engere  Abhängigkeit  von  Frank- 
reich; andererseits  wurde  die  alte  eidgenössische  Einrichtung 
wiederhergestellt.  Jeder  Kanton  erhielt  volle  Autonomie  in- 
bezug  auf  die  Regelung  seiner  inneren  Angelegenheiten.  Die 
Juden  gerieten  unter  die  unmittelbare  Botmäßigkeit  des  Kantons 
Aargau,  dem  der  frühere  Bezirk  Baden,  die  jüdische  „An- 
siedelungszone", angegliedert  wurde.  Im  selben  Jahre  wandten 
sie  sich  an  den  Bundesrat  der  Eidgenossenschaft  mit  einem  Ge- 
such, in  dem  sie  sich  um  die  Gleichstellung  in  den  Rechten 
mit  der  christlichen  Bevölkerung  bewarben.  Das  Gesuch 
wurde  von  dem  allmächtigen  französischen  General  Ney  unter- 
stützt. Als  aber  der  Bundesrat  das  Gesuch  der  Regierung  des 
Kantons  Aargau  zur  Beschlußfassung  unterbreitete,  erhielt  er 
die  Antwort,  daß  der  neuen  Verfassung  zufolge  die  Kantonal- 
behörden ein  Eingreifen  der  Zentralregierung  in  ihre  inneren  An- 
gelegenheiten nicht  zulassen  können.    Daraufhin  arbeitete  die 

la    Dubnow,  G«sdiichte  der  Joden  I  I77 


Kantonalregierung  selber  einen  Gesetzentwurf  aus,  der  auf  die 
Verbesserung  der  I^age  der  Juden  im  Aargau  hinzielte,  und  unter- 
breitete ihn  dem  Kantonalrat  zur  Behandlung.  Aber  auch  diesen 
gemäßigten  Gesetzentwurf,  der  die  im  Kanton  während  eines 
Zeitraumes  von  night  weniger  als  26  Jahren  ansässigen  Juden  als 
gleichberechtigt  anerkannt  wissen  wollte,  fand  der  Kantonalrat 
zu  liberal  (1805).  Nach  langen  Vorbereitungen  wurde  ein  neues 
Gesetz  über  die  Juden  des  Kantons  Aargau  ausgearbeitet,  das  die 
denkbar  geringfügigsten  Konzessionen  an  den  fortschrittlichen 
Geist  der  Zeit  enthielt  (5.  Mai  1809).  Dieses  Gesetz,  das  schließ- 
lich angenommen  wurde,  gab  den  Juden,  wie  ein  schweizerischer 
Geschichtschreiber  meldet,  „alle  Pflichten,  aber  keine  Rechte 
der  Kantonbürger".  Die  Ansiedelungszone  blieb  aufrechter- 
halten, aber  das  Gesetz  gewährte  in  großmütiger  Weise  allen 
Juden,  die  sich  über  ihre  treffliche  Sittlichkeit,  ihr  Wissen  und 
ihren  wirtschaftlichen  Eifer  ausweisen  konnten,  das  Recht,  sich 
in  allen  anderen  Kantonen  mit  Ausnahme  von  Endingen  und 
I/engnau  niederzulassen.  In  Wirklichkeit  aber  war  es  den  Juden, 
die  in  ihrer  Freizügigkeit  und  Berufswahl  durch  diese  selbe 
Regierung  beschränkt  waren,  unmöglich,  derartige  Belege  zu 
liefern.  Nur  das  Hausieren  blieb  den  Juden  freigestellt:  der  arme 
Bewohner  der  Ansiedelungszone  schwang  sich  jeden  Sonntag 
seinen  mit  Waren  beladenen  Korb  auf  die  Schultern,  ging 
auf  die  Wanderung  durch  die  Dörfer  der  Bezirke  Endingen  und 
I/engnau,  wo  er  seine  Waren  absetzte,  und  kehrte  Freitag  abendö 
nach  Hause  zurück,  um  den  Sabbattag  im  Familienkreise  zu 
verbringen.  Andererseits  wiederum  blieb  im  Gesetz  die  alte 
pharaonische  Maßregel  aufrechterhalten :  es  war  den  Juden  ver- 
boten, ohne  die  Genehmigung  der  Kantonalbehörden  eine  Ehe 
einzugehen.  Eine  solche  Genehmigung  wurde  nur  aujF  Gnmd 
eines  Zeugnisses  über  den  Beruf  des  Aspiranten  und  die  Sicher- 
heit seiner  materiellen  Lage  bewilligt. 

Den  Schweizern  gelang  es,  auf  diese  Weise  ihre  eigenartige 
Gesetzgebung  inbezug  auf  die  Juden  nach  einigen  vorüber- 
gehenden Konzessionen  noch  vor  dem  Ausbruche  der  allgemeinen 
europäischen  Reaktion  wiederherzustellen.  Und  auch  in  der 
Folge  widersetzte  sich  dieses  freie  Völkchen  auf  das  Hartnäckigste 
allen  Versuchen  der  Bef  reitmg  des  auf  sein  Gebiet  verschlagenen 
winzigen  Häufleins  Juden. 

178 


Drittes  Kapitel 

Emanzipationstendenzen  und  kultureller  Umschwung  in 

Deutschland 

§  28.  Allgemeine  Lage.  Wenn  in  der  inneren  Politik  der 
deutschen  Staaten  sich  eine  gewisse  Wandlung  vollzog,  so  ge- 
schah es  nicht  unter  dem  Einflüsse  der  französischen  Revolution, 
sondern  unter  dem  Drucke  des  napoleonischen  Kaiserreichs. 
Die  französischen  Ideen  hatten  einen  gewissen  Teil  der  deutschen 
Gesellschaft  bezwungen,  die  französischen  Waffen  besiegten 
aber  die  deutschen  Machthaber  imd  trieben  sie  auf  die  Bahn 
der  Reformen.  Das  Jahr  1806  kennzeichnet  den  historischen 
Augenblick  des  innerpolitischen  Umschwungs;  es  ist  das  Jahr 
der  Zerschmetterung  Preußens  durch  Napoleon,  das  Jahr  der 
Gründung  des  Rheinbundes  und  der  Einsetzung  des  franzö- 
sischen Protektorats  über  einen  erheblichen  Teil  der  deutschen 
Lande  ...  Das  Schicksal  der  deutschen  Juden  hängt  mit  diesem 
Umschwünge  aufs  engste  zusammen.  Zwischen  den  Jahren  1789 
und  1806  liegt  die  düstere  Periode  der  Rechtlosigkeit  im  Geiste 
der  alten  Staatsordnung;  einzelne  Lichtpirnkte  —  die  ersten 
Emanzipationsversuche  —  tauchen  hier  und  da  in  der  kurzen 
Zeitspanne  zwischen  1807  bis  18 13  auf. 

Die  Einflüsse  der  großen  Revolution  und  das  Beispiel  der  durch 
sie  erzeugten  Emanzipation  der  französischen  Juden  berührten 
die  deutschen  Regierungskreise  nur  insofern,  als  in  eiiligen 
Staaten  zur  kanzleimäßigen  Behandlung  der  jüdischen  Frage  ge- 
schritten wurde:  Kommissionen  wurden  eingesetzt,  uni. Beamte 
heckten  die  denkbar  gemäßigtsten  Reformentwürfe  aus;  aber 
dieses  ganze  Kanzleigeschreibsel  führte  zu  keinem  nennenswerten 
Ergebnis.  Die  Rechtlosigkeit  der  Juden  war  mit  dem  gesamten 
Regierungsapparate  so  eng  verwachsen,  daß  sie  nur  durch  eine 
gründliche  Erschüttenmg  der  ganzen  alten  Gesellschaftsordnung 
beseitigt    werden   konnte.    Eine    bei    weitem    tiefer   greifende 

"•  179 


Gärung  rief  die  Befreiungsepoche  bei  den  Unterdrückten 
selbst  aus.  Die  aufgeklärte  jüdische  Gesellschaft  Deutsch- 
lands, die  sich  die  europäische  Kultuj:  zu  eigen  machte,  lernte  für 
ihre  Gleichberechtigung  kämpfen  imd  bürgerUche  Rechte  im 
Namen  der  unwiderruflichen  „Menschenrechte"  fordern.  Als 
aber  alle  diese  Anstrengungen  an  der  Hartnäckigkeit  der  ab- 
solutistischen deutschen  Regierungen  zerschellten,  wandten  sich 
die  Kämpfer  an  die  internationalen  Organisationen:  sie  pochten 
an  die  Türen  all  jener  europäischen  Kongresse  imd  diplomatischen 
Konferenzen,  die  am  Ende  des  XVIII.  und  zu  Beginn  des  XIX. 
Jahrhunderts  häufig  zusammentraten,  als  infolge  der  napoleoni- 
schen Klriege  die  Landkarte  Europas  einer  Revision  unterworfen 
wuide. 

Dem  Kongresse  von  Rastatt  (1797 — 1798),  der  einberufen  war, 
um  die  französischen  Errungenschaften  auf  dem  linken  Rhein- 
ufer imd  im  nördlichen  Italien  zu  festigen,  wurden  zwei  Denk- 
schriften über  die  jüdische  Frage  unterbreitet.  Diese  Denk- 
schriften wandten  sich  hauptsächlich  an  die  deutschen  und 
österreichischen  Gesandten.  Der  anonyme  Verfasser  einer  dieser 
Broschüren  1)  stellt  den  Mitgliedern  des  Kongresses  die  Not- 
wendigkeit vor  Augen,  ein  treues  und  arbeitsames  Volk  in  seinen 
Menschheitsrechten  wiederherzustellen,  ein  Volk,  das  den  unter- 
drückenden Staat  nicht  lieben  kann.  Den  verstorbenen  Kaiser 
Joseph  II.  von  Österreich  stellt  er  dem  ,, guten"  König  von 
Preußen  und  den  übrigen  Herrschern  Deutschlands  als  Muster 
hin.  Die  Juden  müssen  vom  Handel  abgelenkt  werden,  denn  der 
Handel  sei  unfähig,  eine  vornehme  Nation  zu  schaffen;  er  schaffe 
nur  Engländer  (Tribut  an  den  Engländerhaß  jener  Zeit); 
man  müsse  sie  zum  Ackerbau  heranziehen,  für  ihre  Kinder 
deutsche  Schulen  gründen,  und  ihre  Absonderung  beseitigen, 
welche  letztere  unter  anderem  „in  ihrer  häßlichen  Mimdart" 
(dem  Jargon)  wurzele.  Dann  werden  sämtliche  Vorurteüe  gegen  die 
Juden  von  selber  schwinden.  Als  Verteidiger  der  Judenheit  trat 
in  einer  anderen  Denkschrift  der  deutsche  Rechtsgelehrte 
Christian  Grund^)  auf,  den  die  Berliner  Juden  vorgeschoben 


*)  „Apologie  für  die  unterdrückte  Judenschaft  in  Deutschland,  an  den  Kon- 
greß von  Rastatt  gerichtet".  1798. 

*)  „Ist  eine  bürgerliche  Gleichstellung  der  Juden  in  Deutschland  dem  Rechte 
and  der  Klugheit  gemäß?"  Regensburg  1798. 

180 


hatten.  Allein  die  Stimme  der  Verfechtet  der  Gleichberechtigung 
verlor  sich  im  I^ärm  des  Rastatter  Kongresses,  dessen  Tätigkeit 
durch  einen  neuen  Ausbruch  des  österreichisch-französischen 
Elrieges  unterbrochen  wurde. 

Als  im  Jahre  1801,  nach  dem  Frieden  von  I^uneville,  eine  aus 
Vertretern  der  deutschen  Staaten  bestehende  „Reichsdelegation'* 
zwecks  neuer  Verteilung  der  durch  Napoleon  zerstückelten 
deutschen  Gebiete  in  Regensburg  tagte,  wurde  dieser  Versamm- 
lung eine  Bittschrift  „im  Namen  der  deutschen  Judenschaft" 
von  dem  genannten  Grund  vorgelegt^).  In  dieser  Bittschrift 
wurde  auf  die  gedrückte  Lage  der  deutschen  Juden  hingewiesen, 
die  teilweise  in  Ghettos  zusammengepfercht,  teilweise  durch  den 
lyeibzoll  entehrt,  teil^veise  von  einem  Netz  von  Handelsein- 
schränkungen umgarnt  seien.  Die  Bittsteller  ersuchen  die  Reichs- 
delegation, die  Juden  von  ihrem  harten  Joch  zu  befreien  und 
ihnen  staatsbürgerliche  Rechte  zu  gewähren,  um  „dieses  Volk 
mit  der  deutschen  Nation  zu  verschmelzen".  Die  Bittschrift  fand 
bei  dem  böhmischen  Gesandten  Unterstützung,  führte  aber  nicht 
zum  gewünschten  Erfolg :  die  Vertreter  des  auseinanderfallenden 
Reiches,  die  ausschließlich  um  die  Heüung  der  von  Napoleon  ge- 
schlagenen Wunden  besorgt  waren,  konnten  in  jenem  Augenblick 
an  die  Juden  nicht  denken.  Den  gleichen  Mißerfolg  erlebte  bei  den 
regierenden  Kreisen  Deutschlands  der  vorher  veröffentlichte 
Aufruf  des  jungen  jüdischen  Rechtsgelehrten  aus  Frankreich, 
Michael  Berr,  der  sich  an  „das  Gerechtigkeitsgefühl  der  Völker 
und  der  Könige"  wandte  („Appel  ä  la  justice  des  nations  et 
des  rois,  ou  adresse  d'un  citoyen  frangais  au  Congrös  de  Ivune- 
ville",  1801).  Michael  Berr,  ein  Sohn  des  Isaak  iSerr,  des  Kämp- 
fers für  die  jüdische  Emanzipation  in  Frankreich,  gehörte 
bereits  der  neuen  vom  Geiste  der  Assimilation  erfüllten  Gene- 
ration an.  In  seinem  Aufrufe  erklärte  er  selber,  daß  ,, er  sich  mehr 
als  Franzose,  denn  als  Jude  fühlt"  und  dessenungeachtet  sich  für 
berechtigt  hält,  „im  Namen  aller  Bekenner  der  jüdischen  Religion 
in  Europa"  aufzutreten.  Sein  Aufruf  ist  vom  Stolz  eines  in  der 
Gegenwart  lebenden  Franzosen  und  eines  in  der  Vergangenheit 
lebenden  Juden  erfüllt.  „Nicht  als  Mitglied  einer  unterdrückten 


^)  „Bittschrift  der  Juden  in  Deutschland  an  die  Repräsentanten  unserer 
Nation  um  das  deutsche  Bürgerrecht  von  Hofrat  Grund  in  Regensburg" 
1802. 

181 


Klasse",  heißt  es  im  Aufrufe,  „appelliere  ich  an  das  Gerechtig- 
keitsgefühl der  Könige  m»d  Völker,  denn  ich  darf  mit  lauter 
Stimme  sagen;  die  französischen  Juden  haben  den  Zutritt  zum 
staatsbürgerlichen  Leben  erhalten.  Als  französischer  Bürger,  als 
Freund  der  Menschheit  trete  ich  zum  Schutze  der  gerechten 
Sache  aller  derjenigen  auf,  die  ihre  Laster  dem  grausamen  Hasse 
ihrer  Feinde,  ihre  Tugenden  aber  nur  sich  selber  zu  verdanken 
haben .  .  .  AUen  Schrecknissen,  Foltern  und  Todesqualen  zum 
Trotz  widerstanden  sie  dem  Strome  der  Zeit,  der  in  seinem  Laufe 
Völker,  Religionen  und  Jahrhunderte  wegfegte.  Während  von 
Rom  und  Griechenland  nur  glänzende  Erinnerungen  geblieben 
sind,  lebt  noch  dieses,  einige  Millionen  Seelen  zählende  Volk, 
das  durch  dreißig  Jahrhtmderte  selbständigen  Lebens  und  sech- 
zehn Jahrhunderte  verschiedenster  Verfolgungen  hindurchge- 
gangen ist."  Der  Verfasser  bittet,  dfeser  Nation,  „die  einzig 
und  allein  durch  das  Mißgeschick  erniedrigt  ist",  mehr  Auf- 
merksamkeit zu  schenken  und  ihre  Rolle  während  der  fran- 
zösischen Revolution  und  der  Schreckensherrschaft  zu  würdigen, 
wo  man  Juden  weder  in  den  Reihen  der  Terroristen^)  noch  in 
denen  der  Vendeer,  die  „Feuer  und  Schwert  in  einen  Teü  des 
Vaterlandes  gebracht  haben",  finden  konnte.  „Möge  das  neue 
Jahrhundert",  heißt  es  zum  Schluß,  „mit  diesem  erhabenen 
Akt  der  Befreiung  der  Juden  von  Unterdrückung  und  Demü- 
tigung, mit  dem  Akt  der  vollen  bürgerlichen  Gleichstellung  der 
Juden  in  ganz  Europa,  die  in  Frankreich  und  Holland  schon 
durchgeführt  ist,   eröffnet  werden." 

Aber  das  Morgenrot  des  XIX.  Jahrhunderts  ging  unter  dem 
blutigen  Zeichen  der  napoleonischen  Kriege  auf.  Die  „Könige 
und  Völker"  konnten  in  jenem  Augenblick  weniger  denn  je  an 
die  Judenemanzipation  denken,  und  nur  die  Klrise  des  deutschen. 
Reiches  und  die  Unterwerfung  vieler  seiner  Teüe  unter  das  Pro- 
tektorat Napoleons  schaffen  einige  Jahre  darauf  den  Boden  für 
das  fremdländische  Gewächs  —  die  Gleichberechtigung  der  Juden. 
Wie  sich  der  Übergang  der  Juden  vom  Zustande  der  bürgerlichen 
Versklavung  zu  dem  der  bürgerlichen  Freiheit  oder  Halbfreiheit 
gestaltete,  wird  uns  ein  Überblick  ihres  Lebens  in  den  einzelnen 
Staaten  Deutschlands,  und  insbesondere  im  Hauptstaate  des 
letzteren,  in  Preußen,  lehren. 

*)  Diese  Behauptting  ist  falsch.    VgL  oben  §  19. 
182 


§  29-  Preußen:  Rechtlosigkeit  und  „Reformentwürfe" .  In 
den  Dezembertagen  des  Jahres  1789,  als  in  der  Pariser 
Nationalversammlung  die  Frage  von  der  Anerkennung  der 
Juden  als  „aktive  Staatsbürger"  leidenschaftlich  erörtert  wurde, 
versuchten  preoßische  Beamte  zu  Berlin  die  jüdische  Frage  in 
ihren  Kanzleien  zu  lösen.  Die  Früchte  der  Arbeit  der  vom  König 
Friedrich  Wilhelm  II.  eingesetzten  speziellen  Kommission  zur 
Milderung  einiger  Härten  des  judenfeindlichen  „Reglements" 
seines  Vorgängers,  des  „großen"  Friedrich  (siehe  oben  §  4),  ge- 
langten in  diesem  Augenblick  zur  Reife.  Nach  zweijährigen  Be- 
trachtungen und  Untersuchungen  verfaßte  die  Regierungs- 
kommission  einen  Gesetzentwiirf  zur  „Verbesserung  der  jü- 
dischen Lage",  und  das  Generaldirektorium  unterbreitete  es  dem 
Könige.  Die  alte  Stufenleiter  der  „geduldeten"  —  und  „Schutz- 
juden", deren  ganzes  Leben  in  einem  Netze  demütigender 
Rechtseinschränkungen  verstrickt  war,  wurde  von  diesem  Re- 
formentwurfe nicht  im  geringsten  angetastet.  Aber  er  gewährte 
auch  einige  eigentümliche  Erleichterungen  und  Zugeständnisse: 
die  solidarische  Haftung  der  Gemeindemitglieder  bei  der  Ent- 
richtung der  Abgaben  wurde  abgeschafft,  jedoch  mit  Bei- 
behaltung aller  ausschließlichen  die  jüdische  Bevölkerung 
ruinierenden  speziellen  Abgaben  und  Steuern;  den  Juden  wurde 
eine  gewisse  Handelsfreiheit  gewährt,  aber  ntu:  den  Reichen  und 
nur  an  solchen  Orten,  wo  keine  genügende  Anzahl  christlicher 
Kaufleute  vorhanden  war.  Die  Beschäftigung  mit  Ackerbau 
wurde  ihnen  gestattet,  aber  der  Ankauf  bebauter  Grundstücke 
blieb  nach  wie  vor  unter  strengem  Verbot;  Handwerke  wurden 
ihnen  freigestellt,  doch  nur  solche,  für  die  es  keine  Zünfte  gab. 
Als  Entgelt  für  alle  diese  Wohltaten  wurde  die  Germanisierung 
sämtlicher  in  Deutschland  ansässiger  Juden  verlangt :  sie  sollten 
im  öffentlichen  Leben  sich  der  deutschen  Sprache  bedienen  und 
in  ihren  Schulen  christliche  Lehrkräfte  anstellen;  dann  und  nur 
dann  würde  die  jüdische  Jugend  mit  der  Zeit  die  große  Ehre  er- 
leben, zum  Militärdienst  zugelassen  zu  werden.  Zum  Schlüsse 
stellten  es  die  Verfasser  des  Entwurfes  den  Juden  in  großmütiger 
Weise  anheim,  sich  nicht  „Juden",  sondern  „Mosaisten"  oder 
,,Deisten"  zu  nennen;  einige  aufgeklärte  Berliner  hatten  sich 
nämlich  darum  bemüht.  Als  das  Generaldirektorium  diesen  Ent- 
wurf dem  Könige  überreichte,  fügte  es  folgende  Bemerkung 

183 


hinzu:  „Übrigens  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  daß  in  der  dritten 
Generation,  nach  etwa  60 — 70  Jahren,  die  Juden  in  allen  bis  auf 
wenige,  dem  Staat  ganz  unschädliche  und  gleichgültige  Religions- 
differenzen, den  Christen  durchaus  gleich  sein  werden,  und  alsdann 
werden  auch  die  noch  bis  dahin  nötigen  Einschränkungen 
gänzlich  aufgehoben  werden  können." 

Zu  Beginn  des  Jahres  1790  wurde  dieser  Kanzleientwurf  den 
von  der  jüdischen  Gemeinde  zu  Berlin  und  den  anderen  Städten 
bevollmächtigten  „Delegierten"  zur  Kenntnisnahme  vorgelegt, 
auf  deren  Initiative  hin  die  ganze  Reform  unternommen  worden 
war.  So  wenig  nun  die  jüdischen  Ver^eter  von  der  reaktionären 
preußischen  Regierung  erwarteten,  so  mußten  sie  doch 
von  einem  Gesetzentwurf,  der  den  Juden  alle  möglichen  Be- 
günstigungen erst  im  dritten  Geschlechte  in  Aussicht  stellte, 
aber  die  schmähliche  Entrechtung  in  der  Gegenwart  nicht  an- 
tastete, schmerzlich  enttäuscht  werden.  Und  nun  gaben  im 
Februar  1790  der  bekannte  Berliner  David  Friedländer,  ein 
Schüler  Mendelssohns,  und  andere  Bevollmächtigte  dem  General- 
direktorium eine  Erklärung  ab,  daß  sie  von  ihren  Gemeinden 
keine  Vollmachten  zur  Übernahme  irgendwelcher  Verpflich- 
tungen ohne  die  gründliche  Aufräumtmg  mit  den  bisherigen 
Rechtseinschränkungen  erhalten  hätten.  Sie  bitten  um  die  Ab- 
schaffung aller  Ausnahmegesetze,  insbesondere  auf  dem  Gebiete 
des  Handels  und  des  Gewerbes,  und  erklären  sich  mit  den 
strengsten  Maßregeln  gegen  jeden  unehrlichen  Schacher  und 
Wucher  einverstanden.  Die  Erklärung  schließt  mit  folgenden 
feierlichen,  der  Feder  Friedländers  entstammenden  und  an  die 
Regierung  gerichteten  Sätzen:  „Es  ist  Zeit,  daß  tms  die  Fesseln 
abgenommen  werden,  die  uns  so  lange  beschweren.  Wenigstens 
getrösten  wir  uns,  daß  Eine  Hohe  Landesregienmg  Ihrerseits 
Alles  anwenden  wird,  den  Unterschied,  den  die  Verschiedenheit 
der  Religion  festgestellt  hat,  so  viel  wie  möglich  in  Vergessenheit 
zu  bringen.  Dies  kann  aber  nicht  anders  geschehen,  als  wenn  wir 
in  vollkommene  Gleichheit  mit  anderen  Untertanen  gesetzt 
werden;  wenn  die  Landesgesetze,  bey  Erwähnung  des  Namens 
Jude,  seiner  nüt  keiner  Wegwerfung,  oder  auch  nur  mit  Miß- 
trauen in  seine  Moralität  gedenken;  mit  einem  Worte:  wenn  Eine 
Hohe  Landesregierung  es  nicht  unter  Ihrer  Würde  hält,  den 
Juden  nicht  allein  mehr  Nahrungsquellen  zu  eröffnen,  sondern 

184 


auch  ihre  bürgerliche  Ehre  wiederherzustellen  .  . .  Sollte  aber  die 
allgerechte  Vorsehung  beschlossen  haben,  unsere  Hoffnung  zu 
täuschen,  so  müssen  wir  mit  tiefgekränktem  Herzen  einen 
Wunsch  äußern  —  einen  schrecklichen  Wunsch  — ,  in  den  aber 
doch  alle  Mitglieder  der  Colonie  einstimmig  werden,  nehmlich 
den,  daß  Bw.  Königl.  Majestät  geruhen  möchten,  uns  in  der 
alten  Verfassung  zu  lassen,  ob  wir  gleich  voraussehen, 
daß  die  Bürde  dann  von  Tage  zu  Tage  unerträglicher  werden 
wird . .  /' 

Dies  war  eine  stolze  und  schöne  Kundgebung.  Die  Vertreter 
der  Unterdrückten  wiesen  das  von  den  Unterdrückern  hin- 
geworfene Almosen  zurück.  Das  unter  dem  Uniformrock  ver- 
stockte Herz  der  Beamten  des  Generaldirektoriums  blieb  jedoch 
von  der  Tragik  dieses  Verzichts  vollständig  unberührt.  Ein 
Mitglied  der  „Reformkommission"  sagte  sogar  zu  der  Antwort 
der  jüdischen  Delegierten,  es  sei  nur  eine  spitzfindige  Sophistik 
und  schöne,  anmutige  Deklamation  .  .  .  Die  Seufzer  der  Ent- 
rechteten und  ihre  Worte,  die  von  Selbstbewußtsein  und  Würde 
zeugten,  muteten  also  die  preußische  Bureaukratie  wie  eine 
Deklamation  an.  Der  „Reformentwurf"  wurde  vom  Beamten- 
tum in  aller  Ruhe  begraben,  und  während  eines  Zeitraumes  von 
zwei  Jahren  kam  die  jüdische  Frage  nicht  mehr  aufs  Tapet. 

Die  alte  Ordnung  blieb  in  ihrer  ganzen  Häßlichkeit  bestehen. 
Noch  im  Jahre  1790  unterschrieb  der  König  einen  Erlaß  über  die 
Normierung  der  jüdischen  Bevölkerung  in  einem  ihrer  Haupt- 
zentren, in  Breslau.  Bisher  waren  die  jüdischen  Einwohner 
Breslaus  in  Kategorien  nach  folgender  absteigender  Stufen- 
leiter ihres  Geduldetwerdens  eingeteüt:  Generalprivilegierte, 
Privilegierte,  Geduldete,  Fixentristen  (von  fix-entree:  Zuge- 
reiste, die  bei  ihrer  Ankunft  eine  bestimmte  Gebühr  zu 
entrichten  hatten),  Schutzgenossen,  Angestellte,  Bediente  und 
Fremde.  Die  Preußische  Regierung  erfuhr  jedoch  zu  ihrem  nicht 
geringen  Schrecken,  daß  „eine  große  Anzahl  (Juden)  unter  aller- 
lei Vorwand  seit  einiger  Zeit  daselbst  sich  eingeschlichen  haben, 
die  zum  Schaden  der  christlichen  Kaufleute  verschiedene  ihnen 
nicht  zustehende  Gewerbe  getrieben".  So  heißt  es  in  der  könig- 
lichen Verordnung.  Aus  diesem  Grunde  setzt  der  König  eine  ge- 
naue Norm  für  die  jüdische  Bevölkenmg  von  Breslau  fest,  und 
zwar  auf  160  Familien.  Die  den  genannten  Kategorien  zuge- 

185 


wiesenen  Familienhäupter  werden  als  das  gesetzliche  Wohnrecht 
genießende  „Schutzjuden"  anerkannt;  was  darüber  hinausgeht, 
kann  nur  lebenslänglich  geduldet  werden.  Aber  auch  diese  vom 
Schicksal  begünstigten  Juden,  die  innerhalb  der  festgesetzten 
Norm  verbUeben,  unterlagen  pharaonischen  Einschränktmgen 
im  Punkte  der  natürlichen  Vermehrung,  damit  die  Norm  nicht 
überschritten  werde.  Jedem  Schutzjuden  stand  es  frei,  nur  einen 
einzigen  seiner  Söhne  zu  verheiraten,  denjenigen  nämlich,  der 
seine  „Famüiennummer"  erbte;  was  die  änderen  Söhne  betrifft, 
so  durften  sie  nur  unter  den  folgenden  zwei  Bedingungen  ver- 
heiratet werden:  wenn  sie  aus  Breslau  nach  einem  anderen  Orte 
übersiedelten  oder  wenn  die  Braut  über  eine  vakante  Nummer  von 
den  i6o  verfügte.  Es  folgen  des  ferneren  zahlreiche  subtile  Vor- 
schriften, die  die  Schwankungen  des  Familienbestandes  inner- 
halb der  Grenzen  der  fatalen  ,,Norm",  die  vorübergehende  Zu- 
lassung „überzähliger"  Juden,  die  speziellen  Abgaben,  den 
Tätigkeitsbereich  der  einem  besonderen  Polizeikommsissar  unter- 
stellten Gemeindeältesten  u.  dgl.  m.  zu  regeln  suchen.  Dieser 
königliche  Erlaß  wurde  zu  jener  Zeit  als  recht  „müde"  ange- 
sehen, da  er  einige  Härten  im  Reglement  Friedrichs  II.  beseitigte, 
und  der  König  hielt  sich  für  berechtigt,  in  der  Einleitung  zu 
seinem  Erlaß  die  Sorge  um  „das  Glück  und  die  Wohlfahrt  eines 
jeden  Unserer  Unterthanen",  zu  denen  „auch  die  zur  jüdischen 
Religion  sich  Bekennenden"  gehören,  hervorzuheben.  Aber  gleich 
darauf  macht  er  den  Vorbehalt:  „Ob  Wir  nun  zwar  wünschen, 
diese  Nation  den  übrigen  Staatsbürgern  völlig  gleich  zu  machen, 
und  sie  an  allen  Rechten  der  Bürger  theilnehmen  zu  lassen, 
so  stehen  diesem  Unserm  Vorsatze  doch  Hindernisse  entgegen, 
welche  zum  Teil  in  ihren  reUgiösen  Gebräuchen,  zum  Teü  in 
ihrer  ganzen  Verfassung  liegen,  und  die  gänzHche  Ausführung, 
wenigstens  vor  der  Hand,  noch  unmöglich  machen." 

So  war  die  Hölle  des  jüdischen  Lebens  in  Preußen  mit  den 
guten  Absichten  des  Königs  gepflastert,  was  aber  natürlich  den 
Juden  das  Dasein  nicht  leichter  machte.  Und  doch  war  Friedrich 
Wühelm  II.  besser  als  seine  Minister,  die  Reaktionäre  Wällner 
und  Bischoffswerder.  Selbst  dieser  erbärmliche  Reformentwurf 
wurde  vom  Generaldirektorium  mit  einem  Gefühl  der  Genug- 
tutmg  im  Kanzleiarchiv  begraben;  aber  der  König  selbst  er- 
innerte sich  seiner  nach  zwei  Jahren.  Ob  hier  die  Proklamienmg 

i86 


der  Judenemanzipation  in  Frankreich  (September  1791)  oder 
irgendein  anderer  Umstand  im  Spiele  war,  ist  unbekannt, 
wir  wissen  nur,  daß  der  König  im  Januar  1792  das  General- 
direktorium beauftragte,  die  Arbeiten  in  der  Judenfrage  wieder- 
aufzunehmen. Wiederum  wurde  ein  „Reformentwurf"  mit  er- 
bärmlichen Erleichterungen  ausgearbeitet.  Dieser  Entwurf 
wurde  von  der  gesetzgebenden  Kommission  gutgeheißen  und 
harrte  nur  der  Bestätigimg  durch  den  König.  Aber  in  diesem 
Augenblick  entbrannte  der  Elrieg  mit  dem  revolutionären  Frank- 
reich, und  der  König  befahl,  die  diesbezüglichen  Arbeiten  bis  zur 
Beendigung  des  Krieges  zu  verschieben.  Bis  dahin  sollte  die 
Regienmg  die  Durchführung  der  Sache,  „die  in  anderen  Ländern 
längst  eingeführt  ist",  vorbereiten  (21.  Mai).  Der  Aufschub 
dauerte  20  Jahre,  während  welcher  Preußen  mehr  als  einen 
Krieg  zu  führen  hatte. 

Unterdessen  bekam  Preußen  durch  die  zweite  und  dritte 
Teüung  Polens  (1793,  1795)  neue  Gebiete  mit  einer  jüdischen 
Bevölkerung.  Zu  der  früheren  polnischen  Provinz,  die  West- 
preußen genannt  wurde,  kamen  Süd-  und  Neuostpreußen  — 
die  Bezirke  Posen,  Kaiisch,  Warschau,  Plozk  und  Bialystok 
hinzu.  Es  galt  also  diese  ganze  bunte  Jüdische  Masse  der  an- 
gegliederten Gebiete,  die  es  noch  nicht  gewohnt  war,  mit  einem 
jeder  Familie  aufgeklebten  Etikette  oder  Nummer  zu  leben, 
unter  das  preußische  Kasemenreglement  zu  bringen.  Dies  er- 
wies sich  als  undurchführbar.  Die  Regierung  mußte  eine  be- 
sondere, den  lokalen  Bedingungen  angepaßte  jüdische  Verfassung 
ausarbeiten,  „Das  Generalreglement  für  die  Juden  von  Süd-  und 
Neuostpreußen"  (17.  Aprü  1797)  gewährte  das  Wohnrecht  an  den 
früheren  Orten  nur  deiijenigen  Juden,  die  im  Augenblicke  der 
Angliedertmg  dieser  Provinzen  an  Pretißen  dort  dauernd  an- 
sässig waren  und  bestimmte  Berufe  ausübten;  solche  aber,  die 
keinen  bestimmten  Beruf  und  keine  dauernde  Seßhaftigkeit 
nachweisen  konnten,  mußten  zu  einer  festgesetzten  Frist  das 
Land  verlassen.  Die  im  Lande  Zurückgebliebenen  mußten 
registriert  und  mit  Pässen  oder ,, Schutzbriefen"  versehen  werden. 
Die  Abgaben  erfuhren  eine  erhebliche  Steigertmg.  Anstatt  der 
polnischen  „Kopfsteuer"  wurden  die  verschiedensten  Steuern 
eingeführt:  Steuer  für  „Schutz",  für  die  Eheerlaubnis  usw.  Ehen 
waren  nur  Männern  von  über  25  Jahren  gestattet,  die  ein  sicheres 

187 


Einkommen  oder  Vennögen  hatten.  Die  rabbinische  Gemeinde- 
selbstverwaltung wurde  auf  das  Gebiet  der  religiösen  Interessen 
beschränkt;  das  rabbinische  Gerichtswesen  wurde  abgeschafft; 
in  den  Schulen  wurden  die  deutsche  und  polnische  Sprache 
als  obligatorisch  eingeführt. 

Dieser  gesetzgeberische  Akt,  der  letzte  in  der  Regierungszeit 
des  Königs  Friedrich  Wilhelm  II.,  wurde  damals  für  „liberal" 
gehalten.  Der  Rang  eines  „geduldeten"  und  Schutzjuden  war 
die  höchste  Stufe,  die  ein  Jude  erreichen  konnte.  In  demselben 
Zustande  verharrten  die  Dinge  auch  im  er^en  Dezennium  der 
Regierung  Friedrich  Wilhelms  III.  (1797 — 1840.) 

§  30.  Der  Versuch  eines  religiösen  Kompromisses  im  Kampfe 
für  die  Gleichberechtigung;  die  judenfeindliche  Literatur.  Das 
auf  der  jüdischen  Masse  lastende  Regime  der  Entrechtung  wurde 
von  der  jüdischen  Intelligenz,  die  in  ihrem  Denken  und  ihrer 
I^ebensweise  der  gebildeten  christlichen  Gesellschaft  näherstand 
als  den  jüdischen  Massen,  doppelt  schwer  und  schmerzlich  empfun- 
den. Die  germanisierten  Spitzen  der  BerHner  Judenheit  erblickten 
darin,  daß  man  sie  als  einen  Bestandteil  der  „ungebildeten"  Masse 
betrachtete,  indem  man  sie  derselben  bürgerlichen  Versklavung 
unterwarf,  eine  persönliche  Beleidigung.  Die  Vertreter  dieser 
Kreise  bemühten  sich,  bei  der  Regienmg  Verständnis  für  die 
tragische  I^age  der  gebildeten  Halbdeutschen  wachzurufen,  aber 
alle  ihre  Anstrengungen  blieben  fruchtlos.  In  seiner  Antwort  auf 
eines  der  von  den  Berliner  Gemeindeältesten  —  Itzig,  Fried- 
länder u.  a.  —  eingereichten  Gesuche,  legte  das  Generaldirek- 
torium folgende  prinzipielle  Stellungnahme  zur  jüdischen  Frage 
nieder  (1798) :  die  Regierung  sei  sich  dessen  wohl  bewußt,  daß  die 
Gesetzgebung  über  die  Juden  eine  ,, gewisse  Härte"  enthalte  und 
daß  man  „zur  Ehre  der  Menschheit"  einige  Rechtsbeschrän- 
kungen aufheben  sollte;  die  Regierung  könne  jedoch  bei  ihrem 
besten  Wülen  nicht  nach  ihrer  besseren  Einsicht  handeln,  da 
diese  Gesetze  mit  einem  ganzen  pohtischen  Sj'-stem  in  Zusammen- 
hang stehen,  dessen  Aufgabe  es  sei,  die  christliche  Bevölkerung 
vor  all  jenen  ,,Inkonvenienzen  zu  sichern"  und  Unannehmlich- 
keiten zu  schützen,  die  mit  einer  etwaigen  Erteilung  bürgerlicher 
Rechte  an  die  „jüdische  Nation"  angesichts  ihrer  Absonderungs- 
tendenzen, ihres  „Nationalhasses",  der  Hierarchie  und  der  Art 
ihrer  Erziehung,   entstehen  würden.   Die  Regierung  sehe  sich 

188 


daher  genötigt,  sdbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  mit  dem  einfachen 
Volke  auch  die  Gebildeten  zu  leiden  haben,  vorerst  alles  beim 
alten  zu  lassen,  bis  „eine  allgemeine  Verbesserung  erfolgt",  dann 
erst  werde  man  zu  einer  „soliden  Reform"  greifen,  um  die  Juden 
„zur  vollständigen  Gleichsetzung  mit  den  übrigen  Staatsbürgern 
zu  qualifizieren". 

Mit  einem  derartigen  Zustande  konnten  sich  aber  die  assi- 
milierten Juden  Berlins  unmöglich  abfinden.  In  diesen  Kreisen 
begann  ein  niederträchtiger  Gedanke  heranzureifen :  wenn  es  un- 
möglich sei,  die  Gleichberechtigung  für  das  gesamte  Volk  zu  er- 
reichen, so  müsse  man  sie  eben  für  alle  jene  „Würdigen"  zu  er- 
ringen suchen,  die  der  nationalen  Absonderung  imd  den  „reli- 
giösen Vorurteilen"  bereits  entsagt  haben.  Und  nun  beschloß 
eine  Gruppe  von  Personen,  an  deren  Spitze  der  Vertreter  der 
Berliner  Gemeinde,  der  Schüler  Mendelssohns,  David  Friedländer, 
stand,  sich  an  die  öffentliche  Meinung  zu  wenden.  Zu  Beginn  des 
Jahres  1799  erschien  in  Berlin  eine  anonyme  Broschüre  imter 
dem  Titel:  „Sendschreiben  an  Seine  Hoch  würden,  Herrn  Ober- 
konsistorialrat  und  Probst  Teller  zu  Berlin,  von  einigen  Haus- 
vätern jüdischer  Religion."  Pastor  Teller  war  damals  in  Berlin 
als  Vertreter  eines  liberalen  Protestantismus  bekannt,  und  die 
Verfasser  des  „Sendschreibens"  wandten  sich  an  ihn  mit  der 
Bitte,  die  sie  aufs  tiefste  erregende  Gewissensfrage  zu  lösen.  Die 
anonymen  Autcren  bekennen  etwa  folgendes:  Wir  haben  schon 
längst  eine  bestimmte  Position  zwischen  den  beiden  Extremen 
eingenommen :  dem  blinden  Glauben  der  Anhänger  des  Talmuds 
imd  dem  modernen  Unglauben  der  Jugend;  wir  anerkennen  die 
Grundwahrheiten  einer  jeden  Religion:  die  Einheit  Gottes,  die 
Unsterbhchkeit  der  Seele  und  daä  Streben  nach  sittlicher  Voll- 
kommenheit. Moses  und  Christus  haben  diese  Prinzipien  ihren 
Religionen  zugrunde  gelegt,  dann  aber  sind  beide  Religionen  von 
ihren  Urgründen  abgewichen:  das  Judentum  verfiel  in  den 
rituellen  Formah'smus,  das  Christentum  —  in  mystischen  Dog- 
matismus. Die  jüdischen  Gebräuche  hindern  uns  wirklich  an  der 
Erfüllung  unserer  Bürgerpfhchten,  und  wir  müssen,  dem  Glück 
unserer  Nachkommen  zuliebe,  das  Joch  der  Riten  vor  ims  werfen. 
Wir  können  aber  auch  nicht  ohne  weiteres  zum  Christentum  über- 
treten, weil  uns  dabei  seine  Dogmen,  seine  ,, Geschichtswahr- 
heiten", die  imseren  „Vernunftwahrheiten"  widersprechen,  im 

189 


Wege  sind.  Wir  können  z.  B.  unmöglich  ohne  Heuchelei  das 
Dogma  vom  Sohne  Gottes  im  kirchlichen  Sinne  hinnehmen. 
„Wir  sind  nunmehr  am  Ziele,  ehrwürdiger  Menschenfreund," 
wenden  sich  die  Verfasser  an  Teller,  „wo  wir  Sie  dringend  auf- 
fordern müssen,  uns  Ihren  Rat  nicht  zu  versagen.  Pflicht  und 
Gewissen  fordern  von  uns,  daß  wir  unseren  bürgerlichen  Zustand 
durch  Reinigung  unserer  religiösen  Verfassimg  verbessern,  aber 
auch  schlechterdings  nicht  auf  Kosten  der  Wahrheit  und  der 
Tugend  unsere  Glückseligkeit  erkaufen  oder  erschleichen  sollen. 
Wir  sehen,  daß  viele  aus  unserer  Mitte  sich  leichtsinnig  in  den 
Schoß  der  Kirche  werfen :  ein  paar  Worte  erretten  sie  vor  Recht- 
losigkeit; die  Vermehrung  solcher  Neophyten  kann  aber  einen 
verständigen  Menschen  nicht  freuen  .  .  ,  Belehren  Sie  uns,  edler 
Tugendfreund:  weim  wir  uns  entschließen  sollten,  die  große 
christliche  protestantische  Gesellschaft  zum  Zufluchtsorte  zu 
erwählen,  welches  öffentliche  Bekenntnis  würden  Sie,  würden 
die  Männer,  die  mit  Ihnen  in  dem  ehrwürdigen  Rate  sitzen,  von 
uns  fordern?"  — 

„. .  .  Unsere  Zahl  ist  sehr  klein,  aber  wir  hoffen,  daß  noch  eine 
namhafte  Zahl  von  Hausvätern  unserem  Beispiele  folgen  wird. 
Wir  leugnen  nicht,  „daß  unser  Ziel  mit  dahin  geht,  durch  unsere 
Erklärung  die  Rechte  von  Staatsbürgern  zu  erlangen".  Aber  wir 
fürchten,  daß  wir  unser  Ziel  nicht  erreichen,  daß  wir  nur  „ein 
Mittelding  zwischen  Juden  und  Christen"  bleiben  und  in  die 
christliche  Gesellschaft  nicht  aufgenommen  werden.  „Schreibt 
die  Religion  der  Protestanten  gewisse  Zeremonien  vor,  so  können 
wir  uns  diesen  als  bloßen  Formen,  die  zur  Aufnahme  in  eine  Ge- 
sellschaft erfordert  werden,  wohl  unterwerfen;  wohlverstanden, 
daß  diese  Zeremonien  nur  als  Handlungen,  als  Gebräuche  ge- 
fordert werden,  um  zu  beurkunden,  daß  das  aufgenommene  Mit- 
glied die  ewigen  Wahrheiten  angenommen  und  sich  den 
daraus  fließenden  Pflichten  als  Mensch  und  Staatsbürger  unter- 
wirft; nicht  aber  als  Zeichen,  daß  derjenige,  der  sie  vollzieht, 
eingesteht,  er  nehme  die  Dogmen  der  Kirche  dieser  Gesellschaft 
gläubig  an." 

Und  so  trafen  einige  Bedrängte  im  jüdischen  Lager  alle  An- 
stalten in  das  ihrer  Feinde  überzugehen,  indem  sie  sich  dabei 
hinter  verschiedene  Klauseln  versteckten  und  von  den  Bedrängern 
nur  minder  demütigende  Kapitulationsbedingungen  zu  erreichen 

190 


m 


suchten.  Für  die  Berliner  war  es  kein  Geheimnis,  daß  der  Ver- 
fasser des  „Sendschreibens  an  Teller"  kein  anderer  als  David 
Friedländer  war,  und  dieser  Umstand  trug  nur  dazu  bei,  das  In- 
teresse an  der  BrOvSchüre  zu  steigern.  Ein  Vertreter  der  fort- 
schrittlich gesinnten  Judenheit,  ein  Nachfolger  Mendelssohns,  ein 
Mitglied  des  jüdischen  Gemeinderats  zu  Berlin,  tritt  im  Namen 
seiner  Gesinnungsgenossen  als  Vermittler  zwischen  Judentum 
und  Christentum  auf  —  welch  bedeutsame  Erscheinung!  .  .  . 
Teller  ließ  nicht  lange  auf  sich  warten.  Er  veröffentlichte  eine 
„Beantwortung  des  Sendschreibens  einiger  Hausväter  jüdischer 
Religion",  in  der  er  die  von  einer  jüdischen  Gruppe  abgegebenen 
Erklärungen  über  ihre  I^ossagung  von  den  Riten  der  jüdischen 
Religion  begrüßt,  sich  aber  dann  sofort  als  Missionar  aufspielt : 
Ihr  seid  nicht  mehr  gegen  Christus,  also  seid  ihr  für  ihn.  Warum 
solltet  ihr  nun  nicht  auch  „das  kirchliche  Ansehen  derer  haben, 
die  nach  seinem  Namen  genannt  sind  ?  Wer  vermag  es  zu  ent- 
scheiden, ob.  es  nicht  der  Plan  des  Ewigen  sei,  Sie  dazu  zu 
brauchen?  ..."  Ihr  sagt,  ihr  könnt  das  christliche  Dogma  vom 
Sohne  Gottes  nicht  annehmen,  aber  daß  ihr  „kein  Mittelding 
zwischen  Juden  und  Christen"  sein  wollet.  Um  aber  Christen  zu 
sein,  müßt  ihr  wenigstens  Taufe  und  Abendmahl  anerkennen  und 
von  der  „Geschichtswahrheit"  ausgehen,  daß  Christus  der  Stifter 
der  besseren  moralischen  Religion  war  .  . .  Ich  kann  auch  nur 
die  „I^ehrmeinungen",  aber  nicht  die  „Grundlehren"  frei- 
stellen .  .  .  „Dies  alles  ist  nur  mein  Privaturteil.  Wie  viele  oder 
wie  wenige  unter  meinen  Mitbrüdem  ihm  beitreten  möchten, 
weiß  ich  nicht."  Was  aber  die  Beantwortung  der  Frage  betrifft, 
„was  und  wieweit  von  bürgerlichen  Rechten  und  Freiheiten  ein 
christlicher  Staat  Ihnen  auf  solches  Bekenntnis  einzuräumen  für 
sich  ratsam  finden  möchte  —  gehört  für  ein  ganz  anderes 
Forum".  Denn  im  Protestantismus  ist  die  Kirche  dem  Staate 
untergeordnet,  und  der  letztere  darf  der  einen  oder  anderen 
Sekte,  selbst  einer  christlichen,  die  Gleichberechtigung  ver- 
sagen. 

Um  diese  öffentliche  Erörtenmg  der  Kapitulation  des  Juden- 
tums entbrannte  ein  heftiger  und  lärmender  Streit.  In  christ- 
lichen Kreisen  sprach  man  ironisch  von  einer  „trockenen",  einer 
„wasserlosen"  Taufe,  zu  der  die  Juden  bereit  seien.  Die  Verfasser 
des  Sendschreibens  wurden  aufgefordert,   in  der  einmal  ein- 

191 


geschlagenen  Richtung  fortzuschreiten,  bis  sie  die  Schwelle  der 
Kirche  erreichen.  Der  klerikale  Professor  an  der  Universität 
Göttingen  du  I/Uc  entrüstete  sich  in  seinem  „Brief  an  die  jü- 
dischen Verfasser"  über  deren  philosophischen  Rationalismus, 
deren  Glauben  an  den  „Fortschritt"  und  an  die  falsche  und  aber- 
witzige Idee  der  Menschenrechte;  nach  Ansicht  des  Professors 
stammte  das  alles  von  Mendelssohn  und  gereiche  sowohl  dem 
Judentum  wie  dem  Christentum  zum  Schaden.  Ein  anderer 
Verfasser  kommentiert  in  der  Broschüre  ,, Moses  und  Christus" 
wohlwollend  das  „den  edlen  Geist  Mendelssohns"  atmende 
„Sendschreiben"  und^  ermuntert  die  Verfasser  zu  weiteren 
Schritten  in  dieser  Richtung,  ganz  in  der  christlichen  Gesellschaft 
aufzugehen.  „Ivaßt  uns  zusammen  durch  das  Tor  des  Christen- 
tums in  die  Religion  der  Vernunft  treten."  Auch  „unser  edler 
Fürst"  —  fügt  der  anonyme  Autor  hinzu  —  wird  daran  nicht 
achtlos  vorübergehen. 

Aus  dem  Dutzend  der  um  jene  Zeit  anläßlich  des  „Send- 
schreibens" in  Berlin  erschienenen  Broschüren,  verdienen  die 
„Briefe  eines  Predigers  außerhalb  Berlins"  eine  besondere  Be- 
achtung. Dieser  „Prediger"  war  niemand  anders  als  der  christ- 
liche Modetheologe  Friedrich  Schleier macher,  der  Ver- 
fasser der  „Reden  über  Religion",  der  Liebling  der  Berliner 
jüdischen  Salons,  zugleich  aber  prinzipieller  Gegner  des  Juden- 
tums. Dem  jüdischen  „Sendschreiben"  mißt  er  keine  Bedeutung 
bei:  es  sei  dies  einfach  ein  pompöser  Versuch,  die  bürgerliche 
lyage  der  Juden  zu  verbessern.  Eine  derartige  Praktik  müsse  alle 
diejenigen  jüdischen  Männer  aufs  tiefste  betrüben,  die  früher  mit 
anderen  Mitteln  für  die  Gleichberechtigung  gekämpft  haben. 
Schleiermacher,  der  den  Namen  des  Verfassers  nicht  kannte 
(oder  bloß  so  tat),  rief  aus:  „Wie  tief  verwundet  muß  besonders 
der  treffliche  Friedländer  sein!  Ich  bin  begierig  darauf,  ob  er  nicht 
seine  Stimme  gegen  diesen  Verrath  an  der  besseren  Sache  erheben 
wird,  er,  ein  achterer  Anhänger  Mendelssohns  als  dieser  hier!" 
Unschön  ist,  sagt  Schleiermacher,  dieses  Streben  zur  neuen 
Religion,  das  nur  von  praktischen  Erwägungen  diktiert  ist. 
Diese  Religion  wechsele  heutzutage  wie  der  Kurs,  und  es  gäbe 
Juden,  die  bereit  wären,  „ihre  Kinder  zugleich  taufen  und  be- 
schneiden zu  lassen".  Auch  die  Taufwut,  die  sich  der  jüdischen 
Gesellschaft  bemächtigte,  macht  dem  Verfasser  keine  Freude: 

192 


es  sd  „ein  Christentum  ohne  Christus".  In  die  christliche  Gesell- 
schaft treten  Ungläubige  ein,  die  in  den  Schoß  der  Kirche  ledig- 
lich durch  politischen  Druck  hineingedrängt  werden;  der  Kirche 
drohte  die  Gefahr,  mit  einem  „Judenchristentum"  angesteckt  zu 
werden.  Zur  Vermeidung  dieser  Gefahr  müsse  die  Kirche  die 
Regierung  zu  veranlassen  suchen,  den  Juden  alles,  was  sie  zu 
solcher  Heuchelei  bewegt,  aus  dem  Wege  zu  räumen  und 
wenigstens  ihren  KÜndem  irgendwelche  Bürgerrechte  zu  ge- 
währen, um  deren  Zukunft  die  „Väter"  (die  Verfasser  des  Send- 
schreibens) dermaßen  besorgt  sind,  daß  sie  sich  bereit  erklären, 
ihre  religiösen  Überzeugungen  preiszugeben.  Was  die  volle 
bürgerliche  „Naturalisierung"  der  Juden  anbetrifft,  so  hält  sie 
Schleiermacher  so  lange  für  ausgeschlossen,  solange  die  Juden 
eine  besondere  Nation  bilden,  die  ihre  eigenen  Gesetze  hat  und 
von  der  Ankunft  des  Messias  träumt. 

Wie  war  es  Friedländer  wohl  zumute,  als  er  diesen  Schlag  voii 
der  Hand  eines  vermummten  Freimdes  erhalten  hatte  ?  Auf  der 
einen  Seite  —  Pastor  Teller,  der  von  denen,  die  der  Kirche  nur 
einen  Finger  hingestreckt  hatten,  die  ganze  Hand  forderte;  auf 
der  anderen  Seite  —  ein  christlicher  Philosoph,  der  diesen  Kom- 
promiß mit  dem  Gewissen  mit  scharfen  Worten  geißelte.  Er- 
innerte sich  Friedländer  daran,  daß  er  vor  neun  Jahren  das  in 
Gestalt  des  „Reformentwurfes"  den  Juden  hingeworfene  de- 
mütigende Almosen  stolz  zurückgewiesen  und  die  Würde  seines 
Volkes,  die  er  jetzt  unter  dem  Deckmantel  einer  Gruppe  so  roh 
mit  Füßen  trat,  verteidigt  hatte  ?  ...  Er  schwieg.  Irgend  etwas, 
was  im  Schüler  vom  geistigen  Erbe  des  I^ehrers  erhalten  ge- 
blieben war  (und  Mendelssohn  haßte  das  Renegatentum),  hielt 
ihn  Von  weiteren  skandalösen  Schritten  zurück.  Der  Versuch, 
eine  jüdisch-christliche  Sekte  zwecks  Erlangimg  bürgerlicher 
Rechte  zu  gründen,  scheiterte.  Es  fanden  sich  aber  mutigere  und 
entschlossene  Menschen,  Personen,  die  ohne  viel  Federlesens  zu 
machen,  den  kürzesten  Weg  wählten:  in  den  oberen  Schichten 
der  jüdischen  Gesellschaft  entwickelte  sich  eine  Taufepidemie, 
und  diesmal  waren  es  echte  Taufen,  ganz  ohne  Vorbehalte  und 
Gewissensbisse. 

Die  „Hausväter"  aus  dem  Friedländerschen  Kreise  konnten 
sich  bald  überzeugen,  daß  der  Haß  gegen  die  Juden  nicht  nur 
auf  den  Widersprüchen  zwischen  Judentum  und  Christentum 

13    Dubnow,  Ceachichte  der  Juden  I  I93 


berulite.  Im  Jahre  1803  brach  in  Preußen  eine  noch  nie  da- 
gewesene judenfeindliche  Agitation  aus,  die  weniger  auf  der 
Abgeschlossenheit  der  Juden,  als  auf  der  Angst  vor  ihrem 
Eindringen  in  die  christliche  Gesellschaft  beruhte.  Der  An- 
führer im  literarischen  Feldzuge  gegen  die  Juden  war  ein  kleiner 
Berliner  Gerichtsbeamter,  der  minderwertige  Agitator  Grat- 
tenauer.  Hinter  ihm  standen  anscheinend  die  konservativ- 
klerikalen Kreise  der  deutschen  Gesellschaft,  die  schon  seit 
langer  Zeit  mit  Unruhe  den  hartnäckigen  Kampf  der  Juden 
für  die  Gleichberechtigung  und  insbesondere  ihren  Verkehr  mit 
der  liberalen  Gruppe  der  preußischen  Aristokratie  in  den  vor- 
nehmen Berliner  jüdischen  Salons  verfolgten.  Grattenauer  ver- 
öffentlichte ein  scharfes  Pamphlet  „Wider  die  Juden"  (1803), 
in  dem  er  nachwies,  daß  es  schmachvoll  sei,  mit  den  Juden 
Umgang  izu  pflegen,  daß  die  Gleichberechtigung  sie  nicht  bessern 
könne,  weil  zwischen  ihnen  und  den  Christen  ein  Abgrund  liege; 
die  Juden  seien  in  ihrer  Masse  widerlich,  ihre  „elegante"  Jugend 
bestehe  aus  Gottlosen,  Stutzern  und  Verschwendern;  ihre 
Salondamen  seien  unerzogen,  obwohl  sie  mit  deutschen  Fürsten 
und  Grafen  verkehrten;  die  Juden  müssen  den  Stempel  der 
Verachtung  tragen:  man  müsse  sie  wieder  zum  Tragen  des 
mittelalterlichen  gelben  Abzeichens  an  der  Kleidung  verpflich- 
ten, damit  man  sie  wie  die  Pest  fliehen  könne. 

Das  in  der  rohen  Sprache  der  Straße  abgefaßte  Pamphlet 
Grattenauers  hatte  eine  zündende  Wirkung.  In  kurzer  Zeit  er- 
schien es  in  sechs  Auflagen  und  13  000  Exemplaren.  Die  Ver- 
treter der  Berliner  Judenschaft  hielten  es  anfangs  nicht  für 
notwendig,  gegen  Grattenauer  vorzugehen,  und  nur  einzelne 
Personen  nahmen  an  ihm  Rache:  ein  Jude  gab  ihm  einmal 
öffentlich  eine  Ohrfeige,  und  seine  Gläubiger  übergaben  seine 
Wechsel  dem  Gerichtsvollzieher.  Dies  versetzte  den  Agitator  in 
noch  größere  Wut.  Er  veröffentlichte  einen  Nachtrag  zu  seiner 
Broschüre,  in  dem  er  sich  stolz  „Haman"  nannte  und  die  Leser 
leidenschaftlich  zu  einer  Judenhetze  aufrief.  Ihm  antwortete  der 
christhche  Professor  Kos  mann  mit  einer  „Für  die  Juden" 
betitelten  Broschüre.  Der  Verteidiger  der  Juden  beging  aber 
die  Unvorsichtigkeit,  auf  dem  Titel  seines  Buches  die  Widmung : 
„Den  Ältesten  der  Berliner  Judenschaft  und  allen  guten  Men- 
schen ohne  Unterschied  der  Religion"  anzubringen,  was  viele 

194 


auf  den  Gedanken  bringen  konnte,  daß  seine  Verteidigungs- 
schrift von  interessierter  Seite  inspiriert  sei.  Die  Apologie  Kos- 
manns war  außerdem  recht  schwach,  und  in  Berlin  sagte  man 
im  Scherz,  daß  sie  für  die  jüdische  Sache  gefährlicher  sei  als 
der  Angriff  Grattenauers.  Man  verbreitete  sogar  ein  Epigramm, 
in  dem  der  Jude  spricht: 

A  Grattenauer  hat  mich  beleidigt, —  es  sei! 
A  Kosmann  hat^mich  vertheidigt, —  ai  wai! 

Der  Büchermarkt  war  wieder  mit  Flugschriften  für  und  wider 
die  Juden  überschwemmt.  Die  sich  für  „Gelehrte"  ausgebenden 
Paalzow  und  Buchholz^)  wiesen  auf  Grund  der  Geschichte 
und  der  I^ehre  der  Juden  die  Minderwertigkeit  dieses  Volkes 
und  die  Unmöglichkeit,  es  in  einem  christlichen  Staate  zu  dul- 
den, nach.  Paalzow  erfand  das  Märchen,  daß  die  Juden  280  Tage 
im  Jahre  feiern  und  folglich  ein  Volk  von  Müßiggängern  sei. 
Buchholz  wunderte  sich,  daß  I^essing  mit  Mendelssohn  Freund- 
schaft gepflogen  habe:  eine  Freundschaft  zwischen  einem 
Deutschen,  dem  Vertreter  des  vollkommenen  Christentums,  und 
dem  Juden,  der  sich  zu  einer  „viehischen  Religion"  bekenne, 
sei  doch  unmöglich.  Die  ganze  Judenfrage  ginge  nur  darauf 
hinaus,  wie  man  die  Christen  vor  den  Juden  schützen  könne; 
diese  Ruchlosen  müsse  man  zum  Militärdienst  verpflichten  und 
in  die  Strafbataillons  stecken. 

Als  die  Altesten  der  Berliner  Gemeinde  sahen,  daß  die  Pole- 
mik den  Charakter  einer  gefährlichen  Hetze  annahm,  erwirkten 
sie  bei  der  Behörde  einen  Erlaß,  der  der  Zensur  vorschrieb, 
keine  weiteren  Veröffentlichungen  für  und  wider  die  Juden 
zuzulassen,  da  diese  Polemik  zu  einem  „Unfug"  ausgeartet  sei. 
Grattenauer  wandte  sich  mit  einer  Beschwerde  an  den  Kanzler 
und  sogar  an  den  König:  man  beraube  ihn  der  Freiheit  des 
Wortes,  ihn,  der  Deutschland  von  den  Juden,  die  „nicht  mit 
uns,  sondern  von  vms  leben",  retten  wolle;  er  werde  aber  seine 
Angriffe  fortsetzen,  in  denen  er  „wesentliche  Dienste  dem  Staate" 
erblicke.  Die  Beschwerde  dieses  literarischen  Pogromhelden 
blieb  unbeachtet. 

Infolge  des  Zensurverbotes  wurde  die  Polemik  nun  außerhalb 
Berlins  fortgesetzt.  In  der  Provinz  traten  einige  gebildete  Juden 

^)  Die  Titel  der  wichtigsten  Werke  der  damaligen  polemischen  I<iteratur 
sind  in  den  Anmerkungen  am  Schlüsse  dieses  Bandes  verzeichnet. 

13«  195 


zur  Verteidigung  ihres  Volkes  auf  und  macliten  die  verschieden- 
sten, zuweilen  recht  naive  Vorschläge  zur  I/isung  der  Juden- 
frage. Ein  Königsberger  Jude  empfahl  ein  patentiertes  Mittel: 
Mischehen  mit  Christen ;  ein  anderer  warnte  dagegen  die  Töchter 
Israels  vor  dem  Verkehr  mit  den  Stammesgenossen  Grattenauers. 
Der  Breslauer  lychrer  und  Schriftsteller  (Mitarbeiter  der  Zeit- 
schrift „Meassef")i  Aaron  Wolfsohn,  veröffentlichte  eine 
Apologie  des  Judentums:  „Jeschurun,  oder  unparteiliche  Be- 
leuchtung der  dem  Judenthume  neuerdings  gemachten  Vor- 
würfe, in  Briefen,"  (Breslau  1804).  Die  „Unparteilichkeit"  des 
Autots  bestand  dariii,  daß  er  der  Regierung  empfahl,  das  ganze 
Ivcben  der  Juden  zu  reformieren  und  den  Talmud  und  die  ganze 
rabbinische  lyiteratur  zu  zensurieren  und  von  veralteten  Aus- 
sprüchen zu  „säubern".  Viel  klüger  als  die  Apologeten  schrieben 
die  Satyriker.  Ein  jüdischer  Schriftsteller  veröffentlichte  unter 
dem  Pseudonym  Epiphanes  zu  Königsberg  eine  Broschüre, 
deren  Titel  für  den  ganzen  Inhalt  bezeichnend  ist:  ,, Unumstöß- 
licher Beweis,  daß  ohne  die  schleunige  Niedermetzelung  aller 
Juden  und  den  Verkauf  aller  Jüdinnen  zur  Sklaverei,  die  Welt,  die 
Menschheit,  das  Christenthum  und  alle  Staaten  noth wendig  unter- 
gehen müssen,  ein  Sendschreiben  an  Herrn  Justizcommissarius 
Grattenauer  von  Dominicus  Hamann  Epiphanes,  dem  Juden- 
feind" (1804).  Eine  heftige  Abfuhr  den  Judenfeinden  gab  ein 
gewisser  S.  J.  I^efrank  aus  Hamburg  in  der  Broschüre: 
„Bellerophon,  oder  der  geschlagene  Grattenauer  nebst  einer 
Dedikazion  an  den  Teufel"  (1803).  I^efrank  wandte  sich  an 
Grattenauer  in  dessen  eigener  Sprache:  „Du  selbst  verfeilschst 
elende  Lügen  und  boshafte  Tücke  auf  Löschpapier  gedruckt 
für  sechs  Groschen  und  du  kannst  behaupten :  Betrug  sey  nur 
ein  eigenthümliches  Laster  der  Juden  ?  .  .  .  Du  kannst  es  dem 
Juden  nicht  vergeben,  daß  er  richtig  deutsch  spricht,  daß  er 
sich  anständiger  kleidet,  daß  er  oft  vernünftiger  urtheilt  als  du. 
Er  hat  nicht  einmal  einen  Bart  mehr,  bei  dem  man  ihn  zupfen 
kann,  er  spricht  nicht  mehr  kauderwelsch,  daß  du  ihn  nach- 
äffen könntest ..."  Der  Verfasser  behält  aber  nicht  immer 
diesen  anklagenden  Ton,  sondern  wird  stellenweise  zu  einem 
Apologeten,  was  dem  Eindruck  sehr  schadet.  Offenbar  sieht  er 
gar  nicht  ein,  wie  unpassend  in  der  Polemik  mit  einem  Gassen- 
schreiber ein  Satz  wie  der  folgende  ist:  „Der  Jude  hat  sich  seit 

196 


zwanzig  Jahren  Mühe  gegeben,  sich  den  Christen  zu  nähern, 
aber  wie  wurde  er  aufgenommen  ?  Wie  manche  Eingriffe  hat  er 
schon  in  seine  kanonischen  Gesetze  gethan,  um  sie  euch  anzu- 
schmiegen, aber  —  den  Rücken  kehrt  ihr  ihm  zu  aus  lauter 
Humanität!"  Aus  solchen  Phrasen  klingt  der  klägliche  Ton  ver- 
schmähter Liebe  —  ein  trauriges  Echo  der  Zeit,  wo  die  jüdische 
Gesellschaft  in  Deutschland  mit  Eifer  nationale  Entpersön- 
lichung betrieb,  zum  größeren  Ruhme  des  deutschen  Staats- 
bürgertums, das  man  ihr  hartnäckig  verweigerte. 

§  31.  Der  kulturelle  Umschwung:  Siitenrevolution  und  Tauf- 
epidemie. Die  von  außen  bedrückte  deutsche  Judenheit  machte 
zugleich  eine  tiefgehende  innere  Krise  durch,  die  sowohl  das 
Geistige  wie  auch  die  ganze  Lebenshaltung  berührte  imd  an 
nationale  Auflösung  grenzte.  Von  der  Krise  waren  zunächst 
nur  die  oberen  Schichten  der  jüdischen  Gesellschaft  betroffen, 
allmählich  drang  sie  aber  auch  in  die  Tiefe  ein.  Sie  hing  aufs 
engste  hiit  der  kulturellen  Wandlung,  die  Deutschland  damals 
durchmachte,  zusammen,  denn  die  Juden  strebten  im  gleichen 
Maße,  indem  sie  vom  politischen  Leben  ferngehalten  wurden, 
nach  der  deutschen  Geisteskultur,  von  der  sie  beeinflußt  wurden 
und  die  sie  auch  ihrerseits  beeinflußten. 

Es  war  die  Zeit,  wo  die  Aufklärung  und  der  Humanismus  der 
Lessing-Mendelssohnschen  Periode  dem  klassischen  Romantis- 
mus  Goethes  und  Schillers  und  dessen  entartetem  Zweige  — 
dem  mystischen  Romantismus  Schlegels  und  Schleiermachers 
Platz  machte.  Der  vom  ,, großen  Heiden"  aus  Weimar  wieder- 
erweckte hellenische  Schönheitskultus  artete  in  zügellose  Sinn- 
Uchkeit,  in  das  „Freidenkertum  der  Leidenschaft"  aus.  In  den 
gleichen  Jahren  ging  in  Paris  eine  politische  und  in  Berlin  eine 
morahsche  Revolution  vor  sich.  Die  gebildeten  jüdischen  Kreise 
Berhns,  die  schon  zu  Mendelssohns  Zeiten  Anschluß  an  die 
christlichen  Kreise  gefunden  hatten,  waren  für  die  neuen  lite- 
rarischen Strömungen  besonders  empfänglich.  Die  Literatur  der 
Sturm-  und  Drangperiode  berauschte  sie  und  ließ  sie  die  Wirk- 
lichkeit vergessen.  Ein  heißer  Strom  von  Empfindsamkeit  und 
Romantik  ergoß  sich  in  die  stillen  und  strengen  jüdischen  Fa- 
milien. Goethes  „Werther",  der  so  viele,  besonders  weibliche 
Herzen  erschüttert  hatte,  rief  einen  wahren  Sturm  in  den  Herzen 
der  gebildeten  jüdischen  Mädchen  und  jungen  Frauen  hervor, 

197 


die  alle  Romane  verschlangen  und  die  patriarchalische  Sitten- 
strenge als  schwere  Last  empfanden.  In  den  Salons  der  jüdischen 
Damen  Berlins  (§  4),  in  den  intimen  „I^esegesellschaften"  wurde 
eifrig  über  jede  literarische  Neuerscheinung,  über  jedes  neue 
Werk  Goethes,  Schillers  imd  der  anderen  bedeutenden  Dichter 
debattiert.  Ein  Berliner  Korrespondent  Schillers  schreibt  ihm 
im  Jahre  1797:  „Der  neue  Musenalmanach  wird  hier  mit  größe- 
rer Spannung  als  je  erwartet.  In  den  gebildeten  Berliner  jüdi- 
schen Kreisen,  den  einzigen,  wo  man  von  I^iteratur  spricht, 
wird  behauptet,  daß  Sie  imd  Goethe  in  diesem  Almanach  mit 
einem  ganz  neuen  Genre  der  Dichtung  auftreten^)."  Schleier- 
macher schreibt  seiner  Schwester  aus  Berlin  im  Jahre  1798: 
„Daß  junge  Gelehrte  und  Elegants  die  hiesigen  großen  jüdischen 
Häuser  fleißig  besuchen,  ist  sehr  natürlich  .  . .  .Wer  auf  eine  recht 
ungenierte  Art  gute  Gesellschaft  sehen  wiU,  läßt  sich  in  solchen 
Häusern  einführen,  wo  natürHch  jeder  Mensch  von  Talenten 
gern  gesehen  wird  ..."  • 

Die  größte  Rolle  spielte  der  Salon  der  schönen  Jüdin  Hen- 
riette Herz  (1764 — 1847).  Henriette,  die  Tochter  des  Ham- 
burger Arztes  sephardischer  Abstammung  de  Lemos,  hatte  die 
übliche  ästhetische  Erziehung  der  jungen  Mädchen  aus  gebil- 
deten Kreisen  genossen.  Die  Kenntnis  mehrerer  europäischer 
Sprachen  und  die  Belesenheit  in  der  neueren  schönen  Literatur, 
die  sich  mit  auffallender  Schönheit  paarten,  gewährleisteten  ihr 
den  Erfolg  in  der  Gesellschaft.  Im  jugendlichen  Alter  von  kaum 
sechzehn  Jahren  heiratete  sie  einen  Mann,  der  doppelt  so  alt 
w?ir  wie  sie:  den  populären  Arzt  und  Philosophen  Markus 
Herz,  einen  Schüler  Mendelssohns  imd  Kants.  Das  gastfreund- 
liche Herzsche  Haus  war  in  Berlin  um  1785  herum  der  Mittel- 
punkt der  geistigen  Aristokratie.  Hier  trafen  sich  die  Vertreter 
der  beiden  Richtungen:  des  lyCssing-Mendelssohnschen  Humanis- 
mus (Nicolai,  Dohm,  Ramler,  Teller  u.  a.)  und  der  neumodischen 
Romantik  (Schleiermacher,  Friedrich  Schlegel,  Chamisso  u.  a.). 
Doktor  Herz  schloß  sich  der  ersteren,  seine  junge  Frau  der 
letzteren  Bewegung  an.  Der  ernste  Philosoph  und  seine  roman- 
tisch gestimmte,  kokette  Frau  hatten  fast  nichts  miteinander 


*)  Es  gelang  uns  nicht,  für  diesen  von  Dubnow  zitierten  Passus  das  deutsche 
Original  zu  finden,  und  wir  haben  die  Stelle  aus  dem  Russischen  zurücküber- 
setzt. Anm.  des  Ü. 

198 


gemein.  Dies  trieb  die  von  glühenden  Verehrern  umgebene  junge 
Frau  in  einen  intimeren  Freundeskreis.  Ein  Teil  der  gemischten 
Gesellschaft,  die  sich  in  ihrem  Salon  versammelte,  schloß  sich 
zu  einem  engen  Kreise  männlicher  und  weiblicher  Jugend,  dem 
„Tugendbund",  zusammen.  Im  Mittelpunkt  dieses  Bundes  stand 
neben  Henriette  noch  eine  andere,  in  ihrem  Eheleben  unglück- 
liche junge  Frau:  die  kluge  und  talentierte  Dorothea  Mendels- 
sohn (1763 — 1839),  ^^  Tochter  des  großen  Moses  und  die 
Gattin  des  Bankiers  Veit.  Diesem  Kreise  gehörten  in  ihren 
jimgen  Jahren  (um  1790)  auch  die  Brüder  Humboldt  an:  der 
spätere  Staatsmann  Wilhelm  imd  der  spätere  Naturforscher 
Alexander;  neben  ihnen  tauchten  aber  auch  recht  zweifelhafte 
Gestalten  auf,  wie  z.  B.  der  Schürzenjäger  Gentz,  der  spätere 
Agent  der  Mettemichschen  Reaktion.  Die  Mitglieder  des  Tugend- 
bundes duzten  einander  und  korrespondierten  in  einer  eigenen 
geheimen  Chiffre;  eine  Zeitlang  diente  als  solche  Chiffre  das 
hebräische  Alphabet,  das  Henriette  Herz  auch  dem  in  sie  ver- 
liebten Wilhelm  Humboldt  beibrachte.  Von  der  landläufigen 
Tugend  war  im  „Tugendbunde"  recht  wenig  zu  spüren,  und  der 
Paragraph  der  Statuten,  der  zwischen  den  Geschlechtem  nur 
platonische  I^iebe  gestattete,  wurde  wohl  kaum  beobachtet. 
Es  war  eine  Schule  des  „praktischen"  und  ein  Spiegelbüd  des 
literarischen  Romantismus.  Es  war  wohl  kaum  bloßer  Zufall, 
daß  die  beiden  Apostel  der  entarteten  Romantik,  die  beiden 
Friedrichs :  Schleiermacher  und  Schlegel  in  den  Mittelpunkt  des 
intimen  Berliner  Kreises  gerieten  und  eine  so  tragische  Rolle  im 
I/cben  seiner  beider  Heldinnen  —  der  Henriette  Herz  und  der 
Dorothea  Mendelssohn- Veit  —  spielten. 

Von  allen  Romanen  Henriettes  war  am  dauerhaftesten  und 
eigenartigsten  ihr  Verhältnis  zu  Schleiermacher,  der  seit  dem 
Jahre  1796  das  Predigeramt  an  der  Charitekirche  zu  Berlin 
bekleidete.  Der  häufige  Gast  im  Herzschen  Hause  eroberte  das 
Herz  Henriettes  durch  seine  I^ehre,  in  der  die  christliche  Ro- 
mantik mit  der  höchst  modernen  Predigt  der  „freien  Liebe" 
verwoben  war.  In  Berlin  sprach  man  viel  vom  intimen  Verkehr 
des  jungen  Predigers  mit  der  schönen  Jüdin;  eine  verbreitete 
Karikatur  stellte  den  kleingewachsenen  und  schmächtigen 
Schleiermacher  neben  der  großen  und  üppigen  Henriette  dar, 
aus  deren  Tasche  er  hervorzugucken  schien.  Beide  Teile  be- 

199 


haupteten  jedoch,  daß  ihre  Beziehungen  rein  freundschaftlicher 
Natur  seien.  Sie  wurden  erst  im  Jahre  1804  unterbrochen,  als 
Markus  Herz  starb,  als  sein  Salon  zu  existieren  aufhörte  und 
die  kinderlose  Witwe  von  den  schmalen  Zinsen  der  Erbsehaft 
leben  mußte.  Henriette  Herz  verkehrte  auch  weiter  in  den 
deutschen  aristokratischen  Kreisen  Berhns,  bheb  aber  formell 
noch  Jüdin.  Als  man  ihr  den  Posten  einer  Erzieherin  bei  der 
preußischen  Prinzessin  Charlotte  (der  späteren  russischen  Kai- 
serin, der  Gemahlin  Nikolaus  I.)  anbot,  mit  der  Bedingung,  daß 
sie  sich  taufen  lasse,  lehnte  sie  das  Angebot  ab:  sie  wolle  durch 
das  Renegatentum  ihre  alte  Mutter  nicht  betrüben.  Sobald  aber 
die  Mutter  tot  war,  Heß  sich  Henriette  nach  lutherischem  Ritus 
taufen  (1817)  und  blieb  dieser  Religion  bis  zu  ihrem  Tode  treu. 
Die  schwachen  Fäden,  die  diese  Frau  mit  dem  Judentum  ver- 
knüpften, waren  schon  längst  gerissen;  die  Ideale  des  Judaismus 
und  die  Interessen  des  jüdischen  Volkes,  das  ihr,  ebenso  wie 
ihrem  Freund  Schleiermacher  als  ein  „I^eichnam",  eine  „Mumie" 
erschien,  waren  ihr  fremd.  Sie  war  ganz  —  soweit  es  ihr  der 
oberflächliche  Geist  einer  Salondame  gestattete  —  von  den 
deutsch^-christlichen  Idealen  Schleiermachers  durchdrungen  und 
teilte  dessen  Ansicht,  daß  ein  Jude  kein  Bürger  Deutschlands 
werden  könne,  solange  er  nicht  Christ  geworden  sei.  So  kam 
der  nationale  Abfall  in  der  Familie  des  bedeutenden  Pioniers 
der  jüdischen  Aufklärung,  des  Mitkämpfers  Mendelssohns,  auf. 
Der  Zauber  der  Romantik  imd  das  Gift  der  Assimilation 
wirkten  verheerend  auch  in  der  Familie  Mendelssohns  selbst. 
Besonders  tragisch  gestaltete  sich  das  lieben  seiner  älteren 
Tochter,  der  hochbegabten  Dorothea.  Die  zweiunddreißigj  äh- 
rige Mutter  zweier  Söhne,  die  sich  in  der  Ehe  mit  dem  Berliner 
Bankier  Simon  Veit  unglückhch  fühlte,  warf  sich  dem  stürmischen 
Romantiker  Friedrich  Schlegel  in  die  Arme,  den  sie  im  Hause 
ihrer  Freundin  Henriette  Herz  kennengelernt  hatte.  Schlegel 
war  damals  trotz  seines  jugendlichen  Alters  (er  war  nur  fünf- 
undzwanzig Jahre  alt  und  jünger  als  Dorothea)  in  den  lite- 
rarischen Kreisen  als  Entdecker  neuer  Pfade  in  der  Poesie  und 
als  enfant  terrible  —  hatte  er  doch  in  einer  Elritik  Schiller 
angegriffen  —  berühmt.  Zwischen  dem  deutschen  Ritter  der 
Romantik  und  der  Tochter  des  jüdischen  Philosophen  entstand 
ein  intimes  Verhältnis,  das  die  Verliebten  gar  nicht  verheim- 

300 


lichten.  Dorothea  verließ  das  Haus  ihres  Gatten  und  zog  zu 
Schlegel.  Durch  Vermittlung  der  Henriette  Herz  erwirkte  sie 
von  ihrem  Manne  die  Scheidung;  und  Simon  Veit  war  so  groß- 
mütig, daß  er  ihr  sogar  die  Kinder  überließ  und  allen  eine 
Rente  aussetzte.  Bald  darauf  wurde  die  ganze  literarische  Welt 
durch  das  Erscheinen  des  Schlegelschen  Romans  „I^ucinde" 
(1799)  skandalisiert,  eines  Evangeliums  der  Erotik  und  der 
zügellosen  Sinnlichkeit,  in  dem  der  Autor  die  intimsten  Einzel- 
heiten seines  Ehelebens  enthüllte.  Diese  Predigt  raffiniertester 
Genußsucht,  Müßigkeit  und  „unzüchtigen  Nichtigkeit",  die 
überdies  künstlerisch  schlecht  war,  fand  bei  der  Kritik  scharfe 
Verurteilung.  Für  den  Autor  traten  nur  wenige  ein,  darunter 
sein  Freund  Schleiermacher,  der  zur  Verteidigung  des  schlechten 
Romans  die  anonymen  „Vertraulichen  Briefe  über  I^ucinde" 
veröffentlichte.  Im  Jahre  1801  schrieb  auch  Dorothea  einen 
Roman  —  „Florentin"  — ,  der  in  der  Stimmung  der  „Lucinde" 
verwandt  war,  aber  das  sittliche  Gefühl  und  den  guten  Ge- 
schmack viel  weniger  beleidigte.  Das  Schlegelsche  Ehepaar 
führte  ein  unstetes  Leben:  es  tauchte  bald  in  Berlin,  bald  in 
Jena,  Dresden,  Leipzig,  Köln  und  Pans  auf,  wurde  oft  von  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  abgestoßen,  imd  mußte  in  bitterer  Not 
leben.  Dorothea  nahm  im  Jahre  1804  den  lutherischen  Glauben 
an  und  ließ  sich  formell  mit  Friedrich  trauen.  Nach  einigen 
Jahren  traten  die  beiden  Ehegatten  unter  dem  Einflüsse  der 
romantischen  „Rückkehr  ins  Mittelalter"  zum  Katholizismus 
über  und  ließen  sich  für  dauernd  in  Wien  nieder  (1808),  wo 
Schlegel  einen  Posten  an  der  österreichischen  Hofkanzlei  bekam. 
In  Wien  verbrachte  Dorothea  fast  den  ganzen  Rest  ihres  Lebens 
und  machte  nur  ab  und  zu  Reisen  nach  Deutschland  und 
Italien,  um  ihre  Söhne,  die  beiden  Maler  Veit,  die  ebenfalls 
getauft  waren,  zu  besuchen.  Sie  starb  1839  in  Frankfurt,  nach- 
dem sie  den  Mann  um  zehn  Jahre  überlebt  hatte.  Auch  ihre 
jüngere  Schwester,  Henriette  Mendelssohn,  die  unver- 
heiratet geblieben  war  und  den  Beruf  einer  Lehrerin  ausübte, 
trat  zum  Katholizismus  über.  Der  ältere  Sohn  Moses  Mendels- 
sohns, der  Bankier  Joseph,  war  bis  zu  seinem  Tode  (1848)  Jude 
geblieben,  aber  der  zweite  Sohn,  Abraham,  und  sämtliche 
Enkel  Mendelssohns  fielen  vom  Judentum  ab.  (Der  berühmte 
Komponist  Felix  Mendelssohn-Bartholdy  war  der  Sohn  Abra- 

201 


hams,  der  mit  seiner  ganzen  Familie  zum  Christentum  über- 
getreten war.) 

Auf  eine  so  fatale  Weise  ging  für  das  Judenttun  das  Geschlecht 
des  Urhebers  der  „Aufklärung"  verloren.  Die  erste  Berühnmg 
der  gebildeten  jüdischen  Gesellschaft  mit  der  christlichen  war 
für  die  erstere  unheilvoll.  Dieser  Triumphzug  des  Renegaten- 
tums wurde  von  den  Frauen  eröffnet,  die  schon  infolge  ihrer 
Erziehung  weniger  mit  der  Kultur  und  den  Traditionen  ihres 
Volkes  zusammenhingen  und  der  Anziehungskraft  der  Romantik 
nicht  widerstehen  konnten.  Neben  Henriette  Herz  und  Dorothea 
Mendelssohn  ist  noch  der  Name  einer  dritten  hochbegabten 
Frau  zu  nennen,  die  durch  die  deutsche  Kultur  der  jüdischen 
geraubt  worden  war.  Rahel  Lewin  (1771 — 1833),  die  Tochter 
eines  Berliner  Juweliers,  hatte  sich  die  Ideologie  der  Sturm- 
und Drangperiode  viel  tiefer  und  bewußter  angeeignet  als  ihre 
beiden  obengenannten  Freundinnen.  Sie  stand  ganz  im  Banne 
der  individualistischen  I/cbensanschauung  Goethes,  den  sie  per- 
sönlich karmte  und  dessen  Werke  sie  wie  nnr  wenige  in  Deutsch- 
land verstand.  Nicht  durch  ihr  Äußeres,  das  bescheiden  imd  un- 
ansehnlich war,  sondern  durch  ihren  scharfen  imd  tiefen,  beinahe 
mäimlichen  Geist  zog  sie  die  Vertreter  der  denkenden  deutschen 
Gesellschaft  an.  Ihr  „Dachstubensalon"  im  Mezzanin  des 
Hauses  ihres  Vaters  zu  Berlin  wurde  von  den  meisten  deutschen 
Dichtem  und  Politikern  wie  auch  von  zugereisten  Berühmt- 
heiten (z.  B.  der  Frau  von  StaSl)  besucht.  Rahel  selbst  schrieb 
nur  wenig,  besaß  aber  die  Fähigkeit,  andere  zur  schöpferischen 
Tätigkeit  anzuregen  und  in  dem  Kreise,  wo  sie  die  Geister  be- 
herrschte, bedeutende  Männer  zu  erziehen.  Nach  einer  Reihe 
von  I^iebeleien  heiratete  Rahel,  schon  im  reiferen  Alter,  ihren 
Freund,  den  preußischen  Diplomaten  und  Schriftsteller  Varn- 
hagen  von  Ense  und  trat  zum  Christentum  über.  Nichts 
verband  ^e  bewußt  mit  dem  von  ihr  verlassenen  Volke,  obwohl 
diese  I^sgerissenheit  sie  zuweilen  auf  traurige  Gedanken  brachte. 
„Ich  habe  solche  Phantasie,  als  wenn  ein  außerirdisch  Wesen, 
wie  ich  in  diese  Welt  getrieben  wurde,  mir  beim  Eingang  diese 
Worte  mit  einem  Dolch  ins  Herz  gestoßen  hätte:  ,Ja,  habe 
Empfindung,  sieh  die  Welt,  wie  sie  wenige  sehen,  sei  groß  und 
edel,  ein  ewiges  Denken  kann  ich  dir  auch  nicht  nehmen.  Eins 
hat  man  aber  vergessen;  sei  eine  Jüdin!*  und  nun  ist  mein  ganzes 

202 


lieben  eine  Verblutung."  Dieses  schmerzvolle  Gefühl  der  I/ds- 
gerissenheit  und  des  seelischen  Zwiespaltes  äußerte  sich  aber  im 
Leben  Raheis  fast  gar  nicht :  bis  zu  ihrem  Lebensende  teilte  sie 
die  Freuden  und  Leiden  des  deutschen  Volkes,  seine  patrio- 
tischen Wallungen  während  der  Napoleonischen  Kriege  und 
über  alles  die  Interessen  der  deutschen  Literatur,  deren  zahl- 
reiche Vertreter  zu  den  Besuchern  des  Vamhagenschen  Salons 
gehörten.  Erst  in  ihrer  Sterbestunde  erinnerte  sich  Rahel  ihres 
Volkes  und  sprach  die  ekstatischen  Worte:  „Mit  erhabenem 
Entzücken  denke  ich  an  meinen  Ursprurg  und  an  den  Zu- 
sammenhang der  Geschichte,  durch  welches  die  ältesten  Er- 
innerungen des  Menschengeschlechtes  mit  der  neuesten  Lage  der 
Dinge  durch  Zeit  und  Raum'esfeme  verbunden  sind.  Ich,  eine 
Flüchtige  aus  Ägypten,  bin  hier  und  finde  Hilfe.  Was  zeit 
meines  Lebens  meine  größte  Schmach  war,  möchte  ich  jetzt  um 
keinen  Preis  missen." 

Zeugen  diese  Worte  von  einer  späten  Reue  einer  sehend- 
gewordenen  Seele  ?  Kaum.  Die  treue  Schülerin  der  literarischen 
Propheten  Deutschlands  war  dem  Geiste  der  alten  Propheten 
ihres  eigenen  Volkes  völlig  entfremdet.  Das  gesellschaftliche 
Milieu,  aus  dem  Rahel  imd  die  „neuen  Menschen"  ihrer  Art  ihre 
Ideale  schöpften,  war  von  einer  Antipathie  gegen  das  Judentum 
und  seine  höchsten  geistigen  Schätze  durchdrungen.  Der  Auf- 
erwecker des  hellenischen  Asthetizismus,  Goethe,  war  im  tief- 
sten Wesen  seiner  Weltanschauung  dem  ethischen  Judaismus 
feindlich  gesinnt,  imd  nicht  umsonst  schließt  er  aus  der  Ge- 
meinschaft der  „schönen  Seelen"  (im  „Wilhelm  Meister")  die 
Juden  aus,  die  „den  Ursprung  der  höchsten  Kultur  verleugnen". 
Der  politisch-konservative  Goethe  war  überzeugter  Gegner  der 
bürgerlichen  Emanzipation  der  Juden.  Er  betrachtete  die  Juden- 
frage vom  Standpunkte  seiner  Standesgenossen,  der  Frankfurter 
Patrizier,  aus,  die  einen  ruhmlosen  Kampf  gegen  die  Emanzi- 
pation führten  (siehe  weiter  §  33).  Die  andere  Säule  der  damaligen 
Literatur,  der  nationalistische  Philosoph  Fichte,  predigte  (in 
seinem  Buche  von  der  französischen  Revolution,  1793)  grim- 
migen Judenhaß.  Im  Judentum  sah  er  einen  „durch  alle  Län- 
der verbreiteten,  feindselig  gesinnten  Staat,  der  mit  allen  üb- 
rigen im  beständigen  Kriege  steht".  Es  sei  gefährlich,  die  Bürger- 
rechte solchen  Menschen  zu  geben,  die  „von  uns  verschiedene 

203 


Sittengesetze  haben".  „Um  uns  vor  ihnen  zu  schützen,  dazu 
sehe  ich  wieder  kein  anderes  Mittel,  als  ihnen  ihr  gelobtes  I^and 
zu  erobern  und  sie  alle  dahinzuschicken."  Ebenso  dachte  von 
den  Juden  auch  Schleiermacher,  der  intime  Freund  und  Seelen- 
retter schöner  jüdischer  Damen.  Die  neue  jüdische  Intelligenz, 
die  von  den  Idealen  aller  dieser  Beherrscher  der  Gedanken 
lebte,  eignete  sich  auch  Verachtung  gegen  ihr  eigenes  Volk  an 
und  hielt  zuweilen,  gleich  Rahel,  die  Zugehörigkeit  zu  diesem 
Volke  für  die  größte  Schmach. 

So  begann  die  Epidemie  der  Taufen.  Die  Seuche  drang 
allmählich  auch  in  die  mittleren  und  tieferen  Schichten  der 
jüdischen  Gesellschaft  ein.  Man  ließ  sich  taufen,  um  „der  deut- 
schen Kultur  teühaftig  zu  werden",  um  einen  Christen  oder  eine 
Christin  zu  heiraten,  Karriere  zu  machen  und  der  Rechtlosigkeit 
oder  der  lästigen  Bevormundung  zu  entgehen.  Junge  Männer 
und  Frauen  aus  den  mittleren  und  niederen  Schichten  der  jü- 
dischen Gesellschaft  kamen  massenweise  aus  der  Provinz  nach 
Berlin  und  gaben  sich  hier  Zerstreuungen  und  zügellosem 
Lebensgenuß  hin.  Als  die  Vorsteher  der  jüdischen  Gemeinden 
von  ihrem  Rechte  Gebrauch  machten  und  der  ausgelassenen 
Jugend  Strafen  zudiktierten,  drohten  die  „Freidenker",  sich 
tatifen  zu  lassen,  was  sie  oft  auch  wirklich  taten,  um  die  Be- 
vormundung durch  die  Gemeinde  abzuschütteln.  Nun  erwirkten 
die  Berliner  Gemeindeältesten  von  der  Behörde  einen  Erlaß, 
der  den  Kindern  und  Dienstboten  verbot,  sich  ohne  Geneh- 
migung der  Eltern  imd  der  Dienstherrschaften  taufen  zu  lassen 
und  vorschrieb,  die  zugereisten  Täuflinge  aus  Berlin  auszu- 
weisen. Die  meisten  Taufen  gab  es  in  Berlin,  aber  diese  „Mode" 
kam  dann  auch  in  den  anderen  Städten,  wie  Königsberg  tmd 
Breslau,  auf.  Die  Preußische  Regierung  wurde  endlich  auf  die 
übermäßige  Bereicherung  der  Kirche  durch  zweifelhafte  Neo- 
phjrten  aufmerksam  und  beschloß,  eine  Kontrolle  einzuführen. 
Im  Jahre  1810  wurde  eg  den  Pastoren  durch  einen  königlichen 
Erlaß  untersagt,  Juden  ohne  eine  schriftliche  Bestätigung  der 
Ortspolizeibehörde  über  die  Ernsthaftigkeit  ihrer  Absichten  zu 
taufen. 

Mit  tiefer  Trauer  sahen  dieser  Epidemie  diejenigen  zu,  die 
gleich  Mendelssohn  nach  Assimüation  strebten  und  die  Schwelle 
der  Kirche  beinahe  erreicht  hatten,  sie  aber  nicht  zu  übertreten 

204 


wagten.  Ein  Schüler  Mendelssohns,  der  Direktor  der  jüdischen 
„Freischule"  zu  Berlin,  I^azarus  Bendavid  (1762 — 1832), 
suchte  diese  Massenflucht  aus  dem  jüdischen  Lager  damit  zu 
erklären,  daß  die  Formen  des  Judentums  veraltet  seien  und 
nach  Ern-euerung  verlangten.  Man  dürfe  die  Proselyten  nicht 
dafür  tadeln,  daß  sie  die  laute  und  lustige  Kirche  der  verlassenen 
und  langweiligen  Synagoge  vorziehen.  Dieser  Vorläufer  der  Re- 
formisten beurteilte  überhaupt  die  jüdische  Gesellschaft  seiner 
Zeit  sehr  pessimistisch.  In  seinem  Büchlein:  „Etwas  zur  Cha- 
rakteristik der  Juden"  (1793)  teilt  er  das  jüdische  Volk  in  vier 
Klassen  ein:  r.  Die  Rechtgläubigen,  die  in  den  religiösen 
Riten  versteinert  sind,  sich  aber  oft  durch  hohe  Moral  aus- 
zeichnen; diese  sind  eine  aussterbende  Klasse,  die  sich  dem 
Geiste  der  Zeit  nicht  anpassen  kann;  2.  die  Wüstlinge,  ge- 
wöhnlich Kinder  reicher  Eltern,  die  nur  an  die  Befriedigung 
ihrer  Gelüste  denken,  die  elementarsten  Moralgesetze  verletzen, 
oft  zum  Christentum  übertreten,  aber  von  den  Christen  ver- 
achtet werden;  3.  die  Halbgebildeten,  die  die  Unzulänglich- 
keit der  alten  Ordnung  ahnen  imd  daher  von  den  Rechtgläubigen 
verketzert  werden;  4.  die  Gebildeten,  die  „gleich  weit  vom 
Judentum  und  vom  Indifferentismus  entfernt  sind".  Diese 
letztere  Gruppe  sei  berufen,  das  Judentum  durch  die  Wieder- 
herstellung der  „reinen  Religion"  Mosis  und  durch  die  Be- 
seitigung aller  historischen  Auswüchse  zu  reformieren  .  .  .  Ben- 
david, der  sonst  solider  Philosoph  der  Kantischen  Schule  war 
(er  veröffentlichte  mehrere  Beiträge  zur  Erkenntnistheorie),  war 
ein  schlechter  Historiker:  für  ihn  war  die  ganze  jüdische  Ge- 
schichte der  letzten  siebzehn  Jahrhunderte  von  einem  undurch- 
dringlichen Dunkel  umhüllt;  darum  erschien  ihm  die  ganze 
Entwicklung  des  Judaismus  nur  als  ein  sinnloser  Prozeß  einer 
Anhäufung  von  Gebräuchen  und  Aberglauben.  Die  Idee  der 
Entwicklung  einer  lebendigen  Nation  im  Wechsel  der  sozialen 
und  geistigen  Formen  war  ihm  ebenso  fremd  wie  allen  beschränk- 
ten Rationalisten. 

Halbbildung,  Oberflächlichkeit,  geistiger  Libertinismus  waren 
die  charakteristischen  Züge  jener  mittleren  Gesellschaf tsschich- 
ten,  in  denen  die  bhnde  Zerstörung  aller  historischer  Grundlagen 
als  eine  Heldentat  und  als  Zeichen  guten  Tones  angesehen  wurde. 
Die  „Berliner  Mode"  herrschte  wie  in  den  Ideen  so  auch  in  der 

205 


Kleidung.  Putzsucht  und  Freidenkertum  gingen  Hand  in  Hand. 
Die  Nachfolger  Mendelssohns  waren  viel  zu  unbedeutend,  um 
gegen  die  fortschreitende  Auflösung  anzukämpfen .  Ihre  Kraft 
reichte  eben  nur  dazu  aus,  um  in  Berlin  und  in  Klönigsberg 
einen  Jugendbund  unter  dem  Namen  „Gesellschaft  der  Freunde" 
zu  gründen,  die  den  Zusammenschluß  der  gemäßigten  Elemente 
der  jüdischen  Gesellschaft  im  Namen  des  Ideals  der  „Auf- 
klänmg"  bezweckte  (1792).  An  der  Spitze  dieser  Organisation 
standen  der  älterfe  Sohn  Mendelssohns,  Joseph,  und  Mendels- 
sohns Schüler  und  Biograph,  Isaak  Euchel.  Die  „Gesellschaft" 
hatte  sich  zur  Devise  die  Mendelssohnschen  Worte  gemacht: 
„Nach  Wahrheit  forschen,  Schönheit  lieben,  Gutes  wollen,  das 
Beste  tun."  Sie  verhielt  sich  gleich  ablehnend  gegen  die  Ortho- 
doxie wie  gegen  das  Renegatentum,  hatte  aber  selbst  keine 
bestimmte  Richtung.  Die  einzige  von  ihr  durchgesetzte  Reform 
bestand  in  der  Abschaffung  der  Sitte,  die  Verstorbenen  mög- 
lichst früh  zu  beerdigen.  Die  Tätigkeit  der  Gesellschaft  be- 
schränkte sich  fast  aussdiließlich  auf  gegenseitige  materielle 
Hilfe.  Diese  rein  klubmäßige  Organisation,  die  einige  Jahrzehnte 
bestand,  trug  gar  nichts  zum  geistigen  Leben  bei.  Viel  zu  groß 
war  die  seelische  Verwüstung  in  dieser  Übergangsgeneration, 
als  daß  sie  etwas  Positives  hätte  schaffen  können;  viel  zu  spär- 
lich waren  die  schöpferischen  Kräfte  im  Zeitalter  allgemeiner 
Zerstörung.  Erst  später,  nachdem  die  akute  Krise  überstanden 
war,  nahm  der  jüdische  Geist  seine  unterbrochene  schöpferische 
Arbeit  wieder  auf. 

§  32.  Die  Reformen  in  Preußen  und  das  Gleichberechtigungs- 
edikt von  1812.  Der  Zerfall  der  preußischen  Judenheit  war 
eine  Frucht  des  Mißverhältnisses  zwischen  ihrem  staats- 
bürgerlichen und  kulturellen  Niveau,  zwischen  der  alten 
Rechtlosigkeit  und  dem  plötzlichen  Übergange  von  der  alten 
Kultur  zur  neuen.  Nun  kam  aber  der  Augenblick,  wo  auch 
Preußen  ein  Zerfall  drohte  —  eine  Frucht  des  Widerspruchs 
zwischen  seiner  geistigen  Fortschrittlichkeit  und  seiner  poli- 
tischen Rückständigkeit.  Das  Land  des  Absolutismus,  wo  es 
nur  der  Beamtenschaft,  aber  nicht  dem  Volke  erlaubt  war, 
„Politik  zu  machen",  erfuhr  eine  vernichtende  Niederlage  durch 
Napoleon  (1806 — 1807).  Nach  dem  Tilsiter  Frieden  verlor 
Preußen  die  Hälfte  seines  Territoriums  (fast  alle  polnischen 

206 


Provinzen,  die  nun  das  Herzogtum  Warschau  bildeten,  und  die 
Gebiete  zwischen  der  Elbe  und  dem  Rhein)  und  geriet  in  eine 
beschämende  Abhängigkeit  von  Napoleon.  Der  erniedrigte 
König  Friedrich  Wilhelm  III.  mußte  sich  nun  mit  seinem  eige- 
nen Volke  aussöhnen  und  innere  Reformen  durchführen.  Es 
begann  die  Reformtätigkeit  der  liberalen  Regierung  von  Stein 
und  Hardenberg  (1807 — 1812).  Die  Leibeigenschaft  wurde  ab- 
geschafft, die  städtische  Selbstverwaltung  erweitert  imd  die  alte 
Stände-  und  Zünfteordnung  eingeschränkt.  Nun  erinnerte  man 
sich  auch  der  bedrücktesten  Bevölkerungsgruppe  von  Preußen 
—  der  Juden.  Als  im  Jahre  1808  die  Reform  der  städtischen 
Selbstverwaltung  durchgeführt  wurde,  verlieh  man  den  Juden 
das  Recht  der  Beteüigung  an  den  Stadtvertretungen,  und  so 
wurden  die  kaum  geduldeten  „Schutzjuden"  zu  städtischen 
Bürgern.  Man  gab  ümen  auch  Zutritt  in  die  Magistrate  und 
Kaufmannsgilden;  David  Friedländer  wurde  zum  Mitglied  des 
Berliner  Stadtrats  erwählt  und  trug  den  Stadtrattitel  mit  kind- 
lichem Stolz. 

Die  durch  die  neuen  Strömungen  ermutigten  führenden  Per- 
sönlichkeiten der  Berliner  jüdischen  Gemeinde,  mit  Friedländer 
an  der  Spitze,  nahmen  nun  wieder  ihre  Bemühungen  um  die 
Erringung  der  Gleichberechtigtmg  auf.  Die  Regierungskanzleien 
begtmnen  wieder  an  allerlei  „Reformprojekten"  zu  arbeiten. 
Ein  liberales  Projekt  wurde  im  Jahre  1808  vom  Königsberger 
Juristen  Brand,  einem  der  bedeutendsten  Mitarbeiter  an  der 
Reform  der  städtischen  Selbstverwaltung,  eingereicht.  Brand 
forderte  für  die  Juden  volle  Gleichberechtigung,  weü  man  auf 
diese  Weise  ihre  nationale  Abgeschlossenheit  vernichten  könne. 
Bisher,  erklärte  er,  „wurde  die  politische  und  gewerbliche 
Rechtsfähigkeit  der  Juden  unrichtig  aus  dem  Gesichtspunkte 
der  Religion  betrachtet.  Das  sei  auch  den  Juden  willkommen 
gewesen,  indem  sie  die  Toleranz  der  Phüosophie  auch  für  sich 
in  Anspruch  genommen  hätten.  Es  sei  aber  nicht  die  Religion, 
sondern  die  Nationalität  und  das  Bestreben  der  Juden,  sich 
darin  zu  erhalten  was  ihnen  den  Widerwillen  der  übrigen  Be- 
wohner zuziehe."  Franzosen  und  Deutsche  hätten  wohl  Ehen 
miteinander  geschlossen,  Juden  und  Deutsche  aber  nicht.  Sie 
seien  ,,ein  Volk  im  Volke"  geblieben  und  werden  es  bleiben, 
solange  Mischehen  ohne  die  obligatorische  Taufe  des  Juden 

207 


verboten  bleiben;  diese  aber  könne  man  gestatten,  sobald  die 
Juden  in  die  bürgerliche  Gesellschaft  aufgenommen  werden. 
Das  Brandsche  Projekt  der  Ausrottung  der  jüdischen  Nationali- 
tät mittels  Verleihung  der  Gleichberechtigung  wurde  vom  kon- 
servativen Minister  Schrötter  imterstützt,  deü  Brand  selbst 
einen  „Haman  der  Juden"  nannte.  Der  Minister,  der  eifrig  über 
die  Beobachtung  aller  Paragraphen  des  erniedrigenden  Juden- 
reglements wachte,  wurde  zu  einem  Verteidiger  der  Gleich- 
berechtigung, sobald  er  in  ihr  ein  Mittel  zur  Abschaffung  des 
Judentums  witterte*).  In  seinem  Bericht  an  den  christlichen 
König  entwickelt  er  den  Gedanken,  daß  die  neue  Judenverfas- 
sung notwendig  sei,  um  ,,ihre  Nationalität  zu  untergraben"; 
man  müsse  ihnen  die  Bürgerrechte  gewähren  unter  der  Be- 
dingung, daß  sie  auch  alle  Bürgerpflichten  tragen;  die  Frage, 
ob  die  Juden  augenblicklich  würdig  seien,  auch  zum  Militär- 
dienst zugelassen  zu  werden,  wird  von  Schrötter  bejaht;  er 
meint,  daß  die  Juden  in  der  Armee,  die  das  Vaterland  zu 
schützen  habe,  wohl  nützlich  sein  könnten.  Der  König  aber 
schwankte  noch,  besonders  in  der  Beantwortung  der  letzten 
Frage. 

Das  Schwanken  machte  nach  dem  Rücktritt  Schrötters  unter 
dem  liberalen  Kanzler  Hardenberg  entschiedenerem  Vorgehen 
Platz.  Hardenberg,  der  in  der  gebildeten  jüdischen  Gesellschaft 
zahlreiche  Verbindungen  natte,  befürwortete  die  neue  Eingabe 
Friedländers  und  der  Ältesten  der  Berliner  Gemeinde  wegen 
der  Verleihung  von  Gleichberechtigung  an  die  Juden  unter  der 
Bedingung,  daß  sie  auch  alle  Bürgerpflichten  bis  zum  Militär- 
dienst einschließlich  tragen  (1810).  Zwei  Jahre  dauerten  die 
Vorarbeiten  zu  den^  Emanzipationsakt;  an  ihnen  war  auch  der 
Kultusminister  Wilhelm  von  Humboldt,  der  ehemalige  Held  der 


1)  Charakteristisch  ist  das  in  den  Erinnerungen  Brands  wiedergegebene  Ge- 
spräch über  die  Judenfrage  mit  Schrötter.  Als  Brand  ihm  erklärte,  daß  er  die 
Möglichkeit  habe,  dem  Judentum  {als  Nation)  und  nicht  den  Juden  einen  töd- 
lichen Streich  zu  versetzen,  beauftragte  ihn  der  Minister  mit  der  Abfassung 
eines  Entwurfs  für  den  König.  Der  Liberale  und  der  Konservative  begegneten 
sich  also  in  der  Ansicht,  daß  man  die  jüdische  Nation  auf  dem  Wege  der  Gleich- 
berechtigung vernichten  müsse.  Vgl.  Zitate  aus  den  Akten  bei  Geiger:  „Ge- 
schichte der  Juden  in  Berlin"  II,  i8a  und  bei  Jolowicz:  „Geschichte  der  Juden 
in  Königsberg",  118 — 120;  der  für  die  Assimilation  eintretende  Jolowicz  pro- 
testiert gegen  die  „Verleumdung",  daß  die  Juden  eine  besondere  Nation 
bilden. 

208 


jüdischen  Salons  beteiligt*).  Endlich,  am  ii.  März  1812,  unter- 
zeichnete der  König  das  „Bdikt  betreffs  die  bürgerlichen  Ver- 
hältnisse der  Juden". 

Der  erste  Paragraph  des  Edikts  erklärt  alle  Juden,  die  in 
Preußen  bisher  auf  Grund  besonderer  Privilegien  und  Kon- 
zessionen lebten,  zu  „Einländern  und  preußischen  Staats- 
bürgern". Alle  Beschränkungen  im  Wohnrecht  und  Beruf,  alle 
speziellen  Abgaben  und  Ausnahmegesetze  werden  abgeschafft. 
Die  Juden  werden  zum  Munizipaldienst  und  zu  akademischen 
Ämtern  zugelassen;  die  Zulassung  der  Juden  zu  Staatsämtern 
behält  sich  der  König  indes  noch  vor.  Die  Juden  sollten  aber 
die  gleichen  Pflichten  wie  die  anderen  Bürger  übernehmen  und 
auch  zum  Müitärdienst  herangezogen  werden;  in  allen  Geschäfts- 
akten müssen  sie  sich  der  deutschen  oder  einer  anderen  lebenden 
Sprache  bedienen;  die  hebräische  und  die  jüdisch-deutsche 
Sprache  werden  aber  als  unzulässig  erklärt.  Der  letzte  Paragraph 
des  Edikts  schiebt  die  Regulierung  der  jüdischen  „Kirchen- 
angelegenheiten" und  der  Schulerziehung  bis  zu  einer  eigenen 
Beratung  hinaus,  „zu  der  auch  Juden,  die  wegen  ihrer  Kennt- 
nisse und  Rechtschaffenheit  das  öffentliche  Vertrauen  genießen, 
zugezog.en  werden  sollen." 

So  emanzipierte  Preußen  zwanzig  Jahre  nach  der  jüdischen 
Emanzipation  in  Frankreich  seine  Juden,  wenn  auch  mit  Vor- 
behalten. Die  Schmach  der  Rechtlosigkeit  war  von  der  jüdischen 
Bevölkerung  genommen.  Groß  war  die  Freude  der  Befreiten, 
besonders  in  den  höheren  Gesellschaftsklassen,  die  die  Schmach 
der  bürgerlichen  Rechtlosigkeit  besonders  schmerzvoll  empfan- 
den. In  diesen  Kreisen  verband  sich  das  Gefühl  der  Dankbarkeit 
für  die  gewährte  Freiheit  mit  einem  unfreien  Bedürfnisse,  alle 


^)  Dieser  große  Ideologe  des  I/iberalismus  teilte  die  allgemeine  Ansicht  von 
der  Notwendigkeit,  die  nationale  Einheit  der  Juden  zu  zerstören.  Humboldt 
sprach  sich  gegen  die  Paragraphen  des  Entwurfs  aus,  die  von  der  Organisation 
der  jüdischen  Gemeinden  und  der  Einsetzung  eines  Oberrabbiners  für  ganz 
Preußen  handelten,  mit  der  Begründung,  daß  dies  zur  Stärkung  der  inneren 
Struktur  und  Einheit  führen  würde,  während  die  Regierung  nach  einer  Zer- 
sphtterung  der  Judenheit  und  ihrer  Verschmelzung  mit  dem  ganzen  Volke 
streben  müsse;  er  empfiehlt  sogar,  die  religiösen  ,, Schismen"  im  Judentume 
zu  begünstigen,  was  eine  Schwächung  des  Zusammenhangs  zwischen  den  jüdi- 
schen Kirchen  (Synagogen)  und  den  Gemeinden  herbeiführen  müsse.  Vgl.  A. 
Stein:  „Abhandlungen  und  Aktenstücke  zur  Geschichte  der  preußischen 
Reformzeit",  S.  237  und  folgende. 

14    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  209 


solche  Eigentümlichkeiten  des  jüdischen  Lebens,  die  sie  in  den 
Verdacht  nationaler  Absonderung  bringen  könnten,  abzustrei- 
fen. Der  alte  Anwalt  der  Juden,  David  Friedländer,  war  vom 
Siege  so  berauscht,  daß  er  der  Regierung  seine  Dienste  zur 
Reformierung  des  jüdischen  religiösen  Lebens  anbot,  wie  er  sie 
schon  einmal  den  Vertretern  der  Kirche  angeboten  hatte.  Bald 
nach  der  Veröffentlichung  des  Edikts  vom  ii.  März  1812  ließ 
er  eine  anonyme  Broschüre  erscheinen  unter  dem  Titel:  ,,Über 
die  durch  die  neue  Organisation  der  Judenschaften  in  den 
Preußischen  Staaten  noth wendig  gewordene  Umbüdung  i.  ihres 
Gottesdienstes  in  den  Synagogen,  2.  ihrer  Unterrichtsanstalten 
und  deren  Lehrgegenstände  und  3.  ihres  Erziehungswesens 
überhaupt.  Ein  Wort  zu  seiner  Zeit."  Der  Verfasser  geht  vom 
Gedanken  aus,  daß  ohne  eine  Reform  der  Synagoge  und  der 
Schule  die  kommende  Generation  die  verliehenen  Bürgerrechte 
nicht  in  vollem  Maße  werde  ausnützen  können;  „ohne  eine 
andere  kirchliche  Einrichtung  würden  die  Israeliten  nicht  fort- 
dauern." Die  Reformen,  die  der  Zeitgeist  verlange,  bestehen 
aber  im  folgenden:  unser  altes  Gebetbuch  sei  vpn  Trauer- 
hymnen über  den  Verlust  der  alten  Heimat  des  jüdischen  Volkes 
und  der  politischen  Freiheit  erfüllt;  heute  haben  wir  aber  die 
Freiheit  als  preußische  Staatsbürger  erhalten.  „Heute  haben  wir 
nur  ein  Vaterland  —  Preußen  —  und  nur  für  dieses  dürfen  wir 
beten.  Unsere  Muttersprache  ist  die  deutsche,  und  durch  die 
imverkümmerte  Einführung  dieser  Sprache  in  das  Gebet  kann 
der  religiöse  Dienst  zu  neuem  Leben  erweckt  werden."  Im 
gleichen  Geiste  gänzlicher  Germanisierung  müsse  auch  die 
jüdische  Schule  reformiert  werden.  Die  Grundthese  lautete  ganz 
eindeutig:  die  Assimüation  ist  die  natürliche  Folge  der  Emanzi- 
pation. 

Friedländer  überreichte  sein  Buch  als  einen  Entwurf  seinem 
Freund  und  Gesinnungsgenossen,  dem  Kanzler  Hardenberg  (im 
Oktober  1812),  und  dieser  übergab  es  dem  Kultusministerium. 
Der  Verfasser  schickte  auch  ein  Exemplar  an  den  König,  bekam 
aber  von  ihm  eine  recht  kühle  Antwort.  Der  fromme  König,  der 
eine  Scheu  vor  .allen  Neuerungen  hatte,  schrieb:  „Solange  Juden 
Juden  bleiben  wollen,  deren  eigentümlicher  Glaube  auf  An- 
erkennung der  Mosaischen  oder  Alttestamentarischen  Gesetze  be- 
ruht, kann  ich  Umbildungen,  welche  sowohl  in  ihren  Gottes- 

210 


dienst,  als  in  ihren  religiösen  Unterricht  und  in  ihre  Erziehung 
eingreifen,  nur  insofern  billigen,  als  sie  mit  dem  obigen  Wesen 
und  den  Grundsätzen  der  jüdischen  Religion  gemäßen  Haupt- 
erfordemissen  nicht  im  Widerspruch  stehn.  Ist  dies  auch  in 
Ihrer  kleinen  Schrift  Ihre  Ansicht,  So  wird  man  von  derselben 
den  gehörigen  Gebrauch  zu  machen  wissen."  Hardenberg  be- 
eilte sich,  Friedländer  unter  seinen  Schutz  zu  nehmen.  In  zwei 
Briefen  erklärte  er  dem  König,  daß  das  Edikt  von  der  bürger- 
lichen Gleichberechtigung,  das  die  Juden  dem  deutschen  Volke 
einverleibe,  auch  eine  innere  Reform  ihrer  Angelegenheiten  er- 
heische: die  Juden  seien  von  nun  an  keine  Feinde  der  christ- 
lichen Gesellschaft  und  werden  von  dieser  nicht  mehr  verachtet 
werden;  nun  dürfen  sie  nicht  mehr  in  ihren  (J^beten  die  An- 
kunft des  Messias  erflehen,  sondern  nur  das  Wohlergehen  ihres 
Beschützers  und  Befreiers  —  des  Königs  von  Preußen;  die  Ein- 
führung der  deutschen  Sprache  in  den  Gottesdienst  und  in  die 
Schule  rühre  aber  nicht  an  den  Grundpfeilern  der  mosaischen 
Religion.  Das  Friedländersche  Projekt  rief  auch  eine  literarische 
Polemik  herA'-or.  Der  Vorsteher  der  Breslauer  jüdischen  Ge- 
meinde, Dohm,  trat  für  die  Beibehaltung  der  heiligen  Sprache 
im  Gottesdienst  ein  und  beschuldigte  Friedländer  der  Absicht, 
eine  religiöse  Spaltung  heraufzubeschwören.  Der  greise  Hebraist 
Salomon  Pappenheimer  nahm  wie  die  nationale  Sprache  so  auch 
die  Gebete  nationalen  Inhalts  in  Schutz  (1813).  Der  innere 
Streit  wurde  aber  durch  neues  Waffengeklirr  übertönt.  Es  be- 
gann der  große  Befreiimgskrieg  Preußens  und  der  verbündeten 
Staaten  gegen  Napoleon. 

Die  patriotischen  Flammen,  von  denfen  das  ganze  Land  er- 
griffen war,  entzündeten  auch  die  Herzen  der  Juden,  die  erst 
eben  in  den  Verband  der  preußischen  Staatsbürger  aufgenom- 
men worden  waren.  Außer  den  auf  Grund  der  Militärpflicht 
Eingezogenen  traten  in  die  preußische  Armee  auch  mehrere 
Hundert  jüdischer  Freiwilliger  ein.  Die  jüdischen  Soldaten 
nahmen  an  allen  Kriegen  von  1813 — 1814  auf  allen  Schlacht- 
feldern Europas  teil;  viele  von  ihnen  wurden  bei  I^eipzig  und 
bei  Waterloo  verwundet  und  getötet;  viele  zeichneten  sich  durch 
Heldentaten  aus  und  errangen  das  Eiserne  Kreuz ;  einige  Dutzend 
wurden  sogar  zu  Offizieren  befördert.  Die  jüdischen  Frauen 
gingen  auf  den  Kriegsschauplatz  als  barmherzige  Schwestern. 

14'  211 


Die  Gemeinden  spendeten  große  Summen  für  Heereszwecke, 
Oft  machte  sich  das  Bestreben,  seinen  Patriotismus  zu  demon- 
strieren und  sich  als  der  Emanzipation  würdig  zu  zeigen, 
bemerkbar.  Aber  weder  die  Heldentaten  noch  die  anderen 
Äußerungen  des  Patriotismus  vermochten  den  Anmarsch  der 
judenfeindlichen  Reaktion  aufzuhalten,  die  in  Preußen  zugleich 
mit  der  allgemeinen  Reaktion  nach  dem  Wiener  Kongreß  einzog. 
Die  vom  zertrümmerten  und  erniedrigten  Preußen  erzwungene 
Emanzipation  zeigte  sidi  für  das  triumphierende  Preußen  als 
überflüssig.  Die  verspätete  Emanzipation  der  preußischen  Juden 
esdstierte  nur  drei  Jahre  und  begarm  dann,  vom  tödlichen  Hauch 
der  Restauration  getroffen,  zu  dorren. 

§  33.  Die  vorübergehende  Emanzipation  im  Gebiete  fran- 
zösischer Herrschaft  (Westfalen,  Frankfurt,  Hansastädte).  Die 
sechsjährige  Herrschaft  Napoleonischer  Politik  in  Deutschland 
(1806 — 1812)  brachte  den  Juden  jener  Staaten,  die  dem  fran- 
zösischen Einflüsse  unmittelbar  unterlagen,  eine  vorüber- 
gehende Emanzipation.  Zuerst  wurde  sie  den  Juden  des 
neuen  Königreichs  Westfalen  zuteil,  das  Napoleon  (nach 
dem  Tilsiter  Frieden,  1807)  aus  verschiedenen  Teilen  Han- 
novers, Braunschweigs,  Hessens  und  den  preußischen  Gebieten 
zwischen  der  Elbe  und  dem  Rhein  geschaffen  hatte.  An 
der  Spitze  dieses  ephemeren  Staates  stand  der  ephemere  König, 
Napoleons  Bruder,  Jeröme  Bonaparte,  der  nach  Pariser 
Weisungen  regierte.  Nach  der  Verkündigung  der  allgemeinen 
Verfassung  für  das  Königreich  Westfalen,  durch  die  allen  Bür- 
gern die  Gleichheit  verliehen  wurde,  erschien  im  Januar  1808 
ein  eigenes  königliches  Dekret  über  die  Abschaffung  aUer  Be- 
schränkimgen  für  die  Juden.  Das  Dekret  beginnt  mit  den  Wor- 
ten: „Unsere  Untertanen,  welche  der  Mosaischen  Religion  zu- 
getan sind,  sollen  in  Unseren  Staaten  dieselben  Rechte  vmd 
Freiheiten  genießen,  wie  Unsere  übrigen  Untertanen";  selbst 
den  aus  den  anderen  Ländern  zuziehenden  Juden  wurde  volle 
Gleichberechtigung  versprochen.  Dies  war  der  erste  Akt  der 
Emanzipation  auf  deutschem  Boden. 

Der  Übergang  von  der  Sklaverei  zur  Freiheit  rief  bei  der 
jüdischen  Bevölkerung  Westfalens  ungeheuren  Enthusiasmus 
hervor.  Als  König  Jeröme  in  seine  Residenz  Kassel  einzog,  wurde 
er  von  den  Juden  mit  besonderer  Begeisterung  begrüßt.  Bei  der 

212 


Festbeleuchtung  waren  im  Fenster  eines  jüdischen  Hauses 
riesengroße  Handfessehi  ausgestellt  mit  der  Inschrift:  „Unsere 
Ketten  sind  gesprengt."  Bald  darauf  erschien  eine  jüdische 
Deputation,  tmi  den  König  persönlich  zu  begrüßen.  An  der 
Spitze  der  Deputation  stand  der  einflußreiche  Freund  und  Ge- 
sinnungsgenosse Friedländers,  Israel  Jacobson  aus  Braun- 
sehweig. 

Jacobson  der  Hoffaktor  oder  Finanzrat  des  Braunschweiger 
Herzogs  Karl  Ferdinand  gewesen  war,  trat  in  die  Dienste 
Jerome  Bonapartes  über,  als  Braxmschweig  dem  Königreiche 
Westfalen  angegliedert  wurde.  Jacobson  sehnte  sich  schon  längst 
nach  französischen  Zuständen,  nach  der  Emanzipation  der 
deutschen  Juden  nach  französischem  Muster  imd  nach  der 
Reformierung  des  jüdischen  I^ebens.  Die  Nachricht  von  der 
Berufung  der  jüdischen  Notabein  durch  Napoleon  nach  Paris 
versetzte  ihn  in  helles  Entzücken;  er  schrieb  (im  Sommer  1806) 
an  den  Kaiser  einen  Brief  mit  der  Bitte,  seine  „reformierende 
Tätigkeit  auf  die  Juden  aller  I^änder  auszudehnen";  dieser  Brief 
kam  auch  in  die  Zeitungen  und  bildete  vielleicht  einen  der  An- 
lässe zur  Einberufung  des  ,, Großen  Synhedrions".  Die  Be- 
schlüsse des  Synhedrions  beflügelten  Jacobson,  der  sich  auch 
schon  früher  mit  dem  Gedanken,  die  Juden  durch  Assimüation 
zu  retten,  herumtrug,  zu  neuen  Taten.  In  der  Stadt  Seesen  be- 
stand seit  dem  Jahre  1801  eine  auf  Jacobsons  Kosten  begründete 
Schule,  in  der  jüdische  und  christliche  Kinder  zusammen  er- 
zogen wurden;  die  musterhaft  organisierte  Schule  war  weit  und. 
breit  bekannt  und  brachte  ihren  Gründer  in  den  Ruf  eines  frei- 
gebigen Philantropen.  Die  äußerliche,  zuweüen  erkünstelte  An- 
näherung der  Juden  an  die  Christen,  der  jüdischen  Lebens- 
formen an  die  christlichen  —  diese  Lieblingsidee  Jacobsons 
war  zugleich  die  Quelle  seiner  guten  Werke,  wie  auch  seiner 
traurigen  Verirrungen. 

Am  9.  Februar  1808  stellten  sich  dem  König  Jeröme  zu  Kassel 
zweiundzwanzig  Vertreter  der  jüdischen  Gemeinden  Westfalens 
mit  Jacobson  an  der  Spitze  vor.  Jacobson  hielt  eine  Rede,  in 
der  er  den  kleinen  Bruder  des  großen  Napoleons  mit  Cyrus, 
dem  Befreier  Israels,  „das  imter  dem  Joche  einer  barbarischen 
Gesetzgebung  verschmachtete",  verglich;  die  Juden  werden  sich 
d^   Geschenkes   der   Gleichberechtigung   würdig   zeigen:    „sie 

213 


werden  euren  Heeren  Soldaten,  euren  Städten  Kaufleute,  euren 
Feldern  Ackerbauer  liefern."  Der  König  antwortete  sehr  herz- 
lich: „Sagt  euren  Brüdern,  daß  sie  die  ihnen  verliehenen  Rechte 
ausnützen  sollen.  Sie  dürfen  auf  meinen  Schutz  ebenso  wie  alle 
meine  anderen  Kinder  rechnen." 

Die  Emanzipation  war  gesichert,  und  Jacobson  machte  sich 
mit  großem  Eifer  daran,  im  neuen  Königreiche  die  französisch- 
jüdische Konsistorialordnung  einzuführen,  deren  Entwurf  kurz 
vorher  in  Paris  ausgearbeitet  worden  war.  Eine  Regierungs- 
kommission  unter  der  I^eitung  Jacobsons  paßte  diesen  Entwurf 
schnell  den  lokalen  Verhältnissen  an,  und  König  Jeröme  ordnete 
mit  dem  Dekret  vom  31.  März  1808  die  Neuorganisierung  der 
jüdischen  Gemeinden  im  Königreiche  Westfalen  an.  Dies  ge- 
schah zwei  Wochen  nach  der  VeröffentHchung  des  Napoleo- 
nischen Dekrets  von  den  Konsistorien  in  Frankreich  (s.  oben 
§  42).  In  der  Einleitung  ztim  westfälischen  Dekret  waren  fol- 
gende charakteristischen  Gründe  aufgezählt:  „Wenn  die  Juden 
gleich  Unseren  anderen  Untertanen  die  freie  Ausübung  ihres 
Gottesdienstes  genießen  sollen,  muß  diese  Religionsübung 
auch,  wie  die  anderen.  Unserer  Aufsicht  unterworfen  sein,  da- 
mit sie  nicht  mit  der  Gesetzgebung  und  derjenigen  öffent- 
lichen Moral  in  Widerspruch  stehe,  welche  die  Richtschnur  aller 
Menschen  sein  und  aus  ihnen  nur  eine  einzige  politische  Ge- 
sellschaft büden  muß.  Die  Juden  dürfen  nicht  ferner  eine  ge- 
trennte Gesellschaft  (im  corps  a  part)  im  Staate  ausmachen, 
sondern  müssen  nach  dem  Beispiele  aller  Unserer  Untertanen, 
sich  in  die  Nation,  deren  Glieder  sie  sind,  verschmelzen  — 
(se  fondre  dans  la  nation)."  Das  Dekret  errichtet  zu  Kassel,  der 
königlichen  Residenz,  ein  aus  einem  Vorsitzenden,  drei  Rab- 
binern und  zwei  gelehrten  Laien  bestehendes  jüdisches  Kon- 
sistorium. Es  soll  von  den  Gemeinden  selbst  und  nicht  aus 
Staatsmitteln  unterhalten  werden.  Ebenso  wie  in  Frankreich, 
gehören  ins  Ressort  des  Konsistoriums  alle  geistlichen  Ange- 
legenheiten der  Gemeinden,  darunter  auch  der  Religionsunter- 
richt; es  ist  femer  verpflichtet,  die  Rabbiner  und  die  Lehrer  in 
dem  Sinne  zu  beeinflussen,  daß  sie  „Gehorsam  gegen  die  Gesetze 
und  besonders  gegen  diejenigen,  welche  sich  auf  die  Verteidigung 
des  Vaterlandes  beziehen,  lehren;  daß  sie  in  ihrem  Unterrichte 
den  Militärdienst  als  eine  heüige  Pflicht  darstellen,  während 

214 


deren  Ausübung  das  G^etz  von  allen  damit  unvereinbaren 
religiösen  Gebräuchen  entbindet**. 

Ende  1808  wurde  das  Elasseler  Konsistorium  eröffnet.  Zu 
seinem  Präsidenten  ernannte  die  Regierung  Israel  Jacobson, 
obwohl  er  kein  geistliches  Amt  bekleidete,  und  zu  Mitgliedern  — 
drei  Rabbiner  und  zwei  Laien  (einer  der  gelehrten  Laien  war 
der  Dessauer  Lehrer  David  Fränkel,  der  Herausgeber  der  fort- 
schrittlichen jüdischen  Zeitschrift  in  deutscher  Sprache  ,,Sula- 
mith").  Alle  Mitglieder  waren  nach  Weisungen  Jacobsons  er- 
nannt worden,  der  unumschränkter  Herr  dieses  neugeschaffenen 
Instituts  war.  Er  ließ  ein  Siegel  anfertigen  mit  der  Inschrift: 
„Königlich  Westfälisches  Konsistorium  Mosaischer  Religion" 
und  legte  sich  eine  Galauniform  an,  die  aus  einem  goldgestickten 
Talar  aus  schwarzem  Tuch  mit  der  Darstellung  der  zehn  Gebote 
auf  der  Brust  bestand.  Das  Kasseler  Konsistorium  wurde  zu 
einer  Art  jüdischen  Kultusministeriums  und  erließ  zahlreiche 
Dekrete,  die  das  ganze  Leben  der  Juden  des  Königreichs 
regulierten  1).  Jacobson  machte  sich  mit  Feuereifer  an  die  Re- 
formierung des  Religions-  und  Gemeindewesens,  Er  ging  dabei 
(wie  es  aus  der  von  ihm  der  Regierung  überreichten  Denkschrift 
ersichtlich  ist)  von  der  Überzeugung  aus,  daß  nur  eine  Reform 
die  jüdische  Gemeinde  und  selbst  die  ganze  junge  Generation 
vor  gänzlicher  Auflösimg  retten  könne.  Er  sah  in  der  deutschen 
Judenschaft  zwei  Extreme:  einerseits  die  streng  orthodoxe 
Masse,  die  an  den  veralteten  Formen  der  Religion  tmd  des 
Lebens  festhält,  und  andererseits  —  die  neue  Generation,  die 
unter  dem  Einflüsse  einer,  oft  recht  oberflächlichen  europäischen 
Bildtmg  sich  von  der  Religion  der  Väter  lossagt  oder  der  Schar 
derjenigen  beitritt,  die  außerhalb  des  Judentums  und  des 
Christentums  stehen  —  der  hohlen  Stutzer,  sittenloser,  ver- 
dorbener Menschen,  die  die  Idee  der  Aufklärung  in  konserva- 
tiven Kreisen  kompromittieren.  In  Frankreich  hätte  die  Wieder- 
gebiurt  der  Juden  den  richtigen  Weg  eingeschlagen:  zuerst  hätte 
die  Revolution  die  Juden  emanzipiert  und  alle  Religionen  ein- 
ander gleichgestellt  und  dann,  während  des  Konvents,  auch  die 
Religion  selbst  abgeschafft;  heute  hätte  aber  Kaiser  Napoleon, 

^)  Im  Jahre  1808  betrug  die  Zahl  der  Juden  im  Königreich  Westfalen  15  000; 
sie  stieg  aber  fortwährend  durch  Zufluß  von  Binwanderem,  die  die  Bnianzi- 
pation  aus  den  anderen  Gebieten  Deutschlands  anlockte. 

215 


der  Schöpfer  des  Pariser  Synhedriohs,  Maßregeln  zur  Organi- 
sation des  jüdischen  Kulttis  ergriffen;  dieses  französische  System, 
des  Umbaues  der  jüdischen  Gemeinde  könne  im  Königreiche 
Westfalen  die  beste  Anwendung  finden. 

Und  nun  begann  das  Kasseler  Konsistorium  ein  Rundschreiben 
nach  dem  anderen  zu  erlassen:  von  den  Rechten  und  PfHchten 
der  Rabbiner  und  Gemeindeältesten,  von  den  Synagogen,  Schu- 
len, dem  Ivchrerpersonal  usw.  Es  ging  dabei  durchaus  napoleo- 
nisch vor,  indem  es  die  religiösen  Gebräuche,  insbesondere 
solche,  die  mit  bürgerlichen  Akten  zusammenhingen,  durch 
Dekrete  abänderte.  Mit  Beruftmg  auf  das  königliche  Dekret  er- 
klärte das  Konsistorium  alle  Eheschließungen  und  Eheschei- 
dungen, denen  kein  entsprechender  Akt  in  standesamtlichen 
Institutionen  vorangegangen  war,  für  ungültig,  imtersagte  die 
Trauungen  unter  freiem  Bummel  und  schaffte  einige  veraltete 
Hochzeitsbräuche  ab.  Es  führte  eine  obligatorische  religiöse 
„Konfirmation"  in  der  Synagoge  ein:  für  Knaben  mit  dreizehn, 
für  Mädchen  mit  zwölf  Jahren,  nach  dem  Vorbilde  der  pro- 
testantischen Konfirmation,  mit  einem  öffentiichen  Examen  in 
der  Glaubenslehre,  mit  Reden,  Rabbinervorträgen  usw.  Schon 
diese  Neueinführung  allein  war  ein  Attentat  auf  das  Gewissen 
der  Rechtgläubigen;  noch  größere  Aufregung  riefen  die  Konsi- 
storialerlasse  bezüglich  der  Synagogen  hervor.  Um  eine  einheit- 
liche Gottesdienstordnung  durchzusetzen,  verbot  das  Konsi- 
storium jeden  öffentlichen  Gottesdienst  in  privaten  Betstuben 
und  verpflichtete  die  Einwohner  einer  jeden  Stadt,  nur  in  der 
einen  offiziellen  Synagoge  zu  beten,  wo  der  Gottesdienst  nach 
einer  vom  Konsistorium  vorgeschriebenen  Ordnung,  unter  Weg- 
lassung verschiedener  Gebete  imd  Gebräuche,  abgehalten  wurde. 
Als  die  aufs  höchste  erregten  Gemeinden  sich  bei  der  Regierung 
über  die  Einengung  der  Gewissensfreiheit  beschwerten,  erwirkte 
Jacobson  ein  königliches  Dekret  (vom  5.  Juli  1811),  welches  die 
Verfügung  des  Konsistoriums  über  das  Verbot  des  privaten 
Gottesdienstes  außerhalb  der  reformierten  Sjmagogen  aufs  nach- 
drücklichste bestätigte.  Auf  dem  gleichen  bureaukratischen 
Wege  wurde  auch  die  Schulreform  durchgeführt.  Das  Konsi- 
storium ließ  in  jeder  Stadt  je  eine  Schule  errichten,  in  der  die 
Religion  und  die  biblische  Sprache  von  einem  jüdischen  Lehrer, 
die   übrigen    Gegenstände    aber    von    einem    Christen    gelehrt 

216 


wurden.  Privattmterriclit  im  „Cheder"  wurde  untersagt.  Im 
Jahre  1810  wurden  in  Kassel  die  erste  Schule  dieser  neuen  Art 
und  ein  Lehrerseminar,  eröffnet.  Die  Erhöhtmg  der  Steuern  und 
die  allgemeine  Unzufriedenheit  mit  den  neuen  Ordnungen  riefen 
zahlreiche  Klagen  der  Gemeinden  hervor;  sie  ersuchten  den 
König,  das  kostspielige  Konsistorium  abzuschaffen  und  die  Last 
der  speziellen  Abgaben,  die  die  Juden  neben  den  Staatssteuem 
zu  zahlen  hatten,  zu  erleichtern. 

Da  nahte  aber  schon  das  Ende  des  ephemeren  Königreichs 
Westfalen:  es  schwand  zugleich  mit  Napoleon  (1813),  und  mit 
ihm  schwand  auch  die  ganze  Neuorganisation  des  Judentums. 
Die  Ära  d^r  vollen  Emanzipation  war  nur  von  kurzer  Dauer 
gewesen:  die  westfälische  Oase  der  Gleichberechtigung  auf 
deutschem  Boden  hatte  kaum  sechs  Jahre  bestanden.  Während 
dieser  kurzen  Zeitspanne  konnten  die  rund  zwanzigtausend  aus 
„geduldeten"  zu  freien  Bürgern  gewordenen  Juden  frei  atmen. 
Viele  Rechtlose  waren  aus  anderen  deutschen  Landen  nach 
Westfalen  übersiedelt.  Ebenso  kurz  war  auch  die  Ära  der  in- 
neren, von  Jacobson  unternommenen  Reformen.  Diese  waren 
übrigens  auch,  abgesehen  von  der  politischen  Krise,  zu  einem 
Mißerfolg  verurteilt.  Jacobson  hatte  eine  gute  Absicht:  das 
geistige  Leben  der  Juden  mittels  Reformen  ästhetischer  und  für 
die  neue  Generation  der  „Aufgeklärten",  die  sich  von  der  jü- 
dischen Gemeinde  tmd  Synagoge  durch  deren  veraltete  Formen 
abgestoßen  fühlten,  anziehender  zu  machen.  Neben  diesem  Motiv 
hatte  er  aber  auch  noch  ein  anderes,  auf  die  Außenwelt  gerichte- 
tes: den  Wunsch,  Synagoge,  Schule  und  Gemeindeordnimg  zu 
germanisieren,  um  auf  diese  Weise  die  Juden  mit  den  Christen 
zu  verschmelzen.  Jacobson  übersah  die  tieferen  Gründe  des 
Abfalls  der  gebüdeten  Klassen  und  setzte  alle  seine  Hoffnungen 
auf  die  Reformierung  des  Ritus,  die  er  obendrein  mit  den  Macht- 
mitteln der  Bureaukratie  betrieb.  Er  verwandelte  das  Konsi- 
storium in  eine  Fabrik  von  Reformen,  die  den  Gemeinden  auf- 
gezwungen wurden,  imd  schenkte  den  Protesten  der  Unzu- 
friedenen nicht  die  geringste  Beachtung.  Wie  die  meisten  Männer 
jenes  Revolutionszeitalters  hatte  Jacobson  für  die  Methoden 
einer  evolutionären,  von  historischen  Wurzeln  ausgehenden  Re- 
form kein  Verständnis.  Gleich  Friedländer  und  den  anderen 
Führern  „des  neuen  Judentums"  negierte  er  die  Idee  der  jü- 

217 


dischen  Nationalität,  und  seine  ganze  Arbeit  ging  auf  die  Schaf- 
fung eines  oberflächliclien  Kompromisses  zwischen  dem  Un- 
glauben und  der  nach  der  letzten  Mode  „gereinigten"  Religiosität 
hinaus. 

Von  noch  kürzerer  Dauer  als  in  Westfalen  war  die  vorüber- 
gehende Emanzipation  in  der  alten  Hochburg  der  Rechtlosig- 
keit, der  freien  Reichsstadt  Frankfurt  a.  M.,  wo  die  Er- 
ringung der  ephemeren  Freiheit  noch  größere  Mühe  kostete. 
Vor  der  Invasion  Napoleons  stand  das  Frankfurter  Ghetto  (§  2) 
als  ein  mittelalterlicher  Fels  im  stürmischen  Meere  der  Zeit  da. 
Die  Patrizieroligarchie,  die  die  Stadt  regierte,  wollte  von  ir- 
gendwelchen Neuerungen  nichts  hören.  Vergeblich  pochten  die 
Gefangenen  des  Ghettos  an  die  Türen  der  europäischen  Kon- 
gresse (§  28)  —  sie  bekamen  keine  Antwort.  In  den  Mauern  des 
Ghettos  regte  sich  aber  schon  etwas :  der  freie  Geist  drang  durch 
die  von  der  Berliner  Aufklärung  geschlagenen  Breschen  ein  und 
rief  zu-*einem  neuen  lieben  auf.  Eine  Gruppe  aufgeklärter  Frank- 
furter gründete  das  freie  Gymnasium  „Philantropin"  zwecks 
Erziehung  der  jüdischen  Kinder  im  Geiste  der  Zeit,  und  dieses 
Institut  wurde  zu  einer  Zitadelle  der  Reformen.  Die  Nach- 
richten über  die  Versammlung  der  Notabein  zu  Paris  hoben  den 
Mut  der  Frankfurter  Aufklärer  und  beflügelten  ihre  Hoffnungen, 
um  so  mehr  als  bald  darauf  (1806)  Napoleon  das  Schicksal 
Deutschlands  in  die  Hand  nahm  und  den  ,, Rheinbund"  mit 
Frankfurt  als  Hauptstadt  gründete.  Aus  Frankreich  kamen 
Hoffnungen  auf  die  Emanzipation,  und  aus  dem  Ghetto  erhoben 
sich  Befreiungshymnen.  In  Frankfurt  büdete  sich  ein  fort- 
schrittlicher Verband  aus  zweihundertfünfzig  Gemeindemitglie- 
dem,  der  sich  zur  Aufgabe  machte,  die  französischen  Reformen 
auf  deutschen  Boden  zu  verpflanzen.  Im  November  1806  schickte 
dieser  Verband  eine  Begrüßungsadresse  an  die  Pariser  Versamm- 
lung jüdischer  Deputierter.  Diese  Adresse  rühmte  den  Groß- 
mut der  französischen  Nation,  „die  die  Fesseln  eines  so  lange 
bedrängten  Volkes  zerschlagen",  die  Wohltaten  „des  unsterb- 
lichen Napoleons",  der  die  besten  Vertreter  der  Judenheit 
zwecks  „Säuberung  unserer  Religion"  zusammengerufen  habe, 
und  die  „weisen  Antworten"  der  Pariser  Versanmilung  auf  die 
Fragen  des  Kaisers.  In  der  Adresse  wurde  femer  der  Wunsch 
geäußert,  daß  „das  schöne  Beispiel  Frankreichs  auch  außerhalb 

2i8 


der  Grenzen  des  Kaiserreichs  Nachahmung  finden  möchte". 
Die  Frankfurter  Adresse  wurde  in  der  Versammlung  gerade  in 
dem  Augenblick  verlesen,  sls  sie  dem  „Großen  Sjmhedrion" 
Platz  machen  wollte,  und  der  Präsident  der  Versammlung, 
Furtado,  antwortete  den  deutschen  Verehrern  Napoleons  mit 
einem  Briefe  im  gleichen  Geiste.  Schon  zwei  Monate  später  hatten 
zwei  Vertreter  der  Frankfurter  Gemeinde  (der  Rabbiner  Salo- 
mon  Trier  und  Isaak  Hildesheim)  das  „Glück",  an  den  Sitzungen 
des  Pariser  Synedrions  teilzunehmen.  In  einer  der  letzten 
Sitzungen  gaben  die  Frankfurter  Vertreter  die  Erklärung  ab, 
daß  ihre  Gemeinde  sich  allen  Beschlüssen  des  Synhedrions  fügen 
wolle,  „sobald  unser  Regent  sie  gutheißt  und  unsere  Brüder  die 
gleichen  Bürgerrechte  erhalten,  die  die  Juden  Frankreichs  und 
Italiens  bereits  genießen".  In  dieser  Erklärung  war  der  Zu- 
sammenhang zwischen  der  inneren  Reform  und  der  Emanzi- 
pation ganz  unzweideutig  ausgesprochen,  und  die  Wallfahrt  der 
Frankfurter  nach  Paris  wurde  dadurch  ins  richtige  Licht  gerückt. 
Der  „Regent"  Frankfurts,  von  dem  die  Deputierten  sprachen, 
war  der  von  Napoleon  eingesetzte  Fürstprimas  des  Rheinbundes, 
Karl  von  Dalberg,  der  ehemalige  Kurfürst  von  Mainz,  ein  Mann 
liberaler  Gesinnimg  im  französischen  Geiste.  Er  war  bereit,  die 
schmähliche  Ghettoordnung  abzuschaffen,  aber  die  Frankfurter 
städtische  Oligarchie,  die  konservativen  Patrizier  und  Bürger 
ließen  sich  nur  zu  einigen  unbedeutenden  Zugeständnissen  her- 
bei. Am  30.  November  1807  wurde  für  Frankfurt  die  „Neue 
Stättigkeit-  und  Schutzordnung  der  Judenschaft"  erlassen,  die 
aber  an  der  alten  Ordnung  nichts  Wesentliches  änderte.  Sie  er- 
weiterte das  Juden  viertel,  schaffte  es  aber  nicht  ab;  die  Zahl 
der  jüdischen  Familien  durfte  auch  jetzt  die  frühere  Norm 
(fünfhundert)  nicht  übersteigen,  und  neue  Ehen  wurden  nur  im 
Falle  einer  „Vakanz"  innerhalb  dieser  Norm  gestattet;  viele 
Zweige  des  Handels  blieben  den  Juden  verschlossen;  nur  zum 
Handwerk  und  in  die  Schulen  wurden  sie  zugelassen;  für  diese 
„Privilegien"  mußte  die  jüdische  Gemeinde  der  Stadt  ein 
„Schutzgeld"  von  zweiundzwanzigtausend  Gulden  im  Jahre 
zahlen.  Als  der  Fürstprimas  dieseä  Reglement  unterzeichnete, 
machte  er  den  Zusatz,  daß  vielleicht  später  einmal  „dem  Zeit- 
geiste entsprechende"  Änderungen  und  sogar  die  gänzliche  Ab- 
schaffung der  Beschränkungen  möglich  sein  würden. 

219 


Die  Frankfurter  Juden,  die  vom  französischen  Protektorat 
jeden  Segen  erwarteten,  sahen  sich  durch  das  neue  Reglement 
sehr  enttäuscht.  Die  Fortschrittler  erhoben  einen  Protest.  Die 
von  der  Regierung  eingesetzten  neuen  Gemeindeältesten  weiger- 
ten sich,  ihr  Amt  anzutreten.  Eine  Deputation  von  der  Gemeinde 
ging  nach  Paris  und  überreichte  dem  Eürstprimas  eine  von 
einigen  hundert  Gemeindemitgliedern  unterschriebene  Petition. 
Nun  mischte  sich  auch  der  Führer  der  emanzipierten  Westfalen, 
Israel  Jacobson,  in  die  Sache.  Er  überreichte  dem  Fürstprimas 
eine  „alleruntertänigste"  Eingabe,  in  der  er  ihn  aufforderte,  den 
Spuren  des  „Helden  des  Jahrhunderts",  Napoleons,  zu  folgen 
und  den  Überresten  einer  barbarischen  Zeit,  die  einen  Schand- 
fleck auf  der  Frankfurter  Gesetzgebung  büden,  ein  Ende  zu 
machen  (Anfang  1808).  Zur  Verteidigung  der  alten  Gesetz- 
gebimg und  gegen  die  Denkschrift  Jacobsons  trat  der  Verfasser 
einer  anonymen  Broschüre  auf.  Dieser  Kampf  weckte  auch  das 
Interesse  des  großen  Sohnes  Fr?inkfurts,  des  Dichterfürsten  und 
Fürstendichters  Goethe.  Goethe  konnte  sich  selbst  auf  den 
Höhen  des  Geistes  nicht  von  den  kläglichen  Standesidealen 
jener  Patriziergesellschaft  freimachen,  der  er  entstammte,  und 
alle  seine  Sympathien  waren  auf  Seiten  der  Bedrücker.  Er 
äußerte  sich,  daß  die  neue  Frankfurter  „Stättigkeit"  die  Juden 
mit  Recht  „als  wahre  Juden  und  ehemalige  kaiserliche  Kammer- 
knechte tractirte".  Goethe  leistet  sich  in  einem  Briefe  den 
Scherz:  „Es  war  mir  sehr  angenehm  zu  sehen,  daß  man  dem 
finanzgeheimräthlichen  jacobinischen  Israelssohn  so  tüchtig  nach 
Hause  geleuchtet  hat."  (Der  Witz  besteht  in  der  Verdrehtmg  des 
Namens  Israel  Jacobson.)  Alle  Proteste  und  Petitionen  der 
Kämpfer  für  das  Recht  hatten  anfangs  tatsächlich  keinen  Erfolg. 

Eine  Änderung  trat  erst  im  Jahre  1810  ein,  als  unter  der  Re- 
gierung des  gleichen  Fürstprimas  das  Großherzogtum  Frankfurt 
gebüdet  wurde,  welches  aus  der  Reichsstadt  Frankfurt,  Teilen 
des  Kurfürstentums  Mainz  und  einigen  anderen  rheinischen  Ge- 
bieten bestand.  In  den  Grundgesetzen  des  Großherzogtums  war 
natürlich  von  der  Gleichheit  aller  vor  dem  Gesetz  die  Rede, 
aber  niemand  beeilte  sich,  auch  den  Juden  Gleichberechtigtmg 
zu  gewähren.  Es  begann  ein  Feilschen  zwischen  der  Bürger- 
schaft und  den  Juden  über  den  Umfang  der  zu  gewährenden 
Rechte  und  über  die  zu  zahlende  Entschädigung.  Der  frühere 

220 


Fürstprimas  und  nunmehrige  Großherzog  Kaxl  erklarte  sich 
bereit,  den  Juden  Gleichberechtigung  zu  gewähren,  unter  der 
Bedingtmg,  daß  die  Frankfurter  Gemeinde  440  000  Gulden 
einzahlt,  d.  h.  das  Zwanzigfache  des  Betrages,  den  sie  vorher 
alljährlich  als  „Schutzgeld"  entrichtet  hatte  und  um  den  die 
Stadt  nun  geschädigt  sein  würde.  Die  Juden  gingen  darauf  ein, 
und  das  Geschäft  kam  zustande.  Am  28.  Dezember  181 1  wurde 
ein  großherzogliches  Edikt  erlassen,  welches  erklärte,  daß  für 
die  Juden  von  nun  an  der  von  der  Gleichheit  aller  Bürger  han- 
delnde Paragraph  der  Grundgesetze  gelte  ufid  daß  alle  früheren 
Beschränkungen  endgültig  aufgehoben  seien. 

So  kauften  sich  die  Frankfurter  Juden  ihre  Gleichberechtigung 
für  eine  halbe  Million  Gulden;  sie  hätten  aber  dieses  Geld  wohl 
kaum  hergegeben,  wenn  sie  gewußt  hätten,  daß  diese  Gleich- 
berechtigung nur  zwei  Jahre  in  Kraft  bleiben  würde.  Sobald 
sich  die  Resultate  der  Befreiungskriege  (1813 — 1814)  zeigten, 
beeüte  sich  die  Frankfurter  Bürgerschaft,  zugleich  mit  dem 
französischen  Joch  auch  das  „Joch"  der  jüdischen  Gleichbe- 
rechtigung abzuschütteln. 

Vorübergehende  Freiheit  brachte  die  französische  Herrschaft 
auch  den  Juden  der  drei  Hansastädte  —  Hamburg,  Lübeck  und 
Bremen.  Die  große  jüdische  Gemeinde  von  Hamburg  (an  die 
neuntausend  Seelen)  stöhnte  unter  dem  Drucke  eines  strengen 
Reglements,  einer  Schöpfung  der  Gesetzgeber  dieser  freien  Stadt 
—  des  Bürgersenats  und  der  Kaufmannsgüden,  die  die  Handels- 
interessen der  Christen  vor  jüdischer  Konkurrenz  schützen  woll- 
ten. Die  Okkupation  Hamburgs  durch  französische  Truppen 
(1810)  schloß  diese  Stadt  unmittelbar  an  das  französische 
Kaiserreich  an,  und  die  bürgerhche  Gleichberechtigung  der 
Juden  wurde  sofort  ohne  jeden  Kampf  verwirklicht  (1811). 
Alle  Beschränkungen  in  bezug  auf  das  Wohnrecht,  den  Erwerb 
von  unbeweglichem  Eigentum,  Handel,  Gewerbe  und  Schvd- 
unterricht  wurden  abgeschafft;  einige  Juden  wurden  sogar  in 
die  Stadtvertretung  gewählt.  Man  begann  auch  die  Selbstver- 
waltung der  Gemeinden  nach  dem  in  Paris  aufgestellten  Konsi- 
storialtypus  zu  reformieren.  Die  von  den  Franzosen  eingeführte 
Gleichberechtigung  verschwand  aber  zugleich  mit  ihnen,  als 
Anfang  1814  die  deutsche  Befreiungsarmee  Hamburg  besetzte. 
Die  in  den  Reihen  dieser  Armee  kämpfenden  Söhne  der  Ham- 

231 


burger  Juden  ahnten  noch  nicht,  daß  die  Befreiung  des  deut- 
schen Vaterlandes  zu  einer  neuen  Knechtung  des  jüdischen 
Volkes  führen  würde. 

In  den  Handelsstädten  lyübeck  und  Bremen,  die  bisher 
den  Juden  verschlossen  waren,  büdeten  sich  in  dieser  kurzen 
Zeit  von  drei  Jahren  kleine  jüdische  Kolonien,  vorwiegend  aus 
den  Bewohnern  der  anliegenden  Städte  und  Märkte.  Aber  die 
Befreiung  Deutschlands  von  den  Franzosen  „befreite"  auch  diese 
Städte  von  dem  für  die  ansässige  christliche  Kaufmannschaft 
so  unbequemen  jüdischen  Element. 

§  34.  Die  alte  Ordnung  und  Reformversuche  (Sachsen,  Bayern, 
Mecklenburg,  Baden).  In  vielen  deutschen  Staaten  gelang  es  den 
Juden  selbst  während  der  französischen  Herrschaft  nicht,  Gleich- 
berechtigung zu  erlangen.  Keinerlei  Zugeständnisse  errangen  die 
wenigen  Juden  Sachsens,  dessen  Regierung  zwar  mehr  als  aUe 
anderen  vor  Napoleon  scharwenzelte,  aber  es  dennoch  fertig- 
brachte, die  alte  judenfeindliche  Gesetzgebung  (§2)  beizubehalten. 
Die  Juden  wurden  hier  kaum  geduldet,  die  Vermehrung  war 
ihnen  verboten,  und  bei  allen  Stadttoren  imd  auf  Reisen  mußten 
sie  jenen  „Viehzoll"  entrichten,  der  in  fast  allen  anderen  deut- 
schen Staaten  schon  abgeschafft  war.  Von  dieser  erniedrigenden 
Abgabe  waren,  Napoleon  ztdiebe,  nur  die  französischen  und 
westfälischen  Juden  befreit.  Der  Zoll  wurde  erst  zu  Beginn 
der  Befreiungskriege  (1813)  abgeschafft,  als  die  verbündete 
preußisch-russische  Armee  Sachsen  besetzte  und  eine  provi- 
sorische Regierung  errichtete. 

Hartnäckig  hielt  an  seinem  Recht  auf  die  jüdische  Recht- 
losigkeit Bayern  fest,  dessen  dreißigtausend  Seelen*)  zählende 
jüdische  Bevölkerung  unter  dem  Drucke  von  Ausnahmegesetzen 
verschmachtete.  In  einem  I^ande,  wo  der  Katholizismus  die 
herrschende  Religion  war,  und  wo  selbst  die  Protestanten  ge- 
wissen Beschränkungen  unterlagen,  konnte  der  Kampf  kaum  zu 
einem  nennenswerten  Erfolg  führen.  Der  für  „liberal"  gehaltene 
Kurfürst  (ab  1806  König)  Maximilian  Joseph  erließ  ein  Edikt 
von  der  Glaubensfreiheit  für  die  Protestanten  (1800),  dehnte 
es  aber  auf  die  Juden  nicht  aus,  sondern  äußerte  nur  den  Wunsch, 


^)  Diese  Ziffer  bezieht  sich  auf  die  zweite  Hälfte  der  Periode  (1801 — 1806), 
als  Bayern  im  Laufe  der  Napoleouischen  Kriege  die  neuen  Gebiete  Frankens 
und  Schwabens  bekam. 

222 


daß  „dieser  unglücklichen  Menschenklasse,  nachdem  man  sie 
doch  aus  den  Erbstaaten  nicht  verbannen  könne,  ohne  sich 
einer  Grausamkeit  und  Ungerechtigkeit  schuldig  zu  machen, 
eine  solche  Einrichtung'  gegeben  werden  möchte,  durch  welche 
sie  allmählich  zu  nützlichen  Staatsbürgern  erzogen  werden  wür- 
den". Die  durch  diese  „gnädige"  Resolution  ermutigten  Juden 
Frankens  wandten  sich  an  den  Würzburger  Theologieprofessor 
Oberthür,  der  gerne  die  Rolle  des  edlen  Abbe  Gregoire  spielen 
wollte,  mit  der  Bitte,  sich  vor  dem  Throne  zu  verwenden,  daß 
man  ihnen  alle  Bürgerrechte  und  volle  Gleichstellung  mit  den 
Christen  gewähre  (1803).  Oberthür  fand  diese  Forderung  allzu 
kühn  und  reichte  „aus  diplomatischen  Rücksichten"  im  Namen 
der  Juden  eine  bedeutend  bescheidenere  Petition  ein,  die  er 
selbst  verfaßt  hatte,  und  in  der  die  Judenschaft  Frankens  um 
„Erleichterung  ihres  sie  schwerdrückenden  Loses"  und  um  die 
Gleichstelltmg  mit  allen  übrigen  Untertanen  „in  Staatsauflagen, 
im  Handel  xmd  Wandel  und  in  allen  Vorteilen  der  bürgerlichen 
Gesellschaft,  soviel  es  einstweilen  noch  tunlich  imd  anderen 
Staatsrücksichten  und  Verhältnissen  nicht  entgegen  ist",  er- 
suchte. Die  Regierung  brauchte  diese  allzu  bescheidene  Bitte, 
die  der  Theologe  den  Juden  aufgezwungen  hatte,  nicht  einmal 
abzulehnen;  hatten  doch  die  Bittsteller  selbst  schon  im  voraus 
eine  mögliche  Absage  motiviert;  gibt  es  denn  einen  Unter- 
drückungsakt, den  man  nicht  mit  „Staatsrücksichten"  recht- 
fertigen könnte? 

Der  Sturm  von  1806  reinigte  auch  in  Bayern,  das  sich  dem 
Rheinbunde  anschloß,  einigermaßen  die  Luft.  Die  neue  Ver- 
fassung gewährte  allen  Einwohnern,  „unabhängig  von  ihrer 
Konfession",  doch  innerhalb  der  christhchen  Religion,  die 
Bürgerrechte.  Die  Juden  bekamen  nur  einige  Erleichterungen: 
sie  wurden  vom  schändlichen  „Leibzoll*  befreit  (1808)  und  be- 
kamen Zutritt  in  die  allgemeinen  Schulen;  vorher  hatte  man 
sie  schon  der  Zulassung  in  die  Bürgermiliz  für  würdig  befunden. 
Die  Regierung  hielt  die  Juden  vom  nenCA  Staatsbürgertum 
ferne,  beeilte  sich  aber,  ihre  alte  Gemeindeautonomie  abzu- 
schaffen :  die  Rabbinergerichte  für  interne  Streitigkeiten  wurden 
verboten.  Gegen  die  Abschaffimg  der  alten  Freiheiten  ohne  die 
Gewährung  von  neuen  protestierte  die  große  Judengemeinde 
von  Fürth  (1809).  In  einer  Bittschrift  an  den  König  wies  sie 

223 


darauf  hin,  daß  das  Rabbinergericht  für  die  internen  Angelegen- 
heiten notwendig  sei,  weil  viele  Zivilakte  (wie  Ehekontrakte, 
Testamente  nsw.)  mit  religiösen  Gesetzen  zusammenhingen. 
Der  König  kam  dieser  Bitte  nach  und  willigte  auf  eine  provi- 
sorische Erhaltimg  der  Rabbinergerichte  ein.  Dafür  wurden 
aber  sämtUche  Bitten  um  die  Gewährung  von  Gleichberechtigung 
bis  zum  Jahre  1812  konsequent  abgelehnt.  Das  preußische 
Märzedikt  über  die  Emanzipation  gab  den  bayerischen  Juden 
neuen  Mut.  Die  Gemeinden  von  München  und  Bamberg  wandten 
sich  an  den  König  mit  Petitionen,  in  denen  sie  ihn  um  die 
Emanzipierung  ihrer  ,, Glaubensgenossen"  im  ganzen  König- 
reiche auf  Grundlage  des  Prinzips  „der  gleichen  Rechte  imd  der 
gleichen  Pflichten**  baten.  Die  Bittsteller  beriefen  sich  auf  die 
Beschlüsse  des  Pariser  Synhedrions,  um  zu  beweisen,  daß  die 
jüdische  Religion  ihre  Anhänger  durchaus  nicht  hindere,  gute 
Bürger  zu  sein,  und  auf  die  bereits  in  Frankreich,  Holland, 
Westfalen,  Großherzogtum  Frankfurt  und  schließlich  Preußen 
erfolgte  Emanzipation. 

Alle  diese  hartnäckigen  Bitten  zwangen  endlich  die  Regierung 
von  Bayern,  ein  neues  Gesetz  für  die  Juden  zu  erlassen  (10.  Juni 
1813).  Dieses  Gesetz  brachte  aber  den  Kämpfern  für  die  Emanzi- 
pation eine  schwere  Enttäuschung:  die  Juden  erhielten  statt 
Freiheit  nur  die  alte  Elnechtung  in  neuer  Aufmachung.  Das 
Edikt,  das  iij  seiner  Einleitung  von  der  „vollen  Gewissens- 
freiheit'* spricht,  bringt  in  seinen  vierunddreißig  Paragraphen 
etwas  ganz  Entgegengesetztes.  Das  neue  Gesetz  ließ  die  beiden 
Grimdpf eiler  der  alten  Rechtlosigkeit  in  Kiait:  das  schmäh- 
liche „Schutzjudentum",  d.  h.  das  Recht,  nur  auf  Grund  eines 
eigenen,  recht  kostspieligen  Privilegiums  zu  wohnen,  und  die 
Normierung  der  jüdischen  Bevölkerung.  Jede  jüdische  Familie, 
die  sich  vor  1813  mit  gesetzlicher  Erlaubnis  in  Bayern  nieder- 
gelassen hatte,  mußte  eine  eigene  sogenannte  „Matrikel"  be- 
sitzen, die  ihr  das  Wohnrecht  in  der  betreffenden  Stadt  gewährte 
und  vom  Vater  auf  den  ältesten  Sohn  vererbt  wurde.  Der  älteste 
Sohn  hatte  das  Recht,  eine  Famihe  zu  gründen,  die  übrigen 
Söhne  mußten  aber  auf  eine  Matrikelvakanz,  d.  h.  auf  den  Tod 
oder  die  Auswanderung  irgendeiner  Familie  warten,  ehe  sie  eine 
eigene  Familie  gründen  durften;  ausnahmsweise  wurde  eine 
solche  Genehmigung  beim  Kaufe  einer  neuen  Matrikel,  die  bis 

224 


zu  tausend  Gvdden  kostete,  erteilt.  Der  Zweck  der  neuen  Re- 
glementierung ist  in  §  12  des  Edikts  unverhüllt  angegeben: 
,,Die  Zahl  der  Judenfamilien  an  den  Orten,  wo  sie  dermahlen 
bestellen,  darf  in  der  Regel  nicht  vermehrt,  soU  vielmehr  nach 
und  nach  vermindert  werden,  wenn  sie  zu  groß  ist."  Das 
Ideal  der  allmähhchen  Verminderung  der  Judenheit  wurde, 
außer  durch  die  direkte  Normierung,  auch  noch  durch  ein  ganzes 
Netz  grausamer  Beschränkungen  in  der  Freizügigkeit  und  im 
Handel  angestrebt.  Die  Niederlassung  neuer  jüdischer  Kauf- 
leute im  Lande  war  unbedingt  verboten,  und  nur  Fabrikanten, 
Handwerker  und  Ackerbauer  konnten  vom  König  Matrikeln 
erhalten. 

So  reagierte  die  bayerische  Regierung  auf  die  „Forderung 
der  Zeit".  Sie  selbst  bezeichnete  das  neue  könighche  Edikt  als 
ein  Verbesserungs-  und  Erziehungsgesetz,  das  die  Juden  mittels 
Repressalien  erziehen  sollte,  um  sie  später  in  das  gelobte  Land 
der  Freiheit  einzuführen.  Die  Regierung  zeigte  aber  damit  nur, 
daß  sie  selbst  einer  politischen  Verbesserung  und  Erziehimg 
bedurfte.  Ein  bayerischer  Historiker  (Lerchenfeld)  weist  mit 
Recht  darauf  hin,  daß  die  Berufung  auf  die  „Gewissensfreiheit" 
an  der  Spitze  eines  solchen  Edikts  wie  ein  Hohn  klinge  .  .  . 
Das  neue  pharaonische  Gesetz  rief  in  den  jüdischen  Gemeinden 
Stürme  der  Entrüstung  hervor.  Die  Empörung  war  um  so  größer, 
als  das  gleiche  Gesetz  auch  der  Gemeindeautönomie  einen  harten 
Schlag  versetzte :  die  Regierung  verbot  von  neuem  das  Rabbiner- 
gericht, gleichsam  um  die  den  Juden  in  bezug  auf  die  Bürger- 
rechte erwiesenen  „Wohltaten"  zu  kompensieren.  Und  wieder 
kam  ein  Protest  aus  dem  alten  jüdischen  Fürth,  das  auf  sein 
Rabbinat,  seine  Gelehrten  und  seine  Lehr-  und  Wohltätigkeits- 
anstalten stolz  war,  „Schmerzlich  ist  uns  diese  Regel  (der 
Paragraph  von  der  angestrebten  Verminderung  der  Judenheit)," 
schrieben  die  Fürther  Gemeindeältesten  in  ihrer  Petition,  „theils 
um  deswillen,  weil  wir  bisher  im  Zuwachs  oder  Abnehmen  unse- 
rer Genossenschaft  ein  untrügliches  Anzeichen  von  Steigen  und 
Fallen  unseres  Wohlstandes  sowie  jenes  der  ganzen  Stadt 
beobachtet  haben,  mithin  wir  in  dem  Gebot  Eurer  Königlichen 
Majestät  den  Stillstand  unseres  Wohlstandes,  und  da  in  keinem 
Organismus  ein  anhaltender  Stillstand  möglich  ist,  sogar  den 
Untergang  unseres  Glückes  zu  erblicken  glauben;  andererseits 

xs    Dnbnow,  Geschichte  der  Juden  I  225 


können  wir  die  Betrübnis  nicht  verhehlen,  aus  dieser  Aller- 
höchsten Bestimmung  bei  der  gemeinen  Volksklasse  die  Miß- 
deutung einer  absoluten  Schädlichkeit  schöpfen,  Druck  und 
Verachtung  folgen  zu  sehen,"  Zum  Schluß  bittet  die  Fürther 
Gemeinde  um  die  Erhaltung  des  Instituts  des  Rabbinergerichts. 
Der  König  willfahrte  dieser  letzten  Bitte  ausnahmsweise  für 
Fürth  allein;  dem  Protest  gegen  das  pharaonische  Edikt  schenkte 
er  aber  sonst  nicht  die  geringste  Beachtung.  Das  schändliche 
bayerische  Gesetz  bheb  auch  während  der  ganzen  folgenden 
Epoche  der  Reaktion  in  Kraft. 

Die  Reformversuche  hatten  mehr  Erfolg  in  Mecklenburg, 
das  sich  gleichfalls  dem  Rheinbunde  angeschlossen  hatte  (1808). 
Sogar  derselbe  Großherzog  Friedrich  Franz  I.,  der  früher  am 
Prinzip  der  Normierung  der  jüdischen  Bevölkerung  festgehalten 
hatte  (§  2),  ließ  sich  von  der  französischen  Mode  umstimmen; 
aber  bei  seinen  Reformversuchen  hatte  er  einen  Kampf  mit  den 
judenfeindlichen  „Ständen"  im  Landtag  zu  bestehen.  Die  Ver- 
treter der  Mecklenburger  jüdischen  Gemeinden  überreichten  im 
Jahre  181 1  dem  Großherzog  eine  Petition  wegen  Gewährung 
von  Gleichberechtigung;  diese  Petition  wurde  dem  Landtag 
weitergegeben  unter  Beifügung  einer  Resolution  des  Groß- 
herzogs, die  dahin  ging,  daß  es  erwünscht  sei,  die  Juden  den 
anderen  Einwohnern  gleichzustellen,  um  die  gewissen  Übel,  die 
die  jüdischen  Untertanen  bei  ihrer  jetzigen  Lage  im  Staate  zu 
erdulden  haben,  zu  beseitigen.  Der  Landtag,  der  aus  Vertretern 
des  Adels  und  der  Katifmannschaft  bestand,  sprach  sich  zwar 
für  eine  Verbesserung  der  Lage  der  Juden  aus,  zweifelte  aber 
zugleich  an  der  Möglichkeit  einer  vollständigen  Emanzipation, 
die  ihre  eigenen  materiellen  Interessen  schädigen  könnte.  „Der 
freie  Jude",  sagten  die  Stände,  „wird  den  ihm  eigentümlichen 
Handelsgeist  zur  Verdrängung  aller  Handelschaft  der  Christen 
ausbilden."  Der  Landtag  schlug  daher  eine  Reihe  von  Bedin- 
gungen für  eine  allmähliche  Emanzipation  vor:  i.  Die  Juden 
müssen  auf  einige  „unwesenthche"  Eigentümlichkeiten  ihrer 
Religion,  zu  denen  die  Beobachtung  der  Sabbatruhe,  die  Speise- 
gesetze und  Ehegebräuche  zu  zählen  sind,  verzichten;  2,  die 
junge  Generation  muß  mittels  Zwangsunterrichts  in  deutschen 
Schulen  umerzogen  werden,  und  jeder  Vater  soll  nur  einen 
einzigen  Sohn  im   Handel   unterweisen   dürfen,    während   die 

226 


übrigen  Söhne  Handwerke,  Künste  oder  Landwirtschaft  zu  er- 
lernen haben  (Januar  1812).  Dieses  Projekt  einer  polizeilichen 
Reglementierung  des  Familien-  und  selbst  des  geistigen  I^ebens 
empörte  die  Mecklenburger  Juden.  Abgeordnete  der  Gemeinden 
wandten  sich  an  den  Rostocker  Theologieprofessor  Tychsen, 
den  greisen  Gelehrten  und  Kenner  der  hebräischen  Literatur, 
der  sich  viele  Jahre  lang  —  natürlich  ohne  jeden  Erfolg  —  um 
die  Verbreitung  des  Christentums  unter  den  Juden  bemüht 
hatte.  Sie  baten  Tychsen,  seinen  ganzen  Einfluß  auf  den  Groß- 
herzog geltend  zu  machen,  um  den  tückischen  Plan  des  Land- 
tags zu  vereiteln.  Der  Professor  kam  ihrer  Bitte  nach,  wenn 
auch  mit  einem  neuen  Hinweis  auf  seine  alte  Missionärweisheit, 
daß  die  Juden  ohne  Verzicht  auf  ihren  Talmud  und  Schulchan- 
Aruch  unmöglich  mit  den  Christen  zusammenleben  können. 
Der  Großherzog  war  auch  ohnehin  zu  Reformen  geneigt.  Die 
preußische  Emanzipation  von  1812  machte  ihm  Mut,  und  im 
Februar  1813  erließ  er  ein  Edikt,  das  nach  preußischem  Muster 
abgefaßt,  wenn  auch  nicht  unerhebüch  zugestutzt  war.  Die 
jüdischen  Familien,  die  bereits  „Schutzbriefe"  besaßen,  erhielten 
den  Rang  von  „Einländern"  imd  die  gleichen  Rechte  wie  die 
Christen,  wenn  auch  mit  gewissen  Einschränkungen.  Ihre  Kin- 
der, die  noch  keine  „Schutzbriefe"  besaßen,  mußten  von  der 
Regierung  eine  eigene  Konzession  für  den  „Einländer"titel 
erbitten,  die  sie  nur  auf  Grund  einer  eigenen  Bestätigung  über 
ihre  Rechtsfähigkeit  erhielten.  Alle  Berufe  und  Gewerbe  waren 
den  Juden  nun  freigestellt  mit  Ausnahme  des  Hausierhandels, 
den  sie  nur  auf  Grund  einer  eigenen  Genehmigung  betreiben 
durften.  Juden  konnten  in  den  Mihtär-  und  den  Magistrats- 
dienst, aber  nicht  in  den  Staatsdienst  aufgenommen  werden; 
dieser  letztere  würde  ihnen  vielleicht  mit  der  2^it  möglich  ge- 
macht werden.  Für  alle  diese  Vorrechte  mußten  die  Juden  auf 
das  Rabbinergericht  und  selbst  auf  ihre  Ehe-  und  Scheidungs- 
gesetze verzichten,  da  alle  diese  Akte  den  standesamtlichen 
Institutionen  unterlagen.  Mischehen  zwischen  Juden  und  Chri- 
sten wurden  gestattet,  doch  mit  der  Bedingung,  daß  die  Trau- 
ungen nach  christhchem  Ritus  vorgenommen  und  die  Kinder  in 
christlicher  Religion  erzogen  würden.  Selbst  diese  zugestutzte 
Emanzipation  mißfiel  den  Ständen,  und  in  den  Jahren  1812  bis 
1814,  als  die  jüdischen  Jünglinge  ihr  Blut  in  den  Befreiungs- 

T5*  227 


kriegen  vergossen,  bestürmten  Adel  und  Kaufmannschaft  den 
Großherzog  mit  Bittschriften,  in  denen  sie  ihn  um  die  Errettung 
des  Landes  von  der  jüdischen  „Gleichberechtigung"  anflehten. 
Ein  Gemisch  der  neuen  Emanzipationsbestrebungen  mit  den 
alten  Disziplinarmaßregeln  war  um  jene  Zeit  für  die  Juden- 
politik in  Baden  bezeichnend.  In  diesem  an  Frankreich  gren- 
zenden Großherzogtum,  wo  sich  auch  schon  vor  der  Napoleo- 
nischen Invasion  der  Einfluß  ausländischer  freier  Ideen  geltend 
machte,  siegte  während  der  Krise  von  1806  die  liberale  Rich- 
tung. Nach  der  Verfasstuig  von  1808  wurden  die  badischen 
Juden  aus  dem  Stande  der  „Erbpflichtigen"  in  die  Klasse  der 
„erbfreien  Staatsbürger"  versetzt;  um  aber  die  mit  diesem 
neuen  Stande  verbundenen  Rechte  zu  erhalten,  mußte  jeder 
einzelne  Jude  eine  Bestätigung  vorweisen,  daß  er  die  gleichen 
Erwerbsquellen  besitze,  wie  die  Christen,  d.  h.  daß  er  weder 
vom  Hausierhandel  noch  vom  Maklergeschäft  oder  Wucher  lebe. 
Vom  gleichen  Korrektions-  und  Disziplinargeist  war  auch  das 
Judenedikt  des  Großherzogs  Karl  Friedrich  vom  13.  Januar 
1809  diktiert.  Den  Juden  Badens  als  einem  ,, Religionsteil  des 
Landes"  wurde  das  „Gemeinde-  oder  Ortsbürgerrecht"  nur 
dann  verliehen,  wenn  sie  bürgerhche  Berufe  ausübten. 
Ausgeschlossen  waren  also  die  Hausierer,  Makler,  Leihhändler 
und  Viehhändler,  welch  letztere  einen  beträchtlichen  Teil  der 
badischen  Judenheit  ausmachten.  Außer  den  Wucherern  war 
also  die  ganze  jüdische  Masse,  die  vorwiegend  aus  kleinen  Händ- 
lern bestand  (das  Gesetz  bezeichnete  ihren  Beruf  verächtlich  mit 
„Nothandel")  zu  der  früheren  Rechtlosigkeit  verdammt.  Dafür 
sorgte  die  weise  Regierung  für  die  Umgestaltung  der  jüdischen 
„religiösen"  Gemeinden.  Die  französische  Konsistorialorgani- 
sation  bekam,  nach  Baden  verpflanzt,  folgende  Gestalt:  Jede 
Ortssynagoge  hat  ihren  eigenen  Rabbiner  und  tmtersteht  einer 
Bezirkssynagoge,  die  von  einem  Bezirksrabbiner  geleitet  wird, 
das  höchste  Verwaltimgsorgan  —  der  „Oberrat  der  Israeliten" — 
hat  seinen  Sitz  in  Karlsruhe  und  besteht  aus  acht  vom  Groß- 
herzog ernannten  geistlichen  Personen  und  Laien.  Der  Oberrat, 
an  dessen  Spitze  ein  Rabbiner  oder  gebildeter  Laie  steht,  setzt 
einheitliche  Normen  für  die  Gemeindeautonomie  fest  und  sorgt 
für  die  inneren  Reformen.  Im  Jahre  1812  wurde  dem  Oberrat 
ein  Regierungskommissar  beigeordnet,   ohne  dessen  Sanktion 

228 


die  Beschlüsse  des  Oberrats  keine  Kraft  hatten.  Dem  badischen 
Edikt  von  1809  lagen  zweifellos  viele  gute  Absichten  zugrunde, 
da  es  aber  vom  Geiste  der  Bevormundung  und  der  Einteilung 
der  Bürger  in  Klassen  durchdrungen  war,  war  es  durchaus 
nicht  der  Emanzipationsakt,  als  welcher  er  in  der  späteren 
Epoche  der  Reaktion  angesehen  wurde. 

§  35.  Die  neue  Literatur  und  die  neue  Schule.  Es  wurde 
schon  oben  darauf  hingewiesen,  daß  die  innere  kulturelle 
Krise  innerhalb  der  deutschen  Judenschaft  viel  schneller  und 
radikaler  vor  sich  ging  als  die  politische  Krise.  Die  fortschritt- 
liche jüdische  Gesellschaft  hatte  viel  zu  voreilig  den  Ballast  der 
alten  Kultur  —  zugleich  mit  den  abgestorbenen  Elementen  auch 
manche  lebenserhaltende  Prinzipien  der  Nation  über  Bord  ge- 
worfen, während  die  Regierungen  und  die  Völker  sich  viel 
schwerer  von  der  alten,  der  Judenemanzipation  feindlichen 
Gesellschaftsordnung  trennten.  Wo  aber  der  politische  Um- 
schwung sich  auch  in  der  I^age  der  Juden  als  volle  oder  teü- 
weise  Emanzipation  äußerte,  war  diese  nur  eine  zufällige  Neben- 
erscheinung bei  dem  rücksichtslosen  Abbruch  der  alten  Ord- 
nung. Alle  diese  Krisen  fanden  in  der  jüdischen  I^iteratur  jener 
Zeit,  die  mit  dem  schnellen  Tempo  des  I^ebens  nicht  Schritt 
halten  konnte,  nur  einen  schwachen  Widerhall. 

Das  Zeitalter  der  Revolution  und  Napoleons  mit  seinen  star- 
ken Erschütterungen  war  für  die  damals  noch  junge  und 
schwachentwickelte  jüdische  aufklärerische  I^iteratur  äußerst 
tmgünstig.  Unter  der  kulturellen  Krise  hatte  zuerst  die  Sprache 
der  Juden,  die  nationale  Form  ihrer  Literatur  zu  leiden.  Die 
Umgangssprache  der  großen  Volksmasse  —  der  „Jargon"  — 
wurde  im  Zeitalter  Mendelssohns  aus  der  Schule  und  Familie 
mit  allen  Mitteln  ausgerottet.  Das  vom  Mendelssohnschen  Kreise 
am  Vorabend  der  Revolution  unternommene  nationale  Werk  — 
die  Schaffung  einer  neuen  Literatur  in  einer  erneuerten  bib- 
lischen Sprache  —  ging  nur  recht  langsam  vor  sich  und  kam  in 
Deutschland^  bald  gänzlich  zum  Stillstand.  Die  Zeitschrift  des 
„Vereins  zur  Förderung  der  hebräischen  Sprache"  („Hameassef" 
Sammler)  erschien  bis  zum  Jahre  1790  mehr  oder  weniger 
regelmäßig,  dann  mit  großen  Unterbrechungen,  und  stellte  im 
Jahre  1797  ihr  Erscheinen  ein.  Der  letzte  Versuch,  das  Unter- 
nehmen zu  neuem  Leben  zu  erwecken,   wurde  im  Jahre  1809 

229 


gemacht;  aber  nach  zwei  Jahren  ging  die  Zeitschrift  wieder  und 
endgültig  ein;  während  dieser  Zeit  wechselte  der  Verlagsort 
dreimal:  sie  erschien  in  Berlin,  Königsberg  und  Breslau.  Die 
Ursache  dieses  Verfalls  war  recht  einfach :  die  nationale  Sprache 
schwand  schnell  aus  dem  I^iteratur-  und  Schulgebrauch  der 
„aufgeklärten"  Juden,  die  in  der  deutschen  Schule  und  deut- 
schen Literatur  erzogen  waren;  die  Reihen  der  Freunde  der 
hebräischen  Sprache  lichteten  sich  immer  mehr,  und  der 
..Hameassef",  dem  neue  literarische  Kräfte  und  ein  wachsender 
Leserkreis  fehlten,  erstarrte  in  seiner  elementar-erzieherischen 
Richtung,  siechte  dahin  und  ging  schließlich  ein.  Der  Redakteur, 
Schalom  Kohen,  der  im  Jahre  i8oq  den  letzten  Versuch,  den 
,, Hameassef"  zu  neuem  Leben  zu  erwecken,  machte,  beklagt 
sich  bitter:  „Mit  betrübtem  Herzen  sahen  wir  den  Verfall  unserer 
heiligen  Sprache,  die  immer  mehr  dahinsiecht.  Von  Tag  zu  Tag 
wird  die  Zahl  ihrer  Freunde  kleiner  .  .  .  Gibt  es  denn  gar  keine 
Hoffnung,  ihre  Bedeutung  zu  heben  und  den  Völkern  ihre 
Schönheit  zu  offenbaren?"  Es  zeigte  sich  aber,  daß  nicht  nur 
die  „Völker",  sondern  auch  das  einzige  Volk,  für  das  die  ,, heilige 
Sprache"  einen  Kulturwert  darstellen  sollte,  im  damaligen 
Deutschland  nicht  das  geringste  Interesse  für  sie  hatten.  Das 
hebräische  Organ  mußte  einem  solchen  in  deutscher  Sprache 
weichen. 

Im  Jahre  1806  begann  in  Dessau,  der  Geburtsstadt  Mendels- 
sohns, die  Monatsschrift  (später  Zweimonatsschrift)  „Sulamith, 
eine  Zeitschrift  zur  Beförderung  4er  Kultur  und  Humanität 
unter  der  jüdischen  Nation",  zu  erscheinen.  Der  ständige 
Herausgeber  war  David  Fränkel,  Direktor  der  jüdischen 
Schulen  im  Herzogtum  Anhalt-Dessau  und  vorübergehend  Mit- 
glied des  Jacobsonschen  Konsistoriums  im  Königreiche  West- 
falen. Diese  Zeitschrift,  die  im  AugenbHck  der  Einberufung  der 
Notabein  zu  Paris  entstanden  war,  wurde  zu  einem  Sprachrohr 
dieser  Versammlung  und  des  Sjmhedrions,  das  später  an  die 
Stelle  der  Notabeinversammlung  trat.  Die  Ideale  der  „Kultur 
und  Humanität"  äußerten  sich  in  der  Praxis  in  der  doppelten 
Losung:  Assimilation  und  Emanzipation.  In  der  ersten  Zeit 
kamen  die  Assimilationsbestrebungen  in  der  Zeitschrift  nur 
recht  gemäßigt  zum  Ausdruck;  je  tiefer  aber  die  französische 
Emanzipation  nach  Deutschland  drang,  um  so  radikaler  wurde 

230 


diese  Richtung.  Nach  dem  Jahre  1807  verschwanden  vom  Titel 
die  Worte:  „unter  der  jüdischen  Nation"  und  machten  der 
neuen  Formel:  „unter  den  Israeliten"  Platz.  In  den  Jahren  1808 
bis  1812  war  die  Zeitschrift  ein  Organ  Israel  Jacobsons  und  des 
westfälischen  Konsistoriums  (§  33),  dem  auch  der  Herausgeber 
angehörte.  Zu  den  Mitarbeitern  der  „Sulamith"  gehörten  auch 
David  Friedländer  und  die  späteren  Vorkämpfer  der  religiösen 
Reform  (Salomon,  Klee,  Jolsohn  u.  a.).  Was  den  Inhalt  und  die 
literarische  Form  betrifft,  so  stellte  die  ,, Sulamith"  einen  be- 
deutenden Fortschritt  gegenüber  dem  elementaren  „Meassef" 
dar;  die  neue  Generation  kehrte  aber  auch  dem  deutschen  Organ 
ebenso  den  Rücken  wie  seinem  hebräischen  Vorgänger:  sie 
hatte  nicht  nur  ihre  Sprache,  sondern  auch  jedes  Interesse  für 
jüdische  I^iteratur  in  beliebiger  Sprache  verloren. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  deutsche  Judenschaft  während 
der  ganzen  Übergangsperiode  der  „ersten  Emanzipation"  keinen 
einzigen  bedeutenden  Schriftsteller  geliefert  hat.  Literaten  zwei- 
ten Ranges,  die  sämtlich  vergessen  wurden,  gruppierten  sich  um 
die  genannten  Zeitschriften.  Die  literarischen  Arbeiten  David 
Friedländers  hatten  nur  einen  vorübergehenden  agitatorischen 
Wert  im  Zusammenhange  mit  seiner  politischen  Tätigkeit; 
Lazarus  Bendavid  (§31)  beschäftigte  sich  mit  der  Kantischen 
Philosophie  und  widmete  dem  Judentume  nur  einige  belanglose 
Broschüren.  Die  Quellen  jüdischer  schöpferischer  Arbeit  schie- 
nen in  dieser  Übergangszeit,  als  in  den  Reihen  der  assimilierten 
Intelligenz  radikale  Zerstörungssucht  tobte,  versiegt.  Und  die 
orthodoxe  Masse,  die  vom  Auflösungsprozeß  noch  nicht  berührt 
war,  blieb  starr  in  ihrer  Angst  um  die  Zukunft,  ohnmächtig  mit 
ihren  morschen  Waffen  gegen  den  Ansturm  neuer  historischer 
Elemente  zu  kämpfen. 

Der  Kosmopolitismus  des  2^italters  der  Revolution  riß  in 
seinem  Strome  alles  Freigeistige  des  damaligen  Judentums  mit. 
Zum  Dogma  des  Fortschritts  wurde  die  Abschaffung  aller 
Scheidewände  zwischen  den  Nationen  und  die  Verschmelzung 
aller  Volkstypen,  denn  alle  diese  kulturhistorischen  Einteüungen 
erschienen  der  oberflächlichen  Anschauung  jener  Zeit  ebenso 
willkürlich  und  künstlich  wie  die  sozialen  Teilungen  —  die 
Folgen  des  Absolutismus  und  der  Klassenherrschaft.  In  der 
Praxis  ging  aber  der  jüdische  Kosmopolitismus  nur  auf  die 

231 


Negierung  der  jüdischen  Nationalität  hinaus,  denn  das  andere 
Dogma  dieses  Zeitalters  —  die  Assimilation  —  trieb  die  Juden 
in  den  Kreis  der  nationalen  Interessen  ihrer  Wirtsvölker  und 
machte  sie  zu  deutschen,  französischen  imd  sonstigen  Patrioten. 
Gar  nicht  leicht  fiel  den  Juden  der  Eingang  in  die  deutsche 
Gesellschaft,  in  der  die  judenfeindlichen  Vorurteile  noch  nicht 
verschwunden  waren;  die  Eindringlinge  waren  oft  Beleidigungen 
und  Erniedrigungen  ausgesetzt.  So  entstand  die  sklavenwürdige 
Gewohnheit,  unter  Christen  seine  Zugehörigkeit  zum  Judentum 
zu  verheimlichen,  lyudwig  Börne,  der  an  der  Heidelberger 
Universität  studierte,  schrieb  1807  der  Henriette  Herz:  „Es 
studieren  einige  Juden  hier  von  guter  Familie,  es  ist  aber  merk- 
würdig, wie  ängsthch  es  diese  Menschen  zu  verbergen  suchen, 
daß  ihr  Ahnherr  gehinkt  hat.  Man  sieht  nie  zwei  Juden  mit- 
einander gehen  oder  auch  nur  sprechen."  Der  Historiker  Jost, 
der  im  Jahre  1813  zu  Göttingen  Vorlesungen  hörte,  berichtet, 
daß  seine  jüdischen  Kollegen  an  der  Schwelle  der  Taufe  standen. 
In  seiner  „Neueren  Geschichte  der  Israeliten"  weist  er  auf  die 
damalige  ,, Gefallsucht"  der  Juden  gegenüber  den  Christen  hin, 
die  ihnen  oft  Spott  und  Beleidigungen  zuzog.  Die  Blicke  des 
gebildeten  Juden  waren  nur  nach  außen  gerichtet:  er  war  be- 
strebt, sich  vor  der  Umwelt  zu  rechtfertigen  und  seine  Geistes- 
verwandtschaft mit  ihr  und  seine  Losgerissenheit  von  der  alten 
jüdischen  Welt,  die  für  ihn  ein  Symbol  des  Todes  und  der  I^eere 
war,  zu  bezeugen. 

Die  deutsche  Schule  —  die  niedere,  mittlere  und  höhere, 
nach  der  die  jüdische  Jugend  jener  Zeit  strebte,  wirkte  im 
hohen  Grade  assimilierend.  Nicht  weniger  assimilierend  war 
auch  die  neue,  nach  deutschem  Muster  zugeschnittene  jüdische 
Schule.  In  der  Berliner  ,, Freischule",  deren  Direktor  ab  1806 
der  Philosoph  Bendavid  war,  und  in  der  Jacobsonschen  Schule 
zu  Seesen,  wo  die  jüdischen  und  christlichen  Kinder  zusammen 
erzogen  wurden,  war  der  ganze  Unterricht  auf  die  Germani- 
sierung der  jüdischen  Kinder  gerichtet*).  Die  Breslauer  ,, Wil- 
helmsschule", die  1791  auf  Initiative  der  Regierung,  aber  auf 


*)  Im  Bericht  der  „Freischule"  für  das  Jahr  1815  wird  mit  Genugtuung  auf 
den  gemeinsamen  Unterricht  hingewiesen,  der  die  Annäherung  der  Juden  an 
die  Christen  garantiere;  im  gleichen  Jahre  erfolgte  aber  der  neue  Ausbruch 
des  Judenhasses  in  Deutschland. 

232 


Kosten  der  jüdischen  Gemeinde  gegründet  war,  bildete  die 
Quelle  immerwährender  Streitigkeiten  zwischen  den  Orthodoxen 
und  den  „Aufgeklärten":  die  ersteren  sahen  in  der  neuen  Schule 
den  Untergang  des  Judentums,  die  letzteren  —  die  Rettung 
und  Wiedergeburt.  Der  gleiche  Geist  herrschte  auch  im  Frank- 
furter „Philantropoin"  (§  33)  und  in  den  anderen  ,, Normal- 
schulen", die  Zuchtstätten  für  „Deutsche  jüdischen  Glaubens" 
bildeten. 

Der  kulturelle  Umschwung  unter  den  deutschen  Juden  hing 
nicht  nur  mit  den  politischen  und  ideellen  Krisen  des  damaligen 
Deutschlands,  sondern  auch  mit  dem  tiefgehenden  wirtschaft- 
lichen Umschwung  im  jüdischen  lieben  zusammen.  Teils  unter 
dem  Einfluß  der  Emanzipationsbewegung,  teils  unter  dem  der 
wirtschafthchen  Erschütterungen  des  Napoelonischen  Zeitalters, 
hörte  der  Handel  auf,  die  einzige  Form  der  v^drtschaftlichen 
Betätigung  der  Juden  zu  sein;  neben  dem  Handel  kamen  auch 
Fabrikindustrie,  Handwerk  und  freie  Berufe  auf.  Nach  den 
letzteren  strebte  besonders  die  in  den  deutschen  Schulen  er- 
zogene jüdische  Jugend.  Im  Napoleonischen  Zeitalter  standen 
ihr  weite  Perspektiven  des  staatHchen  und  öffentlichen  Dienstes 
offen,  der  ihnen  an  manchen  Orten  (Westfalen)  bereits  zugäng- 
hch  gemacht  war,  an  anderen  (z.  B.  in  Preußen)  in  Aussicht 
gestellt  wurde.  Diese  Berufe  oder  die  Vorbereitung  zu  den- 
selben trugen  am  meisten  zur  Germanisierung  der  jüdischen 
Intelligenz  bei,  die  sich  jede  Mühe  gab,  ihre  volle  bürgerliche 
und  politische  Rechtsfähigkeit  zu  beweisen. 


233 


Viertes  Kapitel 
Die  Stabilität  der  alten  Ordnung  in  Österreich-Ungarn 

§  36.  Allgemeine  Politik.  Am  standhaftesten  erwies  sich  gegen 
den  Ansturm  der  Revolution  die  österreichische  Monarchie, 
Nach  dem  Tode  Josefs  II.  (1790)  machte  der  „aufgeklärte" 
Absolutismus  dem  alten  klerikalen  Absolutismus  Platz.  Das 
wiederhergestellte  alte  Regime  lastete  schwer  auf  dem  Lande 
mit  der  bunt  zusammengesetzten  Bevölkerung,  der  etwa  eine 
halbe  Million  Juden  angehörte.  Die  Erschütterung  der  „Throne 
und  Altare"  in  den  Jahren  der  iranzösischen  Revolution  ver- 
stärkte nur  den  Widerstand  der  Stützpfeiler  der  alten  Ordnung 
gegen  alle  Reformen.  Die  Napoleonischen  Kriege,  die  die 
Grenzgebiete  der  Monarchie  stark  mitgenommen  hatten,  be- 
rührten das  Zentrum  des  Staates  nicht,  imd  das  Jahr  1806, 
das  vorübergehend  die  Schicksal  Deutschlands  änderte,  brachte 
Österreich  nur  eine  moralische  Erniedrigung,  indem  es  dem 
Kaiser  die  Krone  des  „Heiligen  Römischen  Reiches"  und  den 
Titel  des  Oberhauptes  der  deutschen  Nation  nahm.  Aber  den 
frormnen  Habsburgischen  I^anden  wurde  keine  fremdländische 
Verfassung  aufgezwungen. 

Inbezug  auf  die  Größe  der  jüdischen  Bevölkerung  nahm 
Österreich  um  jene  Zeit  die  zweite  Stelle  neben  Rußland  ein. 
Die  jüdische  Bevölkerung  war  in  Wien  und  in  Deutsch- Öster- 
reich spärHch,  in  den  slawischen  und  ungarischen  Ländern 
aber  um  so  dichter:  in  Böhmen  und  Mähren  betrug  sie  (nach 
der  Volkszählung  von  1803)  76  000,  in  Galizien  295  000,  in  Un- 
garn mit  Slawonien  und  Triest  85  000  Seelen.  Diese  drei  Gebiete 
bildeten  die  Ansiedlungszone  für  die  Juden;  in  den  übrigen 
Ländern  wurden  sie  nur  als  vorübergehende  Bewohner  ange- 
sehen. Die  eigentümliche  Stellung  der  Juden  außerhalb  jeder 
Staatsbürgerlichkeit  wurde  in  den  verschiedenen  Provinzen 
nach  verschiedenen  Systemen  reguliert.    Es  gab   drei  solche 

234 


Systeme:  i.  In  Wien  und  in  Deutsch- Österreich  erhielten  einige 
wenige  privilegierte  Juden,  vorwiegend  die  Vertreter  des  Groß- 
kapitals, eine  Konzession  für  das  Wohnen  und  Handeln  unter 
bestimmten  Bedingungen;  2.  in  Böhmen  und  Mähren  gestattete 
das  Gesetz  das  Wohnrecht  nur  solchen  jüdischen  Familien, 
die  einer  festgesetzten  Norm  entsprachen,  über  die  hinaus  die 
Vermehrung  verboten  war;  3.  in  Galizien  und  Ungarn  war 
der  jüdischen  Masse  die  natürliche  Vermehrung  nicht  untersagt, 
aber  ihr  ganzes  I^ben  wurde  durch  eine  eigene  beschränkende 
Gesetzgebung  reguliert,  die  von  zentralen  oder  lokalen  Regie- 
rungsorganen ausging.  Zu  der  empfindlichen  Beschränkung 
in  den  persönlichen  und  bürgerlichen  Rechten  gesellte  sich  auch 
(besonders  in  Böhmen  und  GaUzien)  eine  rohe  Einmischung  in 
das  innere  I>ben  der  Juden  zwecks  ihrer  Entnationalisierung,  — 
ein  Erbe  der  vom  „Toleranzedikt"  begründeten  Politik  (vgl. 
oben  §5). 

Als  der  Schöpfer  des  Edikts,  Josef  II.,  gestorben  war,  ver- 
suchten die  österreichischen  Klerikalen  die  Abschaffung  dieses 
Staatsaktes  mit  der  ihnen  verhaßten  Devise  der  ,, Toleranz" 
zu  erwirken.  Die  katholischen  Bischöfe  wandten  sich  an  den 
neuen  Kaiser  Leopold  II.  (1790  -92)  mit  einer  Beschwerde  über 
die  tolerante  Behandlung  der  NichtkathoHken  während  der 
letzten  Regierung,  insbesondere  über  die  Zulassung  von  Juden 
in  die  christlichen  Schulen,  die  zu  einem  Abfall  von  Christen 
zum  Judentume  führen  könnte.  Die  christliche  Geistlichkeit 
bemühte  sich  durchzusetzen,  daß  die  ,, Toleranz"  gegen  die 
Juden  nicht  als  ein  allgemeines  Gesetz  angesehen,  sondern  vom 
Ermessen  der  lokalen  Behörden  und  der  feudalen  Herren  ab- 
hängig gemacht  werde.  Die  Regierung  konnte  sich  aber  nicht 
entschließen,  die  Thronbesteigung  des  neuen  Kaisers  mit 
einem  Akte  der  Grausamkeit  zu  inaugurieren.  Der  Chef  der 
Hofkanzlei,  Graf  Kolowrat,  wies  in  seinem  Bericht  an  den 
Kaiser  darauf  hin,  daß  es  dem  Ansehen  der  Monarchie  schaden 
würde,  wenn  man  „von  der  mit  allgemeinem  Beifalle  des  Aus- 
landes eingeführten  Toleranz  absehen  und  einen  harten  Ge- 
wissenszwang einführen"  wollte.  Der  Staatsmann  mußte  seinem 
Monarchen  eine  so  einfache  Schulweisheit  erklären,  wie  „daß 
der  Zwang  gute  Christen  nicht  schaffet  und  höchstens  Heuchler 
erzeugt,  die  eine  Religion,  zu  der  sie  sich  gezwungener  Weise 

235 


öffentücli  bekennen  müssen,  im  geheimen  verhöhnen"»  Ivcopold  11. 
lehnte  das  Ersuchen  der  Klerikalen  ab.  Man  brauchte  übrigens 
das  Wort  „Toleranz"  gar  nicht  abzuschaffen,  da  man  doch  die 
Mögüchkeit  hatte,  diesem  Worte  einen  neuen  Inhalt  unterzu- 
schieben :  man  konnte  an  Stelle  der  Toleranz  gegen  alle  Juden 
die  Toleranz  gegen  bestimmte  Kategorien  von  Juden  setzen  und 
auf  diese  Weise  innerhalb  einer  Masse  von  Rechtlosen  ein  Häuf- 
lein Privilegierter  schaffen,  die  ihre  Privilegien  teuer  zu  bezahlen 
hätten.  Diese  Unterschiebung  wurde  während  der  folgenden 
langen  Regierungsperiode  Franz  I.  vollzogen  (1792 — 1835;  bis 
zum  Verluste  des  deutschen  Kaisertitels  im  Jahre  1806  nannte  er 
sich  Franz  II.). 

Über  dem  Haupte  dieses  Monarchen  zogen  die  größten  histo- 
rischen Stürme  hinweg :  das  Ungewitter  der  französischen  Revo- 
lution; das  Donnergetöse  der  Napoleonischen  Kriege,  die  ihm 
den  deutschen  Kaisertitel  und  einen  nicht  unbeträchthchen  Teil 
des  Reichsgebiets  nahmen;  dann  die  Restauration  und  die 
Reaktion;  das  gekrönte  Haupt  lernte  aber  dabei  gar  nichts. 
Kaiser  Franz  fürchtete  alle  „Neuerungen"  und  beklagte  sich  oft, 
daß  die  ganze  Welt  in  ihrem  Streben  nach  Verfassungen  verrückt 
sei.  Die  Angst  vor  den  Neuerungen  zwang  ihn,  selbst  solche 
Reformen,  deren  Notwendigkeit  er  selbst  einsah  aufzuschieben 
oder  sogar  ganz  zu  begraben.  In  seinen  Erlassen  äußerte  der 
Kaiser  mehr  als  einmal  den  Wunsch,  die  Lage  der  Juden  zu 
bessern,  handelte  aber  stets  im  entgegengesetzten  Sinne.  Im 
Jahre  1792  wurde  mit  seiner  Bewilhgung  in  Wien  ein  eigenes 
„Judenamt"  errichtet,  das  auf  die  in  die  Hauptstadt  kommen- 
den und  daselbst  wohnenden  Juden  aufzupassen,  ihre  Rechte 
nachzuprüfen  und  ihnen  Ausweise  für  das  Wohnen  tmd  für  die 
Abreise  usw.  auszustellen  hatte.  Durch  dieses  polizeiliche  Fege- 
feuer, eine  finstere  Hochburg  von  Beamtenwillkür  und  Korrup- 
tion, mußten  zwei  Generationen  rechtloser  Juden  hindurchgehen, 
die  das  Unglück  hatten,  in  die  für  sie  verbotene  Hauptstadt  zu 
geraten;  das  provisorisch  und  versuchsweise  errichtete  Judenamt 
erhielt  sich  über  ein  halbes  Jahrhtmdert  bis  zur  Revolution  von 
1848. 

Nach  den  Gesetzen  von  1790 — 1798  genossen  das  Wohnrecht 
in  Wien  nur  solche  Juden,  die  eine  bestimmte  Erwerbsquelle 
und  ein  Kapital  von  nicht  imter  8 — 10  000  Gulden  besaßen 

236 


und  ein  Zeugnis  über  ihren  tadellosen  „moralischen  Charakter" 
vorweisen  konnten.  Diese  Konzession  hieß  „Toleranz"  und  ko- 
stete ein  recht  hohes  „Toleranzgeld";  der  Besitzer  einer  Konzes- 
sion trug  den  Titel  „Tolerierter  Jude".  Im  Jahre  1804  gab  es 
in  Wien  nur  119  „tolerierte"  jüdische  Familien,  die  dem  Staate 
für  das  Wohnrecht  allein  den  Betrag  von  18000  Gulden  jähr- 
lich zahlten;  die  übigen  „nicht  tolerierten"  Juden  hielten  sich 
in  Wien  heimlich  auf  oder  mit  stillschweigender  Duldung  der 
Polizei,  die  sich  dafür  ordentlich  bezahlen  ließ.  Dieser  Druck 
wirkte  demoralisierend.  Die  privilegierten  reichen  Juden  sahen 
den  Zuzug  ihrer  ,, unlegalen"  Brüder  mit  Mißgunst  an,  und  es 
kam  sogar  vor,  daß  sie  die  Regierung  ersuchten,  den  Zuzug  „frem- 
der" Juden  durch  Repressalien  einzudämmen.  Die  Bankiers  und 
die  reichen  Kaufleute  bemühten  sich  um  die  Abschaffung  der 
Beschränkungen,  doch  nur  für  sich  selbst  und  für  die  Leute  ihres 
Kreises.  Die  Vertreter  der  Wiener  jüdischen  Gemeinde  richteten 
im  Jahre  1793  an  die  Hofkanzlei  eine  Petition,  die  u.  a.  folgende 
Bitten  enthielt:  Die  ,,Bolletentaxe",  die  in  Wien  von  durch- 
reisenden Juden  für  jeden  Tag  ihres  Aufenthaltes  erhoben  wurde, 
sei  abzuschaffen,  da  sie  eine  indirekte  Wiedereinführung  des 
schon  abgeschafften  ,, Leibzolles"  bedeute;  die  ,, Hochzeitstaxen" 
sollen  in  gleichem  Maße  für  die  Juden  wie  für  die  Christen  sein; 
die  Notwendigkeit  der  Anwesenheit  eines  Polizeikommissars  bei 
den  Trauungen  solle  aufgehoben  werden;  „bei  amtlichen  Zu- 
stellungen an  einen  Israeliten  sei  die  Bezeichnung  ,Jude'  weg- 
zulassen, und  die  Aufschrift  am  Judenamte :  ,Für  Juden,  Sessel- 
träger  und  Fiaker*  abzuändern".  Neben  diesen  bescheidenen 
Bitten  enthielt  die  Petition  auch  zwei  für  jene  Zeit  äußerst  küh- 
ne Forderungen:  „Die  Juden  sollen  zu  Staatsämtern  zugelassen 
werden"  und:  „Verordnungen  in  Judensachen  sollen  nicht  ohne 
Mitwissen  der  Vertreter  erlassen  werden."  Auf  diese  Petition 
bekamen  die  Ältesten  von  der  Hofkanzlei  eine  entsprechende 
Antwort.  Die  BoUetentaxe  könne  nicht  abgeschafft  werden,  da 
sie  die  Bestimmung  habe,  die  „Beamten  im  Judenamte  zu  sala- 
rieren", also  ein  Polizeiinstitut  zu  unterhalten,  das  über  die 
Rechtlosigkeit  der  Juden  wachte  und  sie  auf  jede  Weise  drang- 
salierte. Die  Trauungstaxe  unter  dem  Titel  ,, Schleiertaxe"  sei 
gleichfalls  notwendig;  offenbar  als  Entgelt  für  den  Schaden,  den 
die  Vermehrung  der  Juden  verursacht;  der  Polizeikommissar 

237 


aber  müsse  den  Trauungen  zwecks  Kontrolle  beiwohnen.  Die 
Hofkanzlei  sei  bereit,  die  Bezeichnung  „Jude"  in  amtlichen  Zu- 
stellungen wegzulassen,  die  Aufschrift  am  Judenamte  müßte  aber 
bleiben.  Weiter  will  die  Hofkanzlei  gerne  anerkennen,  daß  das 
Gesetz  kein  Verbot  enthalte,  die  Juden,  ,, deren  Jugend  in  allen 
wissenschaftlichen  Fächern  gründliche  Kenntnisse  sich  zu  er- 
werben beflissen  ist,  in  den  Staatsdienst  aufzunehmen" ;  dies  lasse 
sich  aber  nicht  machen,  „teils  weil  die  Juden  wegen  ihrer  Reli- 
gionsgebräuche in  vielen  Ämtern  nicht  verwendet  werden,  teils 
würde  man  dadurch  von  Juden  überschwemmt  werden".  Die 
Bitte  der  Vertreter,  sie  zu  den  Beratungen  über  Judenangelegen- 
heiten zuzuziehen,  erfuhr  eine  sehr  barsche  Abweisung :  ,,Die  Re- 
gierung kann  wohl  Männer  zu  Rathe  ziehen,  doch  sei  ihr  dieses 
nicht  als  Pflicht  aufzutragen.  Die  Bitte  der  Vertreter  zeuge  über- 
dies von  Stolz  und  Unfolgsamkeit." 

So  weise  reagierte  die  Regierung  auf  die  Gesuche  um  die  Ver- 
besserung der  Lage  der  Juden.  Übrigens  ging  sie  auch  auf  die 
Bemühungen  der  Judenfeinde  um  die  Verschlechterung  dieser 
Lage  nicht  ein.  Im  Jahre  1794  lehnte  die  Hofkanzlei  einen  ano- 
nyiaen  Entwurf  ab,  welcher  empfahl,  von  jedem  in  Wien  tolerier- 
ten Juden  12  000  Gulden  als  Kaution  zu  erheben,  „damit  man 
die  Garantie  für  die  zu  bezahlende  Toleranzsteuer  habe".  Der 
Verfasser  dieses  Entwurfs  verknüpfte  merkwürdigerweise  diesen 
Rat  mit  Vorschls^en  für  eine  Reform  des  Judentums.  Die  Hof- 
kanzlei antwortete  ihm,  daß  „eine  bessere  Bildung  der  jüdischen 
Nation  und  dazu  die  Reinigung  ihrer  I^ehren  von  den  rabbini- 
schen  und  talmudischen  falschen  Sätzen  zwar  zu  wünschen 
wäre",  aber  nicht  durch  „Beschränkung  der  Toleranz"  angestrebt 
werden  dürfe;  die  Juden  selbst  „müssen  unter  sich  an  der  Ab- 
schaffung der  von  den  Rabbinern  in  den  Talmud  eingeschalteten, 
der  Lehre  Mosis  imd  dem  alten  Testamente  nicht  gleichförmigen 
Lehrsätze  arbeiten;  man  muß  alles  dieses  ihnen  selbst  und  den 
unter  ihnen  selbst  schon  entstandenen  vielen  Gelehrten  und  gut- 
denkenden philosophischen  Köpfen  überlassen". 

Die  Wiener  „Tolerierten  Juden"  stellten  eine  eigene  Klasse 
der  Bevölkerung  dar.  Dieser  Titel  kam  auch  in  den  offiziellen 
Urkunden  und  selbst  auf  Grabsteinen  vor;  man  kann  heute  noch 
auf  Grabsteinen  aus  jener  Zeit  lesen:  ,,Hier  ruht  der  Tolerierte 
Jude  Soundso."  Da  man  diese  „Toleranz"  um  Geld,  wenn  auch 

238 


w 


nicht  billig,  kaufen  konnte,  so  war  die  Nachfrs^e  nach  diesem 
Artikel  in  stetem  Steigen  begriffen.  Das  Anwachsen  der  jüdischen 
Bevölkerung  Wiens  machte  der  Regierung  Angst,  und  im  Jahre 
1802  erging  ein  kaiserliches  Dekret,  das  die  Ausstellung  weiterer 
Toleranzzeugnisse  untersagte.  Von  nun  an  war  es  ein  persönliches 
Vorrecht  des  Kaisers,  Juden  die  Niederlassung  in  Wien  zu  ge- 
statten, wovon  er  aber  nur  bei  Großkapitalisten  Gebrauch  machte. 
Später  wurde  entschieden,  daß  jedes  Familienhaupt  die  „Tole- 
ranz" nur  zeit  seines  Lebens  besitze,  und  daß  seine  Witwe  und 
Kinder  nach  seinem  Tode  das  Wohnrecht  in  Wien  verlieren.  Dies 
führte  zu  schrecklichen  Grausamkeiten  seitens  der  Polizei,  die 
mit  größter  Energie  die  Ausweisung  der  FamiHen  Verstorbener 
aus  der  Hauptstadt  betrieb.  Aber  auch  die  legalen  Einwohner 
verfügten  nicht  über  volle  Freiheit  in  Erwerb  und  Beruf.  Jüdi- 
sche Kaufleute  durften  weder  mit  Getreide  noch  mit  Salz  und 
verschiedenen  Lebensmitteln  handeln.  Der  jüdische  Arzt  durfte 
keine  Christen  kurieren.  Juden  hatten  nicht  das  Recht,  in  Wien 
Häuser  zu  bauen  oder  zu  kaufen.  Erst  im  Jahre  181 1  bekamen  sie 
mit  großer  Mühe  die  Erlaubnis,  ein  eigenes  Gebäude  für  ihre 
Synagoge  und  Schule  zu  errichten.  Außerdem  gab  es  viele  klein- 
liche Bestimmungen  in  klerikalem  Geiste.  An  katholischen  Fast- 
tagen durfte  bei  jüdischen  Hochzeiten  keine  Musik  gemacht 
werden,  und  selbst  die  „Purim"belustigungen  waren  verboten. 
Franz  I.  fand  bei  allen  seinen  Staatsgeschäften  immer  noch  Zeit, 
streng  darauf  zu  achten,  daß  solche  Verbote  nicht  übertreten 
wurden. 

Es  gab  einen  Moment,  wo  Kaiser  und  Regierung  große  Angst 
vor  denen  bekamen,  die  sie  so  schwer  bedrückten.  Es  war  in  den 
Jahren  1806 — 1807,  als  in  Paris  die  Versammlung  der  jüdischen 
Deputierten  und  das  „Große  Synhedrion"  tagten.  Als  der  Auf- 
ruf, der  die  jüdischen  Vertreter  aller  Länder  zur  Teilnahme  an 
den  Arbeiten  des  Synhedrions  einlud,  veröffentlicht  wurde,  be- 
kam die  österreichische  Regierung,  die  an  Franzosenscheu  litt, 
eine  Höllenangst.  Sie  erblickte  in  der  Einberufung  des  „jüdischen 
Parlamentes"  einen  politischen  Kunstgriff  Napoleons:  die  tücki- 
sche Absicht,  aus  den  Juden  aller  Länder  einen  Geheimbimd  zur 
Unterstützung  der  französischen  Politik  zu  bilden;  sie  fürchtete, 
daß  die  Juden  österieichs  diese  Gelegenheit  benützen  würden, 
um  sich  im  Bunde  mit  den  Eroberern  an  der  Regierung  für  ihre 

239 


Entrechtung  und  Erniedrigung  zu  rächen.  Nun  erließ  der  Chef 
der  Polizeihof  stelle,  Freiherr  von  Sumerau,  ein  Rundschreiben 
an  alle  Länderchefs  (17.  Oktober  1806),  in  dem  er  sie  auf  die  von 
Paris  ausgehende  Agitation  aufmerksam  machte  und  u.  a.  sagte : 
„Schon  ein  oberflächlicher  Blick  in  den  Gang  dieser  Angelegen- 
heit enthüllt  die  pohtische  Tendenz  derselben  und  läßt  Folgen 
von  der  höchsten  Wichtigkeit  für  alle  Staaten  ahnen,  in  welchen 
jenes  Volk  zerstreut  und  durch  Reichtum,  Verbindungen, 
Schlauheit  und  Zusammenhang  bedeutend  ist.  Die  gleiche  Tak- 
tik, durch  welche  Napoleon  der  Freimaurerei  eine  politische 
Richtung  gab,  und  aus  den  Mitgliedern  dieses  Ordens  in  so  man- 
chen fremden  Staaten  eine  geheime  Polizei  sich  bildete,  scheint 
auch  hier  nicht  bloß  zu  diesem,  sondern  zu  noch  höheren  Zwecken 
angewendet  zu  werden."  Der  Polizeichef  ersucht  daher  die  Be- 
hörden, alle  Maßregeln  zu  ergreifen,  um  eine  Verbindung  zwi- 
schen den  österreichischen  Juden  und  dem  jüdischen  Kongreß 
zu  Paris  zu  vereiteln.  Zu  diesem  Zwecke  müssen  sie  die  auslän- 
dische Korrespondenz  aller  Juden,  besonders  der  gebildeten, 
überwachen  und  aufpassen,  ob  nicht  irgendeine  Judengemeinde 
einen  Einladungsbrief  aus  Paris  bekommen  habe ;  außerdem  soll- 
ten die  Behörden  den  Juden  Reisepässe  nach  Paris  unbedingt 
verweigern  und  sie  dabei  aufklären,  zu  welchen  schweren  Folgen 
für  sie  selbst  und  für  ihr  Volk  eine  solche  Reise  führen  könnte. 
Die  österreichische  Polizei  fing  also  an,  scharf  aufzupassen  und 
nach  Wien  Berichte  zu  schicken,  die  teils  auf  richtigen  Beobach- 
tuilgen,  teils  auf  albernen  Gerüchten  beruhten.  Die  Polizei  von 
Böhmen,  Mähren  und  Galizien  gewann  aus  diesen  Beobachtungen 
den  Eindruck,  daß  die  dortigen  Juden,  als  streng  Orthodoxe  und 
Chassidim,  mit  dem  Pariser  Synhedrion,  das  das  Judentum  refor- 
mieren wolle,  nicht  sympathisierten.  Der  Wiener  Polizeichef  lie- 
ferte sogar  ein  „Dokument":  Eine  Liste  der  in  Wien  lebenden 
jüdischen  Familien  mit  Angabe,  welche  von  ihnen  die  religiösen 
Gebräuche  beobachten  und  koscheres  Fleisch  genießen,  und  in 
welchen  ein  freier  Geist  herrsche.  Die  Polizei  schnüffelte  mit 
großem  Eifer  in  den  Korrespondenzen.  Sie  berichtete  angsterfüllt, 
daß  der  eine  oder  andere  Jude  einen  Brief  mit  Nachrichten  über 
das  Synhedrion  erhalten  habe ;  solche  Briefe  wurden  nach  Durch- 
sicht den  Adressaten  übergeben,  die  letzteren  aber  einer  strengen 
Beobachtung  unterstellt.  Große  Sorge  machte  der  Regierung  die 

240 


fortschrittliche  jüdische  Gemeinde  von  Triest,  die  einzige  in 
Österreich,  die  mit  dem  Pariser  Synhedrion  sj^mpathisierte;  es 
wurde  angeordnet,  einen  jeden  Juden,  der  nach  Triest  aus  Paris 
kommen  würde,  zu  verhaften  und  peinlichst  zu  vernehmen.  Der 
österreichische  Botschafter  in  Paris  bekam  den  Auftrag,  ,,auf  die 
sich  dort  etwa  einfindenden  erbländischen  Juden  nach  Thunlich- 
keit  zu  invigiliren".  Freiherr  von  Sumerau  legte  alle  bei  ihm 
einlaufenden  Berichte  dem  Kaiser  vor,  und  beide  spannten  ihren 
ganzen  staatsmännischen  Geist  zum  Kampfe  mit  der  drohenden 
,, Gefahr"  an.  Der  Kaiser  sah  mit  Befriedigung  die  Abneigung 
der  konservativen  jüdischen  Kreise  gegen  die  Neuerungen  Napo- 
leons, aber  das  Häuflein  der  Aufgeklärten,  ,,die  sich  mehr  dem 
Deismus  nähern",  machte  ihm  Angst.  Die  feige  Furcht  der  Re- 
gierung steckte  auch  die  einflußreichen  Wiener  Juden  an.  Als 
der  reichste  unter  den  Gemeindevertretern,  Bernhard  Eskeles, 
vom  Sekretär  der  Pariser  Versammlung  einen  Aufruf  und  eine 
Einladung  zum  Synhedrion  erhielt,  beeilte  er  sich,  dies  dem 
Polizeichef  mitzuteilen.  Eskeles  hatte  sogar  die  Ehre,  von  Herrn 
von  Sumerau  persönlich  empfangen  zu  werden,  dem  er  verspre- 
chen mußte,  ihm  den  Inhalt  des  nach  Paris  abgehenden  Antwort- 
schreibens der  Wiener  Vertreter  zu  melden. 

Über  diese  lächerliche  Angst  des  Kaisers  und  der  Regierung 
von  Österreich  amüsierten  sich  wohl  nicht  wenig  solche  Juden, 
die  die  wahren  Absichten  Napoleons  bei  der  Einberufung  des 
Synhedrions  kannten.  Die  Angst  verflüchtigte  sich  übrigens  recht 
bald,  und  die  Regierung  fuhr  fort,  mit  den  Juden  nicht  viel 
Federlesens  zu  machen.  Derselbe  Franz  I.,  der  um  diese  Zeit 
vor  den  Juden  solchen  Respekt  hatte,  behandelte  sie  später 
nach  der  Niederwerfung  Napoleons  aufs  grausamste.  Selbst 
in  Paris,  wo  er  im  Jahre  1814  mit  den  verbündeten  Monarchen 
weilte,  vernachlässigte  er  in  keiner  Weise  seine  „internen 
Angelegenheiten".  Als  er  da  z.  B.  erfuhr,  daß  manche  Juden 
in  Umgehung  des  Gesetzes  in  Wien  Häuser  erwarben,  schickte 
er  einen  strengen  Befehl  an  den  Kanzler,  Maßregeln  gegen  diesen 
Unfug  zu  ergreifen.  Eben  dort,  im  Lande  der  großen  Revolution, 
regte  sich  Franz  I.  furchtbar  über  einen  Bericht  aus  Öster- 
reich auf,  der  ihm  meldete,  daß  die  Nichtkatholiken  sich  er- 
lauben, in  der  Fastenzeit  Bälle  und  Tanzvergnügen  abzuhalten; 
er  schickte  sofort  den  Befehl,  alle  derartigen  Belustigungen  ab- 

16    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  241 


zustellen.  Ein  segensreiches  Resultat  dieser  aus  Paris  erlassenen 
Verfügungen  war  daß  die  österreichische  Polizei  streng  auf- 
paßte, daß  die  Purimunterhaltungen  der  Juden  nicht  von  Chri- 
sten besucht  wurden. 

§  37.  Das  System  der  Normierung  und  Bevormundung  in 
Böhmen  und  Mähren.  Das  Konzessionssystem  der  „Toleranz**, 
das  für  die  Juden  Deutsch- Österreichs  außerhalb  ihrer  An- 
siedlungszone  bestand,  stellte  eine  vereinfachte  Form  der 
Rechtlosigkeit  dar.  Weit  komplizierter  war  das  System  der 
Normierung,  das  in  den  Kronländem  Böhmen  und  Mähren  an- 
gewandt wurde.  Hier  waren  noch  immer  die  alten  Normen  für 
die  jüdische  Bevölkerung  in  Kraft:  8600  Famüien  in  Böhmen 
imd  5400  in  Mähren.  Für  Böhmen  wurde  diese  alte  Norm  im 
Jahre  1789  neu  bestätigt.  Sie  wurde  sehr  streng  eingehalten 
und  bildete  eine  eiserne  Schranke  gegen  den  natürlichen  Zu- 
wachs der  Familie.  Das  Gesetz  der  österreichischen  Regierung 
kämpfte  gegen  das  biologische  Gesetz  der  Vermehrung.  Dabei 
wurde  ein  erprobtes  Kampfmittel  angewendet:  in  jeder  Familie 
durfte  nur  der  älteste  Sohn  heiraten,  und  seine  Familie  trat  an 
die  nach  dem  Tode  seiner  Eltern  frei  werdende  Stelle;  der  zweite 
Sohn  war  zur  Ehelosigkeit  oder  Auswanderuüg  verurteilt,  wenn 
er  nicht  zufällig  das  Glück  hatte,  daß  das  Haupt  einer  der  etat- 
mäßigen Familien  ohne  Nachkommenschaft  starb  und  auf  diese 
Weise  eine  sogenannte  „Familiennummer"  frei  wurde ;  die  überzäh- 
ligen Söhne  bekamen  das  Recht  zu  heiraten,  wenn  sie  freiwillig  in 
den  Militärdienst  traten  oder  sich  der  Landwirtschaft  widmeten. 
Aber  auch  die  Personen,  die  nach  der  Familienlage  oder  infolge 
besonderer  Verdienste  das  Recht  zu  heiraten  hatten,  konnten 
es  nur  unter  Beobachtung  folgender  Bedingungen  verwirklichen: 
Der  Bräutigam  durfte  nicht  unter  zweiundzwanzig  und  die  Braut 
nicht  unter  achtzehn  Jahre  alt  sein;  die  in  die  Ehe  Tretenden 
mußten  ein  Zeugnis  über  die  Absolvienmg  einer  Normalschule 
vorweisen;  sie  mußten  eine  solide  Erwerbsquelle  und  bares  Ver- 
mögen in  bestimmtem  Werte  besitzen;  endlich  bedurften  sie 
noch  einer  besonderen  Genehmigung  des  Kreisamts.  Diese 
gemeine  Gesetzgebung,  die  die  Jugend  in  „Familianten"  (die 
eine  „Familiennummer"  und  das  Recht  zu  heiraten  hatten) 
und  zu  Ehelosigkeit  oder  Konkubinat  Verurteilte  teilte,  be- 
drückte und  erniedrigte  die  böhmischen  Juden  aufs,  schwerste. 

242 


Dies  war  die  schändlichste  Form  jüdischer  Versklavung  zu  Be- 
ginn des  XIX.  Jahrhunderts. 

Die  österreichische  Regierung  normierte  nicht  nur  die  natür- 
liche Vermehrung,  sondern  auch  die  Erwerbsquellen^)  und  tat  es 
mit  den  ihr  eigenen  jesuitischen,  salbungsvollen  Redensarten 
vom  Wohle  derjenigen,  die  sie  zu  erdrosseln  suchte.  „Da  die 
öffentliche  Verwaltung  zum  Zwecke  nimmt,  die  Juden  zu  voll- 
kommen nützlichen  Bürgern  und  des  Schutzes,  den  ihnen  der 
Staat  gewährt,  würdig  zu  machen,  so  sind  ihnen  überhaupt  alle 
ehrbaren  Nahrungswege  eröffnet,  welche  den  christlichen  Unter- 
tanen gestattet  werden"  —  lautet  ein  Artikel  des  Reglements. 
Weiter  folgt  aber  eine  Reihe  von  Bestimmungen,  die  den  Sinn 
dieses  Paragraphen  gänzlich  zunichte  machen :  den  Juden  ist  es 
verboten,  nicht  nur  Branntweinschenken,  sondern  auch  Mühlen 
in  Pacht  zu  haben  und  mit  Getreide  und  Salz  zu  handeln;  es 
sind  ihnen  also  durchaus  ehrbare  Erwerbsquellen,  die  den 
Christen  gestattet  sind,  verboten.  Jüdische  Hausierer  in  Prag 
dürfen  nur  mit  alten  Kleidern  und  alten  Sachen  handeln;  auch 
das  wohl  der  ,, Ehrbarkeit"  wegen! 

Das  Wohnrecht  der  Judeh  in  Böhmen  war  auf  die  Orte  ihrer 
Zuständigkeit  beschränkt.  Eine  „nummerierte"  Familie  durfte 
an  einen  neuen  Ort  nur  mit  Genehmigung  der  Behörden  dieses 
letzteren  übersiedeln.  Im  Zentrum  der  böhmischen  Judenschaft, 
Prag,  wurde  selbst  beim  Umzug  aus  der  „Judenstadt"  in  einen 
,, christlichen"  Stadtteil  eine  eigene  Genehmigung,  die  übrigens 
sehr  selten  erteilt  wurde,  verlangt.  Die  Juden  tmterlagen  beson- 
deren Steuern  und  Abgaben,  deren  Höhe  von  der  Kostspielig- 
keit der  österreichischen  „Toleranz"  zeugt.  Das  böhmische  Re- 
glement vom  Jahre  1797  verkündete :  „Die  gesamte  Judenschaft 
soll  in  Ausübung  ihrer  väterlichen  Religioi  und  ihrer  angeerbten 
Gebräuche  durchaus  frei  und  ungehindert  sein";  in  die  Sprache 
der  Zahlen  übersetzt,  bedeutete  aber  diese  „Freiheit"  folgendes: 
Für  die  Errichtung  einer  neuen  Synagoge  war  eine  eigene  behörd- 
liche Genehmigung  notwendig,  die  1000  Gulden  einmalig  und 


*)  Hier  wie  im  folgenden  werden  die  Resultate  der  Gesetzgebung  des  ganzen 
Zeitalters  geschildert,  in  deren  Mittelpunkt  das  böhmische  Judenpatent  vom 
Jahre  1797  steht,  das  im  Vergleich  mit  den  früheren  Reglements  als  fortschritt- 
lich galt.  Das  gleiche  System  wurde  im  allgemeinen  auch  auf  die  Juden  Mährens 
angewandt. 


x6« 


243 


dann  loo  Gulden  jährlich  kostete;  mit  einer  entsprechenden  Ab- 
gabe waren  auch  die  Friedhöfe  belegt.  Das  Rabbinat,  die  jü- 
dische Schule  und  selbst  die  I^iteratur  —  die  rehgiöse  nicht  aus- 
genommen —  unterstanden  der  wachsamen  Aufsicht  der  christ- 
lichen Behörden.  Das  Rabbineramt  durften  nur  Personen  be- 
kleiden, die  über  deutsche  Bildung  verfügten;  im  Jahre  1798  er- 
ließ das  böhmische  „Gubernium"  eine  Verfügung,  daß  zum 
Rabbineramte  nur  solche  Personen  zugelassen  werden  dürfen, 
die  den  Kursus  „philosophischer  Wissenschaften,  natürlichen 
Rechtes  und  Ethik"  an  einer  österreichischen  Universität  absol- 
viert haben.  Der  Besuch  einer  deutschen  „Normalschule"  war 
für  alle  Knaben  und  Mädchen  obhgatorisch:  ohne  ein  Zeugnis 
über  die  Absolvierung  einer  solchen  Schule  konnte  niemand 
eine  Genehmigung  für  den  Eintritt  in  die  Ehe  bekommen. 
Andererseits  wurde  das  Talmudstudium  in  den  „Hausschulen" 
—  den  Chedarim  und  den  Jeschiboth  —  bekämpft.  Talmudunter- 
richt durfte  nur  ein  offiziell  bestätigter,  den  obenerwähnten  Be- 
dingungen entsprechender  Rabbiner  erteilen;  die  übrigen  Haus- 
lehrer („Melamdim")  durften  nur  die  hebräische  Sprache  und 
elementare  Glaubenslehre  unterrichten.  Zum  Talmudstudium 
wurden  nur  solche  Knaben  zugelassen,  die  ein  Zeugnis  über  die 
Absolvierung  einer  allgemeinen  deutschen  Schule  vorweisen 
konnten.  Diese  Einmischung  in  das  geistiiche  lieben  der  Juden 
äußerte  sich  auch  in  der  Zensur  der  hebräischen  Bücher.  Ein 
kaiserliches  Dekret  vom  Jahre  1811  verbot  beim  Gottesdienste 
wie  im  Hause  den  Gebrauch  aller  reHgiösen  Bücher,  die  nicht 
durch  die  österreichische  Zensur  gegangen  waren.  Einer  strengen 
Zensur  unterlagen  auch  die  Bücher  nichtreligiösen  Inhalts. 
Zum  Bezüge  hebräischer  Bücher  aus  dem  Auslande  brauchte 
man  jedesmal  eine  eigene  Genehmigung. 

Man  mußte  schon  sehr  eigentümliche  Begriffe  vom  Zusammen- 
hange zwischen  den  bürgerlichen  Pflichten  und  Rechten  haben, 
um  beim  Vorhandensein  einer  solchen  pharaonischen  Gesetz- 
gebung öffentlich  zu  verkünden  (in  den  Dekreten  von  1808  vmd 
1811):  „Da  die  Juden  gleiche  Vorteile  mit  den  christlichen 
Untertanen  genießen,  haben  sie  auch  mit  diesen  die  gemein- 
schaftlichen Pflichten  gegen  den  Staat."  Zur  Bestätigimg  der 
,,gememschaftlichen  Pflichten"  heißt  es  gleich  danach:  „In 
Steuersachen  bestehen  für  die  Juden  eigene  Vorschriften."  So 

244 


verfuhr  die  österreichische  Regierung  in  Böhmen  und  Mähren: 
einem  jeden  ihrer  grausamen  und  unmenschlichen  Ausnahme- 
gesetze schickte  sie  eine  Einleitung  über  Duldsamkeit  und  über 
ihre  väterUche  Sorge  um  das  Wohl  aller  Untertanen,  ohne  Unter- 
schied der  Rehgion,  voraus.  Mit  diesen  schönen,  durchaus  unver- 
bindlichen Redensarten  zollte  die  Regierung  ihren  Tribut  dein 
Geiste  der  Zeit,  gegen  den  sie  im  verbindlichen  Texte  der  Gesetze 
einen  erbitterten  Kampf  führte. 

§  38,  Die  Körrektionspolitik  in  Galizien.  In  dem  dicht  von 
Juden  bevölkerten  Galizien,  das  Österreich  nach  dem  Zer- 
falle Polens  erhalten  hatte^),  war  die  Einschränkung  der  jüdi- 
schen Bevölkerung  durch  Festsetzung  von  Normen  unmöghch; 
die  österreichische  Regierung  fand  aber  andere  Mittel,  die  Juden 
zu  drangsaheren,  natürlich  nur  um  sie  zu  „bessern".  Für  dieses 
Land  galt  eine  eigene  jüdische  Verfassung  —  das  „Toleranz- 
patent" Josefs  II.  vom  Jahre  1789,  zu  dem  später  zahlreiche 
Zusätze  und  „Novellen"  im  Geiste  der  vorhergehenden  Regie- 
rung hinzukamen.  Auch  hier  trägt  die  ihrem  Wesen  nach  re- 
pressive «gesetzgeberische  Akte  einen  wohlklingenden  Titel: 
„Patent,  kraft  dessen  den  Juden  alle  Rechte  und  Vorrechte  der 
übrigen  Untertanen  verliehen  werden."  Die ,, Gleichberechtigung" 
bestand  nur  darin,  daß  die  Juden  den  allgemeinen  städtischen 
Behörden  und  Gerichten  unterstellt  wurden,  dafür  war  ihnen 
aber  schon  früher  das  einzige  wertvolle  Erbe  der  polnischen  Zeit 
genommen  worden  —  die  weitgehende  Gemeindeautonomie,  die 
nun  aufs  äußerste  eingeengt  wurde.  Auch  das  wirtschaftliche 
Leben  wurde  einer  strengen  Reglementierung  unterworfen.  Die 
unter  den  Juden  besonders  verbreiteten  Berufe  —  die  Pacht 
landwirtschaftlicher  Unternehmungen,  Branntweinschenken, 
Brauereien  und  Mühlen  —  waren  ihnen  untersagt.  Grundbesitz 
auf  dem  Lande  durften  sie  nur  unter  der  Bedingung  erwerben, 
daß  sie  ihn  auch  selbst  bestellten.  In  Lemberg  war  die  Nieder- 
lassung neuer  jüdischer  Familien  untersagt,  und  die  altansässigen 
durften  nur  in  bestimmten  Vierteln  und  Vorstädten  wohnen. 


^)  Das  Gebiet  dieses  I^andes  wechselte  in  den  Jahren  1789 — 1815  mehrmals. 
Nach  der  dritten  Teilung  Polens  (1795)  bekam  Österreich,  das  vorher  schon 
Ostgalizien  besaß,  auch  Westgalizien  mit  der  Stadt  Krakau.  Im  Jahre  1809 
wurde  letzteres  von  Österreich  losgerissen  und  dem  Großherzogtum  Warschau 
angegliedert;  1815  fiel  es,  aber  wieder  an  Österreich  zurück  (vgl.  weiter  §44). 

245 


Alle  Juden  mußten  sich  zwecks  öffentlicher  Registrierung  Fa- 
miliennamen zulegen,  die  sie  bis  dahin  nicht  gehabt  hatten.  Die 
Ehen  unterlagen  einer  strengen  Kontrolle,  welche  mit  dem 
System  einer  zwangsmäßigen  offiziellen  „Aufklärung"  zusammen- 
hing; dieses  letztere  nahm  in  der  Korrektionspolitik  der  öster- 
reichischen Regierung  die  erste  Stelle  ein. 

In  der  ausgedehnten  Provinz,  wo  das  geistige  lieben  der  jüdi- 
schen Massen  vom  Rabbinismus  und  Chassidismus  beherrscht 
wurde,  wo  die  europäische  Aufklärung  den  Rechtgläubigen  als 
eine  feindliche  Macht  erschien,  welche  berufen  ist,  das  von  Jahr- 
hunderten geheihgte  I>ben  zu  vernichten,  und  wo  ein  freier 
Kampf  des  leichtes  gegen  die  Finsternis  so  notwendig  war,  wollte 
die  österreichiscne  Regierung  die  Aufklärung  zwangsweise 
betreiben,  wobei  sie  ihr  Bndziel  gar  nicht  verheimüchte :  die 
Schaffimg  eines  neuen  Judentums  mit  einem  Minimum  nationaler 
Kultur.  Mit  der  Durchfühnmg  dieser  Aufgabe  wurde  ein  Jude 
betraut,  der  aus  dem  Mendelssohnschen  Kreise  stammte  und  in 
der  Geschichte  der  österreichischen  Judenheit  eine  verhängnis- 
volle Rolle  spielte:  Herz  Homberg. 

Ein  Sohn  des  alten  böhmischen  Prag,  Zögling  einer  Talmud- 
schule, war  Homberg  während  seines  Aufenthaltes  in  Berlin  im 
Kreise  Moses  Mendelssohns  „sehend"  geworden.  Unter  dem  Ein- 
flüsse des  „Emile"  von  Rousseau  widmete  er  sich  der  pädago- 
gischen Tätigkeit.  Eine  Zeitlang  (1778 — 82)  unterrichtete  er  die 
Kinder  Mendelssohns;  er  beteiligte  sich  auch  an  der  Schaffung 
des  rationahstischen  Kommentars  (,,Biur")  zu  der  Mendelssohn- 
schen Bibel.  Die  Nachricht  vom  ,, Toleranzedikt"  und  den  auf- 
klärerischen Maßregeln  Josefs  II,  machte  Homberg  solche 
Freude,  daß  er  in  seine  Heimat  zurückkehrte,  um  an  den  von 
obenher  betriebenen  Reformen  teilzunehmen.  In  Wien  legte 
er  das  Universitätsexamen  in  Philosophie  ab  und  versuchte 
darauf  einen  I^hrstuhl  an  der  Prager  Universität  zu  bekommen; 
als  es  ihm  nicht  gelang,  als  Dozent  bestätigt  zu  werden,  stellte  er 
sich  der  Regierung  zur  Durchführung  der  jüdischen  Schulreform 
in  Gahzien  zur  Verfügung.  Homberg,  der  trockener  Rationalist 
und  dem  historischen  Judaismus  feindhch  gesinnt  war,  glaubte 
an  die  Möglichkeit  einer  vollständigen  Reformierung  des  Juden- 
tums mittels  einer  zwangsmäßigen  „Aufklärung",  und  der  ihm 
eigene  Strebergeist  sagte  ihm,  daß  es  viel  vorteilhafter  sei,  der 

246 


Regierung  als  dem  unterdrückten  Volke  zu  dienen.  Im  Jahre  1787 
wurde  Homberg  zum  „Oberaufseher"  der  neuen  jüdischen 
Schulen  ernannt,  die  er  in  Galizien  zu  gründen  hatte.  Er  kam 
nach  I^emberg,  wo  ihn  die  jüdische  Bevölkerung  als  einen  Frei- 
denker und  Regierungsagenten  äußerst  feindselig  empfing  (nie- 
mand wollte  ihm  eine  Wohnung  vermieten),  und  machte  sich  mit 
ungewöhnHchem  Eifer  ans  Werk.  Im  Laufe  von  vier  Jahren  grün- 
dete er  in  verschiedenen  Städten  GaHziens  an  die  hundert 
,, deutsch-jüdische"  Elementarschulen,  in  denen  das  jüdische 
Element  vom  deutschen  verdrängt  war,  und  warb  mit  großer 
Mühe  das  notwendige  Lehrpersonal  aus  der  damals  noch  recht 
kleinen  Gruppe  der  „Aufgeklärten"  an.  Zur  Heranbildung  von 
Lehrern  wurde  bald  darauf  in  Lemberg  ein  jüdisches  Lehrer- 
seminar gegründet.  Es  war  natürlich  sehr  schwer,  die  Cheder- 
kinder  in  die  offiziellen  Schulen  zu  bringen,  die  die  Bevölkerung 
für  Fabriken  zur  Herstellung  von  Abtrünnigen  und  Getauften 
hielt;  da  kam  aber  die  Regierung  zu  Hilfe:  das  „Patent"  des 
Jahres  1789  erklärte  den  Besuch  der  neuen  Schulen  für  obliga- 
torisch imd  untersagte  die  Zulassung  zum  Talmudstudium  in  den 
Chedarim  solchen  EÜndern,  die  keine  Bestätigung  über  die  Ab- 
solvierung der  „deutschen"  Schule  vorweisen  konnten;  ohne  die 
Bestätigung  über  den  Besuch  einer  solchen  Schule  oder  wenig- 
stens über  eine  zu  Hause  erworbene  deutsche  Bildung  konnten 
die  jungen  Leute  auch  keine  Ehe  eingehen. 

Die  Durchführung  dieses  Systems  zwangsmäßiger  Aufklärung 
mit  Unterstützung  der  lokalen  Behörden  war  die  Aufgabe  des 
Oberaufsehers  Homberg,  und  die  jüdische  Masse  begann  bald 
unter  dem  Drucke  des  unerbittHchen  jüdischen  Beamten  zu 
stöhnen.  Die  eifrigen  Agenten  der  Regierung,  Homberg  und  die 
ihm  unterstellten  Lehrer,  zertrümmerten  erbarmungslos  das  im 
Laufe  vieler  Jahrhunderte  aufgebaute  System  der  jüdischen  Er- 
ziehung, brachen  mit  polizeilicher  Willkür  in  das  geistige  Leben 
der  Massen  ein  und  verfolgten  die  Widerspenstigen.  Der  Name 
des  Oberaufsehers  der  Schulen  wurde  dem  Volke  noch  verhaßter, 
als  man  von  der  Mitwirkung  dieses  Beamten  bei  der  Einführung 
einer  neuen  Steuer,  nämlich  der  für  die  Sabbatkerzen,  erfuhr. 
Im  Jahre  1795  reichte  ein  Lemberger  Geschäftsmann,  namens 
Kofier,  der  Regierung  ein  Projekt  ein,  die  Kerzen,  die  die  jü- 
dischen   Frauen    nach    religiöser    Sitte    an    Vorabenden   von 

247 


Sabbaten  und  Feiertagen  entzünden,  zu  besteuern;  diese  Steuer, 
behauptete  Kofier,  würde  dem  Staate  eine  erhebliche  Einnahme 
bringen,  und  er  erklärte  sich  bereit,  den  Ertrag  der  Steuer  gegen 
eine  jährliche  Abgabe  von  200  000  Gulden  in  Pacht  zu  nehmen. 
Obwohl  diese  Bereicherung  der  Staatskasse  dem  Kaiser  Franz 
außerordentlich  verlockend  erschien,  konnte  er  sich  doch  nicht 
entschließen,  den  religiösen  Bedürfnissen  der  armen  jüdischen 
Masse  in  Galizien  eine  so  schwere  Last  aufzuerlegen,  und  die  Re- 
gierung wandte  sich  an  Homberg  mit  einer  Anfrage,  was  er  davon 
halte.  Homberg  antwortete,  daß  die  Sitte,  Kerzen  anzuzünden, 
keine  tiefen  Wurzeln  in  der  Religion  habe  und  daß  die  neue  Steuer 
die  Juden  nicht  sehr  schwer  treffen  werde.  So  wurde  im  Jahre 
1797  die  drückende  Kerzensteuer  eingeführt,  die  zu  großen 
Mißbräuchen  führte  und  auf  der  armen  jüdischen  Masse  Galiziens 
über  ein  halbes  Jahrhundert  lang  (bis  zum  Jahre  1848)  lastete. 
Man  war  allgemein  überzeugt,  daß  der  Dienst,  den  Homberg 
dem  geschickten  Steuerpächter  Kofier  geleistet  hatte,  nicht 
ganz  uneigennützig  gewesen  sei.  Bald  darauf  Hef  in  Wien  eine 
Reihe  von  Klagen  über  allerlei  Amtsmißbräuche  Hombergs  ein, 
und  er  mußte  in  die  Hauptstadt  kommen,  um  sich  vor  der  vor- 
gesetzten Behörde  zu  rechtfertigen.  Von  den  Feinden  verfolgt, 
verheß  er  schheßlich  Lemberg  und  zog  nach  Wien  (1801),  und 
einige  Jahre  sj)äter  (im  März  1806)  verfügte  ein  kaiserlicher 
Erlaß  die  Schließung  der  deutsch-jüdischen  Schulen  in  Galizien. 
Den  jüdischen  Kindern  wurde  gestattet,  allgemeine  Schulen  zu 
besuchen,  doch  mit  der  Bedingung,  daß  sie  auf  eigenen  Bänken, 
von  den  christlichen  Kindern  getrennt,  sitzen. 

Nachdem  Homberg  das  Amt  des  Oberaufsehers  verloren  hatte, 
wandte  er  sich  einem  neuen  Beruf  zu  und  begann  amtliche  Lehr- 
bücher für  die  jüdische  Jugend  zu  verfassen.  Vom  Jahre  1808  ab 
veröffentlichte  er  eine  Reihe  von  jüdischen  Katechismen  (, Jmre- 
schefer",  ,,Bne-Zion"  „Ben-jakir")  in  hebräischer  Sprache  mit 
parallelem  deutschem  Text.  Die  im  Geiste  eines  offiziellen  Pa- 
triotismus und  landläufiger  Moral  verfaßten  Lehrbücher  fanden 
Beifall  bei  der  österreichischen  Regierung,  als  ein  Mittel,  die 
Juden  zu  ,, bessern"  und  an  sklavischen  Gehorsam  zu  gewöhnen. 
Das  kaiserliche  Dekret  vom  14.  Dezember  1810  verordnete: 
I.  Die  Lehrbücher  Hombergs  an  allen  jüdischen  Schulen  einzu- 
führen; 2.  in  Galizien  und  Böhmen  nur  solchen  jungen  Leuten 

248 


beiderlei  Geschlechts  Ehebewilligungen  auszustellen,  die  eine 
eigene  Prüfung  aus  dem  Katechismus  „Bne-Zion"  bei  der  Elreis- 
polizeibehörde  abgelegt  haben.  Die  eigenartige  österreichische 
Ehegesetzgebung  erhielt  eine  neue  „Novelle":  Examen  bei  der 
Polizei  zur  Erlangung  des  Braut-  oder  Bräutigamtitels.  Diese 
Reform  wurde  während  des  ganzen  folgenden  Zeitalters  der 
Reaktion  (1815 — 48)  durchgeführt  und  hatte  zahlreiche  tragi- 
komische Episoden  zur  Folge. 

Zum  Zensor  für  die  hebräischen  Bücher  ernannt,  berauschte 
sich  Homberg  noch  mehr  an  seiner  Sendung,  das  Volk  mittels 
Polizeimaßregeln  zu  reformieren,  und  reichte  im  Jahre  181 1  d^r 
Regienmg  ein  Projekt  für  die  Säuberung  der  jüdischen  I^iteratur 
ein.  Nach  diesem  Projekt,  das  eher  einer  Denunziation  glich, 
sollte  die  Zensur  Werke  folgender  Art  verbieten:  „Alle  neuen 
Gebete,  außer  Krönungsgebeten;  kabalistische  Produkte;  Pre- 
digten, die  keine  erbaulichen  Volkslehren  enthalten  oder  mit 
talmudischen  Abhandlungen  verbunden  sind;  neue  Werke  tal- 
mudisch-rabbinischen  Inhalts,  woran  ohnedies  Überfluß  ist; 
Biographien  von  Rabbinern,  die  außer  im  Talmudfache  nichts 
geleistet  haben,  und  alle  Geschichten  von  Besessenen."  Homberg 
schlug  auch  vor,  einen  Kongreß  von  Rabbinern  aus  Böhmen, 
Mähren,  Ungarn  und  Galizien  einzuberufen,  um  die  Frage  der 
Entfernung  aller  für  NichtJuden  verletzenden  Stellen  aus  den 
talmudischen  und  gottesdienstlichen  Werken  zu  entscheiden. 
Homberg  selbst  stellte  für  die  österreichische  Zensurbehörde 
einen  Index  hebräischer  Bücher  zusammen,  die  er  vom  poli- 
tischen Standpunkte  aus  für  nicht  einwandfrei  hielt.  Zur  Be- 
lohnung für  alle  diese  Verdienste  ernannte  ihn  Kaiser  Franz  I. 
zum  Inspektor  der  jüdischen  Schulen  in  Böhmen  (1814),  woselbst 
dieser  Missionär  polizeüicher  Aufklärung  bis  zu  seinem  Tode 
(1841)  blieb. 

Die  „Aufklärungspflicht"  wurde  von  der  galizischen  Judenheit 
ebenso  ungern  getragen,  wie  die  ihnen  im  Jahre  1788  aufge- 
zwungene persönHche  Militärpflicht. '  Die  in  der  jüdischen  Masse 
durch  das  Gesetz  von  der  Militärpflicht  (§5)  hervorgerufene 
Erregung  hatte  sich  noch  nicht  gelegt.  Die  orthodoxe  Masse, 
die  im  neuen  Gesetz  ein  Todesurteil  für  ihre  Kinder,  für  ihre 
Religion  und  Sitten  sah,  konnte  sich  nicht  beruhigen;  sie  wandte 
sich  wie  an  den  himmlischen  so  auch  an  den  irdischen  Herrscher, 

249 


hielt  eigene  Bittgottesdienste  in  den  Synagogen  ab  und 
schickte  Deputationen  nach  Wien  mit  der  Bitte  um,  Aufhebung 
des  „Todesurteils".  Im  Jahre  1790  erhörte  die  Regierung  das 
Flehen  und  erlaubte  den  Juden,  an  Stelle  des  persönlichen 
Militärdienstes  eine  Rekrutensteuer  zu  zahlen,  aber  X804  wurde 
die  persönhche  Mihtärpflicht  wieder  eingesetzt.  Dies  geschah 
in  der  Zeit  der  Napoleonischen  Klriege,  und  die  rechtlosen  Juden 
Galiziens  hatten  gar  keinen  Grund,  ihr  Blut  für  den  Staat,  der 
sie  unterdrückte  und  erniedrigte,  zu  vergießen.  Viele  junge 
Männer  wanderten  nach  Rußland  und  anderen  Ländern  aus, 
andere  ersannen  Mittel,  das  Gesetz  zu  umgehen;  aber  im  öster- 
reichischen Heere  gab  es  doch  nicht  wenig  jüdische  Soldaten. 
Die  Behörde  erleichterte  ihnen  die  Mihtärpflicht  auf  die  Weise, 
daß  sie  sie  gewöhnlich  nicht  in  die  Frontformationen,  sondern 
ins  „Fuhrwesen"  einreihte. 

§  39.  Ungarn.  Die  ihrer  sozialen  Lage  imd  ihrem  kulturellen 
Zustande  nach  der  gahzischen  verwandte  imgarische  Judenschaft 
imterschied  sich  von  dieser  durch  einige  Eigentünüichkeiten  in 
rechthcher  Beziehung.  Die  ganze  jüdische  Bevölkerung  Ungarns 
hatte  die  schwere  „Toleranzsteuer"  zu  zahlen,  deren  Ertrag  eine 
Mühon  Gulden  überstieg.  Infolge  der  Eigentünüichkeiten  der 
ungarischen  Autonomie  und  feudalen  Ordnung,  hatten  die  Juden 
sehr  viele  Behörden  über  sich:  in  den  königlichen  Städten  wurden 
sie  von  den  Beamten  des  Palatins  (des  Erzherzog-Statthalters 
aus  kaiserlicher  Familie)  imd  von  den  Magistraten  bevormundet; 
auf  dem  flachen  Lande  —  von  den  Gutsbesitzern.  Die  Juden, 
die  in  großen  Massen  in  solchen  Zentren  wie  Preßburg,  Ofen  und 
Pest  lebten,  mußten  fortwährend  für  ihr  Wohnrecht  und  Ge- 
werbefreiheit gegen  das  Bestreben  der  Magistrate,  sie  auf  Grund 
des  alten  städtischen  Privüegs  „der  Nichtzulassung  von  Juden" 
(de  non  tolerandis  judaeis)  hinauszudrängen,  kämpfen.  Der 
Aufenthalt  in  Bergwerksbezirken  war  den  Juden  grundsätzlich 
verboten.  Der  Kleinhandel,  tmd  besonders  der  Hausierhandel, 
von  dem  die  armen  Juden  fast  ausschließHch  lebten,  imterlagen 
fortwährenden  Einschränkimgen  und  stellenweise  auch  Ver- 
boten. 

Der  Widerhall  der  Emanzipationsbewegung  imd  die  auf  die 
neue  Regierung  (Leopolds  II.)  gesetzten  Hoffnungen  riefen  in  der 
jüdischen  Bevölkerung  Ungarns  eine  Gärung  hervor.  Im  Jahre 

250 


1790  wandte  sie  sich  an  den  Kaiser  mit  einer  Petition,  die  recht- 
liche lyage  der  Juden  zu  verbessern.  Die  Petition  wurde  dem 
Ungarischen  Reichstag  übergeben  und  in  einer  eigenen  Kom- 
mission behandelt.  Es  kam  das  Gerücht  auf,  daß  der  Reichstag 
von  1791  geneigt  sei,  der  Bitte  nachzukommen,  unter  der  Be- 
dingung, daß  die  Juden  die  Bereitschaft  äußern,  ihre  Söhne  in 
der  aktiven  Militärdienst  zu  geben  (der  damals  für  die  unga- 
rischen Juden  nicht  obligatorisch  war).  Jüdische  Delegierte 
traten  in  der  Stadt  Rechnitz  zusammen  und  berieten  über  die 
Frage,  ob  man  diesen  Schritt  zur  Erlangung  der  Gunst  des 
Reichstags  unternehmen  solle.  Ein  Delegierter,  Naphtali 
Rosenthal,  trat  für  die  Notwendigkeit  ein,  die  MiHtärpflicht 
zwecks  Erlangung  von  Bürgerrechten  freiwillig  anzunehmen,  da 
die  Regierung  doch  sowieso  früher  oder  später  diese  Pfhcht  den 
ungarischen  Juden  auferlegen  werde.  Aber  der  populäre  Ver- 
treter der  Preßburger  Gemeinde,  Koppel  Täben,  sprach  sich 
gegen  die  freiwillige  Belastimg  des  Volkes  mit  der  schwersten 
der  Pflichten  aus,  und  seine  Ansicht  wurde  von  der  Mehrheit 
der  Versammltmg  gebilligt.  Wie  es  sich  bald  darauf  heraus- 
stellte, war  auch  der  Ungarische  Reichstag  noch  lange  nicht 
geneigt,  das  Opfer  der  Juden  anzunehmen.  Als  im  Reichstage 
die  Rede  auf  die  Heranziehung  der  Juden  zum  MiHtärdienst 
kam,  erklärte  der  Abgeordnete  Kardinalprimas  Batthyany  in 
großer  Erregung,  daß  die  Juden  der  Ehre,  unter  ungarischen 
Fahnen  zu  dienen,  gar  nicht  würdig  seien.  Der  Entwurf  der 
Reichstagskommission  zu  einer  partiellen  Erweiterung  der  Rechte 
der  Juden  kam  im  Reichstage  von  1792  gar  nicht  zur  Sprache, 
und  alles  bUeb  beim  alten. 

Die  neue  poHtische  Strömung  —  die  von  den  Eroberungen 
Napoleons  hervorgerufene  Freiheitsbewegung  —  trieb  auch  die 
ungarischen  Juden  auf  den  Weg  des  Kampfes  um  das  Recht. 
Im  Jahre  1807  übereichten  sie  dem  Reichstag  eine  Petition  wegen 
Gleichstellung  der  Juden  inbezug  auf  die  Rechte  mit  allen 
nichtadligen  Ständen,  doch  unter  Beibehaltung  ihrer  Gemeinde- 
autonomie; sie  ersuchten  femer,  die  Einteüung  der  Juden  nach 
Berufen  in  folgenden  Klassen  zu  legalisieren:  Ackerbauer,  Fa- 
brikanten, Handwerker,  Kaufleute,  Kleinbürger  und  Hausierer; 
die  letztere  vom  Gesetz  verfolgte  Kategorie  sollte  bis  zur  Ver- 
breitung des  Ackerbaues  imd  der  Fabrikindustrie  unter  den 

251 


Juden  geduldet  werden.  Die  Reichtagskommission  wollte  die 
Duldung  des  Hausierhandels,  der  den  Ladengeschäften  Kon- 
kurrenz machte,  nicht  genehmigen,  und  die  Juden  mußten  sich 
mit  ihrem  Gesuch  an  Franz  I.  wenden :  er  möchte  doch  den  Ruin 
der  armen  Masse,  die  von  dem  für  das  Land  so  nützlichen 
Hausierhandel  lebe,  nicht  zulassen. 

Während  die  Regierung  noch  schwankte,  ob  sie  den  vielen 
Tausenden  kleiner  Händler  ihr  tägliches  Brot  nehmen  solle, 
entschied  sie  ohne  jede  Schwankung  im  positiven  Sinne  die 
Frage  von  der  Heranziehung  der  ungarischen  Juden  zum  Mili- 
tärdienst (1807).  Und  gleichsam  zur  Verhöhnung  des  Prinzips 
der  Übereinstimmung  zwischen  den  bürgerlichen  Rechten  und 
Pflichten,  erhöhte  sie  um  die  gleiche  Zeit  um  50%  die  „Toleranz- 
steuer" —  das  S5mibol  der  Rechtlosigkeit  der  „Fremdstämmigen", 
denen  man  soeben  die  Pflicht,  das  Blut  für  das  Vaterland  zu 
vergießen,  auferlegt  hatte.  Im  Jahre  1811  erreichte  der  Gesamt- 
ertrag der  Toleranzsteuer  die  Summe  von  i  600  000  Gulden. 
Die  ungarischen  Juden  blieben  auch  von  amtlichen  „aufkläre- 
rischen" Experimenten  nicht  verschont,  die  hier  übrigens  in 
viel  bescheidenerem  Maße  betrieben  wurden  als  in  Galizien. 
Beim  Eintritt  in  die  Ehe  wurde  aber  ein  Zeugnis  über  die  Ab- 
solvierung einer  Normalschule  verlangt.  Die  Juden  mußten  ent- 
weder Mittel  zur  Umgehung  des  Gesetzes  ersinnen  oder  zum 
alterprobten  Mittel  dei  Bestechung  greifen. 

§40.  Der  kulturelle  Zustand.  Die  von  der  politischen  Be- 
wegung des  Revolutionszeitalters  nur  wenig  berührte  öster- 
reichische Judenheit  wurde  auch  von  der  kulturellen  Krise,  die 
im  geistigen  Leben  der  deutschen  Juden  solche  Verheerungen 
angerichtet  hatte,  wenig  in  Mitleidenschaft  gezogen.  In  Öster- 
reich bestanden  noch  immer  die  beiden  Grundpfeiler  der  alten 
Kultur:  der  Rabbinismus  und  der  Chassidismus,  von  denen 
der  erstere  in  Deutschland  endgültig  erschüttert,  der  letztere 
aber  gar  nicht  aufgekommen  war.  Der  Rabbinismus  herrschte 
noch  in  Böhmen,  Mähren  und  Ungarn,  wo  in  den  großen  Ge- 
meinden seine  hervorragenden  Vertreter,  die  Stützen  der  alten 
Rechtgläubigkeit  wirkten  (Jecheskel  Landau  und  dessen  Nach- 
folger in  Prag,  der  mährische  Landesrabbiner  Mordechai  Bennet 
in  Nikolsburg,  Moses  Sofer  in  Preßburg  u.  a.  m.).  In  Galizien 
hatte  sich  aber  der  Chassidismus  seit  dem  Ende  des  XVIII.  Jahr- 

252 


hunderts  über  immer  neue  Gebiete  ausgebreitet  und  fast  alle 
Gemeinden  erobert,  mit  Ausnahme  einiger  bedeutender  Zita- 
dellen des  Rabbinismus  (I^emberg,  Krakau  und  Brody).  Die 
Zaddikim  exaltierten  die  Massen  —  die  einen  durcli  ihre  „Wunder- 
werke", die  anderen  —  duirch  ihren  asketischen  und  heiligen 
lyebenswandel  (Elimelech  von  I^ysenzu  imd  dessen  Nachfolger, 
Wolf  von  Zbarz,  Mosche-I^ejb  von  Sassow  u.  a.  m.).  Um  1790 
tobte  in  den  Gemeinden  der  Kampf  um  die  Macht  zwischen  den 
Rabbinern  und  den  Zaddikim.  Der  bekannte  antichassidische 
Prediger  Israel  Leibel  war  nach  Galizien  aus  Litauen  um  die 
Zeit  gekommen  (1797 — 98),  als  in  Rußland  von  neuem  der 
Krieg  zwischen  den  Misnagdim  und  den  Chassidim  entbrannt 
war  (s.  weiter,  §52).  Hier  stieß  er  aber  auf  gut  organisierte 
Chassidim,  die  Leibels  Predigten  in  den  Synagogen  sprengten 
und  ihn  selbst  bei  der  Polizei  als  einen  gefährlichen  Agitator 
anzeigten.  In  den  ersten  Jahren  des  XIX.  Jahrhunderts  hatte 
sich  der  Kampf  zwischen  Rabbinismus  und  Chassidismus  etwas 
gelegt:  die  beiden  Gegner  witterten  die  Gefahr  seitens  des  ge- 
meinsamen Gegners  —  der  Aufklärung,  die  von  Menschen  vom 
Schlage  des  Herz  Homberg  und  mit  Unterstützung  der  Regie- 
rimg  verbreitet  wurde. 

Das  Bündius  der  Aufklärer  mit  der  österreichischen  Regierung, 
die  die  jüdische  Masse  unterdrückte,  kompromittierte  in  den 
Augen  der  letzteren  die  Idee  der  Aufklärung  selbst.  In  verzwei- 
felter Gegenwehr  gegen  die  neuen  „deutsch-jüdischen"  Schulen 
zeigte  die  Masse  selbstverständlich  viel  geistige  Zurückgeblieben- 
heit und  chassidischen  Obskurantismus,  zugleich  aber  auch 
einen  politischen  Protest,  denn  die  neuen  Schulen  wurden  ihr 
von  derselben  Regierung  aufgezwungen,  welche  die  pharaonischen 
Gesetze  gegen  die  Vermehrung  der  Juden  erließ  und  sie  in  der 
Hölle  der  Rechtlosigkeit  zu  schmachten  zwang.  Der  Haß  gegen 
die  offiziellen  Aufklärer  aus  dem  Kreise  Hombergs  traf  auch  die 
bescheidenen  Idealisten,  die  aufrichtig  für  die  Idee  einer  kultu- 
rellen Erneuerung  des  Judentums  schwärmten.  Solche  „Ketzer" 
wurden  verfolgt  und  aus  den  Familien  und  Gemeinden  hinaus- 
gedrängt, ihre  „schädlichen"  Bücher  aber  verbraimt.  Die  „Freun- 
de der  Aufklärung"  mußten  sich  in  verschiedenen  Städten  Ga- 
Uziens  zu  Geheimbünden  zusammenschließen,  wo  sie  Werke  von 
Lessing,  Mendelssohn  und  Schiller  lasen  und  sich  an  verbotenen 

253 


Früchten  delektierten :  den  naiven  Elaboraten  der  neuhebräischen 
I/iteratur,  deren  Organ  der  Berliner  „Hameassef"  (§  35)  war. 

Unter  solchen  Umständen  konnte  die  neue  hebräische  I^ite- 
ratur  keine  hervorragenden  Vertreter  in  Österreich  haben. 
Außer  Homberg,  der  sich  der  Herstellung  schlechter  amtlicher 
Lehrbücher  gewidmet  hatte,  wirkte  hier  ein  weit  bedeutenderer 
Schriftsteller  der  neuen  Schule  —  Jehuda  -  Leib  Ben  -  Seeb. 
Zu  Kjrakau  geboren,  hatte  sich  Ben-Seeb  schon  in  seiner  Heimat 
heimlich  mit  den  verbotenen  Wissenschaften  abgegeben;  nach- 
dem er  Berlin  tmd  Breslau  besucht  hatte,  trat  er  offen  als  Mit- 
arbeiter des  freigeistigen  „Hameassef"  hervor.  Er  machte  sich 
zur  Aufgabe,  ein  Werkzeug  zur  Wiedererweckung  der  vom  rab- 
binischen  Dialekt  verdrängten  hebräischen  literarischen  Sprache 
zu  schaffen.  Zu  diesem  Zwecke  verfaßte  er  zwei  gnmdlegende 
Werke:  eine  vollständige  Grammatik  der  hebräischen  Sprache 
(,  .Talmud  leschon  iuri",  Breslau,  1796)  und  ein  vollständiges 
Wörterbuch  dieser  Sprache  („Ozar  Haschoraschim",  Wien,  1807). 
Diese  Werke  bildeten  eine  notwendige  Ergänzung  zum  Bibel- 
kommentar der  Mendelssohnianer  und  verfolgten  den  gleichen 
Zweck:  der  neuen  Literatur  statt  des  Talmuds  die  Bibel  zugrunde 
zu  legen.  In  der  rationalistischen  Auslegung  der  Bibel  ging  Ben- 
Seeb  noch  viel  weiter  als  die  „Biuristen" :  er  hatte  den  Mut, 
als  erster  eine  „Einleitung  zur  Bibel"  („Meuo  lemikrae  kodesch", 
Wien,  1810)  zu  veröffentlichen,  die  einige,  natürlich  sehr  ge- 
mäßigte, dem  bekannten  deutschen  Orientalisten  Eichhorn  ent- 
lehnte Elemente  der  Bibelkritik  enthielt.  Ben-Seeb  verfaßte 
und  veröffentlichte  seine  Werke  zum  größten  Teil  in  Wien,  wo 
er  die  letzten  zehn  Jahre  seines  Lebens  als  Korrektor  an  der 
hebräischen  Druckerei  von  Schmid  wirkte.  Er  starb  zu  Wien 
im  Jahre  1811,  dreiundvierzig  Jahre  alt.  Das  Leben  in  der 
österreichischen  Hauptstadt,  ferne  von  den  galizischen  Obsku- 
ranten, gab  ihm  die  Möglichkeit,  ohne  Angst  vor  Veffolgtmgen 
zu  schreiben.  Und  doch  überfiel  ihn  zuweüen  eine  Angst  vor  den 
Vertretern  der  Orthodoxie.  Auf  die  Bitte  eines  seiner  galizischen 
Freunde,  in  der  Presse  mit  der  Entlarvung  des  Chassidismus 
hervorzutreten,  antwortete  Ben-Seeb  (1808),  daß  er  Angst  habe, 
die  Chassidim  anzugreifen,  weü  sie  aus  Rache  seine  Werke  in 
ganz  Galizien  verbrennen  könnten.  „Übrigens,"  fügte  er  hinzu, 
„müssen  wir  diesen  Heuchlern  dankbar  sein:  gäbe  es  sie  nicht, 

254 


so  würden  uns  die  Anhänger  des  Rabbinismus  das  Leben  noch 
saurer  machen.  Wenn  zwei  Diebe  streiten,  bekommt  der  an- 
ständige Mensch  das  Gestohlene  wieder.  Die  Chassidim  be- 
kämpfen die  Rabbinisten,  imd  die  Rabbinisten  die  Chassidim, 
zwischen  ihnen  tanzt  der  Teufel,  uns  aber  (die  Aufklärer)  läßt 
man  vorläufig  in  Ruhe  ..."  Bittere  Ohnmacht  klingt  aus  diesen 
Worten.  Viel  zu  schwach  waren  die  ersten  Pioniere  der  Auf- 
klärung unter  der  zurückgebUebenen  patriarchalischen  Masse 
der  österreichischen  Judenheit,  viel  zu  oberflächlich  war  auch 
das  System  der  Aufklärung.  Mit  der  Zeit  wird  sich  aber  die 
auf  die  kulturelle  Erneuerung  des  Volkes  gerichtete  Bewegung 
erweitem  und  vertiefen  und  ihr  Zusammenstoß  mit  den  alten 
Lebensformen  einen  mehr  dramatischen  Charakter  haben. 

Die  Berliner  Epidemie  der  Massentaufen  war  noch  nicht  nach 
Österreich  gedrungen.  Fälle  von  Renegatentum  häuften  sich 
nur  innerhalb  der  Wiener  jüdischen  Aristokratie,  die  mit 
großem  Eifer  Anschluß  an  die  christlichen  Kreise  suchte.  Die 
Assimilation  hatte  sich  in  diesen  aristokratischen  Häusern  fest 
eingenistet.  Zu  Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts  stand  in  Wien 
noch  der  vornehme  Salon  der  Fanny  Amstein  (§  5),  der  Gattin 
des  reichen  Nathan  Amstein,  dem  der  Kaiser  den  Barontitel 
verliehen  hatte,  in  Blüte.  Im  glänzenden  Salon  der  Baronin 
Arnstein,  die  vom  Judentume  offiziell  nicht  abgefallen  war, 
trafen  sich  die  Vertreter  der  jüdischen  und  der  christlichen  Ge- 
sellschaft Wiens;  hier  lernten  reiche  und  gebildete  Juden,  die 
aber  vom  Titel  „Tolerierte"  noch  nicht  befreit  waren,  öster- 
reichische Beamte,  Schriftsteller  und  Künstler  kennen.  In  der 
Zeit  der  Befreiungskriege  gegen  Napoleon  zeigte  die  Baronin 
Amstein  in  ihrer  philantropischen  Tätigkeit  einen  glühenden 
deutschen  Patriotismus.  Während  des  Wiener  Kongresses  sah 
ihr  Salon  zuweilen  die  diplomatischen  Vertreter  der  verschie- 
denen europäischen  Staaten. 


255 


Fünftes  Kapitel 
Das  jüdische  Polen  während  der  letzten  Teilungen 

§  41.  Die  jüdische  Frage  in  der  Literatur  des  Vierjährigen 
Reichstags.  Das  erste  Jahr  der  französischen  Revolution  war 
das  erste  Jahr  der  polnischen  Reform.  In  Paris  hatten  sich 
die  Generalstaaten  unter  dem  Drucke  der  freiheitlichen 
Bewegung  aus  einem  Ständeparlament  in  die  ständelose 
Nationalversammlung  verwandelt;  in  Warschau  war  der  neue 
Reformreichsts^,  der  der  „Vierjährige"  oder  der  „Große"  ge- 
nannt wird,  ein  streng  ständisches,  adhges  Institut  geblieben, 
aber  auch  auf  ihm  liegt  schon  ein  Stempel  der  französischen 
Ideen  des  XVIII.  Jahrhimderts.  An  die  Türe  des  Reichstags 
pochte  der  dritte  Stand  —  das  Kleinbürgertum,  das  Gleich- 
berechtigung forderte,  und  eine  der  wichtigsten  Reformen  des 
Reichstags  war  die  Gleichstellung  der  Bürger  mit  der  Szlachta 
in  bürgerlichen,  wenn  auch  nicht  in  politischen  Rechten.  Noch 
zwei  andere  wichtige  Fragen  der  inneren  Poütik  lenkten  die 
Aufmerksamkeit  der  Gesetzgeber  auf  sich:  die  Bauemfrage  und 
die  Judenfrage.  Die  erstere  kam  zur  Behandlung,  konnte  aber  vom 
adligen  Parlament  nicht  anders  als  im  Interesse  der  sklavenhal- 
tenden Gutsbesitzer  entschieden  werden.  Die  Judenfrage  aber 
tauchte  nur  ganz  flüchtig  im  Lärm  der  Sitzungen  des  Vierjährigen 
Reichstags  auf  imd  wurde  wie  ein  schwarzes  Gespenst  in  eine 
ferne  Ecke  der  Kammer,  in  eine  eigene  ,, Deputation"  oder 
Kommission  gedrängt,  wo  sie  auch  steckenblieb,  ohne  jemals 
zur  Entscheidung  zu  kommen.  Dieses  Resultat  darf  man  aber 
nicht  ausschließhch  dem  Konservativismus  der  Erneurer  Polens 
zuschreiben;  es  gab  noch  eiben  anderen  Grund,  der  den  radikalen 
Reformen  im  Wege  stand:  über  Polens  Haupt  hing  das  bloße 
Schwert  Rußlands,  welches  eine  innere  Erneuerung  dieses  Landes, 
das  nach  der  ersten  Teilung  als  zweiter  und  dritter  Gang  auf  die 
Tafel   der   Großmächte   kommen   sollte,   gar   nicht   wünschte. 

256 


Der  Reichstag  kämpfte  gegen  die  unerträgliche  Bevormundung 
durch  Rußland,  die  durch  den  russischen  Residenten  in  War- 
schau ausgeübt  wurde,  und  bereitete  das  I^and  zu  dem  unver- 
meidlichen Kriege  mit  dem  mächtigen  Nachbarn  vor.  Die  „im 
Reichstage  vertretenen  Stände"  hatten  sich  viel  mehr  um  die 
Reorganisierung  der  Armee  und  die  Stärkung  des  Kriegsfonds 
zu  kümmern,  als  um  die  inneren  Reformen. 

Draußen  tobte  imd  brandete  aber  das  öffentliche  lieben. 
Neben  der  gesetzgebenden  Versampilung  gab  es  auch  ein  lite- 
rarisches Parlament  —  die  berühmte  politische  „I^iteratur  des 
Vierjährigen  Reichstags",  die  die  liberalen  Strömungen  der 
Zeit  widerspiegelte.  Die  sogenannte  „Schmiede  Kollontais" 
die  pubHzistische  Kanzlei  der  Reformisten,  überschwemmte  das 
lyand  mit  Broschüren  und  Flugblättern,  die  alle  mit  der  Neu- 
ordnung der  Republik  zusammenhängenden  Fragen  behandelten. 
Dutzende  von  Broschüren  waren  ganz  oder  teilweise  der  Juden- 
frage gewidmet.  Die  Polemik  über  alle  Projekte  zu  der  „Juden- 
reform" wurde  hier  mit  großer  Leidenschaftlichkeit  geführt  und 
ersetzte  die  Debatten  im  Parlament. 

Den  ersten  Anstoß  zur  literarischen  Polemik  über  die  Juden- 
frage gab  eine  vom  Reichstagsabgeordneten  für  Pinsk,  Butri- 
mowicz,  dem  bedeutendsten  Kämpfer  für  die  Reformierung 
der  Judenheit  in  Polen,  veröffenthchte  Broschüre.  Sie  enthielt 
einen  Nachdruck  der  bekannten  Broschüre  des  „Namenlosen 
Bürgers",  die  in  zwei  Auflagen  —  1782  und  1785  —  verbreitet 
war  (§9).  Als  Butrimowicz  diese  Broschüre  im  Jahre  1789 
neu  herausgab,  versah  er  sie  mit  einem  neuen  Titel :  „Maßnahmen 
zur  Verwandlung  der  polnischen  Juden  in  für  das  Land  nützliche 
Bürger"  und  mit  eigenen  Anmerkungen.  Der  populäre  Reichs- 
tagsabgeordnete bestätigte  auf  diese  Weise  mit  seiner  Unter- 
schrift das  „Reformprojekt",  das  auf  dem  Prinzip  beruhte,  daß 
die  Juden  in  ihrem  jetzigen  Zustande  „für  den  Staat  schädlich" 
seien,  doch  nicht  ihrer  Natur  nach,  sondern  infolge  einer  eigenen 
Erziehung  und  Lebensgestaltung;  ehe  man  sie  in  den  Verband 
der  Bürger  aufnehmen  könne,  müsse  man  sie  daher  zunächst 
politisch  und  geistig  umerziehen.  Die  Reform  bestand  in  der 
Förderung  produktiver  Arbeit  —  des  Ackerbaues  und  des  Hand- 
werks —  unter  den  Juden,  in  ihrer  Fernhalttmg  vom  schädhchen 
Schankgewerbe ;  im  Kampfe  gegen  ihre  Abgeschlossenheit  mittels 

17    Dubnow,  Gescbichte  der  Juden  I  ^57 


Einschränkung  ihrer  Gememdeautonomie ;  in  der  Verdrängung 
ihres  „Jargons"  in  der  Schule  und  im  Geschäft  durch  die  pol- 
nische Sprache  und  im  Verbot  einer  eigenen  Kleidung  und  der 
Einfuhr  jüdischer  Bücher  aus  dem  Auslande.  Zu  diesem  Projekt 
„aufklärerischer"  Repressalien  fügte  Butrimowicz  noch  einen 
Punkt  hinzu:  die  Juden  dürfen  nicht  zum  persönHchen  Militär- 
dienst zugelassen  werden,  solange  sie  nicht  durch  die  Aufklärung 
in  Patrioten,  die  dem  Vaterlande  dienen  wollen,  verwandelt 
sind. 

Aber  auch  dieses  auf  dem  System  der  Bevormundung  imd 
Zv/angsassimilierung  begründete  Projekt  war  für  die  Mehrheit 
der  polnischen  Gesellschaft  viel  zu  Hberal.  In  einer  der  fort- 
schrittHchen  polnischen  Zeitschriften  erschienen  „Gedanken  über 
die  von  Butrimowicz  projektierte  jüdische  Reform"  (Dezember 
1789),  Der  Autor  der  „Gedanken"  findet  zwar,  daß  das  Projekt 
Butrimowiczs  Elemente  einer  ,, gesunden  Politik"  enthalte, 
macht  aber  dem  Verfasser  den  Vorwurf,  daß  er  ,,in  seiner  Sorge 
um  die  Erhaltung  der  Menschenrechte,  die  I^aster  der  Juden 
begünstige".  Der  anonyme  Journalist  fordert  die  gänzliche  Ab- 
schaffung der  Gemeindeautonomie  (nur  die  synagogale  Auto- 
nomie darf  erhalten  bleiben);  empfiehlt  ferner,  den  I^aden- 
handel  der  Juden  in  den  Städten  einzuschränken,  um  sie  aus  dem 
Handel  zum  Handwerk  imd  Ackerbau  zu  drängen.  Manche 
Publizisten  äußerten  sich  über  die  Juden  mit  einer  Schärfe, 
die  an  Judenhaß  grenzte.  Ein  demokratisch  gesinnter  Priester, 
der  berühmte  Staczic,  der  Verfasser  der  „Warnungen  an  die 
Polen"  nennt  die  Juden  „Sommer-  und  Winterheuschrecken 
für  das  I^and"  und  sagt,  daß  diese  „Schar  von  Schmarotzern" 
nur  in  einem  solchen  Lande  sich  hat  eiimisten  können,  wo  man 
jeden  Müßiggang  begünstige;  er  vergißt  aber  dabei,  daß  die 
„Schmarotzer"  in  diesem  Lande  der  Edelleute  und  Öauern  den 
ganzen  Handel  geschaffen  hatten.  Die  meisten  Ankläger  der 
Juden  waren  sich  darüber  einig,  daß  man  die  Fehler  dieser  Nation 
durch  eine  von  oben  her  betriebene  Reform  beseitigen  könne. 
Das  alte  historische  Volk  mit  seiner  Jahrhunderte  alten  Auto- 
nomie wurde  als  ein  Gesindel  angesehen,  das  man  nach  Belieben 
umformen  könne:  zu  diesem  Zwecke  brauche  man  nur  die  jü- 
dische Sprache  durch  die  polnische  zu  ersetzen  —  zuerst  in  den 
öff entheben  Akten,  dann  auch  im  Privatleben;  an  Stelle  der 

258 


Volksschule  eine  Staatsschule  setzen,  an  Stelle  des  „Kahals" 
den  Magistrat  und  an  Stelle  des  Handels  Ackerbau  und  Hand- 
werk. Die  Verfasser  der  verschiedenen  Projekte  gingen  nur  im 
Grade  der  Radikalität  und  der  Zwangsmäßigkeit  der  „Reformen" 
auseinander:  die  einen  wollten  die  Gemeindeautonomie  gänzlich 
abschaffen  (Kollontai),  die  anderen  wollten  sie  nur  auf  bestimmte 
Funktionen  beschränken  und  den  Kahal  der  Oberaufsicht  der 
Regierung  imterstellen  (Butrimowicz  u.  a.);  die  einen  machten 
den  Vorschlag,  den  Juden  Bart  und  Schläfenlocken  abzuschnei- 
den, den  Talmud  zu  verbrennen  und  die  Zahl  der  jüdischen 
P eiertage  zu  kürzen;  die  anderen  begnügten  sich  mit  dem  Verbot 
der  traditionellen  Kleidung,  mit  der  Schließung  der  jüdischen 
Druckereien  und  der  „Begünstigung  der  Übersetzung  der  jüdi 
sehen  religiösen  Bücher  in  die  polnische  Sprache";  die  Normie- 
rung der  jüdischen  Ehen  nach  österreichisch-preußischem  Muster 
(obrigkeitliche  Genehmigung  nach  Vorlage  von  Beweisen  über 
die  materielle  Lage  und  allgemeine  Büdung)  fand  aber  den  Bei- 
fall aller  Projektemacher.  Einige  Publizisten  vermengten  mit 
der  jüdischen  Frage  auch  die  Frage  von  den  ,,Neoph3rten",  d.  h. 
den  getatiften  Frankisten,  die  in  den  polnischen  Adel  und  das 
Bürgertum  Eingang  gefunden  hatten  sich  da  aber  fremd  fühlten 
und  ganz  isoliert  zwischen  der  christlichen  und  jüdischen  Gesell- 
schaft standen.  Die  Verfasser  biUigten  die  Verachtung  der  pol- 
nischen Gesellschaft  gegen  die  heuchlerischen  Neophyten,  die 
sich  von  der  Sekte  nicht  ganz  loggesagt  hatten  und  zu  Frank 
nach  dem  Auslande  pilgerten  oder  ihm  Geld  schickten. 

Gegen  den  Chor  der  Stimmen,  die  die  jüdische  Bevölkerung 
verurteilten  und  mittels  polizeilicher  Maßnahmen  „reformieren" 
wollten,  erhob  sich  nur  eine  einzige  jüdische  Stimme.  Der  Rab- 
biner von  Cholm,  Hersch  Josefowicz,  veröffentlichte  eine 
Broschüre  in  polnischer  Sprache:  „Gedanken  anläßlich  des 
Planes  der  Umwandlung  der  polnischen  Juden  in  für  den  Staat 
nützliche  Bürger."  Indem  er  das  aufgeklärte  Wohlwollen  Butri- 
mowiczs  anerkeimt,  gibt  der  Rabbiner  seinem  Erstaunen  dar- 
über Ausdruck,  daß  selbst  aufgeklärte  Menschen  die  Judenheit 
als  Ganzes  verdammen  und  die  Vergehen  einzelner  Personen 
dem  ganzen  Volke  zur  I^ast  legen,  dem  Volke,  welches  auch 
viele  Tugenden  hat  und  dem  Lande  Nutzen  bringt.  Der  Autor 
protestiert  aufs  Entschiedenste  gegen  die  vorgeschlagene  Ab- 

x7*  259 


Schaffung  des  Kahals  und  gegen  jede  Einmischung  in  die  geist- 
lichen Angelegenheiten  der  Juden,  überhaupt  gegen  alle  Projekte 
einer  Assimilierung,  die  „zu  einem  gänzHchen  Untergange  der 
Judenheit  führen  müsse".  Der  orthodoxe  Rabbiner  will  sogar 
von  der  Reformierung  der  Kleidung  nichts  hören  und  bemerkt 
nicht  ohne  Ironie :  solange  die  Juden  zur  Kategorie  der  schlechten 
Menschen  gerechnet  werden,  solle  man  ihnen  doch  ihre  tradi- 
tionelle Kleidimg  belassen,  welche  die  Möglichkeit  gibt,  sie  von 
den  Christen  zu  unterscheiden. 

In  jenen  Jahren  gab  es  in  Warschau  noch  keine  einflußreiche 
Gruppe  aufgekläiter  Mendelssohnianer  (sie  kamen  erst  in  den 
folgenden  Jahren  unter  preußischer  Herrschaft  auf),  die  sich  zu 
der  projektierten  Reform  auch  von  ihrem  Standpunkte  aus 
hätten  äußern  können.  Als  „aufgeklärt"  galten  damals  solche 
Juden,  die  durch  Finanzoperationen  und  Lieferungen  Be- 
ziehungen zum  Hofe  oder  zur  Regierung  hatten.  In  den  Archiven 
findet  sich  ein  Projekt,  das  einer  dieser  „Aufgeklärten",  der 
königliche  Faktor  Abraham  Hirschowicz,  dem  Könige 
Stanislaus-August  während  der  Tagung  des  Vierjährigen  Reichs- 
tages überreicht  hatte.  Der  Verfasser  bringt  einige  patentierte 
Mittel  der  polnischen  Reformatoren  in  Vorschlag:  die  Heran- 
ziehung der  Juden  zu  Handwerk  und  Ackerbau  („in  den  leeren 
Steppen  der  Ukraine")  xmd  das  Verbot  der  frühen  Ehen;  die 
Reform  in  der  Kleidung  empfiehlt  er  aber  mit  dem  Verbot  von 
jedem  Prunk  —  von  Seide,  AÜas,  Samt,  Perlen  und  Edelsteinen 
—  zu  beginnen,  weü  die  Putzsucht  die  mittleren  Klassen  ruiniere. 
Hirschowicz  empfiehlt,  Rabbiner  nur  in  den  großen  Städten 
aber  nicht  in  den  Marktflecken  einzusetzen :  in  den  Marktflecken 
kaufen  die  Rabbiner  ihre  Posten  von  den  Gutsbesitzern  und 
ruinieren  hernach  ihre  Gemeinden  durch  Erpressimgen.  Die 
Ordnimg  in  den  Kahals  müsse  von  der  Regierung  festgesetzt 
werden,  weÜ  die  Juden  selbst,  infolge  ihrer  Meinungsverschieden- 
heiten, „keine  vernünftige  Ordnung  einführen  können".  Der 
Entwurf  zeugt  von  Bereitwilligkeit,  sich  bei  der  „Ausrottung 
der  Vorurteile  und  falschen  Begriffe  des  verirrten  Volkes"  dem 
Willen  der  Machthaber  zu  fügen  . .  .  Um  jene  Zeit  durfte  man 
ja  auch  nicht  die  Stimme  eines  freien  Juden  erwarten/  der  den 
polnischen  Reformatoren  gesagt  hätte:  wenn  ihr  die  Juden  zu 
„nützlichen  Staatsbürgern"  machen  wollt,  müßt  ihr  es  zuerst 

260 


so  eintichten,  daß  der  Staat  für  die  Juden  im  gleichen  Maße 
nützlich  sei,  in  dem  er  es  für  die  anderen  ihn  bewohnenden 
Stamme  ist;  bürgerliche  Gleichberechtigung  und  Freiheit  sind 
die  einzigen  Mittel  zur  Besserung  eines  Volkes,  das  durch  jahr- 
hundertelange Ungleichheit  und  Unterdrückung  verkrüppelt 
ist.  Die  dem  Dogma  des  „aufgeklärten  Absolutismus"  treuen 
polnischen  Reformatoren  konnten  sich  aber  noch  nicht  zu  der 
einfachen  Wahrheit  erheben,  die  in  Paris  in  den  Jahren  der 
Revolution  ausgesprochen  wurde:  „Es  kann  keine  halbe  Freiheit 
geben,  ebenso  wie  es  keine  halbe  Gerechtigkeit  geben  kann!" 

§  42.  Die  Stimme  der  Straße  und  die  Reichstagskommission. 
Im  Jahre  1789  und  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  17^0 
kam  die  jüdische  Frage  in  den  Sitzungen  des  Vierjährigen  Reichs- 
tags nicht  zur  Sprache.  Bei  den  leidenschaftlichen  Debatten 
über  Gesetzesvorlagen  von  größter  Wichtigkeit,  von  denen 
die  ganze  Zukunft  der  polnischen  Republik  abhing,  schenkte 
der  Reichstag  den  mehrmaligen  Mahnungen  des  Pinsker  Ab- 
geordneten, Butrimowicz,  der  den  Vorschlag  machte,  die  jü- 
dische Reform  auf  die  Liste, der  dringendsten  Fragen  zu  setzen, 
gar  keine  Beachtung.  Auch  die  leidenschaftliche  literarische 
Polemik  über  die  jüdische  Frage  vermochte  die  Volksvertreter 
nicht  zu  bewegen,  die  Behandlung  dieser  Frage  zu  beschleunigen. 
Nun  drang  aber  in  die  Kammer  ein  unheükündendes  Geschrei 
von  dei  Straße   und  der  Reichstag  fuhr  auf. 

Der  Warschauer  Pöbel  hatte  eben  begonnen,  die  jüdische  Frage 
auf  eigene  Art  zu  lösen.  Für  die  christlichen  Händler  und  Hand- 
werker war  diese  Fr^e  in  erster  Linie  eine  Frage  der  Konkur- 
renz. Während  der  beiden  ersten  Jahre  des  Großen  Reichstags 
war  das  alte  (besetz,  das  den  Juden  den  Aufentlialt  in  dem  ihnen 
sonst  verbotenen  Warschau  nur  in  den  Jahrmarkts wochen  wäh- 
rend der  Reichstagstagungen  gestattete,  ganz  von  selbst  außer 
Kraft  getreten.  Da  der  Reichstag  seine  Vollmachten  auf  eine 
Reihe  von  Jahren  ausgedehnt  hatte,  hielten  sich  die  Juden  für 
berechtigt,  auch  ihren  Aufenthalt  in  Warschau  auszudehnen  . 
Aus  der  Provinz  kamen  auf  der  Suche  nach  Erwerb  immer  neue 
Massen  jüdischer  Kaufleute  und  Handwerker,  und  dieser  Zuzug 
wurde  für  die  Warschauer  Kleinbürger  recht  fühlbar:  die  Ein- 
dringlinge machten  die  Käufer  und  Kunden  den  eingeborenen 
Mitgh'edem  der  Warschauer  Gilden  und  Zünfte  abspenstig.  Das 

261 


privilegierte  Kleinbürgertum,  das  damals  in  den  Rechten  mit 
dem  Adel  gleichgestellt  werden  sollte,  empörte  sich.  Im  März 
1790  versammelte  sich  eine  Menge  von  Zunfthandwerkem,  vor- 
wiegend Schneider  imd  Kürschner,  vor  dem  Rathause  und 
begann  zu  schreien,  daß,  wenn  der  Magistrat  nicht  sofort  alle 
Juden  aus  Warschau  vertreibe,  sie,  die  Handwerker,  ein  Blutbad 
anrichten  würden.  Der  Bürgermeister,  Jan  Deckert,  der  bekannte 
Verfechter  der  Gleichberechtigung  des  Kleinbürgertums,  machte 
von  dieser  Demonstration  dem  Reichstag  Meldimg,  und  dieser 
schickte  zwei  Abgeordnete,  die  die  Menge  beruhigen  sollten.  Als 
die  Abgeordneten  nach  der  Ursache  der  Demonstration  fragten, 
antworteten  ihnen  die  Handwerker,  daß  die  zugereisten  Juden 
ihnen  das  lieben  verbitterten:  sie  brächten  die  einheimischen 
Schneider  und  Kürschner  um  den  letzten  Groschen.  Die  Abge- 
ordneten versprachen,  die  Sache  in  Ordnung  zu  bringen.  Am 
nächsten  Tage  vertneb  die  Behörde  tatsächlich  sämtHche  jüdi- 
schen Handwerker  und  kleinen  Straßenhändler  aus  Warschau 
und  ließ  nur  solche  Kaufleute  und  Gewerbetreibenden  zurück, 
die  eigene  Ladengeschäfte  oder  Warenniederlagen  besaßen. 

Die  vertriebenen  Bettler,  die  nirgends  Unterkunft  finden 
konnten,  kehrten  bald  heimlich  nach  Warschau  zurück.  Unter 
den  Christen  begann  eine  Gärung,  tmd  am  16.  Mai  1790  kam  es 
zu  einem  Pogrom.  An  diesem  Tage  begegnete  der  zur  Zunft 
gehörige  Schneider  Foks  auf  der  Straße  einem  jüdischen  Schnei- 
der mit  irgendeinem  Kleidimgsstück  in  der  Hand.  Er  fiel  übei 
ihn  her  und  versuchte  ihm  das  Bündel  zu  entreißen.  Der  Jude 
entwand  sich  aber  seinen  Händen  und  lief  davon.  Auf  das  Ge- 
schrei des  Foks  lief  eine  Menge  christlicher  Handwerker  zu- 
sammen. In  der  Menge  tauchte  das  falsche  Gerücht  auf,  daß  die 
Juden  einen  polrüschen  Schneider  umgebracht  hätten.  Es  er- 
scholl der  Ruf  nach  Rache  und  nach  einem  Pogrom.  Die  Christen 
stürzten  sich  in  dieTlomackistraße;  die  Juden  hatten  sich  aber 
hinter  einem  Zaune  verschanzt  und  wiesen  den  Angriff  zurück. 
In  den  benachbarten  Straßen  gewann  aber  der  Pöbel  die 
„Schlacht":  die  jüdischen  Wohnungen,  Läden  und  Geschäfte 
wurden  geplündert,  alle  Sachen  von  Wert  weggeschleppt,  alles 
Übrige  aber  in  die  Brunnen  geworfen.  Die  Stadtwache,  welche 
herbeigeeilt  kam,  wurde  mit  einem  Hagel  von  Steinen  und 
Scherben  empfangen.  Erst  einem  Kommando  von  Fußsoldaten 

262 


und  Berittenen  gelang  es,  die  Menge  zu  zerstreuen  und  die  Ord- 
nung wiederherzustellen.  Der  durch  diesen  Vorfall  aufgebrachte 
Reichstag  befahl,  die  Sache  zu  untersuchen  und  die  Schuldigen 
zu  bestrafen.  Die  Bestrafung  beschränkte  sich  auf  die  Ver- 
haftung des  Haupträdelsführers  Foks  und  einiger  seiner  Helfer. 
Gegen  die  Juden  aber  wurden  sehr  energische  Maßregeln  er- 
griffen: es  wurde  befohlen,  alle  jüdischen  Hausierer  und  Hand- 
werker, denen  man  auf  der  Straße  mit  Waren  oder  ihren  Erzeug- 
nissen in  der  Hand  begegnen  würde,  zu  verhaften,  auf  die  Haupt- 
wache zu  bringen,  mit  Ruten  zu  züchtigen  und  dann  auszu- 
weisen ...  So  verfuhr  man  mit  den  jüdischen  Handwerkern  zu 
einer  Zeit,  wo  man  in  den  Reformprojekten  so  schöne  Worte 
über  die  Heranziehung  der  Juden  zur  produktiven  Arbeit  machte. 
Die  Warschauer  Unruhen  hatten  übrigens  noch  wichtigere 
Folgen.  Der  Reichtsag  gewann  die  Überzeugung,  daß  man  die 
Lösimg  der  Judenfrage,  an  die  sich  bereits  die  Straße  auf  ihre 
rohe  Weise  gemacht  hatte,  nicht  länger  hinausschieben  dürfe. 
Am  22.  Juni  1790  wurde  eine  eigene  ,,Reichstagskonimission 
zur  Reform  der  Juden"  gewählt.  Ihr  gehörten  die  Abgeordneten 
Butrimowicz,  Jacek  Jezerski  (der  Kastellan  vom  Lukow)  und 
andere  an.  Jezerski  wurde  bald  zum  Vorsitzenden  der  Kommis- 
sion. Dieser  Abgeordnete  war  ein  Anhänger  der  radikalen  Re- 
formen und  erfaßte  klarer  als  alle  anderen  das  wirtschaftliche 
Wesen  der  Judenfrage.  Im  Widerspruch  zu  der  abgeleierten 
Formel  von  der  „Verwandlung  der  Juden  in  für  den  Staat 
nützliche  Bürger"  sagte  er  im  Reichstage,  daß  er  die  Juden 
schon  jetzt  für  nützlich  halte,  weü  sie  die  Erzeugnisse  des 
Landes  ins  Ausland  exportieren  und  auf  diese  Weise  das  Vaterland 
bereichern;  eine  Verbesserung  der  Lage  der  Juden  würde  daher 
die  Staatsfinanzen  heben  und  den  Geldumsatz  um  viele  Mil- 
lionen erhöhen.  Die  Kommission  arbeitete  unter  der  Leitung 
Jezerskis  und  Butrimowiczs  sehr  energisch.  Sie  imtersuchte  eine 
Reihe  von  Reformprojekten,  die  von  Butrimowicz,  Czacki  und 
anderen  eingereicht  waren.  Das  Projekt  Butrimowiczs  stellte 
einen  Auszug  aus  der  oben  erwähnten,  von  ihm  herausgegebenen 
Broschüre  dar.  Gleicher  Art  war  auch  das  Projekt  des  bekannten 
Historikers  und  Publizisten  Tadeusz  Czacki,  des  Leiters  der 
Finanzkommission  des  Reichstags.  In  seinem  Projekt  waren 
folgende  Vorschläge  formuliert:  i.Die  Regierung  hat  die  Juden 

263 


bisher  nur  als  geduldet  angesehen,  von  nun  an  werden  ihnen  die 
Rechte  von  Bürgern  gewährt,  2.  indem  die  Regierung  ihnen 
die  Rechte  von  Bürgern  verleiht,  darf  sie  von  ihnen  verlangen, 
daß  sie  „zum  Wohle  des  Staates  aufgeklärt  seien";  3.  alle  Unter- 
schiede zwischen  Juden  und  Christen,  außer  den  religiösen, 
werden  abgeschafft;  4.  den  Juden  stehen  alle  Erwerbsquellen 
offen,  mit  Ausnahme  des  Schankgewerbes,  von  dem  sie  fünfzig 
Jahre  lang  fernzuhalten  sind;  statt  dessen  muß  man  sie  zur 
Ivandwirtschaft  anhalten.  Zwecks  Zivilisierung  der  Juden  schlägt 
das  Projekt  eine  Reihe  von  Beschränkungen  imd  Zwangsmaß- 
regeln vor:  die  frühen  Ehen  (imter  20  Jahren  für  Männer,  unter 
18  Jahren  für  Frauen)  werden  verboten;  mittellosen  Personen 
werden  keine  Ehebewilligungen  gegeben;  Personen,  die  kein 
2^ugnis  über  die  Absolvierung  einer  Elementarschule  vorweisen 
können,  werden  in  den  bürgerlichen  und  gewerblichen  Rechten 
beschränkt;  die  jüdischen  Bücher  imterliegen  einer  strengen 
Zensur;  die  jüdische  Kleidung  soll  durch  polnische  oder  deutsche 
ersetzt  werden,  die  jüdische  Sprache  in  offiziellen  Urkunden 
durch  die  polnische. 

Zu  Beginn  des  Jahres  1791  war  die  Reichstagskommission  mit 
ihrem  Entwurf  über  die  jüdische  Reform  fertig  und  unterbreitete 
ihn  dem  Reichstag.  Diesem  Projekt,  dessen  Text  uns  nicht 
erhalten  geblieben  ist,  lagen  zweifellos  die  Projekte  Butrimowiczs 
und  Czackis  zugrunde.  Der  Reichstag  war  aber  mit  den  Vor- 
bereitungen zur  Proklamierung  der  Verfassung  vom  3.  Mai  so 
sehr  beschäftigt,  daß  er  sich  der  Behandlung  der  Judenfrage 
nicht  mehr  widmen  konnte.  Erst  nach  der  Proklamierung  der 
Verfassung  verlangte  Butrimowicz  in  der  Sitzung  vom  24.  Mai 
eine  schleunige  Behandlung  des  Projekts.  Nun  erhob  sich  ein 
anderes  Mitglied  der  „jüdischen  Kommission",  der  Abgeordnete 
von  Bratzlaw,  Cholonewski,  und  erklärte,  daß  er  den  Kom- 
missionsentwurf, der  die  Handelsrechte  der  Juden  erweitere, 
für  die  Interessen  von  Elleinpolen  für  schädlich  halte  und  daher 
der  Beachtung  der  Kammer  sein  eigenes  Projekt  empfehle. 
Der  Reichstag  freute  sich  über  den  Vorwand,  die  Behandlung 
der  unangenehmen  Frage  hinausschieben  zu  können.  Im  Juni 
wurde  der  Reichstag  bis  zum  September  vertagt.  Auf  diese 
Weise  wurde  die  wichtigste  Akte  der  polnischen  Reform  —  die 
Verfassung  vom  3.  Mai  1791  proklamiert,  ohne  daß  eine  Ver- 

264 


änderung  in  der  I<age  der  Juden  eingetreten  wäre.  Die  Verfassung 
hatte  allerdings  auch  die  alte  Ständeordnung  der  Republik  — 
die  feudale  Gewalt  der  Gutsbesitzer  und  die  Leibeigenschaft 
der  Bauern  in  Kraft  gelassen;  aber  sie  gab  immerhin  dem  Klein- 
bürgertum die  Bürgerrechte  und  demokratisierte  einigermaßen 
die  parlamentarischen  Institutionen.  Nur  das  eine  als  Stiefkind 
angesehene  Volk  war  in  diesem  Testament  des  sterbenden 
Polen  gänzlich  übergangen  worden. 

Die  im  Herbste  1791  wieder  zusammengetretene  Reichstags- 
kommission arbeitete  in  einer  besonders  gespannten  politischen 
Atmosphäre:  die  reaktionären  Gegner  der  neuen  Verfassimg 
stifteten  überall  im  Lande  Unruhen;  es  nahte  ein  neuer  Bürger- 
krieg und  ein  Krieg  mit  Rußland.  Nichtsdestoweniger  entschloß 
sich  der  unermüdliche  Butrimowicz,  dem  Reichstag  von  neuem 
die  Notwendigkeit  in  Erinnerung  zu  bringen,  die  Sorge  der 
Regierimg  auch  auf  „das  unglückliche  Volk,  das  sich  selbst  nicht 
helfen  kann  und  sogar  nicht  weiß,  worin  die  Verbesserung  seines 
Loses  bestehen  soU",  auszudehnen.  Er  verlangte  die  Revision 
des  vorher  ausgearbeiteten  Projekts  in  einer  eigenen  Kom- 
mission, die  darin  einige  „von  den  neuen  Umständen  bedingte" 
Änderungen  anbringen  tmd  es  von  neuem  der  Kammer  vorlegen 
sollte  Jezerski,  der  diesen  Vorschlag  unterstützte,  hatte  den 
Mut,  in  der  Reichstagssitzung  vom  30.  Dezember  den  oben- 
erwähnten Gedanken  auszusprechen,  daß  er  die  Juden  schon 
jetzt  für  „nützliche  Bürger"  halte.  Der  Reichstag  nahm  den 
Vorschlag  an,  und  die  Kommission  machte  sich  von  neuem  an 
die  Arbeit.  Das  Resultat  dieser  Arbeit  war  aber  sehr  kläglich. 
Nach  langen  Beratungen  kam  die  Kommission  zu  folgendem 
Beschluß:  „Zur  Verbesserung  des  Loses  der  jüdischen  Bevölke- 
rung muß  man  ihre  inneren  Angelegenheiten  in  Ordnung  bringen; 
dies  kann  aber  nicht  erreicht  werden,  solange  diese  Bevölkerung 
nicht  von  der  Schuldenlast  ihrer  Gemeinden^)  befreit  ist,  was 
aber  nur  dann  eintreten  kann,  wenn  die  Finanzkommission  sich 
zur  Liquidienmg  dieser  Schulden  entschließt."  Vor  der  Verwirk- 

^)  Auf  den  jüdischen  Gemeinden  Polens  iasteten  KJesenschulden,  die  die 
Gemeinden  im  Laufe  der  Zeit  zur  Deckiuig  der  Steuerrückstände  und  zur  Be- 
streitung außerordentlicher  Ausgaben  gemacht  hatten.  Die  Gläubiger  waren 
die  Magistrate,  katholische  Klöster  und  Privatpersonen.  Die  Frage  von  der 
Liquidierung  dieser  Schulden  kam  in  den  Reichstagen  der  zweiten  Haltte  des 
XVIII.  Janrhunderts  mehr  als  einmal  zur  Sprache. 

265 


lichung  des  Reformprojektes  müsse  daher  die  Regierung  zunächst 
die  Mittel  zur  I^iquidierung  der  Gemeindeschulden  ausfindig 
machen.  Der  Beschluß  der  „jüdischen  Kommission"  wurde  von 
der  Versammlung  des  Reichstags  mit  großer  Freude  angenommen : 
nun  war  man  die  schwere  Last  los  und  brauchte  nicht  mehr  an 
die  „Reform"  und  „Gleichberechtigung"  zu  denken;  es  genügte, 
die  örtlichen  Gerichte  mit  der  Feststellung  der  Höhe  der  jüdischen 
Gemeindeschulden  zu  betrauen  und  die  Finanzkommission  zu 
ermächtigen,  diese  Schulden  aus  den  Gemeindefonds  oder  spe- 
ziellen Quellen  zu  tilgen;  diese  Arbeit  würde  für  eine  Reihe  von 
Jahren  genügen.  So  wurde  unter  dem  Deckmantel  der  I^iqui- 
dierung  der  Schulden  auch  die  „jüdische  Reform"  liquidiert .  .  . 

Die  in  der  Verfassung  vom  3.  Mai  übergangenen  Juden  mach- 
ten, wenn  man  den  Berichten  einiger  Zeitgenossen  Glauben 
schenken  will,  den  Versuch,  unter  Ausnutzung  ihrer  Beziehungen" 
zum  Hofe,  durch  den  König  Stanislaus- August  auf  die  Regie- 
rung und  den  Reichstag  einzuwirken.  Irgendwo  fand  eine  geheime 
Beratung  der  jüdischen  Führer  statt,  welche  drei  Bevollmächtigte 
zur  Unterhandlung  mit  dem  König  über  die  Verbesserung  der 
Lage  der  Juden  wählten.  Die  Bevollmächtigten  operierten  Ende 
1791  und  Anfang  1792  durch  den  königlichen  Sekretär  Piatoli. 
Bald  darauf  wurden  sie  vom  König  in  eigener  feierlicher  Audienz 
empfangen,  wobei  der  König,  wie  es  heißt,  auf  dem  Throne  saß. 
Die  Juden  baten  ihn  um  Verleihung  des  Bürgerrechts  und  des 
Rechts,  Immobilien  in  den  Städten  zu  kaufen,  um  Brhaltimg 
ihrer  Gemeindeautonomie  und  ihrer  Unabhängigkeit  von  den 
Magistraten.  Man  erzählte  sich,  daß  die  jüdischen  Bevollmäch- 
tigten dem  König  20  Millionen  zur  Tilgung  seiner  persönlichen 
Schulden  versprochen  hätten.  In  diese  Sache  seien  auch  einige 
Reichstagsführer  eingeweiht  gewesen,  darunter  auch  der  Radikale 
KoUontai.  Der  König  hätte  sich  bemüht,  das  Projekt  der  Juden- 
reform in  der  Kommission  und  im  Reichstag  durch2:udrücken, 
dies  sei  ihm  aber  nicht  geltmgen  .  .  .  Die  jahrhundertalte  Frage 
konnte  nicht  in  diesem  unruhigen  Augenblick  gelöst  werden, 
als  über  dem  seine  letzten  Kräfte  im  letzten  Drange  nach  Un- 
abhängigkeit erschöpfenden  Lande  schon  der  Tod  schwebte. 

§  43.  Die  zweite  und  die  dritte  Teilung;  Berek  Joselewicz.  Der 
Todeskampf  Polens  nahte  heran.  Die  Gegner  der  Maiver- 
fasstmg   aus   den   konservativen   Elementen  des  Landes   ver- 

266 


banrien  sich  mit  der  russischen  Regierung,  dem  verhängnis- 
vollen Hemmschuh  für  jeden  Fortschritt  in  seiner  Einfluß- 
sphäre. Die  Targo witzer  Konföderation  kam  zustande,  und  der 
Bürgerkrieg  brach  aus  (im  Sommer  1792).  Die  vom  politischen 
Leben  ferngehaltenen  Juden  zeigten  jedoch  hier  und  da  ihre 
Sympathie  für  die  Verfechter  der  neuen  Verfassimg:  die 
jüdischen  Schneider  von  Wilna  erklärten  sich  bereit,  imentgelt- 
lich  zweihundert  Uniformen  für  die  Freiheitsarmee  herzustellen; 
die  Gemeinden  von  Sochatschow  und  Pulawy  gaben  Geld  zu 
patriotischen  Zwecken;  die  Juden  von  Berditschew  beteiligten 
sich  an  der  Abordntmg  der  Kaufmannschaft,  die  den  Befehls- 
haber der  polnischen  Armee,  Josef  Poniatowski,  begrüßte,  und 
stifteten  der  Regimentskapelle  neue  Musikinstrumente.  Die 
jüdischen  Gemeinden  in  Wolhymien  und  Podolien  hatten  durch 
die  kriegerischen  Operationen  großen  Schaden  gelitten.  Die 
Gemeinde  von  Ostrog  machte  die  Beschießung  dieser  Stadt 
durch  die  Russen  im  Juli  1792  mit .  .  .  Alle  diese  Opfer  ver- 
mochten aber  das  I^and  nicht  zu  retten.  Im  Jahre  1793  kam 
es  zur  zweiten  Teilung  Polens  unter  Rußland  und  Preußen. 
Rußland  bekam  Wolhynien,  Teüe  des  Kiewer  Gebiets,  Podolien 
und  die  Minsker  Wojewodschaft;  Preußen  den  anderen  Teil 
von  Großpolen  (Kaiisch,  Plozk)  mit  den  Städten  Danzig  und 
Thom.  Von  Polen  war  wieder  ein  riesengroßes  Gebiet  mit 
mehreren  Hunderttausenden  jüdischer  Bevölkenmg  losge- 
rissen. Die  gedemütigte  Nation  empfand  diesen  neuen  chirur- 
gischen Eingriff  überaus  schmerzlich.  Nun  kam  die  Revolution 
von  1794. 

Der  Führer  der  Erhebung,  Kosciuszko,  der  schon  die  l^uft 
zweier  Weltrevolutionen  —  der  amerikanischen  und  der  fran- 
zösischen —  geatmet  hatte,  besaß  viel  weitere  Begriffe  von  poU- 
tischer  und  bürgerlicher  Freiheit  als  das  ganze  Befreiungsheer 
des  adligen  Polen:  er  wußte,  daß  ohne  die  Abschaffung  der 
Sklaverei  der  Bauern  und  der  Ungleichheit  der  Bürger  von  einem 
freien  Staate  keine  Rede  sein  könne.  Im  Feuer  des  Kam.pfes  für 
die  Rettimg  des  Vaterlands  kamen  zuweilen  diese  demokrati- 
schen Bestrebtmgen  des  Führers  zum  Durchbruch,  und  die  unter- 
drückten Klassen  fühlten,  daß  etwas  weit  Größeres  im  Gange  sei 
als  eine  Adelsrevolution.  Auch  gewisse  Schichten  der  jüdischen 
Gesellschaft  waren  vom  Enthusiasmus  der  Freiheit  ergriffen. 

267 


Dies  zeigte  sich  bei  der  langen  Belagerung  Warschaus  durch  die 
russisch-preujßische  Armee  im  Sommer  und  Herbst  1794,  als  die 
ganze  Bevölkerung  zur  Verteidigung  der  Hauptstadt  angerufen 
wurde.  Dieselben  Juden,  die  vor  kurzem  erst  Überfälle  auf  offener 
Straße  zu  erdulden  hatten  und  aus  Warschau  auf  höheren  Befehl 
erbarmungslos  vertrieben  wurden,  standen  jetzt,  in  der  Stunde 
der  Gefahr,  in  den  gleichen  Reihen  mit  ihren  Verfolgern  und 
arbeiteten  gemeinsam  mit  ihnen  beim  Anlegen  von  Gräben  und 
Wällen  zum  Schutze  der  Stadt.  Oft  eilten  diese  Freiwilligen  auf  ein 
Alarmsignal  bewaffnet  herbei,  um  die  Belagerer  zurückzuwerfen. 
Unter  dem  Hagel  der  Kugeln  und  Kartätschen  wiesen  sie  mit 
den  anderen  Warschauer  Bürgern  die  Angriffe  zurück,  verloren 
viele  Tote  und  Verwundete,  ließen  aber  ihren  Mut  nicht  sinken. 
Unter  den  Juden,  die  Warschau  verteidigten,  kam  der  Gedanke 
auf,  eine  eigene  jüdische  Legion  zum  Schutze  des  Vaterlands 
zu  bilden.  An  der  Spitze  dieser  Gruppe  von  Patrioten  stand 
Berek  Joselewicz. 

Um  das  Jahr  1765  im  litauischen  Städtchen  Krottingen  ge- 
boren, legte  Berek  den  ganzen  domenreichen  Weg  eines  armen 
jüdischen  Jünglings  zurück:  von  der  religiösen  Schule,  dem 
,,Cheder",  bis  zur  Stellung  eines  herrschaftlichen  Faktors.  Er 
trat  in  die  Dienste  eines  vornehmen  Herrn,  des  Wünaer  Bischofs 
Massalski,  und  gleich  darauf  begann  seine  nicht  ganz  alltägliche 
Karriere.  Massalski,  der  häufig  ins  Ausland,  hauptsächlich  nach 
Paris  reiste,  nahm  oft  auch  seinen  gewandten  Faktor  mit.  Der 
junge  Berek  erlernte  die  französische  Sprache  und  bekam  eine 
Vorstellung  vom  Leben  in  den  Pariser  Salons,  in  denen  sein 
Herr  verkehrte.  Er  sah  da  eine  neue  Welt  und  atmete  die  neue 
Luft,  die  in  der  Hauptstadt  der  Welt  am  Vorabend  der  großen 
Revolution  wehte.  In  den  Jahren  des  Vierjährigen  Reichstags 
hatte  Berek  schon  Seine  Stelle  bei  Massalski  verlassen,  einen 
eigenen  Hausstand  gegründet  und  lebte  mit  seiner  Familie  in  der 
Warschauer  Vorstadt  Praga.  Hier,  in  der  Atmosphäre  der  patrio- 
tischen Erregung  reiften  in  der  Seele  Bereks  jene  Eindrücke 
heran,  die  er  während  seines  Lebens  unter  den  großen  Herren 
und  im  Auslande  empfangen  hatte.  Das  Hervortreten  des  Helden 
Kosciuszko  und  die  Belagenmg  Warschaus  verliehen  seinen  un- 
klaren Empfindungen  greifbare  Gestalt:  es  galt,  für  die  Freiheit 
des  Vaterlandes,  für  die  Errettung  der  Hauptstadt  zu  kämpfen, 

268 


wo  Juden  und  Polen  in  gleicher  Weise  von  Feindeshand  bedroht 
waren;  es  galt  zu  beweisen,  daß  auch  die  Stiefsöhne  des  Vater- 
landes in  den  Reihen  seiner  echten  Söhne  zu  kämpfen  verstehen 
und  ein  besseres  I/)s  verdienen.  Im  Scfptember  1794,  als  der 
Kampf  um  Warschau  den  Höhepunkt  erreicht  hatte,  ersuchte 
Berek  den  Oberbefehlshaber  Kosciuszko  um  Genehmigung,  ein 
eigenes  Regiment  leichter  Kavallerie  aus  jüdischen  Freiwilligen 
zu  bilden.  Kosciuszko  erfüllte  gern  die  Bitte  tmd  hob  in  seinem 
Tagesbefehl  vom  17.  September  rühmend  den  patriotischen  Eifer 
Bereks  tmd  seiner  Genossen  hervor,  „die  des  Landes,  in  dem  sie 
geboren  sind,  gedenken  und  wissen,  daß  die  Befreiung  dieses 
lyandes  ihnen  die  gleichen  Vorteüe  bringen  wird  wie  allen  an- 
deren". Berek  wurde  zum  Kommandeur  des  jüdischen  Regi- 
ments ernannt.  Nun  begann  er  mit  der  Anwerbung  von  Frei- 
willigen und  der  Sammlung  von  Geld  für  die  Ausrüstimg.  Am 
I.  Oktober  erschien  in  der  Warschauer  „Regierungszeitung" 
folgender  Aufruf  Berek  Joselewiczs  an  seine  Stammesgenossen, 
der  zwar  polnisch,  doch  im  hebräischen  Stüe  abgefaßt  war: 
„Höret,  ihr  Söhne  des  Volkes  Israel,  alle,  deren  Herzen  das 
Ebenbüd  des  Allmächtigen  Gottes  aufgeprägt  ist,  alle,  die  uns 
helfen  wollen,  für  das  Vaterland  zu  kämpfen!  .  .  .  Wisset,  daß 
nun  die  Stunde  gekommen  ist,  diesem  Werke  alle  unsere  Kräfte 
zu  widmen  .  .  .  Bs  gibt  ja  viele  mächtige  Herren,  Söhne  von 
Edelleuten  und  große  Geister,  die  bereit  sind,  ihr  Leben  für  das 
Vaterland  zu  opfern.  Warum  sollen  aber  wir,  die  wir  unterdrückt 
werden,  nicht  auch  nach  Waffen  greifen,  wo  wir  mehr  in  Knecht- 
schaft sind  als  alle  Menschen  der  Erde?  .  .  .  Warum  soUen  wii 
nicht  auch  durch  unsere  Arbeit  die  Freiheit  erringen,  die  uns 
ebenso  sicher  imd  wahrhaft  wie  den  anderen  Menschen  ver- 
sprochen ist?  Wir  müssen  sie  uns  aber  zuvor  verdienen  . .  .  Mir 
ist  das  Glück  zuteü  geworden,  auf  Befehl  der  Obrigkeit,  Oberst 
zu  werden.  Erwachet  nun,  helft,  das  bedrückte  Polen  zu  be- 
freien! Treue  Brüder,  laßt  uns  für  das  Vaterland  kämpfen, 
solange  noch  ein  Tropfen  Blut  in  ims  ist!  Wenn  wir  die  Freiheit 
auch  nicht  erleben,  so  werden  wenigstens  unsere  Kinder  frei 
und  ruhig  leben  können  Und  nicht  wie  wüde  Tiere  herumirren. 
Erwachet  wie  X/öwen  und  Leoparden!  ..." 

Einfach  und  naiv  war  die  Sprache  Bereks,  naiv  sein  politischer 
Gedankengang.  Während  er  die  Juden  anrief,  für  die  Freiheit 

269 


neben  den  .mächtigen  Herren"  zu  kämpfen,  übersah  er,  daß 
die  Freiheit  der  Juden  durch  die  Freiheit  der  Herren,  unter 
denen  es  nur  sehr  wenig  Humanisten  vom  Schlage  Kosciuszkos 
gab,  durchaus  nicht  gewährleistet  wurde.  Er  lebte  in  einer  Zeit, 
als  die  westlichen  Juden  sich  bemühten,  ihren  „Zivismus"  zu 
zeigen.  Ihm  schwebten  wohl  die  Juden  vor,  die  seit  1789  in  der 
Pariser  Nationalgarde  dienten .  .  .  Berek  lockte  mit  seinem 
Enthusiasmus  viele  Freiwillige  an.  In  kurzer  Zeit  entstand  ein 
Regiment  aus  500  Mann.  Das  in  aller  Eüe  mit  den  knappen  Mit- 
teln, die  die  Revolutionsregierung  dafür  bewilligt  hatte,  und  dem 
Ertrag  freiwilliger  Sammlungen  ausgerüstete  jüdische  Regiment 
sah  wie  eine  bunt  zusammengewürfelte  Volksmiliz  aus;  aber  das 
Gefühl  der  Soldatenpflicht  war  in  allen  diesen  Menschen,  von 
denen  viele  zum  erstenmal  im  lieben  Waffen  in  der  Hand 
hielten,  ungemein  groß.  Das  jüdische  Regiment  bewies  seine 
Furchtlosigkeit  und  Selbstaufopfertmg  am  verhängnisvollen 
4.  November,  am  Tage  der  blutigen  Erstürmung  Pragas  durch  die 
russischen  Truppen  Suworows.  Unter  den  15  000  Polen,  die  auf 
den  Schanzen  Pragas,  in  den  Straßen  Warschaus  und  in  den 
Wellen  der  Weichsel  den  Tod  fanden,  war  auch  das  Regiment 
Berek  Joselewiczs.  Der  größte  Teil  des  Regiments  fiel  auf  den 
Schanzen  den  russischen  Kugeln  und  Bajonetten  zum  Opfer. 
Oberst  Berek  floh  ins  Ausland  mit  dem  General  Zajonczek, 
dem  Kampfgenossen  Kosciuszkos,  welcher  schon  vorher  in  russi- 
sche Gefangenschaft  geraten  war.  In  Österreich  verhaftet,  ent- 
kam Berek  nach  einiger  Zeit  nach  Frankreich  und  gesellte  sich 
da  zu  den  polnischen  Emigranten,  den  Teilnehmern  des  letzten 
Aufstands. 

Die  dritte  Teilimg  Polens  (1795)  brachte  an  Rußland  den  Kern 
der  polnischen  Judenheit  —  die  kompakten  Massen  Litauens 
(die  Wojewodschaften  Wilna  und  Grodno).  Preußen  verschlang 
den  Rest  von  Großpolen  mit  Warschau  und  Masovien.  Öster- 
reich rundete  seinen  großen  galizischen  Besitz  mit  Krakau  und 
der  Lubliner  Wojewodschaft  ab.  Von  nun  an  verschmüzt  das 
Schicksal  der  polnischen  Juden  mit  dem  ihrer  Brüder  in  diesen 
drei  Staaten  und  bekommt  eine  dreifarbige  —  österreichisch- 
preußisch-russische  Färbung  (§§  29,  38  und  45).  Aber  auch  die 
dritte  Teilung  Polens  war  noch  nicht  die  endgültige.  Für  eine 
kurze  2^it  ersteht  in  der  Geschichte  das  Gespenst  eines  halb- 

270 


unabhängigen  Polens.  Zwölf  Jahre  nach  der  dritten  Teilung 
trennte  Napoleon  I.,  der  die  I^andkarte  Europas  ummodelte 
und  ephemere  Staatsgebilde  schuf,  von  der  preußischen  „Beute" 
die  Provinz  Großpolen  los  und  bildete  aus  ihr  das  Herzogtum 
Warschau,  einen  kleinen  Staat  imter  der  Herrschaft  des 
sächsischen  Königs  Friedrich  August  III.  (des  Enkels  des  letzten 
polnischen  Königs  aus  der  sächsischen  Dynastie,  August  III.). 
Es  war  im  Jahre  1807,  nach  der  Niederwerfung  Preußens  durch 
Napoleon.  Als  Napoleon  zwei  Jahre  später  auch  Österreich  zer- 
schmetterte, riß  er  einen  Teil  von  dessen  polnischen  Provinzen 
los  und  vereinigte  ihn  mit  dem  Herzogtum  Warschau  (1809). 
§  44.  Das  Herzogtum  Warschau  und  die  Napoleonische  Re- 
aktion. Das  von  den  Preußen  gesäuberte  Warschau  wurde 
wieder  nach  zwölfjähriger  Unterbrechung  zur  Hauptstadt 
des  imter  der  Vormundschaft  Napoleons  wiederhergestellten 
polnischen  Zentrums.  Das  Herzogtum  Warschau,  das  aus 
zehn  Departements  von  Groß-  und  Kleinpolen  bestand  (War- 
schau, Kaiisch,  Plozk,  I^mz,  Posen,  Bromberg,  später  auch 
Krakau,  Lublin,  Radom  und  Siedlez),  erhielt  eine  ziemlich 
liberale  Verfassung  mit  zwei  Kammern  (Reichstag  und  Senat) 
und  dem  bürgerlichen  „Code  Napoleon",  der  soeben  in  Frank- 
reich eingeführt  worden  war.  Die  Grundgesetze  verkündeten 
die  Gleichheit  aller  Bürger  vor  dem  Gesetze.  Die  fortschrittlich 
gesinnten  Juden  des  neuen  Staates,  die  das  vorhergehende 
preußische  Regime  nicht  an  die  Gleichberechtigung  (eine  solche 
gab  es  damals  auch  in  Preußen  nicht),  sondern  an  den  Kampf 
für  die  Gleichberechtigung  gewöhnt  hatte,  gaben  sich  nun 
den  rosigsten  Hoffnungen  hin,  während  die  konservativen 
chassidischen  Massen  die  Erhaltung  des  alten  Zustands  vor- 
zogen. Der  Nimbus  Napoleons  war  in  der  jüdischen  Gesellschaft 
noch  nicht  erloschen;  man  glaubte,  daß  der  Kaiser  seinen  Schutz 
auch  auf  die  polnischen  Juden  ausdehnen  würde.  Diese  Hoff- 
nimgen  wurden  aber  grausam  getäuscht.  Das  erste  Jahr  des 
Herzogtums  Warschau  (1807 — 1808)  war  das  Jahr  der  Wen- 
dung in  der  Politik  Napoleons  gegen  die  Juden :  das ,  »Schmachvolle 
Dekret"  vom  17.  März  1808  hatte  das  Gesetz  von  der  Gleich- 
berechtigung der  Juden  für  die  Dauer  von  zehn  Jahren  in  fast 
allen  Gebieten  des  französischen  Kaiserreichs  atißer  ELraft  ge- 
setzt. Diese  in  Frankreich  eingetretene  Reaktion  machten  sich 

271 


nun  die  Staatsmänner  Polens  zunutze,  die  trotz  aller  Schicksals- 
schläge noch  nichts  gelernt  hatten  und  auch  jetzt  noch  die 
Gleichberechtigung  des  verhaßten  Volkes  nicht  zidassen  wollten. 
Im  Frühjahr  1808  mußte  sich  die  Regierung  des  Herzogtums 
Warschau  mit  der  jüdischen  Frage  befassen,  wie  infolge  des 
Gesuchs  der  Juden  imi  die  Verleihimg  der  Bürgerrechte,  so 
auch  im  Zusammenhange  mit  den  bevorstehenden  Reichstags- 
wahlen. Der  Warschauer  Afinisterrat,  der  vom  Märzdekret 
Napoleons  schon  Kenntnis  hatte,  klammerte  sich  an  dieses  wie 
an  einen  Rettungsanker.  Dem  Herzog  Friedrich  August  wurde 
ein  Bericht  erstattet,  in  dem  es  hieß:  „Dem  Herzogtume  droht 
die  traurigste  Zukunft,  wenn  das  israelitische  Volk,  das  sich 
hier  in  bedeutender  Anzahl  befindet,  heute  auf  einmal  die  Bürger- 
rechte bekommt;  denn  dieses  Volk  bewahrt  einen  unserem  Lande 
fremden  Nationalgeist  und  befaßt  sich  mit  unproduktiven 
Brwerbsarten^)."  Als  auf  ein  Mittel,  die  nach  dem  Wortlaute 
der  Verfassung  obligatorische  „Gleichheit  der  Bürger"  zu  um- 
gehen, wies  der  Ministerrat  auf  das  suspensive  Dekret  Napo- 
leons hin,  welches  die  Gleichberechtigung  nicht  aufgehoben, 
sondern  nur  hinausgeschoben  hatte.  Um  die  Sanktion  Napoleons 
für  diese  Sache  zu  erwirken,  setzte  sich  die  Warschauer  Regie- 
rung mit  ihren  Agenten  in  Frankreich  und  mit  dem  französischen 
Minister  des  Inneren,  dem  bekannten  Judenfeind  Champagny, 
in  Verbindung.  Als  man  in  Dresden  und  Warschau  erfuhr,  daß 
Napoleon  sich  diesem  Akte  gegenüber  wohlwollend  verhielt, 
erließ  der  Herzog  am  17.  Oktober  1808  ein  Dekret  folgenden 
Inhalts:  „Die  Bewohner  Unseres  Warschauer  Herzogtums,  die 
sich  zur  mosaischen  Religion  bekennen,  verlieren  für 
die  Dauer  von  zehn  Jahren  die  politischen  Rechte,  die  sie  zu 
bekommen  hätten,  denn  Wir  hoffen,  daß  sie  in  dieser  Frist  alle 
ihre  Eigentümlichkeiten,  die  sie  so  sehr  von  den  anderen  Ein- 
wohnern unterscheiden,  ablegen.  Dieser  Beschluß  darf  Uns 
aber  nicht  hindern,  einzelnen  Personen  dieser  Konfession  zu 
gestatten,  von  den  politischen  Rechten  auch  vor  Ablauf  der 

*)  Wie  sich  die  polnischen  Minister  ideale  Juden  vorstellten,  die  der  Emanzi- 
pation wert  wären,  kann  man  aus  einem  Briefe  des  Finanzministers  Dem 
bowski  (März  1808)  ersehen:  „Nach  der  Verfassung  dürfen  die  Juden  weder 
eigene  Gemeinden  haben,  noch  eigene  Gerichte,  Eidesformeln,  eigene  Kleidung, 
eigene  Sitten  und  Vorurteile,  eigene  Schulen  und  eigene  Erziehungsmittel;  sie 
dürfen  überhaupt  keinen  eigenen  Stamm  mit  eigenen  Ehen  bilden." 

272 


w 


genannten  Frist  Gebrauch  zu  machen,  wenn  sie  Unsere  Gnade 
verdienen,  indem  sie  den  Bedingungen  entsprechen,  die  Wir  in 
einem  eigenen  Erlaß  betreffs  der  Angehörigen  der  mosaischen 
Religion  festlegen  werden." 

So  beraubte  die  Warschauer  Regierung  in  höflichsten  Aus- 
drücken, im  modernsten  französischen  Stil,  alle  „Bekenner  der 
mosaischen  Religion"  des  Bürgerrechts,  das  ihnen  die  Ver- 
fassung gewährte.  Der  Schönheit  des  Stiles  wegen  hatte  man 
zwar  den  Ausdruck  „politische  Rechte"  gewählt,  aber  die  Juden 
verloren  in  Wirklichkeit  die  wesentlichsten  bürgerlichen  Rechte. 
Im  November  1808  wurde  ihnen  verboten,  die  Erbgüter  üer 
Adligen  zu  kaufen;  die  erniedrigenden  Wohnrechtsbeschrän- 
kimgen  für  Warschau  wurden  wiederhergestellt:  das  Dekret 
vom  16.  Mai  1809  schrieb  den  Juden  vor,  innerhalb  sechs  Mo- 
naten einige  Hauptstraßen  Warschaus  zu  räumen;  Ausnahmen 
wurden  nur  für  einzelne  Personen  —  Bankiers,  Großkaufleute, 
Arzte  und  Künstler  —  gemacht.  Die  altpolnische  Gesetzgebung 
in  ihren  erniedrigendsten  Formen  lebte  von  neuem  auf. 

In  der  jüdischen  Gesellschaft  begann  eine  Gärung.  In  War- 
schau gab  es  damals  schon  eine  bedeutende  Gruppe  fortschritt- 
licher Juden,  die  der  modernen  Berliner  Aufklärung  teilhaftig 
geworden  waren  und  alle  die  „Eigentümlichkeiten"  in  der 
Kleidung  imd  im  Aussehen  abgelegt  hatten,  für  die  man  die 
Juden  mit  Entrechtung  bestrafte.  Unter  Beruf tmg  auf  den  zweiten 
Artikel  des  suspensiven  Dekrets,  der  eine  Ausnahme  für  Per- 
sonen, „die  die  Eigentümlichkeiten  ablegen",  gestattete,  gab 
eine  aus  siebzehn  Personen  bestehende  Gruppe  solcher  Juden 
im  Januar  1809  dem  Justizminister  eine  Erklärung  ab,  in  der  es 
u.  a.  hieß:  „Wir  haben  uns  seit  jeher  bemüht,  uns  durch  unsere 
sittliche  Aufführung  und  gleiche  Kleidimg  der  übrigen  Bevölke- 
rung zu  nähern  und  sind  nun  überzeugt,  der  Bürgerrechte  nicht 
mehr  unwürdig  zu  sein."  Der  Justizminister  I^ubenski,  einer 
der  ,, verfassungstreuen"  Minister,  die  es  verstanden,  unter 
liberaler  Maske  den  alten  Despotismus  zu  betreiben,  beant- 
wortete diese  knechtische  Erklärung  mit  dem  rohen  Sophisma, 
daß  die  veffassimgsmäßige'  Gleichheit  vor  dem  Gesetze  noch 
nicht  aUe  Menschen  zu  Bürgern  mache,  weü  nur  solch  ein  Mensch 
Bürger  sein  könne,  der  dem  Könige  treu  ist  und  nur  dieses  eine 
Land  für  sein  Vaterland  hält;  „können  derm  die  Bekenner  der 

18    Dnbnow    Geschichte  der  Juden  I  273 


mosaischen  Religion  dieses  Land  als  ihr  Vaterland  ansehen? 
Haben  sie  denn  nicht  den  Wunsch,  in  die  Heimat  ihrer  Vor- 
fahren zurückzukehren?  Fühlen  sie  sich  nicht  als  eine  eigene 
Nation?  Der  Wechsel  der  Kleidung  genügt  noch  nicht." 

Neben  diesen  Vertretern  der  Kleiderkultur,  die  nach  persön- 
lichen Privüegien  strebten,  gab  es  in  der  Warschauer  jüdischen 
Gesellschaft  auch  solche  Anhänger  der  Berliner  Aufklärung,  die 
es  für  ihre  Pflicht  hielten,  für  die  Rechte  des  ganzen  Volkes 
zu  kämpfen.  Am  17.  März  1809  überreichten  fünf  Vertreter  der 
Warschauer  Gemeinde  (Michel  Rawski-Ettinger  und  andere) 
dem  Senat  des  Herzogtums  eine  Denkschrift,  die  nicht  nur 
flehende,  sondern  auch  entrüstete  Töne  anschlug:  ,, Tausende 
Angehörige  des  polnischen  Volkes,  der  alttestamenta- 
rischen Konfession,  denen  der  jahrhundertelange  Aufent- 
halt in  diesem  Lande  das  Recht  gibt,  es  gleich  allen  anderen 
Einwohnern  für  sein  Vaterland  anzusehen,  sind  bisher  ohne 
jede  Schuld,  doch  zum  Schaden  der  Gesellschaft  und  zur  Krän- 
kung der  Menschheit,  aus  unbekannten  Gründen  zur  Erniedri- 
gung verdammt  und  schmachten  unter  dem  Drucke  täglicher 
Unterdrückung  .  .  ."  Dem  aufgeklärten  Geiste  der  Zeit  und  der 
„Weisheit  der  Gesetze  Napoleons  des  Großen"  zum  Trotz  — 
fahren  die  Bittsteller  fort  — ,  sind  die  Juden  der  Bürgerrechte 
beraubt,  haben  weder  im  Reichstag  noch  im  Senat  Fürbitter 
und  sehen  mit  Trauer  voraus,  daß  „auch  ihre  Kinder  und  Kindes- 
kinder ein  besseres  Los  niemals  erleben  werden".  —  „Wir  sind 
mehr  als  alle  anderen  Einwohner  mit  Steuern  belastet;  wir  ent- 
behren der  angenehmen  Möglichkeit,  ein  Stück  Land  zu  erwer- 
ben, ein  Häuschen  zu  bauen,  eine  Wirtschaft  oder  eine  Fabrik 
zu  gründen,  freien  Handel  zu  treiben  und  überhaupt  alles  zu 
tun,  was  Gott  und  die  Natur  dem  Menschen  gestatten.  In  War- 
schau ist  uns  befohlen,  aus  den  Hauptstraßen  auszuziehen. 
Wird  denn  dieses  Land,  in  dem  unsere  Vorfahren  geboren  sind, 
die  für  diese  Gnade  teuer  bezahlen  mußten,  ims  immer  fremd 
bleiben?  .  .  .  Ihr  Herren  Senatoren!  Wir  bringen  Euch  die 
Tränen  der  Väter,  Kinder  und  der  künftigen  Geschlechter;  wir 
bitten  Euch,  uns  recht  bald  die  glückliche  Möglichkeit  zu  ge- 
währen, alle  Rechte  und  Freiheiten  zu  genießen,  die  Napoleon 
der  Große  allen  Bewohnern  dieses  Landes  geschenkt  hat  und  die 
unser  geliebtes  Vaterland  allen  seinen  Kindern  zuerkennt." 

274 


Diese  flehentliche  Denkschrift,  in  der  sich  die  Bittsteller  zu 
den  „Angehörigen  des  polnischen  Volkes"  zählen,  beantwortete 
der  Senat  mit  einem  grausamen  Bericht  an  den  Herzog,  in  dem 
es  hieß,  daß  die  Juden  die  „Verminderung  ihrer  Rechte"  durch 
ihre  „unehrlichen  Erwerbsarten  tmd  den  für  das  allgemeine 
Wohl  schädlichen  Lebenswandel"  verschuldet  hätten;  es  sei 
eine  Reform  des  ganzen  jüdischen  I^ebens  notwendig;  zu  diesem 
Zwecke  müsse  man  eine  Kommission  einsetzen,  die  den  Plan  zu 
einer  solchen  Reform  auszuarbeiten  hätte.  Eine  solche  Kommis- 
sion bestand  übrigens  schon  seit  Ende  1808  unter  dem  Vorsitz 
des  Referendarius  Woida  und  arbeitete  an  einem  „Reformplan" 
im  Sinne  einer  Zwangsaufklärung  und  Polonisierung  der  Juden. 
Jede  solche  Kommission  war  aber  nur  eine  wohlanständige  Art, 
die  Judenfrage  zu  begraben. 

In  der  gleichen  Zeit,  als  die  Regierung  des  Herzogtums  War- 
schau die  Bitte  der  Juden  um  Gleichberechtigung  mit  der  Be- 
gründung, daß  sie  zu  wenig  Patriotismus  zeigen,  ablehnte,  lebte 
und  wirkte  in  Warschau  das  leuchtende  Symbol  des  polnischen 
Patriotismus,  der  Held  der  Revolution  von  1794,  Berek  Josele- 
wicz.  Nach  zwölfjährigen  Irrfahrten  durch  Westeuropa,  wo  er 
an  vielen  Kjiegen  Napoleons  in  den  Reihen  der  polnischen  Le- 
gionen Dombrowskis  teilgenommen  hatte,  kehrte  Berek  im 
Moment  der  Gründung  des  Herzogtums  Warschau  in  seine 
Heimat  zurück  und  bekam  den  Posten  eines  Eskadronchefs 
in  der  regulären  polnischen  Armee.  Der  Traum  des  alten  Kämp- 
fers war  nicht  in  Erfüllung  gegangen,  umsonst  hatte  sein 
„jüdisches  Regiment"  die  Schanzen  von  Praga  im  Jahre  1794 
mit  seinen  Leichen  bedeckt:  auch  nach  zwölf  Jahren  mußten 
die  Brüder  der  für  das  Vaterland  Gefallenen  um  Bürgerrechte 
betteln.  Berek  hatte  aber  seinen  ersten  Aufruf  vergessen;  er 
war  schon  ganz  Berufssoldat  geworden.  Rein  polnischer  Patrio- 
tismus und  persönlicher  Mut  bewegten  ihn  zu  der  letzten  krie- 
gerischen Heldentat  seines  Lebens:  als  im  Frühjahr  1809  der 
Krieg  des  Herzogtums  mit  den  Österreichern  entbrannte,  stürzte 
Berek  Joselewicz  an  der  Spitze  seiner  Schwadron  in  den  Kampf 
mit  feindlicher  Kavallerie;  nach  einer  Reihe  von  Heldentaten 
fiel  er  am  5.  Mai  in  der  Nähe  von  Kozk.  Die  Zeitungen  beklagten 
den  Tod  des  Helden.  Der  Vertreter  der  polnischen  Aristokratie, 
Stanislaus  Potocki,  widmete  seinem  Andenken  eine  Rede  in  der 

18«  275 


Versammlung  des, Warschauer  „Vereins  der  Freimde  der  Wissen- 
schaft". „Du  stürztest  das  I^and  der  Helden  in  Trauer,"  sagte 
der  Redner,  „tapferer  Oberst  Berko,  als  dein  aUzu  großer  Mut 
dich  mitten  imter  die  Feinde  warf  .  . .  Die  Heimat  gedenkt  noch 
deiner  alten  Wunden  und  deiner  Schlachten,  sie  denkt  ewig 
daran,  daß  du  deinem  Volke  als  erster  das  Beispiel  angeborener 
Tapferkeit  gabst  imd  die  Gestalt  der  Helden  zum  neuen  lycben 
erwecktest,  die  einst  von  den  Töchtern  Zions  beweint  wurden." 
Der  Dank  des  „Vaterlands"  äußerte  sich  darin,  daß  der  Herzog 
der  Witwe  Bereks,  der  es  schwer  fiel,  von  der  kargen  Pension 
zu  leben  und  ihre  Kinder  zu  erziehen,  mit  einem  eigenen  Dekret 
gestattete,  in  den  für  die  Juden  verbotenen  Straßen  Warschaus 
zu  wohnen  und  dort  „mit  Schnaps  zu  handeln"  . . .  Andere 
Privilegien  konnten  damals  Juden  selbst  ausnahmsweise  nicht 
bekommen. 

Eine  Scheu  vor  der  bürgerlichen  Gleichberechtigung  hätten 
nicht  nur  die  Polen,  sondern  auch  die  finsteren  jüdischen  Massen, 
die  ganz  im  Banne  des  Chassidismtis  und  des  Kultes  der  Zaddi- 
kim  standen.  Die  unterdrückte,  darbende  Masse  wollte  natürlich 
von  allen  rechtlichen  Beschränkungen,  die  ihnen  das  Leben  ver- 
gällten, befreit  werden,  aber  von  der  „bürgerlichen  Emanzi- 
pation" erwarteten  sie  alle  Schrecken:  den  Zusammensturz  der 
alten  religiösen  Ordnung,  den  Untergang  der  autonomen  Ge- 
meinde und  Schule,  die  Ausbreitung  des  Unglaubens  und  die 
erzwungene  oder  freiwillige  Polonisierung.  Die  Beispiele  des 
Westens  und  die  Projekte  der  polnischen  „Reformatoren" 
konnten,  die  jüdische  Orthodoxie  in  diesem  Glauben  nur  be- 
stärken. Die  größte  Angst  machte  der  patriarchalischen  Masse 
die  ihr  ungewohnte  Militärpflicht,  zu  der  sie  die  Regierung  des 
Herzogtums  Wärschau  herangezogen  hatte,  zu  einer  Zeit,  als 
man  die  Soldaten  zum  größeren  Ruhme  Napoleons  zur  Schlacht- 
bank führte.  Die  Zaddikim  (Israel  Kosenitzer,  Jaakow-Jazchk 
I/Ubliner  u.  a.)  und  die  einflußreichen  Chassidim  entwickelten 
eine  mächtige  Agitation  im  ganzen  I^ande  zur  Abwendung  des 
doppelten  Unglücks  (geseira)  —  der  Gleichberechtigung  imd  der 
Militärpflicht,  die  den  Untergang  der  Religion  und  des  Volks- 
tums verhießen.  Zum  Kxiegsminister  Josef  Poniatowski  und  den 
anderen  Mitgliedern  der  Regierung  pUgerten  chassidische  Depu- 
tajüonen,  die  um  Beibehaltung  der  altpolnischen  Judenordnimg 

276 


flehten.  Diese  mitunter  durch  Versprechungen  bedeutender 
Geldsummen  unterstützten  Bitten  gefielen  den  polnischen  Mi- 
nistern weit  besser,  als  die  Bemühungen  der  Warschauer  Fort- 
schrittler um  die  Gleichberechtigung.  Die  Regierung  konnte  jetzt 
ihre  üble  Politik  damit  rechtfertigen,  daß  die  frommen  Juden 
die  Emanzipation  gar  nicht  wollen.  Die  Regierung,  die  den 
Wünschen  der  chassidischen  Obskuranten  schon  im  Jahre  1808 
durch  das  Dekret  von  der  Hinausschiebimg  der  Gleichberechti- 
gung zuvorgekommen  war,  kam  doch  zur  Einsicht,  daß  man 
von  Menschen,  die  aus  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ausge- 
schlossen sind,  keine  Blutopfer  verlangen  darf,  und  gestattete 
schließlich  den  Juden,  sich  von  der  persönlichen  Militärpflicht 
durch  Zahlung  einer  Rekrutensteuer  zu  befreien.  Das  Dekret 
vom  29.  Januar  1812  legalisierte  diesen  Ersatz  der  persönlichen 
Militärpflicht  durch  eine  Steuer  von  etwa  700  000  polnischer 
Gulden  jährlich.  Dies  befreite  die  polnischen  Juden  vom  traurigen 
Lose  eines  Kanonenfutters  in  den  blutigen  Abenteuern  Napo- 
leons, gab  aber  den  Judenfeinden  einen  neuen  Grund,  ihnen 
Mangel  an  patriotischer  Gesinntmg  vorzuwerfen. 

Kurz  vor  ihrem  Sturze,  während  der  KJriegsstürme  des  Jahres 
1812,  fand  die  Regienmg  des  Herzogtums  Warschau  noch  Zeit, 
der  Judenheit  einen  wirtschaftlichen  Schlag  zu  versetzen.  Auf 
Vorschlag  des  Justizministers  I^ubenski  erfolgte  am  30.  Oktober 
ein  herzogliches  Dekret,  das  den  Juden  untersagte,  nach  Ablauf 
einer  Frist  von  zwei  Jahien,  Handel  mit  Schnaps  zu  treiben  imd 
das  Schankgewerbe  auszuüben,  was  vielen  Tausenden  von 
Famüien  die  einzige  Erwerbsquelle  nahm.  Die  Regierung  moti- 
vierte diese  Maßregel  insgeheim  mit  dem  damals  erwarteten 
Gebietszuwachs  des  Herzogtums  und  der  projektierten  Wieder- 
herstelltmg  des  alten  Polens,  wo  man  die  zurückkehrende  jü- 
dische Bevölkerung  mit  scharfen  Repressalien  empfangen  mußte. 
Die  auf  Napoleons  Macht  gesetzten  Hoffnungen  erfüllten  sich 
aber  nicht :  der  Abgott  wurde  gestürzt;  das  Herzogtum  Warschau, 
das  bleiche  Gespenst  eines  unabhängigen  Polens  fiel  auseinander, 
und  die  Geschicke  des  I/andes  gerieten  wieder  in  die  Hand  der 
drei  Mächte,  die  es  aufteüten,  insbesondere  Rußlands.  Die  Mü- 
lionen  Juden  von  Russisch-Polen  wußten  aber  schon,  was  sie 
von  den  neuen  Herren  zu  erwarten  hatten  .  .  . 


277 


Sechstes  Kapitel 
Das  neue  jüdische  Zentrum  in  Rußland 

§  45.  Die  Legalisierung  des  „Ansiedlungsgebiets'^  (die  letzten 
Regierungsjahre  Katharinas  II.).  Als  Rußland  große  Portionen 
des  polnischen  Territoriums  mit  dessen  jüdischer  Bevölkerung 
verschlungen  hatte,  begann  es  in  seiner  inneren  Politik  das 
Anwachsen  eines  neuen  Ingrediens  —  der  Judenfrage  —  zu 
spüren.  Die  I/)sung  dieser  Frage  konnte  unter  den  damaligen 
Verhältnissen  nicht  den  geraden  Weg  der  Gleichheit  vor  dem 
Gesetze  gehen,  sondern  mußte  die  verschlungenen  Pfade  einer 
Sondergesetzgebung  einschlagen.  Anders  war  es  auch  in  diesem 
Lande  mit  den  eng  abgegrenzten  Ständen  und  einer  Staats- 
ordnimg, deren  Fundament  die  leibeigene  Bauernschaft  büdete 
und  die  von  einer  sich  auf  den  Adel  stützenden  Autokratie 
gekrönt  war,  gar  nicht  denkbar.  Die  liberalen  Strömungen  waren 
hier  nur  das  Resultat  zufälliger  politischer  Einflüsse  des  Westens 
und  stellten  eine  viel  zu  schwache  Ventüation  für  die  schwüle 
russische  Atmosphäre  dar.  Als  aber  vom  Westen  ein  scharfer 
Wind  kam  —  der  Sturmwind  der  französischen  Revolution  — , 
beeilte  man  sich  in  Rußland,  alle  I/5cher  und  Ritzen  zu  ver- 
stopfen, um  sich  vor  der  politischen  Pest  zu  schützen.  Die  in 
ihren  Anfängen  liberale  Regierung  Katharinas  II.  war  in  ihren 
letzten  Jahren  (1789 — 1796)  höchst  reaktionär.  In  diesen  Jahren 
der  Reaktion  vollzog  sich  die  Krise  in  der  jüdischen  Geschichte : 
die  zweite  und  die  dritte  Teilung  Polens  brachten  unter  die 
Gewalt  der  russischen  Regienmg  die  neuen,  dicht  von  Juden 
bevölkerten  Gebiete  von  Wolhynien,  Podolien  und  Litauen,  die 
mit  dem  schon  früher  annektierten  Weißrußland  das  riesige 
westrussische  Randgebiet  büdeten.  Während  dieses  Gebiet 
immer  größer  wurde,  klärte  sich  auch  das  Verhältnis  der  russi- 
schen Regierung  zu  der  jüdischen  Bevölkerung.  Das  ursprüng- 
liche Schwanken  Katharinas  II.  in  der  jüdischen  Frage  machte 

278 


einer  sehr  bestimmten  Tendenz  Platz :  der  Tendenz,  die  jüdischen 
Massen  an  das  annektierte  I^andgebiet  zu  binden,  ihnen  den 
Zutritt  in  das  Innere  des  Reiches  zu  verwehren,  den  Wirkungs- 
kreis ihrer  wirtschaftlichen  Betätigung  selbst  im  westlichen 
Gebiete  zu  beschränken  und  sie  aus  dem  Kaufmanns-  und  Ellein- 
bürgerstande  in  eine  eigene,  doppelt  belastete  Steuerzahlergruppe 
hinauszudrängen.  Die  Sondergesetzgebung  für  die  Juden  wurde 
zu  einem  System  erhoben. 

Schon  vor  der  zweiten  Teilung  Polens  hatte  die  russische  Re- 
gierung, in  Erwartung  des  Zuflusses  neuer  jüdischer  Massen, 
ein  verhängnisvolles  Geschenk  für  sie  vorbereitet:  das  Gesetz 
von  der  „Ansiedlungszone",  durch  das  im  I^ande  der  bäuerlichen 
Leibeigenschaft  eine  eigene  Klasse  an  den  Boden  gebundener 
Städter  geschaffen  wurde.  Der  Anstoß  zu  dieser  Maßregel  kam 
übrigens  nicht  von  oben,  sondern  von  unten,  aus  den  KJreisen 
der  einflußreichen  christlichen  Kaufleute,  die  vor  der  freien 
Konkurrenz  Angst  bekamen  und  um  Schutz  flehten.  Die  jüdischen 
Kaufleute  der  beiden  weißrussischen  Gouvernements  —  Mohi- 
lew  und  Polozk  (Witebsk)  — ,  die  an  die  großrussischen  Gou- 
vernements Smolensk  imd  Moskau  grenzten,  kamen  hin  und 
wieder  nach  Smolensk  und  Moskau,  um  ausländische  Manu- 
fakturwaren en  gros  und  en  detail  abzusetzen.  Dieses  Geschäft 
entwickelte  sich  gut,  da  die  jüdischen  Kaufleute  gute  Ware  zu 
billigen  Preisen  verkauften.  Dies  versetzte  die  Moskauer  Kauf- 
leute in  Unruhe,  und  sie  beschwerten  sich  im  Februar  1790  beim 
Moskauer  Höchstkommandierenden  über  die  Juden,  die  „mit 
ausländischen  Waren  zu  herabgesetzten  Preisen  Handel  treiben, 
womit  sie  dem  einheimischen  Handel  empfindlichen  Schaden 
zufügen".  Die  Petenten  beriefen  sich  auf  die  glorreiche  Tradition 
des  Moskauer  Staates,  der  seine  Grenzen  für  die  Juden  ver- 
schlossen hielt,  und  bemühten  sich,  die  Obrigkeit  zu  überzeugen, 
daß  die  jüdische  Konkurrenz  den  einheimischen  Handel  zer- 
rütten und  die  russischen  Kaufleule  ruinieren  würde.  Diese 
nicht  nur  gegen  die  Juden,  sondern  auch  gegen  die  Interessen 
der  durch  das  Monopol  der  einheimischen  Kaufmannschaft  aus- 
gebeuteten russischen  Konsumenten  gerichtete  Beschwerde  fand 
in  den  Regierungskreisen  Gehör.  Und  als  im  Herbst  des  gleichen 
Jahres  im  Reichsrate  über  das  Gegengesuch  der  Juden  um  die 
Erlaubnis,  sich  in  die  Moskauer  und  Smolensker  Kaufmannschaft 

279 


einzuschreiben,  beraten  wurde,  kam  man  zum  Beschluß,  daß 
man  den  Juden  das  Recht  des  freien  Handels  in  den  inneren 
Gouvernements  nicht  gewähren  dürfe,  „weil  davon  keinerlei 
Nutzen  zu  erwarten  sei".  Nach  einem  Jahre  wurde  dieser  Be- 
schluß durch  einen  Ukas  Katharinas  II.  (23.  Dezember  1791) 
bestätigt,  welcher  lautete:  ,, Juden  sind  nicht  berechtigt,  in  die 
Kaufmannschaft  der  inneren  russischen  Städte  und  der  Hafen- 
städte einzutreten;  es  ist  ihnen  nur  erlaubt,  die  Rechte  von 
Bürgern  tuid  Kleinbürgern  in  Weißrußland  zu  genießen."  Um 
diese  harte  Maßnahme  etwas  zu  mildern,  fand  es  der  Ukas  ,,für 
angemessen,  dieses  Bürgerrecht  auch  auf  die  Statthalterschaft 
Jekaterinoslaw  und  auf  das  Taurische  Gebiet  auszudehnen", 
d.  h.  auf  das  soeben  einverleibte  Neurußland,  wohin  die  Regie- 
rung damals  mit  großem  Eifer  Menschen  zusammentrieb,  um 
die  weiten  leeren  Steppen  zu  bevölkern. 

So  vollzog  sich  die  erste  Befestigung  der  Juden  an  die  Scholle 
in  Weißrußland.  Nach  weiteren  zwei  Jahren  kamen  zu  dem 
nordwestlichen  Ghetto  durch  die  zweite  Teilung  Polens  das 
benachbarte  Minsker  Gouvernement  tmd  das  südwestliche  Ge- 
biet —  Wothynien  mit  einem  großen  Teüe  des  Kiewer  Landes 
und  Podolien  hinzu.  Der  Ukas  vom  23.  Juni  1794  legalisierte 
die  nun  erweiterte  Ansiedlungszone  für  die  Juden.  Es  wurde 
ihnen  gestattet,  „kaufmännische  und  kleinbürgerliche  Gewerbe 
in  den  folgenden  Gouvernements  auszuüben:  Minsk,  Isjaslaw 
(später  Wolhjmien  genannt),  Bratzlaw  (Podolien),  Polozk 
(Witebsk),  Mohüew,  Kiew,  Tschernigow,  Nowgorod-Ssjewersk, 
Jekaterinoslaw  und  Taurien".  Durch  diesen  Ukas  wurde 
die  Ansiedlungszone  für  die  Juden  um  die  längst  von  Polen 
losgerissene  (aus  den  Gouvernements  Tschernigow,  Nowgorod- 
Ssjewersk  —  später  Poltawa  —  und  einen  Teil  des  Kiewer 
Gouvernements  bestehende)  russische  Ukraine  vergrößert,  aus 
der  man  imter  den  drei  Vorgängerinnen  Katharinas  II.  die 
Juden  mit  großem  Eifer  „über  die  Grenze"  vertrieben  hatte. 
Der  organische  Zusammenhang  Kleinrußlands  mit  der  soeben 
annektierten  polnischen  Ukraine  veranlaßte  die  Regierung,  die 
alteingesessenen  Bewohner  dieses  Landes,  die  Juden,  in  dieses 
Gebiet  zuzulassen,  und  selbst  die  heilige  Stadt  Kiew  öffnete 
ihnen  ihre  Pforten.  Der  Dnjepr  wurde  zum  zentralen  Fluß  des 
„jüdischen"  Territoriums.  Im  Jahre  1795,  nach  der  dritten. Tei- 

280 


luug  Polens,  kam  zu  dem  Becken  des  Dnjepr  auch  das  des 
Njemens  hinzu  —  das  Litauische  Gebiet  (die  Gouvernements 
Wihia  und  Grodno).  Damit  fand  die  Ausgestaltmig  der  „Ansied- 
lungszone"  im  ausgehenden  XVIII.  Jahrhundert  ihren  Abschluß 
Das  östliche  Rußland  wurde  vor  dem  jüdischen  Element  ebenso 
peinlich  geschützt,  wie  einst  in  der  Zeit  des  alten  Moskauer 
Staates.  Die  dem  neuen  Rußland  einverleibte,  mehrere  Millionen 
Seelen  zählende  jüdische  Masse  sah  wohl  kaum  voraus,  daß  die 
primitive  altmoskowitische  Politik  der  für  ein  ganzes  Volk 
verschlossenen  Türe  eines  der  heiligsten  Gebote  des  russischen 
Regimes  während  des  ganzen  XIX.  Jahrhimderts  bleiben  und 
auch  in  das  XX.  Jahrhundert  hinüberspielen  würde. 

Mit  dem  gleichen  Ukas  vom  Jahre  1794,  der  um  die  Ansied- 
lungszone  für  die  Juden  eine  chinesische  Mauer  errichtete,  wurde 
noch  ein  anderes  grundlegendes  Sondeigesetz  eingeführt,  und 
zwar  in  bezug  auf  die  Steuern.  Die  Juden,  die  in  den  Klein- 
bürger- und  Kaufmannsstand  der  Städte  eintreten  wollten, 
mußten  doppelt  so  viel  Steuern  entrichten,  „als  die  für  die 
Kleinbürger  und  Kaufleute  christlicher  Konfession  festgesetzten" ; 
diejenigen  aber,  die  unter  diesen  Bedingungen  nicht  bleiben 
wollten,  mußten  das  Russische  Reich  verlassen,  zuvor  aber  als 
Geldbuße  die  doppelte  Steuer  für  drei  Jahre  bezahlen.  Die  Juden 
mußten  also  für  das  Recht,  in  ihren  alten  Wohnsitzen  zu  bleiben, 
ohne  Freizügigkeit  zu  genießen,  dem  Staate  .doppelt  so  viel 
Steuern  bezahlen  wie  die  Städter  christlicher  Konfession,  die 
über  Freizügigkeit  verfügten.  Diese  Steuerstrafe  befreite  die 
Juden  nicht  von  der  Bezahlung  einer  eigenen  „Rekrutensteuer", 
die  für  sie  wie  für  die  russische  Kaufmannschaft  an  Stelle  der 
persönlichen  Militärpflicht  festgesetzt  war  (Ukase  von  1794  und 
1796).  Von  der  doppelten  Besteuerung  waren  die  Karäer  im 
Taurischen  Gouvernement  befreit,  für  die  sich  der  Generalgouver- 
neur des  Neurussischen  Gebiets,  Subow,  verwendet  hatte.  Den 
Karäem  war  auch  Landerwerb  gestattet;  sie  wurden  überhaupt 
der  christlichen  Bevölkerung  gleichgestellt,  „doch  mit  der  Ver- 
warnung, daß  die  Karäer  in  ihre  Gemeinden  keine  Juden  auf- 
nehmen, die  unter  der  Benennung  Rabbinen  (Rabbinisten) 
bekannt  sind,  für  die  wir  eigene,  genau  zu  befolgende  Gesetze 
erlassen  haben"  (Ukas  vom  8.  Juni  1795).  Darin  tritt  das 
national-religiöse  Motiv  der  beschränkenden  Gesetzgebung  für 

281 


die  Juden  ganz  offen  zutage:  die  seit  Jahrhunderten  vom  jüdi- 
schen Volke  und  seinem  geistigen  Besitze  losgerissenen  wenigen 
Karäer  waren  als  Staatsbürger  viel  lieber  gesehen  als  die  echten 
Juden,  die  mittels  Repressalien  gebändigt  werden  mußten. 

Eine  entschiedene  Neigung  zu  Repressalien  zeigte  sich  im 
Ukas  von  1795,  welcher  anordnete:  alle  in  den  Dörfern  wohnen- 
den Juden  zu  Stadtbewohnern  umzuschreiben,  una  „sich  zu 
bemühen,  sie  in  den  Kreisstädten  anzusiedeln,  damit  diese 
Menschen  sich  nicht  zum  Schaden  der  Allgemeinheit  herum- 
treiben, sondern  durch  Ausübung  des  Handels  und  Hebung  von 
Handwerk  und  Gewerbe  wie  sich  selbst  so  auch  der  Gesellschaft 
nützen".  Dadurch  wurde  die  schon  längst  praktizierte  Willkür 
der  lokalen  Behörden  legalisiert,  die  die  Juden  aus  den  Dörfern 
in  die  Städte  auswiesen  mit  der  Begründimg,  daß  die  Juden 
nur  den  städtischen  Ständen  angehören  können.  Die  aus  den 
Dörfern  ausgewiesenen  und  ihres  ganzen  Erwerbs  beraubten 
Familien  waren  natürlich  nicht  imstande,  auf  den  bloßen  Befehl 
der  Behörden  hin,  „Handel  auszuüben  und  Handwerk  und  Ge- 
werbe zu  heben",  zumal  auch  die  in  den  Städten  schon  vorhan- 
denen Händler  und  Handwerker  kaum  ihren  Lebensunterhalt 
verdienten,  imd  gingen  wirtschaftlich  zugrunde.  Das  System  der 
behördlichen  Bevormundung  konnte  die  wirtschaftliche  Be- 
tätigimg der  Juden  nicht  fördern,  sondern  nur  unterbinden. 
Es  war  das  österreichische  System  Josefs  II.  (§§  5  und  38),  dem 
die  Kaiserin  offensichtlich  nacheiferte. 

Es  fehlte  nicht  an  Versuchen,  diese  Bevormundung  auch  auf 
die  gemeindliche  Selbstverwaltung  auszudehnen.  Im  Jahre  1795 
wurde  ein  älterer  Erlaß  wiederholt,  durch  den,  angesichts  des 
den  Juden  gewährten  Rechtes,  an  der  städtischen  Selbstver- 
waltung (den  Magistraten  und  Munizipalitäten)  teilzunehmen, 
den  Gouvernements-  und  Kreiskahals  alle  öffentlich-gerichtlichen 
Funktionen  genommen  wurden:  „sie  dürfen  sich  mit  keinen 
anderen  Sachen  befassen  als  mit  religiösen  Gebräuchen  und 
Fragen  des  Gottesdienstes".  In  Wirklichkeit  war  aber  die  aktive 
Beteüigung  der  Juden  an  den  Stadtverwaltungen,  angesichts 
der  feindseligen  Haltung  der  christlichen  Bevölkerung  ihnen 
gegenüber,  recht  unt)edeutend.  Die  Kahals  jedoch,  denen  die 
Regierung  steueramtliche  Funktionen  auferlegt  hatte,  blieben 
im  fiskalischen  Interesse  erhalten  und  fuhren  fort,  als  Organe 

282 


der  wenn  auch  zugestutzten  und  desorganisierten  jüdischen 
Gemeindeautonomie  zu  dienen  (vgl.  §  51). 

So  wurde  in  den  letzten  Regierungs jähren  Katharinas  II.  ein 
fester  Grund  zu  der  Sondergesetzgebung  für  die  Juden  gelegt: 
zwischen  dem  westlichen  tind  östlichen  Rußland  wurde  die 
„Moskauer  Mauer"  errichtet;  innerhalb  des  abgeschlossenen 
Streifens  machte  sich  aber  die  Tendenz  bemerkbar,  einen  noch 
schmäleren  Streifen  zu  bilden  und  die  jüdischen  Massen  aus  den 
Dörfern  zu  vertreiben  und  in  den  Städten  und  Marktflecken 
zusammenzupferchen.  Die  Verkörperung  dieser  Tendenz  in 
einem  Gesetz  war  erst  den  Nachfolgern  Katharinas  II.  be- 
schieden. 

Der  Historiker  darf  übrigens  die  einzige  „Reform"  dieses 
Zeitalters  nicht  verschweigen:  in  den  legislativen  Akten  des 
letzten  Jahrzehnts  der  Regierimg  Katharinas  II.  wurde  die  bis 
dahin  gebräuchliche  verächtliche  Bezeichnung  „Shid"  durch 
das  Wort  „Jewrej"  ersetzt^).  Die  russische  Regierung  ging  aber 
über  diese  Wortreform  nicht  hinaus. 

§  46.  Projekte  einer  Reglementierung  des  inneren  jüdischen 
Lebens  (Regierung  Pauls  I.).  Das  System  der  strengen  Be- 
vormundung wurde  auch  während  der  kurzen  Regierungszeit 
Pauls  I.  fortgesetzt  (1796 — 1801).  Dem  Streifen  der  jüdischen 
Ansiedltmgszone  wurde  ein  neues  Randgouvernement  —  Kur- 
land —  angegliedert.  In  dem  im  Jahre  1795  an  Rußland 
angeschlossenen  Herzogtum  Kurland  lebten  einige  tausend 
Juden,  die  nach  deutschem  Muster  als  Ausländer  „toleriert" 
wurden  und  nur  zum  Teil  eine  Gemeindeorganisation  erreicht 
hatten.  Man  stand  vor  der  Frage :  wie  soll  man  die  Staatssteuem 
von  den  Hausierern  eintreiben,  die  den  größten  Teü  der  jüdischen 
Bevölkerung  Kurlands  bDden  und  weder  zu  den  Stadt-  noch  zu 
den  Dorfgemeinden  gehören?  Diese  Frage  wurde  im  Jahre  1799 
durch  die  russische  Regierung  in  folgender  Weise  gelöst:  die 
kurländischen  Juden  sind  ihren  Stammesgenossen  in  den  anderen 
westlichen  Gouvernements  gleichzustellen;  es  ist  ümen  das 
Recht  zu  gewähren,  dem  Kaufmanns-  und  Kleinbürgerstahde 


^)  Das  Wort  „Shid",  das  in  der  ungarischen  und  polnischen  Sprache  die 
einzige  offizielle  Bezeichnung  für  „Jude"  ist,  hat  in  der  russischen  Sprache 
einen  ausgesprochen  beleidigenden  Sinn  (wie  etwa  „Saujude");  die  korrekte 
russische  Bezeichnung  lautet:  „Jewrej"  (Hebräer).   Anm.  d.  Ü. 

283 


beizutreten  und  Gemeinden  zu  gründen.  Die  Interessen  des 
Fiskus  gaben  diesmal  den  Anstoß  zur  Organisienmg  jüdischer 
Gemeinden  im  Lande  der  deutschen  Barone. 

Die  in  den  westlichen  Gouvernements  zusammengepferchte 
jüdisdie  Bevölkerung  durfte  auf  Freizügigkeit  wenigstens  in  den 
Städten  dieses  Gebietes  rechnen.  Von  diesem  elementaren  Rechte 
machten  viele  Juden  im  verarmten  Weißrußland  Gebrauch  und 
wanderten  in  die  reicheren  und  weniger  von  Juden  bevölkerten 
kleinrussischen  Gouvernements  aus,  besonders  in  das  Nowgorod- 
Ssjewersker  (später  Poltawer  genannt).  Die  Regiertmg  wurde 
auf  diese  innere  Wanderung  aufmerksam  tmd  machte  auch  sie 
zum  Gegenstand  strenger  Bevormundung:  den  Kaufleuten  war 
die  Übersiedlung  aus  Weißrußland  nach  Kleuirußland  ohne  wei- 
teres gestattet;  den  Kleinbürgern  aber  nur  bei  Beobachtimg  eige- 
ner Vorschriften  und  mit  besonderer  Erlaubnis  (Dezember  1796). 

Die  Regierungszeit  Pauls  I.,  die  an  gesetzgeberischer  Tätigkeit 
wenig  Bemerkenswertes  bot,  war  an  Vorarbeiten  zu  neuen  Ge- 
setzen ungemein  reich:  in  dieser  Zeit  entstanden  auch  eine  Menge 
Projekte  zur  Reglementierung  des  inneren  Lebens  der  Juden 
auf  Grund  offizieller  „Untersuchimgen".  In  den  letzten  Jahren 
des  XVni.  Jahrhunderts  entfalteten  die  Regierungskanzleien 
eine  fieberhafte  Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete:  die  Regierung 
wollte  sich  über  den  Zustand  der  soeben  erworbenen  polnischen 
Provinzen  tmd  speziell  über  die  Lage  der  jüdischen  Bevölkerung 
informieren.  Das  Studium  begann  mit  einer  Umfrage  beim  Adel 
und  den  höheren  Behörden  der  betreffenden  Gebiete.  Im  Jahre 
1797  war  dies  durch  den  Bericht  über  eine  Hungersnot  im 
Minsker  Gouvernement  veranlaßt  worden.  Der  Minsker 
Gouverneur,  Karnejew,  bekam  aus  Petersburg  den  Befehl,  nach 
Anhörung  der  Ansichten  der  lokalen  Adelsmarschälle,  „ein 
Gutachten  über  die  Ursachen  der  Armut  der  Bauern"  tmd  ein 
Projekt  zur  Besserung  ihrer  Lage  zu  verfassen  und  nach  Peters- 
burg zu  schicken.  Der  weise  Entschluß,  die  adligen  Gutsbsitzer 
nach  den  Ursachen  der  Verarmung  ihrer  leibeigenen  Sklaven, 
der  Bauern,  zu  befragen,  führte  zu  entsprechenden  Resultaten. 
Die  polnischen  Magnaten  und  Adelsmarschälle,  die  sich  in 
Minsk  versammelten,  machten  für  die  Verarmung  ihrer  leib- 
eigenen natürlich  nicht  sich  selbst  verantwortlich,  sondern 
schoben  die  Schuld  einerseits  auf  die  äußeren  Umstände  („Um- 

284 


wälzungen  und  Revolution  im  Lande",  Mißernte,  den  schlediten 
Zustand  der  Straßen  usw.)  und  andererseits  auf  die  Juden,  „die 
von  den  Besitzern  der  Dörfer  als  Pächter  der  Branntwein- 
schenken  auf  dem  Lande  zurückgehalten  werden,  während  die 
Obrigkeit  ihnen  nur  die  Städte  zum  Wohnen  angewiesen  hat". 
Die  sich  in  den  Dörfern  aufhaltenden  jüdischen  Schankwirte  „ver- 
leiten", nach  Ansicht  der  Adelsmarschälle,  „die  Bauern  zur  Trunk- 
sucht, indem  sie  ihnen  Schnaps  auf  Kredit  geben,  und  machen  sie 
unfähig  zum  Wirtschaften".  Zur  Errettimg  der  Bauern  sei  es 
notwendig,  wiederholt  zu  bestätigen,  daß  „das  Schnapsbrennen 
nur  den  Gutsbesitzern  allein  gestattet  und  allen  Juden  und 
sonstigen  Schankwirten  und  Pächtern  verboten  sei"  und  daß 
in  den  Dorf  schenken  „ausschließlich  der  von  den  Gutsbesitzern 
hergestellte  Branntwein  verkauft  werden  dürfe".  Mit  anderen 
Worten:  der  Bauernstand  wird  aufblühen  und  „fähig  zum 
Wirtschaften"  werden,  wenn  er  statt  des  jüdischen  Schnapses 
Gutsbesitzerschnaps  trinken  wird  ...  Es  bedarf  keines  tiefen 
staatsmännischen  Geistes,  um  den  tieferen  Grund  des  „Gut- 
achtens" des  Adels  zu  erkennen,  der  um  die  Erhaltung  seines 
Branntweinmonopols  (des  polnischen  Rechtes  der  „Propination") 
besorgt  war;  dieses  Gutachten  wurde  nichtsdestoweniger  vom 
Minsker  Gouverneur  dem  Zaren  imterbreitet,  welcher  folgende 
Resolution  faßte:  ,,Es  sind  dem  Gutachten  der  Adelsmarschälle 
entsprechende  Maßregeln  zur  Beschränkung  der  Rechte  der 
Juden,  die  die  Bauern  ruinieren,  zu  ergreifen"  (28.  Juli  1797). 
Der  Senat  brachte  zu  gleicher  Zeit  dem  Gouverneur  den  Ukas 
Katharinas  in  Erinnerung,  die  Juden  in  den  Kreisstädten  anzu- 
siedeln, „damit  diese  Menschen  sich  nicht  zum  Schaden  der 
Gesellschaft  herumtreiben".  Dies  war  ein  Freibrief  zur  Vertrei- 
bung der  Juden  aus  den  Dörfern. 

Im  Jahre  1798  kam  nun  der  Adel  von  Wolhynien  und 
Podolien  an  die  Reihe:  auch  er  wurde  nach  seinen  Wünschen 
zum  Wohle  des  Vaterlands  befragt.  Die  Adelsrnarschälle  von 
Podolien  stellten  bei  ihrer  Zusammenkunft  zu  Kamenetz  einen 
viel  weitergehenden  Reformplan  auf,  als  ihre  Minsker  Genossen. 
Indem  der  Adel  dem  Zaren  seinen  Dank  „für  die  Allerhöchste 
Gnade,  daß  man  ihm  das  Recht  der  Propination  beläßt",  aus- 
spricht, ersucht  er  um  Erlassung  eines  Verbots,  „die  Schnaps- 
brennerei und  das  Recht  der  Propination  in  den  Marktflecken 

285 


und  Dörfern  nicht  nur  an  Juden,  sondern  auch  an  Christen  zu 
vergeben";  dem  Adel  soll  aber  die  „Freiheit"  belassen  werden, 
die  Schenken  durch  eigene  Leute  zu  bewirtschaften.  Nachdem 
sie  sich  das  Monopol,  das  Volk  durch  Vermittlung  eigener 
Schankwirte  mit  Schnaps  zu  vergiften,  gesichert  hatten,  machten 
die  adligen  Gutsbesitzer  den  Vorschlag,  die  Mehrzahl  der  Juden 
zu  Kommissionären  für  den  Export  der  ländlichen,  d.  h.  der  von 
den  Gutsbesitzern  erzeugten  Produkte  ins  Ausland  zu  machen, 
„was  den  Ackerbauern  (?)  und  dem  Adel  einen  kommerziellen 
Gewinn  einbringen  wird",  die  übrigen  Juden  aber  teils  „in  den 
Schenken  der  Gutsbesitzer  zu  belassen"  und  teüs  „zu  Ackerbau 
und  Handwerk  zu  zwingen".  Diese  glänzende  Perspektive  — 
die  Verwandlung  der  Juden  in  Angestellte  des  Adels  zum  Ex- 
port der  ländlichen  Produkte  und  zum  Verkauf  des  von  den 
Gutsbesitzern  erzeugten  Schnapses,  erschien  wohl  auch  den 
Juden  selbst  wenig  verlockend.  Durch  die  Pläne  des  Adels 
beunruhigt,  hielten  auch  sie  eine  Versammlung  ab  (in  Ostrog, 
Sommer  1798)  und  faßten  den  Beschluß:  Gelder  zu  sammeln 
imd  eine  Deputation  nach  Petersburg  zum  Zaren  zu  entsenden 
zwecks  Darlegung  der  Bedürfnisse  und  Wünsche  der  Juden  des 
südwestlichen  Gebiets,  die  man  zu  befragen  vergessen  hatte, 
wie  sie  sich  ihre  Zukunft  selbst  denken.  Aber  der  Generalgouver- 
neur des  südwestlichen  Gebiets,  Graf  Gudo witsch  „erfuhr  auf 
geheime  Weise"  von  den  Vorbereitungen  der  Juden.  Der  weit- 
sichtige Politiker  fürchtete,  „daß  die  Geldsammlung  zu  irgend- 
einem verbrecherischen  Anschlage  bestimmt  sei";  darum  kon- 
fiszierte er  das  bereits  gesammelte  Geld,  untersagte  weitere 
Sammlungen  und  berichtete  von  seiner  Heldentat  nach  Peters- 
burg. Zu  seinem  Erstaunen  bekam  der  übereifrige  Generalgou- 
vemeur  die  Antwort,  daß  der  Zar  im  Verlangen  der  Juden, 
eine  Deputation  zu  ihm  zu  entsenden,  nichts  Verbrecherisches 
erblicke  und  befehle,  die  konfiszierten  Gelder  den  Juden  zurück- 
zugeben und  die  Entsendung  der  Deputation  zu  gestatten 
(September  1798).  Ob  die  Deputation  nach  Petersburg  kam 
und  was  für  ein  Resultat  diese  Reise  hatte,  ist  unbekannt;  aber 
die  Tatsache  allein  zeigt,  daß  selbst  in  diesem  finsteren  Zeit- 
alter, in  der  finsteren  chassidischen  Masse  von  Wolhynien  imd 
Podolien  das  Gefühl  für  die  sich  vollziehende  politische  und 
soziale  Krise  nicht  ganz  erloschen  war. 

286 


Als  letzter  reagierte  auf  die  Umfrage  der  Regierung  der  Adel 
von  Litauen.  Die  Adelsmarschälle  der  neunzehn  litauischen 
Kreise  imter breiteten  im  Jahre  1800  dem  Wilnaer  Gouverneur 
Friesel  ihr  „Gutachten",  das  in  der  Beratung  mit  allen  gegen 
drei  Stimmen  angenommen  worden  war.  Drei  Adelsmarschälle 
hatten  vorgeschlagen,  die  Juden  in  ihrem  bisherigen  Zustande 
wie  unter  dem  polnischen  Regime  zu  belassen;  die  übrigen 
hatten  aber  den  Plan  zu  einer  „Reform"  ausgearbeitet,  der  noch 
viel  radikaler  war,  als  die  Pläne  des  Minsker  und  des  Podolischen 
Adels.  Man  müsse  den  Juden  nicht  nur  die  Schnapsbrennerei 
und  das  Halten  eigener  Schenken  verbieten,  sondern  auch  den 
Schnapsausschank  in  den  „adligen  Schenken";  die  jüdische 
ländliche  Bevölkerung,  die  auf  diese  Weise  um  ihre  Erwerbs- 
quellen kommen  würde,  sei  teüs  in  den  Städten,  teils  „in  den 
der  Krone  und  den  Gutsbesitzern  gehörenden  Dörfern  anzu- 
siedeln tmd  soll  das  Recht  bekommen,  Ackerbau  zu  treiben  und 
Güter  in  Pfand  und  Pacht  zu  nehmen".  Die  wirtschaftliche 
Reform  sollte  von  einer  inneren  begleitet  werden:  ., Die  eigene 
jüdische  Kleidung  ist  abzuschaffen  und  durch  eine  Kleidung 
von  gleicher  Gestalt  zu  ersetzen,  wie  sie  die  übrigen  Bewohner 
tragen."  Dann  muß  man  überhaupt  die  Absonderung  der  Juden 
bekämpfen,  die  „ein  eigenes  Volk  darstellen  und  eine  eigene 
Verwaltung  unter  dem  Namen  von  Sjmagogen  und  Kahals  haben, 
welch  letztere  nicht  nur  geistliche  Gewalt  ausüben,  sondern  sich 
auch  in  alle  zivüen,  die  Polizei  angehenden  Angelegenheiten 
einmischen".  Dies  werde  die  Juden  zwingen,  in  der  übrigen 
Bevölkerung  aufzugehen.  Der  „reformatorische"  Eifer  des 
litauischen  Adels,  der  es  für  nötig  hielt,  im  Zusammenhange 
mit  der  Branntweinfrage  auch  die  Frage  der  Gemeindeautonomie 
zu  lösen,  beruhte  auf  äußerer  Beeinflussung.  Der  Wilnaer  Gou- 
verneur, Friesel,  ein  gebüdeter  Deutscher,  der  wohl  über  den 
Stand  der  Judenfrage  in  Deutschland  unterrichtet  war,  hatte 
den  litauischen  Marschällen  den  Plan  für  die  Reformen  ein- 
gegeben. Im  April  1800  schickte  qjr  die  Gutachten  an  den  Senat 
und  fügte  ihnen  eine  eigene  umfangreiche  Denkschrift  bei,  in 
der  vieles  offensichtlich  den  Projekten  des  polnischen  Vier- 
jährigen Reichstags  entlehnt  war.  Friesel  sprach  von  der  Not- 
wendigkeit einer  „allgemeinen  Reform"  imd  berief  sich  sogar 
auf  die  Beispiele  des  Westens;  diesen  Beispielen  entnahm  er 

287 


aber  die  allerschlimmsten  Methoden  des  „aufgeklärten  Abso- 
lutismus*'".  Nach  seiner  Ansicht  „muß  die  Reform  des  jüdischen 
Volkes  bei  der  Religion  beginnen":  man  müsse  „alle  Sekten  und 
Irrlehren  ausrotten  und  alle  Neueinführungen  verbieten,  mit 
denen  Betrüger  den  Pöbel  zu  einem  noch  schlimmeren  Aber- 
glauben verführen"  (eine  Anspielung  auf  den  Chassidismus  und 
die  Zaddikim,  deren  Kampf  mit  den  Rabbinern  die  damalige 
russische  Regierung  mit  Interesse  verfolgte) ;  femer  müsse  man 
die  Juden  verpflichten,  ihre  Kinder  in  den  „öffentlichen  Schulen" 
unterrichten  zu  lassen,  den  ganzen  Verkehr  in  polnischer  Sprache 
abzuwickeln,  allgemeine  Kleidung  zu  tragen  und  keine  Ehen 
vor  zwanzig  Jahren  einzugehen;  schließlich  müsse  man  die 
Juden  in  drei  Klassen  einteüen:  Kaufleute,  Handwerker  und 
Ackerbauer,  und  diese  in  die  allgemeine  Ständeordnung  des 
Reiches  einreihen,  um  auf  diese  Weise  die  Dienste  der  Kahals 
bei  der  Steuereintreibung  entbehrlich  zu  machen,  wodurch  die 
jüdische  Autonomie  ganz  von  selbst  aufhören  würde. 

Alle  die  Gutachten  des  Adels  und  die  Projekte  der  Gouver- 
neure liefen  im  Frühjahr  1800  beim  Senat  ein,  der  sie  als  Material 
zu  einem  neuen  gesetzgeberischen  Akte  zu  prüfen  hatte.  Hier 
lernte  sie  der  Senator  G.  R.-Derschawin,  der  berühmte  russi- 
sche Dichter  kennen,  dem  es  beschieden  war,  sich  zu  einem 
„Fachmann"  für  die  jüdische  Frage  heranzubilden.  Im  fernen 
Osten  Rußlands  geboren,  hatte  Derschawin  den  größten  Teil 
seines  I^bens  in  Petersburger  Kanzleien  verbracht  und  die 
jüdische  Masse  zum  erstenmal  im  weißrussischen  Städtchen 
Schklow  zu  sehen  bekommen,  wohin  man  ihn  im  Jahre  1799 
zur  Untersuchung  der  Afföre  des  verabschiedeten  Generals 
Soritsch  kommandiert  hatte.  General  Soritsch,  ein  ehemaliger 
Günstling  Katharinas,  führte  in  dem  ihm  gehörenden  Städtchen 
Schklow  da$  ausgelassene  Leben  eines  echten  russischen  Sa- 
trapen. Seine  Launen  bekam  auch  die  zahlreiche  jüdische  Be- 
völkerung des  Städtchens  zu  spüren.  Soritsch  büdete  sich  ein, 
daß  die  auf  seinem  Grund  und  Boden  lebenden  Juden  die  gleichen 
Leibeigenen  seien  wie  die  Bauern,  und  behandelte  sie  dement- 
sprechend: die  einen  vertrieb  er  aus  dem  Städtchen  und  nahm 
ihnen  ihre  Häuser  weg,  die  anderen  prügelte  er  eigenhändig, 
von  den  dritten  ließ  er  sich  Getränke  liefern,  ohne  etwas  dafür 
zu  zahlen.  Auf  die  Beschwerde  der  Juden  hin,  kommandierte 

288 


man  den  Senator  Derschawin  nach  Sdiklow,  und  Paul  I.  beauf- 
tragte ihn,  die  Willkür  des  rasend  gewordenen  Gutsbesitzers  zu 
bändigen.  Derschawin,  der  in  tiefster  Seele  Anhänger  der  Leib- 
eigenschaft war,  zeigte  große  Nachsicht  gegen  die  Exzesse 
Soritschs  und  fand,  daß  die  Juden  selbst  die  Schuld  hätten. 
Infolge  des  Todes  Soritschs  (1800)  wurde  das  Verfahren  ein- 
gestellt, der  Senat  kam  aber  zur  prinzipiellen  Entscheidung, 
daß  die  Juden  als  Angehörige  des  Kaufmanns-  und  des  Kllein- 
bürgerstandes  der  Gewalt  der  Gutsbesitzer  nicht  imterstehen. 

Ein  Jahr  später  wurde  Derschawin  abermals  nach  Weißruß- 
land kommandiert,  diesmal  mit  sehr  weitgehenden  Vollmachten 
ausgerüstet.  In  diesem  Gebiete  herrschte  eine  furchtbare  Hungers- 
not, die  weniger  auf  Mißernte  als  auf  dem  empörenden  Verhalten 
der  Gutsbesitzer  beruhte:  diese  Herren  sorgten  in  keiner  Weise 
für  die  Verpflegung  ihrer  Bauern  und  verwendeten  Riesen- 
mengen  von  Getreide  für  den  Export  und  zur  Herstellung  von 
Branntwein,  mit  dem  sie  ihre  Bauern  vergifteten.  Als  Kaiser 
Paul  Derschawin  nach  Weißrußland  entsandte,  gab  er  ihm  die 
Vollmacht,  diese  Mißbräuche  abzustellen  und  die  Gutsbesitzer 
exemplarisch  zu  bestrafen,  die  „aus  grenzenloser  Habgier  ihre 
Bauern  ohne  Hufe  darben  lassen";  Derschawin  sollte  ihnen 
ihre  Güter  wegnehmen  und  dem  Vormundschaftsgericht  in  Ver- 
waltung geben  (16.  Juni  1800).  Die  Zusatzinstruktion,  die 
Derschawin  vom  Generalanwalt  des  Senats,  Oboljaninow,  mit- 
t)ekam,  enthielt  noch  folgenden  Punkt:  „Da  aber  nach  unseren 
Informationen  eine  nicht  unwesentliche  Ursache  für  die  Ver- 
armung der  weißrussischen  Bauern  die  Juden  bilden,  so  ist  es 
der  Wille  seiner  Majestät,  daß  Eure  Exzellenz  eine  besondere 
Aufmerksamkeit  der  Tätigkeit  dieser  Juden  zuwenden  und 
Ansichten  über  die  Mittel  zur  Abwendimg  dieses  Schadens 
äußern."  Dieser  offen  judenfeindliche  Nachtrag,  der  nicht  ohne 
Mitwirkung  Derschawins  zustande  gekommen,  von  ihm  jeden- 
falls gutgeheißen  worden  war,  hatte  den  Zweck,  den  gegen  die 
Gutsbesitzer  gerichteten  Schlag  zu  mildem  und  gegen  die  Juden 
zu  lenken. 

Derschawin  wurde  mit  seinem  Auftrag  in  Weißrußland  sehr 
schnell  fertig:  einem  polnischen  Magnaten  namens  Oginski 
nahm  er  das  Gut  weg,  schloß  persönlich  eine  jüdische  Schnaps- 
brennerei im  Städtchen  Liosna  (der  Residenz  des  berühmten 

19    Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  28Q 


Zaddiks  R.  Salman  Schneersohn)  und  verftilir  dabei  so  energisch, 
daß  eine  Jüdin  ihn  wegen  Mißhandlung  verklagte.  Nachdem 
Derschawin  auf  diese  Weise  „Ordnung  geschaffen"  hatte,  machte 
er  sich  ans  Werk,  das  er  für  seine  Hauptaufgabe  hielt:  an  die 
Ausarbeitung  einer  umfangreichen  Denkschrift  über  die  Juden, 
die  folgenden  charakteristischen  Titel  trug:  „Ansicht  des  Sena- 
tors Derschawin  über  die  Bekämpfung  des  Getreidemangels  in 
Weißrußland  mittels  Einschränkung  der  eigennützigen  Tätigkeit 
der  Juden,  über  die  Reformierung  dieser  letzteren  tmd  über 
andere  Dinge."  Schon  dieser  Titel  allein  verrät  die  Gnmdtendenz : 
die  Verantwortung  für  den  wirtschaftlichen  Verfall  des  Landes, 
wo  die  Gutsbesitzer  die  Herren  der  Lage  waren,  auf  die  Juden 
zu  wälzen.  Derschawin  beschränkte  sich  aber  nicht  auf  die 
Kritik  der  wirtschaftlichen  Betätigung  der  Juden;  er  wollte 
auch  ihr  inneres  Leben,  ihren  Glauben,  Erziehung  und  Unter- 
richt, die  Gemeindeordnimg  und  den  „sittlichen  Zustand" 
schildern.  Dabei  benutzte  er  sehr  verschiedene  Quellen.  Als  ier 
an  seiner  Denkschrift  im  Herbst  1800  zu  Witebsk  arbeitete, 
sammelte  er  Auskünfte  bei  den  judenfeindlichen  Kleinbürgern 
und  Kaufleuten,  den  „gelehrten"  Lehrern  des  Jesuitenkollegs, 
an  verschiedenen  Amtsstellen  imd  selbst  bei  den  Kosaken. 
Derschawin  hatte  übr^ens  auch  zwei  Projekte  ,, aufgeklärter 
Juden"  zur  Hand.  Der  Verfasser  eines  dieser  Projekte,  der  reiche 
Kaufmann  tmd  ehemalige  Heereslieferant  bei  der  Potjomkin- 
schen  Armee,  Notte  Schklower,  der  um  diese  Zeit  in  Peters- 
burg lebte  imd  die  Stimmung  der  Regierungskreise  kannte, 
machte  den  Vorschlag,  die  Juden  zur  Fabrikindustrie  heranzu- 
ziehen, die  neben  Ackerbau  imd  Viehzucht  in  eigenen  Kolonien 
„in  der  Nähe  der  Häfen  des  Schwarzen  Meeres"  einzuführen 
sei.  Der  andere  Projektemacher,  der  Arzt  Frank  aus  Kres- 
lawka  (Gouvernement  Witebsk),  offenbar  ein  deutscher  Jude 
aus  dem  Kreise  der  Anhänger  Mendelssohns,  empfahl  der  Re- 
gierung durch  Vermittlung  Derschawins,  ihre  Aufmerksamkeit 
einer  Reformierung  der  jüdischen  Religion  zuzuwenden,  „welche 
in  ihrer  ursprünglichen  Reinheit  auf  dem  einfachen  Deismus 
und  den  Forderungen  der  reinen  Moral  beruht",  aber  im  Laufe 
der  Zeit  durch  die  „Dummheiten  des  Talmuds"  verdorben  wor- 
den sei;  Frank  meinte,  daß  man  auch  in  Rußland  den  von  Men- 
delssohn empfohlenen  Weg  gehen  und  öffentliche  Schulen  für 

290 


die  Juden  errichten  solle,  in  denen  die  Jugend  in  der  russischen, 
deutschen  und  hebräischen  Sprache  unterrichtet  werden  würde; 
der  aufgeklärte  Jude  würde  aber  für  den  Staat  unbedingt  nütz- 
lich sein.  Außer  diesen  Projekten  hatte  Derschawin  auch  die 
Muster  der  preußischen  „Judenreglements",  die  obenerwähnten 
Gutachten  der  westrussischen  Adelsmarschälle  imd  Gouverneure 
und  ähnliches  zur  Verfügung.  Auf  Grund  dieses  Materiales  ent- 
schloß sich  der  Würdenträger,  der  die  Juden  nur  einmal  auf  der 
Durchreise  in  Weißrußland  gesehen  hatte,  ein  sehr  detailliertes 
Gutachten  über  die  Reformierung  des  ganzen  jüdischen  I^bens 
zu  verfassen. 

Das  von  Derschawin  gezeichnete,  überaus  düstere  Büd  des 
jüdischen  lyebens  zeugt  von  der  sehr  oberflächlichen  Bekannt- 
schaft des  Dichters  mit  dem  Gegenstand  seiner  Schüderung; 
die  Kritik  der  Erscheinungen  ist  oft  von  erstaunlicher  Naivität: 
Handel,  Pacht,  Schankgewerbe,  Maklerei  sind  nur  „fein  erdachte 
Vorwände,  um  unter  dem  Anscheine  von  Dienstfertigkeit  und 
der  Sorge  um  den  Nutzen  seiner  Nächsten,  den  Besitz  der  letz- 
teren zu  plündern";  die  Schule  ist  „ein  Herd  von  Aberglauben"; 
ein  moralisches  Gefühl  ist  bei  den  Juden  überhaupt  nicht  vor- 
handen: sie  haben  keine  Ahnung  von  Menschenliebe,  Selbst- 
losigkeit und  sonstigen  Tugenden;  sie  sind  nur  mit  dem  An- 
sammeln „von  Schätzen  zum  Baue  eines  neuen  Salomonischen 
Tempels  oder  zu  fleischlichen  (?)  Genüssen"  beschäftigt.  Nach 
dieser  seltsamen   Charakteristik   folgt   das  umfangreiche,   aus 
88  Punkten  bestehende  Derschawinsche  Projekt  zur  Reformie- 
rung der  Juden.  Man  muß  die  Juden  für  „unter  dem  allerhöchsten 
Schutze  und  Protektorat  stehend"  erklären  und  einen  eigenen 
„Protektor",  einen  christlichen  Beamten,  ernennen,  der  mit  Hufe 
eigener  Gouvernementskommissionen  das  Reformwerk  zu  ver- 
wirklichen hätte;  alle  Juden  sind  zu  registrieren  und  müssen 
Famüiennamen  annehmen;  sie  sind  in  vier  Klassen  einzuteüen: 
Kaufleute,  städtische  Bürger,  ländliche  Kleinbürger  tmd  Acker- 
bauer, wobei  jeder  Jude  verpflichtet  ist,  sich  in  eine  dieser 
Klassen  eintragen  zu  lassen;  diese  ganze  Masse  ist  gleichmäßig 
über  das  ganze  weißrussische  Gebiet  zu  verteilen,  der  Überschuß 
nach  anderen  Gouvernements  zu  verbringen.  Die  Kahals  können 
abgeschafft  werden;  zur  Leitung  der  geistlichen  Angelegenheiten 
der  Juden  sind  in  den  Gouvernements  ,, Synagogen"  mit  Rab- 

19'  291 


binem  und  „Schulvorstehem",  in  Petersburg  aber  ein  oberstes 
geistliches  Gericht  unter  dem  Namen  „Sendarin"  zu  errichten 
(so  schreibt  Derschawin  das  hebräische  Wort  „Sanhedrin"  = 
Synhedrion,  das  er  wohl  nur  vom  Hörensagen  kannte);  an  der 
Spitze  dieses  Instituts  soll  ein  Großrabbiner  oder  „Patriarch" 
stehen.  Weiter  werden  verschiedene  Repressiv-  und  Zwangs- 
maßregeln empfohlen.  Es  ist  den  Juden  zu  verbieten,  ctiristliche 
Dienstboten  zu  halten;  das  Recht,  an  den  Stadtverwaltungen 
mitzuwirken,  ist  ihnen  zu  nehmen;  sie  müssen  ihre  eigene  Tracht 
ablegen  und  alle  Akten  und  Geschäftspapiere  entweder  russisch 
oder  polnisch  oder  deutsch  schreiben;  ihre  Kinder  dürfen  die 
religiösen  Schulen  nur  bis  zum  Alter  von  zwölf  Jahren  besuchen 
und  müssen  dann  in  allgemeine  Schulen  tibertreten;  schließlich 
muß  die  Regierung  eine  hebräische  Druckerei  gründen  und  in 
dieser  religiöse  Werke  „mit  philosophischen  Anmerkungen" 
herstellen.  Auf  diese  Weise  würde  „das  widerspenstige  und  listige 
Volk  der  Juden  eine  anständige  Einrichtung  bekommen",  und 
Kaiser  Paul  I.  würde  nach  Abschluß  dieser  Reform  für  die  Er- 
füllung des  Gebots:  „Liebet  eure  Feinde  und  tut  wohl  denen, 
die  euch  hassen"  tinsterblichen  Ruhm  ernten. 

So  ist  dieses  Projekt  ein  Gemisch  der  Ansichten  eines  patriar- 
chalischen Russen  über  eine  ihm  unbekannte  Kultur  mit  Re- 
formplänen im  damaligen  preußischen  Kasernenstü,  ein  Ge- 
misch klerikal-bureaukratischer  Ansichten  mit  aufklärerischen 
Strömimgen  imd  „phüosophischen"-  Tendenzen,  eines  ererbten 
Judenhasses  mit  einem  intuitiven  Gefühl  für  die  historische 
Tragödie  des  Judentums  und  dem  Bestreben  ,,sie  zu  nützlichen 
Staatsbürgern  zu  machen".  Alles  ist  vom  Geiste  der  kanzlei- 
mäßigen Bevormundung  imd  Reglementierung  umschwebt, 
vom  Glauben,  daß  man  eine  uralte  Kultumation  nach  Belieben 
wie  einen  Haufen  von  Schachfiguren  umstellen  könne,  dem 
Glauben  an  das  Heü  einer  mechanischen  Reform,  der  damals, 
wenn  auch  in  einer  weniger  naiven  Form,  auch  in  Westeuropa 
herrschte. 

Das  Gutachten,  das  Derschawin  im  Dezember  1800  dem  Senat 
übergab,  sollte  zugleich  mit  den  früher  eingelaufenen  Gutachten 
der  westrussischen  Adelsmarschälle  und  Gouverneure  als  Ma- 
terial für  einen  neuen  grundlegenden  gesetzgeberischen  Akt 
betreffs  der  Juden  dienen.    Dieser  kam  aber  unter  der  Regie- 

292 


rung  Pauls  I.  nicht  mehr  zustande.  Im  März  1801  starb  der 
Zar  auf  tragische  Weise,  und  die  Angelegenheit  der  „jüdischen 
Reform"  trat  in  die  neue  Phase  des  Kampfes  der  liberalen 
Strömungen  der  ersten  Regierungs jähre  Alexanders  I.  mit  den 
Vorurteilen  der  Ritter  des  alten  Polens  und  des  alten  Rußlands. 

§  47.  Das  „Komitee  zur  Wohleinrichtung  der  Juden"  und  das 
Statut  von  1804.  Der  liberale  Wind,  der  in  den  ersten  Regie- 
rmigs Jahren  Alexanders  I.  wehte,  brachte  einen  erfrischen- 
den Hauch  in  die  erstickende  Atmosphäre  der  Petersburger 
Kanzleien,  wo  die  nichts  vom  jüdischen  Leben  wissenden  Be- 
amten an  den  verschiedenen  Reformprojekten  arbeiteten.  Zur 
Erörterung  der  jüdischen  Frage  kam  es  nicht  so  bald.  In  den 
Jahren  1801 — 1802  war  die  Regierung  mit  dem  Umbau  des 
ganzen  Staatsmechanismus  beschäftigt;  es  wurden  die  Mini- 
sterien und  der  Reichsrat  gegründet,  der  Senat  verlor  seine 
bisherige  „regierende"  Gewalt,  und  das  in  seinen  Kanzleien 
aufgestapelte  Material  zur  Judenfrage  mußte  einem  neuen  In- 
stitut übergeben  werden.  Ein  solches  Institut  entstand  im  No- 
vember 1802.  Auf  allerhöchsten  Befehl  wurde  das  ,, Komitee 
zur  Wohleinrichtung  der  Juden"  ins  Leben  gerufen,  zu  dessen 
Mitgliedern  folgende  Personen  ernannt  wurden:  Minister  des 
Inneren  Kotschubej,  der  Justizminister  und  Fachmann  für  die 
Judenfrage  Derschawin,  Graf  W.  Subow  und  zwei  polnische 
Würdenträger  —  der  intime  Freund  Alexanders  I.  Adam 
Czartoryski  (Gehilfe  des  Ministers  des  Auswärtigen)  tmd  der 
Senator  Severin  Potocki.  Das  Komitee  wurde  beauftragt,  alle  im 
Derschawinschen  „Gutachten"  bezüglich  Weißrußlands  berühr- 
ten Fragen  zu  untersuchen,  um  „die  Wohleinrichtung  der  Juden 
auch  auf  die  anderen  ehemals  polnischen  Gouvernements  aus- 
zudehnen". 

Die  Gerüchte  von  dem  in  Petersburg  gegründeten  eigenen 
Komitee  für  jüdisdie  Angelegenheiten,  das  seiner  Tätigkeit  das 
Projekt  Derschawins  zugrunde  legen  werde,  riefen  unter  den 
Juden  des  nordwestlichen  Gebiets,  die  die  judenfeindlichen 
Neigungen  des  Senators  kannten,  eine  Panik  hervor.  In  Minsk 
fand  im  Dezember  1802  eine  eigene  Beratung  statt,  die  zu 
folgendem  Beschluß  kam:  „Angesichts  der  ungünstigen  Ge- 
rüchte aus  der  Hauptstadt  Petersburg,  daß  alle  die  Juden  be- 
treffenden Angelegenheiten  einer  Kommission  von  fünf  hohen 

293 


Beamten  übergeben  werden,  muß  man  sofort  nach  Petersburg 
reisen  und  unseren  Kaiser  bitten,  daß  sie  (die  Beamten)  keinerlei 
Neueinfübrungen  bei  uns  machen."  Es  wurde  eine  eigene  Ge- 
meindesteuer zur  Deckung  der  mit  der  Reise  der  Bevollmächtig- 
ten nach  Petersburg  verbundenen  Kosten  erhoben  und  ein  für 
alle  Gemeindemitglieder  obligatorisches  dreitägiges  Fasten  fest- 
gesetzt, während  dessen  in  den  Synagogen  Bittgottesdienste  um 
Abwendung  des  drohenden  Unglücks  abgehalten  wurden.  Als 
der  Minister  des  Innern  Kotschubej  von  dieser  Erregung  unter 
den  Juden  erfuhr,  schickte  er  an  alle  Gouverneure  ein  Rund- 
schreiben (Januar  1803)  mit  dem  Auftrag,  die  Gemüter  zu  be- 
ruhigen.   Es  wurde  ihnen  vorgeschrieben,  den  Kahals  mitzu- 
teüen,  daß  „der  Gründung  des  Komitees  zur  Behandlung  ihrer 
(der  Juden)  Angelegenheiten  durchaus  nicht  die  Absicht  zu- 
grunde liegt,  sie  irgendwie  zu  beschränken  oder  in  ihren  Vor- 
teüen  zu  kürzen:   es  wird  im  Gegenteü  beabsichtigt,   ihnen 
Sicherheit  und  eine  bessere  innere  Verfassung  zu  gewähren". 
Viel  beruhigender  als  diese  Worte  hätte  eine  gleichzeitig  er- 
folgte Aktion  der  Regierung  wirken  können.  Zu  Beginn  des 
Jahres  1803  beschloß  das  „Jüdische  Komitee",  Delegierte  von 
allen  Gouvemements-Kahals  nach  Petersburg  zu  laden,  um  ihre 
Ansichten  über  die  Wünsche  und  Bedürfnisse  des  Volkes  zu 
hören,  das  man  erst  vor  kurzem  ungefrs^  hatte  reformieren 
wollen.  Das  war  die  erste  Bresche  in  der  Kanzleiroutine  Peters- 
burgs. In  den  Kahals  arbeitete  man  nun  eifrig  an  den  Vorberei- 
tungen zur  Entsendung  der  Abgeordneten  nach  Petersburg;  im 
Winter  tmd  Herbst  kamen  in  der  Hauptstadt  die  Delegierten 
der  verschiedenen  Gouvernements  zusammen.  Sie  hatten  die 
Genugtuung,   den  Austritt  Derschawins   aus  dem  Jüdischen 
Komitee  zu  erleben.  Der  konservative  Derschawin  hatte  den 
Justizministerposten  verloren,  da  er  in  die  liberale  Regierung 
der  ersten   Regierungs jähre  Alexanders  I.   nicht  hineinpaßte. 
Nach  seinem  Rücktritt  hörte  sein  „Gutachten"  auf,  dem  Komitee 
als  obligatorischer  Leitfaden  zu  dienen.  Die  aus  der  Provinz 
gekommenen  Deputierten  trafen  in  der  Hauptstadt  eine  kleine 
Gruppe  vorwiegend  aus  Weißrußland  stammender  Juden  an, 
die  sich  zeitweise  in  eigenen  Angelegenheiten  in  Petersburg  auf- 
hielten.  Diese   wenigen  kaum  geduldeten  Fremden,   die  kein 
dauerndes  Wohnrecht  in  Petersburg  besaßen,  hatten  dennoch 

294 


das  Recht  errungen,  hier  zu  sterben  und  ihre  Toten  auf  einem 
eigenen,  1802  eröffneten  Friedhofe  zu  bestatten.  Dieser  Friedhof 
war  der  symbolische  Keim  zu  der  jüdischen  Gemeinde  Peters- 
burgs, und  unter  dem  gleichen  Symbol  des  Todes  trafen  sich 
hier  die  Provinzdelegierten  mit  ihren  Petersburger  Stammes- 
genossen bei  einer  eigenartigen  „Feier"  im  Sommer  1803:  auf 
Initiative  der  Delegierten  xmd  in  ihrer  Gegenwart  wurden  die 
sterblichen  Überreste  dreier  Juden,  die  auf  einem  christlichen 
Friedhofe  beerdigt  waren,  auf  den  neuen  jüdischen  Friedhof 
verbracht. 

Unter  den  Petersburger  Juden  gab  es  einige,  die  infolge  ihrer 
Verbindungen  mit  hohen  Würdenträgem  imd  ihrer  Bekannt- 
schaft mit  dem  Kanzleibetrieb  den  Delegierten  aus  der  Provinz 
sehr  wesentliche  Dienste  leisten  konnten.  Einer  von  ihnen,  der- 
selbe Kaufmann  Notte  Schklower  (der  jetzt  Notkin  hieß),  der 
im  Jahre  1800  Derschawin  sein  Reformprojekt  überreicht  hatte, 
spielte  anscheinend  die  Rolle  des  offiziellen  Leiters  der  Depu- 
tation, da  er  schon  vorher  zur  Teilnahme  an  den  Arbeiten  des 
Jüdischen  Komitees  herangezogen  worden  war.  Notkin  fuhr 
fort,  sein  Projekt  der  Förderung  der  Landwirtschaft  und  der 
Industrie  unter  den  Juden  zu  verteidigen,  erlebte  aber  den 
Kanzleitriumph  seiner  Idee  nicht  mehr:  er  starb  am  Vorabend 
der  Veröffentlichung  eines  Gesetzes,  in  dem  seine  Idee  zum  Teil 
Anerkennung  fand.  Ein  anderer  Petersburger  Jude,  der  reiche 
Elronlieferant  und  Kommerzienrat  Abraham  Perez  nahm  an 
den  jüdischen  Angelegenheiten  keinen  unmittelbaren  Anteil, 
konnte  aber  auch  seinerseits  den  Delegierten  gewisse  Dienste 
leisten,  da  er  geschäftliche  Verbindungen  in  den  Beamtenkreisen 
hatte. 

Das  „Komitee  zur  Wohleinrichtung  der  Juden"  imtersuchte 
inzwischen  die  bei  ihm  eingelaufenen  Projekte,  arbeitete  einen 
allgemeinen  Reformplan  aus  und  teilte  diesen  den  jüdischen 
Delegierten  mit.  Nach  langem  Schwanken  gaben  die  Delegierten 
die  Erklärung  ab,  daß  sie  ohne  eine  Beratung  mit  den  Kahals, 
von  denen  sie  gewählt  worden  waren,  sich  zu  dem  Plan  nicht 
äußern  könnten,  und  ersuchten  um  eine  Frist  von  sechs  Monaten 
„zur  Beratung".  Das  Komitee  ging  aber  auf  einen  so  langen 
Aufschub  nicht  ein  und  entschloß  sich,  die  Hauptpunkte  seines 
Projektes  den  Kahals  durch  Vermittlung  der  Gouverneure  mit- 

295 


zuteilen;  die  Kahals  „durften  an  den  Artikeln  nichts  streichen", 
sondern  nur  ihre  Ansichten  über  die  Methoden  zur  Verwirk- 
lichimg der  geplanten  Reformen  mitteilen.  Aber  auch  diese 
schriftliche  Umfrage  hatte  nicht  die  „erwünschte  Wirkung". 
Die  schon  von  vorneherein  in  der  freien  Meinungsäußening 
beschränkten  Kahals,  die  nicht  einmal  das  Recht  hatten,  sich 
über  das  Projekt  als  solches  zu  äußern,  druckten  in  ihren  Ant- 
worten nur  den  Wunsch  aus,  daß  man  die  ,,Korrektionsmaß- 
regehi"  auf  zwanzig  Jahre  verschieben  möchte;  insbesondere 
das  beabsichtigte  Verbot  des  Schankgewerbes  und  der  lyand- 
pacht,  welches  das  ganze  Wirtschaftsleben  der  Juden  zerrütten 
würde.  Das  Komitee  schenkte  dem  Gesuche  der  Kahals,  das  eine 
indirekte  Verurteüung  der  Grundprinzipien  des  Projektes  ent- 
hielt, keine  Beachtung  und  setzte  seine  Arbeit  in  bisheriger 
Richtung  fort. 

Volle  Einmütigkeit  herrschte  aber  auch  im  Komitee  selbst 
nicht.  Es  kämpften  hier  anscheinend  zwei  Richtungen:  die 
utüitaristische  gegen  die  humanistische,  die  Anhänger  der 
„Korrektionsmaßregeln"  imd  der  Zwangsreform  gegen  die  Ver- 
fechter der  absoluten  Gleichberechtigung.  Ein  Vertreter  der 
letzteren  war  Speranskij,  der  hervorragende  Staatsmann, 
der  Rußland  schon  im  Anfang  des  XIX.  Jahrhimderts  in  einen 
Rechtsstaat  hätte  ximwandeln  können,  wenn  er  nicht  den  fatalen 
Bedingungen  der  russischen  Wirklichkeit  zum  Opfer  gefallen 
wäre.  Um  jene  Zeit  diente  er  am  Ministerium  des  Inneren  unter 
Minister  Kotschubej  und  verfaßte  Reformprojekte  für  die 
verschiedenen  Zweige  der  Staatsverwaltung.  Speranskij  nahm 
auch  an  der  Tätigkeit  des  „Komitees  für  die  Wohleinrichtung 
der  Juden"  lebhaften  Anteü,  Im  Journal  des  Komitees  vom 
20.  September  1803  ist  folgende  bedeutungsvolle  Außetung 
Speranskijs  erhalten  geblieben:  „Reformen,  die  durch  die  Re- 
gierungsgewalt eingeführt  werden,  sind  im  allgemeinen  nicht 
dauerhaft  und  insbesondere  in  solchen  Fällen  unsicher,  wo  diese 
Gewalt  mit  jahrhundertalten  Gewohnheiten  zu  kämpfen  hat. 
Es  ist  daher  am  besten  und  sichersten,  die  Juden  der  Vollkommen- 
heit entgegenzuführen,  indem  man  sich  darauf  beschränkt, 
ihnen  die  Wege  zu  ihren  eigenen  Vorteilen  zu  öffaien,  ihre  Be- 
wegungen aus  der  Feme  zu  überwachen  und  alles  fernzuhalten, 
was  sie  von  diesem  Wege  abbringen  könnte,  ohne  irgendwelche 

296 


Gewalt  anzuwenden,  ohne  eigene  Ressorts  dajfür  zu  gründen, 
und  anstatt  für  sie  zu  wirken,  ihre  eigene  Wirksamkeit  zu  be- 
günstigen. So  wen^  als  möglich  Verbote,  so  viel  als  möglich 
Freiheiten  —  das  sind  die  einfachsten  Elemente  für  jede  gesell- 
schaftliche Einrichtung."  Das  war  das  erste  vernünftige  Wort, 
das  man  von  der  Petersburger  Bureaukratie  zu  hören  bekam, 
seitdem  sich  die  Regierung  an  die  Beratung  der  Judenfrage 
gemacht  hatte.  Es  bedeutete  die  entschiedene  Verurteilung  jenes 
Systems  der  staatlichen  Bevormundung  und  der  „Korrektions- 
maßregeln", durch  die  man  damals  imd  auch  später  ein  ganzes 
Volk  „reformieren"  zu  können  glaubte.  Darin  war  zum  erstenmal 
das  leuchtende  Prinzip  des  Humanismus  ausgesprochen  worden: 
öffnet  den  Juden  freie  Entwicklungswege,  gebt  ihnen  Raum  zu 
selbständiger  Betätigung,  und  sie  werden  schließlich  einen  Weg 
wählen,  der  zur  ,,  Vollkommenheit"  oder  zum  Fortschritt  führt . . . 
Auf  dieser  Höhe  des  politischen  Denkens  konnten  sich  die  Staats- 
männer selbst  des  damaligen  liberalen  Petersburgs  nicht  halten. 
Die  Idee  Speranskijs  war  eine  für  das  rauhe  russische  Klima 
selbst  in  der  Zeit  des  Frühlings  viel  zu  zarte  Blüte,  die  verwelken 
miißte. 

Im  Komitee  siegte  die  patentierte  Staatsweisheit  jener  Zeit  — 
das  System  der  Bevormundung  und  der  Zwangsreformen.  Im 
Bericht,  den  das  „Jüdische  Komitee"  im  Oktober  1804  dem 
Kaiser  Alexander  I.  unterbreitete,  war  keine  Spur  von  jenen 
freigeistigen  Stimmungen  mehr  enthalten,  die  vor  einem  Jahre 
im  Komiteejoumal  zum  Durchbruch  gekommen  waren.  Der 
Bericht  berechnet  die  Zahl  der  steuerzahlenden  jüdischen  Be- 
völkenmg  auf  174  385  männlicher  und  weiblicher  Seelen:  ,, diese 
Ziffer  entspricht  aber  nicht  einmal  einem  Fünftel  ihrer  wirk- 
lichen Anzahl";  die  Zahl  aller  Juden  belief  sich  also  nach  An- 
sicht des  Komitees  auf  etwa  eine  Million;  des  ferneren  war 
darin  gesagt,  daß  diese  ganze  Masse  nur  in  den  neu  erworbenen 
polnisch-litauischen  Gouvernements,  in  Kleinrußland  und  Kur- 
land wohne,  aber  in  die  inneren  Gouvernements  nicht  zugelassen 
werde  (es  folgt  der  historische  Hinweis,  daß  Juden  sich  in 
Rußland  niemals  niederlassen  durften);  daß  die  Juden  doppelte 
Steuern  zu  zahlen  haben,  den  allgemeinen  Gerichten  und  den 
Stadtverwaltungen  imterstehen,  während  ihre  Kahals  von  der 
Gouvemementspolizei  beaufsichtigt  werden;  daß  sie  nichtsdesto- 

297 


weniger  sich  von  den  allgemeinen  Institutionen  fernhalten  und 
alle  ihre  Angelegenheiten  in  den  Kahals  erledigen;  zuletzt  wurde 
darauf  hingewiesen,  daß  das  unter  den  Juden  verbreitete  Schank- 
gewerbe  eine  Quelle  vieler  Miß  brauche  sei  und  Beschwerden 
seitens  der  übrigen  Bevölkerung  hervorrufe.  Auf  allen  diesen 
Tatsachen  basierend,  arbeitete  das  Komitee  den  Entwurf  zu 
einem  Reglement  aus,  der  in  seinen  wesentlichen  Zügen  in  das 
bald  darauf  veröffentHchte  und  vom  Zaren  am  9.  Dezember 
1804  bestätigte  „Statut  von  der  Verfassung  der  Juden**  auf- 
genommen wurde. 

Diese  Akte  —  ein  Gemenge  von  „Freiheiten"  und  Beschrän- 
kungen —  war,  wie  es  in  der  Einleitung  hieß,  „von  der  Sorge 
um  das  wahre  Wohl  der  Juden  imd  um  die  Vorteüe  der  ein- 
gesessenen Bevölkerung  jener  Gouvernements,  wo  den  Juden 
das  Wohnen  erlaubt  ist",  diktiert  worden.  Der  zweite  Teü  dieses 
Satzes  enthält  bereits  eine  I/isung  der  Frage  von  der  Ansied- 
lungszone  für  die  Juden:  diese  Zone  bUeb  auf  das  gleiche  Terri- 
torium beschränkt  und  bestand  aus  dreizehn  Gouvernements: 
den  zwei  Litauischen,  zwei  Weißrussischen,  zwei  Kleinrussischen, 
dem  Minsker,  Wolhyner,  Kiewer  und  Podolischen  und  schließ- 
lich den  drei  Neurussischen.  Eine  gewisse  Erweiterung  dieser 
Zone  war  durch  das  neue  „Statut"  nur  für  die  zukünftige 
Klasse  der  jüdischen  Ackerbauer  vorgesehen  worden,  denen  das 
Wohnrecht  in  zwei  weiteren  Gouvernements  gestattet  werden 
sollte:  im  Astrachaner  und  im  Kaukasischen.  Auf  wirtschaft- 
lichem Gebiete  stellte  das  neue  Gesetz  zwei  Pole  fest:  den 
negativen  —  das  ländliche  Schank-  und  Pachtgewerbe,  das 
erbarmungslos  ausgerottet  werden  sollte,  und  einen  positiven  — 
den  Ackerbau,  der  unter  den  Juden  auf  jede  Weise  zu  begünstigen 
und  zu  verbreiten  sei.  Gegen  das  Schankgewerbe  und  überhaupt 
gegen  jede  Handelstätigkeit  auf  dem  Lande  war  der  härteste 
Paragraph  (§  34)  des  Gesetzes  von  1804  gerichtet,  welcher 
lautete:  ,,Kein  Jude  darf  in  den  Gouvernements  Astrachan, 
Kaukasus,  Kleinrußland  und  Neurußland  vom  i.  Januar  1807 
an,  in  den  übrigen  Gouvernements  aber  vom  i.  Januar  1808 
an  in  den  Dörfern  irgendeine  Pacht,  Schenke,  Herbei^e  und 
Wirtshaus,  weder  unter  seinem  eigenen  noch  unter  fremdem 
Namen  innehaben  oder  betreiben,  und  überhaupt  in  irgendeiner 
Form  wohnen,  höchstens  auf  der  Durchreise."  Dieser  Paragraph 

298 


merzte  aus  dem  Ejreise  der  wirtschaftlichen  Betätigung  der 
Juden  einen  Beruf  gänzlich  aus,  der  zwar  nicht  besonders  ehren- 
voll war,  aber  fast  die  Hälfte  der  jüdischen  Bevölkerung  Ruß- 
lands ernährte.  Zugleich  wurde  das  auch  ohnehin  enge  Ansied- 
lungsgebiet  für  die  Juden  durch  die  Ausschließung  der  Dörfer 
noch  mehr  eingeengt. 

Diese  wirtschaftliche  und  rechtliche  Benachteiligung  sollte 
durch  die  Vorrechte  kompensiert  werden,  die  das  „Statut"  von 
1804  solchen  Juden  versprach,  die  sich  dem  Ackerbau  widmen 
wollten:  sie  erhielten  das  Recht,  unbewohnte  I^ändereien  in  den 
westlichen  und  zwei  östlichen  Gouvernements  zu  kaufen  oder 
sich  axif  den  der  Krone  gehörenden  Ländereien  anzusiedeln, 
wo  ümen  bestimmte  I/andparzeUen  unter  Befreiung  von  allen 
Abgaben  für  die  ersten  Jahre  in  Aussicht  gestellt  wurden.  Wie 
es  sich  aber  später  herausstellte,  entsprach  die  dargereichte 
Arzenei  nicht  dem  Ernst  der  zugefügten  Wimde:  Hvmdert- 
tausende  von  Menschen,  die  seit  vielen  Jahren  vom  Handel  auf 
dem  flachen  Lande  gelebt  hatten,  verloren  plötzlich  das  Recht, 
diesen  Handel  auszuüben;  und  zu  der  neuen  Tätigkeit,  dem 
Ackerbau,  konnten  in  der  nächsten  Zeit  nur  unbedeutende 
Gruppen  der  jüdischen  Bevölkerung  herangezogen  werden.  Zu 
den  zu  begünstigenden  Berufen  des  zweiten  Ranges  zählte  das 
neue  Gesetz  die  Fabrikindtistrie  und  das  Handwerk:  die  Fabri- 
kanten und  Handwerker  wurden  von  der  Bezahlung  der  doppel- 
ten Steuer  befreit,  und  den  Gründern  „der  notwendigsten 
Fabriken"  wurden  außerdem  Vorschüsse  aus  Staatsmitteln  ver- 
sprochen. Die  Kaufmannschaft  und  das  Kleinbürgertum  kamen 
in  die  letzte  „geduldete"  Klasse.  Den  Fabrikanten,  Handwerkern 
und  Kaufleuten  war  der  vorübergehende  Aufenthalt  zur  Er- 
ledigung geschäftlicher  Angelegenheiten  „in  den  inneren  Gou- 
vernements und  selbst  in  den  Residenzstädten"  gestattet,  doch 
nur  mit  eigenen  Gouvemeurspässen,  wie  sie  für  die  Reisen 
ins  Ausland  vorgeschrieben  waren. 

Im  Artikel  von  „der  bürgerlichen  Einrichtung  der  Juden" 
stellt  das  neue  Gesetz  eiiierseits  die  Abhängigkeit  der  Juden 
von  den  Stadtmagistraten,  Polizeibehörden  und  allgemeinen 
Gerichten  fest  und  gewährt  ihnen  andererseits  das  Recht,  die 
Rabbiner  und  Kahalbeamten  zu  wählen;  die  Wahlen  müssen 
alle  drei  Jahre  vorgenommen  werden  und  unterliegen  der  Be- 

299 


stätigung  der  Gouvemementsverwaltung,  Ein  weiterer  Artikel 
besagt,  daß  die  Rabbiner  „nur  die  Beobachtung  der  religiösen 
Bräuche  zu  überwachen  und  alle  sich  auf  die  Religion  beziehen- 
den Streitigkeiten  zu  schlichten  haben";  es  wird  ihnen  aufs 
strengste  verboten,  „Bannflüche"  (,,Cherems")  anzuwenden; 
die  Kahals  haben  aber  für  die  pünkliche  Bezahlung  der  Staats- 
steuern zu  sorgen.  Die  Gemeindeautonomie  der  Juden  sollte 
also  unter  zwei  Flaggen  wirken  —  der  religiösen  und  der  fiska- 
lischen —  und  hatte  alle  ihre  verschiedenen  Aufgaben  entweder 
Gott  oder  dem  Mammon  anzupassen. 

Als  Aushängeschild  für  das  Ausland  diente  der  erste  Artikel: 
,,Von  der  Aufklärung."  Den  jüdischen  Kindern  wurde  der  Zu- 
tritt zu  allen  russischen  Volksschulen,  Gymnasien  und  Universi- 
täten gestattet;  den  Juden  wurde  auch  das  Recht  gewährt,  ihre 
eigenen  Schulen  für  allgemeine  Bildung  mit  obligatorischem 
Unterricht  in  einer  der  drei  Sprachen  —  Russisch,  Polnisch  oder 
Deutsch  —  zu  gründen.  In  einer  dieser  drei  Sprachen  mußten 
auch  alle  öffentlichen  Urkunden  und  Wechsel  geschrieben  und 
die  Geschäftsbücher  geführt  werden;  zur  Durchführung  dieser 
Maßregel  wurde  eine  Frist  von  2 — 6  Jahren  vom  Tage  der 
Veröffentlichung  des  Gesetzes  an  gewährt.  Die  zu  Magistrats- 
mitgliedem  sowie  auch  zu  Rabbinern  und  Kahalmitgliedern 
zu  wählenden  Juden  mußten  eine  der  drei  genannten  Sprachen 
in  Wort  und  Schrift  beherrschen;  die  jüdischen  Magistrats- 
mitglieder wurden  verpflichtet,  Kleidung  von  pohlischem, 
russischem  oder  deutschem  Schnitt  zu  tragen.  Mit  diesem  „auf- 
klärerischen" Programm  zollte  die  russische  Regierung  ihren 
Tribut  den  gemäßigt-liberalen  Ideen  der  Zeit.  Im  allgemeinen 
war  die  Akte  von  1804  ein  typisches  Reglement  nach  preußisch- 
österreichischem Muster.  Es  lag  ihr  jenes  System  der  durch 
Regierungsgewalt  betriebenen  Reformen  zugrunde,  vor  dem 
Speranskij  erfolglos  gewarnt  hatte.  Dieses  System  bedeutete 
den  gewaltsamen  Abbruch  einer  I^ebenskultur,  die  während  vieler 
Jahrhunderte  entstanden  war,  und  führte  zu  harten  Repressalien 
auf  der  einen  und  zur  Verelendtmg  der  bevormundeten  Massen 
auf  der  anderen  Seite. 

§  48.  Die  Folgen  des  Gesetzes  von  1804:  die  Vertreibung  aus 
den  Dörfern.  Die  jüdische  Gesellschaft  betrachtete  das  Gesetz 
von    1804   durchaus   objektiv   als  eine   Verheißung   fraglicher 

300 


Woiiltaten  für  die  Zukunft  und  eines  großen  Elends  für  die 
Gegenwart.  Die  Aussicht  auf  die  künftigen  Wohltaten,  die 
von  einer  Schwächung  der  Grundstützen  der  nationalen  Selb- 
ständigkeit —  der  Sprache.  Schule  und  Gemeindeautonomie  — 
bedingt  war,  konpte  den  von  den  westlichen  Strömungen  noch 
nicht  berührten  russischen  Juden  kaum  besonders  verlockend 
erscheinen.  Um  so  schmerzlicher  empfanden  sie  den  drohenden 
wirtschaftlichen  Schlag  —  die  Vertreibung  vieler  Tausender 
Familien  aus  den  Dörfern.  Es  zeigte  sich  bald,  daß  von  dieser 
Maßregel  sechzigtausend  Familien  betroffen  werden  sollten.  In 
den  zwei  oder  drei  Jahren,  die  bis  zu  der  Elatastrophe  noch  blie- 
ben, konnte  diese  große  Masse  immöglich  neue  Berufe  ergreifen 
und  neue  Niederlassungsmöglichkeiten  finden;  folglich  stand 
ihr  der  Himgertod  bevor.  Nim  begannen  in  Petersburg  ganze 
Stöße  von  Gesuchen  um  Aufschub  der  Vertreibung  der  Juden 
aus  den  Dörfern  einzulaufen.  Die  Gesuche  kamen  nicht  nur 
von  den  Gemeinden,  sondern  auch  von  den  Gutsbesitzern,  für 
die  die  Entfernung  der  jüdischen  Pächter  und  Schankwirte  aus 
ihren  Besitzungen  großen  Schaden  bedeutete.  Je  näher  der  für 
die  Vertreibung  festgesetzte  Zeitpunkt  —  der  Anfang  des  Jahres 
1808  —  heranrückte,  um  so  lauter  tönte  das  Jammergeschrei 
aus  der  Provinz.  Es  ist  unbekannt,  wie  die  russische  Regierung 
auf  diese  Schreie  reagiert  hätte,  wenn  um  diese  Zeit  sich  nicht 
etwas  ereignet  hätte,  was  eine  große  Panik  in  den  politischen 
Kreisen  Petersburgs  hervorrief. 

Es  war  der  Herbst  des  Jahres  1806,  als  aus  Paris  nach  allen 
Ländern  Europas  Aufrufe  und  Einladungen  zu  dem  bevor- 
stehenden „Großen  Synhedrion"  ergingen.  Dieser  Plan  Napo- 
leons, der  der  österreichischen  Regierung  solche  Angst  gemacht 
hatte  (§  36),  rief  auch  in  Petersburg  Unruhe  hervor.  Napoleon 
hatte  soeben  Preußen  zerschmettert,  war  in  die  polnischen  Pro- 
vinzen Preußens  eingedrungen  und  näherte  sich  den  Grenzen 
Rußlands.  Die  Angst  vor  dem  pohtischen  Genie  des  französischen 
Kaisers  gab  der  russischen  Regierung  den  Verdacht  ein,  daß 
Napoleon  durch  die  Einberufung  des  alljüdischen  Synhedrions 
die  jüdischen  Massen  Preußens,  Österreichs  und  Rußlands  auf 
seine  Seite  locken  wolle;  unter  diesen  Umständen  war  es  wahr- 
scheinlich, daß  die  Erbitterung  der  russischen  Juden  über  die 
bevorstehende  Vertreibung  aus  den  Dörfern  die  tückischen  Pläne 

301 


Napoleons  begünstigen  und  einen  Herd  von  Russenhaß  in  den 
Gebieten  schaffen  könne,  die  zum  Kriegsschauplatz  werden 
würden.  Um  dieser  Gefahr  zu  entgehen,  mußte  man  die  Erbitte- 
rung besänftigen  und  die  Austreibung  einstellen.  In  den  ersten 
Februartagen  von  1807  (den  Tagen,  wo  in  Paris  die  ersten  Sit- 
zungen des  Synhedrions  stattfanden)  unterbreitete  der  Minister 
des  Inneren  Kotschubej  dem  Kaiser  Alexander  I.  den  Vorschlag, 
„die  Übersiedlung  der  Juden  aus  den  Dörfern  in  die  Städte  und 
Marktflecken  aufzuschieben  und  überhaupt  diese  Nation  in 
Anbetracht  der  Absichten  der  französischen  Regienmg  mit 
Vorsicht  zu  behandeln".  Der  Kaiser  war  damit  einverstanden, 
und  gleich  darauf  wurde  ein  eigenes  Komitee  zur  Erörtenmg 
der  Frage  von  der  Anwendung  des  „Statutes"  von  1804  ins 
Leben  gerufen.  Ein  Senator  Alexejew  wurde  beauftragt,  die  west- 
lichen Gouvernements  zu  bereisen  und  sich  zu  überzeugen,  in- 
wiefern „die  militärischen  Umstände,  der  gegenwärtige  Zustand 
der  Grenzgouvemements  und  das  Elend,  das  den  Juden  droht, 
wenn  man  sie  zwangsweise  in  die  Städte  übersiedelt"  diese 
Übersiedlung  erschweren  oder  sogar  unmöglich  machen  würde 
(15.  Februar).  Der  Minister  schrieb  zugleich  den  Behörden 
der  westlichen  Gouvernements  vor,  streng  darüber  zu  wachen, 
daß  die  russischen  Juden  keinerlei  Beziehungen  zu  dem  Pariser 
Sjnihedrion  unterhalten,  das  die  französische  Regierung  zum 
Werkzeug  politischer  Beeinflussimg  der  Juden  machen  wolle. 
In  diesem  Rundschreiben  wurde  den  Gouverneuren  eine  recht 
kuriose  Maßregel  empfohlen:  den  Juden  einzuflößen,  daß  das 
Pariser  Synhedrion  die  jüdische  Religion  abändern  wolle  und 
daher  keine  Sjmipathie  verdiene.  Zu  derselben  Zeit  versandte 
auch  der  Heüigste  Sjmod  Rundschreiben  an  die  Geistlichkeit 
mit  dem  Auftrage,  der  Bevölkerung  beizubringen,  daß  Napoleon 
ein  Feind  der  Kirche  und  ein  Fretmd  der  Juden  sei.  „Zur  Schmä- 
hung der  Kirche  Christi",  hieß  es  im  Aufruf  des  Synods,  „hat 
er  (Napoleon)  in  Frankreich  jüdische  Synagogen  einberufen  und 
das  Große  Synhedrion  errichtet — dieselbe  gottlose  Versammlung, 
die  sich  einst  erfrecht  hatte,  unseren  Herrn  und  Heiland  Jesus 
Christus  zum  Tode  am  Klreuze  zu  verurteilen  — ,  um  die 
durch  den  Zorn  des  Höchsten  über  das  Angesicht  der  ganzen 
Erde  verstreuten  Juden  zu  sammeln,  um  die  Kirche  Christi  zu 
stürzen  und  in  Person  Napoleons  einen  falschen  Messias  auszu- 

302 


rufen."  So  brachte  es  die  russischie  Regierung,  die  in  Erwartung 
des  Krieges  den  Kopf  verloren  hatte,  fertig,  zur  gleichen  Zeit 
die  Juden  mit  der  Judenfeindlichkeit  Napoleons  und  die  Christen 
mit  seiner  Judenfreundlichkeit  zu  schrecken;  den  einen  redete 
sie  ein,  daß  das  Synhedrion  gegen  die  jüdische  Religion  gerichtet 
sei,  und  den  anderen  —  daß  es  von  einem  jüdischen  „falschen 
Messias"  zur  Bekämpfung  des  Christentums  einberufen  werde. 
Unter  diesen  schwierigen  Umständen  entschloß  sich  die  Re- 
gierung von  neuem,  eine  Umfrage  bei  den  jüdischen  Gemeinden 
über  die  zur  Verwirklichung  der  Reform  zu  ergreifenden  Maß- 
regeln zu  veranstalten.  Der  diese  Umfrage  anordnende  kaiser- 
liche Ukas  (rg.  Februar)  ist  in  einem  ungewöhnlich  milden  Tone 
gehalten:  „Indem  Wir  Unsem  Untertanen  jüdischer  Nation 
einen  neuen  Beweis  für  Unsere  Sorge  um  ihre  Wohleinrichtung 
geben  wollen,  haben  Wir  es  für  gut  befunden,  allen  jüdischen 
Gemeinden  in  den  Gouvernements:  Wilna,  Grodno,  Kiew, 
Minsk,  Podolien,  Wolhynien,  Witebsk  und  Mohilew  zu  gestatten, 
Abgeordnete  zu  wählen  und  durch  deren  Vermittlimg  den  Gou- 
verneuren solche  Mittel  und  Wege  für  die  erfolgreichste  Durch- 
führung der  im  Statut  des  Jahres  1804  niedergelegten  Maßregeln 
anzugeben,  die  sie  selbst  für  die  besten  halten."  Die  Abgeord- 
neten wurden  nicht  nach  Petersburg,  sondern  in  die  Gouveme- 
mentsstädte  zu  den  Gouverneuren  berufen.  Bald  begannen  die 
Antworten  der  Abgeordneten  oder  „Bevollmächtigten"  der 
jüdischen  Gemeinden  einzulaufen.  Diese  Antworten  beschränkten 
sich  nicht  auf  den  verhängnisvollen  34.  Artikel,  der  von  der 
Vertreibung  aus  den  Dörfern  handelte ;  alle  Abgeordneten  waren 
sich  darin  einig,  daß  man  diesen  Artikel  entweder  abschaffen 
oder  seine  Durchführung  für  eine  Reihe  von  Jahren  hinaus- 
schieben müsse ;  es  wurden  auch  sehr  wesentliche  Einwände  gegen 
die  anderen  Artikel  der  „jüdischen  Verfassung"  ausgesprochen. 
Die  Abgeordneten  ersuchten  um  die  Abschaffung  der  doppelten 
Steuern,  die  die  Kaufleute  und  Kleinbürger  zu  zahlen  hatten, 
um  die  Erweiterung  der  Kompetenz  der  Rabbinergerichte  und 
um  eine  Milderung  der  Artikel,  die  den  Gebrauch  der  jüdischen 
Sprache  in  Urkunden,  Wechseln  und  Geschäftsbüchern  unter- 
sagten: die  einen  verlangten,  daß  man  die  Durchführung  des 
für  den  Handel  störenden  Sprachenparagraphen  hinausschiebe, 
die  anderen  wollten  die  Genehmigimg  erwirken,  Wechsel  im 

303 


Betrage  von  unter  hundert  Rubeln  hebräisch  schreiben  zu 
dürfen  (was  mit  der  rabbinischen  Form  der  Schuldverschreibung 
—  „Jiska"  —  zusammenhing).  Die  Abgeordneten  wiesen  auch 
darauf  hin,  wie  schwer  es  für  sie,  die  Rabbiner  und  Magistrats- 
mitglieder, sei,  sich  in  einer  so  kurzen  Zeit  die  russiche  Sprache 
und  Schrift  anzueignen.  Mit  der  Änderung  der  Tracht  für  die 
Magistratsmitgiieder  und  die  sich  vorübergehend  außerhalb  der 
Ansiedlungszone  aufhaltenden  Juden  waren  sie  einverstanden, 
bemerkten  aber,  daß  die  vorgeschriebene  ,, deutsche"  Tracht 
den  Juden,  denen  das  Gesetz  verbietet,  den  Bart  zu  rasieren, 
nicht  zu  Gesicht  stehe,  und  daß  sie  es  daher  vorziehen  würden, 
in  solchen  Fällen  den  langen  russischen  Kaftan  zu  tragen.  Und 
was  die  Aufklärungsparagraphen  betrifft,  so  meinten  die  Ab- 
geordneten, daß  die  der  russischen  Sprache  unkundigen  jüdischen 
Eünder  in  russischen  Schulen  gar  nicht  lernen  können  würden; 
es  sei  daher  zweckmäßiger,  diese  Kinder  in  eigenen  jüdischen 
Schulen,  wo  sie  ihre  Nationalsprache  und  die  „Glaubensdogmen" 
erlernen,  auch  in  der  russischen  Sprache  zu  unterweisen. 

Als  diese  Antworten  der  Abgeordneten  durch  Vermittlung  der 
Gouverneure  Petersburg  erreichten,  hatte  der  dortige  politische 
Wind  wieder  umgeschlagen.  Im  Juli  1807  wurde  der  Tüsiter 
Friede  imterschrieben;  zwischen  Napoleon  und  Alexander  I. 
kam  die  „Entente  cordiale"  zustande,  und  Rußland  brauchte 
nicht  mehr  die  „Ränke  Bonapartes"  zu  fürchten.  Auch  die 
Angst  vor  einer  Verschwörung  der  russischen  Juden  mit  dem 
vor  kurzem  aufgelösten  Pariser  Synhedrion  hatte  sich  verflüch- 
tigt, und  zugleich  war  auch  jedes  offizielle  Mitleid  mit  den  Juden, 
die  man  eben  zugrunde  richten  wollte,  verschwunden.  Der  letzte 
Termin  für  die  Vertreibung  aus  den  Dörfern  (i.  Januar  1808) 
rückte  heran,  und  am  19.  Oktober  1807  erging  ein  äußerst  harter 
kaiserlicher  Ukas  an  die  Generalgouvemeure  des  westlichen  Ge- 
biets: „Die  mit  einem  Kriege  zusammenhängenden  Umstände 
hätten  die  Ausweisung  der  Juden  erschweren  oder  unmöglich 
machen  können.  Heute  aber,  nach  Beseitigung  der  Kriegsgefahr, 
können  diese  Schwierigkeiten  durch  die  Festsetzung  von  geeig- 
neten Maßregeln  für  die  zweckmäßigste  Übersiedlimg  der  Juden 
beseitigt  werden.  Aus  diesem  Grunde  haben  Wir  es  für  gut  be- 
funden, eine  Ordnung  aufzustellen,  nach  der  die  Übersiedlung 
der  Juden,  die  am  festgesetzten  Termin  zu  beginnen  hat,  ohne 

304 


jeden  Aufschub  und  ohne  Nachsicht  durchgeführt  werden  soll." 
Die  „Ordnung"  bestand  darin,  daß  die  Vertreibung  aus  den 
Dörfern  allmählich  im  I^aufe  von  drei  Jahren  zu  geschehen  hatte: 
ein  Drittel  sollte  im  Jahre  1808  vertrieben  werden,  das  zweite 
Drittel  im  Jahre  1809,  das  letzte  Drittel  im  Jahre  1810.  Zur 
Überwachung  und  Zeitung  der  Übersiedlung  wurden  eigene 
Komitees  bei  den  Gouverneuren  errichtet;  die  Komitees  hatten 
auch  den  Auftrag,  die  Kahals  zu  veranlassen,  den  Ausgewiesenen, 
d.  h.  den  Menschen,  die  von  der  Regierung  so  erbarmungslos 
ruiniert  wurden,  finanzielle  Hilfe  zu  leisten. 

Nun  begannen  die  Schrecken  der  Vertreibung.  „Solche,  die 
nicht  freiwillig  ausziehen  wollten,  wurden  mit  Gewalt  vertrieben; 
viele  wurden  unter  Bewachung  von  Bauern  und  Soldaten  ex- 
mittiert. Man  trieb  sie  wie  Viehherden  in  die  Flecken  und  Städte 
zusammen  und  ließ  sie  da  auf  den  Marktplätzen  unter  freiem 
Himmel  stehen.  Am  grausamsten  ging  die  Vertreibung  der 
Juden  aus  den  Dörfern  im  Witebsker  Gouvernement  vor  sich." 
Viele  von  den  Ausgewiesenen  ersuchten  die  Obrigkeit  um  Über- 
siedlung nach  den  landwirtschaftlichen  Kolonien  Neurußlands, 
wo  sich  schon  einige  Hundert  jüdische  Familien  einigermaßen 
eingerichtet  hatten.  Das  Elend  der  jüdischen  Bevölkerung 
erreichte  solche  Grenzen,  daß  die  Gouverneure  nach  Petersburg 
von  der  Unmöglichkeit,  dem  Ukas  von  der  Vertreibung,  ohne  die 
gänzliche  Zugrunderichtung  zahlloser  Familien,  nachzukommen, 
meldeten.  Ende  Dezember  1808  wurde  ein  neuer  Ukas  ver- 
öffentlicht: die  Ausweisung  der  Juden  aus  ihren  bisherigen 
Wohnorten  ist  bis  zu  einem  neuen  Erlaß  einzustellen.  Anfang 
Januar  1809  wurde  aber  in  Petersburg  ein  neues  Komitee  (schon 
das  dritte)  berufen,  welches  die  Frage  von  der  Ablenkung  der 
Juden  vom  Schankgewerbe  zu  anderen  Berufen  allseitig  zu  unter- 
suchen hatte.  Diesem  Komitee  gehörten  an:  der  Senator  Alexe- 
jew,  der  die  westlichen  Gouvernements  bereist  hatte,  der  Ge- 
heimrät Popow,  der  Gehilfe  des  Ministers  des  Inneren  Koso- 
dawljew  u.  a,  m.  In  der  kaiserlichen  Instruktion  für  den  Präsi* 
deuten  des  Komitees,  Popow,  wurde  anerkannt,  daß  die  Unmög- 
lichkeit, die  Juden  aus  den  Dörfern  in  die  Städte  zu  verpflanzen, 
darauf  beruhe,  „daß  die  Juden  infolge  ihrer  Armut  keine  Mittel 
haben,  um  nach  Ausweisung  aus  ihren  bisherigen  Wohnsitzen 
sich  in  der  neuen  I^age  einzurichten;  ebenso  kann  die  Regierung 

so    Dubnow,  Geschichte  der  Joden  I  SOS 


nicht  die  Kosteo  jfür  die  Einrichtung  der  Juden  an  den  neuen 
Wohnsitzen  auf  sich  nehmen;  daher  sind  Mittel  und  Wege  aus- 
findig zu  machen,  um  den  Juden,  die  ihre  einzige  Erwerbsquelle 
—  den  Schnapsausschank  in  Dörfern,  Wirtshäusern  und  Her- 
bergen, verlieren,  die  Möglichkeit  zu  geben,  sich  ihren  I^bens- 
unterhalt  durch  Arbeit  zu  verdienen".  Das  Komitee  hatte  auch 
den  Auftrag,  die  schon  vorher  eingelaufenen  „Antworten"  der 
jüdischen  Abgeordneten  zu  prüfen. 

Das  Komitee  arbeitete  drei  Jahre,  und  das  Resultat  dieser 
Arbeit  war  der  höchst  bedeutsame  Bericht,  der  dem  Kaiser 
Alexander  I.  im  März  1812  tmterbreitet  wurde.  In  diesem  offi- 
ziellen Dokument  wurde  zum  erstenmal  seit  der  Deklaration 
Speranskijs  (§47)  ein  wahres  Wort  über  die  jüdische  Frage 
laut.  Man  will  die  Juden  vom  Schankgewerbe  in  den  Dörfern, 
das  für  die  Bevölkenmg  schädlich  sei,  fernhalten;  an  der  Trunk- 
sucht ist  aber  nicht  der  jüdische  Schankwirt  schidd,  sondern  das 
„Recht  der  Propination",  das  ein  Regal  der  Gutsbesitzer  und 
ihre  wichtigste  Einnahmequelle  büdet.  Wenn  man  aus  den 
Dörfern  60  000  jüdische  Schankwirte  vertreibt,  so  werden  sofort 
60  000  bäuerliche  Schankwirte  an  ihre  Stelle  treten,  und  der  Acker- 
bau wird  viele  Tausende  geschickter  Arbeiter  verlieren;  die  Juden 
aber  werden  sich  nicht  auf  einmal  in  ordentliche  Ackerbauer 
verwandeln,  um  so  mehr  als  die  Regierung  keine  Ressourcen 
hat,  um  eine  solche  Menge  von  Schankwirten  auf  einen  Schlag 
in  Ackerbauer  zu  verwandeln.  Der  Jude  auf  dem  Dorfe  bereichert 
sich  nicht  auf  Kosten  des  Bauern:  in  den  meisten  Fällen  ist  er 
arm  tmd  fristet  mit  Mühe  sein  Dasein  mit  dem  Schankgewerbe 
imd  dem  Verkauf  verschiedener  notwendiger  Waren  an  die 
Bauern;  indem  der  Jude  dem  Bauern  das  Getreide  an  Ort  und 
Stelle  abkauft,  befreit  er  ihn  von  dem  mit  den  Fahrten  in  die 
Stadt  verbundenen  Zeitverlust.  Der  Jude  wirkt  in  der  Landwirt- 
schaft als  Vermittler,  und  ohne  seine  Vermittlung  kann  weder 
der  Bauer  noch  der  Gutsbesitzer  auskommen.  Es  ist  unmöglich, 
alle  Dorfjuden  in  die  Städte  zu  verpflanzen  und  sie  zu  Fabri- 
kanten, Kaufleuten  und  Handwerkern  zu  machen,  wo  die  in 
den  Städten  bereits  vorhandene  jüdische  Bevölkerung  fast  nichts 
zum  Leben  hat;  Fabriken  und  Industrie  werke  künstlich  zu 
schaffen  —  bedeutet  „das  Kapital  ins  Wasser  werfen";  der  Staat 
hat  auch  keine  freien  MÜlionen,  um  die  Fabrikanten  mit  Vor- 

306 


Schüssen  zu  unterstützen.  Die  letzten  Versuche  der  Regierung 
haben  nur  dahin  geführt,  daß  das  jüdische  Volk  „nicht  nur  in 
seiner  elenden  Lage  geblieben  ist,  sondern  durch  den  Zwang, 
den  Beruf,  von  dem  es  einige  Jahrhunderte  gelebt  hat,  aufzu- 
geben, zugrunde  gerichtet  wurde.  „In  Anbetracht  dieser  Lage 
des  ganzen  Volkes  und  der  Gefahr,  daß  die  weitere  Anwen- 
dung von  Zwangsmaßregeln  unter  den  gegenwärtigen 
politischen  Umständen  dieses  auch  schon  ohnehin  aufs 
äußerste  bedrückte  Volk  noch  mehr  erbittern  kann,  erachtet  es 
das  Komitee  für  notwendig,  alle  heute  vorhandenen  Schwierig- 
keiten durch  Belassung  der  Juden  in  ihren  bisherigen  Wohnsitzen 
und  durch  die  Freigabe  der  im  Artikel  34  verbotenen  Berufe 
auf  radikale  Weise  zu  beseitigen."  Die  Regierung  mußte  nach- 
geben, und  zwar  weniger  unter  Einwirkung  der  klaren  und  un- 
widerleglichen Gründe  des  Komitees,  die  eine  vernichtende 
Kritik  des  damaligen  Systems  der  staatlichen  Bevormundung 
enthielten,  als  unter  dem  Drucke  jener  „politischen  Umstände", 
auf  die  in  den  letzten  Sätzen  des  Berichts  hingewiesen  wurde. 
Gegen  Rußland  rückte  die  Armee  Napoleons  heran;  es  begann 
der  große  russische  Krieg,  der  zu  einem  europäischen  wurde. 
In  einem  solchen  Moment,  wo  die  französische  Armee  tatsächlich 
ganz  Westrußland  überschwemmte,  war  es  viel  gefährlicher,  in 
diesem  Gebiete  eine  unterdrückte  und  empörte  Masse  wohnen 
zu  haben,  als  es  im  Jahre  1807  der  Fall  war,  wo  man  die  Invasion 
der  Franzosen  bloß  befürchtete.  So  entschied  sich  die  Frage 
von  der  Belassung  der  Juden  in  den  Dörfern  inl  günstigen  Sinne 
ganz  von  selbst,  ohne  jeden  Ukas.  Rußland  brauchte  im  Augen- 
blicke der  Gefahr  zu  seiner  Rettung  die  Anspannung  der  Klräfte 
aller  seiner  Bewohner,  darunter  auch  der  Juden. 

§  49.  Der  Krieg  von  1812.  Die  Rolle  der  Juden  im  Kriege 
von  1812  war  nicht  so  unbedeutend,  wie  man  es  angesichts 
der  Tatsache  annimmt,  daß  im  damaligen  Rußland  die  Juden 
zum  aktiven  Mihtärdienste  nicht  herangezogen  wurden.  Den 
Schauplatz  des  großen  Krieges  büdete  Westrußland,  in  erster 
Linie  Weißrußland  und  Litauen,  wo  in  den  Städten,  Markt- 
flecken und  Dörfern  eine  kompakte  jüdische  Masse  wohnte. 
Von  der  Sympathie  dieser  Bevölkerung  für  die  eine  oder  andere 
Partei  hing  oft  der  Erfolg  oder  die  Niederlage  der  in  der  be- 
treffenden Gegend  operierenden  Truppen  ab.    Die  Polen  sym- 


ao* 


307 


pathisierten  bekanntlich  in  ihrer  Mehrzahl  für  Napoleon,  von 
dem  sie  die  Wiederherstellung  des  polnischen  Staates  erwar- 
teten. Viel  komplizierter  war  das  Verhältnis  zu  Rußland  in 
der  jüdischen  Gesellschaft.  Einerseits  mußte  die  Verfolgung, 
denen  die  Dorf  Juden  erst  vor  kurzem  ausgesetzt  waren,  feind- 
selige Gefühle  gegen  die  russische  Regierung  wecken;  hätten 
diese  Verfolgungen  noch  fortgedauert,  so  wäre  die  französische 
Armee  als  Retterin  begrüßt  worden;  die  Vertreibung  aus  den 
Dörfern  war  aber  schon  seit  drei  Jahren  vor  Kriegsausbruch 
eingestellt  worden,  auch  wurde  die  gänzliche  Aufhebung  des 
im  offiziellen  Bericht  des  Komitees  so  scharf  verurteilten  harten 
Gesetzes  erwartet.  Andererseits  war  der  Glorienschein  Napo- 
leons selbst  in  den  westjüdischen  Kreisen  erheblich  getrübt. 
In  Rußland,  dessen  jüdische  Bevölkerung  durchwegs  orthodox 
war,  wnirden  die  Reformpläne  Napoleons  als  gefährlich  und  der 
Ersatz  der  Gemeindeautonomie  durch  eine  Konsistorialverwal- 
tung  als  ein  Verderben  für  die  Nation  angesehen.  Die  besonders 
konservativen  chassidischen  Massen  waren  dem  Kaiser  Alexan- 
der I.  dankbar,  weil  er  ihnen  (in  dem  von  den  Sekten  handeln- 
den Artikel  des  „Statuts"  von  1804)  das  Recht  gewährt  hatte, 
eigene  Synagogen  innerhalb  der  Gemeinden  zu  bilden.  Der 
Führer  der  weißrussischen  Chassidim,  Rabbi  Schnejur-Salman, 
der  von  der  russischen  Regierung  anfangs  verdächtigt,  später 
als  zuverlässig  erkannt  worden  war,  drückte  das  Verhältnis 
der  orthodoxen  jüdischen  Gesellschaft  zu  den  beiden  krieg- 
führenden Monarchen  in  folgender  Prophezeiung  aus:  „Wenn 
Bonaparte  siegt,  wird  sich  der  Reichtum  der  Juden  vermehren 
und  ihre  (bürgerliche)  Lage  heben,  dafür  wird  sich  von  ihnen 
das  Herz  unseres  himmlischen  Vaters  entfernen;  wenn  aber 
unser  Zar  Alexander  siegt,  werden  sich  die  jüdischen  Herzen 
unserem  himmlischen  Vater  nähern,  obwohl  die  Armut  Israek 
sich  vergrößern  und  seine  I^age  erniedrigt  werden  wird."  Dies 
bedeutete,  daß  man  die  bürgerliche  Rechtlosigkeit  der  Gleich- 
berechtigung vorziehen  müsse,  insofern  die  erstere  mit  der  Un- 
antastbarkeit der  Religion  und  die  letztere  mit  deren  Zerstörung 
verknüpft  ist. 

Alle  diese  Ursachen,  im  Zusammenhang  mit  der  instinktiven 
Empörung  der  Massen  gegen  den  eingebrochenen  Feind,  führten 
dazu,  daß  die  Juden  des  nordwestlichen  Gebiets  überall  Er- 

308 


gebenheit  für  die  Interessen  Rußlands  zeigten  und  der  russi- 
schen Armee  oft  wesentliche  Dienste  in  bezug  auf  Aufklärung 
und  Verpflegung  erwiesen.  Der  bekannte  russische  Kriegsheld 
und  Dichter  Dawydow  berichtet:  „Der  Geist  der  polnischen 
Bewohner  von  Grodno  war  für  uns  höchst  ungünstig;  dagegen 
waren  sämtliche  in  Polen  wohnenden  Juden  uns  dermaßen 
ergeben,  daß  sie  dem  Feinde  niemals  Spionagedienste  leisteten, 
uns  aber  sehr  oft  wichtige  Nachrichten  über  den  Feind  liefer- 
ten." Infolge  der  Unzuverlässigkeit  der  polnischen  Beamten 
mußte  man  in  Grodno  die  ganze  Polizeigewalt  dem  jüdischen 
Kahal  übergeben.  Der  Wilnaer  Gouverneur  bezeugte:  ,,Das 
jüdische  Volk  zeigte  während  des  Aufenthalts  der  Feinde  in 
unserem  Gebiet  eine  besondere  Treue  gegen  die  russische  Regie- 
rung." Die  Polen  ärgerten  sich  über  die  Russenfreundhchkeit 
der  Juden;  es  wurden  Gerüchte  verbreitet,  daß  sie  Vorberei- 
tungen machen,  alle  Juden  und  Russen  in  den  Gouverne- 
ments Wilna  und  Minsk  und  in  der  Provinz  Bjelostok  nieder- 
zumetzeln. Bs  sind  auch  einige  Heldentaten  zu  verzeichnen. 
Viele  Juden,  die  in  ihren  Häusern  russische  Kuriere  mit  De- 
peschen versteckt  hielten,  um  sie  später  zu  den  russischen  Be- 
fehlshabern zu  geleiten,  oder  den  Russen  Nachrichten  über 
die  lyage  der  feindlichen  Armee  lieferten,  wurden,  wenn  sie  in 
die  Hände  der  Franzosen  fielen,  füsiliert  oder  gehenkt.  Alexan- 
der I.  wußte  von  solchen  Taten.  In  Kaiisch  empfing  er  die 
Mitglieder  des  Kahals  in  Audienz  und  unterhielt  sich  lange 
mit  ihnen.  Unter  den  Juden  dieses  Gebiets  wurden  Aufrufe 
in  der  Volkssprache  verbreitet,  in  denen  sie  angerufen  wurden, 
für  den  Sieg  Alexanders  I.  zu  beten,  der  die  Juden  aus  der  Ge- 
fangenschaft erlösen  werde.  Die  patriotische  Stimmung  hatte 
auch  sonst  die  jüdische  Masse  ergriffen. 

Im  Hauptquartier  der  nach  Westen  vorrückenden  russischen 
Armee  befanden  sich  1812 — 13  zwei  jüdische  „Deputierte": 
Sundel  Sonnenberg  aus  Grodno  und  Lejser  DiUon  aus  Neswisch. 
Diese  beiden  spielten  offenbar  eine  doppelte  Rolle:  sie  waren 
Großlieferanten,  die  von  der  Intendantur  unmittelbare  Auf- 
träge erhielten  und  an  ihre  Agenten  an  verschiedenen  Orten 
weitergaben,  und  zugleich  Bevollmächtigte  der  Kahals,  die  die 
Wünsche  der  Juden  dem  Zaren  und  den  höchsten  Würdenträgern 
übermittelten.  Es  war  für  die  Regierung  in  jener  unruhigen 

309 


Zeit  von  Vorteil,  im  Hauptquartier  jüdische  Vertreter  zu  haben, 
die  ihre  Stammesgenossen  im  Sinne  der  ihnen  gegebenen  poli- 
tischen Instruktionen  beeinflussen  konnten.  Im  Juni  1814 
ließ  Alexander  I.  während  seines  Aufenthalts  im  Auslande 
(in  Bruchsal)  durch  Vermittlung  dieser  Deputierten  „den  jüdi- 
schen Gemeinden  seine  allergnädigste  Gewogenheit"  ausdrücken 
und  versprach,  in  kürzester  Zeit  „einen  Beschluß  über  die 
Wünsche  und  Bitten  der  Juden  bezüglich  einer  Besserung  ihrer 
Lage"  zu  fassen.  Unter  dem  Eindrucke  der  Berichte  über  die 
patriotische  Haltung  der  Juden  war  Alexander  I.  nicht  ab- 
geneigt, ihr  I^os  tatsächlich  zu  verbessern.  Aber  die  allgemeine 
Reaktion,  die  nach  dem  Wiener  Kongreß  in  Europa  und  in 
Rußland  eintrat,  war  auch  für  die  russischen  Juden  verhäng- 
nisvoll. 

§  50.  Das  Wirtschaftsleben  und  seine  Krisen.  Die  politischen 
Krisen  der  Übergangszeit  (1789 — 1815)  mußten  auch  im  lieben 
der  polnisch-russischen  Juden  wirtschaftliche  Erschütterungen 
hervorrufen.  Die  etwa  eine  Million  Seelen  betragende  jü- 
dische Bevölkerung  der  westrussischen  Gouvernements  zerfiel 
damals  in  zwei  Gruppen:  der  größte  Teil  lebte  in  den 
Städten  und  Marktflecken,  und  der  kleinere  in  den  Dörfern. 
Die  Bemühungen  der  damaligen  russischen  Regierung,  die 
ganze  jüdische  Masse  in  die  Städte  zu  verpflanzen  und  eine 
neue  Klasse  von  jüdischen  Ackerbauern  zu  schaffen,  erreichten 
das  angestrebte  Ziel  nicht,  brachten  es  aber  fertige  das  frühere 
Gleichgewicht  zwischen  den  städtischen  und  ländlichen  Er- 
werbsarten der  Juden  zu  stören. 

Der  städtische  Jude  war  Händler,  Handwerker  oder  Schank- 
wirt. In  vielen  Städten  gab  es  viel  mehr  jüdische  Kaufleute 
als  christliche.  Einen  besonderen  Aufschwung  nahm  die  Betei- 
ligung der  Juden  am  auswärtigen  Handel:  viele  jüdische  Kauf- 
leute besuchten  alljährlich  die  ausländischen  Messen  (in  Leipzig 
usw.),  um  Waren,  vorwiegend  Manufakturerzeugnisse,  einzu- 
kaufen und  russische  und  polnische  Produkte,  wie  Felle,  I^eder 
usw.,  abzusetzen.  Als  immer  größere  Teile  des  polnischen  Terri- 
toriums dem  Russischen  Reiche  angegliedert  wurden,  öffnete 
sich  für  die  eingeführten  ausländischen  Erzeugnisse  ein  neuer 
Markt  —  die  inneren  russischen  Gouvernements ;  die  jüdischen 
Kaufleute  wandten  sich  sofort  hin,  stießen  aber  auf  heftigen 

310 


Widerstand  seitens  der  russischen  Kaufleute,  die  über  die  Kon- 
kurrenz zu  jammern  anfingen  und  die  Regiening  veranlaßten, 
das  Monopol  der  einheimischen  Ausbeuter  zum  Schaden  der 
Konsumenten  anzuerkennen  (§45).  Es  gelang  den  Monopolisten 
allerdings  nicht,  den  inneren  Markt  für  die  schönen  und  billigen 
ausländischen  Waren,  die  von  jüdischen  Kaufleuten  bei  ihren 
erlaubten  Reisen  zum  vorübergehenden  Aufenthalt  (nach  dem 
Statut  von  1804  waren  solche  Reisen  mit  eigenen  Gouverneurs- 
pässen gestattet)  eingeführt  wurden,  ganz  zu  sperren,  aber  die 
freie  Entwicklung  des  jüdischen  Handels  wurde  durch  die 
strenge  Grenzsperre  zwischen  dem  westlichen  und  östlichen 
Rußland  gehemmt.  Der  andere  städtische  Beruf,  das  Hand- 
werk, galt  als  weniger  ehrenvoll  und  wurde  von  der  ärmeren 
Klasse  ausgeübt.  Die  Handwerksarbeit  wurde  sehr  schlecht 
bezahlt.  Speziell  jüdische  Zunftorganisationen  kamen  nur  sehr 
selten  vor.  Wenn  der  jüdische  Handwerker  aus  einem  armen 
Städtchen  in  eine  große  Stadt  zog,  wurde  er  von  den  organi- 
sierten christlichen  Zünften  feindselig  empfangen.  Im  pol- 
nischen Warschau  hatte  so  ein  „Empfang"  am  Vorabend  der 
zweiten  Teilung  die  Form  eines  Pogroms  angenommen.  An 
dritter  Stelle  neben  dem  Handel  und  dem  Handwerk  stand  das 
Schankge werbe;  die  Schenke  war  meistens  mit  einem  Gast- 
hause und  einer  Herberge  verbunden.  Der  Schnapsausschank 
in  den  Städten  war  hauptsächlich  für  die  Bauern  bestimmt, 
die  an  Feiertagen  und  Markttagen  aus  ihren  Dörfern  kamen. 
In  den  Städten  spielte  aber  das  Schankgewerbe  eine  unter- 
geordnete Rolle;  sein  eigenes  Gebiet  waren  die  Dörfer. 

Alle  ernsthaften  Beobachter  des  damaligen  Wirtschaftslebens 
bezeugen,  daß  der  jüdische  Vermittler  und  der  jüdische  Hand- 
werker die  wichtigsten  Stützen  einer  zivihsierten  Wirtschaft 
in  den  Städten  und  Dörfern  waren,  und  daß  man  ohne  den 
Juden  weder  etwas  kaufen  noch  verkaufen  noch  herstellen 
konnte.  Der  Jude  bemühte  sich  stets  um  die  Verbilligung  des 
Produkts  wie  im  Handel  so  auch  im  Handwerk;  er  begnügte 
sich  mit  einem  minimalen  Verdienst,  weil  auch  seine  Bedürf- 
nisse minimal  waren.  Durch  Vermittlung  des  allgegenwärtigen 
jüdischen  Aufkäufers  konnte  der  Bauer  alle  seine  Produkte 
an  Ort  und  Stelle  absetzen,  selbst  solche,  die  es  sich  nicht  lohnen 
würde,  infolge  ihres  geringen  Wertes,  in  die  Städte  zu  bringen. 

311 


Trotz  seiner  unermüdlichen  und  fieberhaften  Arbeit  war  aber 
der  Jude  im  Durchschnitt  ebenso  arm  wie  der  Bauer,  obwohl 
ihm  eine  der  wichtigsten  Ursachen  der  Verarmung  dieses  letz- 
teren —  die  Trunksucht  —  fremd  war.  Das  kam  daher,  daß  die 
Städte  und  Marktflecken  von  Händlern  und  Handwerkern  über- 
füllt waren,  was  wiederum  darauf  beruhte,  daß  man  die  Juden 
systematisch  aus  ihren  alten  ländhchen  Berufen  verdrängte  und 
in  die  Städte  trieb. 

Wenn  die  offiziellen  Urkunden  vom  Schankgewerbe  der  Juden 
in  den  Dörfern  als  von  ihrem  einzigen  Beruf  sprachen,  so  be- 
zeichneten sie  damit  nur  ungenau  den  tatsächlichen  Umfang 
der  Betätigung  des  I^andjuden,  die  immer  mit  dem  Schankge- 
werbe zusammenhing,  sich  aber  mit  ihm  nicht  deckte.  Der  Jude, 
der  das  Recht  der  „Propination"  vom  Gutsbesitzer  oder  der 
Krone  pachtete,  nahm  auch  die  anderen  Zweige  der  Landwirt- 
schaft —  Milchwirtschaft,  Mühle  und  Fischfang  in  Pacht; 
ferner  kaufte  er  das  Getreide  bei  den  Bauern  auf  und  verkaufte 
ihnen  die  notwendigsten  Waren  —  Salz,  Geschirr,  Sensen, 
Sicheln  usw.,  die  er  aus  der  Stadt  einführte.  Meistens  war  er 
Schankwirt,  Krämer  und  Aufkäufer  in  einer  Person.  An  den 
Landstraßen  zwischen  den  Städten  und  den  Dörfern  zog  sich 
eine  ganze  Kette  jüdischer  Herbergen  hin,  die  beim  damaligen 
Postverkehr  auch  als  Stationen  für  die  Reisenden  dienten. 
Die  russische  Regierung  wollte  nun  diese  ganze  wirtschaftliche 
Organisation,  die  im  Laufe  von  Jahrhunderten  entstanden  war, 
zerstören.  Schon  unter  Katharina  II.  vertrieben  oft  die  Gouver- 
neure die  Dorf  Juden  in  die  Städte  mit  Berufung  auf  das  „Grund- 
gesetz", das  den  Juden  vorschrieb  „in  den  Kaufmanns-  und 
Kleinbürgerstand  einzutreten";  der  doppelsinnige  Ukas  von 
1795,  der  den  Behörden  vorschrieb,  die  Juden  in  die  Kreisstädte 
zu  übersiedeln,  „damit  sich  diese  Menschen  nicht  zum  Schaden 
der  Gesellschaft  herumtreiben",  gab  den  eifrigen  Beamten  freie 
Hand.  Als  aber  das  Gesetz  von  1804  erlassen  wurde,  kraft 
dessen  alle  Juden  in  drei  Jahren  aus  den  Dörfern  vertrieben 
werden  sollten,  kündigten  viele  Gutsbesitzer,  ohne  erst  den 
Ablauf  dieser  Frist  abzuwarten,  ihren  jüdischen  Pächtern  das 
Recht,  in  ihren  Dörfern  zu  wohnen  und  zu  handeln.  So  kam 
es  zu  der  Überfüllung  der  Städte,  wo  sich  auch  die  schon  bereits 
vorhandenen  Juden  mit  Mühe  durchschlugen.    Die  Regienmg 

312 


animierte  die  Vertriebenen  zu  zwei  neuen  Berufen:  der  Grün- 
dung von  Fabriken  und  landwirtschaftlichen  Kolonien,  Der 
arme  Dorf  Jude  hatte  aber  nicht  die  für  die  Gründung  einer 
Fabrik  notwendigen  Mittel  und  Kenntnisse;  es  war  auch  un- 
mögUch-,  eine  Fabrikindustrie  künstlich  ins  I/cben  zu  rufen, 
ohne  einen  Markt  zum  Absatz  der  Produkte  zu  haben.  Einige 
Juden  gründeten  zwar  Fabriken  von  Wollwaren  in  I^itauen 
und  Wolhynien,  die  die  vielen  Tausende  Menschen  natürlich 
nicht  beschäftigen  konnten.  Darum  wandten  sich  alle  Blicke  der 
landwirtschaftlichen  Kolonisation  zu. 

Der  Ukas  von  1804  versprach  unbemittelten  Juden,  die  sich 
der  Landwirtschaft  widmen  wollten,  Landparzellen  aus  dem 
Staatsbesitz  in  einer  Reihe  von  Gouvernements,  Geldvorschüsse 
für  die  erste  Einrichtung  und  die  Befreiung  von  Steuern  im 
Laufe  einiger  Jahre.  Die  vertriebenen  Dorfjuden  klammerten 
sich  an  dieses  Versprechen  wie  an  einen  Rettungsanker.  Im  Jahre 
1806  wandten  sich  einige  Gruppen  von  Juden  aus  dem  Mohilewer 
Gouvernement  (den  Kreisen  von  Tscherikow  und  Mstislaw) 
an  den  Gouverneur  mit  der  Bitte,  sie  in  das  Neurussische  Gebiet, 
wo  sie  Ackerbau  betreiben  wollten,  zu  verbringen.  Der  Bevoll- 
mächtigte einer  dieser  Gruppen,  Nochim  Finkelstein,  reiste, 
nach  Petersburg  und  unterbreitete  seine  Bitte  dem  Minister 
Kotschubej.  Nach  Weisung  dieses  letzteren  ging  er  dann  ins 
Chersoner  Gouvernement,  um  das  Land  zu  besichtigen  und  zu 
wählen.  Der  Minister  hatte  im  Einverständnis  mit  dem  Cher- 
soner Gouverneur,  dem  Herzog  Richelieu,  beschlossen,  den 
jüdischen  Kolonisten  eigene  Landparzellen  in  den  dortigen 
Steppen  zuzuteilen  und  sie  unter  der  Aufsicht  des  neurussischen 
„Vormundschafts(Einwanderungs)kontors"  anzusiedeln.  Die 
ersten  Mohilewer  Gruppen  hatten  ihre  Vorbereitungen  für  die 
Übersiedlung  noch  nicht  abgeschlossen,  als  schon  Gesuche  von 
zahlreichen  jüdischen  Gruppen  aus  den  verschiedenen  Gouverne- 
ments (Tschemigow,  Witebsk,  Podohen  usw.)  um  die  Über- 
siedlung in  die  neurussischen  landwirtschaftlichen  Kolonien 
einUefen.  Die  Zahl  der  Juden,  die  zur  Landwirtschaft  gehen 
wollten,  erreichte  gegen  Ende  des  Jahres  1806  eineinhalbtausend 
Familien  von  etwa  7000  Seelen.  Die  Regierung  war  ratlos:  sie 
war  auf  die  Übersiedlung  einer  solchen  Menge  Menschen  auf 
Staatskosten  gar  nicht  vorbereitet.  Im  Jahre  1807  entstanden 

3^3 


die  ersten  Kolonien  jüdischer  Acketbauer  in  Südrußland: 
Bobrowyj-Kut,  Ssedeimenucha,  Dobraja,  Israjilewka  (sämtlich 
im  Chersoner  Gouvernement);  ihre  Bevölkerung  betrug  etwa 
300  Familien  mit  2000  Seelen. 

Die  Masse  der  Auswanderer  nahm  immer  zu.  Im  lyaufe  des 
ganzen  Jahres  1808,  als  die  Juden  mit  besonderem  Eifer  aus  den 
Dörfern  vertrieben  wurden,  überschütteten  die  weißrussischen 
Gouverneure  den  Minister  des  Inneren  mit  Gesuchen,  eine  mög- 
lichst große  Zahl  jüdischer  FamiHen  nach  Neurußland  ziehen 
zu  lassen.  So  meldete  der  Witebsker  Gouverneur:  „Man  hat  die 
hiesigen  Dorfjuden  vorzeitig  vertrieben,  ruiniert  und  an  den 
Bettelstab  gebracht;  die  meisten  haben  weder  Nahrung  noch 
Obdach  und  ziehen  daher  in  erheblicher  Anzahl  nach  Neuruß- 
land. Viele  Juden  haben  in  der  Hoffnung,  nach  Neurußland 
ziehen  zu  können,  ihren  ganzen  Besitz  verkauft  und  flehen  un- 
ablässig, dorthin  gehen  zu  dürfen,  wenn  auch  nur  zum  bloßen 
Wohnen."  Zur  gleichen  Zeit  liefen  in  Petersburg  aber  auch 
Berichte  vom  neurussischen  „Einwanderungskontor"  und  vom 
Herzog  Richelieu  ein,  daß  man  den  Strom  der  Auswanderung 
aufhalten  müsse :  schon  die  ersten  Partien  der  Kolonisten  hätten 
große  Mühe  gehabt,  sich  einzurichten,  für  die  neuen  gäbe  es 
aber  weder  Häuser  noch  sonstige  Einrichtungen.  Zu  Beginn 
des  Jahres  1810  unterstanden  dem  Einwanderuhgskontor  an 
die  tausend  Familien  von  Kolonisten,  und  weitere  Tausende 
„eigenmächtig"  angekommener  Juden  warteten  auf  die  Ein- 
richtung. Infolge  der  ungewohnten  klimatischen  Verhältnisse 
und  des  Mangels  an  Wohnungen  und  Nahrungsmitteln  machten 
sich  unter  ihnen  Massenerkrankungen  bemerkbar.  Alle  diese 
Umstände  veranlaßten  die  Regierung,  die  Ansiedelung  von 
Juden  in  den  Neurussischen  Kolonien  zeitweilig  einzustellen. 
(Ukas  vom  6.  April  18 10.) 

Der  Versuch,  einen  Teil  der  jüdischen  Bevölkerung  zu  Acker- 
bauern zu  machen,  wäre  wohl  vom  schönsten  Erfolg  gekrönt 
worden,  wenn  die  Regierung  die  nötigen  Vorbereitungen  zu 
einer  so  wichtigen  wirtschaftlichen  Umwälzung  getroffen  hätte. 
An  die  10  000  Kolonisten  waren  schon  nach  Neurußland 
gekommen,  und  unübersehbare  darbende  Massen  wollten  ihnen 
nachfolgen.  Aber  die  Regierung  bekam  Angst  vor  den  Schwierig- 
keiten und  bot  dieser  ganzen  Bewegung  halt.  Zugleich  wurde 

314 


auch  die  zwangsweise  Axisweisung  der  Juden  aus  den  Dörfern 
in  den  westlichen  Gouvernements,  die  mit  einer  unerhörten 
wirtschaftHchen  Katastrophe  drohte,  eingestellt.  Nach  einer 
Reihe  von  Schwankungen  und  Krisen  befestigte  sich  das  Wirt- 
schaftsleben der  Juden  von  neuem  auf  seinen  alten  Stützen: 
dem  Handel,  dem  Handwerk  und  den  Dorfberufen. 

§  51.  Die  Krise  der  Selbstverwaltung;  die  Kahals  und  die  Ma- 
gistrate. Vom  System  der  staatlichen  Bevormundung  wurde  auch 
die  Selbstverwaltimg  der  jüdischen  Gemeinden  betroffen. 
Schon  in  den  letzten  Regierungsjahren  Katharinas  II.  zeigte 
sich  die  Tendenz  der  Regierung,  die  weitgehende  Autonomie 
der  Kahals  zu  kürzen,  die  man  vorher,  als  die  Erinnerung 
an  das  Versprechen  der  Kaiserin,  den  Bewohnern  des  an- 
nektierten Weißrußlands  „ihre  alten  Freiheiten  zu  belas- 
sen", noch  frisch  war,  legalisiert  hatte.  Die  russische  Regie- 
rung, die  eine  Selbständigkeit  der  Untertanen  nicht  gewohnt 
war,  betrachtete  mit  Argwohn  die  verschiedenartigen  wirt- 
schaftlichen, geistlichen  und  gerichtlichen  Funktionen,  die  die 
Kahals  neben  den  fiskalischen  Pflichten  bei  der  Steuereintrei- 
bung ausübten.  Die  Ukase  von  1786  und  1795  beschränkten 
die  Tätigkeit  der  Kahals  auf  die  geistlichen  und  fiskalischen 
Angelegenheiten.  Die  „jüdische  Verfassung"  von  1804  ging 
noch  weiter:  sie  teilte  diese  beiden  Funktionen  zwischen  dem 
Rabbinat  und  dem  Kahal,  die  früher  ein  Ganzes  gebildet  hatten; 
den  Rabbinern  wurde  gestattet,  „die  Beobachtung  der  reli- 
giösen Bräuche  zu  überwachen  und  die  sich  auf  die  Religion 
beziehenden  Streitigkeiten  zu  schlichten";  die  Kahals  aber 
„mußten  aufpassen,  daß  die  Staatssteuem  pünktlich  einliefen". 
Auf  diese  Funktionen  war  nun  die  einstige  Autonomie  der  jüdi- 
schen Gemeinden  Polens  mit  dem  weitverzweigten  Netz  von 
Institutionen  und  den  zentralen  Landtagen,  den  „Waads", 
zusammengeschrumpft.  Die  ihnen  noch  verbliebene  Autonomie 
war  natürlich  in  Wirklichkeit  bedeutender  als  auf  dem  Papier: 
die  Juden  fuhren  fort,  auch  ihre  Streitigkeiten  in  Vermögens- 
fragen von  ihrem  Rabbinergericht  entscheiden  zu  lassen;  das 
an  die  Rabbiner  ergangene  Verbot,  die  Widerspenstigen  mit 
dem  „Cherem"  (Bannfluch)  zu  belegen,  wurde  nicht  immer  be- 
obachtet, weil  das  geistliche  Gericht  über  andere  Abschreckungs- 
mittel nicht  verfügte.  Andererseits  mußte  die  Regierung,  die  die 

315 


Steuertätigkeit  der  Kahals  und  überhaupt  eine  verantwortliche 
jüdische  Organisation,  mit  der  sie  in  jüdischen  Angelegenheiten 
verhandeln  konnte,  brauchte,  die  Erweiterung  der  Tätigkeit  der 
Kahals  weit  über  die  fiskalische  Sphäre  hinaus  mit  in  Kauf 
nehmen.  Wenn  die  Regierung  die  Ansicht  der  jüdischen  Ge- 
meinden über  die  eine  oder  andere  projektierte  Maßregel  hören 
wollte,  wandte  sie  sich  an  die  Kahals  und  bevollmächtigte  sie, 
Abgeordnete  nach  Petersburg  oder  in  die  Gouvernementsstädte 
zu  schicken  (1803  und  1807). 

Diese  Konzession  war  durch  die  Macht  der  Umstände  er- 
zwungen, durch  die  Macht  der  kompakten  Masse,  die  ein  selb- 
ständiges lieben  führte  und  der  es  widerstrebte,  ihre  Eigenart 
bis  zur  Vermischung  mit  der  übrigen  Bevölkerung  und  der 
Verschmelzung  ihrer  Gemeindeinteressen  mit  den  Aufgaben 
der  munizipalen  Selbstverwaltungen  aufzugeben.  Die  russische 
Regierung  strebte  aber  nach  einer  solchen  „Munizipalisierung" 
der  jüdischen  Gemeinden.  Seit  der  Regierung  Katharinas  II. 
wiegte  sie  sich  in  der  Hoffnung,  daß  man  die  Absonderung  der 
Juden  durch  deren  Einreihung  in  die  ständischen  Organi- 
sationen der  Kaufmannschaft  und  des  Kleinbürgertums  be- 
kämpfen könne.  Als  sie  den  Juden  gegen  1780  das  bisher  un- 
erhörte Recht  gewährte,  an  den  Stadtverwaltungen  als  Wähler 
und  gewählte  Mitglieder  der  Magistrate  und  städtischen  Ge- 
richte teilzunehmen,  glaubten  die  Petersburger  Gesetzgeber, 
daß  die  beglückte  jüdische  Bevölkerung  auf  ihre  alte  Kahal- 
autonomie  verzichten  und  mit  den  christlichen  Ständen  in  der 
allgemeinen  städtischen  Selbstverwaltung  verschmelzen  würde. 
Aber  weder  die  jüdische  noch  die  christliche  Gesellschaft  recht- 
fertigte diese  Hoffnungen.  Die  Juden  beteiligten  sich,  ohne 
auf  ihre  eigene  alte  Gemeindeautonomie  zu  verzichten,  mit 
großem  Eifer  an  den  Wahlen  zu  den  Magistraten,  in  denen  ihre 
alten  Feinde  —  die  christlichen  Kaufleute  und  Kleinbürger  — 
wirtschafteten;  sie  wählten  und  ließen  sich  wählen,  um  die 
Interessen  der  Juden,  die  den  größten  Teil  der  Steuerzahler  ab- 
gaben, zu  vertreten.  Hier  stießen  sie  auf  erbitterten  Widerstand 
seitens  der  Christen.  In  den  weißrussischen  Gouvernements 
wurden  einige  Juden  als  Gerichtsbeisitzer  und  Ratsmänner  in 
die  Magistrate  gewählt;  in  den  meisten  Fällen  gelang  es  aber 
den  Christen,  eine  künstliche  Majontät  zu  bilden,  um  die  Juden 

316 


von  der  Teilnahme  an  den  Stadtverwaltungen  fernzuhalten. 
Die  russischen  und  insbesondere  die  polnischen  Kleinbürger 
sahen  in  der  Gewährung  von  Munizipalrechten  an  die  Juden 
ein  Attentat  gegen  ihre  alten  „Vorrechte".  Mit  Rücksicht  auf  die 
Stimmung  der  christUchen  Gesellschaft  setzten  die  südwest- 
hchen  Gouverneure  aus  eigener  Machtvollkommenheit  eine 
einschränkende  Norm  für  die  Teilnahme  der  Juden  an  den 
Magistraten  fest:  in  Städten  mit  vorwiegend  jüdischer  Bevöl- 
kerung gestattete  man  ihnen,  nur  ein  Drittel  aUer  Magistrats- 
mitglieder zu  stellen  (1796 — 1802).  Die  Vertreter  der  jüdischen 
Bevölkerung,  die  eine  Majorität  der  Gesamtbevölkerung  bildete, 
bheben  daher  in  den  Stadtverwaltungen  in  der  Minorität  und 
konnten  die  Interessen  ihrer  Stammesgenossen  weder  bei  der 
Festsetzung  der  städtischen  Umlagen  noch  bei  den  Verhand- 
lungen in  den  Stadtgerichten  vertreten.  Die  Bevollmächtigten 
der  podolischen  Juden  beschwerten  sich  einmal  über  diese  Ge- 
setzlosigkeit in  Petersburg,  erreichten  aber  nichts. 

In  den  beiden  litauischen  Gouvernements,  die  Rußland  nach 
der  dritten  Teilung  Polens  zufielen,  hatte  die  Opposition  der 
Christen  noch  mehr  Erfolg:  hier  mußte  die  Regierung  das  Ge- 
setz von  der  Vertretung  der  Juden  in  den  Magistraten  ganz 
außer  Kraft  setzen.  Besondere  Empörung  rief  der  Ukas  des 
Senats  von  der  Zulassung  der  Juden  zu  den  Wahlen  für  die 
städtischen  Institutionen  in  Wilna  hervor  (1802).  Der  Bürger- 
hochmut der  alten  „Stadtväter"  und  der  niedrige  ständisch- 
religiöse Haß  kamen  in  der  Bittschrift  zum  Ausdruck,  die  die 
Wilnaer  christlichen  Kleinbürger  im  Februar  1803  an  den 
Kaiser  Alexander  I.  richteten.  Sie  protestierten  gegen  die  Ver- 
letzung ihres  alten  Privilegs,  kraft  dessen  es  den  Juden  und 
sonstigen  Andersgläubigen  verboten  war,  in  I^itauen  öffentliche 
Ämter  zu  bekleiden;  die  Zulassung  der  Juden  zum  Magistrats- 
dienst sei  ein  Unglück  und  eine  Schmach  für  die  Hauptstadt 
Litauens:  „denn  die  Juden  haben  gar  keine  Ahnung  von  Moral 
und  sind  durch  ihre  Erziehung  zum  Richterberuf  nicht  vor- 
bereitet; dieses  Volk  hält  sich  überhaupt  nur  durch  seine 
Schliche";  ,,den  Christen  ist  jede  I^ust  genommen,  öffentliche 
Amter  zu  bekleiden,  wenn  den  Juden  die  Gewalt  gegeben  ist, 
sich  über  sie  zu  erheben".  Die  Bittsteller  drohen,  daß  die  „Herr- 
schaft" der  Juden,  d.  h.  ihre  Beteiligung  an  den  Magistraten, 

317 


und  wenn  sie  auch  nur  ein  Drittel  aller  Abgeordneten  ausmachen, 
das  Vertrauen  des  Volkes  zu  der  Stadtverwaltung  und  den  Ge- 
richten untergraben  würde:  „der  Gehorsam  des  Pöbels  wird 
sich  in  Beschimpfung  verwandeln,  wenn  einer,  der  an  die  ge- 
weihte Stätte  kommt,  daselbst  einen  Juden  als  Vorgesetzten 
und  Richter  vorfindet,  dem  zu  gehorchen  ihm  weder  sein  Stand 
noch  seine  Religion  erlauben".  Die  christhche  Gesellschaft  von 
Kowno  führte  in  einer  ähnlichen  Beschwerde  noch  ein  weiteres 
unwiderlegliches  Argument  gegen  die  Zulassung  der  Juden  zu 
Munizipalämtem  an:  auf  dem  Richtertische  steht  für  die  Eides- 
leistung ein  Kreuz  mit  der  „heiligen  Figur"  des  Gekreuzigten; 
der  jüdische  Gerichtsbeisitzer  „wird  diese  Figur  anschauen 
und  sich  dabei  etwas  seiner  Religion  Entsprechendes  denken; 
statt  Gerechtigkeit  wird  er  nur  Hohn  über  das  christliche  Gesetz 
zeigen".  Diese  Gründe  erschienen  der  Regierung  als  stichhaltig, 
und  der  Senat  hob  seinen  Ukas  vom  Wahlrecht  der  Juden  für 
die  Magistrate  in  I^itauen  auf  (1803). 

So  gelang  es  der  stumpfen  Gehässigkeit  des  privilegierten 
Kleinbürgertums,  die  Tätigkeit  der  Juden  in  den  Stadtverwal- 
tungen zu  beschränken  und  stellenweise  auch  ganz  aufzuheben. 
Die  jüdische  Gesellschaft  zeigte  trotz  ihrer  sonstigen  Zurück- 
gebliebenheit Mut  genug,  um  ihre  Vertreter  in  das  feindliche 
I^ager  zur  gemeinsamen  Arbeit  zum  Wohle  der  gesamten  Be- 
völkerung zu  entsenden;  aber  das  verschlossene,  von  mittel- 
alterlichem Geiste  erfüllte  Klleinbürgertum  wollte  die  Juden 
nicht  als  Stadtbürger  anerkennen.  Die  Juden  mußten  mit  diesem 
rohen  Konservatismus  rechnen.  Sie  hatten  noch  ihre  eigene  ge- 
meindliche Selbstverwaltung;  wenn  sie  ihre  ganze  soziale  Energie 
auf  dieses  Gebiet  gerichtet  hätten,  so  wäre  die  alte  Kahal- 
autonomie  trotz  aller  Beschränkungen  seitens  der  Regierung 
in  gewissem  Maße  wiederhergestellt  worden.  Dem  war  aber  eine 
andere  Ursache  im  Wege  —  die  tiefe  Spaltung  innerhalb  der 
Gemeinden,  die  durch  das  Anwachsen  des  Chassidismus  in  der 
zweiten  Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts  hervorgerufen  war  und 
zu  Beginn  des  XIX.  ihren  Abschluß  gefunden  hatte. 

§  52.  Das  chassidische  Schisma  und  die  Einmischung  der  Re- 
gierung. Die  Zeit  der  Teilungen  Polens  war  auch  die  Zeit 
der  Spaltung  der  polnischen  Judenheit.  Die  äußere  Teüung 
war  von  einer  inneren,  die  poHtische  von  einer  geistigen  be- 

318 


gleitet.  Der  Körper  der  polnischen  Judenheit  war  zwischen 
Rußland,  Österreich  und  Preußen  aufgeteilt,  ihre  Seele  — 
zwischen  dem  Rabbinismus  und  dem  Chassidismus.  Es  ist  sogar 
eine  bedeuttmgsvolle  Übereinstimmung  der  Daten  festzustellen: 
das  erste  Auftreten  des  Wilnaer  Rabbinats  gegen  die  Chassidim, 
das  den  ersten  Anstoß  zur  religiösen  Spaltung  gegeben  hatte, 
fiel  auf  das  Jahr  der  ersten  Teilung  Polens  (1772),  und  die  letzte 
entscheidende  Kundgebung  des  gleichen  Rabbinats  brachte  die 
Spaltung  bald  nach  der  dritten  Teilung  Polens  (1796)  zum  Ab- 
schluß. Zwischen  diesen  beiden  Daten  liegt  eine  ganze  Reihe 
von  Siegen  des  Chassidismus.  Das  südwestliche  Gebiet  (Wol- 
h5aiien,  Podolien,  Kiew)  war  fast  ganz  von  den  Chassidim 
erobert:  mit  Ausnahme  einiger  Städte  waren  sie  in  fast  allen 
Gemeinden  in  der  Überzahl;  sie  führten  ihre  Gottesdienstord- 
nung in  allen  Synagogen  ein,  und  ihre  Zaddikim,  die  alle  Seelen 
beherrschten,  hatten  das  Übergewicht  über  die  offizielle 
rabbinische  Geistlichkeit  errungen.  Im  nordwestlichen  Gebiete 
hatte  der  Chassidismus  um  diese  Zeit  nur  in  Weißrußland 
festen  Fuß  gefaßt,  welches  zwanzig  Jahre  lang  unter  russischer 
Herrschaft  gewesen  und  vom  übrigen,  noch  ungeteilten  Polen 
politisch  abgeschnitten  war.  Hier  hatte  sich  ein  bedeutendes 
chassidisches  Zentrum  gebildet,  an  dessen  Spitze  der  Zaddik 
Rabbi  Schnejur-Salman  von  Liosna  stand;  kompakte  chassi- 
dische  Gemeinden  gab  es  da  aber  noch  nicht,  in  den  meisten 
Städten  bestanden  die  Gemeinden  aus  den  beiden  Elementen  — 
den  Chassidim  und  ihren  Gegnern,  den  sogenannten  Misnagdim; 
bald  herrschte  die  eine  und  bald  die  andere  Partei  vor,  was 
zu  endlosen  Streitigkeiten  in  den  Gemeinden  und  Synagogen 
führte.  Nur  in  Litauen,  der  Hochburg  des  Rabbinismus, 
konnte  der  Chassidismus  nicht  Wurzel  fassen.  Hier  gab  es  an 
wenigen  Orten  (Pinsk,  Amdur,  Minsk,  Wilna)  kleine  Gruppen 
von  Chassidim,  die  ihre  bescheidenen  Betstuben  in  Privat- 
wohnungen („Minjanim")  hatten  und  sich  oft  vor  den  Kahal- 
behörden,  welche  die  Sektierer  verfolgten,  verbergen  mußten. 
Im  Jahre  1794  veranlaßte  der  Minsker  Kahal  die  Schließung 
einer  chassidischen  Betstube.  In  Wilna,  der  Residenz  des 
großen  Glaubenseiferers,  des  Gaons  Elia,  stellten  die  Chassidim 
eine  geheime  ,, unlegale"  Organisation  dar.  Nur  in  der  Vorstadt 
von  Pinsk,  Karhn,  gelang  es  ihnen,  ein  dauerhaftes  Nest  mit 

319 


eigenen  Synagogen  und  Zaddikim  zu  schaffen.  (Einer  dieser 
Zaddikim,  Rabbi  Salomon  Karliner,  wurde,  nach  der  Über- 
lieferung, im  Jahre  1792  während  der  Schreckensherrschaft  der 
polnisch-russischen  konföderieiten  Truppen  ermordet.)  Von 
hier  aus  ging  die  ganze  chassidische  Propaganda  in  I^itauen  aus, 
und  die  Chassidim  wurden  daher  meistens  „Karliner"  ge- 
nannt. 

Die  verfolgten  litauischen  Chassidim  wurden  dreister,  als  das 
südwestliche  Gebiet  und  I^tauen  nach  der  zweiten  tmd  dritten 
Teilung  Polens  sich  unter  russischer  Herrschaft  mit  Weißruß- 
land wieder  vereinigten  und  alle  chassidischen  Zentren  sich  zu 
einer  gemeinsamen  Offensive  verbünden  konnten.  Nun  wurde 
die  Propaganda  des  Chassidismus  viel  energischer  betrieben. 
Man  verbreitete  zu  Propagandazwecken  das  Gerücht,  daß  der 
einstige.  Verfolger  der  Chassidim,  der  Wilnaer  Patriarch,  der 
Gaon  Elia,  sein  Vorgehen  gegen  die  Sekte  bereute  und  den  früher 
ausgesprochenen  Bannfluch  zurückgenommen  habe.  Als  man 
in  Wilna  von  diesem  Manöver  erfuhr,  überredeten  die  empörten 
Eiferer  des  Rabbinismus  den  alten  Gaon,  ein  Sendschreiben 
zu  erlassen,  in  dem  er  bestätigte,  daß  sein  Verhältnis  zu  den 
„Ketzern"  das  alte  geblieben  sei  und  daß  alle  seine  Bannflüche 
in  Kraft  blieben  (Mai  1796).  Zwei  Wilnaer  Bevollmächtigte 
wiirden  mit  dieser  Kundgebung  in  eine  Reihe  von  Städten 
zur  Agitation  gegen  die  Chassidim  kommandiert.  Nach  einiger 
Zeit  erfolgte  ein  neuer  energischer  Aufruf  des  Gaons  an  die 
Gouvernementskahals  von  Litauen,  Wolhynien,  Weißrußland 
und  Podolien.  ,,Ihr  Berge  Israels,"  schrieb  der  greise  Eiferer, 
„ihr  geistlichen  Hirten  jedes  Gouvernements,  ihr  weltlichen 
Führer  jedes  Gouvernements,  ihr  ]>iter  der  Gouvernements- 
Kahals  von  Mohilew,  Polozk,  Schitomir,  Winniza,  Kamenez- 
Podolsk,  —  ihr  habt  in  eurer  Hand  einen  Hammer,  mit  dem 
ihr  die  Verbrecher,  die  Feinde  des  Lichts,  die  Widersacher 
des  Volkes  zerschmettern  könnt.  Wehe  diesem  Geschlecht!  Sie 
verletzen  die  Gesetze,  sie  verzerren  unsere  Lehre,  sie  erfinden 
einen  neuen  Bund,  sie  schmieden  Ränke  im  Hause  Gottes, 
sie  verdrehen  die  Glaubenssätze.  Es  gilt,  die  Lehre  Gottes  zu 
rächen,  es  gilt,  diese  Wahnsinnigen  zu  ihrer  eigenen  Besserung 
zu  strafen.  Niemand  darf  sich  ihrer  erbarmen,  niemand  darf 
sie  in  Schutz  nehmen!  .  .  .  Umgürtet  euch  mit  Eifer  im  Namen 

320 


Gottes!"  Der  greise  Ritter  des  Rabbinismus,  der  diese  leiden- 
schaftlichen Aufrufe  zum  Kampfe  gegen  die  Chassidim  erließ, 
war  fest  davon  überzeugt,  daß  die  „neue  Sekte",  die  schon 
Hunderttausende  von  Adepten  zählte,  die  Religion  und  die 
Nation  dem  Verderben  entgegenführe,  weil  sie  das  Haus  Israels 
in  seinem  Inneren  zu  einer  Zeit  spaltete,  als  es  von  außen  durch 
politische  Ereignisse  gespaltet  wurde.  Große  Angst  macht  ihm 
auch  der  üppig  aufblühende  chassidische  Kultus  der  wunder- 
tätigen Zaddikim,  der  die  Reinheit  des  jüdischen  Glaubens  be- 
drohte. Den  Zorn  des  Gaons  hatte  besonders  das  im  gleichen 
Jahre  1796  erschienene  Werk  des  Oberhauptes  der  nordrussischen 
Chassidim,  Rabbi  Salman  („Taniä")  hervorgerufen,  in  dem 
jenes  rehgiös-pantheistische  System  des  Chassidismus  dargestellt 
war,  in  dem  die  Eiferer  des  alten  Dogmas  Gotteslästerung  und 
Ketzerei  erblickten.  Der  Aufruf  des  Gaons  enthielt  auch  An- 
spielungen auf  dieses  Buch,  und  der  Verfasser  spürte  den  gegen 
ihn  gerichteten  Schlag  sehr  schmerzlich.  Salman  veröffentlichte 
ein  Antwortschreiben,  in  dem  er  nachwies,  daß  der  Wilnaer 
Patriarch  über  das  wahre  Wesen  des  Chassidismus  falsch  unter- 
richtet sei,  und  seinem  Gegner  vorschlug,  in  einem  schriftlichen 
Disput  die  Wahrheit  zu  klären  und  „Frieden  in  Israel  zu  stif- 
ten". Der  Gaon  weigerte  sich  aber  mit  dem  „Ketzer"  zu  streiten. 
Das  Wilnaer  Sendschreiben  wurde  indessen  weiter  verbreitet 
tmd  führte  in  vielen  Gemeinden  zu  heftigen  Zusammenstößen 
zwischen  den  Misnagdim  und  den  Chassidim,  wobei  die  erstferen 
meistens  die  Angreifenden  waren. 

Der  durch  diese  Verfolgungen  aufs  äußerste  gereizte  Kreis 
der  Wilnaer  Chassidim  erlaubte  sich  nun  eine  grobe  Taktlosig- 
keit. Als  der  greise  Gaon  Rabbi  Elia  im  Herbste  1797,  ein  Jahr 
nach  der  Veröffentlichung  seines  letzten  Sendschreibens  ver- 
schied imd  die  ganze  Wilnaer  Gemeinde  sich  in  Trauer  kleidete, 
versammelten  sich  die  Wilnaer  Chassidim  in  einem  Privathause 
und  veranstalteten  einen  lustigen  Schmaus,  um  die  Befreiung 
der  Sekte  von  ihrem  Hauptgegner  zu  feiern.  Diese  häßliche  De- 
monstration, die  sich  am  Tage  der  Beerdigung  des  Gaon  ab- 
spielte, rief  in  der  Wilnaer  Gemeinde  allgemeine  Empörtmg 
hervor.  Die  Altesten  der  Gemeinde  leisteten  auf  dem  Friedhofe, 
vor  dem  Grabe  des  Gaons  den  Eid,  an  den  Chassidim  Rache  zu 
nehmen.  Am  nächsten  Tage  fand  eine  außerordentliche  Sitzimg 

3t     Dubnow,  Geschichte  der  Juden  I  ^2T 


der  Gemeindeältesten  statt,  in  der  eine  Reihe  von  Repressalien 
gegen  die  Chassidim  beschlossen  wurde.  Neben  öffentlich  bekannt- 
gegebenen Maßregeln,  wie  der  Verkündigung  eines  neuen  Anathe- 
mas gegen  die  Sektierer,  wurde  auch  eine  Reihe  von  geheimen 
Beschlüssen  gefaßt.  Eine  eigene  Kommission  aus  fünf  Kahalälte- 
sten  bekam  die  weitestgehenden  Vollmachten  zum  Kampfe  gegen 
die  ,, Ketzerei";  zu  den  in  Aussicht  genommenen  Kampfmitteln 
gehörten  auch,  wie  es  die  späteren  Ereignisse  zeigten,  Denunzia- 
tionen bei  der  russischen  Regierung  gegen  die  Führer  der  »Sekte. 
Bald  darauf  geschah  das  Schändlichste.  Dem  Generalstaats- 
anwalt Lopuchin  in  Petersburg  wurde  eine  Anzeige  „von  den 
staategefährUchen  Handlungen  des  Oberhauptes  der  Karliner 
(chassidischen)  vSekte  Salman  Boruchowitsch  in  Weißrußland 
und  seiner  Gehilfen  in  Litauen"  überreicht.  Im  Frühherbst  1798 
schickte  der  Generalstaatsanwalt  dem  Gouverneur  den  kaiser- 
lichen Befehl :  der  Führer  der  Sekte  Salman  in  Liosna  und  seine 
zweiundzwanzig  „Spießgesellen"  in  Litauen  sind  zu  verhaften. 
Salman  wurde  unter  strengster  Bewachung  nach  Petersburg 
gebracht;  die  übrigen  blieben  in  Wilna  in  Haft.  Salman  wurde 
in  der  „Geheimen  Expedition",  wo  die  Staatsverbrechen  be- 
handelt wurden,  vernommen.  Gegen  ihn  war  eine  Reihe  von 
Anklagen  erhoben:  er  hätte  eine  schädliche  religiöse  Sekte,  die 
die  Gottesdienstordnung  der  Juden  abgeändert  habe,  gegründet, 
verkehrte  Ideen  verbreitet  und  Gelder  gesammelt,  um  sie  zu 
irgendeinem  geheimen  Zweck  nach  Palästina  zu  schicken. 
Die  ganze  Art  der  Untersuchung  zeugte  von  der  Annahme, 
daß  der  Häftling  politisch  verdächtig  sei.  Er  beantwortete 
alle  an  ihn  gestellten  Fragen  in  einer  ausführlichen  schriftlichen 
Erklänmg  in  hebräischer  Sprache.  Diese  Erklärung  wurde  ins 
Russische  übersetzt  und  machte  in  Petersburg  einen  günstigen 
Eindruck.  Der  Generalstaatsanwalt  erstattete  dem  Kaiser 
Pauli.  Bericht  ,,über  alle  Umstände,  die  sich  bei  der  Unter- 
suchung herausstellten",  und  bald  darauf  erging  die  allerhöchste 
Resolution:  Salman  und  die  übrigen  verhafteten  Führer  der 
Sekte  sind  aus  der  Haft  zu  entlassen,  doch  „streng  zu  über- 
wachen, ob  sie  nicht  irgendwelche  geheime  Beziehungen  oder 
Korrespondenzen  mit  Leuten  unterhalten,  die  verkehrte  An- 
sichten über  die  Regierung  und  die  Regierungsform  verbreiten". 
Ende  1798  wurde  Salman  befreit. 

322 


Nun  kam  die  Reihe  an  die  Chassidim,  an  ihren  Verfolgern 
Rache  zu  nehmen.  Da  die  Urheber  der  Verfolgungen  die  fünf 
Mitglieder  des  Wilnaer  Kahals  waren,  die  zu  der  erwähnten 
Kommission  gehörten,  so  beschlossen  die  Chassidim,  diese  fünf 
Ältesten  abzusetzen  und  an  ihre  Stelle  ihre  Gesinnungsgenossen 
zu  bringen.  Zunächst  machten  sie  sich  durch  Bestechimg  die 
Gouvernementsbehörden  gefügig.  Anfangs  1799  reichten  sie 
der  Obrigkeit  eine  Klage  gegen  die  Gemeindeältesten  ein,  die 
sie  verschiedener  Mißbräuche  und  der  Unterschlagung  öffent- 
licher Gelder  bezichtigten.  Die  Folge  davon  war  die  Absetzung 
und  Verhaftung  einiger  Gemeindeältesten.  Unter  dem  Drucke 
der  Gouvernementsbehörden  wurden  die  neuen  Altesten  aus  den 
Reihen  der  Chassidim  und  nach  ihren  Weisungen  gewählt. 
Die  Wilnaer  Gemeinde  spaltete  sich.  Die  einen  waren  für  die 
abgesetzten  Gemeindeältesten,  die  anderen  für  die  Neugewähl- 
ten. Die  einander  befehdenden  Parteien  schickten  Klagen  und 
Denunziationen  nach  Petersburg.  Die  Pest  der  Angeberei,  deren 
Aufkommen  in  Litauen  gerade  in  den  ersten  Jahren  der  russi- 
schen Herrschaft  wohl  kaum  ein  bloßer  Zufall  war,  brachte  eine 
überaus  abstoßende  Persönlichkeit  auf  den  Schauplatz:  dön 
Denunzianten  Avigdor  Chaimowitsch  aus  Pinsk.  Avigdor, 
ein  ehemaliger  Rabbiner  im  Pinsker  Kreise,  der  sein  Amt  in- 
folge der  Ränke  des  ihm  feindlich  gesinnten  Teiles  der  Ge- 
meinde verloren  hatte,  betrauerte  am  meisten  den  Verlust  der 
Einkünfte.  Der  entthronte  Eürte  führte  lange  Zeit  Prozesse 
mit  seiner  einstigen  Herde  vor  allerlei  Gerichten;  da  er  nichts 
erreichte,  entschloß  er  sich,  an  den  Führern  der  Sekte,  die  seinen 
Ruin  verschuldet  hatte,  Rache  zit  nehmen.  Zu  Beginn  des  Jahres 
1800  reichte  Avigdor  ein  ausführliches  Gesuch  an  den  Kaiser 
Paul  I.  ein,  in  dem  er  die  chassidische  Sekte  als  eine  „schädliche 
und  gefährliche"  Organisation  darstellte,  die  das  Werk  der 
einstigen  Messianisten-Sabbatianer  fortsetze;  der  Denunziant 
bemühte  sich,  mittels  einer  ganzen  Reihe  gefälschter  Zitate  aus 
chassidischen  Werken  zu  beweisen,  daß  die  Führer  der  Sekte 
ihre  Adepten  lehren,  nur  Gott  allein,  aber  nicht  die  Menschen 
zu  fürchten  („fürchtet  den  Schöpfer  und  nicht  die  Schöpfung"), 
folglich  auch  keinen  Respekt  vor  den  Behörden  und  selbst  vor 
dem  Zaren  zu  haben.  Die  Denunziation  fand  Gehör,  Anfangs 
November  des  gleichen  Jahres  wurde  der  Zaddik  Salman  Borucho- 

"•  323 


witsch  von  neuem  verhaftet  und  in  Begleitung  zweier  Senats- 
kuriere nach  Petersburg  gebracht.  Der  in  die  Festung  gesperrte 
Zaddik  wurde  nach  dem  Verhör  mit  seinem  Ankläger  Avigdor 
konfrontiert.  Die  gegen  ihn  erhobenen  neunzehn  Anklagepunkte 
beantwortete  er  auch  diesmal  schriftlich  und  wies  alle  Beschul- 
digungen, daß  er  die  Regierungsgewalt  nicht  anerkenne,  ein  un- 
moralisches Leben  führe,  Gelder  sammle  und  Versammlungen  zu 
geheimen  Zwecken  einberufe,  auf  das  entschiedenste  zurück. 
Ende  November  wurde  Salman  aus  der  Haft  entlassen,  mußte  aber 
in  Petersburg  bis  zum  Abschluß  der  ganzen  Affäre  bleiben,  deren 
Akten  die  Geheime  Expedition  dem  Senat  übergeben  hatte. 
Während  der  Senat  sich  mit  der  Sache  befaßte,  spielte  sich  die 
Palastrevolution  vom  ii.  März  1801  ab.  Als  Alexander  I.  den  Thron 
bestieg,  wehte  gleich  ein  neuer  Geist,  und  ein  kaiserlicher  Ukas 
vom  29.  März  1801  gestattete  Salman,  Petersburg  zu  verlassen. 
Nachdem  die  Regierung  sich  von  der  absoluten  Unschädlich- 
keit der  jüdischen  rehgiösen  Spaltung  für  den  Staat  überzeugt 
hatte,  legalisierte  sie  sie.  Ein  Paragraph  des  Statuts  von  1804 
gestattete  den  Sektierern,  in  jeder  Gemeinde  ihre  eigenen  Syna- 
gogen zu  haben  und  eigene  Rabbiner  zu  wählen,  doch  unter  der 
Bedingung,  daß  die  Kahalverwaltung  in  jeder  Stadt  alle  Teile 
der  Gemeinde  umfasse.  Das  Gesetz  hatte  nur  das  sanktioniert, 
was  in  Wirklichkeit  schon  längst  bestand.  Die  religiöse  Spaltung 
war  längst  abgeschlossen,  und  der  Zwist  von  1796 — 1801  war 
nur  ihr  Schlußakt.  Doch  für  die  durch  die  pohtischen  Um- 
wälzungen auch  ohnehin  schoit  erschütterte  Kahalorganisation 
hatte  das  Schisma  traurige  Folgen.  Die  durch  die  inneren  Kämpfe 
geschwächten,  durch  die  Denunziationen  und  die  Einmischungen 
der  Regierung  demoralisierten  Gemeinden  konnten  in  jenen  ersten 
Jahren  der  Regierung  Alexanders  I.  nicht  mehr  einmütig  handeln, 
als  die  Regierung  ihren  Plan  der  ,, Reformierung  der  Juden"  ins 
Werk  setzte  und  die  Kahals  zur  Mitarbeit  heranzog.  Die  Gemein- 
den des  südwestlichen  Gebiets,  die  ganz  im  mystischen  Banne  des 
Chassidismus  standen,  reagierten  auf  die  drohende  soziale  und 
wirtschaftliche  Krise  nur  sehr  schwach;  die  Antworten  auf  die 
Rundfragen  der  Regierung  in  den  Jahren  1803  und  1807  kamen 
vorwiegend  von  Delegierten  der  weißrussischen  und  litauischen 
Gouvernements,  wo  in  der  jüdischen  Gesellschaft  die  politischen 
Interessen  noch  nicht  ganz  erstorben  waren. 

324 


§  53-  Rabbinismus,  Chasstdismus,  aufklärerische  Einflüsse  (das 
,,Berlinertum" J .  Während  in  Westeuropa  die  alten  Formen  des 
jüdischen  Lebens  zusammenstürzten,  blieben  die  kompakten 
jüdischen  Massen  Osteuropas  kulturell  unbewegt.  Beide  Mächte, 
die  ihr  geistiges  lieben  leiteten,  —  der  Rabbinismus  und  der 
Chassidismus  —  wachten  eifrig  über  die  Erhaltung  aller  Grund- 
pfeiler der  alten  Ordnung.  Unverändert  blieb  das  traditionelle 
System  der  Erziehung;  die  alte  Schule  —  der  Cheder  und 
die  Jeschiwa  —  mit  ihrem  ausschließhch  talmudischen  Ge- 
halt gaben  ihren  ZögHngen  wohl  einen  großen  Vorrat  an 
geistiger  Energie,  bereiteten  sie  aber  in  keiner  Weise  für  das 
praktische  lieben  vor;  die  Frauen  bekamen  überhaupt  keine 
Schulbildung.  Das  patriarchalische  Famihenleben  mit  den  frü- 
hen Ehen  (im  Alter  von  13 — 16  Jahren),  mit  der  langen  Be- 
köstigung der  verheirateten  Kinder  im  Eltemhause,  mit  dem 
erdrückenden  Elinderreichtum  bei  großer  Armut,  mit  der  Be- 
schränkung der  leiblichen  Bedürfnisse  bis  zur  Erschöpfung  und 
Degeneration  wurde  unverändert  aufrechterhalten.  Diese  ganze 
patriarchalische  Masse  fürchtete  alle  aufklärerischen  „Neu- 
einführungen", jeden  Versuch  einer  Erweiterung  ihres  gei- 
stigen und  sozialen  Horizonts.  Die  religiöse  und  die  weltliche 
Kultur  waren  noch  nicht  in  Kollision  gekommen.  Der  Kampf 
zwischen  Chassidismus  und  Rabbinismus  war  nur  ein  rein  reli- 
giöser Kampf  um  den  Typus  der  Gläubigen:  die  alte  Disziplin 
der  Bücher-  und  Ritendogmatik  kämpfte  gegen  die  Woge  des 
verzückten  Mystizismus  und  des  blinden  „Heiligenkults". 

Ob  der  erstarrte  Rabbinismus  tmter  der  Einwirkung  des 
heißen  Kampfes  zum  neuen  Leben  erwachte?  In  diesem  Zeit- 
alter sind  keine  auffallenden  Merkmale  eines  neuen  Lebens  fest- 
zustellen, sondern  nur  Versuche  zu  einer  rein  theoretischen 
Erneuerung.  Die  vom  Gaon  Rabbi  Elia  eingeführte  Methode 
der  Textanalyse  an  Stelle  der  verworrenen  Scholastik  —  des 
„Pilpuls"  —  beim  Talmudstudium  fand  in  den  Talmudschulen 
Litauens  immer  größere  Verbreitung.  Im  litauischen  Städtchen 
Woloschin  wurde  1803  eine  eigene  Jeschiwa  gegründet,  wo  die 
neue  Methode  unter  der  Leitung  eines  Schülers  des  Gaons, 
Rabbi  Chaim  Woloschiner,  angewandt  wurde.  Diese  Hoch- 
schule lieferte  eine  ganze  Reihe  Gelehrter  und  Rabbiner  „vom 
Geiste  des  Gaons".  In  diesen  Kreisen  zeigte  sich  sogar  eine  ge- 

325 


wisse  Toleranz  gegen  die  sonst  verfehmten  „weltlichen  Wissen- 
schaften", doch  nur  auf  dem  Gebiete  der  Mathematik  und  zum 
Teil  der  Naturwissenschaften.  Der  Wilnaer  Gaon,  der  manchmal 
etwas  Mathematik  trieb,  erlaubte  seinem  Schüler  Baruch 
Schklower,  die  Geometrie  von  Euklid  in  hebräischer  Über- 
setzung herauszugeben  (1780).  Die  Angst  vor  der  Philosophie 
blieb  aber  erhalten,  imd  die  Unvereinbarkeit  der  freien  For- 
schung mit  dem  Judaismus  galt  als  ein  unwiderlegliches  Dogma, 
Der  jüdische  Geist  bewegte  sich  noch  immer  in  den  engen  „vier 
Ellen  der  Halacha"  und  war  zur  Unfruchtbarkeit  verdammt. 
Im  Ivaufe  dieser  stürmischen  fünfundzwanzig  Jahre  hatte  der 
Rabbinismus  seit  dem  Gaon  keine  einzige  bedeutende  litera- 
rische Erscheinung  und  keinen  einzigen  Schriftsteller  mit 
weitem  Horizont  gezeitigt.  Der  schöpferische  Geist  hatte  ihn 
verlassen. 

Mehr  schöpferische  Kraft  hatte  der  Chassidismus  jener  Zeit 
aufzuweisen,  obwohl  diese  an  Originalität  gegen  die  vorher- 
gehende Epoche  des  Beseht  und  seiner  ersten  Apostel  stark 
abfällt.  Neb^n  dem  Triumph  des  praktischen  Zaddikismus, 
der  mit  „Wundern"  operierte  imd  sich  an  den  leichtgläubigen 
Massen  bereicherte,  dauerte  auch  noch  die  Entwicklung  der 
Glaubenslehre  als  Fortsetzung  der  Beschtschen  Lehre  fort.  Im 
Norden  verbreitete  sich  eine  neue  chassidische  Lehre,  die  den 
herzlichen  Pietismus  des  Beseht  mit  der  „Vemunftmäßigkeit" 
der  htauischen  Bücherweisheit  zu  versöhnen  suchte.  Der 
Schöpfer  dieser  Lehre,  der  schon  erwähnte  Held  der  rehgiösen 
Kämpfe,  Rabbi  Schnejur-Salman,  wollte  den  Chassidismus, 
der  entschieden  dem  Prinzip  „credo  quia  absurdum"  zustrebte, 
rationalisieren.  Die  Ekstase  des  Gefühls  verwandelte  sich  beim 
Autor  des  „Tarda"  in  eine  Ekstase  des  Gedankens;  manchmal 
spricht  er  von  der  Erkenntnis  Gottes  beinahe  im  Stile  des 
Maimonides.  Rabbi  Salman— lehnte  den  Kult  der  Zaddikim 
in  jener  rohen  Form  des  Wunderglaubens,  die  er  im  Süden  an- 
genommen hatte,  entschieden  ab. 

Der  Chassidismus  ging  seinen  alten  Weg  im  Süden,  in  der 
Ukraine,  Seine  beiden  Säulen  —  Rabbi  Levi-JzchakBer- 
ditschewer  (gestorben  1809)  imd  Rabbi  Nach  um  Tscher- 
nobyler (gestorben  1799)  hielten  zum  Teil  noch  die  Traditionen 
des  Beseht  aufrecht.  Der  erstere  zeigte  in  seinem  Werke  „Ke- 

326 


duschath-I^evi"  (1798)  die  ganze  Herzenswärme  der  chassi- 
dischen  Lehre  ohne  deren  krankhafte  Überspanntheit.  In  seinem 
persönlichen  lieben  war  dieser  Führer  der  wolhynischen  Chassi- 
dim  eine  Verkörperung  der  Menschenliebe  und  der  I^iebe  zum 
gemeinen  Volke.  Von  seiner  glühenden  I^iebe  zu  allen  Erniedrig- 
ten und  Beleidigten  berichten  viele  Volkslegenden.  Rabbi 
Nachum  Tschernobyler,  Zaddik  und  Prediger,  der  Wolhynien 
und  das  Eliewer  Gebiet  bereiste,  pflegte  seine  Predigten  mit 
kabbalistischen  Elementen  zu  durchsetzen.  In  seinen  letzten 
I^ebensjahren  betätigte  er  sich  vorwiegend  als  „praktischer" 
Zaddik  und  Wundertäter  und  gründete  die  in  der  Ukraine  weit- 
verzweigte „Tschernobyler"  Zaddikim-Dynastie. 

Ganz  abseits  steht  der  podolische  Zaddik  und  Träumer 
Nachman  Bratzlawer  (1772 — 1810),  ein  Urenkel  von  Beseht. 
Von  Natur  aus  reich  poetisch  begabt,  ging  er  nicht  die  ausge- 
tretenen Pfade  der  berufsmäßigen  „Gerechten",  sondern  bahnte 
sich  seinen  eigenen  Weg.  Sein  Ziel  war  die  Rückkehr  zu  der 
kindlichen  I^ehre  des  Beseht.  In  den  Jahren  1798 — 99  machte 
Nachman  eine  Reise  nach  Palästina.  Um  jene  Zeit  durchzog 
das  Heihge  Land  die  Armee  Napoleons,  und  ein  Hauch  des 
stürmischen  Europa  fuhr  über  den  schlummernden  Orient. 
Der  podohsche  Jüngling  lauschte  aber  dem  Raunen  der  Gräber 
der  großen  KabbaUsten,  Simon  ben  Jochai  und  Ari,  und  den 
Stimmen  der  lebenden  Zaddikim,  die  in  Tiberias  wohnten. 
In  die  Heimat  zurückgekehrt,  ließ  sich  Nachman  in  Bratzlaw 
nieder  und  stellte  sich  an  die  Spitze  der  podolischen  Chassidim. 
Im  engsten  Kreise  predigte  —  oder  genauer  gesagt  —  phanta- 
sierte er  vom  Reiche  des  Geistes  und  von  der  Einigung  des 
Zaddiks  mit  seiner  Herde  in  der  Ekstase  des  Glaubens ;  er  sprach 
meistens  in  Aphorismen  und  kleidete  seine  Gedanken  zuweilen 
in  die  Form  von  Volksmärchen.  Er  verfaßte  viele  Werke  („Likute 
Maharan"  u.  a.  m.),  in  denen  er  immer  die  Notwendigkeit  des 
blinden  Glaubens  ohne  Klügelei  verfocht.  Die  Philosophie  hielt 
er  für  ein  Verderben  für  die  Seele;  Maimonides  und  die  Ratio- 
nalisten waren  ihm  verhaßt.  Die  „BerHner  Aufklärung",  die 
er  wenig  kannte,  flößte  ihm  eine  dunkle  Angst  ein.  Früh  riß 
sein  Lebensfaden :  von  seinen  Anhängern  umgeben,  starb  er  an 
der  Schwindsucht  zu  Uman,  im  38.  Lebensjahre.  Sein  Grab  ist 
auch  heute  noch  für  die  „Bratzlawer  Chassidim"  eine  heilige  Stätte, 

327 


Doch  der  Durchschnittstypus  eines  Zaddiks,  der  sich  in  jenem 
Zeitalter  gebildet  hatte,  war  in  gleicher  Weise  von  der  geistigen 
Kompliziertheit  eines  Rabbi  Salman  wie  von  der  heiligen  Ein- 
falt eines  Rabbi  Nachman  entfernt.  Die  Zaddikim  vernach- 
lässigten immer  mehr  den  Beruf  von  Glaubenslehrern  und  wur- 
den zu  „Praktikern".  Von  einer  Schar  begeisterter  Anhänger 
umgeben,  verstanden  es  diese  „Mittler  zwischen  Gott  und  Volk", 
ihren  Nutzen  aus  dem  blinden  Glauben  der  Massen  zu  ziehen. 
Sie  bereicherten  sich  an  Geschenken  und  dem  „Lösegeld"  und 
wohnten  in  Palästen  wie  polnische  Magnaten  oder  reiche  Bischöfe. 
Der  „Hof"  des  Enkels  von  Beseht,  Baruch  Tultschiner, 
(1780 — 1810)  zu  Medziboz  zeichnete  sich  durch  großen  Prunk 
aus;  Baruch  hatte  sogar  einen  eigenen  Hofnarren,  Herschel 
Ostropoler,  der  als  Held  von  Volksschnurren  weiterlebt.  Zum 
Typus  der  Wundertäter  gehörten  die  Zaddikim  des  polnischen 
Weichselgebiets,  das  um  jene  2^it  unter  preußischer  Herrschaft 
stand  und  später  unter  das  Protektorat  Napoleons  (Herzog- 
tum Warschau)  kam.  Die  beiden  Pioniere  des  Chassidismus 
in  diesem  Lande,  Israel  Kosenitzer  und  Jaakow-Jzchak 
Lubliner  (Hurwitsch),  sahen  in  allen  politischen  und  kultu- 
rellen Krisen  jener  Zeit  Vorboten  des  Messianischen  Reiches. 
Diese  dunklen  Seher  witterten  „die  messianischen  Geburtswehen" 
im  Zusammenbruch  des  patriarchalischen  jüdischen  Polens, 
im  stürmischen  Siegeszuge  Napoleons,  in  der  Verbreitung  des 
Freidenkertums  und  darin,  daß  man  die  Juden  zum  Militärdienst 
zu  nehmen  begaim.  Aber  dem  chassidischen  Dogma  ,,des  sorg- 
losen Lebens"  getreu,  lebten  diese  beiden  Zaddikim  lustig 
im  lärmenden  Kreise  ihrer  exaltierten  Adepten,  die  ihnen  reiche 
Geschenke  für  die  wundertätigen  Talismane,  Ratschläge  und 
Segnungen  brachten.  Im  Jahre  des  Sturzes  Napoleons  erloschen 
diese  beiden  Leuchten  des  polnischen  Chassidismus,  nachdem 
sie  noch  den  Beginn  der  russischen  Herrschaft  im  Lande  erlebt 
hatten  (1814 — 15). 

Einflüsse  der  westlichen  Aufklärung  konnten  in  dieses  voü 
den  beiden  Mauern  —  dem  Rabbinismus  und  dem  Chassidismus 
—  geschützte  Reich  schwerlich  eindringen.  Und  dennoch  zeigte 
sich  hier  und  da  auf  der  Oberfläche  des  jüdischen  Lebens  der 
Schaum  der  fernen  westhchen  Brandung.  Aus  Deutschland 
nahte  den  Grenzen   Rußlands  der  freigeistige   „Berliner"   (so 

328 


nannte  man  damals  allegmein  die  „neuen  Menschen").  Er  trug 
den  kurzen  deutschen  Rock,  stutzte  die  Schläfenlocken,  rasierte 
den  Bart,  mißachtete  die  religiösen  Bräuche,  sprach  deutsch 
oder  die  „Sprache  des  I^andes"  und  schwor  beim  Namen  Moses 
Mendelssohns.  Bs  war  eine  noch  sehr  oberflächliche  „Aufklä- 
rung", die  mehr  auf  das  Äußere  und  die  Kleidung  als  auf  Geist 
und  Herz  wirkte.  Es-  war  das  „Berlinertum",  ein  Vorbote  der 
weit  komplizierteren  „Haskala"  der  folgenden  Epoche.  Das 
Berlinertum  kam  zuerst  in  Warschau  auf,  und  zwar  während 
der  zehnjährigen  preußischen  Herrschaft  (1797 — 1806).  Die 
Verbindung  zwischen  der  polnischen  Hauptstadt  und  der  preußi- 
schen zeitigte  ihre  Früchte.  Der  europäische  Stutzer  aus  Berlin 
erschien  auch  in  den  Straßen  Warschaus,  und  der  Warschauer 
Chassid  im  langen  15!af tan  mußte  oft  verlegen  dem  „Aufgeklär- 
ten" in  deutscher  Kleidimg  Platz  machen.  Es  kamen  auch  lite- 
rarische Nachahmungen  jüdisch-preußischer  Vorbilder  auf. 
Im  Jahre  1796  erschien  in  Warschau  das  Buch  des  Mendels- 
sohnianers  Jacques  Calmanson:  „Essai  sur  l'etat  actuel 
des  Juifs  en  Pologne  et  leur  perfectibilite";  es  war  französisch 
geschrieben  und  dem  preußischen  Minister  Grafen  von  Hoym., 
der  in  den  polnischen  Provinzen  Preußens  allerlei  Reformen 
einführte,  gewidmet.  Das  Buch  enthält  eine  Schilderung  der 
damaligen  Verfassung  der  Juden  und  ein  Projekt  für  die  Re- 
formierung ihres  Lebens.  Das  nach  westlichen  Rezepten  verfaßte 
Werk  verfocht  den  Standpunkt,  daß  das  Unglück  der  Juden 
in  ihrer  Absonderung,  ihr  Glück  —  in  der  Verschmelzung  mit 
den  sie  umgebenden  Völkern  liege.  Das  vom  Juden  Calmanson 
vorgeschlagene  Reformprojekt  unterschied  sich  nur  wenig 
von  den  polnischen  Projekten  Butrimowiczs  und  Czackis. 
Calmanson  empfahl,  die  Gewalt  der  Rabbiner  und  Gemeinden 
zu  schwächen,  die  Chassidim  und  Zaddikim  zu  bekämpfen, 
deutsche  Tracht  einzuführen,  die  Barte  zu  rasieren,  deutsche 
Schulen  zu  gründen  imd  den  „Zivismus"  zu  pflegen.  In  den 
folgenden  Jahren  (1807 — 12)  bildete  sich  in  dem  von  Napoleon 
geschaffenen  Herzogtum  Warschau  über  dieser  Schicht  der 
Berliner  Mode  eine  Pariser  Ablagerung.  Eine  Gruppe  Warschauer 
Stutzer  forderte  Gleichberechtigung  zum  Lohne  „für  die  Ände- 
nmg  der  Tracht  und  der  moralischen  Begriffe"  (§44).  Selbst 
die  ehrsamen  Vertreter  der  Warschauer  jüdischen  Gemeinde 

329 


nannten  sich  in  einer  Petition  an  den  Senat  „Männer  des 
polnischen  Volkes  alttestamentarischer  Konfession",  eine 
Nachahmung  der  letzten  Pariser  Mode  ans  der  2^it  des  Napo- 
leonischen Synhedrions.  Dies  war  die  erste,  noch  naive  und  un- 
überlegte Selbstversetzung  aus  der  jüdischen  Nationalität 
in  die  polnische,  der  Keim  der  künftigen  „Polen  mosaischer 
Konfession".  Die  Berliner  Aufklärer  aus  dem  Friedländerschen 
Kreise  tmterstützten  eifrig  diese  Stimmimg  und  wandten  sich 
in  ihrem  „Hameassef"  an  ihre  Brüder  in  Polen  mit  folgendem 
Appell:  „Wie  lange  werdet  ihr  noch  eine  verdorbene  deutsche 
Sprache  (den  Jargon),  statt  der  Sprache  eures  I^andes  —  der 
polnischen  sprechen?  Wieviel  Unglück  bliebe  euren  Vorfahren 
erspart,  wenn  sie  mit  ihren  Königen  und  Staatsmännern 
gut  polnisch  zu  sprechen  verstünden!  Greift  doch  beüebige 
hundert- deutsche  Juden  heraus:  sie  verstehen  entweder  sämt- 
lich oder  zum  größten  Teü  mit  den  Fürsten  und  Würdenträgern 
zu  sprechen;  in  Polen  können  es  aber  kaum  fünf  oder  zehn  von 
hundert." 

Selbst  nach  dem  fernen  Norden  Rußlands  kamen  einige 
Samen  der  westlichen  „Aufklärung".  Während  der  Revisions- 
reise Derschawins  durch  Weißrußland  predigte  schon  der  Arzt 
Frank  aus  Elreslawka,  ein  eifriger  Anhänger  Mendelssohns, 
eine  Reform  der  Religion  und  der  Schule  (§  46).  In  Petersburg 
lebte  im  Hause  des  Mäzens  Abraham  Perez  sein  einstiger  I^ehrer 
Lejb  Newachowitsch,  der  aus  der  podolischen  Stadt  I^etit- 
schew  stammte.  Während  des  Aufenthalts  der  jüdischen  Dele- 
gierten in  Petersburg  (1803)  veröffentlichte  Newachowitsch 
eine  Broschüre  in  russischer  Sptache  (die  später  auch  hebräisch 
erschien)  unter  dem  Titel:  „Die  Wehklage  der  Tochter  Israels", 
mit  einer  Widmung  an  den  Minister  des  Innern  Kotschubej, 
den  Vorsitzenden  des  „Jüdischen  Komitees".  Die  Tendenz 
der  „Wehklage"  kommt  schon  in  der  Widmung  zum  Ausdruck: 
es  ist  die  Anbetung  des  „großen"  Rußland  und  die  Trauer  über  das 
Schicksal  der  Stammesgenossen,  die  der  „Glückseligkeit"  dieses 
Landes  noch  nicht  teilhaftig  sind.  „So  sehr  die  Siege  und  die 
Macht  des  Russischen  Reiches  meine  Seele  erheben,"  schreibt 
Newachowitsch,  „so  sehr  ist  sie  auch  durch  den  Schmerz  meiner 
Stammesgenossen  bedrückt,  die  von  den  Herzen  ihrer  Lands- 
leute verstoßen  werden."  In  der  ganzen  Broschüre  klagt  die 

330 


„Tochter  Israels",  daß  weder  das  XVIII.  Jahrhundert,  „das 
Zeitalter  der  Menschenliebe,  der  Duldsamkeit  und  der  Milde'*, 
noch  „der  lächelnde  I/Cnz  des  neuen  Jahrhunderts,  dessen 
Beginn  durch  die  Thronbesteigung  Alexanders  des  Barmher- 
zigen gekrönt  ist",  es  vermocht  hätten,  die  tief  eingewurzelte 
Feindschaft  gegen  die  Juden  auszurotten.  „Das  Geschlecht 
der  Juden  ist  von  vielen  Geistern  der  Verachtung  preisgegeben. 
Der  Name  ,Jude*  ist  zu  einem  Fluch-  und  Schimpfnamen  für 
die  Kinder  imd  Unverständigen  geworden."  Unter  Hinweis 
auf  Mendelssohn  und  Lessing  ruft  der  Autor  aus:  „Ihr  sucht 
im  Menschen  den  Juden!  Sucht  doch  im  Juden  den  Menschen, 
ihr  werdet  ihn  zweifelsohne  finden."  Das  Buch  Newachowitschs 
schließt  mit  dem  erbitterten  Aufschrei:  „Während  die  Herzen 
aller  europäischen  Völker  einander  nahe  gekommen  sind,  sieht 
sich  das  jüdische  Volk  noch  immer  verachtet.  Ich  fühle  die  ganze 
Last  dieser  Qual.  Ich  rufe  allen  Empfindsamen  und  Mitleidigen 
zu :  Wofür  verdammt  ihr  mein  ganzes  Volk  zur  Verachtung  ?  . .  . 
So  klagte  die  betrübte  Tochter  Israels,  sie  wischte  sich  die  Augen, 
seufzte  und  wurde  immer  untröstlicher  ..."  Der  Autor  selbst 
tröstete  sich  aber  recht  bald:  einige  Jahre  nach  der  Veröffent- 
lichung der  „"W  ».nklage"  fand  er,  da  er  sich  noch  immer  „von 
den  Herzen  der  Landsleute  verstoßen"  sah,  einen  magischen 
Schlüssel  zu  diesen  Herzen:  er  ließ  sich  taufen,  verwandelte 
sich  in  einen  „Ljew  Alexandrowitsch"  und  begann  belehrende 
russische  Dramen  zu  schreiben,  die  dem  unverwöhnten  Ge- 
schmack des  damaligen  Publikums  entsprachen.  So  führte 
Newachowitsch  sein  „BerHnertum"  zu  dem  effektvollen  Ab- 
schluß, der  damals  auch  in  Berlin,  wo  die  Taufepidemie  wütete, 
Mode  war.  Diesem  Beispiel  folgte  auch  sein  Mäzen,  Abraham 
Perez,  der  bei  den  Heereslieferungen  im  Jahre  1812  sein  ganzes 
Vermögen  verloren  hatte.  Die  Nachkommen  beider  bekleideten 
später  hohe  Amter  im  russischen  Staatsdienste. 

Bin  blasser  Widerschein  der  westlichen  aufklärerischen  Lite- 
ratur zeigte  sich  damals  auch  auf  dem  dunklen  Horizonte  Ruß- 
lands. Mendel  Lewin  aus  Satanow  (1741 — 1819),  der  die 
Gnade  gehabt  hatte,  den  Vater  der  Aufklärung,  Moses  Mendels- 
sohn, in  Berlin  von  Angesicht  zu  Angesicht  zu  sehen,  machte 
den  Versuch,  die  neue  Saat  in  seiner  Heimat  anzubauen.  Er 
übersetzte  ins  Hebräische   die  populäre  Medizin  von  Tissot, 

331 


das  System  der  lyebensmoral  von  Franklin  und  Reisebeschiei- 
bungen  von  Kampe;  auch  versuchte  er,  die  Sprüche  Salomonis 
und  den  Prediger  in  die  Volkssprache,  den  „Jargon",  zu  über- 
setzen. Dieser  Versuch  zog  ihm  den  Zorn  des  Berditschewer 
Schriftstellers  Tobias  Feder  (gestorben  1817)  zu,  der  ein 
heftiges  Pamphlet  gegen  die  „Profanierung"  der  heüigen  Bücher 
durch  die  Übersetzung  in  die  „Sprache  der  Straße"  schrieb. 
Feder  selbst  veröffentlichte  Werke  über  hebräische  Grammatik 
und  biblische  Exegese,  moralische  Abhandlungen,  harmlose 
Satiren  und  Oden.  Diese  farblosen  Werke  bedeuten  noch  keinen 
Umschwung  im  literarischen  Schaffen,  zeugen  aber  von  einer 
neuen  Tendenz:  neben  dem  rehgiösen  —  rabbinischen  oder 
chassidischen  —  Buch  tauchte  auch  schon  das  weltliche 
Buch  auf,  dessen  bloßes  Erscheinen  ein  Murren  der  erschrocke- 
nen Orthodoxie  hervorrief.  Das  waren  die  ersten  Vorboten  der 
späteren  Säkularisienmg  der  jüdischen  Literatur. 


332 


Inhaltsverzeichnis 


Einleitung 

I.  Die  jüdische  Welt  am  Vorabend  des  Jahres  1789 

§    I.  Die  Grundlagen  der  alten  Ordnung 7 

§    2.  Deutschland 10 

§    3.  Preußen 16 

§    4.  Rechtlosigkeit  und  Aufklärung 19 

§    5.  Österreich 25 

§    6.  Frankreich 32 

§    7.  Italien 4° 

§    8.  Die  Niederlande.  England,  Schweiz  und  Skandinavien 45 

§    9.  Polen  nach  der  ersten  Teilung 50 

§  10.  Rußland  (Weißrußland) 62 

§  II.  Die  außereuropäischen  Länder 63 

II.  Die  Hauptprozesse  der  neueren  Geschichte  der  Juden 

§  12.  Emanzipation  und  Reaktion 66 

§  13.  Assimilation  und  nationale  Bewegung 69 


Erste  Abteilung:   Das  Zeitalter  der  ersten  Emanzipation 

(1789— 181S) 

I.  Kapitel:  Die  Emanzipation  der  Juden  in  Frankreich  unter  der  Revo- 
lution und  dem  K£Liserreich 

§  14.  Der  Kampf  um  die  Gleichberechtigung  auf  dem  Boden  der  Deklaration 

der  Rechte 77 

§  15.  Die  Debatten  in  der  Nationalversammltmg  über  die  aktiven  Bürger- 
rechte der  Juden 85 

§  16.  Der  Separatismus  der  Sephardim  und  die  Anerkennung  ihrer  Gleich- 
berechtigung   93 

§  17.  Die  Agitation  der  Pariser  Kommune  zugunsten  der  Juden      ...  98 
§  18.  Der  weitere  Kampf  und  die  Proklamierung  der  Emanzipation     .    .105 

§  19.  Patriotismus   der   Freiheit;    Opfer   der  Schreckensherrschaft  .    .    .  112 

§  20.  Die  ersten  Früchte  der  Emanzipation  (1796 — 1806) 120 

§  21.  Napoleon  und  die  Juden;  dsis  Dekret  von  1806 125 

§  22.  Versammlung  der  Notabein  . 131 

§  23.  Das  große  Synhedrion  zu  Paris 142 

§  24.  „Das  schmachvolle  Dekret." 145 

333 


II.  Kapitel:  Die  Emanzipation  der  Juden  in  den  Ländern  französischer 

Herrschaft 

§  25.  Holland  (Batavische  Republik  und  Königreich  Holland)  ....  154 
§  26.  Italien  (die  Römische  und  Zisalpinische  Republik  und  das  Königreich 

Italien) 166 

§  27.  Die  Schweiz  (Helvetische  Republik) 174 

III.  Kapitel:    Emanzipationstendenzen  und  kultureller   Umschwung  in 

Deutschland 

§  28.  Allgemeine  Lage 179 

§  29.  Preußen:  Rechtlosigkeit  und  „Reformentwürfe" 183 

§  30.  Der   Versuch   eines  religiösen   Kompromisses   im   Kampfe   für  die 

Gleichberechtigung;  die  judenfeindliche  Literatur 188 

§  31.  Der    kulturelle    Umschwung:    Sittenrevolution    und    Taufepidemie  197 
§32.  Die  Reformen  in  Preußen  und  das  Gleichberechtigungsedikt  von  1812  206 
§  33.  Die   Vorübergehende  Emanzipation  im  Gebiete  französischer  Herr- 
schaft (Westfalen,  Frankfurt,  Hansastädte) 212 

§  34.  Die  alte  Ordnung  und  Reformversuche  (Sachsen,  Bayern,  Mecklen- 
burg, Baden) • 222 

§  35.  Die  neue  Literatur  und  die  neue  Schule 229 

IV.  Kapitel:   Die  Stabilität  der  alten  Ordnung  in  Österreich-Ungarn 

§  36.  Allgemeine  Politik  . 234 

§  37.  Das  System  der  Normierung  und  Bevormundung  in  Böhmen  und 

Mähren 242 

§  38.  Die  Korrektionspolitik  in  Galizien  ....'. 245 

§  39.  Ungarn 250 

§  40.  Der  kulturelle  Zustand 252 

V.  Kapitel:  Das  jüdische  Polen  während  der  letzten  Teilungen 

§  41.  Die  jüdische  Frage  in  der  Literatur  des  Vierjährigen  Reichstags  .  256 

§  42.  Die  Stimme  der  Straße  und  die  Reichstagskommission 261 

§  43.  Die  zweite  und  die  dritte  Teilung;  Berek  Joselewicz 266 

§  44.  Das  Herzogtum  Warschau  und  die  Napoleonische  Reaktion   .    .    .  271 

VI.  Kapitel:  Das  neue  jüdische  Zentrum  in  Rußland 

§  45.  Die  Legalisierung  des  „Ansiedlungsgebiets"  (die  letzten  Regierungs- 
jahre Katnarinas  II.) 278 

§  46.  Die  Projekte  einer  Reglementierung  des  inneren  jüdischen  Lebens 

(Regierung  Pauls  I.) 283 

§  47.  Das  „Komitee  zur  Wohleinrichtung  der  Juden"  und  das  Statut  von 

1804 293 

§  48.  Die  Folgen  des  Gesetzes  von  1804 :  die  Vertreibung  aus  den  Dörfern  300 

§  49.  Der  Krieg  von  1812 307 

§  50.  Das  Wirtschaftsleben  und  seine  Krisen 310 

§  51.  Die  Krise  der  Selbstverwaltung;  die  Kahals  und  die  Magistrate  315 
§  52.  Das  chassidische  Schisma  und  die  Einmischung  der  Regierung  .  .318 
§  53.  Rabbinismus,  Chassidismus,  aufklärerische  Einflüsse  (das  „BerUner- 

tum") 325 


334